Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in dieTagesordnung eintreten, darf ich Sie bitten, sich von Ih-ren Plätzen zu erheben.Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaligesMitglied Friedrich Zimmermann, der nach längererschwerer Krankheit am 16. September gestorben ist. Erwurde 87 Jahre alt.Friedrich Zimmermann wurde am 18. Juli 1925 inMünchen geboren. Er gehörte also der Generation an,die die Schrecken nationalsozialistischer Diktatur undden Zweiten Weltkrieg aktiv miterlebt hat.Der CSU trat er schon 1948 bei und begann, unserenoch junge Demokratie mitzugestalten. In Bayern setzteer sich zunächst dafür ein, die damals „neubayerischen“fränkischen und schwäbischen und überwiegend evange-lischen Bevölkerungsteile zu integrieren und vor allemdie Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen aufzuneh-men, die etwa ein Viertel der bayerischen Bevölkerungumfassten.In seiner Partei hat Friedrich Zimmermann schon baldherausgehobene Ämter übernommen. Unter anderemwar er von 1956 bis 1963 Generalsekretär und von 1979bis 1989 stellvertretender Vorsitzender seiner Partei.1957, also vor 55 Jahren, wurde FriedrichZimmermann zum ersten Mal Mitglied des DeutschenBundestages, in den er stets direkt gewählt worden ist.Er gehörte diesem Parlament nicht weniger als 33 Jahrean.Friedrich Zimmermann war unter anderem von 1965bis 1972 Vorsitzender des Verteidigungsausschusses.Seit 1961 Vorstandsmitglied der CDU/CSU-Fraktion,hatte er als CSU-Landesgruppenchef und stellvertreten-der Fraktionsvorsitzender von 1976 bis 1982 maßgebli-chen Anteil an der Politik der damaligen Oppositions-fraktion.Über die Parteigrenzen hinweg hat sich FriedrichZimmermann damals besonders mit seiner besonnenenund klugen Mitwirkung im Großen Krisenstab, der an-lässlich der Entführung von Hanns Martin Schleyer vonBundeskanzler Helmut Schmidt eingerichtet wordenwar, großen Respekt und Anerkennung erworben.1982 berief ihn Bundeskanzler Helmut Kohl als Bun-desinnenminister in sein Kabinett. Er war auch hier imbesten demokratischen Sinne streitfreudig und scheutewährend seiner Amtszeit nicht vor harten Auseinander-setzungen zurück. Einmal von ihm als richtig und wich-tig erkannte Positionen vertrat er mit Nachdruck. BreiteAnerkennung fand er für seine Pionierleistungen in derUmweltpolitik, wo ihm in der Europäischen Gemein-schaft ein Durchbruch mit der Einführung des Katalysa-tors und des bleifreien Benzins gelang. 1989 übernahmer als Bundesminister das Verkehrsministerium.Nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl1991 schied Friedrich Zimmermann aus der Regierungund dem Bundestag aus. In seiner bemerkenswerten Ab-schiedsrede erklärte er nicht ohne ein Augenzwinkern:Ich bitte alle um Vergebung, denen ich im Laufedieser Jahre auf die Füße getreten bin, aber ich habees immer so gemeint.Friedrich Zimmermann hat über viele Jahre hinwegdie Geschicke unseres Landes mitgestaltet. Er hat sichinnerhalb und außerhalb des Bundestages mit seinempolitischen und parlamentarischen Engagement um un-ser Land verdient gemacht.Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.Seinen Angehörigen spreche ich im Namen des ganzenHauses unsere Anteilnahme aus.Ich danke Ihnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 18. Septemberhat der Bundesminister der Finanzen, Dr. WolfgangSchäuble, seinen 70. Geburtstag gefeiert. Im Namen desganzen Hauses möchte ich ihm dazu herzlich gratulierenund alles Gute wünschen.
Metadaten/Kopzeile:
23334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Lieber Kollege Schäuble, es gibt kein Mitglied diesesParlaments, das dem Deutschen Bundestag so lange an-gehört wie Sie. Niemand hat über so viele Jahre in sovielen, so unterschiedlichen und so herausragenden Äm-tern seinen Dienst für unser Land geleistet. Die großeWertschätzung, die Sie weit über die eigene Partei undFraktion hinaus genießen, kommt auch darin zum Aus-druck, dass der Deutsche Bundestag gestern, nach einerVereinbarung aller Fraktionen, seine Ausschussberatun-gen vorzeitig beendet bzw. unterbrochen hat, um mög-lichst vielen Mitgliedern des Hauses die Teilnahme andem Festakt zu Ihren Ehren im Deutschen Theater zu er-möglichen.Ich weise schon jetzt vorsichtshalber darauf hin, dasssich aus dieser großzügigen Regelung kein Rechtsan-spruch für die Gestaltung runder Geburtstage für alleMitglieder des Hauses ergibt.
Lieber Kollege Schäuble, ich freue mich, dass ich Ih-nen im Namen des ganzen Hauses noch einmal unsereguten Wünsche in einem anderen, ähnlich bedeutendenTheater in sehr viel knapperer, aber nicht weniger herzli-cher Form übermitteln darf. Alle guten Wünsche für dienächsten Jahre.
Ebenfalls am 18. September hat die Vorsitzende desHaushaltsausschusses, unsere Kollegin Petra Merkel,ihren 65. Geburtstag sowie am 24. September der Kol-lege Peter Götz seinen entsprechenden Geburtstag ge-feiert. Auch Ihnen alle guten Wünsche für das neue Le-bensjahr.
Wir müssen vor Eintritt in die Tagesordnung nocheine Wahl durchführen. Für den aus dem Beirat derBundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekom-munikation, Post und Eisenbahnen ausscheidendenKollegen Manfred Nink schlägt die Fraktion der SPDvor, den Kollegen Ingo Egloff als stellvertretendes Mit-glied zu berufen. Sind Sie mit diesem Vorschlag einver-standen? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist derKollege hiermit in den Beirat gewählt.
– Sie wissen, dass die auf diese Weise, wie ernsthaftauch immer geäußerten Bedenken im Protokoll desDeutschen Bundestages erscheinen,
und klären das am besten bilateral mit dem gleichwohlgewählten Kollegen.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungRatifizierung des Vertrages vom 2. Februar2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabi-litätsmechanismus– Drucksache 17/10767 –
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und der FDP:Besorgnis über die Parlamentswahlen inWeißrussland
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten LisaPaus, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke,weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögens-abgabe– Drucksache 17/10770 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 47a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor-schlag für einen Beschluss des Rates zur Fest-legung eines Mehrjahresrahmens
für die Agentur der Europäischen Union fürGrundrechte– Drucksache 17/10760 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MartinDörmann, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFreiheit und Unabhängigkeit der Medien si-chern – Vielfalt der Medienlandschaft erhal-ten und Qualität im Journalismus stärken– Drucksache 17/10787 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23335
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten UteKoczy, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENEntwicklungspolitische Zusammenarbeit fitmachen für die Kooperation mit fragilen Staa-ten– Drucksache 17/10791 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Uniond) Beratung des Antrags der Abgeordneten BärbelBas, Angelika Graf , Dr. MarliesVolkmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDKinder- und Jugendgesundheit: Ungleichhei-ten beseitigen – Versorgungslücken schließen– Drucksache 17/9059 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD:Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn –Unterschiedliche Auffassungen innerhalb derCDU/CSU und FDPZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten AntonSchaaf, Anette Kramme, Petra Ernstberger, wei-teren Abgeordneten und der Fraktion der SPDeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieSchaffung eines Demographie-Fonds in der ge-setzlichen Rentenversicherung zur Stabilisie-
– Drucksache 17/10775 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Gesundheit HaushaltsausschussZP 7 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, PeterAumer, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Volker Wissing,Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der FDPBankenunion – Subsidiaritätsgrundsatz be-achten– Drucksache 17/10781 –ZP 8a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung personenbeförde-rungsrechtlicher Vorschriften– Drucksache 17/8233 –– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,Martin Burkert, weiteren Abgeordneten undder Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter,Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiterenAbgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung personenbeförde-rungs- und mautrechtlicher Vorschriften– Drucksache 17/7046 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/10857 –Berichterstattung:Abgeordnete Volkmar Vogel
Sören Bartolb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung zu dem Antragder Abgeordneten Sabine Leidig, Thomas Lutze,Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKEKeine Liberalisierung des Buslinienfernver-kehrs – Für einen Ausbau des Schienenver-kehrs in der Fläche– Drucksachen 17/7487, 17/10857 –Berichterstattung:Abgeordnete Volkmar Vogel
Sören BartolZP 9 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Änderung und Vereinfachung derUnternehmensbesteuerung und des steuerli-chen Reisekostenrechts– Drucksache 17/10774 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussZP 10 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKE:Konsequenzen aus dem Entwurf des 4. Ar-muts- und ReichtumsberichtsAußerdem werden die Tagesordnungspunkte 4 a, 45und 47 h abgesetzt. Von der Frist für den Beginn der Be-ratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktlistedargestellten Änderungen im Ablauf unserer Tagesord-nung.
Metadaten/Kopzeile:
23336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Schließlich mache ich noch auf eine nachträglicheAusschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:Der in der 187. Sitzung überwiesene nachfolgendeGesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss
zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Versicherungsteuergesetzes und des
– Drucksache 17/10039 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GOIch darf Sie fragen, ob Sie mit all diesen gerade vor-getragenen Ergänzungen und Änderungen einverstandensind. – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das hier-mit so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieenergetische Modernisierung von vermietetemWohnraum und über die vereinfachte Durch-
– Drucksache 17/10485 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidrunBluhm, Halina Wawzyniak, Dr. Kirsten Tackmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEWohnen muss bezahlbar bleiben– Drucksache 17/10776 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitc) Beratung des Antrags der Abgeordneten DanielaWagner, Ingrid Hönlinger, Bettina Herlitzius,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENMietrechtsnovelle nutzen – Klimafreundlichund bezahlbar wohnen– Drucksache 17/10120 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst der Bundesministerin für Justiz, SabineLeutheusser-Schnarrenberger.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die Energiewende ist eine der zentra-len gesellschaftspolitischen Herausforderungen unsererZeit. Ein großes Potenzial für Energieeffizienz liegt imGebäudebestand. Deshalb spielt die Wohnungswirtschaftfür das Umweltkonzept der Bundesregierung und für dieEnergiewende eine wichtige Rolle.Ein modernes, auf Klimaschutz ausgerichtetes Miet-recht kann einen eigenen Beitrag zur Energiewende leis-ten, ohne die soziale Ausgewogenheit aus den Augen zuverlieren. Aber es ersetzt nicht das, was an Fördermaß-nahmen und Verbesserungen der Rahmenbedingungenfür die Sanierung im Wohnungsbestand notwendig ist.Die Vorschläge dazu liegen leider seit Monaten im Bun-desrat. Ich kann nur sagen: Auch dieses Paket gehörtdazu.
Um höhere Energieeffizienz des Gebäudebestandestatsächlich zu bekommen, müssen Anreize geschaffenwerden, gerade auch für Vermieter von wenigen Woh-nungen, damit auch sie diese Möglichkeiten nutzen undtatsächlich die notwendigen energetischen Modernisie-rungen durchführen. Da setzt unser Gesetzentwurf an.Wir wollen, und zwar in sehr ausgewogener Weise,
damit ermöglichen, dass Sanierungsmaßnahmen, die imDurchschnitt – wenn es sich um Fassaden, um Fenster,um anderes handelt – in einer Zeit von drei Monatendurchgeführt werden, geduldet werden und dass fürdiese Zeit, wenn es zumutbar ist, keine Forderungennach Mietminderungen erhoben werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23337
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(C)
(B)
Das ist ein behutsames Vorgehen mit dem Ziel, geradedie privaten Vermieter dazu zu ermuntern, zu investie-ren, und zwar in einer Weise, dass es auch dem Mieterzugutekommt.
Es kommt dem Mieter nämlich zugute, wenn es künftigniedrigere Nebenkosten gibt, weil der Energieverbrauchverringert wird. Genau dazu dienen die von uns zu be-fördernden energieeffizienzsteigernden Maßnahmen.Damit schafft der Gesetzentwurf auch mehr Rechts-sicherheit. Natürlich gehört es zu den legitimen undselbstverständlichen Interessen des Mieters, zu wissen,welche energiesparenden Maßnahmen er akzeptierenmuss und welche Konsequenzen sich für ihn daraus ab-leiten. Genau das gilt auch für den Vermieter, der inves-tiert, der Geld in die Hand nimmt, der damit zu mehrEnergieeffizienz beiträgt, aber damit eben auch den Wertseiner Mietwohnung erhöht.Wir ändern nichts an der seit vielen Jahren bestehen-den Regelung, dass von den Modernisierungskosten– das gilt dann eben auch für Sanierungskosten – in kei-nem Fall mehr als 11 Prozent jährlich auf die Miete um-gelegt werden dürfen. Wenn wir uns die Praxis an-schauen, dann erkennen wir, dass diese Spanne von11 Prozent von vielen Vermietern gar nicht ausgeschöpftwird, obwohl sie es nach geltendem Recht tun könnten.Angesichts der großen Herausforderung der Energie-wende, der wir uns gegenübersehen, bedeutet dieser Ge-setzentwurf eine wirklich ausgewogene Anpassung vonLeistung und Gegenleistung im Mietverhältnis.
Einen weiteren wichtigen Beitrag zu Energieeffizienzund Klimaschutz kann das sogenannte Contracting leis-ten. Damit beschäftigt sich der Bundestag schon seitmehreren Legislaturperioden, und nie ist es in all denJahren gelungen, endlich einmal einen Regelungsvor-schlag zu unterbreiten. Wir wollen aber doch gerade,dass, wenn ein Vermieter von größeren Wohnungsein-heiten von der Wärmeversorgung in Eigenregie auf ge-werbliche Wärmelieferung durch einen Dritten umstellt,es zu mehr Energieeffizienz kommt, indem dann inves-tiert wird, zum Beispiel in einen neuen Heizkessel. Eineandere Möglichkeit ist, dass ein Haus mit Mietwohnun-gen im Zuge dessen mit Fernwärme versorgt wird. Daswollen wir befördern, weil so Energie gespart und dieUmwelt geschont wird.Der Vermieter kann sich darauf verlassen, dass dieUmstellung in einem geordneten Verfahren durchgeführtwird, und der Mieter weiß, dass die Umstellung nicht nurumweltfreundlich ist, sondern für ihn auch kostenneutralbleibt. Genau das wollen wir mit den Regelungen ge-währleisten, die wir jetzt im Mietrecht vorsehen.In der Haushaltsdebatte wurde von einigen Rednerndarauf hingewiesen, dass die Vertreibung von Mieternaus angestammten Vierteln das soziale Wohngefüge ge-fährde und dass dies insbesondere ein Problem in dengroßen Städten sei. Dem kann ich nur zustimmen.
In München, in Hamburg, in Köln oder in Berlin – werregiert dort, teilweise seit Jahren?
Wer nutzt die rechtlichen Möglichkeiten zum Kiez- undMilieuschutz, die gerade auf Länderebene bestehen? Ichhabe davon bisher wenig gehört. Aber wir machen jetztetwas mit diesem Gesetzentwurf!
– Wir schmeißen niemanden raus; im Gegenteil! Viel-leicht haben Sie bei diesem Gesetzentwurf bemerkt, dasswir an den Kündigungsfristen nichts ändern, sonderndass es genau bei den Regelungen bleibt, wie wir sie der-zeit haben.Mit unserem Gesetzentwurf werden wir Mieter künf-tig sogar noch besser vor Eigenbedarfskündigungenschützen.
Die Umgehung des Kündigungsschutzes bei der Um-wandlung in Eigentumswohnungen nach dem sogenann-ten Münchener Modell wird es zukünftig nicht mehr ge-ben. Der Schutz vor Eigenbedarfskündigungen fürmindestens drei Jahre – nach Landesrecht übrigens dannfür bis zu zehn Jahre – wird auch greifen, wenn eine Per-sonengesellschaft ein Mietshaus erwirbt, um die Woh-nungen in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Genaudas hat doch dem Vorschub geleistet, was wir in man-chen Städten erleben, nämlich dass in einer Art undWeise umgewandelt wird, bei der die derzeitigen rechtli-chen Regelungen eben nicht greifen. Deshalb ist der Ge-setzentwurf, den wir hier vorlegen, ausgewogen im Hin-blick auf Rechte und Pflichten von Mietern undVermietern.
Das gilt auch – erlauben Sie mir eine letzte Bemer-kung –, wenn es um missbräuchliches Verhalten vonMietern geht, und das gibt es; das kann man nicht leug-nen. Um das festzustellen, braucht man nicht lange sta-tistische Untersuchungen und tatsächliche Bewertungen;
da muss man sich nur einmal mit Vermietern unterhalten,liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Vermieter stehen
Metadaten/Kopzeile:
23338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(C)
(B)
teilweise hilflos da, wenn ihre Mietwohnungen beschä-digt werden oder sich die Mieter den Zahlungsverpflich-tungen entziehen. Da wissen die Vermieter nicht, wie sieihr Eigentum, ihre Mietwohnung, wiederherrichten sol-len oder entsprechend durchgreifen können. Auf derGrundlage des Berliner Räumungsmodells – das habenwir etwas weiterentwickelt – verbessern wir die Möglich-keiten des Vermieters, hier angemessen vorzugehen.
Von daher bietet der Gesetzentwurf eine gute Grund-lage für die kommenden, mit Sicherheit sehr engagiertgeführten Beratungen zu einem wichtigen gesellschaftli-chen Thema.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Ingo Egloff für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Normalerweise heißt es ja: Aller guten Dingesind drei. – In diesem Fall, was die Mietrechtsänderungangeht, diskutieren wir, glaube ich, das vierte oder fünfteMal. Trotz der diversen Referentenentwürfe und der Dis-kussionen, die wir bisher hier im Plenum und auch imAusschuss geführt haben, kann man feststellen, dass dasDing, was hier vorgelegt worden ist, leider nicht gut ge-worden ist.
Immerhin haben wir jetzt einen Gesetzentwurf, mitdem wir arbeiten können. Und ich hatte bis zu IhrerRede, Frau Ministerin, die stille Hoffnung, dass es ge-lingt, Dinge noch zu verbessern.
Aber nachdem Sie hier erklärt haben, dass wir eigentlichgar keine soziale Schieflage in diesem Lande haben, wasdie Mietensituation angeht, ist diese Hoffnung gestor-ben. Darauf zu verweisen, dass in Hamburg, in Münchenund in anderen Ballungszentren Sozialdemokraten regie-ren, wohl wissend, dass die Gesetzgebungskompetenzfür diese Sachen beim Bund liegt, das ist mehr als billig,Frau Ministerin.
Der Gesetzentwurf, so wie er hier vorliegt, hat erheb-liche Mängel:Er blendet die Frage des sozialen Gleichgewichts völ-lig aus, sowohl bei der energetischen Gebäudesanierungals auch bei der Frage der steigenden Mieten insgesamt.Er will die Gebäudesanierung erleichtern – das isthier noch einmal gesagt worden –, indem er den Mieterndas Recht auf Mietminderung für drei Monate abschnei-det. Aber damit wird das Ziel nicht erreicht, im Gegen-teil: Der Gesetzentwurf führt an dieser Stelle zu neuenRechtsunsicherheiten, weil mit dieser Dreimonatsrege-lung doch nur neue Spielwiesen für Anwälte eröffnetwerden:
Ist es Instandsetzung, ist es normale Modernisierung, istes energetische Gebäudesanierung? Bei den ersten bei-den Sachverhalten hat man Mietminderungsrecht, beimletzten nicht. Das öffnet doch dem Rechtsstreit Tür undTor. Von daher, meine Damen und Herren, haben Siehiermit denjenigen, die energetisch sanieren wollen, ei-nen Bärendienst erwiesen, nicht aber das Problem gelöst.
Der Gesetzentwurf gibt vor, Probleme zu lösen, wokeine sind, so bei den Mietnomaden – darauf werde ichnoch zurückkommen –, und insgesamt benachteiligt eralle Mieter, indem er ihnen Rechte abschneidet.Mit anderen Worten: Der Entwurf, so wie er hier vor-liegt, meine Damen und Herren, ist in meinen Augen einschlechter Entwurf.Wenn eine Untersuchung des Pestel Instituts im Auf-trag der Kampagne „Impulse für den Wohnungsbau“feststellt, dass der Anteil der Haushalte mit einem Ein-kommen unter 1 500 Euro im Monat von 2002 bis 2010von knapp 39 Prozent auf 44 Prozent gestiegen ist, undwir gleichzeitig wissen, dass es Haushalte gibt, die40 Prozent ihres Einkommens für Miete ausgeben müs-sen, dann sollte eigentlich klar sein, dass hier Hand-lungsbedarf auf der sozialen Seite besteht,
und zwar auf zwei Ebenen:Angesichts dieser Zahlen kann man doch unschwerfeststellen, dass eine weitere Belastung dieser Haushaltemit Kosten schwer möglich ist. Das gilt auch für dieenergetische Gebäudesanierung. An dieser Stelle habenwir ein gesellschaftliches Problem.Angesichts der Mietenentwicklung in vielen Bal-lungszentren ist auch Handlungsbedarf angesagt, wennman die soziale Spaltung der Städte und die Verdrän-gungswettbewerbe in den Städten nicht weiter fort-schreiten lassen will.Die SPD-Fraktion hat hierzu Positionen vorgelegt.Sie waren hier auch schon Gegenstand der Debatte;trotzdem möchte ich noch einmal darauf zurückkom-men:Dazu zählen die Absenkung der Umlage bei derModernisierung von 11 auf 9 Prozent, aber auch, Miet-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23339
Ingo Egloff
(C)
(B)
erhöhungen nach § 558 Abs. 3 BGB in Zukunft nur inHöhe von 15 Prozent alle vier Jahre statt in Höhe von20 Prozent alle drei Jahre zu gestatten.Dazu gehört auch die Forderung – dies ist eine wich-tige Forderung –, bei der Neuvermietung eine Kap-pungsgrenze bei einem Betrag von 10 Prozent über derortsüblichen Vergleichsmiete einzuführen; denn das istes doch: Wenn die Wohnungen frei werden, dann ist derVermieter nicht gehalten, irgendwelche Grenzen zu be-rücksichtigen, sondern kann die Miete nehmen, von derer meint, dass er sie erzielen kann.
Das führt dazu, dass an dieser Stelle die Verdrängungs-wettbewerbe einsetzen. Deswegen kommt es auch da-rauf an, wie die ortsübliche Vergleichsmiete berechnetwird. So, wie sie bisher berechnet wird, führt das ebenauch dazu, dass Mieterhöhungen nicht verhindert wer-den.
Ich freue mich, dass die Grünen in ihrem Antrag eineähnliche Überlegung angestellt haben, was diese Frageangeht. Da gibt es im Detail Unterschiede, man kannauch darüber streiten, ob man einen Referenzzeitraumvon sechs Jahren oder zehn Jahren nimmt, und darüberdiskutieren, welche Mieten da einfließen. Aber die Rich-tung ist in Ordnung. Auch Ihr Vorschlag, meine Damenund Herren von den Grünen, den Landesregierungenbzw. Kommunen das Recht einzuräumen, bestimmteMietobergrenzen in Gebieten einzuführen, finde ich gutund zielführend. Das setzt an dem Vorschlag an, den dasLand Berlin im Bundesrat eingebracht hat, und daswürde den Kommunen helfen, in bestimmten Stadtbezir-ken Wildwuchs und schlechte Entwicklungen zu beseiti-gen.
– Ja, wer nun dafür sozusagen das Urheberrecht zu bean-spruchen hat, das lasse ich jetzt einmal dahingestelltsein. Auf jeden Fall ist die Richtung richtig.Die Kollegen von den Linken legen wie üblich eineSchippe drauf. Ich finde, es schießt deutlich über dasZiel hinaus,
wenn festgeschrieben wird: Die Miete darf 30 Prozentdes Nettoeinkommens nicht überschreiten, eine Ober-grenze von 30 Prozent des bundesdurchschnittlichenHaushaltseinkommens darf nicht überschritten werden. –Ich halte das für unpraktikabel, meine Damen und Her-ren, aber Sie mussten ja irgendetwas machen, was unstoppt, und so sind Sie zu diesem Vorschlag gekommen.
Das wird in der Praxis nicht funktionieren, genauso wiees nicht funktionieren wird, die Umlage auf 5 Prozent zubegrenzen. Dann machte keiner mehr energetische Ge-bäudesanierung. Ebenso ist Ihre Vorstellung, die nor-male Mieterhöhung nur bei Wohnwertverbesserung grei-fen zu lassen, nicht zielführend; das funktioniert in demMarkt nicht. Das führte letztendlich nur dazu, dass dieWohnungsbestände dann nicht mehr in dem Zustand wä-ren, in dem sie sein sollten.Allerdings haben Sie wenigstens Vorstellungen, wennauch falsche, wohin die Entwicklung gehen soll. SolcheVorstellungen hinsichtlich der sozialen Frage vermisseich, wie ich schon gesagt habe, bei der Regierung völlig.Zwar hatte der Kollege Mayer in der Haushaltsdebattedarauf hingewiesen, dass nun auch die Regierungsfrak-tionen das Problem erkannt hätten – vielleicht gilt dasauch nur für den christlichen Teil der Regierung –, aberanscheinend ist ja nicht daran gedacht – da können sichdie Koalitionspartner wahrscheinlich wieder nicht eini-gen –, diese soziale Frage zu lösen.
Kommen wir zum Thema Mietminderung zurück.Warum eröffnen Sie hier eine neue Spielwiese für An-wälte, die den Gerichten zusätzliche Arbeit verschafft?Die dreimonatige Mietminderungssperre bei energeti-scher Gebäudesanierung wird nicht dazu führen, dasssich irgendein Eigentümer dazu veranlasst sieht, eine Sa-nierung durchzuführen, die er sonst nicht gemacht hätte.Das ist schlicht und ergreifend Unsinn.
Sie geben hier ohne Not das Äquivalenzprinzip auf.Die eine Seite erbringt die Leistung nicht, nämlich dieZurverfügungstellung einer ordnungsgemäßen störungs-freien Mietsache, aber die andere Seite soll dafür vollzahlen. Das geht nicht, meine Damen und Herren.
Nun noch einmal zum Thema Mietnomaden. Ich habeschon in der Haushaltsdebatte gesagt: Das ist wie beidem Scheinriesen bei Jim Knopf. Je näher man kommt,desto kleiner wird er. Und genauso ist es hier. Je näherman dem Thema kommt, desto kleiner wird es. Abgese-hen von den Fällen, die die Boulevardpresse manchmalhochjubelt, haben Sie überhaupt kein belastbares Zah-lenmaterial.
Der Kollege von der Linken hat in der Haushaltsdebattedanach gefragt. Vonseiten der Koalition wurde gesagt,dass man keine Zahlen habe. Man wisse aber, dass diesein Problem sei und man irgendjemanden kennen würde,der ein solches Problem schon einmal gehabt hat. Aufdieser Basis wollen Sie ein Gesetz zulasten aller Mieterändern! Das ist eine Sauerei, meine Damen und Herren.
Metadaten/Kopzeile:
23340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(C)
(B)
Wenn Sie es nicht verstanden haben, dann lesen Sie esim Antrag der Grünen nach. Sie haben sich die Mühe ge-macht, diese Frage genau zu klären. Sie können sich dieganzen Positionen auf Seite 2, in der Mitte, noch einmaldurchlesen. Wichtig ist ein Satz, den Sie sich merken soll-ten: „Dieses ‚Phänomen‘ ist auf Einzelfälle beschränkt.“Genau das ist es. Es gibt Einzelfälle, bei denen es passiert.Aber es ist kein gesellschaftliches Problem, das durcheine Änderung des gesamten Mietrechts gelöst werdenmuss.
Ein weiter Punkt. Ein Räumungsverfahren, bei demdas Gericht noch keine endgültige Entscheidung in derHauptsache getroffen hat, ist rechtsstaatlich meines Er-achtens nicht in Ordnung.
Entscheidend ist der Primärrechtsschutz und nicht derVerweis auf einen Schadenersatzanspruch, der dann hin-terher eventuell gezahlt werden müsste. Wenn man drau-ßen ist, ist man draußen. Da nützt auch kein Schadener-satzanspruch.
Darüber haben wir hier schon mehrfach diskutiert, genauwie über die Frage, ob wegen der Nichtzahlung der Kau-tion ohne Abmahnung gekündigt werden darf. Es bleibtdie Möglichkeit nach § 543 Abs. 1 BGB. Das ist auchausreichend. Das, was Sie hier machen, schießt deutlichüber das Ziel hinaus und ist nicht erforderlich. Es schnei-det die Rechte aller Mieter ab, und deshalb ist es nicht inOrdnung.Insgesamt hat dieser Gesetzentwurf viele Mängel. Po-sitiv möchte ich vermerken, dass das Münchener Modellverhindert werden soll. Das ist der einzige wirkliche An-satz sozialer Mietpolitik, der in diesem Entwurf enthal-ten ist. Was die soziale Frage angeht, können Sie allesandere vergessen.
Hoffen wir, dass wir zumindest nach der Anhörungnoch einmal in eine neue Debatte eintreten können, dieauf die tatsächlichen Sachverhalte ein Stück weit mehrabstellt. Wir werden uns in diesem Zusammenhang auchnoch einmal darüber unterhalten müssen, wie der Be-reich Contracting genau ausgestaltet werden soll. Ichgebe die Hoffnung nicht auf, dass auch Sie lernfähigsind, meine Damen und Herren. Lassen Sie uns gemein-sam im Interesse der Mieter daran arbeiten.
Aber mit dem Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben,geht es nicht.Vielen Dank
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun die Kollegin
Andrea Voßhoff das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Egloff, ich habe Sie schon häufiger zu demThema gehört. Viel Neues haben Sie heute nicht dazubeigetragen. Vor allem fehlt mir Ihr Lösungsansatz, wasdie Forcierung der energetischen Gebäudesanierung be-trifft. Dazu haben Sie schlicht gar nichts gesagt.
Wie kaum ein anderer Bereich ist das Wohnraum-mietrecht durch das Sozialstaatsgebot und die Sozial-pflichtigkeit des Eigentums geprägt. Ja, Deutschland istein Land der Mieter. Das soziale Mietrecht haben wir inbesonderer Weise zu schützen. Das ist völlig unstreitig.Dort sehen wir auch keinen Nachholbedarf.Wohnraum zur Miete stellt eine elementare Grund-lage für die private Lebensgestaltung und Lebensentfal-tung dar. Es gibt 40 Millionen Wohnungen; davon sinddeutlich mehr als die Hälfte, nämlich 24 Millionen,Mietwohnungen. Die Bedeutung des Mietrechts könnenwir daher nicht hoch genug einschätzen.Aber, meine Damen und Herren von der SPD, auf deranderen Seite gilt ebenso: Deutschland ist auch ein Landder Vermieter. Denn der überwiegende Teil des Miet-wohnangebots – 61 Prozent oder rund 14,5 MillionenWohneinheiten – wird von privaten Kleinanbietern zurVerfügung gestellt. Private Vermieter, Freiberufler,Handwerker oder andere Gewerbetreibende bauen odererwerben nicht selten ein Mietshaus, das ihnen zur Ver-mögensbildung oder zur eigenen Altersvorsorge dient.Zu nennen sind auch die Familien, die in ihrem kre-ditfinanzierten Wohnhaus vielleicht eine Einliegerwoh-nung unterhalten, um mit den Mieteinnahmen die mo-natlichen Zinszahlungen abzufedern. Zu nennen sindebenfalls verwitwete Rentner, die aus dem zu groß ge-wordenen Wohnhaus ausziehen und es vermieten.Vergessen wir dabei nicht: Hauseigentum muss nichtsmit großem Reichtum zu tun haben; es wird auch vererbtund dann von den Erben vielleicht nicht selbst genutzt,sondern vermietet. Auch das gilt es zu berücksichtigen.Deshalb hat das Mietrecht die Interessen der Mieter undVermieter immer in Einklang zu bringen. Das tun wirmit unserem Gesetzentwurf.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23341
Andrea Astrid Voßhoff
(C)
(B)
Wir sehen in zwei Schwerpunktbereichen Reformbe-darf; die Ministerin hat es bereits vorgetragen:Erster Bereich. Der Schutz des Vermieters – HerrKollege Egloff, zu Ihren Ausführungen hierzu kommeich gleich noch – vor Mietbetrügern ist schlicht unzurei-chend.
Zweiter Bereich. Wenn wir die Energiewende wollenund die energetische Gebäudesanierung fordern, dann istdas eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und wir kom-men um die entsprechende Gestaltung im Mietrechtnicht herum.
Kommen wir zunächst zum Problem des Mietbetru-ges. Sie sagen, es gebe nur eine verschwindend geringeZahl an Mietnomaden, und diese Zahl würde – das ha-ben Sie noch einmal wiederholt – von der Boulevard-presse maßlos aufgebauscht. Ja, das ist Gott sei Dankkein Massenphänomen. Sie kennen aber sicherlich dieStudie der Uni Bielefeld, die besagt, dass es sich abertatsächlich um ein Phänomen handelt.
Meine Damen und Herren, lieber Herr Kollege Egloff,jeder Mietbetrug ist einer zu viel.
Schauen Sie sich an – auch das weist die Studie der UniBielefeld aus –, in welcher Größenordnung den oft pri-vaten Vermietern finanzielle Schäden entstehen.Herr Kollege Egloff, Sie haben einmal in einer ande-ren Debatte gesagt: Wenn man mit Wohnungsbaugesell-schaften redet, stellt man fest, dass diese das Phänomennicht groß beeinträchtigt. – Das ist nicht verwunderlich.Große Wohnungsbaugesellschaften haben eine Vielzahlvon Mitarbeitern, gar Rechtsabteilungen, die sich mit derThematik befassen können. Ich frage mich, Herr KollegeEgloff: Sehen das die privaten Vermieter auch so? Ichhatte bereits gesagt, dass es sich beim überwiegendenTeil der Vermieter um private Vermieter und Kleinver-mieter handelt. Diese Vermieter, nicht die großen Woh-nungsbaugesellschaften, sind unser Maßstab. Sie habeneinen Anspruch darauf, bei der Bekämpfung des Mietbe-truges Unterstützung zu erhalten.
Die Ministerin hat die Instrumente, die wir in diesemZusammenhang anbieten, genannt. Ich halte sie für aus-gewogen.
Wer die zum Schutz des Mieters eingefügten Normen imBereich des Räumungsschutzes in dieser Weise miss-braucht, wie es Mietbetrüger tun, hat unseren Schutznicht verdient.
Wir haben Maßnahmen entwickelt, damit diese Schutz-rechte nicht missbraucht werden können. Eine beschleu-nigte Zwangsräumung muss möglich sein, und zwar mitverschiedenen Instrumenten, die heute bereits genanntwurden. Das ist im Interesse eines ausgewogenen Miet-verhältnisses sinnvoll und notwendig.
Kommen wir nun zum zweiten Schwerpunktbereich.Die energetische Gebäudesanierung ist bereits angespro-chen worden. Wer immer davon redet, dass er die ener-getische Gebäudesanierung will, der muss auch entspre-chend handeln. Da kommen wir am Mietrecht nichtvorbei. Ich finde, wir haben die Möglichkeiten, die wirnutzen konnten, sehr sorgsam und schonend genutzt, undzwar zugunsten des Mieters.Natürlich beeinträchtigt der Mietminderungsaus-schluss für die ersten drei Monate einer Sanierung dasÄquivalenzprinzip; da haben Sie recht, Herr Egloff. Wirwissen jedoch, auch von vielen Vermietern, dass geradedie Mietminderungsansprüche der Mieter eine großeBarriere für die Entscheidung zur energetischen Gebäu-desanierung darstellen.Darum haben wir eine Begrenzung auf die energeti-sche Sanierung vorgenommen, die bezogen auf dieMietsache auch nachhaltige Einspareffekte erbringt; dasheißt, dass der Mieter im Umkehrschluss eine Entlastungerfährt. Das alles darf man nicht außer Acht lassen. DieZahlen beweisen es: Der Gebäudebereich ist für 40 Pro-zent des deutschen Endenergieverbrauchs und für einDrittel der CO2-Emissionen verantwortlich. Hier müssenwir handeln; das gilt eben auch für das Mietrecht. Dabeigilt es, durch behutsames Vorgehen die Interessen derMieter zu wahren.Der Gesetzentwurf enthält hierzu viele gute Ansätze.Ich denke daher, wir sollten die entsprechenden Beratun-gen im Rechtsausschuss unter diesem Gesichtspunktdurchführen.Sie haben die 11-Prozent-Umlage für die Modernisie-rungskosten kritisiert. Wir haben sie nicht verändert. DieUmlage bleibt so, wie sie ist.Es gibt viele private Vermieter, die wissen, dass sie dieseModernisierungsumlage nicht auf die Miete schlagenkönnen, die aber froh wären, wenn einige Barrieren, dieim Mietrecht vorhanden sind, abgebaut würden, damitsie überhaupt erst sanieren können. Es gibt Vermieter,die bereit sind, die Modernisierungsumlage gar nicht zu-grunde zu legen, weil sie wissen, dass Angebot undNachfrage die Höhe der Mieten steuern. Das sollten wirdurchaus von der Entwicklung am Markt abhängig ma-chen; wir sollten uns das anschauen. Ich denke aber, esist ein guter Weg, den wir hier gehen, weil gerade privateVermieter entsprechende Sanierungsmaßnahmen bisherscheuen. Diese Bremse wollen wir lösen.
Metadaten/Kopzeile:
23342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Andrea Astrid Voßhoff
(C)
(B)
Das Thema Contracting ist erwähnt worden; auch da-rüber ist viel gesprochen worden. Da gibt es sicherlichan der einen oder anderen Stelle Beratungsbedarf. Aberes ist die christlich-liberale Koalition, die jetzt dem Con-tracting erstmals einen Rechtsrahmen gibt. Wir wollendie Kostenneutralität für den Mieter erreichen. Da gibtes im Einzelfall sicherlich noch Diskussionen. So gese-hen wird die Anhörung, die wir dazu durchführen wer-den, sicherlich sehr zielführend und sinnvoll sein; viel-leicht erhalten wir noch die eine oder andere Anregung.Wenn Sie, meine Damen und Herren von der SPD, esmit der energetischen Sanierung ernst meinen, dann soll-ten Sie sich dem Thema auch im Mietrecht nicht ver-schließen. Eine ausgewogene Reform ist in diesem Ent-wurf erkennbar. Alle weiteren Details können wir imBeratungsverfahren sicherlich noch miteinander erör-tern.Ich darf mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit be-danken.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Halina Wawzyniak
für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! „Mietrechtsänderungsgesetz“ – das hört sich totalneutral an, ist es aber nicht. Der Titel des Gesetzentwurfsheißt nämlich korrekt: „Entwurf eines Gesetzes über dieenergetische Modernisierung von vermietetem Wohn-raum und“ – darauf kommt es an – „über die verein-fachte Durchsetzung von Räumungstiteln“. Damit istauch klar: Es handelt sich um ein Gesetz zum Abbau vonMieterinnen- und Mieterrechten zugunsten der Vermie-terinnen und Vermieter.Die energetische Modernisierung ist wichtig und rich-tig. Nur leistet der Gesetzentwurf keinen Beitrag zurnachhaltigen energetischen Modernisierung; er wendetsich – der Kollege Egloff hat darauf hingewiesen – deneigentlichen Problemen der Mieterinnen und Mieterüberhaupt nicht zu.Was regeln Sie in diesem Gesetz eigentlich wirklich?Es ist schon gesagt worden: Bei der energetischen Sanie-rung wird das Recht auf Mietminderung in den erstendrei Monaten ausgeschlossen. Ein Einwand gegen dieModernisierung, dass die zu erwartende Mieterhöhungeine Härte darstellen würde, kann nicht mehr sofort gel-tend gemacht werden, sondern erst im Mieterhöhungs-verfahren, und das dann auch nur noch einen Monatlang. Das heißt, Mieterinnen und Mieter haben keineChance mehr, Einspruch zu erheben. Die Anforderungenan die Begründung der Modernisierung und Sanierungwerden für den Vermieter gesenkt. Die Umlage von jähr-lich 11 Prozent der Kosten der Modernisierung wird bei-behalten. So weit, so schlecht.Dann kommen Sie noch mit der Sicherungsanord-nung, die die Vermieter unangemessen gegenüber Miete-rinnen und Mietern schützt, die die Mietzahlungen nichtmehr leisten können. Sie schaffen Regelungen für einvereinfachtes Räumungsverfahren, das heißt, Sie er-leichtern es, Mieterinnen und Mieter einfach auf dieStraße zu setzen.
Ich muss einmal sagen: Ich halte das für eine bodenloseFrechheit.
Das ist ein gnadenloses Ausspielen der Macht des wirt-schaftlich Stärkeren. Das bringt mich dermaßen auf diePalme.Ich will jetzt einmal versuchen, Ihnen zu erklären,was Sie da eigentlich machen:
Erstens. Jemand befindet sich legal in einer Wohnung,beispielsweise durch einen Untermietvertrag. Jetzt gibtes einen Räumungstitel gegen den Hauptmieter. Undwas machen Sie? Sie stellen fest: Den Untermieter, dersich legal in der Wohnung befindet, kann man leidernicht herausklagen. Also ermöglichen Sie eine einstwei-lige Anordnung, um ihn rauszuschmeißen. Das ist ab-surd.
Zweitens. Eine Mieterin oder ein Mieter wird wegenZahlungsverzug verklagt. Es soll nunmehr auf Wunschdes Vermieters möglich sein, dass der Mieter oder dieMieterin, der oder die die Miete nicht zahlen kann, einenBetrag hinterlegen muss, einen sogenannten Sicherungs-betrag. Wenn man keine Miete zahlen kann, hat manmöglicherweise ein existenzielles Problem, kann alsoauch diesen Betrag nicht hinterlegen. Und wofür sorgenSie jetzt? Wenn man diesen Sicherungsbetrag nicht hin-terlegen kann, dann droht Ordnungsgeld oder Ordnungs-haft. Das heißt, Sie stecken die Leute in den Knast. Dasist doch absurd.
Dazu fallen mir, ehrlich gesagt, nur noch unparlamenta-rische Begriffe ein.Es geht aber noch weiter. Wenn jemand in einer exis-tenziellen Not seine Miete nicht mehr zahlen kann undder Sicherungsanordnung keine Folge leisten kann, dannmüsste man sich normalerweise Gedanken machen: Wiekann man den Menschen helfen, die in einer existenziel-len Not sind und ihre Miete nicht mehr zahlen können?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23343
Halina Wawzyniak
(C)
(B)
Stattdessen wollen Sie durch eine einstweilige Anord-nung die Leute aus ihrer Wohnung rausschmeißen. Dasist so unfassbar, da fehlen mir echt die Worte.
Letzter Punkt. Sie führen einen neuen Kündigungstat-bestand ein, nämlich Zahlungsverzug bei der Mietkau-tion. Das heißt, eine fristlose Kündigung kann ohne vor-herige Absprache oder Abmahnung erfolgen. Damitstellen Sie die Mieterinnen und Mieter übrigens schlech-ter als Gewerbetreibende.Ich will Ihnen einmal sagen, was der Bundesrat zu Ih-rem ach so tollen Gesetz geäußert hat. Der Bundesrat hatgesagt: Streichen Sie den Punkt mit der Mietminderung,streichen Sie den Punkt mit dem neuen Kündigungstat-bestand „Verzug von Mietkautionszahlung“, und strei-chen Sie diese wirklich unsinnige Sicherungsanordnung.
Der Mieterbund spricht von zahlreichen Mietrechtsver-schlechterungen. Die mit dem Mietrechtsänderungsge-setz verfolgten Ziele werden im Übrigen nicht erreicht.Ihr gesamter Gesetzentwurf hinterlässt bei mir denEindruck: Die Notwendigkeit der energetischen Moder-nisierung ist eigentlich nur ein Vorwand. Vielmehr gehtes doch darum, ein nur in geringem Umfang vorhande-nes Problem, das sogenannte Mietnomadentum, aufKosten von Mieterinnen und Mietern zu lösen. Darüberwurde heute schon viel gesprochen.Was heißt Mietnomadentum eigentlich? Dabei han-delt es sich um eine Konstellation, in der von Anfang an,also mit Unterzeichnung des Mietvertrages, jemand dieAbsicht hat, niemals seine Miete zu zahlen.
Das sind die Fälle, über die wir reden. Das ist Mietno-madentum.Jetzt muss man feststellen, dass es das Problem in die-ser Größenordnung überhaupt nicht gibt.
Die FDP hat in der 16. Legislaturperiode im Rahmen ei-ner Kleinen Anfrage von den „drängendsten wohnungs-wirtschaftlichen und mietrechtlichen Problemen“ ge-sprochen.
Die Antwort der Bundesregierung, damals CDU/CSUund SPD: „Die der Bundesregierung vorliegenden Zah-len bestätigen diesen Eindruck nicht“.Der Bundesverband der deutschen Wohnungs- undImmobilienunternehmen hat 2008 festgestellt, die Aus-stände der Mitgliedsunternehmen seien seit 2003 um einViertel gesunken. Im Rahmen einer Studie zum ThemaMietnomaden der Universität Bielefeld, von der hierschon die Rede war, wurde Folgendes gemacht: DerHausbesitzerverband hat seine Mitglieder – das sind Be-sitzer von 24 Millionen Mietwohnungen – gebeten, sichzu melden, wenn es mit dem Mietnomadentum ein Pro-blem gibt. Rückmeldung: rund 1 400 Mitglieder, davongab es 400 Fälle von wirklichem Mietnomadentum. Da-mit liegt die Zahl im Promillebereich.Der Abgeordnete Mayer – darauf wurde schon hinge-wiesen – hat auf eine Nachfrage meines KollegenBockhahn, wie hoch der Anteil der sogenannten Mietno-maden in Deutschland wirklich sei, gesagt: „Ich bin derfesten Überzeugung, dass es hier kein verlässliches undauch kein belastbares Zahlenmaterial gibt …“. Er sprachvon „Überzeugung“. Der Kollege Krings hat dazwi-schengerufen: „Darauf kommt es nicht an!“.
Hallo? Sie haben keine messbaren Zahlen, Sie sagen, eskomme darauf überhaupt nicht an: Aber Sie schränkendie Rechte von Mieterinnen und Mietern ein?
Das ist keine Politik, das ist verrückt. Sie jagen Phan-tome.
Reden wir über die tatsächlichen Probleme in Bezugauf das Mietrecht, reden wir über die tatsächlichen Pro-bleme von Mieterinnen und Mietern, reden wir einmalüber Mietsteigerungen. Der Mieterbund hat gesagt, dassein Drittel der Mieterinnen und Mieter mehr als ein Drit-tel ihres Haushaltseinkommens für Miete und Energiebezahlen müssen. Mietsteigerungen bei Neuvermietun-gen in Großstädten betragen 20 bis 30 Prozent. Eine An-frage meiner Kollegin Lay hat ergeben, dass 5,6 Millio-nen Sozialwohnungen benötigt werden, aber nur1,6 Millionen vorhanden sind.Die Regelungen zum sogenannten Mietwucher imWirtschaftsstrafgesetzbuch, wonach Mieterhöhung beiNeuvermietung nicht mehr als 20 Prozent der Ver-gleichsmiete betragen dürfen, laufen leer. Die Regelun-gen finden nämlich nur Anwendung, wenn eine soge-nannte angespannte Marktsituation vorliegt. Das sind dieDinge, um die Sie sich wirklich kümmern müssten, tunSie aber nicht.Wir als Linke haben das Problem gesehen und des-halb bereits im Februar 2011 einen Antrag eingebracht.Nach der heutigen Rechtslage ist es so, dass die Mieteinnerhalb von drei Jahren um bis zu 20 Prozent erhöhtwerden kann. Das ist nicht nur eine nicht hinzuneh-mende Mietsteigerung für Mieterinnen und Mieter, es istauch ein Beitrag zur generellen Mietsteigerung. DerBundesrat hat hier einen konkreten Vorschlag gemacht.Die SPD hat ihn aufgegriffen, nämlich: Mietsteigerun-gen in Höhe von 15 Prozent binnen vier Jahren. Wir sa-gen Ihnen: Auch das ist noch zu viel.
Metadaten/Kopzeile:
23344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Halina Wawzyniak
(C)
(B)
Wir finden, bei bestehenden Mietverhältnissen sollohne wohnwertverbessernde Maßnahmen eine Mietstei-gerung nur im Rahmen des Inflationsausgleichs möglichsein. Jetzt brüllen Sie wahrscheinlich gleich wieder: In-vestitionsanreize! Investitionsanreize! – Egal. Investitio-nen lohnen sich langfristig, weil das Geld durch dieMieteinnahmen wieder reinkommt. Wir sagen Ihnen– das ist der zentrale Unterschied zwischen Ihnen unduns –: Wohnungen sind ein Zuhause für Mieterinnen undMieter und kein Anlageobjekt, mit dem man Geld ma-chen will.
Sie wollen die Umlage bei 11 Prozent belassen. Wirwollen eine Umlage von 5 Prozent. Auch das rechnetsich im Übrigen rein betriebswirtschaftlich; denn dieModernisierungskosten sind im Rahmen der Abschrei-bungsfristen zu refinanzieren. Bisher sprachen wir übri-gens noch nicht einmal darüber, dass der Mieter oder dieMieterin, nachdem die Modernisierungskosten wiederreingekommen sind, weiterhin die höhere Miete zahlenmuss.Sie werden unserem Vorschlag vermutlich nicht fol-gen, und zwar aus absurden Gründen. Sie sollten an die-ser Stelle aber zumindest dem Bundesrat folgen, der9 Prozent vorschlägt.
– Herr Kauder, wenn Sie etwas zu sagen haben, dannmelden Sie sich und krakeelen Sie nicht dazwischen.Okay?
Wir Linke sagen: Mieterhaushalte, deren Einkünfteunterhalb des jährlich festzustellenden bundesdurch-schnittlichen Haushaltsnettoeinkommens liegen, dürfenmaximal 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für alle an-fallenden Wohnkosten aufwenden. Das ergibt sich ausunserer sozialen Verantwortung.
Darf ich einen Augenblick um Ruhe bitten? – Ich
glaube, wir können uns darauf verständigen, dass Zwi-
schenrufe nach unserer Geschäftsordnung erstens zuläs-
sig und zweitens nachweislich nicht unüblich sind.
Es soll gelegentlich auch vorkommen, dass sie aus den
Reihen Ihrer eigenen Fraktion kommen, Frau Kollegin.
Ferner entspricht es einer guten parlamentarischen
Praxis, das Volumen der Zwischenrufe so zu dosieren,
dass überwiegend der Redner zu Wort kommt, der ge-
rade das Wort erteilt bekommen hat. Können wir bitte so
verfahren? – Bitte schön.
Wir fordern Sie auf: Passen Sie das Wohngeld an die
tatsächliche Miet- und Einkommensentwicklung an. Än-
dern Sie das Gesetz so, dass Sanierungen nur dann dul-
dungspflichtig sind, wenn sie keine unzumutbare Härte
bedeuten, und lassen Sie bitte die Finger von den verein-
fachten Räumungen. Wenn Sie wirklich etwas tun wol-
len, dann stellen Sie gesetzlich sicher, dass eine ersatz-
lose Räumung von Wohnungen nach Kündigung
unzulässig ist.
Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung kann die
Linke unmöglich zustimmen. Wir fordern Sie auf: Zie-
hen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück, und überarbeiten
Sie ihn grundlegend. Das wäre eine richtig gute Tat.
Dann können wir vielleicht auch miteinander reden, aber
nicht so.
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Daniela
Wagner, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Frau Kollegin Wawzyniak, selbstver-ständlich darf man mit Mietwohnungen Geld verdienen,aber es muss dabei fair zugehen.Wir haben eines der besten und ausgewogenstenMietrechte im europäischen Vergleich. Das sagt der Eu-ropäische Mieterbund. Das wollen Sie, Frau Ministerin,nun ändern. Eine Ihrer wesentlichen Begründungen füreine Mietrechtsnovelle war immer – das gilt auch heutewieder – die Durchsetzung der Gebäudesanierung undder Energiewende. Liebe Kolleginnen und Kollegen,dass die Energiewende nicht vorankommt, liegt an sehrvielem, aber nicht am Mietrecht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23345
Daniela Wagner
(C)
(B)
In diesem Zusammenhang ist, glaube ich, eher der Kol-lege Ramsauer gefordert als Frau Schnarrenberger;
denn hierbei geht es auch darum, die fehlende Planungs-sicherheit für Eigentümer zu beenden. Es geht darum,dass die Eigentümer klare Optionen auf Fördermittel ha-ben, um eine energetische Gebäudesanierung durchfüh-ren zu können.Mit Ihrer Mietrechtsnovelle spielen Sie Mieterinnenund Mieter unter dem Vorwand der Energiewende ge-geneinander aus. Wenn Ihre Vorschläge umgesetzt wer-den, die eins zu eins den Wünschen der Wohnungswirt-schaft entsprechen, dann verschärft sich dadurchnatürlich die schon heute teilweise dramatische Situationauf den Wohnungsmärkten in Ballungsgebieten. Wenigs-tens 30 bis 40 Prozent des Nettoeinkommens für Miete,das ist eindeutig zu viel.
Sie haben kein Gesamtkonzept für die energetischeGebäudesanierung und die Energiewende, und Sie habenIhre bundespolitische Verantwortung für die steigendenMieten in Boomregionen immer noch nicht anerkannt.Sie haben auch vorhin wieder auf andere verwiesen. Sogeht es aber nicht.Ein Schlüssel liegt natürlich im Mietrecht. SozialerWohnungsbau genügt schon lange nicht mehr. Wir wer-den in absehbarer Zeit eine Situation haben, in der sichbis weit in die Mitte der Gesellschaft Menschen ihreWohnungen nicht mehr leisten können. Das Mietrecht istein zentrales Instrument, um die Lasten gerecht und fairzwischen Mietern und Eigentümern zu verteilen, aber esist kein Instrument, um die energetische Gebäudesanie-rung voranzubringen. Allerdings muss es in Planungssi-cherheit für die Akteure und in ein verlässliches Anreiz-system mit zielgruppengerechter Förderung eingebettetsein. Ihr derzeitiges Förderchaos erzeugt nur Stillstand.Wenn Sie die energetische Sanierung zum Beispieldadurch beschleunigen wollen, dass Sie die Duldungsbe-stimmungen erleichtern, dann müssen Sie gleichzeitigdie Mieterrechte stärken. Stattdessen bauen Sie Mieter-rechte ab. Sie schränken zum Beispiel das Mietminde-rungsrecht ein, und Sie verändern die Regelung für Här-tefallgründe zuungunsten der Mieterinnen und Mieter.So erreichen Sie bei der Mieterschaft keine Akzeptanzfür die Energiewende, und Sie erreichen auch nicht, dassHausbesitzer auch nur einen Cent mehr investieren.
Der richtige Weg ist, das Mietminderungsrecht aufnicht umgesetzte, allerdings gesetzlich vorgeschriebeneMaßnahmen auszuweiten. Bei den Mieterhöhungsmög-lichkeiten müssen wir die Refinanzierungszeiträumeverlängern. Das heißt, wir müssen die Modernisierungs-umlage von 11 auf 9 Prozent senken. Sie sagen ja selbst,dass sie überhaupt nicht mehr durchsetzbar ist. Wenn unsHauseigentümer entgegenhalten, dass dann überhauptkeine energetische Gebäudesanierung mehr geschehenwird, dann frage ich mich – wenn das ein so bedeutenderFaktor ist –, wieso bei bestehender Modernisierungsum-lage in Höhe von 11 Prozent nicht schon längst alle Ge-bäude energetisch saniert sind.Die ortsübliche Vergleichsmiete ist ebenfalls eine ent-scheidende Schraube bei der Mietenentwicklung. Hierfehlen uns begrenzende Mechanismen. Die Neuvertrags-mieten von heute sind die Bestandsmieten von morgen.Deswegen schlagen wir vor, in Kommunen oder in Teil-gebieten von Kommunen, in denen nachgewiesenerWohnraummangel herrscht, per LandesermächtigungObergrenzen mit dem Ziel einzuführen, dass die Neuver-tragsmieten dort auf keinen Fall mehr als 10 Prozentüber der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen dürfen. Siesehen: Es gibt tatsächlich auch ausgewogene Vorschläge,um die energetische Gebäudesanierung voranzubringen,ohne dabei die Rechte der Mieterinnen und Mieter ein-zuschränken.Die Energiewende im Gebäudebereich muss gelin-gen. Dazu müssen wir die Menschen mitnehmen. Dasleistet Ihr Gesetzentwurf bei weitem nicht. Man merktdem Gesetzentwurf auch an, dass Sie die verlorenen dreiJahre – etwa so lange kündigen Sie die Novelle bereitsan – einholen müssen. Sie bauen im Hauruckverfahreneinfach nur Mieterrechte ab. Dieses einseitige Vorgehenwird nicht zum gewünschten Ergebnis führen, und daswird auch die Energiewende in keiner Weise beflügeln.Das sage ich Ihnen schon heute voraus.Die Mietpreisspirale wird auf jeden Fall, auf die eineoder andere Art und Weise, auszubremsen sein. Dasganze Gerede von energetischer Gebäudesanierung er-scheint uns in diesem Fall vor allen Dingen ein Vor-wand, um die Wünsche aus bestimmten Vermieterkrei-sen zu erfüllen. Wir wollen, dass es so bleibt, wie esbisher war. Wir wollen ein faires und ausgewogenesMietrecht, das sowohl die Interessen der Mieterinnenund Mieter als auch der Hauseigentümer in den Blicknimmt. Das leistet Ihr Gesetzentwurf nicht. Ich wünschemir daher noch sehr eingehende Beratungen im Rechts-ausschuss und im Bauausschuss, und ich wünsche mir,dass es bei den Anhörungen viele Beiträge gibt, die Ih-ren Entwurf des Mietrechtsänderungsgesetzes verbes-sern helfen.Danke schön.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege JensKoeppen, der neben seinen sonstigen parlamentarischenAufgaben auch die besonders dankbare Aufgabe der Ko-ordination unserer Schriftführerinnen und Schriftführerwahrnimmt, feiert heute seinen 50. Geburtstag. Er be-ginnt die Gestaltung dieses besonderen Tages, wie essich gehört, im Präsidium des Deutschen Bundestages.Das ist ein besonders schöner Platz, um ihm die gesam-melten Glückwünsche des Deutschen Bundestages zuübermitteln, was ich hiermit gerne tue.
Metadaten/Kopzeile:
23346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Ich nutze die eher seltene Gelegenheit, ihm stellver-tretend für alle Schriftführerinnen und Schriftführer fürdie unauffälligen, aber wichtigen Dienstleistungen zudanken, die er regelmäßig für die Gestaltung unsererPlenarsitzungen erbringt. Herzlichen Dank!
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae fürdie FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wenn man die Reden derOpposition hört, dann kann man nur froh sein, dass Siein diesem Land nicht regieren.
Die Vorschläge der Opposition sind einfach, grotesk undschräg. Herr Kollege Egloff, Sie haben es in Ihrem letz-ten Satz durchblicken lassen. Da haben Sie gesagt: Las-sen Sie uns an diesem Entwurf im Interesse der Mieterarbeiten;
das waren Ihre Worte.
Aber da verwechseln Sie Mietrecht und Mieterrechte.
Das Mietrecht ist ein Recht, das die Rechtsverhältnissezwischen Mieter und Vermieter ausbalanciert regeln soll.
Genau das gelingt dem Regierungsentwurf.Schauen wir uns schlaglichtartig ein paar Vorschlägeder Opposition an.
Führen wir uns Ihre Forderung zu Gemüte, dass dieHöhe der Wohnkosten für angemessenen Wohnraumhöchstens 30 Prozent des Nettoeinkommens einesMieterhaushalts betragen darf. Da fragt man sich: Kön-nen Sie das eigentlich ernst meinen?
Was ist denn in Ihren Augen „angemessener Wohn-raum“? Die Antwort auf diese Frage ist doch höchst sub-jektiv. Der eine ist bereit, für seinen Wohnraum vielGeld zu bezahlen, weil er sagt: Ich will einen schönen,großen Garten haben. Dafür fahre ich weniger häufig inUrlaub. – Der andere sagt: Ich verbringe in meiner Woh-nung den großen Teil meiner Zeit, auch meiner Freizeit.Sie ist für mich nicht nur eine Schlafstätte. – Noch einanderer sagt: Ich bin sowieso kaum zu Hause. In meinerFreizeit treibe ich Sport und fahre lieber häufiger in Ur-laub. – Man muss also feststellen: Es gibt völlig unter-schiedliche Lebensentwürfe. Wir nennen das Freiheit derLebensentwürfe. Das hat für uns mit Eigenverantwor-tung zu tun.
Was jemand für angemessen hält, ist eine höchstpersön-liche Angelegenheit. Sie wollen den Menschen ihren Le-bensentwurf vorschreiben. Wir wollen Privatautonomieund Vertragsfreiheit. Das ist der Unterschied.
Schauen wir uns einen anderen Vorschlag, den Sieschon in aller Breite ausgeführt haben, an. Da heißt es,dass die höchstmögliche Umlage der Modernisierungs-kosten auf die Miete auf 5 Prozent begrenzt werden soll.Das feiern Sie als sehr soziale Errungenschaft.
Aber was wäre die Folge eines solch abstrusen Vor-schlags? Eine solche Regelung würde dazu führen, dassdie Eigentümer ihre Modernisierungsinvestitionen her-unterfahren und sie auf das Nötigste beschränken wür-den.
Würde die höchstmögliche Umlage der Modernisie-rungskosten auf die Miete auf 5 Prozent beschränkt,müssten die Eigentümer nämlich bis zu 20 Jahre warten,bis sich ihre Investition in eine fremdgenutzte Wohnungrefinanziert hat. Also werden Investitionen unterbleiben;das ist doch völlig logisch.
Das heißt, das Handwerk hätte weniger Aufträge, Ar-beitsplätze im Handwerk und im Baugewerbe gingenverloren, und der Baubestand der Mietwohnungenwürde an Qualität verlieren, weil Investitionen unterblie-ben. Somit hätte Ihr Vorschlag zur Folge, dass die Wohn-und damit die Lebensqualität der Mieter sinken würden.
Das kann nicht Ihr Ernst sein. Aber so würde die Zu-kunft des deutschen Wohnungsmarkts, des deutschenHandwerks und des Arbeitsmarkts in Deutschland ausse-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23347
Stephan Thomae
(C)
(B)
hen, wenn die Linke eine Chance erhalten würde, ihrePläne zu verwirklichen. Das kann doch nicht wahr sein!
Aber: Man muss Ihnen dankbar dafür sein, dass Siediesen Antrag eingebracht haben. Denn jetzt können dieMenschen im Lande klar erkennen, was sie erwartenwürde, wenn Sie an der Regierung beteiligt wären. Andieser Stelle wird der Unterschied zwischen den Vorstel-lungen der Linken und dem, was eine bürgerliche Regie-rung auf die Beine stellt, deutlich.
Genauso doll ist der Antrag der Grünen. Da steht zumBeispiel, dass „die Ausweitung des Mietminderungs-rechts auf nicht umgesetzte, jedoch gesetzlich vorge-schriebene Energieeffizienzstandards im Gebäudebe-reich“ festgeschrieben werden soll. Ganz unabhängigvon der Frage, welches Streitpotenzial darin liegt, ob dieEnergieeffizienzstandards vom Vermieter eingehaltenwerden, verbunden mit allen Fragen der Beweis- undDarlegungslast und allem Pipapo, heißt das doch nichtweniger, als dass der Eigentümer mittelbar gesetzlich zueiner Investition gezwungen wird – ohne Rücksicht aufseine wirtschaftlichen Möglichkeiten. Ob der Eigen-tümer genügend liquides Eigenkapital hat, das er einset-zen kann, ob er überhaupt Fremdkapital aufnehmenkann, ob ihm die Bank ein Darlehen gibt: Alles egal,sagen Sie von den Grünen. – Geld regnet ja vom Him-mel. – Sie sagen: Der Eigentümer muss sanieren bzw.renovieren, egal ob er es sich leisten kann oder nicht.Dabei gibt es im Land übrigens eine ganze Mengevon Vermietern, die ganz schön aufs Geld achten müs-sen, und zwar deswegen, weil eine Immobilie auch eineenorme Belastung darstellen kann.Wie wohltuend ausgewogen ist dagegen der Entwurfder Regierung,
der die Rechte der Mieter und der Vermieter wirklich inein gutes Verhältnis bringt. Kollege Egloff, ich kann nursagen: Wenn Sie einmal einen Einmietbetrüger in IhrerWohnung haben, dann ist der Scheinriese Tur Tur, denSie so gerne zitieren, kein Scheinriese mehr, sonderndann ist das Problem höchst real.
Frau Kollegin Wawzyniak, Sie sagen, das sei einminimales Problem, es gebe ja kaum solche Fälle.
Na ja, dann betrifft das auch nur ganz wenige Mieter.Wir schützen den redlichen, den vertragstreuen Mieter,während Sie sich zum Anwalt der Einmietbetrügermachen. Das kann doch nicht wahr sein!
Meine Damen und Herren, man kann es nur immerund immer wieder sagen: Wir denken an beide Parteien,an Mieter und Vermieter. Unser Entwurf ist ausgewogen.Wenn man das mit Ihren Vorschlägen vergleicht, dannkann jeder vernünftige Mensch im Lande nur sagen: Wiegut, dass in diesem Land Schwarz-Gelb regiert.Vielen Dank.
Der Kollege Florian Pronold ist der nächste Redner
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Menschen, die in Metropolregionen
leben, wie hier in Berlin, wie in München oder in Ham-
burg, müssen sich bei diesem kabarettistischen Auftritt,
den wir gerade erlebt haben, richtig verarscht vorgekom-
men sein.
Herr Kollege, so richtig parlamentarisch war die
letzte Formulierung nicht.
Ja, aber Sie wissen ja: Eine Beleidigung ist umsoschlimmer, je mehr sie der Wahrheit entspricht. Insofernwar die Beleidigung gegenüber dem Kollegen ziemlichschlimm.
Wir haben folgende Situation: Immer mehr Menschenin Metropolregionen haben Angst davor, dass sie ihreHeimat nicht erhalten und in ihrer Wohnung nicht blei-ben können. Die energetische Sanierung ist für uns alle,die wir darüber reden, etwas Positives, weil wir wissen,dass sie notwendig ist und dass wir das tun müssen, umdas Klima zu retten. Für viele Menschen ist dies abereine Bedrohung, weil sie Angst davor haben, dass sieihre Miete nicht mehr zahlen können. Das trifft dieKrankenschwester genauso wie den Polizeibeamten unddie Reinigungskraft, die alle ein sehr niedriges Einkom-men haben, aber trotzdem in einer Wohnung in derInnenstadt leben wollen.Derzeit kommt es zu einer Verdrängung. Sie unter-nehmen mit Ihrem Gesetzentwurf nichts dagegen undschaffen keinen fairen Ausgleich zwischen Vermieternund Mietern.
Metadaten/Kopzeile:
23348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Florian Pronold
(C)
(B)
Die Anzahl der Haushalte, die 40 Prozent ihres Ein-kommens für das Wohnen ausgeben müssen, hat sich inden letzten zehn Jahren verdoppelt. Nicht wenige Men-schen leben von 1 300 Euro netto. Sie geben 50 Prozentihrer Nettoeinnahmen für die Miete aus. Jetzt kommenSie, wischen das alles weg und sagen: Na ja, es gibt nurwenige Fälle, in denen das umgelegt wird und man die11 Prozent im Rahmen einer Mieterhöhung durchsetzenkann. Genau in den Metropolregionen findet das aberstatt,
weil es dort, liebe FDP, eben kein freies Spiel der Kräftegibt, weil dort der Markt eben nicht funktioniert. DieMieterinnen und Mieter sind die Leidtragenden, und Sieunternehmen nichts dagegen.
Ich will es einmal auf Deutsch sagen, sodass es jederversteht: Wenn eine Wohnung für 25 000 Euro energe-tisch saniert wird, dann bedeutet das, dass auf den Mieterjedes Jahr Kosten von 2 750 Euro umgelegt werden kön-nen, im Monat 230 Euro. Wenn die Sanierungskosten10 000 Euro ausmachen, sind es immer noch 1 100 Euroim Jahr, also für viele Menschen oft ein Nettomonats-gehalt. Das sind fast 100 Euro im Monat. Dass Sie nichtin diesen Kategorien denken, ist klar. Aber es gibt eineganze Menge Menschen – die Krankenschwester, denWachmann –, die von einem solchen Gehalt leben müs-sen. Wenn sie schon in der Stadt arbeiten sollen, dannsollen sie auch in der Stadt wohnen können und nicht50 Kilometer hinausgetrieben werden.
Das ist doch das, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurfvorhaben. Hier versagen Sie, weil Sie nämlich versu-chen, die energetische Sanierung nur über das Mietrechtzu machen. Der Kollege hat darauf hingewiesen, welchgroße Probleme und welche zusätzliche Rechtsunsicher-heit dadurch entstehen. Das bekommen wir nicht überdas Mietrecht hin, sondern nur dann, wenn es einen ver-nünftigen Mix aus staatlicher Förderung – Sie haben dieKfW-Mittel für die energetische Sanierung gekürzt –und Teilung der Lasten und Nutzen von energetischerSanierung zwischen Mietern und Vermietern gibt.Sie begrenzen die Mieterhöhung auch nicht. Es istdoch nicht so, dass die Mieterhöhung dann, wenn dieenergetische Sanierung abbezahlt ist, wieder zurückge-nommen wird. Nein, sie läuft unendlich weiter. Das istzutiefst ungerecht. Daran ändern Sie nichts.
Wir sind dafür, ein faires Modell zu finden, bei demMieter und Vermieter vernünftig an Kosten und Nutzenbeteiligt werden. Wir sind dafür, dass man Mieterhöhun-gen begrenzt.
– Entschuldigen Sie, wir haben hier in diesem Hausefünfmal über diese Frage debattiert.
Wir Sozialdemokraten haben vor der Sommerpause zumBeispiel einen Antrag zur energetischen Sanierung vor-gelegt, wo wir alles genau ausgeführt haben.Wissen Sie, Frau Ministerin, was mich besonders är-gert? Wir haben im Sommer erlebt, um wen Sie sich Sor-gen machen: um Steuerflüchtlinge, die in der Schweizihr Geld anlegen.
Diese wollen Sie schützen. Aber für die Mieterinnen undMieter, für die Krankenschwester, für den Wachmannhaben Sie überhaupt keinen Cent übrig. Das ist derSkandal Ihres Entwurfes.
Sie sind sozial ungerecht. Das ist typisch FDP. Es ist gut,wenn Sie nicht mehr regieren.
Nächster Redner ist der Kollege Jan-Marco Luczak
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir behandeln heute ein Thema mit wirklichhoher gesellschaftsrechtlicher und gesellschaftspoliti-scher Relevanz.Wir haben es gehört: Fast die Hälfte der Menschen inunserem Land lebt in Mietwohnungen. Das, was uns dieOpposition hier darbietet und was in den Reden undAnträge zu hören und zu lesen ist, ist schon bemerkens-wert: Hier wird ein Mietrechtsentwurf pauschal alsschlecht abqualifiziert. Hier wird davon geredet, dassMieterrechte geschleift werden.
Hier wird sogar davon geredet, dass wir Mieter in denKnast stecken wollen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23349
Dr. Jan-Marco Luczak
(C)
(B)
Ich muss wirklich sagen: Ich vermisse bei diesem Themaden angemessenen Respekt und Ernst bei der Opposi-tion.
Den Menschen in unserem Land, denen es darumgeht, sachgerechte und zielführende Lösungen zu finden,um bei der energetischen Sanierung weiterzukommenund beim Contracting voranzukommen,
und darum, dass den Vermietern gegenüber den Mietno-maden ein vernünftiger Schutz zuteilwird, werden Siemit Ihrer Schaufensterpolitik, mit Ihren Plattitüden undmit Ihrem Populismus in keiner Weise gerecht, liebeOpposition.
Ich will eines hinzufügen – mich ärgert das wirklich,das merken Sie vielleicht auch –: Sie tun hier gerade so,als ob Sie hier das soziale Gewissen wären.
Meine Damen und Herren von der Opposition, wir alschristlich-liberale Koalition haben sehr darauf geachtet,dass dieser Gesetzentwurf ausgewogen ist, sowohl fürdie Mieter als auch für die Vermieter.
Wir brauchen Sie nicht als soziales Gewissen. Das ist füruns eine bare Selbstverständlichkeit.
Jetzt komme ich zu dem Punkt der energetischenSanierung. Das ist in der Tat ein wirklich wichtigerBereich. Deswegen sage ich: Hier müssen alle an einemStrang ziehen. Das gilt für die Vermieter, das gilt für dieMieter; aber das gilt selbstverständlich auch dann, wennes um staatliche Unterstützung geht. Das ist eine gesamt-gesellschaftliche Aufgabe, an der sich alle beteiligenmüssen.Ich erinnere an den Bundesrat. Die Frau Ministerinhat es schon angesprochen: Man muss darüber reden,dass das Vorhaben schon seit Monaten im Bundesrat blo-ckiert wird.
Wir wollen alle gemeinsam etwas für Vermieter, Mieterund vor allen Dingen für den Klimaschutz tun.
Deswegen müssen die Länder endlich aufhören, sichquerzustellen, und ihre Blockade aufgeben, meineDamen und Herren.
Wenn die Linken sagen: „Mit Vermietungen darf maneigentlich kein Geld verdienen“,
frage ich Sie, liebe Frau Kollegin Wawzyniak: Bei denProblemen, die wir in den Metropolen – in Berlin, Ham-burg, München und anderswo – im Zusammenhang mitMietpreissteigerungen haben, geht es doch geradedarum, dass wir auf den Wohnungsmärkten Knappheithaben. Wie beseitigen wir die Knappheit? Wie wollenwir das denn schaffen? Indem wir mehr Angebote schaf-fen. Aber man kann nicht immer nach dem Staat rufen,wie es in Ihren Anträgen der Fall ist, mit denen Sie einenRechtsanspruch auf staatliche Förderung generierenwollen. Es geht darum, dass wir für die privaten Vermie-ter, die an dieser Stelle investieren wollen, Anreizeschaffen. Das kann nicht alles der Staat machen.
Wenn wir schon von den privaten Kleinvermieternreden – Sie beziehen sich in Ihrer ganzen Argumenta-tion, angefangen bei den Mietnomaden bis zur energeti-schen Modernisierung, immer nur auf die großen Woh-nungsgesellschaften –, dann muss man aber auch sagen:Tatsächlich werden 60 Prozent der Wohnungen in unse-rem Land von privaten Kleinvermietern angeboten. Fürdiese ist es in der Tat ein Problem, wenn eine energeti-sche Sanierung durchgeführt werden soll und die Mieterdaraufhin ihre Miete kürzen wollen.Deswegen haben wir uns das genau angeschaut. Wirwollen in unserem Land mehr energetische Modernisie-rung. Deshalb wollen wir das fördern und gezielt An-reize setzen. Es gibt viele Vermieter in unserem Land,die schon etwas älter und vielleicht schon im Ruhestandsind. Sie können nicht einfach zur Bank gehen und einenKredit in der entsprechenden Größenordnung aufneh-men. Sie werden durch Mietminderungen durchaus wirt-schaftlich belastet. Gerade diese Vermieter, die für60 Prozent der Mietwohnungen in unserem Lande ver-antwortlich sind, müssen wir ermutigen, verstärkt in dieenergetische Modernisierung zu investieren und auchmehr Wohnungsbau zu betreiben. Deswegen wollen wirsie fördern und ihnen Anreize bieten. Diese Vermietermüssen wir stärken, und das machen wir mit unseremGesetzentwurf.
Wir stellen die Mieter aber in keiner Weise schutzlos.Wir haben das sehr genau geprüft. Wir meinen, dreiMonate auf eine Mietminderung zu verzichten, das istein vertretbarer und überschaubarer Zeitraum. Es istauch nicht so, dass die Mieter nicht von einer energeti-schen Sanierung profitieren würden. Es geht vielmehrdarum, die zweite Miete, wie man die Betriebskostenheute nennt – es geht schließlich nicht nur um die Netto-mieten; gerade die Betriebskosten sind in den vergange-nen Jahren angestiegen –, zu senken.
Metadaten/Kopzeile:
23350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Jan-Marco Luczak
(C)
(B)
Das schaffen wir nur über energetische Modernisierung.
Deswegen glaube ich, dass es ein vertretbarer undzumutbarer Aufwand für die Mieter ist, für die erstendrei Monate zu tolerieren, dass der Wohnwert etwasbeeinträchtigt wird, und auf das Minderungsrecht zuverzichten.Jetzt will ich noch darauf eingehen, was verschiedent-lich angesprochen worden ist, nämlich dass wir Mieter-rechte schleifen würden und wirtschaftliche Härtefall-gründe nicht mehr angeführt werden könnten. Dasstimmt einfach nicht. Ich frage mich immer, ob Sie un-sere Gesetzentwürfe nicht lesen oder ob Sie sie nichtverstehen. Schauen Sie sich diese einmal genau an! Beiden persönlichen Härtefallgründen wird überhauptnichts geändert; es bleibt bei der bestehenden Rechts-lage.Bei den wirtschaftlichen Härten haben wir allerdingsrichtig gehandelt. Das ist im Übrigen der weit, weit über-wiegende Teil, was eingewendet wird, die sagen: Wenndu jetzt modernisierst, lieber Vermieter, dann können wiraber hinterher die Miete nicht mehr zahlen. Bisher habendie Mieter in solchen Fällen Einspruch eingelegt, unddann ist unterm Strich im Wohnungsbestand gar nichtspassiert. Das wollen wir nicht. Es soll erst einmal moder-nisiert werden können. Deshalb soll hier eine Duldungs-pflicht eingeführt werden. Aber hinterher, wenn es umdie essenzielle Frage geht, ob die Miete erhöht werdenkann, dann kann ein Mieter selbstverständlich einenwirtschaftlichen Härtegrund anführen.Es werden also in keiner Weise irgendwelche Rechtebeschnitten, sondern diese werden lediglich nach hintenverlagert. Denn wir wollen, dass die energetischeModernisierung in unserem Land vorankommt, meineDamen und Herren.
Jetzt komme ich zum Contracting. Das ist auch einwichtiger Baustein für die Energiewende, weil damitsehr viel an Effizienzsteigerung erreicht werden kann.Wir sehen sehr wohl, dass es ein Zugeständnis ist, daswir den Mietern an dieser Stelle abverlangen, wenn wirdas Mietminderungsrecht für drei Monate ausschließen.Ich finde, wie gesagt, es ist ein vertretbares und zumut-bares Zugeständnis. Aber wir sehen natürlich, dass esauch eine Belastung ist. Deswegen haben wir im Zusam-menhang mit dem Contracting ganz klar gesagt: Es musseine kostenneutrale Regelung her. Es soll keine Gewinneauf Kosten der Mieter geben.
Das ist der eine politische Punkt, der uns wichtig war.Aber es gibt auch noch einen inhaltlichen Grund, wiesowir für die Kostenneutralität streiten. Wir wollen näm-lich einen Anreiz setzen, dass möglichst effizient umge-stellt wird, indem sich der Gewinn des Contractors ausden beiden Punkten Kostenneutralität und Einsparungvon Brennkosten ergibt. Ein sehr kluger Bedingungszu-sammenhang ist: Je effizienter umgestellt wird und jegrößer die Spanne der Kostenneutralität ist, desto mehrAnreiz besteht, überhaupt umzustellen. Das ist gut fürunser Klima und für die Mieter.
Deswegen bin ich auch skeptisch – darauf möchte ichals Letztes hinweisen –, wenn es darum geht, den Con-tractoren Gewinnzuschläge zuzubilligen. Richtig ist,dass das Contracting auch in der Praxis funktionierenmuss. Wir müssen uns sehr genau anschauen, wie mandie Kostenneutralität berechnet. Dazu soll jetzt dreiJahre zurückgeschaut werden. Vielleicht muss man aberauch die Einsparung von Brennkosten in der Zukunft be-rücksichtigen. Das diskutieren wir. Wir haben noch vielePunkte, die wir in den Anhörungen klären müssen.
Die können aber nicht mehr vorgetragen werden.
Zu Mietnomaden kann ich nichts mehr sagen, weil
der Präsident mich unterbricht.
Zum Schluss: Ich bin Berliner Bundestagsabgeordne-
ter. Ich habe, da ich die Probleme des Mietrechts hier in
Berlin kenne, wirklich sehr darauf geachtet, dass unsere
Vorlage ausgewogen ist. Wir haben hier einen sehr gu-
ten, ausgewogenen Entwurf. Sie sollten sich einen Ruck
geben, von Ihrem Populismus Abstand nehmen und die-
sen Gesetzentwurf mit uns gemeinsam verabschieden.
Das Wort erhält nun die Kollegin Ingrid Hönlinger,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn ich mir den Gesetzentwurf dieser Regierung zumBereich Mietnomaden anschaue, dann drängt sich mirder Verdacht auf, dass die damit befassten Regierungs-mitglieder zu viel Zeit vor dem Fernseher verbracht
und sich dabei auch noch die falschen Sendungen ange-schaut haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23351
Ingrid Hönlinger
(C)
(B)
Meine Damen und Herren, nur weil in Spiegel TVeine reißerische Sendung mit dem Titel „Mietnomaden:Pöbeleien am Gartenzaun“ lief, müssen Sie noch langenicht das Prozessrecht ändern!
Als Mietnomaden werden Menschen bezeichnet, dieein Mietverhältnis bereits in der betrügerischen Absichtbegründen, keine Miete zu zahlen. Sie ziehen von Woh-nung zu Wohnung und hinterlassen diese in einem ver-wahrlosten Zustand; das ist ein Problem. Aber Mieterin-nen und Mieter, die nach dem Eingehen einesMietverhältnisses zahlungsunfähig werden – sei es wegenArbeitslosigkeit oder Krankheit –, fallen nicht in dieseKategorie.
Sehen wir uns die Fälle echter Mietnomaden an,
stellen wir fest, dass es sich hierbei um Einzelfälle han-delt. Von einem Phänomen zu sprechen, ist der Versuchder Eskalierung, um bestimmte Interessen durchzuset-zen.
Sie nennen auch gar keine konkreten Zahlen. Das hatauch seinen Grund: Das Gutachten, das von Bundesjus-tizministerium und Bundesverkehrsministerium in Auf-trag gegeben worden ist, hat in ganz Deutschland426 Fälle von Mietnomadentum festgestellt. Frau Kolle-gin Voßhoff von der CDU sagt zu Recht: Deutschland istein Land der Mieter. – Das bestätigt auch das StatistischeBundesamt, das feststellt: Die Hälfte der Bevölkerung inDeutschland lebt zur Miete.
Also stellen die Mietnomaden einen Anteil im Promille-bereich dar. Und damit wollen Sie eine massive Geset-zesänderung rechtfertigen? Glaubwürdigkeit und argu-mentative Überzeugungskraft sehen anders aus.
Dabei sind die Konsequenzen Ihres Gesetzentwurfsäußerst weitreichend.
Sie schaffen nämlich Regelungen, die alle Mieterinnenund Mieter treffen. Sie wollen ein neues Instrument indie Zivilprozessordnung einführen, die sogenannte Si-cherungsanordnung. Damit kann ein Gericht schon vordem Hauptsacheverfahren anordnen, dass der Mieter ei-nen Geldbetrag hinterlegen muss, auf den der Vermietermöglicherweise einen Anspruch hat. Hinterlegt der Mie-ter das Geld nicht, so kann der Vermieter die Wohnungräumen lassen. Seinen Räumungsanspruch kann er durcheine einstweilige Verfügung durchsetzen, mit der bloßenBegründung, dass der Mieter das Geld nicht hinterlegthat. Auf ein Verschulden des Mieters kommt es dabeigar nicht an.
So haben Sie zwei Verfahren, nämlich die Anordnungder Sicherungsleistung und das Räumungsverfahren,aber keine Beweiserhebung. Vollendete Tatsachen wer-den geschaffen, ohne dass jemals ein Hauptsacheverfah-ren durchgeführt wurde. Der Mieter sitzt auf der Straße.
Bisher kennt die Zivilprozessordnung nur Sicher-heitsleistungen im Rahmen der Vollstreckung von End-urteilen. Wenn wir nun Zahlungspflichten für Mieterschaffen, die auf nur kursorischer Prüfung und prognos-tizierten Erfolgsaussichten einer Klage basieren,
greifen wir tief in die Systematik des Zivilprozessrechtsein. Das ist ein systematischer Bruch, den wir Rechts-politikerinnen und Rechtspolitiker nicht mittragen soll-ten.
Sie wollen das Gesetz aber noch weiter verschärfen.Die Sicherungsanordnung soll nicht nur für Mieten gel-ten. Sie wollen auch andere Geldforderungen – das kön-nen zum Beispiel Werklohnforderungen oder Forderun-gen aus Versicherungsverträgen sein – einbeziehen. Dadrängt sich die Frage auf: Wieso müssen wir für Geldfor-derungen neue und systemwidrige Regelungen einführen,meine Damen und Herren von der Regierungskoalition?Sie bauen einen Buhmann auf – die Mietnomaden – undbenutzen diesen als Vorwand, um das Prozessrecht fürSchuldner inklusive aller Mieter zu verschlechtern undfür Gläubiger inklusive aller Vermieter zu verbessern.Wir stellen fest: Diese schwarz-gelbe Koalition wirdgetrieben von der Durchsetzung von Vorteilen für die ei-gene Klientel wie keine andere Regierung zuvor. Malsind es die Hotelbesitzer. Jetzt sind es die großen Immo-bilien- und Vermietungsfirmen, deren Profit gesichertwerden soll. Wir als grüne Parlamentarierinnen und Par-lamentarier fühlen uns dem Wohl der gesamten Bevölke-rung verpflichtet. Deswegen lehnen wir diesen Teil desGesetzes rundweg ab.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist derKollege Dirk Fischer.
Metadaten/Kopzeile:
23352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(C)
(B)
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Zur sozialen Absicherung des Wohnens gehören so-zialer Wohnungsbau, Wohngeld und soziales Miet-recht.Das erklärte der Kanzler der deutschen Einheit,Helmut Kohl, in seiner ersten Regierungserklärung nachder ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 30. Ja-nuar 1991. Das ist von ihm oft wiederholt worden. Füruns ist das soziale Mietrecht seit Jahrzehnten ein wichti-ger Aspekt des gesamten Wohnungswesens in Deutsch-land.
Es war immer unser politisches Bemühen, eine ange-messene Balance zwischen Vermieter- und Mieterinte-ressen herzustellen. Der Vermieter muss in der Lagesein, sein Eigentum ökonomisch angemessen zu nutzen.Sonst wird in diesen Sektor kein privates Kapital inves-tiert. Es hat keinen Sinn, heute die Voraussetzungen da-für zu zerstören und morgen zu beklagen, dass zu wenigGeld in den Wohnungsbau investiert wird. Man musswissen, was man tut.
Für die Mieter gelten besondere Schutzvorschriften;denn die Ware Wohnung ist nicht irgendeine Ware, son-dern stellt eine existenzielle Voraussetzung für die Men-schen dar, in Ruhe und Sicherheit zu leben.Diese bewährte Zielsetzung muss also erhalten wer-den. Aber natürlich muss das Mietrecht von Zeit zu Zeitüberprüft werden. Wir müssen es an gesellschaftlicheVeränderungen anpassen. Der Kern der von der Bundes-regierung vorgelegten Mietrechtsnovelle ist die Anpas-sung an die Herausforderungen der Energiewende. Inpuncto Energieeffizienz und Klimaschutz kommt demGebäudebereich eine Schlüsselrolle zu.Herr Kollege Egloff, Ihre Rede hat bei mir den Ein-druck erweckt, dass Sie sich von den ökologischen Ziel-setzungen in Wahrheit völlig verabschiedet haben. Dannmüssen Sie das auch deutlich sagen.
Wie Sie aufgrund der Statistik wissen, bietet der Gebäu-desektor mit Abstand das größte Einsparpotenzial. Wennwir das nicht nutzen,
können wir alle uns gesetzten Ziele aufgeben. Hier mussalso gehandelt werden.
Die Bundesregierung hat vor diesem Hintergrund ge-rade für den Gebäudesektor ein ganzes Maßnahmenbün-del im Energiekonzept verankert, immer streng an dasWirtschaftlichkeitsgebot gekoppelt und ohne staatlichenSanierungszwang. Klar ist aber auch, dass die energeti-sche Sanierung des Gebäudebestands nicht zum Nulltarifzu haben ist, weder für die Vermieter noch für die Mieternoch für den Staat auf allen Ebenen.Hauseigentümer haben sukzessiv steigende Anforde-rungen zu erfüllen, wenn sie ein neues Haus errichtenwollen, und haben bereits sehr hohe Anforderungen zuerfüllen, wenn sie den Bestand energetisch sanieren wol-len. Derzeit befinden wir uns beim Gebäudebestandschon an der Grenze des wirtschaftlich Verkraftbarenund Vertretbaren; das müssen wir wissen. Bei noch hö-heren Anforderungen besteht die Gefahr, dass vieleHauseigentümer ihre Sanierungspläne verschieben oderganz aufgeben. Das muss verhindert werden.Ergänzend zu den Anforderungen bedarf es aber auchder Förderung von Investitionen, nicht nur finanziell,sondern eben auch durch die mietrechtlichen Rahmenbe-dingungen. Der größte Gewinner einer energetischen Sa-nierung eines Gebäudes ist der Nutzer, das heißt inDeutschland vor allem der Mieter. Das hat die Vorredne-rin gerade klargemacht.
Denn die Differenz zwischen den Heizkosten eines sa-nierten und eines unsanierten Gebäudes ist enorm. Obdas am Ende zu einer finanziellen Einsparung führt, istneben dem Verbrauch leider auch von der allgemeinenPreisentwicklung abhängig, und wir wissen, dass Ener-gie teurer wird.Ich sehe drei relevante Problemkreise, auf die sich dieDiskussion über den Änderungsbedarf beim Mietrecht inBezug auf die energetische Sanierung konzentriert. Dazukommt die Frage, wie wir mit vorsätzlichen Mietschuld-nern umgehen wollen. Ich komme zunächst zum Miet-minderungsrecht. Wie bereits ausgeführt, ist der Nutzereiner Wohnung der Hauptgewinner einer energetischenSanierung. Es bedarf bei einem Mietverhältnis schon be-sonderer Anreize, damit sich ein Hauseigentümer füreine derartige Sanierung entscheidet, vor allem, wennsich sein Haus nicht in den nicht sehr zahlreichen, alsoeher überschaubaren Toplagen befindet. Wenn der Ver-mieter dann auch noch zusätzliche wirtschaftliche Ver-luste durch Mietminderungen befürchten muss, dann istdas nicht gerade ein besonderer Anreiz. Es ist doch füreinen Mieter zumutbar, eine in drei Monaten zügigdurchgeführte energetische Sanierung zu ertragen. Diesdarf ihm nicht noch das Recht verschaffen, denjenigen,der letztlich an ihm eine gute Tat begeht, auch nochdurch eine Mietminderung bestrafen zu können.
Diesen Widersinn können wir doch nicht gutheißen.Liebe Kollegen von den Grünen, welche mietrechtli-chen Anreize bieten Sie den Sanierungsträgern? Über-haupt keine. Ihr Antrag geht nämlich an den berechtigtenInteressen der Hauseigentümer vollständig vorbei. So istkeine Steigerung der Investitionstätigkeit zu erwarten.Wie können Sie es eigentlich mit Ihrem grünen Gewis-sen vereinbaren, so viele dringend notwendige Sanie-rungsprojekte zu behindern, ja in Wahrheit sogar mas-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23353
Dirk Fischer
(C)
(B)
senhaft ganz zu verhindern? Das kann doch von Ihnenüberhaupt nicht akzeptiert werden.
So funktioniert die Energiewende nicht, schon gar nichtmit Ihren Vorstellungen von Sanierungszwängen undEnergiepolizei.
Ich komme zur Umlage. Die Koalition hat sich ent-schieden, an der möglichen Höhe der Modernisierungs-umlage nicht zu rütteln. Ich halte auch nichts davon, dieModernisierungsumlage auf ausgewählte Modernisie-rungsformen zu begrenzen, nur weil jetzt die energeti-sche Sanierung im Vordergrund steht. Wer weiß, viel-leicht gerät in fünf Jahren der Wasserverbrauch in dieSchlagzeilen. Für die allgemeine Verbesserung vonWohnverhältnissen sollte die Modernisierungsumlageweiterhin möglich bleiben.Zum Contracting. Der Regierungsvorschlag ist einegute Entscheidungsgrundlage. Ob dabei das Optimumgefunden worden ist, werden wir nach der Anhörung imRahmen der Beratungen zu prüfen haben. Aber immer-hin – das hat die Bundesjustizministerin ausgeführt –:Diese Bundesregierung ist die erste, die überhaupt ein-mal einen vernünftigen und diskussionswürdigen Vor-schlag gemacht hat. Daran muss weiter gearbeitet wer-den.
Zum Problem der Mietnomaden. Dabei geht es umvorsätzliche Mietschuldner, also Menschen, die mit Ab-sicht anderen Menschen wirtschaftlichen Schaden zufü-gen und oftmals vorsätzlich betrügerisch handeln. Mirist egal, wie viele Fälle das sind. Die große Masse derMietverhältnisse funktioniert reibungslos. Die sind vonden neuen Regelungen, zum Beispiel der Sicherungsan-ordnung, überhaupt nicht betroffen.
Der Gesetzgeber darf aber prinzipiell nicht akzeptieren,dass einige die derzeit bestehenden Regelungslückenund die oftmals viel zu langen Prozesse nutzen, um sicheinen ungerechtfertigten wirtschaftlichen Vorteil zu ver-schaffen. Große Wohnungsbaugesellschaften haben ei-nen langen Atem und können das durchstehen, aber füreinen kleinen Vermieter mit ein oder zwei Wohnungenist dies oftmals mit dem wirtschaftlichen Ruin verbun-den.
Ich will am Ende meiner Rede auf Folgendes hinwei-sen: Für uns alle ist die Energiewende auch im Gebäude-sektor eine große Herausforderung. Die Bundesregie-rung hat ihre Hausaufgaben gemacht: Förderung überdie mit Bundesmitteln finanzierten Programme der KfW,Konzept zur Fortentwicklung der EnEV, Mietrechtsent-wurf, Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderungder Gebäudesanierung. Der Beitrag, den die von derSPD oder von den Grünen geführten Bundesländerhierzu im Bundesrat liefern, ist alles andere als konstruk-tiv.Ich frage wiederum: Wie können die Freunde von denGrünen mit ihrem grünen Gewissen vereinbaren, dass sojegliche energetische Sanierung vor allem im Eigen-heimsektor, dem die normalen Häuslebauer, Normalver-diener, oft ältere Menschen angehören, die darauf ange-wiesen sind, steuerliche Förderungen zu empfangen,konterkariert wird?
Lieber Kollege.
Ich sage Ihnen voraus: Ohne eine steuerliche Förde-
rung der energetischen Gebäudesanierung werden wir
die anspruchsvollen Ziele nie erreichen. Sie müssen sich
in diesem Fall einen Ruck geben.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Michael Groß ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt unge-fähr anderthalb Stunden viel über marktliberale Philoso-phien gehört. Deswegen ist es wichtig, hier einen Gegen-part zu setzen.
Ich will zu Beginn deutlich machen, dass die SPDzum Thema Klimaschutz steht. Anders ausgedrückt: Wirmüssen das Ziel erreichen, genug CO2 einzusparen.
Wir müssen aber auch die Energieeffizienz in den Griffbekommen. Die Wege sind allerdings unterschiedlich:Sie wollen die Mieterinnen und Mieter belasten; wirwollen sie in diesem Rahmen schützen.
Die Miete muss bezahlbar bleiben; das Wohnen mussbezahlbar bleiben.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungs-koalition, vor kurzem hat der Bundesverband deutscherWohnungs- und Immobilienunternehmen veröffentlicht,dass eine energetische Standardsanierung 3,50 Euro proQuadratmeter kostet. Einzusparen sind 38 Cent. Die
Metadaten/Kopzeile:
23354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Michael Groß
(C)
(B)
Frage an Sie ist: Wie wollen Sie diese Schere schließen?Die Einkommensentwicklung in Deutschland ist geradeschon beschrieben worden. Es gibt in Wachstumsregio-nen Menschen, die 50 Prozent ihres Einkommens für dasWohnen und 15 Prozent für die Mobilität ausgeben müs-sen. Wovon sollen diese Menschen dann noch leben? Siehaben darauf keine Antwort. Ganz im Gegenteil: Siesagen, wir müssten die Mieter noch mehr belasten.Sie spielen auf dem falschen Spielfeld. Sie wollen dieMietrechtsreform nutzen, um die soziale Funktion desMietrechts auszuhöhlen. Das sieht man an dem TitelIhres Gesetzentwurfs, in dem es sowohl „energetischeModernisierung“ als auch „vereinfachte Durchsetzungvon Räumungstiteln“ heißt.Sie haben gerade nach den Antworten der SPD ge-fragt. Ich kann Ihnen welche geben. Sie müssen energe-tische Sanierung als Bestandteil der Stadtentwicklungbegreifen und sich davon lösen, dass es nur um einzelneGebäude geht. Sie müssen verstehen, dass wir viele Fra-gen beantworten müssen. Unsere demografische Ent-wicklung stellt die Menschen, aber auch die Städte vorgroße Probleme. Uns stellt sich die Frage des guten,bezahlbaren Wohnens in den Städten. Die energetischeSanierung kann ein Bestandteil dieser Stadtentwicklungsein. Da man den Euro nur einmal ausgeben kann, müs-sen wir dafür sorgen, dass Quartierskonzepte entwickeltwerden, durch die die Städte in die Lage versetzt wer-den, vernünftig zu steuern, zu entscheiden, welche ener-getischen Maßnahmen richtig sind und welche wir um-setzen müssen und umsetzen können.Neben der Gebäudesanierung spielen die Fragen eineRolle: Wie gewinnen wir Energie? Wie versorgen wirdie Wohnungen mit Energie? Wie speichern wir Ener-gie? Die Antworten darauf müssen wir mit einem Ge-samtkonzept geben.Wir Sozialdemokraten haben die Vorstellung, dasswir die Stadt als soziale Stadt wiederbeleben müssen.
Dazu gehören eben auch bezahlbare Energie, Energie-einsparungen und CO2-Reduktion.
Wir haben Angst, dass sich zahlreiche Menschen inbestimmten Stadtteilen demnächst keine energetischsanierten Wohnungen mehr leisten können, mit der Kon-sequenz, dass sie vertrieben werden. Das ist dem ähn-lich, was im Bereich „soziale Segregation“ festzustellenist: Es kommt zu einer Wanderungsbewegung von Men-schen, die aus ihren Stadtteilen vertrieben werden, weildas Wohnen dort zu teuer wird. Das müssen wir verhin-dern. 6 Millionen Menschen in Deutschland verdienenweniger als 8,50 Euro pro Stunde. Sie können sich vor-stellen, was die Umlage der voraussichtlichen Investi-tionssummen auf die Mieter bedeutet.In Deutschland gibt es zurzeit 1,5 Millionen gebun-dene Sozialwohnungen. Das ist ein wichtiges Thema,das Sie überhaupt nicht angehen.
Zur Frage der sozialen Wohnraumförderung: Sie sa-gen nicht, dass Sie die 518 Millionen Euro bis 2019 ver-längern wollen, sondern Sie halten das Thema völligoffen. Wenn der Bund überhaupt noch eine Verantwor-tung in der Steuerung der Wohnungspolitik übernehmenwill, dann müssen Sie dort handeln.
Abschließend noch ein Satz zur Mietminderung: IhrVorschlag ist ungefähr so, als würden Sie ein Auto kau-fen und bekämen es ohne Windschutzscheibe und ohneHeizung. Dann würde Ihnen aber versprochen werden,in fünf Monaten bekämen Sie es eingebaut, weil mangerade noch in der Entwicklung und in der Produktionsei. 100 Prozent Leistung und 100 Prozent bezahlen, dasist unser Thema, und so muss es auch sein. Dies giltauch für die Mietminderung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regie-rungsfraktionen, das Mietnomadentum wurde heuteschon mehrfach dargestellt. Wir haben 24 MillionenMieter. Nach Schätzungen des GdW gibt es vielleicht15 000 Menschen, die bewusst, zielgerichtet betrügenwollen; andere sprechen von 1 000. Sie diskriminierendie 24 Millionen Mieter in diesem Land, wenn Siesagen, in Sachen Mietnomadentum müssten wir handeln.Ich verstehe Sie da wirklich nicht.Danke schön.
Für die CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner
Norbert Geis.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Wagner hat vorhin bei ihrem Eingangs-statement zu ihrer Rede festgestellt, dass wir in Deutsch-land ein ausgewogenes Mietrecht und damit wohl auchdas beste Mietrecht in ganz Europa haben. Ich kannIhnen nur beipflichten. Es ist auch notwendig; denn dasMietrecht spielt eine ganz bedeutende Rolle in unsererRechtsordnung überhaupt und hat eine wichtige Ord-nungsfunktion in unserem gesellschaftlichen Zusam-menleben.Wir haben es schon oft genug gehört: Es gibt in unse-rem Lande 24 Millionen Mieter. Von 40 Millionen Woh-nungen sind 24 Millionen Wohnungen vermietet. Alsoist das ein ganz großer Anteil der Bevölkerung. Es istimmer schwierig, einen Interessenausgleich zwischen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23355
Norbert Geis
(C)
(B)
dem Vermieter und dem Mieter zu finden, weil die Inte-ressen in bestimmten Situationen ganz weit auseinander-gehen können.Hier einen vernünftigen Mittelweg zu finden, das istebenfalls nicht einfach. Ich bin aber der Meinung, dassdieser Gesetzentwurf einen guten Mittelweg darstellt.Natürlich kann man da und dort noch eine Änderungherbeiführen; aber alles in allem gesehen werden wir andiesem Gesetzentwurf in seinen Grundlinien in jedemFall festhalten, weil wir der Meinung sind, dass er ganzsicher besser nicht gestaltet werden kann, jedenfalls inseinen Grundlinien nicht.
Ein zweiter Punkt ist zu beachten. Ich sagte schon,von den 40 Millionen Wohnungen seien 24 MillionenMietwohnungen. Diese 24 Millionen Mietwohnungenwerden nicht in erster Linie von den großen Wohnungs-baufirmen gestellt, auch nicht vom sozialen Mietwoh-nungsbau, sondern von den kleinen Anbietern. Die klei-nen Anbieter wollen mit einem ganz großen Eifer, miteinem starken Willen zur Selbstbeschränkung Eigentumdurch ein Haus erwerben, das sie bauen; da ist Urlaubnicht angesagt. In diesem Haus haben sie dann zwei oderdrei Mietwohnungen. Diese Vermieter stellen nicht nureinfach das Geld zur Verfügung – sie müssen auch zurBank; denn sie werden das alles nicht so aus eigenerTasche finanzieren können –, sondern bringen auch inhöchstem Maße Eigenleistungen. Auch viele Nachbarnwerden helfen. Auf dem Dorf ist es üblich, dass mansich hilft und eine Wohnung mit der Hilfe vieler andererbaut. Das muss man bedenken.Diese kleinen Vermieter bilden den größten Teil derVermieter, und all diese kleinen Vermieter haben eingrößtes Interesse daran, dass das, was sie sich abgesparthaben, was sie an Eigenleistung erbracht haben, in ver-nünftige Hände gerät und sie daraus auch einen Vorteilhaben. Sie wollen einen Vorteil nicht nur für den Augen-blick, sondern vor allen Dingen für ihre Altersversor-gung haben. Das ist vernünftig, und dieses Wollen müs-sen wir auch unterstützen,
weil sie damit einen großen Beitrag leisten, um derNachfrage nach Wohnungen gerecht werden zu können.Deswegen halte ich es schon für richtig, dass wir unsGedanken darüber machen, wie wir dieses Mietnoma-dentum bekämpfen. Das ist keine Bagatelle. Wer einbisschen damit zu tun hat – als Anwalt hat man damit zutun –, der weiß, wie schwierig die Situation ist. Der Ver-mieter bekommt keine Miete, während der andere in derWohnung sitzt. Ich bin froh darüber, dass wir nicht soviele Mietnomaden haben.
– Nein, wir müssen es aber gesetzlich regeln. Bei15 000 Mietnomaden – eine Zahl, die hier genannt wor-den ist – müssen wir eine gesetzliche Regelung finden.Wir können doch nicht einfach das Faustrecht geltenlassen.
Was will denn ein Vermieter machen, wenn der Mie-ter partout nicht bezahlen will? Der Vermieter hat zwareinen vollstreckbaren Titel, aber der Mieter geht zumAmtsgericht und bringt irgendeine Härte vor, die derRichter dann wahrscheinlich auch noch anerkennt. Dannsitzt er über ein halbes Jahr oder ein dreiviertel Jahr inder Wohnung, ohne einen Mietzins zu zahlen. Das kön-nen wir so nicht hinnehmen; damit verderben wir es unsmit den Kleinanbietern. Aber das wollen wir nicht, weilwir sie brauchen.
Wir alle zusammen wissen, dass die Energieeffizienzein wichtiger Bestandteil unserer Energiewende ist.Ohne die Steigerung der Energieeffizienz werden wir dieEnergiewende, so wie wir sie vorhaben, nicht schaffen.Effizienzsteigerung heißt ja auch Einsparen, heißt, Maß-nahmen zu treffen, damit man nicht so viel Energie ver-brauchen muss. Das versuchen wir jetzt natürlich auchim Mietrecht umzusetzen. Wie wollen wir denn denKleinanbieter dazu bringen, noch einmal Geld in dieHand zu nehmen, um jetzt auch noch diese Maßnahmenzur Effizienzsteigerung durchzuführen, ohne dass er dieAusgaben umlegen kann? Das macht doch kein vernünf-tiger Mensch mehr, vor allen Dingen dann nicht, wenn erkurz vor der Rente steht und eigentlich mit den Mietein-nahmen seine Rente aufbessern möchte. Also müssenwir doch dafür Sorge tragen, dass es für ihn interessantbleibt, diese Maßnahmen zur Effizienzsteigerung vorzu-nehmen und zu finanzieren.
Diese Möglichkeit wollen wir schaffen. Herr Fischerhat es vorhin schon erklärt: Wenn wir dem Mieter nunanbieten, dass während der Zeit, in der diese Maßnah-men zur Steigerung der Energieeffizienz durchgezogenwerden, Mietminderungen möglich sind, der Vermieteralso Minderungen hinnehmen muss, dann denkt dernicht im Traum daran, überhaupt eine solche Maßnahmedurchzuführen.Ich sehe durchaus ein: Der Mieter muss insoweitzunächst einmal in Vorleistung treten. Er muss damitzurechtkommen, wenn im Haus im Zuge dieser Maßnah-men umgebaut wird. Das stellt zunächst einmal eine Be-lastung des Mieters dar. Das sehen wir. Aber wie sollenwir denn den Kleinanbieter dazu bringen, entsprechendeMaßnahmen zur Effizienzsteigerung durchzuführen,wenn er dann auch noch eine Mietminderung hinnehmenmuss? Wir werden ihn nicht dazu zwingen können. Des-wegen müssen wir auch innerhalb des Mietrechts eineMöglichkeit des Ausgleichs schaffen. Das haben wir indiesem Entwurf so vorgesehen. Ich meine, es ist auch in-soweit ein gelungener Entwurf.Lassen Sie mich noch ein Wort zum Contractingsagen. Das ist natürlich eine Sache, die immer mehrkommen wird. Im Moment haben wir in den großen
Metadaten/Kopzeile:
23356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Norbert Geis
(C)
(B)
Wohnanlagen die Heizungsanlagen noch irgendwo imKeller. Sie sind zum Teil sehr ineffizient. Es ist gut, dasses dieses Contracting in Zukunft geben wird, bei demgewerbliche Wärmeanbieter in der Lage und bereit sind,die Wärme in die verschiedenen Wohnhäuser zu bringen,und zwar effektiver, als wenn die Wärme im eigenenHaus hergestellt wird. Deswegen meine ich, dass wirdies unterstützen sollten. Wir dürfen dies nicht bagatelli-sieren, sondern sollten Contracting insbesondere fürKleinanbieter interessant machen, damit diese bereitsind, das Geld hierfür in die Hand zu nehmen. Am Endehat der Mieter insofern Vorteile davon, als die eigenenAufwendungen geringer sein werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch keinGesetz ist so aus dem Bundestag herausgekommen, wiees hineingekommen ist. Wir werden darüber beraten,dazu Anhörungen machen und gute Argumente anhörenund sie umsetzen.Danke schön.
Dr. Norbert Lammert:Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt er-hält der Kollege Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte noch einmal auf die Dimensionen, insbesonderedie Herausforderungen, die wir uns mit dem Energie-konzept vorgenommen haben, eingehen. Wir wollen inDeutschland bis zum Jahr 2050 den Primärenergiebedarfum 80 Prozent vermindern. Das Zwischenziel ist, dasswir bis 2020 20 Prozent gegenüber 2008 einsparen.
Über das Ziel sind wir uns einig. Alle in diesem Hausehaben diesem zugestimmt. Ich arbeite noch einmal diePunkte ab, in denen wir uns einig und auch nicht einigsind. Das Ziel kann nur erreicht werden, wenn wir allePotenziale beim Energiesparen und bei der Energieeffi-zienz nutzen bzw. heben. Auch darüber sind wir uns ei-nig. Hier spielt der Gebäudesektor – das ist vielfach an-geklungen – eine zentrale Rolle. 40 Prozent desEndenergieverbrauches – und damit der größte Sektor –in Deutschland entfallen auf die Gebäude. Wenn wir dortnicht ansetzen und nicht die richtigen Instrumente fin-den, dann wird das Energiekonzept – das weltweit ambi-tionierteste, das wir uns gemeinsam vorgenommen ha-ben – so nicht umzusetzen sein.Beim Thema Neubau sind die Probleme mehr oderweniger gelöst. Es gibt heute Passivhäuser, Nullenergie-häuser, Plusenergiehäuser. Hier werden im Bereich mo-derne Haustechnik und Isolierung mit neuen Baustoffennahezu alle Möglichkeiten genutzt. Man verbraucht hiernur noch wenig Energie. Das Problem ist, dass wir inDeutschland nur 200 000 Neubauten im Jahr verzeich-nen. Zum Teil sind es sogar weniger. Das heißt, bei denbereits erwähnten 40 Millionen Wohnungen in Deutsch-land würden wir 200 Jahre benötigen, um die gestecktenZiele zu erreichen. Dies macht die Dimension der He-rausforderung noch einmal deutlich.Wir müssen uns um den Gebäudebestand kümmernund dort die Potenziale nutzen. Hier gibt es vielfältigeMöglichkeiten. Einige Zahlen möchte ich nennen. DieHaustechnik: 90 Prozent der Kessel in deutschen Kellernsind veraltet. Wenn nur diese Kessel durch neue mit ho-hen Wirkungsgraden ersetzt würden, dann könnten bei-spielsweise 55 Millionen Tonnen CO2 eingespart wer-den. Von den Heizkesseln werden im Moment180 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr emittiert. Es gehtalso um rund 30 Prozent.Auch vermeintlich kleine Dinge können einen Beitragleisten. Ich nenne hier die Fenstereinheiten. Es gibt580 Millionen Fenstereinheiten in Deutschland. Von die-sen sind 30 Millionen einfachverglast. 250 Millionensind technisch und energetisch veraltet. Hier könnten wir27 Millionen Tonnen CO2 einsparen oder – in Heizölausgedrückt – 8,6 Milliarden Liter Heizöl pro Jahr. Auchhier sind wir uns einig.Wenn wir die Ziele erreichen wollen, dann müssenwir alle Instrumente nutzen. Zwang führt nicht zu dengewünschten Ergebnissen. In den Bereichen, in denenman mit Zwang und Verpflichtung gearbeitet hat, ist dasGegenteil erzielt worden. In der Großen Koalition for-derte die SPD einen Zwang zur Nutzung erneuerbarerEnergien bei energetischen Sanierungen. Dieses wurdeauf Bundesebene nicht eingeführt, weil wir Technologie-vorgaben für Solarthermie machen wollten. In Baden-Württemberg wurde von der damaligen CDU-Regierungzusammen mit der FDP die Integrationspflicht für erneu-erbare Energien bei der energetischen Sanierung, tech-nologieoffen, eingeführt. Hierfür gab es noch zusätzlicheFörderungen. Trotzdem zeigt die erste Bilanz nach zweiJahren, ob es einem gefällt oder nicht, dass die Men-schen in die energetische Sanierung weniger investieren,also Investitionsattentismus betreiben. Das heißt also,Zwang führt nicht zum Erfolg.Deshalb muss mit Anreizen gearbeitet werden. Esgibt das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, was erfolg-reich ist, aber nicht ausreichend. Dies betrifft vor allemselbstgenutztes Eigentum. Die Marktanreizprogramme,die damit verbunden sind, haben wir ebenfalls. Danngibt es die steuerliche Absetzbarkeit. Es ist ein Skandal,dass dies seit über einem Jahr von den Ländern im Bun-desrat blockiert wird. Dadurch kommt die energetischeSanierung nicht so voran, wie es notwendig ist.Der beste Mieterschutz ist, wenn wir Instrumente fin-den – das ist angeklungen –, um den Mieter von denEnergiepreissteigerungen abzukoppeln. Der Mieter mussdie Energiepreise selber zahlen, und zwar über die Ne-benkosten. Es ist das bekannte Dilemma: Der Vermieterhat kein Interesse daran, zu investieren, wenn er nichts
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23357
Dr. Joachim Pfeiffer
(C)
(B)
davon hat, außer vielleicht einer Wertsteigerung. Er wirdaber natürlich nicht investieren, wenn er damit rechnenmuss, dass auch noch eine Mietkürzung auf ihn zu-kommt. Deshalb muss es einen Ausgleich geben, sodassbeide Seiten etwas davon haben. Der Mieter muss mit-tel- und langfristig durch Energieeinsparungen bei denNebenkosten etwas davon haben, sodass er sich dort ab-koppeln kann.Dann werden die Mieter auch nicht aus der Innenstadtvertrieben. Der Kollege Pronold hat es angesprochen:Wenn in den Großstädten, in den Altstädten, in den Zen-tren keine energetisch sanierten Wohnungen und Ge-bäude vorhanden sind, dann wird nämlich genau das dieFolge sein, weil die Nebenkosten in astronomische Hö-hen steigen. Das werden sich die Mieter nicht mehr leis-ten können, und dann werden sie vertrieben. So wird einSchuh daraus.
Wir versuchen jetzt, dieses Dilemma aufzulösen. Aufder einen Seite muss die Investition getätigt werden, aufder anderen Seite müssen sowohl der Mieter als auch derVermieter etwas davon haben.Ein entscheidender Punkt ist – das ist bereits ange-klungen –, dass im Bereich des Contracting im weiterenparlamentarischen Verfahren nachgebessert werdenmuss. Hier kann ich nur den Gedanken des KollegenGeis unterstützen: Kein Gesetz hat den Bundestag soverlassen, wie es hineingekommen ist.Beim Contracting übernimmt der gewerbliche Ener-giedienstleister im Auftrag des Vermieters beispiels-weise Wärmelieferungen und Investitionen in die Tech-nik. Hier muss die Neutralität im Hinblick auf denZeitraum gewährleistet sein.
Herr Kollege.
Eine Investition, mit der eine Energieersparnis von
30 oder 40 Prozent erreicht werden soll, kann natürlich
nicht im Laufe eines Jahres erwirtschaftet werden. Hier
muss man sich Überlegungen im Hinblick auf eine intel-
ligente Ausgestaltung machen, sodass sowohl der Mieter
etwas davon hat als auch derjenige, der für das Contrac-
ting zuständig ist.
Insofern freue ich mich auf gute Beratungen in den
Ausschüssen, auf dass wir den bisher schon guten Ge-
setzentwurf noch besser machen und die Ziele, die wir
uns vorgenommen haben, gemeinsam erreichen und
nicht bei der Umsetzung auf der Strecke bleiben.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10485, 17/10776 und 17/10120 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Ich hoffe, dass dies jedenfalls nicht streitig
ist. – Das ist offenkundig so. Dann sind die Überweisun-
gen damit so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 sowie den Tagesord-
nungspunkt 4 b auf:
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Lisa
Paus, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögens-
abgabe
– Drucksache 17/10770 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
4 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Ulrich, Dr. Diether Dehm, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Reichtum umFAIRteilen – in Deutschland und
Europa
– Drucksache 17/10778 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah-
ren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer überArmut spricht, darf über Reichtum nicht schweigen.Deutschland ist ein reiches Land, aber Deutschland hatenorme Schulden. Reden wir also über privaten Reich-tum und öffentliche Armut.In den letzten vier Jahren ist die gesamtstaatliche Ver-schuldung Deutschlands von 1,6 Billionen Euro auf über2 Billionen Euro gestiegen. Das sind 81,2 Prozent desBruttosozialprodukts, also schlechter als in Spanien. Wirverwenden heute 11 Prozent unseres Haushaltes für dieBegleichung von Zinsen. Man kann es auch anders sa-gen: 32,8 Milliarden Euro – der zweitgrößte Haushaltsti-tel – fließen cash an Vermögende, und das in Zeiten his-torisch niedriger Zinssätze.Im gleichen Zeitraum, über den wir hier sprechen, istder private Wohlstand in Deutschland um 1 400 Milliar-den Euro, also 1,4 Billionen Euro gestiegen. Nach denZahlen des neuen Armuts- und Reichtumsberichts derBundesregierung beträgt das Privatvermögen heute
Metadaten/Kopzeile:
23358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Jürgen Trittin
(C)
(B)
10 Billionen Euro, und weit mehr als die Hälfte davongehören lediglich 10 Prozent dieser Gesellschaft.Ziehen wir also eine Bilanz der Kanzlerschaft vonFrau Merkel: 500 Milliarden Euro neue Schulden fürden Staat, 1 400 Milliarden Euro neuer Reichtum für dieVermögenden. Das ist die Bilanz der selbsternannten„schwäbischen Hausfrau“. Man könnte auch sagen: Dasist die Bilanz einer unverschämten schwarz-gelbenKlientelpolitik.
Sie vertreten nicht das bürgerliche Lager; die politischeRechte in diesem Lande vertritt ausschließlich das be-sitzbürgerliche Lager.Sie werden einwenden, das habe etwas mit der Fi-nanzkrise zu tun. Richtig.
– Sie überschätzen mich, Herr Kollege. – Sie organisier-ten einen Bail-out von Bankschulden, um eine Wirt-schaftskrise abzuwenden. Das war übrigens notwendig.Dabei wurden aber die privaten Vermögen der Gläubigerder Banken massenhaft mit gerettet. Die Folge davonwaren überall in Europa explodierende Staatsschulden.Die große Mehrheit dieses Hauses hat sich gemein-sam dazu bekannt, dass man der Neuverschuldung einenRiegel vorschieben muss. Deswegen haben wir den Fis-kalpakt auf den Weg gebracht. Wir müssen aber feststel-len: Neuverschuldung bedeutet nichtsdestotrotz mehrSchulden; der Prozess wird nicht gestoppt. Was müssenwir tun? Wir müssen Schulden abbauen, um die Souve-ränität der Demokratie wiederherzustellen.
Wir müssen Schulden abbauen, damit wir diese Lastennicht unseren Kindern und Enkeln aufhalsen. Das heißt,es geht überhaupt nicht um die Frage, ob Schulden abge-baut werden, sondern darum, wer dafür bezahlt. Das istdie Frage, um die wir streiten.Nach Ihren Vorstellungen soll all dies über Einsparun-gen bei öffentlichen Leistungen erreicht werden, überKürzungen bei Sozialleistungen, bei Personal usw. Mankann es auch anders ausdrücken: Sie wollen die Schul-den durch eine Vergrößerung der öffentlichen Armut ab-bauen. Sie retten die Privatvermögen über staatliche Ret-tungspakete und lassen die Mehrheit der Bevölkerungdafür bezahlen. Sie unternehmen nichts, um die Kostender Krise fair zu verteilen.Aus diesem Grunde legt meine Fraktion heute eineAlternative vor: die Einführung einer zweckgebundenenVermögensabgabe zum Schuldenabbau.
Wir ziehen das Vermögen der deutschen Millionäre he-ran, um die Schulden abzutragen, die durch die Kostender Bankenkrise entstanden sind. Diese Abgabe betrifft1 Prozent der Bevölkerung. Es gibt einen Freibetrag von1 Million Euro, 250 000 Euro für Kinder, einen Freibe-trag für Betriebsvermögen von 5 Millionen Euro.
Wenn wir diese Abgabe zum Lastenausgleich zehn Jahrelang erheben, dann kommen bei einem Abgabesatz vonjährlich 1,5 Prozent über 100 Milliarden Euro zusam-men. Damit können wir die Schulden unter anderem desSoffin gut bewältigen.
Manche glauben, man würde plötzlich dem Sozialismusanheimfallen, wenn Millionäre pro Million pro Jahr15 000 Euro in den Schuldenabbau investieren müssten.Ich glaube, diese Argumentation ist absurd.
Ob man es nun durch Leistung, durch Erbschaft oderdurch einen Rentiersgewinn erreicht hat: Es steht dochfest – das belegt Ihr Armuts- und Reichtumsbericht –,dass sich das Leben in Deutschland zumindest für dieoberen 10 Prozent der Bevölkerung lohnt. Wir wollennur eine Minderheit davon, nämlich jene 1 Prozent derBevölkerung heranziehen, die allein über ein Vermögenvon 2,5 Billionen Euro verfügen.Meine Damen und Herren, auch Reiche wissen, dassWohlstand etwas mit funktionierender staatlicher Infra-struktur zu tun hat. Es gibt einen oft zitierten Satz: „NurReiche können sich einen armen Staat leisten.“ Ich willausdrücklich sagen: Dieser Satz ist falsch. Seit 2008 wis-sen wir: Auch Reiche können sich einen armen Staatnicht leisten.
Auch Reiche brauchen einen handlungsfähigen Staat.Dafür müssen wir Staatsschulden abbauen, und dazumüssen die Vermögenden in unserem Lande einen fairenAnteil aufbringen;
dem dient die grüne Vermögensabgabe.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23359
(C)
(B)
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält das Wort nun der
Kollege Christian von Stetten.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Durch die Progression in unserem Einkommensteuerge-setz erreichen wir genau das, was wir wollen, nämlichdass starke Schultern mehr tragen als schwache Schul-tern. Auf der einen Seite gibt es zahlreiche Bürger mit ge-ringen Einkommen und Personen mit besonderen Lasten,die überhaupt keine Einkommensteuer zahlen – sie sindvon dieser Steuerart befreit –, auf der anderen Seite gibtes die Spitzenverdiener – also die kleine Gruppe der10 Prozent an der Gesamtbevölkerung –, die über 50 Pro-zent der gesamten Einkommensteuerlast tragen. Dasmuss hier erwähnt werden; denn es muss ihnen zugute-gehalten werden. Unser Steuersystem ist so angelegt:Wenn jemand erfolgreich ist und ein hohes Einkommenhat, dann leistet er einen höheren finanziellen Beitrag anden Staat.Herr Trittin, was Sie heute für die Grünen zum ThemaVermögensabgabe in den Bundestag eingebracht haben,hat nichts mit leistungsabhängiger und gewinnabhängi-ger Besteuerung zu tun. Sie wollen eine staatliche Um-verteilung, das wird mittlerweile auch deutlich ausge-sprochen.
– Sie können das von Ihnen bejubelte Wort „staatlicheUmverteilung“ auch als „staatliche Teilenteignung“ be-schreiben,
dann ist der Jubel vielleicht gar nicht mehr so groß.
Sie haben ausgeführt, dass Sie zunächst einen Freibe-trag festlegen wollen. In den nächsten zehn Jahren wol-len Sie dann eine Teilenteignung in Höhe von insgesamt15 Prozent des abgabepflichtigen Vermögens durchset-zen. Dabei machen Sie überhaupt keinen Unterschied,ob der betroffene Bürger in dem betreffenden Jahr etwasverdient hat oder nicht.
Er wird seinen Beitrag auch leisten müssen, wenn er injenem Jahr Verluste gemacht hat. Das ist eine Substanz-steuer, die wir als CDU/CSU-Fraktion für unverantwort-lich halten.
– Ja, Sie sind da schon einen Schritt weiter.Die SPD diskutiert derzeit noch. Vielleicht wird HerrGabriel heute anschließend seinen Enteignungszinssatzbekanntgeben. Die Linksfraktion ist hier schon etwasweiter. Ihr vorliegender Antrag ist zwar etwas weiter ge-fasst, aber ich stelle wieder einmal fest: Wir beschäftigenuns in schöner Regelmäßigkeit mit Ihrem Lieb-lingsthema, der Vermögensteuer.
Zum wiederholten Male fordern Sie einen Zinssatz von5 Prozent jährlich auf den Verkehrswert.
Sie wissen: Bei 5 Prozent auf den Verkehrswert ist nach20 Jahren – –
– Herr Gysi, nach 20 Jahren ist es weg, und auch dasHaus ist weg: Im ersten Jahr ist es die Diele, im zweitenJahr das Bad, im dritten Jahr das Wohnzimmer, und nach20 Jahren haben Sie aus einem stolzen Hausbesitzer wie-der einen Mieter gemacht.
Alle drei Oppositionsparteien betonen bei diesemThema immer wieder, dass sie nur die Vermögenden,also die Millionäre treffen wollen. In diesem Zusam-menhang nennen Sie auch immer die Banken und dieEuro-Krise. Sie mobilisieren gemeinsam gegen „die daoben“, gegen die Vermögenden, und erklären, dass IhreVorschläge letzten Endes nur 1 Prozent der Bevölkerungtreffen. Aber es stellt sich die Frage: Mindert das denschädlichen Effekt der Abgabe? Ist es gut und gerecht,weil es nur wenige trifft?
Uns ist völlig klar: Sie spekulieren auf die Wählerstim-men der übrigen 99 Prozent der Bevölkerung. Ihre Poli-tik ist volkswirtschaftlich gesehen schädlich und auchsehr gefährlich.
Mich bedrückt besonders, dass Sie – obwohl HerrTrittin ausgeführt hat, dass er hiermit die Bankenkrisebewältigen will – überhaupt nicht ausgeführt haben, wiehoch das Aufkommen sein wird.
In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass „ein großes Aufkom-men realisierbar ist“. Mit solchen Initiativen leisten Sie
Metadaten/Kopzeile:
23360 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Christian Freiherr von Stetten
(C)
(B)
keine große Hilfe zur Bewältigung der jetzigen Finanz-krise.
Wenn Sie in der Debatte zum Thema Mietrecht zu-gehört hätten, dann wäre Ihnen jetzt klar, was Sie da be-schließen wollen. Sie treffen doch in der Summe nur dieBürger mit kleinen Einkommen und die Mieter.
Das gilt sowohl für den Vorschlag, 1,5 Prozent pro Jahrzu erheben, als auch für den Vorschlag, 5 Prozent zu er-heben.
– Herr Kollege, nehmen Sie beispielsweise den Besitzereines großen Mietshauses. Gehen wir davon aus, dassmit den Wohnungen eine Verzinsung von 3,5 Prozenterwirtschaftet wird. Wenn der Hausbesitzer, wie dieLinkspartei es vorschlägt, pro Jahr 5 Prozent auf denVerkehrswert zahlen muss – wir können auch von denvorgeschlagenen 1,5 Prozent ausgehen –, dann wird erdieses Haus verkaufen wollen. Er wird jedoch keinenKäufer finden, weil das Haus kein Renditeobjekt mehrist.
Was wird er machen? Er wird diese hohen Abgabenselbstverständlich auf den Mieter umlegen. Ein Vermö-gensteuersatz von 5 Prozent würde demnach eine glatteVerdoppelung der Miete bedeuten. 1,5 Prozent würdeneine Mieterhöhung um 25 Prozent bedeuten. Diese mie-terfeindliche Politik werden wir von CDU und CSUnicht mitmachen.
Zum Abschluss darf ich noch daran erinnern, dass wirdie gleiche Neiddiskussion vor einigen Jahren imZusammenhang mit der Reform der Erbschaftsteuergeführt haben. Damals haben Sie die gleichen Argu-mente vorgebracht. Gott sei Dank haben wir ein ver-nünftiges Erbschaftsteuergesetz mit vernünftigen Freibe-trägen und guten Übergangsmöglichkeiten für dieUnternehmenserben durchgesetzt. Wir haben die Ab-wanderung der Vermögen und der Unternehmen insAusland gestoppt. Was mich besonders freut, ist, dassUnternehmen mit zahlreichen Arbeitsplätzen nachDeutschland zurückgekehrt sind.Ich empfehle Ihnen, einmal mit Gewerkschaftsmit-gliedern darüber zu diskutieren. Sprechen Sie einmal mitden Kollegen. Dann werden sie feststellen, dass sie frohsind, dass wir ein Erbschaftsteuerrecht auf den Weggebracht haben, das es ermöglicht, dass die Familien-unternehmen in Deutschland bleiben. Die Menschenarbeiten nämlich lieber in Familienunternehmen. AuchGewerkschaftsmitglieder möchten wissen, wo ihr Chefwohnt, und schätzen den familiären Anschluss, den auchgroße Familienunternehmen bieten. Sie schätzen Unter-nehmen, in denen verantwortungsvoll gearbeitet wird.Sie wollen keine anonymen Chefs, die irgendwo in Chi-cago oder sonst wo sitzen; denn das ist problematisch,wenn sie konsultiert werden müssen, zum Beispiel, weilein Unternehmen verkauft werden soll.
Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Das, was Sieheute vorgelegt haben, ist weit entfernt von einer ver-nünftigen Regelung. Deswegen sehe ich auch keineChance für eine Umsetzung durch den Deutschen Bun-destag.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege von Stetten. – Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozial-
demokraten unser Kollege Sigmar Gabriel. Bitte schön,
Kollege Sigmar Gabriel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege von Stetten, wenn Sie sagen, dass die Progression inder Einkommensteuer ausreicht, dann müssen Sie hinzu-fügen, dass die Einkommensteuer einen immer kleinerenAnteil an der Lastenverteilung in Deutschland hat unddie ganz normalen Menschen inzwischen einen Riesen-anteil über andere Steuerarten bezahlen und die Spitzen-verdiener relativ wenig zur Lastenverteilung beitragenmüssen.
Sie haben sich eben versprochen. Sie haben gesagt, Sieseien von dem Thema betroffen. Ich glaube, da ist etwasdran.
Die Vermögenskonzentration in den westlichen In-dustriegesellschaften führt selbst bei wachsendem Le-bensstandard und steigender sozialer Absicherung derArbeitnehmer zu einer Disparität, die der persönlichenFreiheit jede Grundlage entzieht. Gehört das Unterneh-men irgendwelchen Erben, die im sonnigen Süden leben,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23361
Sigmar Gabriel
(C)
(B)
so erhöht sich auch deren Vermögen täglich, ohne dassdiese einen Handschlag tun, wenn das Unternehmen vonfähigen Angestellten gut geleitet wird. Auch das unter-nehmerische Risiko ist in der Praxis geringer als dasRisiko eines Arbeitnehmers. Der Unternehmer haftet beiKapitalgesellschaften nur mit seiner Einlage, der Arbeit-nehmer aber häufig mit seiner ganzen Existenz, vorallem wenn er älter ist. Der Staat könnte eine gemein-wirtschaftliche Entwicklung fördern, ohne einen einzi-gen Enteignungsakt zu vollziehen. EntscheidenderHebel ist das Steuerrecht.Ich wundere mich, warum die FDP dabei nicht ap-plaudiert. Das stammt nämlich von Ihrem FDP-General-sekretär, natürlich nicht von Ihrem jetzigen; der kämeauf eine solche Idee nicht. Es gibt ein Buch, das Sie an-gesichts Ihrer derzeitigen Verfassung einmal lesen soll-ten. Der ehemalige Generalsekretär der FDP, Karl-Hermann Flach, hat das in seinem Buch mit der Über-schrift „Noch eine Chance für die Liberalen“ geschrie-ben. Wenn Sie das machen würden, hätten Sie eine.
Es gab Zeiten, in denen in Deutschland über Partei-grenzen hinaus klar war – bei der CDU/CSU, bei derFDP, bei uns –, dass die wachsende Disparität von Ein-kommen und die ungleiche Verteilung der Lasten gefähr-lich ist für die Demokratie. Klar ist übrigens auch, dasses nicht um technische Details einer vernünftigen Ver-mögensteuer oder -abgabe geht. Wir sind eher für eineSteuer, die Grünen sind eher für eine Abgabe. Die Grü-nen machen einen exzellenten Vorschlag, durch den siedafür sorgen wollen, dass es nicht zur Substanzsteuerwird.
Das ist ein guter Vorschlag.
Insgesamt geht es darum, einmal darüber zu reden,wozu das eigentlich dient. Deswegen will ich mich aus-drücklich dafür bedanken, dass es zumindest ein Mit-glied der Bundesregierung gibt, das den Mut hatte, dafürzu sorgen, dass wir heute eine Grundlage dafür haben,über eine Vermögensabgabe oder -steuer zu diskutieren.
Grundlage ist der Armuts- und Reichtumsbericht, dendie Sozialministerin, Frau von der Leyen, vorgelegt hat.
– Na klar, das lese ich Ihnen gleich vor. Keine Sorge. ImGegensatz zu Ihnen habe ich den Bericht gelesen.Herr von Stetten, es geht doch nicht darum, eine ideo-logische Debatte über Sozialneid oder darüber, Reichezu verfolgen, zu führen, sondern es geht um den Zusam-menhalt und das Leben in Deutschland und um dieFrage, wer eigentlich welche Lasten trägt. Im Berichtsteht, dass inzwischen mitten in Deutschland 1,5 Millio-nen Menschen Schlange stehen, um sich an den Tafelnaltes Brot abzuholen, um etwas zu essen zu haben. ImBericht steht, dass es nicht nur um Altersarmut geht,sondern auch um 2,4 Millionen armutsgefährdete Kin-der. In Deutschland geht es also nicht nur um Alters-armut, sondern auch um Jugendarmut, Familienarmut,die Armut der Alleinerziehenden und die Armut derMenschen, die fleißig arbeiten und trotzdem keinen an-ständigen Lohn erhalten.
Wir wollen in einer wohlhabenden Gesellschaft leben,aber wir wollen auch endlich, dass diejenigen, die diesenWohlstand erarbeiten, fair und gerecht daran teilhabenund die Lasten wieder fairer verteilt werden.
– Ich kann ja verstehen, dass es Sie aufregt, dass es eineCDU-Politikerin ist, die das aufgeschrieben hat. Aberdas ändert doch nichts daran, dass sie sich mit der Wirk-lichkeit beschäftigt. Sie können die Wirklichkeit nichteinfach ignorieren, auch dann nicht, wenn sie Ihnennicht gefällt.Bei der ganzen Debatte geht es darum, Deutschlandwieder in ein soziales Gleichgewicht zu bringen. Es gehtnicht um Reichenverfolgung oder irgendwelche Ideolo-gien, sondern es geht darum, dass wir etwas, das wirschon einmal hatten, wiederherstellen.
– Wenn hier jemand beim Thema Ideologie zurückhal-tend sein sollte, dann nun wirklich Sie.
– Herr Kauder, ich weiß, das ärgert Sie,
aber ich trage nur vor, was Ihr eigenes Regierungsmit-glied aufgeschrieben hat.
Der Armutsbericht deckt schonungslos auf: Jenseitseiner kleinen Oberschicht mit rasant steigenden Einkom-men und Vermögen hat die große Masse der Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer an der Steigerung desWohlstands keinen Anteil. Das ist nicht nur sozial unge-recht, sondern es gefährdet auch die Grundlage, auf derDeutschland einmal stark und wirtschaftlich erfolgreichgeworden ist. Die Geschichte unserer Eltern und Groß-eltern ist nicht die Geschichte der sozialen Auseinander-entwicklung. Sie wussten, dass das Land und sie selbernur eine Chance haben, wenn man sich im Land gemein-sam entwickelt und nicht auseinander. Wir wollendarüber reden, wie wir das wiederherstellen. Wir haben
Metadaten/Kopzeile:
23362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Sigmar Gabriel
(C)
(B)
das in Deutschland schon einmal geschafft. Darum gehtes.
50 Prozent der neuen Beschäftigungsverhältnisse sindbefristet. 5 Millionen Menschen in Deutschland arbeitenfür 8 Euro die Stunde und weniger. 12 Millionen Men-schen in Deutschland leben an oder unter der Armuts-grenze. Das Armutsrisiko liegt bei 15 Prozent. Das sindkeine Erfindungen der SPD, der Grünen oder der Links-partei, sondern das sind die Daten und Fakten aus demBericht Ihrer eigenen Regierung.
– Er sagt: Nein! Nein! Nein! Das sei nur Frau von derLeyen.Ich finde, das ist eine spannende Debatte. Erst kommtHerr Rösler, Ihr Vizekanzler, und sagt: Der ganzeBericht ist Unsinn, wir werden ihn jetzt einmal ressort-abstimmen und dann verändern. Frau Merkel sagte – ichzitiere –:… jetzt wird dieser Bericht … abgestimmt in derBundesregierung. Da ist noch nicht mal die ersteRunde gelaufen. Und dann werden wir das im No-vember im Kabinett beraten. Und ich bin ganz opti-mistisch, dass wir dann auch einen gemeinsamenStandpunkt finden.Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Die Wirklichkeitlässt sich nicht ressortabstimmen, und sie lässt sich auchnicht fälschen.
Es geht auch nicht darum, dass CDU, CSU und FDP zueinem gemeinsamen Standpunkt kommen, sondern esgeht darum, dass Sie einmal merken, was in Deutschlandlos ist, und dass wir gemeinsam hier im Haus versuchenmüssen, das zu verändern.
Über Steuerpolitik allein schafft man noch keine bes-sere Gesellschaft, aber sie soll die Instrumente schaffen,die es ermöglichen, dass die Lasten fair verteilt werden.Auch da zeigt der Armuts- und Reichtumsbericht einBild der Wirklichkeit: Die vermögensstärksten 10 Pro-zent vereinigen mehr als die Hälfte des Nettovermögensauf sich, die unteren 50 Prozent gerade einmal 1 Prozent.So geht das weiter. Das DIW – es ist ja nicht gerade einelinkssozialistische Einrichtung –
hat unlängst dargestellt, dass genau deswegen die Mittel-schicht schrumpft und zwischen den Polen zerriebenwird. Das ist doch nicht ideologisch.Damit ich nicht falsch verstanden werde: Natürlichhaben Sozialdemokraten und Grüne in ihrer Regierungs-politik beim Thema Steuerentwicklung auch Fehler ge-macht; das ist doch gar keine Frage.
Frau Kramp-Karrenbauer – sie ist übrigens eine CDU-Ministerpräsidentin – hat recht, wenn sie sagt, ein Spit-zensteuersatz von 42 Prozent, wie ihn Gerhard Schrödereingeführt hat, sei zu niedrig. Die Frage ist nur, warumSie diese Fehler fortsetzen wollen. Ein Spitzensteuersatzbei der Einkommensteuer in Höhe von 53 Prozent abeinem Einkommen von 50 000 Euro gehörte übrigenseinmal zu Ihrer eigenen Steuerpolitik. Das fordern in derSPD nicht einmal mehr die Jusos, meine Damen undHerren.
Von daher: Ich glaube, es geht wirklich darum, zu mer-ken, dass sich die Wirklichkeit verändert hat und dasswir die Lastenverteilung in Deutschland nicht mehr sounfair belassen dürfen.Ihre Ministerin ist so mutig, im Reichtums- und Ar-mutsbericht zu schreiben, wie man das machen muss.Ich zitiere:Die Bundesregierung prüft, ob und wie über– Herr von Stetten, hören Sie genau zu –die Progression in der Einkommensteuer hinausprivater Reichtum für die nachhaltige Finanzierungöffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann.Zitat Ende. Unterschrift: Frau von der Leyen.
Genau darum geht es.
Wir dürfen nicht nur über den Anteil der Einkommen-steuer reden, sondern wir müssen auch über den Beitragvon hohen Vermögen, Erbschaften und Kapital sprechen.Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich finde schonden Begriff „Reichensteuer“ schlecht.
Hier geht es auch nicht um Sozialneid.
Wenn Leute wohlhabend und reich geworden sind,steckt dahinter bei den allermeisten unglaublich viel per-sönliche Leistung und ganz viel Anstrengung. Aber nie-mand wird alleine reich. Immer gehören Arbeitnehmerdazu. Ein Land muss sozial sicher sein, über Infrastruk-tur verfügen, gute Bildungschancen bieten, und es musssozialer Friede herrschen. Das alles und persönlicheLeistung führen zu Wohlstand und Reichtum. Wenn dasLand, das mitgeholfen hat, einige Menschen sehr reichund wohlhabend werden zu lassen, Schulden abbauen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23363
Sigmar Gabriel
(C)
(B)
und trotzdem in Bildung investieren muss, aber auchseine Städte und Gemeinden nicht verkommen lassendarf, dann ist es doch die Aufgabe derjenigen, die auchmithilfe dieses Landes wohlhabend geworden sind,etwas mehr mitzuhelfen als die, denen es nicht so gutgeht. Das hat nichts mit Sozialneid zu tun. Das ist Patrio-tismus für unser Land, den wir einfordern – nichts ande-res, meine Damen und Herren.
Ich verstehe nicht, warum Sie es sich beim ThemaVermögensteuer so schwer machen. Das ist doch keineErfindung von Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht.Sie ist die erste Steuer, die in der Verfassung der Bundes-republik benannt wird. Sie ist übrigens eine reine Län-dersteuer; schließlich brauchen die Länder das Geld, umGanztagsschulen zu bauen. Darum geht es bei der Ver-mögensteuer.
Die CDU feiert ja gerade gerne Jubiläen. Es ist übri-gens nicht nur Helmut Kohl, der ein Jubiläum hat. Ichhabe einmal nachgeschaut, wann das erste Mal inDeutschland eine Vermögensteuer erhoben wurde undwer es gemacht hat. Das war vor exakt 60 Jahren. ImJahre 1952 haben der damalige Bundespräsident Heuss,FDP, Herr Bundeskanzler Adenauer, CDU – auf ihn be-rufen Sie sich doch gerne –, und der Bundesfinanzminis-ter Schäffer, CSU, das Gesetz über die Vermögensteuer-Veranlagung unterschrieben, und sofort danach ist es inDeutschland erstmalig in Kraft getreten. Es gab also Zei-ten, in denen CDU, CSU und FDP nicht so ideologischdahergequatscht haben wie ihr letzter Redner, sondern indenen sie wussten, was Verantwortung für dieses Landbedeutet. Ich hoffe, dass das bei Ihnen wieder ein biss-chen zunimmt.
Weil die FDP und insbesondere Herr Brüderle sogerne Ludwig Erhard, den Begründer der sozialenMarktwirtschaft, zitieren – obwohl er ja der CDU ange-hörte –, sage ich Ihnen Folgendes: Er hat am Gesetz überdie Vermögensteuer-Veranlagung mitgewirkt. Ich fragemich, was er wohl heute sagen würde, wenn er erlebenmüsste, wie Sie soziale Marktwirtschaft definieren, undwenn er feststellen müsste, dass Sie nicht einmal bereitund in der Lage sind, den entfesselten FinanzmärktenFesseln anzulegen, damit die soziale Marktwirtschaftnicht immer mehr zerstört wird. Sie haben nichts mitdem Erbe Ihrer Parteien gemein.
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass es inunserem Land eine Schieflage gibt. Wir wollen Schuldenabbauen, in Bildung investieren, unsere Städte und Ge-meinden und unsere Heimat nicht verkommen lassen,Investitionen in Forschung, Entwicklung und Wachstumtätigen und die enormen Herausforderungen des demo-grafischen Wandels bewältigen.Das alles versprechen alle Parteien fast jeden Tagunseren Bürgerinnen und Bürgern. In der Summe dieserVersprechungen unterscheiden wir uns praktisch über-haupt nicht. Worauf es aber ankommt, ist, auch zu sagen,wie wir das, was wir den Bürgerinnen und Bürgern stän-dig versprechen, eigentlich bezahlen wollen. Die Leutehaben doch die Nase voll davon, dass wir ihnen immersagen: Keine Sorge, wir senken Schulden, wir senkenSteuern, und wir geben mehr für Bildung und alles mög-liche andere aus. Die Quadratur des Kreises glaubt unsdoch kein Mensch mehr.
– Wenn Sie den Mut haben, zu sagen, was Sie davon al-les nicht machen wollen, dann kommen wir in derDebatte ins Geschäft. Es wäre spannend, zu hören, wasSie nicht tun wollen.Wir sagen Ihnen: Wir wissen, wie wir eine faireFinanzierung all dieser Aufgaben hinbekommen wollen,nämlich durch den Abbau überflüssiger Steuersubven-tionen – damit haben wir übrigens einmal gemeinsamangefangen; warum setzen wir das eigentlich nichtgemeinsam fort? –, durch die Anhebung des Spitzen-steuersatzes auf 49 Prozent ab einem Einkommen von100 000 Euro pro Person und auch durch die Wiederein-führung der Vermögensteuer, die den Ländern bis zu10 Milliarden Euro mehr für Ganztagsschulen, fürKindergärten und für Hochschulen verschaffen würde.
– Bei der Vermögensteuer geht es um 1 Prozent,genauso, wie wir das in der Vergangenheit debattierthaben, aber eben in der Art und Weise, dass die Betriebs-vermögen herausgenommen werden.
– Sie haben doch noch nicht einmal den Gesetzentwurfder Grünen gelesen; denn sonst wüssten Sie die Antwortdarauf: Die Abgabe darf nicht mehr als 35 Prozent desJahresertrages des Betriebs betragen. Das ist doch derenvernünftiger Vorschlag – verbunden mit riesigen Frei-beträgen!
Wir sollten uns einmal darauf verständigen, über dieDetails zu reden. Ich habe gar kein Problem damit, zusagen, dass ich manchen von Ihnen bestimmt recht ge-ben würde. Sie wollen aber die soziale Spaltung desLandes weiter vergrößern. Sie ignorieren die Wirklich-keit, wollen den Bericht darüber fälschen und der Öf-fentlichkeit sagen, man müsste hier nichts tun.
Das ist doch das, was Sie hier machen!
Metadaten/Kopzeile:
23364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Sigmar Gabriel
(C)
(B)
Ich sage Ihnen: Wir sagen, wie wir das bezahlen wol-len. Sie haben keine Antwort darauf, sondern wollen dieWirklichkeit ignorieren. Das werden wir Ihnen nichtdurchgehen lassen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Gabriel. – Nächster Redner in
unserer Aussprache ist unser Kollege Dr. Volker Wissing
für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Kollege Dr. Volker
Wissing.
Ich danke Ihnen. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Lieber Herr Gabriel, ich finde es bedauer-lich, dass Sie hier ein solches Zerrbild von unsererGesellschaft gezeichnet haben.
Jemand, der sich hinstellt und sagt, er könnte die Repu-blik besser regieren, während er die Realität dabei abervöllig ausblendet,
kann nicht wirklich besonders ernst genommen werden,lieber Herr Gabriel.
Sie haben aber auch etwas Kluges gesagt. Sie habennämlich gesagt, dass die Sozialdemokraten Fehler ge-macht haben. Das ist in der Tat richtig. Sie haben gravie-rende Fehler gemacht, und Sie machen auch heute nochgravierende Fehler. Ich will Ihnen zunächst einmal dieFehler der Vergangenheit vorhalten:Bevor Sie zuletzt Regierungsverantwortung über-nommen haben, haben Sie der Öffentlichkeit erklärt,dass Sie Reiche höher besteuern wollen. Durch die Ein-führung der Reichensteuer haben Sie von Vermögendenein paar Hundert Millionen Euro mehr abkassiert. Ausder Mitte der Bevölkerung haben Sie aber 25 MilliardenEuro durch eine Mehrwertsteuererhöhung herausgezo-gen. Die Binnennachfrage und der kleine Mann wurdengeschwächt, die Empfänger unterer Einkommen und dieMitte wurden höher belastet. Das war die Realität IhrerPolitik. Deswegen glaubt Ihnen in Deutschland niemandmehr, dass es Ihnen um das Geld der Reichen geht. Sieschielen längst wieder auf die Mitte, auf die Empfängerunterer und mittlerer Einkommen, weil man da Kassemachen kann. Darum geht es Ihnen.
Sie wollen Ihre überzogene Ausgabenpolitik auf Kos-ten der Mitte in Deutschland finanzieren. Das ist genaudie falsche Politik, um aus dieser Krise herauszukom-men, weil diese Politik wachstumsfeindlich ist.
Ich bin nicht der Einzige in Deutschland, der das sosieht. Sie tun ja so, als würden Sie mit Ihren Erklärungenzur Gerechtigkeit die geballte Linke in Deutschland hiervertreten.Herr Gabriel, der Spiegel hat sich in dieser Wocheunter dem Titel „Jagd auf Reiche“ mit den Vorschlägender SPD auseinandergesetzt.
Er kommt hinsichtlich der Vermögensteuer, wie die SPDsie vorschlägt, zu dem Ergebnis – ich zitiere:Vor allem … belastet sie– die Vermögensteuer der SPD –gerade jene Bevölkerungsgruppe, deren Besitzweniger aus Yachten, Wertpapieren oder Gemäldenbesteht, sondern vor allem aus Maschinen und Fa-briken.Selbstständige mit mindestens zehn Beschäftigtenverfügen über das höchste Durchschnittsvermögenaller Bundesbürger.So schreibt der Spiegel. – Das ist genau die Bevölke-rungsgruppe, die die meisten Arbeitsplätze in Deutsch-land schafft. Genau da wollen Sie als Arbeitnehmerpar-tei Hand anlegen. Das ist doch absurd. Was Sievorschlagen, würde dazu führen, alles ein bisschenschlechter zu machen, die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer zu schwächen, das Wachstum in unseremLand zu schwächen und den Bundeshaushalt zu destabi-lisieren. Deswegen ist das keine zukunftsgerichtete Poli-tik. Damit können Sie in Deutschland nichts verbessern.
Es ist doch keinem geholfen, wenn es allen ein bisschenschlechter geht.Dann stellen Sie sich – deswegen haben Sie ein Zerr-bild gezeichnet – vor die Öffentlichkeit und sagen, wirhätten ein Problem damit, dass es in Deutschland eineGruppe von Menschen gibt, denen es gut geht. – Was istdenn das für ein Problem, dass es Menschen gut geht? Istes nicht unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass man inDeutschland im Wohlstand leben kann? Das Problemsind nicht die Menschen, denen es gut geht. Das Problemsind Menschen, denen es noch nicht gut geht. Zu denen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23365
Dr. Volker Wissing
(C)
(B)
haben Sie, Herr Gabriel, in Ihrer Rede äußerst wenig ge-sagt.
Es ist niemandem geholfen, wenn man Arbeitgeberndie Substanz wegbesteuert. Es ist niemandem geholfen,wenn Sie Investitionen in Deutschland verhindern. Ge-holfen ist den Menschen, wenn man unseren Standort alsInvestitionsstandort stärkt.Was die Grünen vorschlagen, 15 Prozent des Vermö-gens an den Staat abzuführen, ist nicht nur absurd, son-dern das ist – das sollten Sie eigentlich wissen, HerrTrittin – verfassungswidrig.
– Nein, schauen Sie einmal: Ihr Gesetzentwurf ist des-wegen verfassungswidrig, weil Sie der Öffentlichkeit et-was verschwiegen haben. Sie haben nämlich der Öffent-lichkeit verschwiegen, dass der Staat in DeutschlandEigentum zu schützen hat.
– Wenn Sie zuhören, Frau Roth, werden Sie heute Mor-gen noch etwas lernen.
Es ist nämlich so, dass man in Deutschland, wennman in das Eigentum von Bürgerinnen und Bürgerneingreift, die Notwendigkeit eines solchen Eingriffsrechtfertigen muss, Herr Trittin. Wir leben immer nochin einem Rechtsstaat mit einem Grundgesetz für dieBundesrepublik Deutschland. Das gilt auch für dieGrünen.
Wenn Sie in einer Zeit, in der der Staat Steuereinnah-men in Rekordhöhe hat, die Öffentlichkeit glaubenmachen, dass wir ein Finanzierungsproblem haben, dannist das schlicht gelogen. Es gibt überhaupt keine Not-wendigkeit für den Eingriff in das Privateigentum derBürgerinnen und Bürger.
Wir haben die höchsten Steuereinnahmen in der Ge-schichte. Der Staat schafft es, den Haushalt auszuglei-chen. Wir werden bald einen ausgeglichenen Haushalthaben. Ihnen geht es darum, Menschen in Deutschlandzu enteignen, weil Sie eine Neidgesellschaft wollen.
Sie glauben, wenn es allen gleich schlecht geht, dannwäre das Gerechtigkeit. Wir sagen: Wir müssen denSchwachen helfen und sie stärken, aber wir dürfen nichtmit Neid auf die blicken, denen es schon gut geht.
Sie sind in der Rechtfertigungspflicht. Sie sagen, derStaat bräuchte das Privateigentum der Bürgerinnen undBürger. Wir beweisen Ihnen das Gegenteil, indem wirden Bundeshaushalt schrittweise ausgleichen. Wir wer-den die Regeln der Schuldenbremse vorzeitig einhaltenkönnen.Sie sollten als Partei, die sich gerne als Bürgerrechts-partei geriert, Rechtsstaat und Verfassung ernst nehmen.Was sich die Menschen an zu versteuerndem Vermögenund Einkommen aufgebaut haben, gehört ihnen. Es ge-hört nicht den Grünen für neue Ausgabenprogramme.
Was machen Sie denn in den Ländern? In Baden-Württemberg machen Sie neue Schulden. In Rheinland-Pfalz bauen Sie mit der SPD Vergnügungsparks undFreizeitparks. Dabei haben Sie 500 Millionen Euro ver-senkt. Das ist sozialdemokratische und grüne Politik.
Sie verschwenden Steuergelder und reden dann denMenschen ein, man müsste ihnen jetzt das Privateigen-tum wegnehmen. Absurd ist das!
Wir wollen, dass in Deutschland weiterhin privat in-vestiert wird. Wir glauben nicht, dass Sie mit dem Geldbesser umgehen können als private Investoren und pri-vate Unternehmerinnen und Unternehmer. Der entschei-dende Unterschied zwischen Ihnen mit Ihren Ausgaben-programmen und einem privaten Investor ist folgender:Sie übernehmen keine Verantwortung, keine Haftung fürIhre Politik. Die Privatleute haften mit ihrem Privatei-gentum und fügen jedem Euro, den sie privat investie-ren, Verantwortung und Haftung hinzu. Das schafftArbeitsplätze. Das schafft Wachstum. Das ist die richtigePolitik für die Bundesrepublik Deutschland.
Wir werden im nächsten Jahr mit einem soliden Bun-deshaushalt dastehen.
Metadaten/Kopzeile:
23366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Volker Wissing
(C)
(B)
Die Bundesrepublik Deutschland hat unter dieser Ko-alition die höchste Beschäftigung seit Jahrzehnten. Wirhaben die höchsten Steuereinnahmen seit Jahrzehnten.Liebe Bürgerinnen und Bürger, wir werden dafür sorgen,dass linke Kräfte in diesem Land Sie nicht kalt enteig-nen.Wenn Sie wirklich etwas für die Schließung einer Ge-rechtigkeitslücke tun wollten, dann könnten Sie dem Ab-bau der kalten Progression für untere und mittlere Ein-kommen zustimmen. Aber weil es Ihnen genau darumgeht, bei den unteren und mittleren Einkommen abzu-kassieren, und weil Sie auf das Geld der kleinen Leuteschielen, lehnen Sie das im Bundesrat ab. Sie sind ent-larvt durch Ihre frühere Politik und Ihre arbeitnehmer-feindliche Politik im Bundesrat.
Unter Schwarz-Gelb findet in Deutschland Gerechtig-keit statt. Sie wollen ein ungerechtes Land schaffen.
Vielen Dank, Kollege Dr. Wissing. – Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke un-
ser Kollege Dr. Gregor Gysi. Bitte schön, Kollege
Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrWissing, so viel ideologischen Irrsinn und juristischenBlödsinn wie das, was Sie hier verzapft haben, habe ichselten gehört – wirklich.
Es haut mich richtig um. Ich werde versuchen, im Ein-zelnen darauf einzugehen.Es geht um eine Vermögensabgabe und eine Vermö-gensteuer, und Sie machen sich Sorgen um die Reichen.Das ist überhaupt nicht auszuhalten. Wie sieht denn dieSituation in Europa aus? Sie sagen: Mit der Steuerge-rechtigkeit ist doch alles geklärt.Nehmen wir nur die EU: Die Unternehmensteuernsind um 9 Prozent gesunken und liegen jetzt bei23,3 Prozent. Die Spitzensteuersätze der Einkommen-steuer sind EU-weit im Schnitt um 7,3 Prozent gesun-ken. Die Reichen- und Vermögensteuern liegen EU-weitbei 2,1 Prozent, übrigens in Großbritannien bei 4,2 Pro-zent, in Frankreich bei 3,4 Prozent und in Deutschlandnur bei 0,9 Prozent. Das ist die Realität. Selbst in denUSA liegen diese Steuern bei 3,3 Prozent.Nein, Sie haben die Finanzmärkte völlig dereguliert,und es ist eine gigantische Umverteilung von unten nachoben organisiert worden.
Das ist die Hauptursache für die Banken- und Finanz-krise und damit auch für die hohen Staatsschulden. Dasist die Wahrheit.
Nein, Sie retten keine Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer. Aber jede Bank und jeden Hedgefonds rettenSie, und dafür zahlen Sie das ganze Geld. Das ist unver-antwortlich, was hier geschieht. Damit wahren Sie übri-gens auch den Reichtum.
Interessant ist auch, wo das viele Geld hinwandert.Das wird nämlich nicht mehr in die Wirtschaft investiert,sondern es fließt überwiegend in sogenannte Kapitalver-nichtungssammelstellen: in Banken, Vermögensfonds,Hedgefonds und Private Equity Fonds. Ich kann nicht zuallem Stellung nehmen, aber da fließt das Geld hin.Schauen wir uns einmal die Größenordnung an. DieVermögenswerte von Privatanlegern liegen jetzt bei100 Billionen Euro weltweit. Die Wirtschaftsleistungenaller Staaten betragen die Hälfte davon. Das ist die Si-tuation, mit der wir es zu tun haben. Nichts wollen Siedaran ändern. Das illusorische Ziel, aus Geld Geld zumachen, nicht dafür zu arbeiten, sondern mit Spekulatio-nen Geld zu machen, führt zu diesen Krisen. Nichts än-dern Sie daran. Das ist das Problem.
Wir haben in Deutschland einen Armuts- und Reich-tumsbericht. Herr Gabriel hat recht: Sie können dochnicht im Kompromisswege die Wahrheit verschieben.Das geht nicht.
– Lieber Herr Kauder, zu Ihnen komme ich noch. – Ersagt die Wahrheit, und deshalb ist es auch öffentlich ge-worden.Seit 20 Jahren erleben wir eine Verdoppelung desNettovermögens aller Haushalte in Deutschland: von5 Billionen auf 10 Billionen Euro. Nur, das Problem ist:0,6 Prozent der Haushalte besitzen 20 Prozent davon,das heißt 2 Billionen Euro. Die 19-Jährige, die das erbt,kann nicht so fleißig gewesen sein, wie Sie es hier schil-dern, ohne dass da etwas passiert.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23367
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
Jetzt nehme ich zur Zahl der Euro-Millionäre inDeutschland Stellung. Wir hatten vor der Krise 799 000,jetzt sind es 830 000. Auf Dollar bezogen haben wir922 000 Dollar-Millionäre. Und da, meinen Sie, darfman nicht einen einzigen zusätzlichen Euro kassieren?Was ist das für eine alberne Ideologie, die Sie hier ver-treten!
10 Prozent der Bevölkerung besitzen 50 Prozent desVermögens. Das sind 5 Billionen Euro. Die untere Hälfteder Bevölkerung, auch wieder 50 Prozent, hat nur 1 Pro-zent des Vermögens. Das ist die Realität in Deutschland.Übrigens hatte die untere Hälfte früher wenigstens4,5 Prozent des Vermögens. Jetzt ist es nur noch 1 Pro-zent.
So sieht die Schere aus, die sich ständig weiter öffnet.
Die Reallohnsenkung lag bei 4,5 Prozent. Die unteren10 Prozent, also die, die am wenigsten verdienen, hattensogar einen Reallohnverlust von 9 Prozent.Darf ich Ihnen eine Wahrheit zum Niedriglohnsektorverraten? In den 80er-Jahren war Deutschland mit einemAnteil des Niedriglohnsektors von 14 Prozent Schluss-licht im internationalen Vergleich. Heute sind wir mit25 Prozent zusammen mit den USA Spitzenreiter beimAnteil des Niedriglohnsektors.
Das ist ein Skandal, mit dem Sie sich einmal auseinan-dersetzen müssen.
Jetzt hat Frau von der Leyen ihren ganzen Mut zu-sammengenommen, und dann kommt in ihrem Berichtein Satz vor, der besagt, dass man doch prüfen müsse,welche Rolle das Vermögen finanzpolitisch für die Fi-nanzierung der Staatsaufgaben spielen kann. Da drehtdie FDP durch. Davon wollen Sie keinen Euro haben.Mein Gott! Schon eine Prüfung wollen Sie nicht hinneh-men.
Das ist doch wohl das Mindeste, was man machen darf,wenn man regiert.Aber abgesehen davon – Sie haben es selbstkritischgesagt, Herr Gabriel, und es stimmt –: Unter Rot-Grünhat eine Steuerreform stattgefunden, die natürlich ganzentscheidend zu dem Desaster beigetragen hat.
Die Unternehmensteuern sind von 51,6 Prozent auf29,8 Prozent nominal gesenkt worden; effektiv – das,was wirklich gezahlt wird – sind es nur 22 Prozent. DerSpitzensteuersatz ist von 53 Prozent – unter Kohl übri-gens – auf 42 Prozent gesenkt und dann bei Merkel undSteinmeier für die ganz hohen Einkommen noch einmalauf 45 Prozent erhöht worden.Was ist denn in Ihrer Regierungszeit erhöht worden,Herr Lindner? Gar nichts. Nichts haben Sie erhöht. Ganzim Gegenteil: Die Einnahmeausfälle seit 2001 betragenschon 380 Milliarden Euro. Das ist eine Steuerungerech-tigkeit, die als Umverteilung von unten nach oben wirkt.Herr von Stetten, Sie sagen hier, dass Sie gegen eineUmverteilung sind – Sie organisieren permanent eineUmverteilung von unten nach oben!
Machen Sie doch einmal eine von oben nach unten! Da-für wird es höchste Zeit in unserer Gesellschaft.Ich bin es auch leid, dass diejenigen, die die Kriseverursacht haben und an der Krise verdienen,
nicht mit einem einzigen zusätzlichen Euro herangezo-gen werden, sondern Leute, die nichts damit zu tun ha-ben, das Ganze bezahlen müssen. Genau das ist nicht ge-rechtfertigt.
Im Übrigen, Herr Wissing, Sie sagen: Das ist Enteig-nung. Und: Das Grundgesetz schützt das Eigentum. –Das ist ein solcher Blödsinn. Denn dann dürften Sieüberhaupt keine Steuern erheben.
Da greifen Sie immer in Eigentum ein. Außerdem, HerrWissing, steht in Art. 14 des Grundgesetzes, Eigentumsoll zugleich dem Allgemeinwohl dienen. Was glaubenSie, wie schwer es einem Milliardär fällt, seine Milliardeimmer so einzusetzen, dass es dem Allgemeinwohldient. Da können wir ihm doch solidarisch helfen, neh-men ihm was weg und führen es dem Allgemeinwohl zu.
Wir fordern eine Vermögensabgabe, die gegebenen-falls auch in Raten bezahlt werden kann, und zwar nachdem Vorbild des Lastenausgleichgesetzes von 1952, –
Metadaten/Kopzeile:
23368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
auf private Vermögen von über 1 Million Euro. Für Be-triebsvermögen gelten selbstverständlich Ausnahmen,um die Liquidität nicht zu gefährden. Das ist eine einma-lige Abgabe.Jetzt komme ich zur Wiedererhebung der Vermögen-steuer. Diesbezüglich haben Sie auch Blödsinn über un-seren Antrag erzählt.
– Hören Sie zu, Herr Wissing. Es soll eine Steuer von5 Prozent auf das erhoben werden, was man über1 Million Euro hinaus besitzt – außer Betriebsvermögen.
Deshalb sind auch die Gewerbegrundstücke, die an Mie-terinnen und Mieter vermietet werden, nicht dabei. Ope-rieren Sie also nicht mit den Mieterinnen und Mietern.Ihr Herz gehörte denen noch nie – aber unser Herz! Des-halb haben wir sie selbstverständlich ausgenommen undgeschont.
Erklären Sie mir einmal Folgendes: Wenn jemand1 Million Euro im Jahr verdient, dann muss er daraufüber 40 Prozent Steuern bezahlen. Wenn er sein Geld ir-gendwo anlegt und noch einmal 1 Million Euro Zinsenbekommt, dann muss er nur 25 Prozent Steuern bezah-len. Dafür waren Sie immer. Warum kann man das nichtgleich behandeln und sagen: „Zinseinnahmen sind wieEinkommen“?
Das wäre eine ganz einfache Logik. Aber die FDP sagt:Um Gottes willen, wir müssen alle Zinsen schützen –bloß nicht die der Bevölkerung.
Dann kommt immer der Einwand der Steuerflucht.Das bin ich leid. Es gibt zwei Möglichkeiten, Steuer-flucht zu verhindern.
– Da sieht man einmal, wie begrenzt Ihre Fantasie ist.Ich kann nichts dafür, dass Sie Anhänger der Mauersind. Ich bin kein Anhänger der Mauer.
Es gibt zwei Wege, Steuerflucht zu verhindern. Dererste Weg ist: Wir binden die Steuerpflicht an die Staats-bürgerschaft. Dann kann ein Deutscher etwa in Liechten-stein oder auf den Seychellen wohnen – wo auchimmer –, muss aber hier angeben, was er verdient, wel-ches Vermögen er hat und was er dafür an Steuern zu be-zahlen hat. Wenn er bei uns mehr zu bezahlen hätte, dannbekommt er hinsichtlich der Differenz einen Steuerbe-scheid. Es gibt ein Land, das das so macht: die Vereinig-ten Staaten von Amerika. Die machen damit gute Erfah-rungen. Und Sie drücken sich davor.Der zweite Weg, Steuerflucht zu verhindern, wäre,Banken, die uns Transaktionen dieser Art nicht mittei-len, die Lizenz in Deutschland zu entziehen. Was glau-ben Sie, wie das funktioniert?
Es gibt also Wege. Man muss es nur wollen. Sie wollenes nicht. Das ist das Problem.Nehmen wir Griechenland als Beispiel. Die Rentnerdort müssen jetzt die Medikamente selbst bezahlen, ob-wohl sie krankenversichert sind und ihre Beiträge zah-len. Frauen, die in Griechenland entbinden, müssen dieEntbindung selbst bezahlen. Sonst bekommen sie keineärztliche Hilfe und müssen nach Hause gehen. Eine Leh-rerin in Griechenland hat ein Anfangsgehalt von575 Euro. 2 000 Familien in Griechenland gehören80 Prozent des Vermögens. Dann stellen Sie sich hierhinund sagen: Diese 2 000 Familien sollen nichts bezahlen.Alle anderen sollen das tragen. – Das ist unerträglich.
Wir haben in Europa 3,1 Millionen Dollar-Millionäre.Diese haben schon 10,2 Billionen Dollar als Vermögen.Solche Menschen gibt es auch in Griechenland, Italien,Spanien und Portugal. Ich sage Ihnen: Auch diese müs-sen herangezogen werden.
– Sie sollten sich einmal mit diesen Menschen unterhal-ten, weil Sie ja Millionäre lieben.In Hamburg hat sich ein Verein von Millionären ge-gründet. Dessen Mitglieder möchten endlich eine Ver-mögensabgabe und Vermögensteuern zahlen.
Wissen Sie, warum diese klüger sind als Sie? Weil die esbegriffen haben. Erstens werden sie ein bisschen patrio-tisch sein, und vielleicht wollen sie auch ein bisschenmehr soziale Gerechtigkeit. Zweitens wissen sie: Wer inder Not nicht abgibt, gefährdet sich selbst. – Die sindklüger als Sie. Jetzt müssen Sie eine Vermögensabgabeund auch eine Vermögensteuer einführen, wenn Sie denBestand der Bundesrepublik Deutschland nicht gefähr-den wollen. Das ist das Entscheidende.
Nun komme ich zum Schluss. Herr Kauder, Sie sinddoch Christ; deshalb versuche ich es jetzt mit der Bibel.Sie müssen einmal mit den Millionären reden. PassenSie auf! Apostel Paulus hat seinem Weggefährten
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23369
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
Timotheus einen guten Rat gegeben. Ich zitiere Ihnendas wörtlich:Den Reichen musst du unbedingt einschärfen, dasssie sich nichts auf ihren irdischen Besitz einbildenoder ihre Hoffnung auf etwas so Unsicheres wieden Reichtum setzen. … Sage ihnen, dass sie Gutestun sollen und gern von ihrem Reichtum abgeben,um anderen zu helfen. So werden sie wirklich reichsein und sich ein gutes Fundament für die Zukunftschaffen, um das wahre und ewige Leben zu gewin-nen.Das ist aus dem 1. Brief an Timotheus.
Jetzt zitiere ich Ihnen noch Matthäus 19,24 und Lukas18,25:Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dassein Reicher in das Reich Gottes gelangt.
– Einen Moment! – Sie müssen den Reichen doch eineChance eröffnen, in das Reich Gottes zu kommen. Dasgeht nur über eine Vermögensabgabe und eine Vermö-gensteuer. Glauben Sie es mir!
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Abge-
ordnete Volker Kauder.
Herr Kollege Gysi, ich glaube, es ist zwingend not-
wendig, eine richtige Bibelauslegung – ich würde mich
auch bereiterklären, das zu machen – vorzunehmen und
Ihre Auslegung zu korrigieren.
Im Gegensatz zu dem, was Sie zitiert haben, steht in
Timotheus nicht, dass die Menschen Steuern zahlen sol-
len, sondern, dass sie etwas Gutes tun sollen. Genau das
ist der Unterschied zu dem, was Sie formulieren. Sie
wollen, dass der Staat die Menschen zur Kasse bittet.
Damit provozieren Sie nur Ungerechtigkeiten. Es ist un-
anständig, wie Sie die Heilige Schrift im Deutschen
Bundestag eingesetzt haben.
Aus der Heiligen Schrift ergibt sich kein politisches Pro-
gramm. Deswegen rate ich dringend dazu, hier etwas
mehr Zurückhaltung zu üben.
Da ich das Wort habe, will ich noch einen Hinweis
geben. Ja, es ist völlig richtig, dass wir uns alle Gedan-
ken machen müssen, wie wir den Menschen, die jeden
Tag zur Arbeit gehen, mehr von ihrem Lohn lassen kön-
nen. Deswegen wundere ich mich sehr, dass die linke
Seite dieses Hauses im Bundesrat einen Abbau der kal-
ten Progression nach wie vor verhindert.
Das ist das glatte Gegenteil von dem, was Sie hier sagen.
Sie können in der nächsten Sitzung des Vermittlungsaus-
schusses dafür sorgen, dass die Menschen mehr von ih-
rem Lohn haben, als Sie ihnen jetzt lassen.
Das Wort erhält der Kollege Dr. Gysi.
Ich will zunächst auf Ihre letzte Bemerkung antworten.
Seit Jahren fordern wir, dass der Steuerbauch, unter dem
die Facharbeiterinnen und Facharbeiter, die Meister, üb-
rigens auch Ärzte und andere, zu leiden haben, beseitigt
wird. Das geht aber nur, wenn wir den Spitzensteuersatz
erhöhen, und genau dagegen wehren Sie sich.
Wenn wir das nicht machen, kommt es zu einem reinen
Verlust. Es wird höchste Zeit, den Steuerbauch abzu-
schaffen. Darin stimmen wir überein; denn auch ich
finde, dass diese Personen zu viel Einkommensteuer be-
zahlen müssen. Aber die müssen nur deshalb so viel zah-
len, weil wir oben so viel nachgelassen haben. Genau
das ist nicht erträglich.
Nur noch eine Bemerkung, Herr Kauder. Die Bibel zu
zitieren, ist jedem erlaubt, auch mir. Ich finde, ich inter-
pretiere sie besser als Sie. Es tut mir leid.
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erhält
unser Kollege Sigmar Gabriel.
Ich will zunächst meiner Genugtuung Ausdruck ver-leihen, dass auch Gregor Gysi inzwischen bei der Bibel
Metadaten/Kopzeile:
23370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Sigmar Gabriel
(C)
(B)
angekommen ist. Ich halte das für einen großen Fort-schritt.Zum Kollegen Kauder, weil er uns wegen der kaltenProgression angegriffen hat. Herr Kollege Kauder, alsSie das erste Mal öffentlich darüber debattiert haben,habe ich Ihnen das Angebot gemacht, sofort über dieAbschaffung der kalten Progression zu verhandeln,wenn wir im Gegenzug den Spitzensteuersatz erhöhen;denn zwischen diesen beiden Dingen besteht ein Zusam-menhang. Sie müssen erklären, wie Sie trotzdem Schul-den abbauen und in Bildung investieren wollen. Sie ha-ben darauf nie reagiert. Es gab Einzelne aus IhrerFraktion, die gesagt haben, darüber könne man reden.Sie persönlich haben das Angebot nie aufgegriffen. Wirwürden uns freuen, wenn man mit Ihnen ernsthaft überdie Erhöhung des Spitzensteuersatzes reden könnte.Dann würden wir auch relativ schnell einig bei der vonIhnen beabsichtigten, Gott sei Dank geringen Einkom-mensteuersenkung.Ich will noch eine Bemerkung zu der Behauptung ma-chen, mit der Senkung der Einkommensteuer könne manunheimlich viel für normale Beschäftigte tun. 40 Prozentder deutschen Haushalte zahlen keine Einkommensteuermehr, weil wir, anders als Herr Gysi gesagt hat, gemein-sam – wenn ich mich richtig erinnere, auch gemeinsammit Ihnen – hier im Haus dafür gesorgt haben, dass derEingangssteuersatz deutlich gesenkt wurde. 40 Prozentder deutschen Haushalte zahlen keine Einkommensteuer,und das ist gut so. Aber das bedeutet auch, dass Ihr Ver-sprechen, durch eine drastische Senkung der Einkom-mensteuer könne man den mittleren und unteren Ein-kommensbeziehern helfen, eine glatte Unwahrheit ist;denn wer keine Steuern zahlt, dem kann man auch keinesenken.
Deswegen noch einmal ausdrücklich mein Angebot,Herr Kauder: Wir sind sofort im Gespräch, wenn Sie inder Lage sind, mit uns darüber zu sprechen, die Abschaf-fung der kalten Progression mit einer deutlichen Anhe-bung des Spitzensteuersatzes ab einem Einkommen von100 000 Euro pro Person zu verbinden. Alles andere isteine Milchmädchenrechnung, mit der Sie der Öffentlich-keit vormachen wollen, dass man Steuersenkungen,Mehrausgaben und Schuldenreduzierung gleichzeitig er-reichen könne. Das kann man nur, wenn man die Hoff-nung hat, das nie realisieren zu müssen.
Vielen Dank, Kollege Sigmar Gabriel. – Wir fahren in
der Reihenfolge unserer Redner fort. Als nächster hat für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Hans
Michelbach das Wort. Bitte schön, Kollege Hans
Michelbach.
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle-gen! Die CDU/CSU-Fraktion hat ein zielführendes Kon-zept zur Krisenbekämpfung und zur Sicherung des Wirt-schaftsstandorts Deutschland und seiner Arbeitsplätze.Wir sind die Koalition der sozialen Marktwirtschaft. Wirsind für die Sicherung des Eigentums unserer Bürger.Wir sind für eine leistungsfähige Gemeinschaft mit allenBürgern, und wir wollen Arbeit und Wohlstand für allein diesem Land.
Wir können zweifellos die größeren Erfolge vorwei-sen. Wir haben weniger Arbeitslosigkeit und eine höhereBeschäftigung, wir konsolidieren den Haushalt und ha-ben Wachstumsimpulse durch mehr Kaufkraft und diehöhere Beschäftigung. Wir haben auch höhere Einnah-men, wie die Steuerschätzung beweist. Wir haben gegen-wärtig die höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten. Esgibt überhaupt keinen Grund, eine neue Steuer- und Be-lastungsorgie, wie sie Rot-Grün hier vorschlägt, vorzu-nehmen.Wir wollen nicht immer mehr Staat, weil wir glauben:Das erwirtschaftete Geld gehört zuerst den Menschenund den Betrieben. Sie können mit den Erträgen ammeisten anfangen. Durch ihr Handeln entsteht ein Mehr-wert daraus. Darauf kommt es in einer Volkswirtschaftan.
Nur mit Wachstum können wir unsere Vorbildfunktionin Europa erhalten. Vorrang hat jetzt die Bekämpfungder Staatsschuldenkrise. Diese Krise überwinden wirnicht durch eine Flutung der Haushalte, durch höhereSteuern. Wir müssen deutlich machen: Der richtige Wegkann nur sein, auf der einen Seite Haushaltskonsolidie-rung zu betreiben, die Schuldenbremse einzuhalten undauf der anderen Seite die Staatsfinanzierung zukunftsfestzu machen. Das süße Gift der Steuererhöhungen lässtdiese Bemühungen bekanntlich immer wieder erlahmen.Es ist ganz vernünftig, wenn man mit dem haushaltenmuss, was einem die Bürger zur Verfügung stellen.
Ich weiß, meine Damen und Herren, mit Sparen hatsich Rot-Grün schon immer sehr schwergetan. Das, wasim Antrag steht, ist keine Alternative zum Schuldenab-bau. Wir haben darauf hinzuwirken, dass die Menschenheute den Unterschied der Positionen erkennen. Sie sol-len sehen, dass der vorliegende Antrag einer Opposi-tionsfraktion ein ideologischer Gegenentwurf ist. Siewollen mehr oder minder Staatssozialismus, nach demMotto „der Staat als Raupe Nimmersatt“. Das kommthier zum Ausdruck. Wir dagegen wollen, dass das er-wirtschaftete Geld zunächst einmal in die Privatwirt-schaft hineinfließt und damit letzten Endes für das Ge-meinwohl arbeitet, den Arbeitsplätzen dient. Daher darfich die Betriebe, die Menschen nicht überfordern, son-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23371
Dr. h. c. Hans Michelbach
(C)
(B)
dern ich muss die Marktkräfte wirken lassen. Dann hatjeder etwas davon, und wir haben Wohlstand und Arbeitfür alle – das ist unser Grundprinzip.
Ich weiß, dass gegen uns die „Verteilungskeule“ ge-schwungen wird. Wir sehen bei der Opposition einenNeidkomplex. Man möchte mit populistischen ThemenWahlkampf bestreiten. Ich kann nur deutlich machen:Die unteren 50 Prozent der Steuerzahler bestreiten5 Prozent, die oberen 50 Prozent bestreiten 95 Prozentdes Einkommensteueraufkommens. Es ist nicht richtig,dass der Einkommensteueranteil geringer wird. HerrGabriel, wenn Sie die Steuerschätzung anschauen, dannsehen Sie, dass im Moment gerade die Einkommen-steuer explodiert und so viele Einnahmen für den Staatwie noch nie generiert werden.
Das, was Volker Kauder gesagt hat, ist einfach sinn-voll: Hören Sie mit der Blockade des Abbaus der heimli-chen Steuererhöhung, der kalten Progression, auf! Dasdient den Menschen.
Herr Gabriel, Sie wollen sogar noch eine Hebelungvornehmen – das verstehe ich überhaupt nicht –: Siewollen den normalen Bürgern und Steuerzahlern keineEntlastung gönnen, sofern nicht auch die Oberen belastetwerden. Das muss man sich erst einmal vor Augen füh-ren: Sie nehmen die Masse der Steuerzahler in eine ArtSteuerzahlergruppenhaft. Ja, wo sind wir denn? Wirmüssen die Masse entlasten. Den Menschen in Deutsch-land insgesamt und nicht einigen wenigen muss es gutgehen. Das ist die Situation.
Sie erwecken immer wieder den Eindruck, dass dieLeistungswilligen, die Leistungsfähigen in unseremLand keine Steuern zahlen. Das Gegenteil ist der Fall.Sie wollen immer wieder nur Politik über Transfer ma-chen. Wir haben in Deutschland eine hohe Sozialleis-tungsquote. Darauf dürfen wir stolz sein. Das Geld fürden Transfer muss zunächst einmal erwirtschaftet wer-den. Wenn man Geld ausgibt, muss es zunächst einmaleingenommen werden. So ist das in einer Volkswirt-schaft. Was Sie machen, dazu passen die Stichworte:Perpetuum mobile, Schneeballsystem, volkswirtschaftli-che Voodoo-Politik. Das führt nicht zum Ziel. Deswegenist es ganz wichtig, dass wir hier dank eines klaren Kon-zeptes, wie wir es in dieser Koalition vertreten, eindeu-tige volkswirtschaftliche Erfolge feiern können.Die Vermögensteuer ist so, wie Sie sie anlegen, be-triebs- und arbeitsplatzfeindlich. Die Vermögensteuerfür Betriebsvermögen vernichtet eben Arbeitsplätze,
weil letzten Endes mit dem Geld, das an den Staat abge-geben wird, keine neuen Maschinen gekauft, keine neueHalle gebaut und keine Investitionen bestritten werdenkönnen. Das ist eben der falsche Ansatz, wenn Sie dieLeute überfordern. Wir brauchen die Wertschöpfung fürdie Arbeitsplätze, für die Wettbewerbsfähigkeit desWirtschaftsstandortes Deutschland.Die Personengesellschaften lassen sich nun einmalnatürlich nicht zwischen einem Produktiv- und einemVerwaltungsvermögen aufteilen, wie Sie es in Ihrem An-trag darstellen. So, wie Sie das Verwaltungsvermögendarstellen, gibt es das in der Abgrenzung bei einer Perso-nengesellschaft überhaupt nicht. Deswegen ist das einvöllig falscher Ansatz. Ich muss Ihnen sagen: Es ist er-nüchternd, dass Sie letzten Endes die Grundsätze einerSteuerpolitik in Deutschland gar nicht erkennen.
Mit einem solchen Antrag zeigen Sie, dass Sie von derSteuerpolitik und dem Steuerrecht in Deutschland nullAhnung haben.
Ich darf Ihnen nur sagen: Die Verwaltungskosten las-sen Sie in diesem Antrag, in dem Sie die Vermögen-steuer erheben wollen, völlig außen vor. Schon 1997 hatdas Bundesverfassungsgericht gesagt: Das ist letzten En-des kein Ertrag für den Staat. Vielmehr machen die Ver-waltungskosten zwei Drittel der Einnahmen aus. – WennSie daher eine solche Bürokratie entfachen wollen, dannist das absolut kontraproduktiv.
Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ganz klar, wir müs-sen für die Menschen arbeiten und nicht gegen die Men-schen. Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt letzten En-des mit dieser Koalition in der sozialen Marktwirtschaftauf dem richtigen Weg weiter vorankommen. Das ist derErfolgsweg, den wir beschreiten.Herzlichen Dank.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Lothar
Binding. Bitte schön, Kollege Lothar Binding.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Wissing
Metadaten/Kopzeile:
23372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Lothar Binding
(C)
(B)
hat mich motiviert, erst einmal etwas zu Baden-Würt-temberg zu sagen. Er hat irgendwie gesagt, die Rot-Grü-nen machten im Land eine schlechte Haushaltspolitik.Ich will nur einmal sagen, dass ich einen kleinen Streitmit Nils Schmid hatte, dem dortigen Finanzminister. Erhat einen Kassensturz gemacht und dramatische Dingefestgestellt.
Das wurde dann vergessen und von ihm, höflich und sanftwie er ist, nicht weiter thematisiert. Ich hatte gesagt: Ersoll ein Bad Budget machen, er soll den Mappus-Deal aufKosten der Staatskasse explizit ausweisen und die2,5 Milliarden Euro als strukturelles Defizit – da geht esnicht um eine einfache Verschuldung – aufschreiben, da-mit die Bürger merken, was Schwarz-Gelb dort angerich-tet hat. Insofern hat, wenn man es ein bisschen ändert,Hans Michelbach recht: Mit Sparen tut sich Schwarz-Gelb schwer.
Herr Gysi hat gesagt, was er immer vorbringt, undüber Steuersätze gesprochen. Ich will das hier so erklä-ren, wie ich es manchmal in Schulklassen mache. Dortfrage ich: Hat jemand einen Garten? Manche sagendann: Ja, meine Eltern haben einen Garten. Dann frageich: Wie groß ist der? Dann sagen die Schüler meistens:So etwa 40 Quadratmeter. Dann frage ich: Warum habenSie Quadratmeter gesagt, warum haben Sie nicht nur ge-sagt, 4 Meter? Dann sagen sie: Ich habe da doch eineFläche. Darauf sage ich: Ja, der Gysi spricht auch immernur vom Spitzensteuersatz. Er muss aber den Spitzen-steuersatz quasi als Länge mal Bemessungsgrundlage alsBreite anschauen. Wenn man beide zusammennimmt,sieht die rot-grüne Steuerpolitik, die von 1998 bis 2005gemacht wurde, ganz anders aus, nämlich sehr gut, weilsie uns auf ein Niveau brachte, das Deutschland in Eu-ropa sehr gut dastehen lässt. Das ist ein Erfolg.
Vielleicht nur als Nebenbemerkung zu dem Stichwort„kalte Progression“. Heute haben ja Leute der Koalitionuns das erklärt. Ich habe einen Brief vom Bundesfinanz-ministerium, in dem es heißt: Die kalte Progression hattebisher gar keine Wirkung, weil entsprechende Anpas-sungen immer vorgenommen worden sind. Jeder – dashat unser Parteivorsitzender Sigmar Gabriel schon er-klärt –, der sich damit befasst, weiß, dass Ihr Vorschlagstarken Schultern hilft, den Reichen mehr gibt und dieArmen nicht entlastet und die ganz Armen nicht entlas-ten kann, weil sie nichts bezahlen.
Aber in einem hat Herr Wissing recht. Herr Wissinghat von Zerrbildern gesprochen. Interessanterweise hater auch die Mehrwertsteuer angesprochen. Es ist schonrichtig: Mithilfe der FDP wurde die Mehrwertsteuerauch in dieser Legislaturperiode angepasst, um alle Feh-ler, die zuvor gemacht wurden, zu korrigieren. An wel-che Steuer ich denke, das kann sich jetzt jeder vorstellen.Ich sage auch nichts zu Hotels. Insofern ist es klar, undjeder weiß, was gemeint ist.Er hat aber tatsächlich Recht mit dem Begriff „Zerr-bild“. Wir haben nämlich ein Zerrbild zwischen Armund Reich. Der Reichtumsbericht sagt uns sehr genau,wie sich private Vermögen entwickeln, wie sie steigen,wie sie konzentriert werden, und ebenso, wie sich Ein-kommen entwickeln. Wir sehen, dass die Schere immerweiter auseinandergeht.Das Gute ist, dass wir uns sogar freuen, wenn Leutereicher werden. Das ist in Ordnung; denn viele von denReichen sind sich wirklich ihrer Verantwortung bewusst.Viele wollen sich sogar stärker beteiligen und machendas auch. Viele haben auch ein Gerechtigkeitsgefühl.Aber – Joachim Poß hat das einmal in einer Redegesagt – wenn die Konzentration des Vermögens explo-sionsartig zunimmt – das sind Wachstumsfunktionen, dieim Zeitverlauf extrem ansteigen –, dann merkt man, dassman etwas tun muss; denn man mag sich gar nicht vor-stellen, was passiert, wenn diese Entwicklung weiter vo-ranschreitet. Man fragt sich, wie lange eine Gesellschaftdas aushält.Schauen wir uns in der Welt um: Natürlich gibt es Ge-sellschaften, in denen mancher noch viel, viel reicher istals mancher Deutscher und viele sehr viel ärmer sind.Die Frage ist aber: Wie lange würde das unsere Gesell-schaft aushalten? Außerdem merkt derjenige, der dieWirtschaftsentwicklung dieser Länder mit der unserenvergleicht, dass ein gewisser Ausgleich zwischen Armund Reich für eine prosperierende Wirtschaft sehr klugist, alles andere aber wirtschaftsfeindlich und wachs-tumsgefährdend.
Diese Auseinanderentwicklung zwischen Arm undReich ist aber ein strukturelles Problem; es geht auf vielegesellschaftliche Voraussetzungen zurück. Hier kommeich auf die Idee von den Grünen zu sprechen, die wirsehr gut finden. Die Idee, eine Vermögensabgabe zuwollen, um Gerechtigkeitslücken zu schließen, um auchganz Reiche stärker zu beteiligen, hat den Nachteil– auch wenn die Zahlung gestreckt wird –, dass sie eineEinmalabgabe ist, die auf strukturelle Probleme nicht ad-äquat reagiert. Wir bevorzugen eine strukturelle Lösungund arbeiten auch an ihr, und das ist eben eine jährlichwiederkehrende Vermögensabgabe, die auf diese struk-turellen Verwerfungen konstruktiv reagiert. Deshalbglauben wir, dass wir, ausgehend von einer Überlegungder Grünen, weiterentwickelt zu einer Vermögensteuer,da sehr gut gemeinsame Ideen entwickeln können, umdiese Verwerfungen zu überwinden.Wir haben aber nicht nur ein Problem zwischen Armund Reich im Privaten, im Individuellen, sondern wir ha-ben auch ein Problem zwischen Arm und Reich im Ver-hältnis zwischen Öffentlichen und Privaten. Wer da ge-nauer hinschaut, der merkt, dass wir seit vielen Jahreneine exorbitante Zunahme privaten Reichtums haben– einige haben die Zahl genannt: 10 Billionen Euro –,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23373
Lothar Binding
(C)
(B)
aber auch eine exorbitant zunehmende öffentliche Ar-mut, die letztendlich alle bezahlen müssen, im Notfallüber Zinsen, aber noch viel schlimmer durch Verwerfun-gen an den Finanzmärkten, die dann interessanterweiseja nicht diejenigen bezahlen, die die Risiken eingehen,sondern die, die Steuern zahlen. Das ist auch ein Trans-ferkanal von Arm nach Reich, wobei die Armen die Rei-chen noch dabei unterstützen, dass sie ihre hohen Risi-ken eingehen können. Auch hier sind die Verhältnisseaus dem Ruder gelaufen, und ich glaube, dass das auchdeutlich macht, warum Herr Wissing recht hat, wenn ersagt: Es gibt hier große Verwerfungen und große Pro-bleme, aber man muss es halt anpacken.Bezogen auf unser Steuersystem, beobachten wir,dass man permanent zwischen privatem und Betriebs-vermögen hin- und herschieben kann und dass Bezieherhoher Einkommen diese Möglichkeiten auch nutzen. Sieschieben ihr Einkommen mal in ein unternehmerischesVermögen, in das Betriebsvermögen; dann wieder wirdes privat verwaltet, mal international, mal in Deutsch-land. All diese Verschiebebahnhöfe führen dazu, dass dieSchere, von der ich sprach, immer weiter auseinander-geht. Deshalb glauben wir, dass das Steuersystem, daswir haben, ideal durch eine Vermögensteuer ergänztwird, bei der genau darauf geachtet wird, den Kanaldichtzumachen, wenn jemand nur von dieser Verschie-bung lebt und so sein Vermögen vergrößert. Das ist si-cherlich eine sehr gute Angelegenheit.Herr Michelbach, Sie haben gesagt, wir würden damitUnternehmen ruinieren oder so. Wenn Sie die Angabezur Größenordnung sehen, dann merken Sie, dass dasgar nicht sein kann.
Außerdem: Sowohl bei den Grünen als auch bei unserenÜberlegungen wird die Steuer nach oben plafondiert.Außerdem schonen wir Betriebsvermögen – das ist jadas Besondere –,
weil wir eine Steuer machen, die Arbeitsplätze sichert.Es sei noch einmal darauf hingewiesen: Es ist eine Län-dersteuer, die dann natürlich hilft, in den Ländern Bil-dung und Familienförderung zu unterstützen und dort alldas zu tun, was es dort zu tun gibt.
Insofern ist auch der Satz von Herrn Wissing, Arbeit-gebern würde die Substanz wegbesteuert, natürlichfalsch. Wer sich jetzt noch einmal ausrechnet – das kannich aus Zeitgründen nicht mehr machen –, wie viel Pro-zent 10 Milliarden von 10 Billionen Euro sind, der musserkennen, wie hoch die jetzt angedachte tatsächliche Be-lastung für die wirklich großen Vermögen ist. Er wirddann feststellen, wie klein die Belastung ist. Eigentlichkönntet ihr euch das auch überlegen; denn es gibt auchin der Regierungskoalition Leute, die an Gerechtigkeitdenken und an die öffentlichen Aufgaben, die wir erfül-len müssen. Deshalb wäre es schön, wenn auch ihr euchzu einer Vermögensteuer durchringen würdet.
Vielen Dank, Kollege Lothar Binding. – Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP unser Kollege Dr. Daniel Volk. Bitte schön, Kol-
lege Dr. Volk.
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehr-ten Damen und Herren! In der heutigen Debatte habenwir gesehen, dass zumindest die Opposition den Wahl-kampf eröffnet hat, und zwar einen Wahlkampf, der sehrstark durch unsachliche Beiträge geprägt sein wird,
der sehr stark auf Sozialneid und eine Spaltung der Ge-sellschaft hinauslaufen wird. Da sind mehr oder wenigerkompetente Finanzpolitiker, die hier Äußerungen tref-fen, zum Beispiel Jürgen Trittin von den Grünen, dervon den reichen Bürgern und dem armen Staat gespro-chen hat, allerdings leider Gottes verschwiegen hat, dassin den Bundesländern, in denen die Grünen regieren, derStaat noch viel, viel ärmer ist als in anderen Bundeslän-dern, in denen eine vernünftige Haushalts-, Wirtschafts-und Steuerpolitik betrieben wird.
Sigmar Gabriel als Vorsitzender der SPD malt dasBild an die Wand, dass, wenn die Steuerbelastung derBürger erhöht würde, mehr Schulen und mehr Kinder-gärten usw. usf. gebaut würden, verschweigt leider Got-tes aber, dass im Bundesland Baden-Württemberg nachder Übernahme durch eine grün-rote LandesregierungLehrerstellen abgebaut werden – und das zuzeiten, in de-nen Steuern in einer solchen Höhe in die Staatskassefließen wie noch nie.
Gregor Gysi von der Linkspartei stellt zwei Zahlengegenüber: die Anzahl der Millionäre vor der Krise unddie Anzahl der Millionäre nach der Krise. Für ihn ist esdann selbstverständlich, dass die zusätzlichen Millionärenur deswegen Millionäre werden konnten, weil sie sozu-sagen an der Krise verdient hätten.
Möglicherweise ist das eher der erfreuliche Beweis da-für, dass während der Krise eine Regierung in Deutsch-land die Verantwortung übernommen hat, die mit einer
Metadaten/Kopzeile:
23374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Daniel Volk
(C)
(B)
vernünftigen Wirtschafts- und Finanzpolitik dafür ge-sorgt hat, dass die einzelnen Bürger ihr Vermögen, ihrenprivaten Anteil steigern konnten. Das ist ein gutes Zei-chen für die Bürger dieses Landes.
Wir brauchen keine sozialspalterische Debatte, wie siehier von der Opposition angezettelt wurde.
Herr Kollege Dr. Volk, gestatten Sie eine Zwischen-
frage unseres Kollegen Dr. Gerhard Schick?
Ja, sehr gerne.
Bitte schön, Kollege Dr. Schick.
Herr Kollege, Sie haben auf die Bundesländer und
den Wechsel von Schwarz-Gelb zu Rot-Grün hingewie-
sen.
– Grün-Rot. Danke, dass Sie das präzisieren.
Ich möchte zwei Fragen an Sie stellen. Die erste
Frage: Ist Ihnen bekannt, dass die Neuverschuldung in
Baden-Württemberg unter der grün-roten Landesregie-
rung geringer ist als die Zinsausgaben, dass also, wenn
die schwarz-gelbe Landesregierung unter Herrn Mappus
keinen Schuldenberg zurückgelassen hätte, wir heute ein
Plus im Haushalt hätten, sodass die Neuverschuldung al-
lein auf das schwarz-gelbe Konto geht?
Die zweite Frage: Ist Ihnen bekannt, dass Baden-
Württemberg beim Zahlenverhältnis „Schüler zu Leh-
rer“ durch die Politik der grün-roten Landesregierung
eine Spitzenposition einnimmt und dass es nicht, wie Sie
sagen, andersherum ist?
Zum Zweiten. Dass die neue Landesregierung inner-halb eines Jahres dieses Verhältnis so entscheidend geän-dert hat, halte ich für absolut unwahrscheinlich.
Ich glaube, das sind eher die Vorteile, von denen dieneue Landesregierung zehren kann aufgrund der hervor-ragenden Regierungstätigkeit der schwarz-gelben Regie-rung in Baden-Württemberg.
Wissen Sie, Herr Kollege: Es ist immer sehr erstaun-lich, mit welcher Kreativität die Staatsverschuldungspo-litiker, die eher im linken Bereich dieses Hauses anzu-treffen sind, Argumente aufbringen, warum man jetzt inweitaus mehr Staatsverschuldung hineingehen kann.Was mir in diesem Zusammenhang auffällt: Wennbürgerliche Regierungen die Regierungsverantwortungübernehmen,
geht die Staatsverschuldung immer herunter, unabhängigdavon, welcher haushaltspolitische Kurs vorher gefahrenwurde.
Sie sehen es in meiner Heimat, in Bayern. Bayern istdas einzige Bundesland in Deutschland, das nicht nur dieNeuverschuldung herunterfährt, sondern sogar Schul-den zurückzahlt.
Sie sehen es an der christlich-liberalen Bundesregie-rung,
die von einem Finanzminister der SPD, Peer Steinbrück,eine Neuverschuldungsplanung von 80 Milliarden Euroübernommen hat, jetzt aber auf dem Weg ist zu einemausgeglichenen Haushalt 2013, 2014.
Der Beweis in der Praxis ist erbracht. Das sollte Ihnenzu denken geben. Das gilt vor allem angesichts Ihrerewigen Forderung nach stärkerer Belastung der Bürger,und zwar mit dem wirklich immer sehr wohlklingendenArgument, dass das, von dem Sie erwarten, dass es zu-sätzlich eingenommen würde – hier werden Sie wahr-scheinlich stark enttäuscht werden –, eins zu eins in denSchuldenabbau fließen würde.Ein Gegenbeispiel dazu.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23375
(C)
(B)
Ich gehe davon aus, dass Sie diese Frage beantwortet
haben. Es gibt nämlich noch eine weitere Frage.
Ich möchte gerne zur Beantwortung der Frage weiter
ausführen. – Ein Gegenbeispiel ist die Anhebung der
Umsatzsteuer von 16 auf 19 Prozent im Jahr 2007. Da-
mals wurde gesagt: Wir müssen die Steuer anheben, weil
wir dadurch die Staatsverschuldung zurückfahren. – Ein
Bruchteil dieser Einnahmen ist in das Zurückfahren der
Staatsverschuldung geflossen. Der Rest ist in allgemeine
Haushaltsausgaben geflossen. Insofern kann ich den ein-
zelnen Bürger nur davor warnen, zu glauben, dass eine
höhere steuerliche Belastung des Bürgers automatisch
zum Abbau der Staatsverschuldung führt. Das Gegenteil
ist in der Vergangenheit bewiesen worden.
Gestatten Sie die Zwischenfrage des Kollegen
Andreas Scheuer?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Volk, da wir gerade beim Thema Baden-
Württemberg sind,
nutze ich die Gelegenheit, um auf die neue Politik dort
hinzuweisen. Würden Sie auch mit Besorgnis bestä-
tigen –
die Antwort könnte mit Ja oder Nein abgehandelt wer-
den –, dass, seitdem Grün-Rot in Baden-Württemberg
regiert, die laufenden Maßnahmen im Bereich der Infra-
struktur so erhebliche Kostensteigerungen erfahren, dass
der Bund zurzeit keine neuen Maßnahmen mehr in An-
griff nehmen kann,
weil im Koalitionsvertrag von Grün-Rot steht, dass erst
die laufenden Maßnahmen abgearbeitet werden, was als
wirtschaftspolitische Ausrichtung für die Bauindustrie in
Baden-Württemberg ein fatales Signal bedeutet?
Herr Kollege Scheuerle, ich bestätige diese Ansicht
mit größter Besorgnis.
Scheuer. Andreas Scheuer.
Ich kann nur noch ergänzen, dass die größte Gefahr
für ein Land wie Baden-Württemberg, das über Jahr-
zehnte hervorragend regiert wurde,
darin besteht, dass es in der Zukunft erheblich von der
Substanz leben wird. Was das Leben von der Substanz
für ein Land bedeutet, kann man auch in anderen Regio-
nen der Republik beobachten.
In den nächsten Jahren wird es Baden-Württemberg in-
sofern wahrscheinlich nicht besonders gut gehen. Wir
werden jedoch sehen, ob sich die Landesregierung mög-
licherweise eines Besseren besinnen wird.
Herr Kollege, es gibt eine weitere Zwischenfrage.
Herr Präsident, ich würde jetzt gerne meine Ausfüh-
rungen fortsetzen.
– Herr Gysi wollte eine Zwischenfrage stellen? Herrn
Gysi lasse ich natürlich zu.
Sehen Sie: Hier wird also differenziert; nicht jeder
darf. Bitte schön, Kollege Dr. Gysi.
Herr Kollege, ich habe eine Frage. Sie haben gesagt,dass es das Verdienst der klugen Politik der Bundesre-gierung ist, dass selbst in der Krise die Zahl der Vermö-gensmillionäre in Deutschland zugenommen hat.
Ist es dann auch ein Verdienst der klugen Politik derBundesregierung, dass in derselben Zeit der Vermögens-anteil der unteren 50 Prozent der Bevölkerung von4,5 Prozent auf 1 Prozent zurückgegangen ist?
Metadaten/Kopzeile:
23376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(C)
(B)
Nein. Wissen Sie, was das ganz große Verdienst die-
ser christlich-liberalen Regierung in der Krise ist? Dass
es uns gelungen ist, die Arbeitslosenzahlen noch einmal
deutlich zu senken, dass es uns gelungen ist, gerade die
unteren Lohngruppen und die Familien mit einer Steuer-
entlastung zum 1. Januar 2010 zu unterstützen!
Das ist das Verdienst dieser christlich-liberalen Koali-
tion.
Ich weiß, dass Sie gerne mit Statistiken arbeiten. Aber
gehen Sie einmal hinaus und fragen Sie die Leute! Fra-
gen Sie den kleinen Arbeitnehmer, wie froh er über diese
Regierungspolitik ist,
wie froh er ist, dass er keine Angst um seinen Arbeits-
platz haben muss, dass er bei Steuern und Sozialversi-
cherungsbeiträgen entlastet wurde! Das ist das Verdienst
dieser christlich-liberalen Koalition.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
hier einen weiteren Aspekt anführen. Ich habe mich sehr
über den bereits zitierten Artikel aus dem Spiegel dieser
Woche gefreut, in dem, wie ich finde, sehr kenntnisreich
dargelegt wird, wo denn auf der einen Seite überhaupt
das Missverständnis derjenigen liegt, die glauben, über
eine Vermögensteuer oder eine Vermögensabgabe deut-
lich mehr Einnahmen des Staates erzielen zu können,
und wo auf der anderen Seite die großen Schwierigkei-
ten einer solchen Vermögensteuerbelastung liegen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass Sie hier in Ihren
Redebeiträgen immer das Bild an die Wand malen: Na
ja, wir reden doch nur über die oberen 0,5 Prozent oder
1 Prozent der Bevölkerung mit einem Vermögen von
1 Million oder von 2 Millionen Euro – es kommt auf die
Höhe des Grundfreibetrages an –, die durch eine entspre-
chende Steuererhebung belastet werden würden. – Ja,
glaubt denn irgendjemand von Ihnen, dass es für diejeni-
gen, die ein Vermögen von weniger als 1 Million Euro
haben, also unterhalb der Freibeträge liegen, ausreicht,
einfach ein Schreiben an das Finanzamt zu schicken:
„Liebes Finanzamt, vielen Dank, aber ich kann Ihnen
versichern, dass mein Vermögen niedriger ist als das,
was zu versteuern ist“? Das wird nicht passieren. Wenn
man eine Vermögensteuer einführt, gibt es in Deutsch-
land 82 Millionen potenziell Steuerpflichtige, die jeweils
ihre Vermögenssituation darlegen müssen, mit dem ent-
sprechenden Veranlagungsverfahren, mit dem Bewer-
tungsverfahren. Sie nehmen hier einen Bürokratieaufbau
vor und belasten die Bürger mit Bürokratie, obwohl Sie
– das folgt aus Ihrer eigenen Argumentation – vielleicht
nur 0,5 Prozent der Bevölkerung treffen wollen. Ich
glaube, das ist auch vor diesem Hintergrund nicht beson-
ders sinnvoll.
Ich glaube, dass man in der Zeit der höchsten Steuer-
einnahmen dieses Staates eher darauf achten sollte, sich
mit den Steuermitteln, die in dieser Zeit zur Verfügung
stehen, auf die Aufgaben zu konzentrieren, die für dieses
Land und seine Bürger wirklich wichtig sind.
Sie sollten in Baden-Württemberg eben nicht Lehrerstel-
len abbauen und im Gegenzug andere Beamtenstellen
aufbauen. Sie sollten in Nordrhein-Westfalen eben nicht
verpassen, ausreichend Kinderbetreuungsstätten zu er-
richten. Sie sollten sich mit dem Geld, das dem Staat
momentan aufgrund einer hervorragenden Finanz-,
Steuer- und Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung
zur Verfügung steht, auf die wesentlichen Punkte kon-
zentrieren: Bildung, steuerliche Entlastung des Mittel-
standes, damit sich Arbeit auch wieder lohnt, Schaffung
von Arbeitsplätzen.
Das sind die Herausforderungen für dieses Land. Bitte
kommen Sie uns nicht weiter mit der Chimäre einer Ver-
mögensabgabe oder Vermögensteuer!
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Frau Lisa Paus.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Volk,Sie sagen, wir sollten Schulden zurückzahlen. Ich sage:Warum tun Sie es dann nicht?
Warum bringen Sie in diesem Jahr wiederum einenHaushalt in den Bundestag ein, der eine Nettoneuver-schuldung vorsieht?
Herr Scheuer – Sie sind Staatssekretär im Verkehrs-ministerium und haben eben eine Zwischenfragegestellt –, allein das Verkehrsministerium muss in die-sem Jahr Mehrausgaben in Höhe von 320 MillionenEuro gewärtigen, weil der Bund an dem Desaster „Flug-hafen BER“ in Berlin beteiligt ist. Sie sehen Mehrausga-ben vor und bauen eben nicht die Verschuldung ab.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23377
Lisa Paus
(C)
(B)
Wir reden seit über einer Stunde über dieses Thema,und ich muss feststellen: Bisher hat es noch keiner vonIhrer Seite gewagt, sich mit unserem Gesetzentwurf kon-kret auseinanderzusetzen.
Offenbar ist er so gut, dass Sie sich gar nicht trauen, sichmit der Sache zu beschäftigen.
– Doch, habe ich; auch Sie haben zu unserem Gesetzent-wurf nichts Konkretes gesagt.
Ich werde Ihnen unseren Gesetzentwurf erklären. Wirlegen ihn heute vor, um Schulden tatsächlich abzubauen.Wir wollen eine einmalige Vermögensabgabe, weil wirder Überzeugung sind: Dieses Land braucht endlich eineAntwort auf die Frage: Wer zahlt die Kosten der Krise?
Wir werben seit 2009 dafür. Die Vermögensabgabe istdas richtige Instrument. Wir freuen uns, dass wir inzwi-schen nicht mehr alleine sind, sondern dass quer durchdie Lager alle – von Attac bis zu Paul Kirchhof, von derWirtschaftsprüfungsgesellschaft Boston Consulting bishin zur IG Metall – unseren Vorschlag unterstützen, unddas ist gut so.
Es ist einfach richtig, dass der Staat, der in der Krisein Vorleistung gegangen ist, der mit Rettungsschirmenund Konjunkturpaketen die privaten Vermögen vor Ent-wertung geschützt hat, das Geld von denjenigen einfor-dert, die davon am stärksten profitiert haben und die des-wegen auch einen höheren Beitrag zum Abbau derVerschuldung leisten können.
Ein Herr Ackermann oder ein Herr Winterkorn von VWmit einem Jahresgehalt von 17 Millionen Euro lebennicht auf einem anderen Planeten, sie leben auf dieserWelt, sie haben einen Wohnsitz in diesem Land, und die-ser Staat hat unter anderem auch ihr Vermögen gerettetund sich dafür verschuldet.
Mit unserem Gesetz wollen wir die Kosten der Krise vonbisher geschätzten mindestens 100 Milliarden Euro fi-nanzieren und die daraus entstandenen Schulden tilgen,also Schulden abbauen.Die grüne Vermögensabgabe belastet nicht die Armenund auch nicht den Mittelstand, sondern ganze 330 000Privatpersonen in Deutschland, das heißt – auch wennSie noch so sehr daran herumdeuteln wollen –: 99 Pro-zent der Menschen in diesem Lande sind nicht betroffen.
Die wenigen, die unter die Abgabepflicht fallen, habenzehn Jahre Zeit, die Abgabe zu zahlen, jährlich 1,5 Pro-zent. Wir sagen: Das ist nun wirklich leistbar.
– Sie müssen aber nicht zahlen, Herr Volk, das wissenSie.
Unser Gesetzentwurf sieht außerdem großzügige Ver-schonungsregelungen für Betriebsvermögen vor. Somuss zum Beispiel ein Einzelunternehmer einen jährli-chen Gewinn von über 500 000 Euro haben, um in denKreis der Abgabepflichtigen aufgenommen zu werden.Auch das finden wir hinnehmbar.Durch die grüne Vermögensabgabe wird auch nie-mand aus diesem Land vertrieben – auch wenn dieKanzlerin etwas anderes behauptet –; denn es zählt derStichtag 1. Januar 2012. Es gibt also keinen Grund, weg-zuziehen; denn auch dadurch kann sich niemand der Ab-gabe nachträglich entziehen. Es ist vielmehr ein Grund,in diesem Land zu bleiben; denn durch die Schuldentil-gung bekommen wir wieder einen handlungsfähigenStaat, der in die Energiewende, in Bildung und in Ge-rechtigkeit investieren kann.
Ich komme zum Schluss. Es bleibt noch Ihr Schreck-gespenst der Substanzbesteuerung. Das trifft unserenGesetzentwurf nicht – wenn Sie ihn lesen, werden Sie esfeststellen; Sie wissen es eigentlich –; denn durch unsere
Metadaten/Kopzeile:
23378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Lisa Paus
(C)
(B)
zusätzliche 35-Prozent-Regelung, die Verschonungsre-gelung, ist die Substanzbesteuerung von Betriebsvermö-gen zu 100 Prozent vollständig ausgeschlossen.
Deswegen können Sie das Gespenst in den Schrank ste-cken.
Nehmen Sie die Ergebnisse Ihres Armuts- und Reich-tumsberichtes endlich ernst. Unser Gesetz ist mit einfa-cher Mehrheit in diesem Hause zu beschließen. Schlie-ßen Sie sich unserem Gesetzesvorschlag an! Wenn Sie esnicht tun, dann wird es die Bundestagswahl im nächstenJahr regeln.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Frank Steffel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gabriel, Siehaben das dialektisch geschickt gemacht, wie ich fand.Sie haben manche Zusammenhänge hergestellt, die manso, glaube ich, nicht herstellen sollte. Aber natürlichenthielt Ihre Rede vieles, über das wir in diesem Land inder Tat nachdenken müssen und auch nachdenken soll-ten. Auch für uns geht es – ich sage das in aller Deutlich-keit – um eine permanente Überprüfung von Steuerpoli-tik und Sozialpolitik sowie um eine kontinuierlicheWeiterentwicklung unseres weltweit einmaligen Erfolgs-modells „soziale Marktwirtschaft“. Das ist die Kern-frage.Da müssen wir uns natürlich mit der Frage beschäfti-gen, wie viel Freiheit wir brauchen, weil das die eineSeite der Medaille, die eine Seite des Erfolgsmodellsvon Ludwig Erhard ist. Die Freiheit des Individuumsfängt bei denen an, die sich die Freiheit herausnehmen,nie zu arbeiten, die wir trotzdem nicht verhungern las-sen, die trotzdem eine medizinische Versorgung erhal-ten, die trotzdem ein Dach über dem Kopf haben. Esgeht um die Freiheit von Menschen, mit ihrem Eigentumdas zu tun, was sie wollen, in Deutschland oder an-derswo.
– Frau Roth, natürlich geht es auch darum, dass Eigen-tum verpflichtet. Meine Damen und Herren, über diesenSatz muss in diesem Hause doch niemand ernsthaft strei-ten.
Das ist doch selbstverständlich.Wir ringen also um die Frage, wie wir diese sozialeMarktwirtschaft weiterentwickeln. Für uns als CDU/CSU ist es eine Selbstverständlichkeit, dass starkeSchultern deutlich mehr tragen als schwache Schultern.Wer will das angesichts der Fakten in Deutschland denninfrage stellen? Ich will das sehr deutlich sagen: Eine Fa-milie, zwei Erwachsene und zwei Kinder, zahlt in die-sem Land bis zu einem Jahreseinkommen von knapp40 000 Euro nicht einen Cent Lohn- und Einkommen-steuer. Weniger als null geht nun mal nicht.
10 Prozent der Steuerzahler erbringen 55 Prozent desLohn- und Einkommensteueraufkommens. 56 Prozentdes Bundeshaushalts, der von dieser christlich-liberalenKoalition verantwortet wird, wird für Soziales aufge-wendet. Das ist doch der Versuch, die Balance zu wah-ren. Wir brauchen starke Schultern. Wir müssen dieseMenschen, diese Unternehmen motivieren, in Deutsch-land zu bleiben und zu investieren. Kapital ist leider– das wissen wir – nicht nur ein schwieriges, sondernauch ein sehr scheues Reh. Wenn es woanders Rahmen-bedingungen findet, die deutlich besser sind, macht dasdie Sache nicht leichter.Ich will auch etwas zu dem Spitzensteuersatz sagen.Über den können wir übrigens miteinander ringen. Na-türlich müssen wir das immer wieder miteinander tun.Herr Gabriel, Herr Trittin, ich spare mir den Hinweis,dass die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder undFischer die deutlichste Steuerentlastung der Wohlhaben-den in diesem Land im Bereich von Spitzensteuern, Ein-kommensteuern und Körperschaftsteuern vorgenommenhat. Das war die deutlichste Steuerentlastung für Reiche,die es jemals in der Geschichte der Republik gab. Auchdas gehört zur Wahrheit.
Sie haben das damals auch getan, weil Sie der Auffas-sung waren, dass wir die Rahmenbedingungen anpassenmüssen, um die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland zuverbessern. Ich will Ihnen gar nichts anderes unterstel-len.Wie hoch ist der Spitzensteuersatz? Das sollten wirgerade den jungen Menschen, die heute zuhören, einmalkurz vorrechnen: Ein Spitzensteuersatz von 42 Prozentund 3 Prozent Reichensteuer macht 45 Prozent. Jetztkommt der Solidaritätszuschlag dazu. Damit sind wir bei47,48 Prozent. 55 Millionen Deutsche sind in einer dergroßen Kirchen. 61 Prozent der Steuerzahler zahlen Kir-chensteuer. Inklusive Kirchensteuer zahlen diese Men-schen einen Spitzensteuersatz von 51 Prozent auf ihr
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23379
Dr. Frank Steffel
(C)
(B)
Einkommen. Das ist mehr als die Hälfte! Ich will das garnicht verfassungsrechtlich beurteilen. Ich will nur fest-stellen: Wenn man hier den Eindruck erweckt, dieseMenschen würden wenig oder fast gar nichts zu unser al-ler Gemeinwohl beitragen, wird man diesen Menschennicht gerecht, die in der Regel auch von Montag bisFreitag oder von Montag bis Samstag oder von Montagbis Sonntag, wenn ich an manch einen kleinen Mittel-ständler denke, arbeiten und gerne in diesem Land Steu-ern zahlen. Auch das gehört zur Wahrheit.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage unse-
res Kollegen Dr. Gerhard Schick?
Bitte. Gerne.
Bitte schön, Kollege Dr. Schick.
Manchmal muss man für die Öffentlichkeit ein biss-
chen zur Verständlichkeit beitragen.
Ich bemühe mich darum.
Ich möchte zwei Fragen stellen.
Erstens. Wenn der Steuertarif gesenkt worden ist und
der Anteil, der von den oberen 10 Prozent gezahlt wird,
steigt, heißt das doch, dass sich die Verteilung von Ein-
kommen immer stärker verändert hat und auf wenige
Personen konzentriert. Würden Sie mir also zustimmen,
dass das Argument, das Sie gebracht haben, zeigt, dass
wir dringend etwas für mehr Verteilungsgerechtigkeit in
Deutschland tun müssen?
Zweitens. Wollen Sie der Bevölkerung vielleicht noch
einmal darlegen, wie die Verhandlungen zur Steuerre-
form verlaufen sind? Die Opposition hatte im Bundesrat
einen Steuersatz von weit unter 40 Prozent gefordert,
und wir als rot-grüne Koalition sind damals mit der For-
derung von 45 Prozent in die Verhandlungen eingetreten
und haben gesagt: Ein noch niedrigerer Steuersatz wäre
unverantwortlich, weil man dann zu viele Schulden ma-
chen müsste. Man hat sich dann auf einen Kompromiss
von 42 Prozent geeinigt. Die Kritik an der Steuer-
senkung vonseiten der CDU/CSU ist also ziemlich wohl-
feil, weil Sie den Steuersatz damals noch stärker senken
wollten. Wir haben das nicht mitgemacht; denn das wäre
nicht verantwortungsvoll gewesen.
Herr Schick, ich habe doch eben gesagt: Wir werdenin einem Land, in einer Welt, die sich heute noch schnel-ler verändert als in den letzten 60 Jahren – auch das isteine Lehre der letzten fünf Jahre –, immer darum ringenmüssen, wie wir das Erfolgsmodell soziale Marktwirt-schaft weiterentwickeln. Das ist, wie ich glaube, einesehr komplizierte Frage. Übrigens hat dies auch verfas-sungsrechtlich sehr enge Grenzen. Ich weiß nicht, ob IhrVorschlag verfassungsfest ist. Er ist durchaus durch-dacht; das muss man fairerweise sagen. Der Vorschlagder Grünen ist – das muss man sagen, egal ob man ihnablehnt oder gut findet – im Ergebnis relativ durchdacht.Meine Sorge wäre, dass die Freigrenzen den Eindruckerwecken: Hier wird eine Lex, ein Gesetz für eine sehrkleine Minderheit gemacht. Eigentlich ist das nicht imEinklang mit unserer Verfassung. Ich bin kein Verfas-sungsjurist; das haben mir jedoch Fachleute dazu gesagt.Übrigens, die entscheidende Fragestellung, mit derwir uns beschäftigen müssen, ist: Wählen wir eine Sub-stanzbesteuerung oder eine Ertragsbesteuerung?
Es ist doch Konsens in diesem Saal, dass jemand, derWohnungen hat, diese vermietet und Mieterträge hat, aufdiese Mieterträge natürlich Steuern zahlen muss. DieFrage ist doch nur: Wie schaffe ich die Anreize, dass im-mer noch Immobilien gebaut werden, dass Menschenimmer noch in Immobilien investieren? Die gleicheFrage stellt sich bei Kapitalerträgen. Wir alle wissen,wie unser Mittelstand, unsere kleinen Unternehmenächzen, wenn sie 50 Prozent des Jahresgewinns an dasFinanzamt abführen müssen, obwohl sie dieses Geldeigentlich gerne im Betrieb investieren würden.
Gleichzeitig sagen wir alle: Natürlich wollen wir,dass breite Schultern, dass große Vermögen mehr tragenals kleine. Jetzt sind wir bei einer Verfassungsfrage. Dasfängt übrigens beim Eigenheim an. Der Großteil desWohneigentums in Deutschland besteht doch nicht ausMillionen- oder Milliardenvillen, sondern das sindkleine Eigenheime. Deren Besitzer haben sie in derRegel gebaut oder angeschafft, weil sie der staatlichenRente nicht mehr hinreichend vertrauen, weil sie glau-ben, dass sie ihr Eigenheim brauchen, damit sie im Altersorgenfrei leben können.
Nun müssen wir uns mit der Frage beschäftigen: Gehenwir an die Substanz, oder gehen wir an die Erträge?
Metadaten/Kopzeile:
23380 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(C)
(B)
Ich gehe davon aus, dass die Beantwortung der Frage
beendet ist.
Herr Kollege, bleiben Sie ganz gelassen. – Ich habe
mit dem ersten Satz gesagt: Natürlich müssen wir das
weiterentwickeln. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass ich
der rot-grünen Bundesregierung von damals unterstelle,
dass sie sich bemüht hat, zum Wohle des Wirtschafts-
standortes Deutschland die im historischen Kontext
richtige Entscheidung zu treffen. Es gibt ja nicht wenige
bei Ihnen, die der Meinung sind, dass sie aufgrund der
damaligen Politik der Vater oder die Mutter des jetzigen
Aufschwungs sind.
Herr Kollege, geben Sie mir die Chance, Sie zu fra-
gen, ob Sie eine weitere Zwischenfrage zulassen.
Bitte. Gerne.
Kollege Manfred Grund.
Vielen Dank. – Es geht in dieser Debatte ja um Ver-
mögen und Einkommen. Es gibt einen Koeffizienten,
mit dem die Einkommensverteilung in Volkswirtschaf-
ten bzw. Staaten gemessen wird, und zwar einen welt-
weit anerkannten Koeffizienten. Dieser Koeffizient zur
Einkommensverteilung bzw. zur Einkommensgerechtig-
keit –
– die Frage, um die es eben ging, betraf die Einkommen –
hat einen Wert zwischen 0 – gleiches Einkommen – und 1.
Bis 2005/2006 ist dieser Koeffizient, was die Situation
in Deutschland betrifft, angestiegen. Jetzt meine Frage:
Herr Kollege, können Sie bestätigen, dass dieser Koeffi-
zient im Hinblick auf Deutschland seit 2006 stabil bei
0,29 liegt, was bedeutet, dass sich die Einkommens-
verteilung in Deutschland in den letzten Jahren nicht
dramatisch verändert hat?
Diese Zahlen und dieser Koeffizient sind in der Tatzutreffend, Herr Kollege. Ich bin für Ihre Frage undIhren Hinweis dankbar.Ich will diesen Hinweis gern damit verbinden, aufFolgendes hinzuweisen: Da Sie uns ja tendenziell weni-ger glauben als anderen – das ist in der Politik manchmalso –, mache ich Sie auf den Spiegel von dieser Wocheaufmerksam; er wurde schon zitiert. Meine Damen undHerren, die Überschrift eines Artikels im Spiegel, in demes um Ihre Konzepte geht, lautet: „Jagd auf Reiche“. DerSpiegel kommt zu vielen Ergebnissen, die am Ende übri-gens alle das Gleiche zum Inhalt haben:Die geplante Abgabe schröpft nicht nur reicheMüßiggänger, sondern vor allem investierendeUnternehmer.
Sie gefährdet Betriebe, die in der Krise stecken.
Und sie gilt international als Auslaufmodell. Vonden 27 EU-Ländern hat nur Frankreich eine dauer-hafte Abgabe …Die Vermögensteuer hat nämlich einen entschei-denden Nachteil: Sie ist unter Finanzbeamten alsbesonders ineffizient bekannt. Einem geringenErtrag steht ein hoher Aufwand gegenüber. JedesJahr müssen die Behörden den Besitz von Millionä-ren und Firmen bewerten … Maschinen, Häuser,Hallen, Gemälde oder Schmuck.… Am Ende könnte die Vermögensteuer vor allenDingen ein Beschäftigungsprogramm für Juristenund Steuerberater werden.Vor allem aber belastet sie … Maschinen und Fabri-ken.Sie belastet die Unternehmerinnen und Unternehmer, diewir in diesem Land ganz dringend brauchen. Das zeigtdas Dilemma.Ich rate uns: Lassen Sie uns über die Ertragsteuerndiskutieren! Lassen Sie uns darüber diskutieren, wie wirsicherstellen können, dass auch in den nächsten zehnJahren starke Schultern mehr tragen als schwache Schul-tern! Lassen Sie uns über den Sozialstaat diskutieren!Aber wir sollten nicht den komplizierten Versuch unter-nehmen, die Substanz zu besteuern und jemandem, derein Gemälde besitzt, sagen: Du musst jetzt jedes Jahr10 000 Euro zahlen, weil du ein teures Gemälde besitzt.
Dieser Versuch hört sich schön an, und man kann ihnrhetorisch wunderbar verpacken. Aber er wird die Pro-bleme in Deutschland nicht lösen.
Ich empfehle uns: Wir sollten über den richtigen Wegdiskutieren. Wir dürfen aber keine Neiddebatten oderMissgunstdebatten führen. Erst recht, lieber Herr Gysi,sollten wir nicht solche Modelle befördern, die inDeutschland schon einmal gescheitert sind. Denn einesist klar: Wir brauchen auch starke Schultern und Investi-tionen in Deutschland, insbesondere Unternehmen, dieinvestieren, und wir brauchen unseren Mittelstand, wennwir die Entwicklung, die in den letzten Jahren stattge-funden hat, in den kommenden Jahren fortsetzen wollen.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23381
(C)
(B)
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Norbert
Schindler. Bitte schön, Kollege Norbert Schindler.
Einen schönen guten Morgen bzw. guten Tag, auch
den Gästen auf der Tribüne!
Es ist 12.38 Uhr.
In Ordnung. Dann sage ich: Guten Tag!Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn man sichvor Augen führt, wie sehr wir 1997 bei der Abschaffungder Vermögensteuer gerungen haben
und wie dankbar uns die Finanzbeamten waren, weil dieEffizienz dieser Steuer – –
– Alle, die dazwischenrufen, haben davon so vielAhnung wie eine Kuh vom Eierlegen. Reden Sie mit derFinanzverwaltung vor Ort! Ich muss das einmal so deut-lich und treffend sagen. Damals hatten die BundesländerEinnahmen in Höhe von 4 Milliarden D-Mark, und dieVerwaltungskosten betrugen über 2 Milliarden D-Mark.Die Vermögensteuer war die uneffektivste Steuer, die esin dieser Republik jemals gab.Wer war davon betroffen? Erfasst wurden Leute, dieein Vermögen über 120 000 D-Mark hatten. Es war ge-nau wie beim Lastenausgleich; er ist von den Linkenheute Morgen ja schon als Modell ins Gespräch gebrachtworden. Die Grünen schlagen eine Steuer vor, die, überzehn Jahre verteilt, mit jährlich 1,5 Prozent die Reichs-ten der Reichen abschöpfen soll.
– Wenn es nur so wäre, Herr Trittin. Durch all die Aus-nahmen, die in Ihrem Gesetzeswerk enthalten sind, wirddas komplizierte Verfahren, das es bis 1997 gab, nochviel komplizierter.
Vergleichen Sie das damalige Gesetz mit Ihrem heutigenGesetzentwurf!Auf was zielt man ab? Man zielt darauf ab, 200 000bis 300 000 Leute zu erfassen, von denen man sagt: Dassind die Reichsten der Reichen. Wenn Fußballspieler,bekannte Filmschauspieler oder Industriellenfamilienirgendwo in den Alpenrepubliken einen Wohnsitz haben,dann geht in der medialen Landschaft jeder zur Tages-ordnung über; sie werden trotzdem bejubelt. Wennjemand von uns einen Wohnortwechsel und einen Steu-erstandortwechsel vornehmen würde, dann wäre derTeufel los. Ich stelle das nur fest; ich beklage das nicht.Vorhin wurden die Begriffe „Staatsangehörigkeit“und „Steuerpflicht“ als Argument genannt. VergessenSie bitte nicht: Eben diese genannten Personen sinddurch die Doppelbesteuerungsabkommen geschützt, diewir mit unseren Nachbarstaaten abgeschlossen haben.Mit einer gewissen Sorge sehe ich, dass die linkeSeite dieses Hauses mit einer Neidkampagne den Wahl-kampf beginnen will. Wer Neid sät, wird Hass ernten.
– Es ist so. Wer Neid sät, wird Hass ernten.
Es wird kritisch darauf geschaut, welche Steuerein-nahmen wir in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten.Wir haben – das ist auch schon einige Male gesagt wor-den; ich muss das wiederholen – kein Problem derStaatseinnahmen – sie sind die besten von allen Seiten –,sondern wir haben ein Problem der Staatsausgaben. IhreVertreter in den Ausschüssen fordern, dass die Regie-rung noch viel mehr für den Sozialbereich und vieles an-dere ausgeben soll. Gleichzeitig hören wir hier heute inder Fensterdebatte andere Töne. Das passt einfach nichtzusammen.
Ich sage für die Koalitionsparteien: Das, was wir seit2008 auch mit dem roten Koalitionspartner, vor allemaber in unserer christlich-liberalen Koalition an klugerFinanzpolitik geleistet haben – auch hinsichtlich derBankensicherung und der Steuerabkommen mit unserenNachbarstaaten –, war nicht selbstverständlich.Warum haben wir die Probleme? Die linke Seite hatam Anfang der Debatte durch Herrn Gysi behauptet, wirseien sogar schuld an dem Schlendrian des griechischenStaates. Bei einer solchen Schuldzuweisung trotz unsererguten Regierungspolitik frage ich mich: Wer hat dennhier Fieber in diesem Haus?
Liebe Barbara, da kriege ich einen dicken Hals.
Metadaten/Kopzeile:
23382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Norbert Schindler
(C)
(B)
Wir sind an allem schuld, auch an der Jugendarbeits-losigkeit in Spanien, nur weil wir in Deutschland erfolg-reich und tüchtig waren, weil wir der größte Netto-einzahler in der Europäischen Union sind, weil wir deneuropäischen Gedanken auch bei jeder Nachtsitzung be-tonen und weil wir den Einspruch des Parlaments zuHause zu Recht in harte Sparbeschlüsse umsetzen? Wirsind auch daran schuld, dass sie da unten aufgrund derSünden der Vergangenheit zu Recht demonstrieren? Dasist doch nicht das Ergebnis unserer Politik.Wir haben Deutschland stabil gemacht, nicht nurhinsichtlich der Steuereinnahmen. Wir haben auch dieFähigkeit, die Europäische Union mitzufinanzieren.Welcher Staat in Europa könnte derzeit die Kraft auf-bringen, dies so durchzuhalten?
Das wird auch durch die große Mehrheit in diesem Par-lament getragen. Liebe Freunde, Sie fangen pünktlichzum Wahljahr 2013 mit einer Neiddebatte an. ErinnernSie sich einmal an den Ärger, den die Finanzverwaltunghatte!Nach dem Gesetzentwurf der Grünen ist abgegebenesVermögen an Dritte vermögensteuerpflichtig. Nur30 Prozent der Flächen, die die Bauern bewirtschaften,befinden sich noch in ihrem Eigentum. Die restlichen70 Prozent sind gepachtet. Das heißt aus der Sicht derländlichen Regionen: All diese Eigentümer belastet ihrin Zukunft mit der Vermögensteuer. Sie müssen erfasstwerden, sie werden dann wieder befreit,
und sie werden alle Jahre wieder kontrolliert. So ergehtes jedem Immobilienbesitzer.Dadurch wird eine Neiddebatte eröffnet, die Sie gerneführen wollen. Durch all die Ausnahmen in IhremAntrag, die Sie abwägen, wird er sehr kompliziert. Des-wegen könnte man sagen: Er ist durchdacht. Aber er istin der politischen Richtung verkehrt.
Im Zusammenhang mit der kalten Progression in un-serem Steuersystem – darauf hat Volker Kauder vorhinmit Recht hingewiesen – verweigern Sie sich, den kräfti-gen Zugriff des Staates bei Lohnzuwächsen zu beenden.Das ist die größte Ungerechtigkeit, die wir seit sechsoder sieben Jahren haben.
Sie sind nicht bereit, hier zu mehr Gerechtigkeit beizu-tragen. Nein, Sie wollen ablenken und sprechen stattdes-sen ein anderes Thema an.
Leute, das werden wir seitens der Koalition mit Erfolgverhindern.Deswegen ist das Thema Vermögensteuer in Deutsch-land erledigt. Es muss auch im Vergleich mit anderen eu-ropäischen Staaten erledigt bleiben, sonst hätten wir mitder Einführung einer neuen Steuer für noch mehr Steue-rungerechtigkeit gesorgt. Diesen Vorschlag werden dieWählerinnen und Wähler in einem Jahr mit Sicherheitentsprechend quittieren.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Norbert Schindler. – Letzte
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unsere Kollegin Frau Bettina Kudla. Bitte
schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Lassen Sie mich als letzter Redner derDebatte
hier noch einmal die wichtigen Punkte zusammenfassen.Uns liegen zwei Vorschläge vor: ein Gesetzentwurfvon der Fraktion der Grünen und ein Antrag von derFraktion der Linken. Der Gesetzentwurf der Grünenwird damit begründet, man wolle die hohen Staatsschul-den tilgen. In dem Gesetzentwurf wird auf den Anstiegder Staatsschulden in den letzten Jahren verwiesen, auchaufgrund der Finanzkrise und der Konjunkturpro-gramme. Wohlgemerkt: Die Einzahlungen in den ESMwerden beispielsweise nicht erwähnt.
In dem Gesetzentwurf wird auch eine Parallele zumLastenausgleich gezogen; das wurde mehrfach ange-sprochen. Die Grünen wissen hier offenbar recht wenigvon der Geschichte.
Offenbar wollen Sie auch nichts davon wissen. Deswe-gen sind Sie stets gegen die Stiftung Flucht, Vertreibung,Versöhnung.
Der Vergleich mit dem Lastenausgleich ist hier ein-fach nicht zutreffend. Den damaligen Lastenausgleichhat die gesamte deutsche Bevölkerung getragen, nicht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23383
Bettina Kudla
(C)
(B)
nur ein kleiner Teil der Menschen, obwohl es der Bevöl-kerung damals sehr schlecht ging.
Schließlich muss man feststellen, dass die Staatsschul-den seit Jahrzehnten unter Regierungen jeder Couleurerhöht wurden, allerdings unter den CDU-geführtenRegierungen wesentlich geringer als unter den rot-grün-geführten Regierungen.
Was den Bundeshaushalt betrifft – das hat Bundes-finanzminister Schäuble vergangene Sitzungswoche ein-drucksvoll dargelegt –: Das riesige Finanzloch von PeerSteinbrück aus dem Jahr 2008 mit 100 Milliarden Euroist auf ein sehr kleines Finanzloch geschrumpft.
– Herr Trittin, zu Ihren Zwischenrufen kann ich jetzt nursagen: Als Sie vorher über Finanzen gesprochen haben,musste ich an Atomkraft denken.
Eigentlich habe ich nicht an Atomkraftwerke gedacht,sondern an den Super-GAU. Bleiben Sie bei den The-men, die zu Ihnen passen!
Zum Antrag der Linken. Die Linken nehmen Bezugauf den Armutsbericht der Bundesregierung und forderneine Enteignung vermögender Personen im Rahmeneiner Vermögensabgabe. In beiden Vorschlägen wird dieEinführung einer Vermögensteuer von 1,5 bzw. 5 Pro-zent gefordert.
Lassen Sie mich auf drei Schwerpunkte eingehen:Erstens. Löst eine Vermögensabgabe die Probleme deröffentlichen Haushalte?
Zweitens. Was sind die Folgen einer Vermögensabgabeund einer zu hohen Besteuerung? Drittens. Ein paarAusführungen zum Armutsbegriff: Wie wird der Ar-mutsbegriff eigentlich verwendet?Zum Ersten, der Vermögensabgabe: Kann man die öf-fentlichen Haushalte sanieren, indem man nur an derEinnahmenschraube dreht? Antwort: ein klares Nein.
Die Sanierung eines öffentlichen Haushaltes allein überdie Einnahmenseite ist nicht möglich. Sobald es höhereEinnahmen gibt, steigen die Ausgabenwünsche. Hierzeigt sich auch die fehlende Logik der Anträge der Frak-tionen der Grünen und der Linken. Wenn Sie die Mehr-einnahmen wirklich zur Schuldentilgung verwendenwollten, dann dürften Sie doch nicht permanent gegendie Schuldenbremse wettern.
Die Sanierung der öffentlichen Haushalte – auch das ha-ben die Redner betont – kann nur durch strukturelleMaßnahmen auf der Ausgabenseite erreicht werden.Dem Bundeshaushalt geht es auch deswegen besser,weil der Ausgabenanstieg gestoppt werden konnte.
Verbunden mit höheren Einnahmen aufgrund von Wirt-schaftswachstum wurde durch eine umsichtige Politikunserer Bundesregierung der Weg der Konsolidierunggestärkt. Der Bundeshaushalt erfüllt die verfassungs-mäßigen Vorgaben der Schuldenbremse,
und im Rahmen des Fiskalvertrages sind auch die ande-ren europäischen Länder gehalten, eine Trendumkehr inihrer Haushaltspolitik einzuleiten.Zum Zweiten. Was wären die Folgen einer übermäßi-gen Steuerbelastung? Würden die Bürger übermäßigdurch eine Vermögensabgabe belastet,
würde der Schutz des Eigentums, den unser Grundgesetzgarantiert, infrage gestellt. Dann würden die wohlhaben-den Bürger ihren Wohn- oder Firmensitz eben insAusland verlegen. Das sieht man jetzt schon bei Spitzen-sportlern, Schauspielern und bedeutenden Unter-nehmern. Die Leistungen dieser Menschen würden inunserem Land fehlen. Gerade ihre Beiträge zu Wohl-stand und sozialer Sicherung wären im Inland gefährdet.Dies hat auch der Kapitalabfluss, der in den vergangenenJahren in Deutschland besonders stark war, gezeigt.Zum Dritten. Nun noch ein paar Sätze zum Armuts-begriff: Geld ist für den Bürger immer knapp. Jemand,der SGB II bezieht, muss sicherlich jeden Euro zweimalumdrehen, bevor er ihn ausgibt. Das gilt aber für einenFamilienvater, der 2 000 Euro brutto durch seine eigeneArbeitskraft verdient, vermutlich auch.
Metadaten/Kopzeile:
23384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Bettina Kudla
(C)
(B)
Aber man muss auch sehen, dass über 50 Prozent desBundeshaushaltes für Sozialleistungen ausgegebenwerden. Der Mensch steht in der Politik der Bundes-regierung im Vordergrund,
aber das System an sich muss funktionieren. Der Ar-mutsbegriff wird einfach am verfügbaren Haushaltsein-kommen festgemacht. Dabei wird keine Unterscheidunggetroffen, ob es sich um ein Arbeitseinkommen oder umein Transfereinkommen handelt. Soziale Errungenschaf-ten, zum Beispiel dass jemand, der – aus welchen Grün-den auch immer – kein eigenes Arbeitseinkommen hatund trotzdem sein Leben lang krankenversichert ist,blenden Sie in Ihren Anträgen völlig aus.
Wenn Sie bitte zum Schluss kommen, Frau Kollegin.
Das Gleiche gilt beispielsweise für die Grundsiche-
rung, welche die Menschen, die keine eigene Rente
erwirtschaften konnten, ihr Leben lang absichert.
Ziel unserer Politik muss immer sein, die soziale Aus-
gewogenheit weiterhin zu erhalten.
Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe dieAussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/10770 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Die Vorlage auf Drucksache 17/10778 soll ebenfallsan die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsseüberwiesen werden. Die Federführung ist jedoch strittig.Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschendie Federführung beim Finanzausschuss, die FraktionDie Linke wünscht die Federführung beim Ausschussfür die Angelegenheiten der Europäischen Union.Ich lasse zunächst abstimmen über den Überwei-sungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Feder-führung beim Ausschuss für die Angelegenheiten derEuropäischen Union. Wer stimmt für diesen Überwei-sungsvorschlag? – Das ist die Fraktion Die Linke. Werstimmt dagegen? – Das sind alle anderen Fraktionen desHauses. Enthaltungen? – Keine. Somit ist der Überwei-sungsvorschlag abgelehnt.Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungs-vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, alsoFederführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt dafür? –Das sind alle anderen Fraktionen des Hauses. Werstimmt dagegen? – Die Linksfraktion. Enthaltungen? –Keine. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 47 a bis 47 g und47 i bis 47 r sowie Zusatzpunkte 4 a bis 4 d auf:47 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Richtlinie über Industrieemissionen– Drucksache 17/10486 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologieb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-rung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivil-prozess– Drucksache 17/10490 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-ordnung der Altersversorgung der Bezirks-schornsteinfegermeister und zur Änderunganderer Gesetze– Drucksache 17/10749 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Siebten Buches Sozialgesetz-buch– Drucksache 17/10750 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschusse) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 23. April 2012 zwischen derBundesrepublik Deutschland und dem Groß-herzogtum Luxemburg zur Vermeidung derDoppelbesteuerung und Verhinderung derSteuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steu-ern vom Einkommen und vom Vermögen– Drucksache 17/10751 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschussf) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 12. April 2012 zwischen derBundesrepublik Deutschland und dem König-reich der Niederlande zur Vermeidung derDoppelbesteuerung und zur Verhinderung der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23385
Vizepräsident Eduard Oswald
(C)
(B)
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuernvom Einkommen– Drucksache 17/10752 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschussg) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 17. November 2011 zwischender Bundesrepublik Deutschland und demFürstentum Liechtenstein zur Vermeidung derDoppelbesteuerung und der Steuerverkürzungauf dem Gebiet der Steuern vom Einkommenund vom Vermögen– Drucksache 17/10753 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschussi) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieweitere Bereinigung von Übergangsrecht ausdem Einigungsvertrag– Drucksache 17/10755 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitj) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 29. Juni 2012 zwischen derBundesrepublik Deutschland und dem Globa-len Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfaltüber den Sitz des Globalen Treuhandfonds fürNutzpflanzenvielfalt– Drucksache 17/10756 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschussk) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demRahmenabkommen vom 10. Mai 2010 zwi-schen der Europäischen Union und ihren Mit-gliedstaaten einerseits und der RepublikKorea andererseits– Drucksache 17/10757 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschussl) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demFreihandelsabkommen vom 6. Oktober 2010zwischen der Europäischen Union und ihrenMitgliedstaaten einerseits und der RepublikKorea andererseits– Drucksache 17/10758 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschussm) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zumVorschlag für eine Verordnung des Rates überdie Erweiterung des Geltungsbereichs der Ver-ordnung Nummer 1214/2011 des Euro-päischen Parlaments und des Rates über dengewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Stra-ßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mit-gliedstaaten des Euroraums– Drucksache 17/10759 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungn) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Änderung des Flaggenrechtsgeset-zes und der Schiffsregisterordnung– Drucksache 17/10772 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschusso) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidrunBluhm, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEBarrierefreies Bauen im Baugesetzbuch ver-bindlich regeln– Drucksache 17/9426 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismusp) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldKoch, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEAusbau des Truppenübungsplatzes Altmarksofort stoppen – Colbitz-Letzlinger Heide zivilnutzen– Drucksache 17/10684 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschussq) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEFür einen wirksamen Schutz und die Auf-nahme syrischer Flüchtlinge in der Europäi-schen Union und in Deutschland– Drucksache 17/10786 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Metadaten/Kopzeile:
23386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
(C)
(B)
r) Unterrichtung durch den BundesrechnungshofBericht nach § 99 der Bundeshaushaltsord-nung über den Vollzugsaufwand bei der Ge-währung von Unterhaltsvorschuss und Wohn-geld an Kinder mit Anspruch auf Leistungender Grundsicherung für Arbeitsuchende– Drucksache 17/10322 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
Ausschuss für Arbeit und SozialesRechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungZP 4a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor-schlag für einen Beschluss des Rates zur Fest-legung eines Mehrjahresrahmens
für die Agentur der Europäischen Union fürGrundrechte– Drucksache 17/10760 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MartinDörmann, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFreiheit und Unabhängigkeit der Medien si-chern – Vielfalt der Medienlandschaft erhal-ten und Qualität im Journalismus stärken– Drucksache 17/10787 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten UteKoczy, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENEntwicklungspolitische Zusammenarbeit fitmachen für die Kooperation mit fragilen Staa-ten– Drucksache 17/10791 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Uniond) Beratung des Antrags der Abgeordneten BärbelBas, Angelika Graf , Dr. MarliesVolkmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDKinder- und Jugendgesundheit: Ungleichhei-ten beseitigen – Versorgungslücken schließen– Drucksache 17/9059 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/10322 – Ta-gesordnungspunkt 47 r – soll federführend beim Haus-haltsausschuss beraten werden. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 48 a bis 48 mauf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla-gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 48 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Gesetzes über die Statistikim Produzierenden Gewerbe– Drucksache 17/10493 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/10850 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Martin Lindner
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/10850, den Gesetzentwurf der Bundesregie-rung auf Drucksache 17/10493 in der Ausschussfassunganzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionenund die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? –Keine. Stimmenthaltungen? – Das sind die Fraktionender Sozialdemokraten und von Bündnis 90/Die Grünen.Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-nommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Koalitionsfraktionen und Linksfraktion. Wer stimmt da-gegen? – Stimmenthaltungen? – Sozialdemokraten undBündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist ange-nommen.Tagesordnungspunkt 48 b:– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23387
Vizepräsident Eduard Oswald
(C)
(B)
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Juli2009 zwischen der Regierung der Bundesrepu-blik Deutschland und der Regierung von Ber-muda über den Auskunftsaustausch in Steuer-sachen– Drucksache 17/10043 –– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom28. Oktober 2011 zwischen der Regierung derBundesrepublik Deutschland und der Regie-rung von Montserrat über die Unterstützungin Steuer- und Steuerstrafsachen durch Infor-mationsaustausch– Drucksache 17/10044 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/10847 –Berichterstattung:Abgeordnete Antje TillmannLothar Binding
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-gebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom3. Juli 2009 mit der Regierung von Bermuda über denAuskunftsaustausch in Steuersachen. Der Finanzaus-schuss empfiehlt unter Buchstabe a in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/10847, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10043anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion derSozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Das ist dieLinksfraktion. Enthaltungen? – Das ist die FraktionBündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist somit an-genommen.Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-gebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom28. Oktober 2011 mit der Regierung von Montserratüber die Unterstützung in Steuer- und Strafsachen durchInformationsaustausch. Der Finanzausschuss empfiehltunter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/10847, den Gesetzentwurf der Bundes-regierung auf Drucksache 17/10044 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion derSozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand.Enthaltungen? – Das sind die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurfist angenommen.Tagesordnungspunkt 48 c:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu der Verordnung derBundesregierungVierundneunzigste Verordnung zur Ände-rung der Außenwirtschaftsverordnung– Drucksachen 17/10542, 17/10707 Nr. 2.1,17/10851 –Berichterstattung:Abgeordneter Erich G. FritzDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/10851, die Aufhebung der Ver-ordnung auf Drucksache 17/10542 nicht zu verlangen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sindalle Fraktionen dieses Hauses. Vorsichtshalber die Ge-genprobe! – Keine. Stimmenthaltungen? – Keine. Somitist die Beschlussempfehlung angenommen.Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 48 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 463 zu Petitionen– Drucksache 17/10671 –Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen desHauses. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltun-gen? – Niemand. Sammelübersicht 463 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 48 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 464 zu Petitionen– Drucksache 17/10672 –Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen desHauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? – Keiner.Enthaltungen? – Keine. Sammelübersicht 464 ist ange-nommen.Tagesordnungspunkt 48 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 465 zu Petitionen– Drucksache 17/10673 –Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmtdagegen? – Linksfraktion. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht 465 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 48 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 466 zu Petitionen– Drucksache 17/10674 –
Metadaten/Kopzeile:
23388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
(C)
(B)
Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen desHauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? – Nie-mand. Enthaltungen? – Niemand. Sammelübersicht 466ist angenommen.Tagesordnungspunkt 48 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 467 zu Petitionen– Drucksache 17/10675 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Sozial-demokraten. Wer stimmt dagegen? – Linksfraktion. Ent-haltungen? – Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht467 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 48 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 468 zu Petitionen– Drucksache 17/10676 –Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen dieses Hauses.Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? – Niemand. Ent-haltungen? – Niemand. Sammelübersicht 468 ist ange-nommen.Tagesordnungspunkt 48 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 469 zu Petitionen– Drucksache 17/10677 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Sozialde-mokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt da-gegen? – Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Sam-melübersicht 469 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 48 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 470 zu Petitionen– Drucksache 17/10678 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Sozial-demokraten. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/DieGrünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. So-mit ist Sammelübersicht 470 angenommen.Tagesordnungspunkt 48 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 471 zu Petitionen– Drucksache 17/10679 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Werstimmt dagegen? – Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Linksfraktion. Sammel-übersicht 471 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 48 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 472 zu Petitionen– Drucksache 17/10680 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Werstimmt dagegen? – Alle drei Oppositionsfraktionen. Ent-haltungen? – Keine. Sammelübersicht 472 ist angenom-men.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nunzum Zusatzpunkt 5:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der SPDFrauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn –Unterschiedliche Auffassungen innerhalb derCDU/CSU und FDPDas Wort als Erster in unserer Aktuellen Stunde hatfür die Fraktion der Sozialdemokraten unser KollegeThomas Oppermann. Bitte schön, Kollege ThomasOppermann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Vor drei Wochen hatdie Bundesregierung das Euro-Krisenmanagement andie Europäische Zentralbank abgetreten. Seitdem musssich die Bundesregierung wieder mit innenpolitischenFragen befassen. Das staunende Publikum stellt fest:Nichts hat sich verändert. Überall herrscht Streit. Egalob Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn oderRente,
in keinem Bereich kann diese Regierung sich einigen. Inallen wichtigen innenpolitischen Fragen ist diese Bun-desregierung handlungsunfähig.
Frau von der Leyen will die Quote. Frau Schröderlehnt sie ab. Frau Schröder hat einen Gesetzentwurf zumBetreuungsgeld vorgelegt, den sie selber eigentlich garnicht will. Frau von der Leyen hat dagegen eine Renten-reform vorgelegt, die aber die Kanzlerin verhindern will.Die Kanzlerin hofft dabei auf die Unterstützung vonHerrn Rösler. Der ist aber damit beschäftigt, gegen dieEnergiewende, gegen das Betreuungsgeld und gegen denReichtums- und Armutsbericht zu kämpfen. So wird dasnichts, meine Damen und Herren.
In dieser Regierung kämpf jeder gegen jeden, und nie-mand kümmert sich darum, die Probleme in diesemLande zu lösen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23389
Thomas Oppermann
(C)
(B)
Der vergangene Freitag war ein schwarzer Freitag fürdiese Bundesregierung. Mehrere Ministerpräsidentenhaben im Bundesrat den Aufstand gewagt. Sie wollensich nicht mehr mit dem Stillstand abfinden. Sie spürengenau: Die Zeit dieser Regierung läuft ab. Sie haben ge-merkt, dass die Bevölkerung hinter den Forderungen derOpposition steht.
– Lachen Sie nur, Sie werden dafür noch die Quittungbekommen.
76 Prozent der Bürger sind für den gesetzlichen Min-destlohn. 69 Prozent sind gegen das Betreuungsgeld.56 Prozent der Frauen befürworten eine Quote in denAufsichtsräten und Vorständen von Unternehmen. Des-halb, meine Damen und Herren, haben einige CDU-Mi-nisterpräsidenten bei Mindestlohn und Frauenquote ge-gen Frau Merkel gestimmt. Sie handeln nach demMotto: Rette sich, wer kann!Die Kanzlerin muss jetzt die Abtrünnigen zu einemKrisengipfel einladen. Ich glaube nicht, dass das hilft.Wer übrigens glaubt, dass es nicht schlimmer als amletzten Freitag, diesem schwarzen Freitag kommenkonnte, der sieht sich getäuscht. Es kam noch schlimmer.
Nach dem schwarzen Freitag folgte der Knall amMontag. Die FDP sabotiert das Betreuungsgeld.
In dieser Koalition funktioniert nichts mehr, weil jedernur noch an sich selber denkt.
Obwohl diese Koalitionspartner, diese drei Koali-tionsparteien eigentlich miteinander fertig sind, habenSie noch ein gemeinsames Interesse, das sie verbindet:
Sie wollen den Machterhalt in den letzten zwölf Mona-ten dieser Wahlperiode sichern. Deshalb beginnt in die-sen Tagen ein großer Kuhhandel. Die FDP sagt: Wir hal-ten das Betreuungsgeld für grundfalsch, wir lehnen esentschieden ab, aber wir würden zustimmen, wenn wirdafür eine extra Gegenleistung bekämen.
Es wird über die Reduzierung des Soli und über dieStreichung der Praxisgebühr verhandelt. Herr Kauder hatschon die Währungseinheit dieser Verhandlungen in einoder zwei Porsche Cayenne definiert. Ich weiß gar nicht,was im Augenblick der Kurs bei Ihnen, Herr Kauder, ist.
– Kamele, genau, das glaube auch ich, aber davon habenSie selber in der Fraktion genug. Damit sind Sie reichgesegnet.
Im Ernst: Die Gegenleistung mag noch so bedeutendsein,
das falsche Betreuungsgeld wird doch dadurch nichtrichtig, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP.
Es bleibt doch dabei, dass das Betreuungsgeld der Rück-marsch in das Familien- und Frauenbild der 50er-Jahreist.Ich will hier nicht gegen den Kompromiss reden. DerKompromiss gehört zur Demokratie. Der Kompromissist eine demokratische Tugend, aber der Kompromissmuss aus der Sache heraus begründet sein. Was Sie hiervorhaben, ist ein sachfremder Kuhhandel nach demMotto „Schenkst du meiner Tante etwas, kriegt auchdeine Tante etwas“.
So machen Sie Politik. Sie sind jetzt drei Jahre an derRegierung. Das ist die peinlichste Regierung, die das de-mokratische Deutschland je hatte.
Dazu gibt es eine gute Nachricht: In zwölf Monaten istdie Zeit dieser Regierung abgelaufen. Und es gibt eineschlechte Nachricht: Jeder Tag bis dahin ist ein verlore-ner Tag für Deutschland.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Michael Kretschmer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Viele von Ihnen erinnern sich sicherlich an dasBuch Momo von Michael Ende und den darin beschrie-benen Kampf gegen die Zeitdiebe. Die grauen Männervon heute, die uns die Zeit stehlen wollen,
kommen gerade von der SPD.
Metadaten/Kopzeile:
23390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Michael Kretschmer
(C)
(B)
Anstatt mit uns darüber zu diskutieren, was die wirk-lichen Probleme des Landes sind und wie wir sie lösenkönnen, versuchen Sie, eine Show zu initiieren. Doch fürShow fehlt uns die Zeit. Die Lösung der Probleme, diedieses Land hat, gerade im internationalen Kontext, istzu wichtig.
Deswegen werden wir diese Debatte auch nicht unnötigverlängern. Ich denke, das ist gut für unser Land.
Wir nehmen die Verantwortung wahr, die uns dieMenschen mit der Wahl aufgegeben haben. Wir werdendiese für Deutschland bis zum Ende der Legislaturpe-riode und gern auch darüber hinaus mit Freude tragen.
Es gibt zum heutigen Zeitpunkt kaum einen anderenOrt auf der Welt, an dem die Menschen sicherer und mitgrößerer Stabilität leben können, als die BundesrepublikDeutschland. Dass das so ist, das hat diese Koalition, dashat diese Regierung maßgeblich mitzuverantworten.
Wir werden auch in Zukunft um die Bewältigung dergroßen Herausforderungen für dieses Land ringen. Wirwerden auch über Themen wie Betreuungsgeld, Frauen-quote, Mindestlohn ernsthaft debattieren,
und zwar nicht in einer Aktuellen Stunde mit der Dauervon einer Stunde, sondern in einer breiten Diskussion.Denn das sind Themen, die die Gesellschaft bewegen,die in jeder Familie, die bei den Gewerkschaften, die anden Stammtischen
und die natürlich auch in den politischen Parteien inten-siv und auch kontrovers diskutiert werden.Es wäre schlimm, wenn über solche Themen nichtdiskutiert werden würde, wenn es nur eine Einheitsmei-nung geben würde; denn das würde bedeuten, dass eskeine Ideen, keinen Diskurs gibt. Aber gerade das machtdie Demokratie aus: dass es einen Streit um die bestenIdeen gibt.
Streit in der Sache ist das eine; das bringt uns voran.Zerrissenheit in einer Partei in Personalfragen ist das an-dere. Genau das erleben wir bei der SPD: Sie kann sichnicht einigen, mit welcher von drei Personen sie bei dernächsten Bundestagswahl antreten will. Bei den Grünensind es sogar 15 Personen, die für eine Spitzenkandida-tur gegeneinander kämpfen, nach dem Motto: „Wer sindwir und wenn ja, wie viele?“ Meine Damen und Herren,so wird es nichts!Deshalb gehen wir mit Freude in die Diskussion überdie angesprochenen Themen und an die Arbeit im kom-menden Jahr. Wir freuen uns auf eine Bundestagswahl,bei der wir darum ringen, unseren Kurs fortzusetzen.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Yvonne
Ploetz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Es ist erbärmlich, welches miserable Bild die Bun-desregierung abgibt.Das schreibt das Westfalen-Blatt.Und weiter:Das einstige Wunschbündnis hat schon jetzt denEintrag in die Geschichtsbücher als „schwarz-gelbeKoalition des Dauerstreits“ sicher.Sehr treffend, wie ich finde.Aktuell streiten sie sich wieder um das Betreuungs-geld. Gerade dieses Thema ist beispielhaft für das, wasich gleich ausführen werde: Sie schaffen es nämlich nurnoch mit den größten Anstrengungen gegen gesellschaft-liche Stimmungen, gegen rebellierende Bürgerinnen undBürger und jetzt auch gegen den Widerstand des Bun-desrats zu regieren – auch wenn Sie es immer wiederversuchen.Wir kommen nun zum Versagen der Bundesregie-rung, belegt an vier Beispielen.Erstens: das Meldegesetz. Der Aufschrei war groß,als der Bundestag bzw. das, was von ihm noch übrig war,eine Neufassung des Meldegesetzes beschlossen hatte.Hier passierte das, was wir von der Koalition schon seitMonaten oder Jahren geboten bekommen: Sie legt einenEntwurf vor, streitet, streitet, wartet ein bisschen, streitetnoch einmal, um irgendwann die Änderung des Ent-wurfs oder die Änderung der Änderung des Entwurfsdurch den Bundestag zu peitschen. So war es auch beimMeldegesetz. Es gab einen Änderungsantrag, mit demSie den Datenschutz in den Meldeämtern de facto ab-schaffen wollten. Wie Sie die Daten der Menschen anden prächtig blühenden Adresshandel zu Werbezweckenverhökern wollten, ist an Dreistigkeit wirklich nicht zuüberbieten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23391
Yvonne Ploetz
(C)
(B)
Heute tut CSU-Ministerin Aigner so, als habe sie da-mit nichts zu tun. Angela Merkel wünscht sich Überar-beitungen durch den Bundesrat, und die einstige Bürger-rechtspartei FDP ist ein Totalausfall.
Was ist passiert? Ihr Gesetz traf nach der Verabschie-dung hier im Haus auf die gesellschaftliche Realität undauf den weit verbreiteten Wunsch nach Datenschutz,neuerdings auch auf den Widerstand im Bundesrat undauf rebellierende Bürgerinnen und Bürger. Sie macht dasnervös; mich macht der Widerstand unglaublich stolz.
Nächstes Thema: Frauenquote. Bis heute sind Männerein bisschen gleichberechtigter: mehr Geld, mehr Auf-stieg, mehr Aufsichtsrat. Nachdem Sie alle von uns hierim Bundestag gestellten Anträge abgeschmettert haben,hat nun die Hamburger SPD einen Antrag in den Bun-desrat eingebracht, in dem es um eine 40-prozentigeQuote für Frauen in Aufsichtsräten geht, und sie hat dieUnterstützung von einem CDU-Ministerpräsidenten undeiner CDU-Ministerpräsidentin bekommen.Und damit auch gleich zu den Happenings hier in derKoalition rund um die Quotendebatte: FrauenministerinSchröder darf mit ihrer Flexi-Quote schon lange nichtmehr mitspielen, und das ist auch gut so. Volker Kaudermahnt panisch zur Geschlossenheit, und die Unions-frauen im Bundestag drängen auf eine Abstimmungohne Fraktionszwang, damit die Abgeordneten ihremfrauenpolitischen Gewissen folgen können. Liebe Uni-onsfrauen, bei solchen Bitten zucke ich innerlich immerzusammen. Stehen Sie doch einfach einmal zu IhrerMeinung!
Aber was bringt Sie so ins Schleudern? Es ist, dassimmer mehr Menschen der Meinung sind, dass Frauen inKontrollgremien wichtig sind, zum einen, weil es ge-schlechtergerecht ist, und zum anderen, weil sie darübervielleicht auch andere Frauen motivieren und fördernkönnen. Es gibt immer mehr Menschen, die für dieQuote streiten, und der Bundesrat beschließt sie einfach.Schwarz-Gelb ist verdutzt; mir zaubert es ein Lächelnauf die Lippen.Nun eiert die Koalition beim Betreuungsgeld herum,das bekanntermaßen bis heute wirklich niemand will.Für eine Zustimmung fordert die FDP Gegenleistungenvon der Union: Dabei könne es zum Beispiel um die Ab-schaffung der Praxisgebühr gehen. Nichts gegen die Ab-schaffung der Praxisgebühr; aber es ist unfassbar, wietief Ihre Schamgrenze ist. Dieses unwürdige Geschacherrund um das Betreuungsgeld ist wirklich für niemandenmehr zu ertragen.
Der FDP-Haushaltspolitiker Koppelin sagte vor dreiTagen, das Betreuungsgeld sei nur ein „Steckenpferdvon Herrn Seehofer und ein, zwei anderen“. Ich willfesthalten: Steckenpferde sind tot, so tot wie dieses Pro-jekt. Also steigen Sie endlich von Ihrem toten Gaul abund investieren Sie das Geld in den Ausbau der Kitabe-treuung!
Abschließend haben wir noch die abstrusen Vorgängerund um den Armuts- und Reichtumsbericht: Da legt vonder Leyen einen Entwurf vor, der belegt: Die Reichenwerden reicher, die Armen rutschen immer mehr ab.Und: Nötig wäre eine höhere Besteuerung von Millio-närsvermögen. Diese Passage treibt Philipp Rösler aufdie Barrikaden. Er verweigert dem Bericht einfach seineZustimmung. Man staunt wirklich nicht schlecht, wieder Lobbyismus Sie vor sich her treibt.Dennoch: Wissen Sie, was mich auch hier wiederfreut? Die Rebellion der Bürgerinnen und Bürger stehtbereits in den Startlöchern. Spätestens die Kampagne„UmFAIRteilen“ wird den Frust über die krassen Unge-rechtigkeiten, die Sie hier alle mit zu verantworten ha-ben – SPD, Grüne, Union und FDP –, auf die Straßebringen.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Nicole Bracht-Bendt.
Liebe Frau Ploetz, ich gehöre zu den Frauen, die auchohne Freigabe des Fraktionszwanges zu ihrer Meinungstehen. Es wird Ihnen vielleicht nicht so gefallen, wie ichzur Quote stehe; aber ich habe eine Meinung.Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sie alle wissen, dass es bei uns zu wenigeFrauen in Führungspositionen in Unternehmen gibt. Nie-mand streitet ab, dass in der Vergangenheit viele Spit-zenjobs in Männerrunden gekungelt wurden. Ich fragemich aber, warum gerade jetzt der Streit um die Einfüh-rung einer Frauenquote so eskaliert und diese Quoteschließlich auch im Bundesrat eine Mehrheit findet.
Der Ruf nach dem Gesetzgeber wird ausgerechnet zueinem Zeitpunkt immer lauter
– hören Sie bitte einmal zu –, an dem endlich Bewegungin die Sache gekommen ist. Laut der Beratungsgesell-schaft Egon Zehnder International spiegelt sich das auchin ganz aktuellen Zahlen wider. Untersucht wurden rund350 der größten europäischen Unternehmen in 17 Län-dern. Die dabei befragten 41 deutschen Unternehmen
Metadaten/Kopzeile:
23392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Nicole Bracht-Bendt
(C)
(B)
hatten zwischen Mai 2011 und Mai 2012 insgesamt81 Führungsposten neu zu besetzen, von denen 41 Pro-zent an Frauen gingen. Das ist zwar in der Tat ausbaufä-hig, aber der Trend ist eindeutig. Im Übrigen liegtDeutschland damit über dem europäischen Durchschnitt.Demnach wurden rund 33 Prozent der vakanten Positio-nen mit Frauen besetzt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, sprechen Sie docheinmal mit Personalberatern. Sie werden Ihnen bestäti-gen, dass ihre Kunden explizit Kandidatinnen suchen.Als überzeugte Quotengegnerin kann ich der öffentli-chen Debatte über eine Frauenquote aber dennoch etwasPositives abgewinnen:
Die Unternehmen sind sensibilisiert. Mittlerweile gilt esdoch als imagefördernd, Frauen im Vorstand zu haben.Hinzu kommt: Frauen machen heute durchschnittlichbessere Universitätsabschlüsse.
Auch das ist den Unternehmen natürlich nicht entgan-gen. Insofern gibt es aus meiner Sicht keinen Grund füreine staatliche Reglementierung. Die FDP setzt aufSelbstverpflichtung der Wirtschaft. Die Telekom hat esvorgemacht. Mit einer selbst auferlegten Frauenquote fürFührungspositionen kann man wunderbar als attraktiverArbeitgeber punkten.Ich möchte nun auf die mittelständischen Unterneh-men zu sprechen kommen. Was in DAX-Unternehmennoch eher die Ausnahme ist, ist in mittelständischen undfamiliengeführten Unternehmen heute schon fast selbst-verständlich: Der Anteil leitender Mitarbeiterinnen undGeschäftsführerinnen ist dort mit über 20 Prozent we-sentlich höher als in börsennotierten Unternehmen. Des-halb bin ich dafür, dass die Frauenpolitik, statt weiterüber eine Quote für die vergleichsweise kleine Zahl anVorständen und Aufsichtsratsposten zu streiten,
wieder die wirklich wesentlichen Punkte in den Fokusnehmen sollte.
Erstens möchte ich noch einmal klarstellen: Der Staathat kein Recht, die Wirtschaft zu dirigieren.
Und Frau Reding hat schon einmal gar kein Recht, sichin die Belange deutscher Wirtschaft einzumischen.
Das möchte ich an dieser Stelle auch einmal sagen. Ichfinde Frau Redings Einmischungen unerträglich.
Zweitens ist es Aufgabe des Staates – das ist für michals frauenpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion dasEntscheidende –, Chancengerechtigkeit zu schaffen. Dasbeginnt schon im Kleinkindalter.Wir sind uns alle einig: Die gläserne Decke mussweg. Aber hierbei hat sich der Staat herauszuhalten. Hierist, wie gesagt, nicht der Staat, sondern hier sind dieTarifpartner in der Pflicht.
Die Aufsichtsräte und Vorstände, aber auch die Gewerk-schaften haben in den letzten Jahren nicht genügendFrauen im mittleren Management auf Führungsaufgabenvorbereitet. In anderen Ländern gibt es viel mehr Nach-wuchsprogramme in den Unternehmen. Kreativität istvonnöten – überall. Nächstes Jahr werden viele Auf-sichtsratsmandate und Vorstandsposten neu zu besetzensein. Ich bin optimistisch, dass bis dahin die Unterneh-men nach vollmundigen Ankündigungen auch Taten fol-gen lassen.
Die FDP-Fraktion sieht jedenfalls keinen Anlass, vonihrer Position abzurücken. Wir lehnen eine staatlicheEinmischung als unverhältnismäßigen Eingriff in die un-ternehmerische Freiheit der Wirtschaft ab. Wenn Ergeb-nisgleichheit wichtiger als Rechtsfreiheit ist, dann ist dasPlanwirtschaft, und das werden wir auf jeden Fall ver-hindern.Ganz herzlichen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin
Renate Künast das Wort.
Danke, Herr Lindner. – Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Es ist irgendwie schon eine ganz tolle Artseitens der Koalition, eine solche Debatte ernst zu neh-men. Herr Kretschmer erzählt hier über die grauen Män-ner, die uns die Zeit stehlen. Ich sage einmal: HerrKretschmer, Sie im dunkelblauen Anzug haben diesemLand drei Jahre gestohlen. Das ist noch viel schlimmer.
Da stellt er sich hier hin und sagt, natürlich würden erund die anderen ernsthaft über Quoten und über die Si-tuation von Kindern diskutieren. Gucken Sie doch ein-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23393
Renate Künast
(C)
(B)
mal auf die Zettel auf Ihren Plätzen, wer in dieser Ak-tuellen Stunde überhaupt Redezeit angemeldet hat! Dreimögliche Redebeiträge seitens der CDU/CSU-Fraktionsind gar nicht angemeldet; Sie nehmen 15 Minuten Re-dezeit gar nicht wahr. Warum denn? Weil sich bei Ihnenaußer Herrn Kretschmer keiner traut, oder wie?
Oder weil Sie keine Frau finden, die sagt, ich stelle michhier oben hin und erkläre die unsinnige schwarz-gelbePolitik?Herr Kretschmer, wahr ist: Sie haben es drei Jahrelang zerredet. Sie haben drei Jahre lang die Sorgen derMenschen in diesem Land überhaupt nicht wahrgenom-men, weder die Sorgen im Alltag noch die Situation indiesem Land.Frau Bracht-Bendt, ich habe meine Schublade aufge-zogen und bin fast geneigt, Ihnen von der FDP dasGrundgesetz, mein Grundgesetz, zu geben, nachdem Siesagten, der Staat habe kein Recht, sich einzumischen. Inmeinem Grundgesetz, Art. 3 – Gleichheit vor dem Ge-setz – Abs. 2, steht:Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staatfördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichbe-rechtigung von Frauen und Männern und wirkt aufdie Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Erstes Semester bei der Ausbildung von Juristinnen undJuristen: Sie haben eine Pflicht. Daraus leitet sich einestaatliche Pflicht ab.Frau Reding leitet ihre Zuständigkeit aus der Zustän-digkeit für den Arbeitsmarkt ab. So einfach ist das,meine Damen und Herren. Sie hat festgestellt, dass querdurch Europa Frauen und Männer am Arbeitsmarkt nichtgleichgestellt sind.Wir blicken auf drei Jahre ganz großes Kino zurück:Erst kommt Frau Schröder und sagt: Flexi-Quote, so einbisschen, die Wirtschaft macht das schon selber. – Wirgucken und gucken und sehen nichts. Dann kommt Frauvon der Leyen, breitet die Arme weit aus – eine typischeHandbewegung – und
erzählt uns etwas. Früher hat sie uns erzählt: Jedes Kindin Deutschland wird eine Chipkarte haben. Mit dieserChipkarte wird das Mittagessen, der Sport, der Musikun-terricht und vieles andere bezahlt. – Fragen Sie doch ein-mal, wer eine Chipkarte hat. Keiner hat eine Chipkarte.Die meisten haben aber auch keinen Nachhilfeunterricht.So machen Sie Politik. Genau so reden Sie über dieQuote. Die eine so, die andere so. Was kommt dabei he-raus? Gar nichts kommt dabei heraus.Die Eltern in diesem Land, die wenig Geld haben, fra-gen sich: Wo ist die gute Ausbildung mit individuellerFörderung für mein Kind? Gerade die Eltern mit wenigGeld fragen sich: Wird der Nachhilfeunterricht in Mathefür mein Kind bezahlt, oder wird er in der Schule durch-geführt? Null. Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmerfragen: Kann ich bei einem Vollzeitjob von meinemLohn leben? Die Antwort wäre: Mindestlohn. Sie sagengar nichts. Frauen fragen sich: Kann ich erwerbstätigsein? Wo ist die Betreuung meiner Kinder möglich? Siesagen am Ende auch nichts dazu; denn Sie haben mitHerrn Röttgen voran in der Föderalismuskommissiondem Bund quasi verboten, den Kommunen Geld für dieBildung zu geben. Das alles ist das Ergebnis Ihrer Poli-tik. Ob Frauenquote, Bildung, Mindestlohn oder Betreu-ungsgeld: Es wird immer ein großes Theater gemacht,aber für die Menschen kommt dabei nichts, gar nichtsheraus.
Deshalb verstehe ich, dass auch den Ministerpräsi-dentinnen und Ministerpräsidenten der CDU/CSU solangsam die Sicherungen durchbrennen und sie sagen:Das lassen wir nicht mehr zu. Ich verstehe, dass FrauMerkel die Gefolgschaft von Frau Kramp-Karrenbauerund von Herrn Haseloff versagt wird, zum Beispiel alses um die Abstimmung über den Hamburger Antrag aufEinführung einer Frauenquote ging.Ich sage Ihnen noch eines ganz klar: Nicht wir Frauenmüssen begründen, warum Frauen, die gut ausgebildetund eine Berufsqualifikation haben, in die Vorstände undAufsichtsräte wollen. Nein, wir leben im Jahr 2012. Vordem Hintergrund des genannten Grundgesetzartikelsmüssen die Männer erklären, warum die Vorstände undAufsichtsräte ein letzter Ort reiner Männerherrlichkeitsein sollen. Sie können es nicht begründen.
So wird ein Schuh daraus. Ich erwarte, dass sich die-ser Bundestag damit auseinandersetzt. Wenn Sie sichnicht trauen dürfen, helfen wir Ihnen, die Abstimmungvom Bundesrat zu wiederholen, und zwar mit einer na-mentlichen Abstimmung. Verzeiht mir, liebe CDU-Frauen: Dann will ich nicht nur Tränen sehen, sondernHände, die hochgehen;
denn nur dann kann man euch glauben.Ich, meine Damen und Herren, weiß eines: Diese Re-gierung kreist um sich selbst und kreist nicht um die Pro-bleme der Menschen. Ich finde es richtig, dass der Bun-desrat den Vorschlag von Frau Schavan zum ThemaKooperationsverbot nicht mitmacht. Sie tut ja so, alsgäbe es wieder eine Kooperationsmöglichkeit bei derBildung. Dabei lässt die grundgesetzliche Regelung nurden Zusammenschluss von Eliteeinrichtungen zu. Dassind aber nicht die Probleme des Landes.Lassen Sie mich einen letzten Gedanken zu den Be-reichen anführen, in denen Sie am Land vorbeiregieren:Das Betreuungsgeld wird spätestens in Karlsruhe ge-kippt. Warten wir einmal auf die Ministerpräsidenten. Es
Metadaten/Kopzeile:
23394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Renate Künast
(C)
(B)
kann nicht sein, dass die Kommunen am Ende kein Geldhaben, um die Betreuung weiter auszubauen, Sie aber fürdie Propagierung des altmodischen Gesellschaftsbildesder 50er-Jahre Geld ausgeben. Dieses Land braucht eineandere Regierung, und zwar eine, die nicht um sichselbst kreist, sondern die die Alltagsprobleme der Men-schen löst. Die wird nächstes Jahr kommen.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Dagmar Ziegler.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Wer, Herr Kretschmer, Sie selbster-nannter Hüter des Zeitmanagements, wer klaut hier ei-gentlich wem die Zeit?Das Versagen der Regierung Merkel hat viele Namen,unter anderem ist da das „Betreuungsgeld“ zu nennen.Da verwundert es natürlich nicht, wenn sich bei derCDU/CSU nur einer traut, jetzt hier zu reden. Das Be-treuungsgeld steht für den Komplettausfall des Politik-managements im Bundeskanzleramt. Herr Pofalla istzwar ausnahmsweise hier;
aber man denkt, es gäbe ihn gar nicht mehr.Das Betreuungsgeld steht für eine Koalition, die sichum die wichtigen Probleme im Lande nicht wirklichschert, die keine Antwort auf den Armuts- und Reich-tumsbericht gibt, der nichts einfällt, um die soziale Kluftin unserem Land zu schließen. Stattdessen reibt sich dieKoalition dabei auf, so etwas Sinnvolles wie die Frauen-quote zu verhindern, für die es eine Mehrheit gibt, undmit Brachialgewalt das Betreuungsgeld einzuführen,wofür aus gutem Grund die Mehrheit fehlt.Das Betreuungsgeld steht für die schlimmste Alther-renpolitik, bei der nur entscheidend ist, was HorstSeehofer in Bayern für seine Stammtischhoheit zu brau-chen glaubt, und bei der bessere Bildungschancen vonKindern, eine bessere Integration von Kindern mit Mi-grationshintergrund und kontinuierliche Erwerbsver-läufe von Frauen gewissenlos geopfert werden.Das Betreuungsgeld steht für eine realitätsblinde, ar-rogante und bürgerfeindliche Bundesregierung, die ge-gen den Widerstand der Menschen, gegen den Wider-stand von Kinderverbänden, Bildungsforschern, Arbeit-gebern und Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden undKirchen eine Leistung durchdrücken will, die keinemnützt, aber vielen schadet. Wer, Herr Kretschmer, klauthier eigentlich wem die Zeit?
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie ha-ben sich mit dem Betreuungsgeld zum Gespött gemacht.Den wievielten Anlauf haben Sie jetzt eigentlich unter-nommen, um das Betreuungsgeld in Ihren eigenen Rei-hen mehrheitsfähig zu machen? Es ist uns schwergefal-len, die vielen Versuche noch nachzuvollziehen. Jetztsollen die Vorsorgeuntersuchungen von Kindern und dieRiester-Förderung herhalten. Das ist eine völlig sach-fremde Verknüpfung, die nicht retten kann, was dochnicht zu retten ist.Sie verkündeten am vergangenen Freitag schon diegroße Einigung beim Betreuungsgeld, hatten dabei aberleider vergessen, dass Sie noch einen kleinen Koalitions-partner fragen müssen. Nur wegen Ihres Problembärenin Bayern gibt es im Bundestag jetzt wieder Kauder-welsch und singt die Union in Richtung FDP „IhrBrüderle kommet“, um ihr unsinniges Betreuungsgelddoch noch durchzusetzen.
Herr Kretschmer, wer klaut hier eigentlich wem dieZeit?
Meine verehrten Damen und Herren von der FDP, las-sen Sie sich nicht kaufen,
gehen Sie keinen Kuhhandel ein! In der Causa Betreu-ungsgeld schaut das ganze Land sehr aufmerksam zu.Sie haben gesagt, das Betreuungsgeld sei möglicher-weise verfassungswidrig. Sie haben gesagt, es sei nichtzu finanzieren. Sie haben ferner gesagt, es setze falscheAnreize. Sie haben in jedem dieser Punkte recht.Deshalb lassen wir auch Ihnen keinen Deal in dieserFrage durchgehen. Denn beispielsweise der Wegfall derPraxisgebühr macht das Betreuungsgeld in keiner Weiserichtiger. Lassen Sie es sein, geben Sie das Projekt auf!Der Schaden, den Sie verursacht haben, ist so oder so an-gerichtet. Gesichtswahrend kommen Sie aus dieserNummer nicht mehr heraus.
Die Bundeskanzlerin ruft die Abweichler in SachenFrauenquote – eine Ministerpräsidentin und einen Minis-terpräsidenten – zum Fahnenappell ins Bundeskanzler-amt. Für die Gesamtheit der Ablehner des Betreuungs-gelds wird der Platz im Kanzleramt nicht ausreichen. Indiesem Falle braucht die Bundeskanzlerin einfach nurvor die Tür zu treten; dann steht sie sofort inmitten derAblehnung.Machen Sie endlich das, was zu tun Sie ja immer vor-gaukeln: Packen Sie es endlich an, und packen Sie denGesetzentwurf ein!Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23395
(C)
(B)
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Heinrich Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn ich das Thema der Aktuellen Stunde wörtlichnehme, kann ich mich eigentlich kurzfassen. Das Themalautet nämlich: unterschiedliche Auffassungen inner-halb der CDU/CSU und FDP. Ich kann vermelden: In-nerhalb der FDP gibt es keine unterschiedlichen Auffas-sungen
zu den Themen Frauenquote, Mindestlohn und Betreu-ungsgeld, ebenso wenig zum Thema Rente,
das Sie, Herr Kollege Oppermann, dankenswerterweisemit in die Debatte eingeführt haben; ich komme nachhergerne darauf zurück.
Wenn Sie allerdings das Miteinander in der Koalitionmeinen, dann muss ich Sie warnen. Sie haben versucht,ein bisschen Endzeitstimmung zu verbreiten, so wie esder eine oder andere Redner bereits in der Haushaltsde-batte versucht hat.
Ich kann Ihnen nur sagen: Totgesagte leben länger. Ichverstehe die Debatten in der Koalition eher als ein leben-diges Miteinander.
Sie werden sehen, dass wir am Ende mit guten Lösungenaus dieser Diskussion herauskommen.
Damit wäre nach einer Minute eigentlich schon alleszu diesem Thema gesagt. Aber ich bedanke mich für dieGelegenheit, Herr Oppermann, den Ball zurückzuspielenund einmal auf die unterschiedlichen Auffassungen inder SPD, zum Beispiel beim Thema Rente, einzugehen.
Herr Kollege Oppermann, Sie erinnern sich: In derletzten Sitzungswoche stand hier Herr Steinmeier amRednerpult. Er hat der Koalition vorgeworfen, einenHaushalt mit einem Defizit von 18 Milliarden Euro zupräsentieren; wohlgemerkt, wir haben ihn mit 70 Mil-liarden Euro Defizit von Ihnen übernommen.
Er sagte, wir müssten unsere Anstrengungen verstärkenund härter rangehen. Fast zeitgleich präsentierte derSPD-Bundesvorstand ein Rentenkonzept mit Kosten von35 Milliarden Euro, darunter 25 Milliarden Euro, dieüber Steuern zu finanzieren sind, also mehr, als wir über-haupt als Defizit für das kommende Jahr vorgesehen ha-ben. Das ist absolut unseriöse Politik.
Das ist bei dieser Geschichte aber noch nicht der Gip-fel. Jetzt geht der Kuhhandel im SPD-Bundesvorstanderst so richtig los: Damit das Ganze mit den Vorstellun-gen der Linken kompatibel werden kann, soll jetzt derZugang zur Rente für langjährig Versicherte erleichtertwerden. So kommen 6 Milliarden Euro zu den 35 Mil-liarden Euro hinzu.
Die Reaktion der Linken in Richtung von Herrn Gabriel:Das reicht uns aber nicht, was hier vorgelegt wird. –Jetzt soll auch noch die Absenkung des Netto-Standard-rentenniveaus vor Steuern rückgängig gemacht werden.Damit will sich die SPD vollkommen von der Rente mit67 verabschieden.
Da kann ich nur sagen, Herr Oppermann: Wer im Glas-haus sitzt, muss seine Steine, seine Stones, zusammen-halten.
Das ist genau das Problem, das Sie auch in der aktuellenDebatte haben.Dann schauen wir uns einmal die Grünen an. FrauKollegin Künast, Sie haben gesagt, es habe die Ansagegegeben, eine Bildungskarte einzuführen, aber am Endesei keine Bildungskarte herausgekommen.
Ich kann mich an die Verhandlungen, die wir dazu ge-führt haben, noch relativ gut erinnern; denn ich warnächtelang dabei.
In diesen Verhandlungen haben sich die Grünen, wo im-mer es ging, quergelegt.
Metadaten/Kopzeile:
23396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Heinrich L. Kolb
(C)
(B)
Als es am Schluss zum Schwur kam, sind Sie in der al-lerletzten Verhandlungsrunde ausgestiegen und wolltenmit dem Ganzen überhaupt nichts mehr zu tun haben.
So kann man das doch nicht machen, Frau KolleginKünast. Es ist doch Wahnsinn, wie Sie dieses Geschäftbetreiben.Wenn Ihnen dieses Beispiel noch nicht reicht, dannschauen wir doch einmal nach Baden-Württemberg:Frauenquote, Parité-Gesetz, wenn Ihnen das etwas sagt.Da haben sich die Grünen mächtig aufgebockt: Sie woll-ten ein Gesetz vorlegen, nach dem bei der Kommunal-wahl nur noch Listen zum Zuge kommen dürfen, auf de-nen Männer und Frauen gleichberechtigt erscheinen.
– Würden Sie mir bitte einmal Ihre Aufmerksamkeitschenken, Frau Kollegin Künast? –
Ich höre von diesem Parité-Gesetz gar nichts mehr. Viel-leicht können Sie nachher noch kurz erklären, wann esdenn kommen wird. Nach meinen Informationen istauch dieses Thema abgehakt. Auch bei Ihnen also nichtsals heiße Luft.
Ich finde, es ist in einer Demokratie normal, dass manin einer Regierung miteinander streitet. Es gehört zumMeinungsbildungsprozess dazu, dass man sich über un-terschiedliche Positionen austauscht. Aber dass es dieOpposition nicht einmal schafft, ihren internen Klä-rungsprozess einigermaßen reibungsfrei zu gestalten,das finde ich dann doch bemerkenswert. Insofern hatsich die Aktuelle Stunde heute doch gelohnt. Ich be-danke mich, Herr Oppermann, für Ihren entsprechendenAntrag.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Hubertus
Heil das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lieber Herr Kolb, wir sollten uns eines nicht wech-selseitig unterstellen – ich sage das in aller Ernsthaftig-keit – –
– Hören Sie doch erst einmal zu und seien Sie nichtgleich so nervös.
Herr Kolb, wir kennen uns ein bisschen und schätzenuns durchaus persönlich, aber eines will ich Ihnen sagen:Keiner von uns sollte die Tatsache, dass zwischen Res-sorts, zwischen Koalitionspartnern und innerhalb demo-kratischer Parteien diskutiert wird, für Diffamierungennutzen.
– Moment! Hören Sie gut zu! – Das tut niemand; dassollte auch niemand tun, weil dann ein falsches Bild ent-steht. Hier geht es nicht um Kasernenhöfe, hier geht esum demokratische Parteien. Aber eines ist auch klar:Wer regiert, der sollte nicht nur diskutieren, sondern dermuss auch irgendwann auf den Punkt kommen!
Das möchten wir heute ansprechen: Sie kommen in die-ser Koalition nicht auf den Punkt, Herr Kolb. Da könnenSie uns nichts vormachen.
Lassen Sie mich an einem Beispiel Folgendes ver-deutlichen: Als wir mit Rot-Grün an der Regierung wa-ren, haben wir diskutiert, manchmal sogar heftig gestrit-ten; das will ich gerne einräumen. Beim ThemaEnergiepolitik beispielsweise war zwischen WernerMüller und Jürgen Trittin nicht immer eitel Sonnen-schein – gar keine Frage. Da gab es unterschiedlicheRessortlogiken in den Bereichen Umwelt und Wirt-schaft. Aber es gab einen Unterschied zu Ihrer Regie-rung: Am Ende des Tages wurden Entscheidungen ge-fällt, gerade weil man diskutiert und dann entschiedenhat. Vom damaligen Kanzleramt wurde eine koordinie-rende Funktion wahrgenommen.
Das fehlt dieser Koalition: politische Führung.
Sie machen nichts anderes als Selbstblockade und Klien-telpolitik. Das ist der Unterschied zu unserer Arbeit,meine Damen und Herren. In einer Demokratie müssenSie es sich gefallen lassen, von der Opposition daraufangesprochen zu werden.
Drei Jahre lang herrschte Stillstand. Wenn es einmalvorangegangen ist, lief das wie beim Basarhandel: Jederdarf sich einen Keks aus der Schublade nehmen. DieFDP hat sich die Hotelsteuer gegriffen und die CSU dasBetreuungsgeld. Das ist aber keine ordentliche Regie-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23397
Hubertus Heil
(C)
(B)
rungsführung, das ist Basarhandel und nicht das, was un-ser Land braucht.
Ich wiederhole: Kein Mensch diskreditiert das Ringenum gute Lösungen in Parteien, Koalitionen oder zwi-schen Ministerien – das gehört zur Demokratie dazu –,aber es muss Ihnen doch bewusst sein, dass Sie auchnoch nach drei Jahren um dieselben Themen und Be-griffe kreisen und es trotzdem nicht schaffen, eine an-ständige Gesetzgebung hinzubekommen.Herr Kolb, Sie haben die Verhandlungen angespro-chen, die wir nächtelang geführt haben. Dabei ging esum drei Themen: Es ging um das Bildungspaket, es gingum die Regelsätze, und es ging um Recht und Ordnungauf dem Arbeitsmarkt.Zum Thema Mindestlohn. Wir haben eine Bundes-ministerin, nämlich Frau von der Leyen – dass ich diesenPunkt anspreche, werden Sie sich schon gefallen lassenmüssen –, der es in der Debatte möglicherweise mehrum den öffentlichen Effekt geht als um die Sache. Dassdieser Begriff ständig im Mund geführt wird, ohne dasstatsächlich Fortschritte beim gesetzlichen Mindestlohnzu verzeichnen sind, das enttäuscht viele Menschen inunserem Land. Dass es dazu nicht kommt, dafür tragenSie von CDU/CSU und FDP die Verantwortung. EinJahr vor der Wahl hören Sie gänzlich auf, Politik zu ma-chen. In der Koalition geht es Ihnen nur noch um dasProfil von FDP, CDU oder CSU. Thomas Oppermannhat es vorhin so beschrieben: eine Zeit, die diesem Landgestohlen wird.Wir haben Ihnen die Regierung in einer Zeit überge-ben, in der wir schwierige Aufgaben gelöst hatten, auchim Streit und durch Konflikte miteinander, und wir ha-ben einen hohen Preis dafür gezahlt. Aber am Ende sindwir immer in der Lage gewesen, zu politischen Ergeb-nissen zu kommen. Sie aber verweigern die politischeArbeit, weil die einzelnen Koalitionspartner nur noch andas Überstehen der nächsten Wahl denken, aber nichtmehr an den Fortschritt in unserem Land.
Das Thema Frauenquote ist ein Beweis dafür: Die ei-nen reden so und die anderen reden so, und es kommtnichts dabei heraus. Das Thema Mindestlohn ist ein wei-terer Beweis dafür: Die einen reden so und die anderenreden so. Auch beim Thema Betreuungsgeld gilt: Die ei-nen reden so und die anderen reden so. – Beim letztenPunkt ist Ihnen wirklich zu wünschen, dass dabei nichtsherauskommt. In diesem Zusammenhang wäre eine Blo-ckade einmal eine gute Sache. Aber ob Sie den Mut ha-ben, die Mehrheit, die es im Volk gegen diesen Unsinngibt, zu einer Mehrheit hier im Hause zu machen, ist zubezweifeln. Am Ende des Tages wird sich jeder wiedereinen Keks aus der Schublade nehmen.Am Ende muss die Bundeskanzlerin die Verantwor-tung dafür tragen, dass das alles nicht zusammengeführtwurde. Ich sage Ihnen: Eine Bundeskanzlerin, die so tut,als hätte sie mit ihrer eigenen Regierung nichts zu tun,hat Deutschland noch nicht gesehen. Frau Merkel trägtdie Verantwortung dafür, dass unser Land drei Jahre langdurch Führungslosigkeit gelähmt wurde. Wir werden dasnächstes Jahr ändern.Herzlichen Dank.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Christine Lambrecht von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Normalerweise ist der Schluss einer Aktuellen Stundeein bevorzugter Rednerplatz, weil man auf die vorgetra-genen Argumente eingehen und sich ein bisschen daranreiben kann. Es ist ja auch Sinn einer Aktuellen Stunde,dass nicht jeder vorgefertigte Reden hält.Heute fällt das ein bisschen schwer, weil ich nicht sorichtig weiß, auf welche Argumente ich eingehen soll.Von Ihnen sind heute so gut wie keine Argumente vorge-tragen worden, weil Sie bei den einzelnen Fragen zer-stritten sind wie die Kesselflicker. Das Ganze eskaliertdarin, Beschimpfungen auf SPD, Grüne oder Linke zulenken. Der Blick auf die Themen, die doch eigentlich sowichtig sind – Herr Kretschmer, Sie haben es selbst ge-sagt –, lässt die Zerrissenheit der Koalition deutlich wer-den. Zu diesen Themen habe ich aber von Ihnen so gutwie kein einziges Wort gehört.Das eine oder andere Thema möchte ich jetzt anspre-chen. Sie haben gesagt, Herr Kretschmer, wir müsstenüber Betreuungsgeld und Frauenquote ausführlicher dis-kutieren. Dazu hätten Sie heute die Gelegenheit gehabt.Sie hätten drei weitere Redner ins Rennen schicken kön-nen. Dann hätten wir einmal darüber reden können, wel-che sachlichen Argumente gegen eine Quote sprechen.Dann wäre schnell herausgekommen, dass es diese sach-lichen Argumente nicht gibt. Deswegen stand ja auchbeispielsweise Frau Winkelmeier-Becker heute nicht amRednerpult. Sie hätte nämlich etwas ganz anderes ge-sagt. Hier wurden keine sachlichen Argumente ange-führt, die tatsächlich begründen, warum wir auf eineQuote verzichten sollten.Frau Bracht-Bendt, Sie haben gesagt, dass Sie eineSelbstverpflichtung der Wirtschaft wollen und dass dasIhr Kurs ist. Dazu kann ich nur sagen: Damit sind Sie elfJahre zu spät dran. Bereits im Jahr 2001, also vor elf Jah-ren, gab es eine Selbstverpflichtung der Wirtschaft– man kann beklagen, dass wir das damals so gemachthaben –, und auch damals wurde gesagt: Führt die Quotenicht ein, wir regeln das alleine, wir klären das, wir sor-gen dafür, dass Frauen in entsprechende Führungsposi-tionen kommen. – Jetzt schauen wir uns doch einmal dieBilanz an. Wie sieht es heute aus? 85 Prozent der Auf-sichtsräte und 97 Prozent der Vorstände sind weiterhin
Metadaten/Kopzeile:
23398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Christine Lambrecht
(C)
(B)
Männer. Jetzt frage ich mich: Was hat diese Selbstver-pflichtung in den letzten elf Jahren gebracht?
Nichts! Und darauf wollen Sie weiter setzen. Das kanndoch wohl nicht Ihr Ernst sein.
Herr Kolb, Sie haben gesagt, dass alle in der FDP ei-ner Meinung sind. Sie sollten einmal Ihre Sitznachbarinfragen. Frau Laurischk sieht das nämlich ganz anders.Sie ist eine Unterstützerin der Berliner Erklärung. Sieunterstützt die Forderung nach einer Quote. Sie ist nichtirgendwer, sondern Vorsitzende eines der wichtigstenAusschüsse, nämlich des Ausschusses für Frauen, Fami-lie, Jugend und Senioren.
Vielleicht klären Sie erst einmal in Ihrer eigenen Frak-tion, ob man tatsächlich geschlossen gegen die Quote ist.Selbst in solchen Beiträgen wird deutlich, dass Sie totalzerstritten sind.Ich möchte noch auf ein Argument von Frau Bracht-Bendt eingehen. Sie hat gesagt, jetzt werde alles besserwerden, das entwickle sich alles, die Frauen sollten nurnoch ein bisschen Geduld haben. Wir müssen feststellen,dass Frauen mindestens genauso gut ausgebildet sindwie Männer, dass Frauen mindestens genauso gute Qua-lifikationen mitbringen, aber dennoch – ich habe dieZahlen genannt – 85 bzw. 97 Prozent der Führungsposi-tionen an Männer gehen. Da stellt man sich doch dieFrage: Wird wirklich nach Qualität entschieden?Ich zitiere den Personalvorstand der Telekom. Er hatauf die Frage, ob die Qualität entscheidet, ziemlich frei-mütig geantwortet – das kann man nachlesen –:Entscheidungen fallen ebenso durch Seilschaft,Treuebonus, Netzwerke, strategisches Platzierenvon Vertrauten und Vitamin B wie durch Qualität.Das wollen Sie weiterhin so haben. Sie wollen akzeptie-ren, dass Entscheidungen weiterhin so gefällt werden.Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein.
Deswegen kann ich sehr gut verstehen, dass den Kol-leginnen und Kollegen, insbesondere den Kolleginnen,im Bundesrat die Hutschnur geplatzt ist und dass sie ge-sagt haben: Uns reicht es jetzt. Es gibt keine Sachargu-mente gegen eine Quote, und deswegen lassen wir unsnicht länger an die Leine nehmen. Wir lassen uns nichtlänger verpflichten, gegen ein sinnvolles Instrument zustimmen. – Deswegen gab es dieses Abstimmungsver-halten. Ich bin gespannt, wie die Kolleginnen aus derCDU/CSU-Fraktion, vielleicht auch Frau Laurischk,sich im anstehenden Verfahren verhalten.Frau Winkelmeier-Becker hat in einer Debatte im De-zember letzten Jahres erklärt:Wer glaubt, dass wir bis zum Ende dieser Legisla-turperiode abwarten, ohne dass sich an dieser Stelleetwas tut, der hat den Schuss nicht gehört.Damit hat sie recht. Deswegen hätte ich mir gewünscht,dass sie sich heute hier hingestellt und sich den Kolle-ginnen und Kollegen aus dem Bundesrat angeschlossenhätte.Es wird spannend werden, zu beobachten, wie Sie mitder Zerrissenheit in Ihren eigenen Reihen – jeder gegenjeden – umgehen werden: die Bundesländer gegen dieBundestagsfraktion, und innerhalb der Bundestagsfrak-tion gibt es auch eine große Gruppe, die anderer Auffas-sung ist. Dann haben Sie einen Koalitionspartner, der derMeinung war, dass Sie alle auf Linie sind, wenn es umdie Quote geht. Jetzt muss er aber feststellen, Herr Kolb,dass einige doch anders denken. Ich bin gespannt, wieSie mit dieser Zerrissenheit umgehen werden. Vielleichtholen Sie ja die Keule „Fraktionsdisziplin“ heraus. Ichbin gespannt, ob selbstbewusste Abgeordnete sich dasgefallen lassen, ob sie sich in so einer Frage an die Leinenehmen lassen, ob sie sich einen Maulkorb verpassenlassen und gegen ihre Überzeugung stimmen. Wir wer-den diese Abstimmung sehr genau verfolgen.
Herr Kretschmer, Sie haben gesagt, dass Sie IhrenKurs innerhalb der Koalition fortsetzen werden.
Dazu muss ich zum Schluss sagen: Die Menschen emp-finden so eine Ansage als Drohung. Dass Sie diesenZickzackkurs, diese Geisterfahrt weiter fortsetzen wol-len, kann in diesem Land nur als Drohung empfundenwerden. Ich freue mich darauf, wenn damit endlichSchluss ist.Vielen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowieZusatzpunkt 6 auf:5 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Festset-zung der Beitragssätze in der gesetzlichen
– Drucksache 17/10743 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23399
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKERentenbeiträge nicht absenken – Spielräumefür Leistungsverbesserungen nutzen– Drucksache 17/10779 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
HaushaltsausschussZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten AntonSchaaf, Anette Kramme, Petra Ernstberger, wei-teren Abgeordneten und der Fraktion der SPDeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieSchaffung eines Demographie-Fonds in der ge-setzlichen Rentenversicherung zur Stabilisie-
– Drucksache 17/10775 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Gesundheit HaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Besteht da-rüber Einvernehmen? – Das ist der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin das Wort der Bundesministerin Dr. Ursula von derLeyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir brin-gen heute den Entwurf des Beitragssatzgesetzes 2013ein. Die vorgesehene Senkung der Beiträge entsprichtder Rechtslage und ist auch eine Frage von Verlässlich-keit. In einem solchen Umlagesystem wie dem unseren,einem System einer solidarischen Rentenfinanzierung,muss sich die einzahlende Generation darauf verlassenkönnen, dass sie nur so stark belastet wird, wie es dieRenten der aktuellen Rentnergeneration tatsächlich er-forderlich machen, und nicht darüber hinaus.
Es geht um eine Entlastung um voraussichtlich5,4 Milliarden Euro. Die Rücklage der Rentenkasse läuft– untechnisch gesprochen – gewissermaßen über, undzwar dank der guten Konjunktur. Die aktuelle Debattedreht sich aber nicht darum, sondern eher um ein struk-turelles Problem in der Rentenversicherung, nämlich umdie Frage: Wie können wir die Gerechtigkeitslücke imRentensystem, die sich für Geringverdiener immer wei-ter auftut, schließen? Gerade auch für Geringverdiener,die jahrzehntelang Vollzeit gearbeitet und eingezahlt ha-ben, muss die goldene Regel einer solidarischen Renten-versicherung gelten: Leistung muss sich auch im Ren-tensystem lohnen, sonst verliert das Rentensystem seineLegitimation. Ich finde, auch zusätzliche Vorsorge musssich zum Schluss auszahlen.Es ist gut, dass das Problem inzwischen erkannt wor-den ist; sonst wäre die Debatte nicht so breit. Es geht umdas Problem, dass, wenn wir jetzt nichts tun, bei sinken-dem Rentenniveau
eine Situation eintritt, dass Geringverdiener nach 35, 40oder 45 Jahren Beitragszahlungen zum Sozialamt gehenund dort Grundsicherung beantragen müssen, statt eineauskömmliche Rente aus dem Rentensystem zu bekom-men.
Wenn es nach langem Arbeitsleben für den Lebensun-terhalt nicht reicht, werden wir – nur so kann eine Lö-sung aussehen – durch Steuermittel aufstocken müssen.Die Frage ist – das ist eine Gretchenfrage –: Wo? Für dieSteuerzahlerinnen und Steuerzahler ist es erst einmal ir-relevant, ob die Steuermittel in die Grundsicherung ge-hen oder in das Rentensystem. Aber für die Menschen,die jahrzehntelang eingezahlt haben und die immer un-abhängig von Leistungen des Staates waren, macht es ei-nen himmelweiten Unterschied, ob sie am Ende einesarbeitsreichen Lebens den Gang zum Sozialamt antretenmüssen und Grundsicherung bekommen oder ob sie ihreeigene Rente aus der Rentenversicherung bekommen.Das ist auch eine Frage von Würde und Wert von Arbeit.
Deshalb steht hier auch die Legitimität des Renten-systems auf dem Prüfstand. Wenn wir nichts tun undwenn in den kommenden Jahren Geringverdiener nach40 oder 45 Jahren Arbeit und Beitragszahlungen zuneh-mend in der Grundsicherung landen, dann blutet das so-lidarische Rentensystem langsam, aber sicher von untenaus. Deshalb finde ich, dass wir hier in einer grundsätzli-chen Debatte und auch an einer Wegscheide sind.Es muss einen Unterschied machen, ob man ein Le-ben lang sozialversicherungspflichtig gearbeitet undPflichtbeiträge gezahlt hat und dann im Alter eine eigeneRente aus der Rentenversicherung bekommt, oder nicht.Es kann nicht sein, dass man dann im Alter in die Grund-sicherung fällt wie diejenigen, die keinen Cent einge-zahlt haben und keinen einzigen Tag gearbeitet haben.
Das entwertet nicht nur Arbeit, sondern das entwertetauch Leistung. Für mich gilt immer noch das Prinzip,dass sich Lebensleistung und Arbeit auch in der Renteauszahlen müssen, meine Damen und Herren.
Metadaten/Kopzeile:
23400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(C)
(B)
Jetzt zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder SPD. Was das Prinzip der Solidarrente betrifft, habenSie die richtige Entscheidung getroffen, nämlich die Ent-scheidung, nach einer Lösung im Rahmen der Renten-versicherung zu suchen; das macht die Solidarrente jader Zuschussrente so ähnlich. Aber was für eine Enttäu-schung sind die letzten 14 Tage gewesen, als Sie ange-fangen haben, Ihr Rentenkonzept zu präzisieren! Ihnenist innerhalb von 14 Tagen plötzlich der Mut abhanden-gekommen, zu Ihren eigenen Reformvorschlägen zu ste-hen.
Jetzt schlagen Sie vor, man solle nach 45 Versicherungs-jahren – nicht Beitragsjahren, sondern Versicherungsjah-ren – abschlagsfrei in Rente gehen können. Das ist dieklare Absage an „Arbeiten bis 67“. Sie machen eineRolle rückwärts.
Dass Sie von Versicherungsjahren sprechen, hat zurFolge, dass auch Zeiten des Studiums, Zeiten vonKrankheit, die Schulzeit, Zeiten der Kindererziehungund der Pflege berücksichtigt werden. Für Akademike-rinnen und Akademiker wie mich – ich habe acht Jahrestudiert – bedeutet dies, dass die Zeit des Studiums alsVersicherungszeit mitgezählt wird.
Abschlagsfrei nach 45 Jahren in Rente gehen zu können,ganz egal, wie alt man ist, bedeutet: Dann können sehrviele frühzeitig in Rente gehen und unbegrenzt hinzuver-dienen. Ihr System hätte zur Folge, dass man 8 bis10 Milliarden Euro obendrauf benötigen würde. Wermuss das zahlen?
Die junge Generation.
Diese Rechnung geht nicht auf.Die Lebenserwartung unserer Generation ist in denletzten 50 Jahren um durchschnittlich zehn Lebensjahregestiegen. Unsere Generation hat allerdings nur relativwenige Kinder bekommen. Diese Kinder werden späterunsere Renten zahlen müssen. Es kann doch nicht sein,dass Sie mitten in dieser Zeit eine Rolle rückwärts ma-chen und sagen: Ihr könnt früher aus dem Arbeitslebenausscheiden.Ich bin dafür, dass Menschen, die körperlich am Endesind, aus dem Arbeitsleben ausscheiden können – für siemüssen wir einen Übergang organisieren –,
aber ich bin nicht dafür, dass Leute, die topfit sind, nach45 Jahren einfach Tschüss sagen können. Das, meineDamen und Herren, geht nicht.Wenn man sich Ihr Rentenkonzept anschaut, dannsieht man, dass Sie bei den Beitragsmitteln auf einen Be-trag von bis zu 25 Milliarden Euro zusätzlich kommen,den Sie der jungen Generation mal eben vor die Füßewerfen.
Hinzu kommen Steuermittel in Höhe von 8 bis 10 Mil-liarden Euro. Deshalb, meine Damen und Herren von derOpposition: Wer das Rad der Reformen zurückdrehenwill, der schließt keine Gerechtigkeitslücke.
Frau von der Leyen?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Stellen Sie sich dieser Lücke, ohne eine Rolle rück-
wärts zu machen.
Danke schön.
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der
Kollegin Bulling-Schröter.
– Das Unterbrechen einer Rede ist manchmal nicht so
leicht, wenn keine Pause zum Luftholen gemacht wird.
Der nächste Redner ist der Kollege Josip Juratovic
von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte FrauMinisterin! Nach Ihrem Vortrag habe ich das Gefühl, Siehaben sich in der Tagesordnung vertan.
Sie haben gerade zu einem völlig anderen Thema als zudem gesprochen, das wir laut Tagesordnung jetzt zu be-handeln haben.
In der Tagesordnung steht, dass es in dieser Debatte umdie Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichenRentenversicherung für das Jahr 2013 geht. Aber Sie ha-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23401
Josip Juratovic
(C)
(B)
ben über eine Rentenreform gesprochen und einenRundumschlag gemacht.Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, hierwird ja oft und gerne die schwäbische Hausfrau zitiert,wenn es um die Haushaltspolitik geht. Für mich alsSchwaben gilt die Weisheit: Man muss in guten Zeitensparen, um in schlechten Zeiten etwas zu haben.
Diese Weisheit muss auch im Hinblick auf die Renten-versicherung gelten.
Wir müssen in konjunkturell guten Zeiten etwas zurück-legen, damit wir davon zehren können, wenn die Wirt-schaft nicht so gut läuft, wenn viele Renten ausgezahltwerden müssen und es weniger Beitragszahler gibt, seies aufgrund höherer Arbeitslosigkeit oder aufgrund desdemografischen Wandels.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,Sie planen das Gegenteil dessen, was die schwäbischeHausfrau machen würde.
Sie wollen jetzt die Ersparnisse der Rentenversicherungausbezahlen und die Beitragssätze später schnell undkräftig erhöhen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,wenn Sie ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben, dassSie sich schon jetzt überlegen müssen, wie Sie den Ar-beitnehmern und Arbeitgebern im Jahre 2020 erklärenwollen, dass die Beiträge zur Rentenversicherung ziem-lich abrupt stark steigen werden.
– Möglicherweise werdet ihr nicht regieren.
Wir Sozialdemokraten wollen dagegen einen stabilenBeitragssatz von 19,6 Prozent, der bis 2025 gesichert ist.Wir wollen kein Hickhack wie die Bundesregierung, diedie Beiträge jetzt wahrscheinlich aus wahltaktischenGründen senken will, um sie später massiv zu erhöhen.
In unserem SPD-Gesetzentwurf wird zudem das Sparenerlaubt, indem die Regelung aufgehoben wird, dass dieRentenversicherung maximal bis zum Eineinhalbfachenihrer monatlichen Ausgaben ansparen darf.Die schwäbische Logik, dass man in guten Zeitenspart, wird auch von den allermeisten Menschen in unse-rem Land geteilt.
Knapp 80 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger sind da-für, jetzt bei der Rentenversicherung Geld zu belassen,anstatt später mit einem hohen Anstieg der Beiträge kon-frontiert zu werden. Ich freue mich, dass auch einigejunge CDU-Abgeordnete dies so sehen.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,man muss keine Politik nach Umfrageergebnissen ma-chen, aber wenn eine derart breite Mehrheit gegen die ei-genen Pläne ist, dann sollte man schon noch einmal da-rüber nachdenken, ob die Menschen in unserem Landnicht vernünftiger sind, als es ihnen einige hier zutrauen.
Herr Kolb, Sie sagen öffentlich: Die Rentenversiche-rung ist keine Sparkasse, deswegen muss das überschüs-sige Geld ausbezahlt werden.
Gleichzeitig nutzt Ihre Regierung die Rentenversiche-rung im aktuellen Haushalt aber als Sparkasse, und zwarzum Abheben.
Mit dem sogenannten Konsolidierungsbeitrag und demVorwegabzug bedient sich die Bundesregierung muntermit über 2 Milliarden Euro jährlich aus der Rentenkasse.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,wenn Sie sagen, dass Sie der Rentenversicherung dasAnsparen von Geld verbieten, weil sie keine Sparkassesei, dann dürfen Sie die Rentenversicherung auch nichtals Sparkasse zum Abheben benutzen.
Sie kennen mich hier im Plenum des Bundestages alseinen Verfechter von guten Löhnen für gute Arbeit. Dasist eines der wichtigsten Elemente, um Altersarmut inZukunft zu vermeiden. Nur wer einen guten Lohn hat,bekommt später auch eine gute Rente.
Frau von der Leyen, ich wäre Ihnen dankbar, wennSie sich endlich auch einmal dafür einsetzen würden,dass wir einen flächendeckenden Mindestlohn bekom-men,
Metadaten/Kopzeile:
23402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Josip Juratovic
(C)
(B)
und Sie nicht immer nur von Armut reden und nicht im-mer nur die Menschen bemitleiden und der Welt erklärenwürden, wie schlimm es mit den Armen aussieht. Manmuss auch etwas dagegen tun.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,lesen Sie unseren Gesetzentwurf sorgfältig, und handelnSie mit uns Sozialdemokraten und damit mit 80 Prozentunserer Gesellschaft, die vernünftigerweise dagegensind, den Beitragssatz zu senken.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Dr. Heinrich Kolb.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Juratovic,um mit Ihrer Bemerkung zur Sparkasse anzufangen: Ja,die Nachhaltigkeitsrücklage hat in der Tat eine Liquidi-tätsausgleichsfunktion. Das hat man an dem früherenNamen „Schwankungsreserve“ noch deutlicher erkennenkönnen, aber auch bei der Nachhaltigkeitsrücklage gehtes schlicht und einfach darum, unterjährige Schwankun-gen der Liquidität der Rentenversicherung,
aber auch kurzfristigere Schwankungen der Liquiditätim Konjunkturzyklus auszugleichen.
Ich will zunächst einmal sehr deutlich darauf hinwei-sen, dass das auch nach der von uns beabsichtigten Bei-tragssenkung so sein wird.
Am Ende des Jahres 2013 wird die Nachhaltigkeitsrück-lage trotz Beitragssenkung 28 Milliarden Euro betragenund damit den höchsten Stand in der jüngeren Ge-schichte der Rentenversicherung haben. Das heißt, hiersind ausreichend Mittel und Reserven vorhanden, umauch künftig solche Ausgleiche darstellen zu können.
Der Gesetzgeber hat 1992 Bandbreiten festgelegt, dieimmer wieder einmal variiert wurden. Auch die SPD-Fraktion hat hieran zu ihrer Regierungszeit kräftig mit-gewirkt. Aber es bestand immer Konsens darüber, dasses erstens darum geht – ich könnte Ihnen dazu Zitate lie-fern, ich habe sie dabei –, mit möglichst niedrigen Ren-tenbeiträgen dämpfend auf die Lohnnebenkosten einzu-wirken. Das hat hier Herr Riester betont. Das hat FrauMascher, als sie noch Staatssekretärin war, in diesemHause erklärt.
– Ich weiß, Frau Kollegin Ferner, das spielt für die SPDkeine entscheidende Rolle mehr.
Für uns ist das zweitens weiterhin ein Argument, weiles darum geht, in einer globalen Wirtschaft wettbe-werbsfähig zu sein und dafür zu sorgen, dass in Deutsch-land ein möglichst hohes Maß an Beschäftigung erhaltenwird. Dann spielen auch solche Fragen eine Rolle.Es geht hier drittens schlicht und einfach um die Ent-lastung der Beitragszahler in einer Größenordnung von6 Milliarden Euro.
Das ist deren Geld. Es muss den Beitragszahlerinnenund Beitragszahlern, den Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern und den Unternehmen auch zurückgegebenwerden, weil sie es in die Kasse eingebracht haben.Wenn es derzeit nicht gebraucht wird, dann ist es gut in-vestiertes Geld.Ich will Ihnen das einmal vor Augen führen. Wennwir zu der Entlastung von 6 Milliarden Euro das Entlas-tungsvolumen von 6,5 Milliarden Euro durch die Besei-tigung der kalten Progression hinzufügen, was Sie der-zeit im Vermittlungsausschuss blockieren, dann ist dasein recht schönes, ansehnliches Konjunktur- und Wachs-tumspaket von 12,5 Milliarden Euro, mit dem man ge-rade in der jetzigen Situation, in der wir nicht so rechtwissen, wie es mit der Konjunktur weitergeht, einennachhaltigen Effekt erzielen könnte.Sie wollen das nicht. Sie marginalisieren das. Sie sa-gen: Das sind vielleicht 3,50 Euro oder 4 Euro pro Bei-tragszahler. Für einen Durchschnittsverdiener, einen Ar-beitnehmer, ist das immerhin eine Entlastung von100 Euro.
– Nein, im Jahr. – Sie sagen vielleicht: Das ist wenig.Für die betroffenen Menschen ist das aber wirklich Geld.Ich glaube, sie sind dankbar, wenn sie es zurückbekom-men.Aber es ist längst nicht nur das – das vergessen Sienämlich in der Debatte immer –: Es werden noch andereentlastet.
Durch den abgesenkten Beitrag werden zum Beispiel dieLänder und Kommunen entlastet, in denen nicht nur Be-amte, sondern auch Angestellte tätig sind, für die Ren-tenbeiträge entrichtet werden müssen. Von der Absen-kung des Rentenbeitrags profitieren am Ende auch die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23403
Dr. Heinrich L. Kolb
(C)
(B)
Rentner, die im folgenden Jahr eine um 0,8 Prozent-punkte höhere Rentenanpassung bekommen werden,weil wir zum 1. Januar 2013 den Rentenbeitrag senken.Diese Mechanismen in der Rentenversicherung sindnicht immer für jeden durchschaubar. Aber das ist einArgument. Ich glaube, die Rentnerinnen und Rentner indiesem Lande werden uns sehr dankbar dafür sein, dasswir durch die Ausnutzung von Spielräumen positiv aufihre Renten einwirken.
Schließlich komme ich auf Ihre Idee zu sprechen:Man möge doch auf die Beitragssenkung verzichten unddas Geld ansammeln, dann sei genug da, um das Renten-niveau bis 2030 zu stabilisieren. Die Wahrheit, die da-hintersteckt, ist folgende: Wer das wirklich will, dermuss den Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenformel ab-schaffen.
Da warne ich aber Neugierige. Herr Kollege Juratovic,Sie erinnern sich noch: Die SPD war schon einmal auf ei-nem solchen Trip. Die Koalition Kohl/Kinkel hatte einendemografischen Faktor eingeführt. Schröder hat damitWahlkampf gemacht, dass er ihn beseitigen werde. FünfJahre nach seiner ersten Wahl hat er in diesem Haus, andiesem Podium einräumen müssen: Es war ein Fehler ge-wesen, dass wir diesen demografischen Faktor abge-schafft haben. Er hat den Nachhaltigkeitsfaktor – er solltemit einem anderen Namen ein bisschen besser aussehen,ist aber wirkungsgleich – wieder eingeführt.Nur wenn Sie diesen Nachhaltigkeitsfaktor abschaf-fen, können Sie die Absenkung des Rentenniveaus ver-hindern, die im Übrigen nicht im Gesetz steht. Auch dadenken Sie falsch, an dieser Stelle liegen Sie nicht rich-tig. Es steht nicht im SGB VI: Das Rentenniveau wirdauf 43 Prozent abgesenkt. – Dort ist nur von einer Über-wachungsmarke die Rede. Sollte das Niveau in dieseGrößenordnung absinken, muss der Gesetzgeber tätigwerden. Aber die Entwicklung ist durchaus differenziertzu sehen. Im letzten Jahr hat der Nachhaltigkeitsfaktorsogar rentensteigernd gewirkt.
Das ist also kein Automatismus. Wir sind derzeit deut-lich besser unterwegs, als man es vermuten konnte. DasRentenniveau wird nach allem, was wir wissen, auch imJahr 2025 noch deutlich über 46 Prozent liegen. Das istauch ein Erfolg der guten Beschäftigungspolitik dieserBundesregierung.
Wenn Sie jetzt wissen wollen: „Was kann man tun?“,dann empfehle ich Ihnen den Kommentar von PeterThelen in der heutigen Ausgabe im Handelsblatt. Ersagt: Es geht jetzt darum, die Erwerbstätigenquote mög-lichst hoch zu halten. Es war richtig, das Renteneintritts-alter auf 67 Jahre zu erhöhen. Er schreibt, wir solltenversuchen, mehr Teilzeitbeschäftigung in Vollzeitbe-schäftigung umzuwandeln, weil das – das ist im SGB VIgeregelt und kompliziert – zu mehr Äquivalenzrentnernund Äquivalenzbeitragszahlern führt, also über denNachhaltigkeitsfaktor positiv auf das Rentenniveauwirkt. Er schreibt, der Effekt wäre auch dann positiv,wenn es uns gelingt, mehr über 60-Jährige als bisher inBeschäftigung zu halten. Dafür werben wir seit Jahrenmit flexiblen Übergängen vom Erwerbsleben in den Ru-hestand.Schädlich, schreibt er, wären Mindestlöhne. Denndiese würden wahrscheinlich dazu führen, dass inDeutschland viele Arbeitsplätze von Beschäftigten verlo-ren gingen,
die heute mit in unsere Sozialkassen einzahlen.Deswegen: Sie sollten von Ihren Plänen Abstand neh-men. Das Fairste und Gerechteste wäre es, den Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern jetzt das zurückzuge-ben, was ihnen zusteht, nämlich das, was zu viel anBeiträgen in der Rentenkasse vorhanden ist.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-
lege Matthias Birkwald.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Frau Bundesministerin von der Leyen hat gesagt:„Wir müssen heute handeln, damit uns diese Welle derAltersarmut nicht eines Tages überrollt.“ Sie hat völligrecht.Doch was tut sie? Ihre Zuschussrente gleicht demVersuch, eine Flutwelle mit Regenschirmen bekämpfenzu wollen. Aber die Mehrheit von CDU/CSU und FDPgönnt den Menschen nicht einmal die Regenschirme.Das ist bitter, und das ist schäbig. Doch das ist Schwarz-Gelb, und genau das muss sich ändern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU/CSU undFDP wollen nichts Wirksames gegen die Rentenarmuttun. Das ist schlimm genug. Aber schlimmer noch:Union und Liberale sind dabei, mit der Beitragssatzsen-kung weiter Öl ins Feuer zu gießen. Das ist ungeheuer-lich.Alle drei Vizekanzlerkandidaten der SPD spielen die-ses böse Spiel auch noch mit, wenn sie an der Absen-kung des Rentenniveaus weiterhin festhalten wollen.
Metadaten/Kopzeile:
23404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Matthias W. Birkwald
(C)
(B)
Das müssen alle wissen, wenn wir heute auch über denGesetzentwurf der SPD reden. Denn dieser Gesetzent-wurf sieht keine Leistungsverbesserungen vor, weder fürdie heutigen Rentnerinnen und Rentner noch für die zu-künftigen.Ich sagen Ihnen: Wir brauchen keinen Demografie-fonds. Wir brauchen einen Rentenarmutsverhinderungs-fonds, um es mal auf Von-der-Leyisch zu sagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union, FDP undSPD, Sie wollen über Rentenarmut reden – gut. Abereine zentrale Ursache dafür wollen Sie unangetastet las-sen, nämlich das Rentenniveau. Es soll weiter bis zumJahr 2030 beständig sinken, und zwar – ich formulierekorrekt, Herr Kollege Kolb – im schlimmsten Fall vonheute knapp 50 Prozent auf magere 45 oder sogar nur43 Prozent. Wenn sich daran nichts ändert, werden inZukunft Millionen von fleißigen Menschen, Frau Minis-terin, mit Armutsrenten in der Altersarmut landen.Darum sagen wir Linken Ihnen: Das Rentenniveaumuss wieder angehoben werden, und zwar so, dass derLebensstandard wieder gesichert wird,
und so, wie es vor dem Rentenkahlschlag von SPD undGrünen gewesen war. Das Mindeste ist, das Rentenni-veau jetzt nicht weiter zu senken. Darum dürfen auch dieRentenversicherungsbeiträge nicht weiter gesenkt wer-den.
Meine Damen und Herren, der Deutsche Gewerk-schaftsbund hat recht. Das Vorstandsmitglied AnnelieBuntenbach hat gestern gesagt: „Wer den Rentenbeitragsenkt, erhöht das Altersarmutsrisiko der jungen Genera-tionen.“ So ist es. Darum ist es kein Wunder, dass86 Prozent der 18- bis 29-Jährigen dafür sind, FrauMinisterin, die Beiträge jetzt nicht zu senken. Das ist dergrößte Wert in der gesamten Bevölkerung. Das ist auchverständlich. Denn wer 2 000 Euro brutto im Monat ver-dient, würde für den Rentenbeitrag nur 6 Euro wenigerzahlen. Für Beschäftigte mit Durchschnittsverdienst wä-ren es gerade einmal 8 Euro.Was aber sind 8 Euro weniger im Vergleich zu dendrastischen Rentenkürzungen, die mit dem sinkendenRentenniveau zu erwarten sind? Was ist, HerrStraubinger, noch nicht einmal eine Maß Bier auf demOktoberfest im Vergleich zu den drastischen Kürzungendurch die Rente erst ab 67?
Die jungen Beschäftigten haben das verstanden, und ge-nau deshalb dürfen die Beiträge im Interesse der jungenGeneration, Frau Ministerin, nicht abgesenkt werden.Wenn Union und FDP heute die Beiträge senken wol-len, dann müssen sie auch sagen, dass den heute jungenBeschäftigten morgen, im Rentenalter, die Rechnung da-für präsentiert wird. Die Rechnung wird für die jungenBeschäftigten heute heißen: niedrige Renten und mas-senhaft Armutsrenten. Das darf nicht sein. Ihnen das zusagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU,CSU und FDP, dazu sind Sie aber leider zu feige.Wir brauchen wirklich jeden Cent, um Altersarmut zuvermeiden. Dazu gehört: Die Rente erst ab 67 abschaf-fen! Dazu gehört auch, die ungerechten Abschläge fürMenschen, die aus gesundheitlichen Gründen – oderweil sie schlicht nicht mehr arbeiten können – vorzeitigin die Erwerbsminderungsrente gehen müssen, abzu-schaffen. Dazu gehört, endlich die Rehaleistungen nachdem tatsächlichen Bedarf und nicht nach der Kassenlagezu finanzieren.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Eine andere,eine bessere Rentenpolitik ist nötig, und sie ist machbar.Herzlichen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort derKollege Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Ministerin, wir haben im Moment ja eine ganzeReihe von Baustellen in der Rentenversicherung: Dabeigeht es um die Altersarmut und die soeben zu Recht an-gesprochene Erwerbsminderungsrente. Wir müssen et-was beim Rehadeckel ändern, und die bessere Absiche-rung von Selbstständigen sowie die Angleichung derRenten in Ost und West müssten eigentlich angegangenwerden. Die Liste ließe sich noch weiter verlängern.In so einer Situation sind zwei Dinge wichtig: Ers-tens. Man muss all diese Projekte zusammendenken.Zweitens. Man muss langfristig herangehen. Denn dieRente braucht vor allen Dingen eines: Verlässlichkeit.In beiden Punkten versagt diese Bundesregierung,insbesondere die Ministerin, weil die einzelnen Aspektenicht zusammengedacht werden. Es wird alle paar Wo-chen wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Ges-tern war es die Riester-Rente, vor ein paar Wochen wares die Altersarmut und vor ein paar Monaten waren esdie Selbstständigen, die sich zu Recht dagegen gewehrthaben, was ihnen in diesem Zusammenhang vorgeschla-gen worden ist. Man muss die Dinge wirklich zusam-mendenken.
Das geschieht aber nicht.Außerdem muss man langfristig denken. Damit binich bei dem Beitragssatz. Es hat bisher noch niemanddeutlich gesagt, dass die jetzige Beitragssatzsenkung in
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23405
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(C)
(B)
bereits wenigen Jahren eine um so stärkere Beitragssatz-steigerung bedeutet.
Das kann man den Berechnungen der Bundesregierungentnehmen und im letzten Rentenversicherungsberichtnachlesen, Herr Straubinger. Spätestens 2019 soll derBeitragssatz wieder stärker ansteigen. Das ist auch lo-gisch; denn wir brauchen aufgrund der demografischenEntwicklung in der Zukunft ja einen höheren Beitrag.Wenn wir jetzt weiter heruntergehen, muss der Beitrags-satz später umso stärker ansteigen. Auch von daher wärees das Beste, eine möglichst konstante Beitragssatzent-wicklung zu haben. Das ist insbesondere für die Wirt-schaft, die Ökonomie, aber auch für die betroffenen Bür-gerinnen und Bürger besser, weil sie sich darauf verlassenkönnen.
Also, das Ganze ist Stückwerk und sehr kurzfristiggedacht. Das ist vielleicht verständlich; denn die Regie-rung plant nur noch bis September nächsten Jahres, weiles dann eine neue Regierung geben soll.Jetzt, da so viel grundsätzlich über die Rente disku-tiert wird, wäre der richtige Zeitpunkt, über diesen An-passungsmechanismus nachzudenken. Wir haben jetztsinkende Renten und sinkende Beitragssätze, und daskann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.In der Haushaltsdebatte gab es zum Beispiel einenVorschlag des Kollegen Karl Schiewerling aus IhrerFraktion, über den man nachdenken könnte, nämlich dieNachhaltigkeitsrücklage auf drei Monatsausgaben zu er-höhen. Es ist wichtig, die Dinge einmal zusammenzu-denken und zu schauen: Was brauchen wir, wie soll es fi-nanziert werden, und wie bekommen wir das mitstabilen Beitragssätzen hin?Ich möchte zum Schluss noch auf das Rentenniveaueingehen. Dazu hatte Herr Kolb tatsächlich etwas Richti-ges gesagt.
Er hat gesagt, die Senkung des Rentenniveaus stehe inkeinem Gesetz und sei auch von niemandem – auchnicht von Rot-Grün – beschlossen worden. Wir habendamals vielmehr gesagt, dass wir die Rente umstellenund eine konstante Beitragssatzentwicklung wollen. Dasist eine sehr vernünftige Sache. Das Rentenniveau ent-wickelt sich dann nach der Rentenformel.In der Rentenformel gibt es zwei wesentliche Punkte,nach denen sich das Rentenniveau bestimmt.
Der erste ist die Lohnhöhe, und der zweite sind die Men-schen, die in die Rentenversicherung einzahlen. Bei bei-den Punkten gibt es noch sehr viel Luft nach oben.Punkt eins. Wir brauchen bessere Löhne. Wir braucheneinen Mindestlohn, branchenspezifische Mindestlöhneund eine stärkere Tarifbindung. Insgesamt brauchen wirhöhere Löhne. Allein dadurch würde das Rentenniveausteigen.
Punkt zwei. Auch bei den sozialversicherungspflich-tig Beschäftigten ist noch Luft nach oben, und zwardeutlich. Es wird gerühmt, dass wir zurzeit mit ungefähr29 Millionen relativ hoch liegen. Aber es gibt insgesamt40 Millionen Erwerbstätige. Die Lücke zwischen derZahl der Erwerbstätigen und der Zahl der sozialversiche-rungspflichtig Beschäftigten war selten so groß wieheute. Das heißt, wir müssen dazu kommen, dass dieje-nigen, die erwerbstätig sind und nicht in die Rentenver-sicherung einzahlen, wieder rentenversicherungspflich-tig werden.Auch das ist eine Möglichkeit, um langfristig dasRentenniveau zu erhöhen, und zwar bei einer stabilenBeitragsentwicklung. Aber dafür muss man nachhaltigagieren und die Dinge zusammendenken.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Max Straubinger.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Strengmann-Kuhn, die Lücke zwischen derZahl der möglichen Erwerbstätigen – das sind 50 Millio-nen – und den tatsächlich Erwerbstätigen – das sind41 Millionen – war noch nie so klein. Früher war das an-ders. Als noch Rot-Grün regiert hat, gab es nur 26 Mil-lionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Nunsind es 29 Millionen. Das ist der große Erfolg der Bun-desregierung.
Dieser Erfolg spiegelt sich auch in der Rentenversiche-rung wider.Die Koalition steht für Verlässlichkeit in der Renten-politik. Unter Rot-Grün wurde die Nachhaltigkeitsrück-lage auf 1,5 Monatsausgaben festgesetzt. Möglicher-weise hat damals niemand von Rot-Grün daran gedacht,dass diese Rücklage jemals erreicht werden wird.
Nun haben wir es erreicht. Das führt automatisch dazu,dass wir die Rentenversicherungsbeiträge zu senkenhaben. Das tun wir auch. Unser Ansinnen ist nicht wahl-kampftaktisch geprägt. Vielmehr kommen wir dem ge-setzlichen Auftrag nach, die Rentenversicherungsbei-träge zu senken. Dies ist im Sinne der Arbeitnehmerinnen
Metadaten/Kopzeile:
23406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Max Straubinger
(C)
(B)
und Arbeitnehmer, der Betriebe in unserem Land sowieder Rentnerinnen und Rentner. Aufgrund der Nettolohn-bezogenheit werden höhere Rentenanwartschaften imnächsten Jahr erworben. Dies ist die positive Botschaft,die aus unserer Rentengesetzgebung resultiert.
Herr Straubinger, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Birkwald von der Fraktion Die Linke?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Herr Präsident, und vielen Dank, Herr
Straubinger, dass Sie meine beiden Zwischenfragen zu-
lassen. – Die erste Frage lautet: Sie haben eben gesagt,
es sei gesetzlich festgelegt, dass die Nachhaltigkeits-
rücklage ab einer bestimmten Größenordnung gesenkt
werden müsse. Stimmen Sie mir zu, dass wir als Gesetz-
geber das Gesetz ändern könnten?
Meine zweite Frage lautet: Sie stellen das alles so dar,
als ob Einigkeit in der Union herrschte. Mir liegt ein An-
trag vor, der vom Saarland – dessen Ministerpräsidentin
ist Ihre CDU-Kollegin mit dem schönen, langen Namen
Kramp-Karrenbauer – im Ausschuss für Arbeit und So-
zialpolitik des Bundesrates eingebracht wurde. Sie hat
etwas sehr Vernünftiges eingebracht. Ich zitiere:
Der Bundesrat lehnt die sich aus der aktuellen Ge-
setzeslage voraussichtlich ergebende Senkung des
Beitragssatzes für die gesetzlichen Rentenversiche-
rung ab. Der Bundesrat fordert die Bundesregie-
rung stattdessen auf, dafür Sorge zu tragen, dass in
der gesetzlichen Rentenversicherung mit dem Aus-
bau der Nachhaltigkeitsrücklage zu einer Genera-
tionen-Reserve zügig begonnen wird.
Thüringen und Sachsen-Anhalt finden das auch gut.
Was sagen Sie denn dazu?
Zu Ihrer ersten Frage. Natürlich könnten wir als Ge-setzgeber das ändern. Aber wir wollen das nicht ändern,
weil es im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer, der Betriebe sowie der Rentnerinnen und Rentnerist, wenn der Beitragssatz zum 1. Januar nächsten Jahresauf 19 Prozent abgesenkt wird. Dann haben die Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Geld in der Ta-sche. Sie werden bei den Beiträgen entlastet. Ich binschon verwundert: Die SPD und vor allen Dingen dieLinken sagen immer, die Kaufkraft der Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer müsse gestärkt werden. Wir stär-ken die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer. Aber Sie stellen sich dagegen. Das verstehe ichnicht.
Wir machen das auch generationengerecht. Das Ren-tenniveau hängt von der Beschäftigungslage ab. Das Be-schäftigungsniveau ist zurzeit sehr hoch. Ich bin zuver-sichtlich, dass wir es auch in Zukunft hoch halten bzw.sogar ausbauen werden, insbesondere wenn Union undFDP weiterhin gemeinsam regieren.
Frau Ferner, da täuschen Sie sich gewaltig.Zu Ihrer zweiten Frage. Sicherlich gibt es auch Stim-men in der Union, die für eine höhere Nachhaltigkeits-rücklage sind. Ich frage mich aber, ob das auch gut ange-legtes Geld ist. Die gesetzliche Rentenversicherungverfügt derzeit über eine Rücklage von 28 MilliardenEuro. Die Anlagemöglichkeiten für die Rentenversiche-rung sind bekanntermaßen sehr begrenzt.
Sie beschränken sich auf den Kauf von StaatsanleihenDeutschlands – das ist in Ordnung und richtig so – undvielleicht noch anderer Länder, die auch als sicher gel-ten. Diese erwirtschaften aber in der Regel einen Ertrag,der so gering ist, dass er durch die Inflation wieder auf-gezehrt wird und somit eine negative Rendite erwirt-schaftet wird.
– Herr Birkwald, bleiben Sie stehen. Sie haben mich ge-fragt, und so viel Anstand müssen Sie schon aufbringen.
Das bedeutet: Wenn wir die Nachhaltigkeitsrücklagenoch erhöhen würden,
was Sie in Ihrem Antrag fordern und was auch im Ge-setzentwurf der SPD beabsichtigt ist, würden die Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer Verluste erleiden. Daskönnen wir diesen nicht zumuten.
Mit unserem Gesetzentwurf schaffen wir die gesetzli-che Grundlage. Ich bin überzeugt – das habe ich schonzum Ausdruck gebracht –, dass damit letztendlich denArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Betriebenund den Rentnerinnen und Rentnern gedient ist. Ange-sichts der Tatsache, dass die konjunkturellen Aussichtennicht mehr ganz so positiv sind wie in der Vergangen-heit, setzen wir mit unserer Maßnahme einen konjunktu-rellen Impuls. Kollege Kolb hat darauf hingewiesen: Eshandelt sich um eine Entlastung von knapp 6 MilliardenEuro für die Betriebe bzw. die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer. Sie blockieren zusätzlich im Bundesrateine steuerliche Entlastung der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer durch die Abschaffung bzw. Abflachungder kalten Progression. Insgesamt wäre das eine Entlas-tung von 12 Milliarden Euro. Dies würde wirtschafts-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23407
Max Straubinger
(C)
(B)
politisch einen kräftigen Impuls darstellen und für mehrArbeitsplätze und damit mehr Beitragszahlerinnen undBeitragszahler in unserem Land sorgen.
Deshalb sollten Sie von der Opposition sich diesem An-sinnen der Bundesregierung nicht entziehen. Im Gegen-teil, Sie sollten den Gesetzentwurf der Bundesregierungunterstützen. Das wäre meines Erachtens die besserePosition.Die SPD hat einen Gesetzentwurf eingebracht, derzum Ziel hat, die Begrenzung der Nachhaltigkeitsrück-lage auf 1,5 Monatsrenten abzuschaffen und von jegli-cher Begrenzung abzusehen. Sie von der SPD bleibennatürlich die Antwort schuldig, wie hoch eine Nachhal-tigkeitsrücklage überhaupt sein soll. Möglicherweise istdas gar nicht vorgesehen, weil Ihr Rentenkonzept daraufabzielt – die Kollegen haben schon darauf hingewie-sen –, die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler stän-dig zu belasten, damit Sie die Rente mit 67 wieder rück-gängig machen können – die Frau Bundesministerin hatdarauf hingewiesen –
und um andere rentenpolitische Entscheidungen, die not-wendig waren, um eine dauerhafte Beitragssatzstabilitätin der gesetzlichen Rentenversicherung in Zukunft zu er-reichen, zu revidieren.Möglicherweise wollen Sie weitere Ausgaben damitfinanzieren. Das ist das einzige Ansinnen der SPD – HerrKollege Juratovic, Sie schütteln mit dem Kopf –, das indem Gesetzentwurf, der in den Deutschen Bundestag ein-gebracht worden ist, zum Ausdruck kommt. Sie wollenletztendlich Finanzmittel bei den Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern abkassieren, um sich eigene Wünsche zuerfüllen und sich den Gewerkschaften wieder anzunä-hern. Das ist das Ansinnen Ihres Gesetzentwurfes und Ih-rer Politik.
Herr Straubinger, der Kollege Ernst würde Ihnen auch
gern die Gelegenheit geben, auf eine Zwischenfrage zu
antworten.
Dem bin ich so in Herzlichkeit verbunden, da kann
ich nicht ablehnen.
Bitte schön, Herr Ernst.
Herr Straubinger, danke. – Würden Sie mir zustim-
men, dass die Gelder, die jetzt in der Rentenkasse sind,
den Rentnern dann zugutekommen, wenn sie in irgend-
einer Form ausgezahlt werden? Würden Sie mir auch zu-
stimmen, dass, wenn man dieses Geld jetzt durch eine
Beitragssenkung verbrät, dies den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, die irgendwann Rentnerin und
Rentner werden, nur zur Hälfte zugutekommt, weil die
andere Hälfte ja den Arbeitgebern zugutekommt? Wür-
den Sie unter dieser Bedingung tatsächlich den Satz auf-
rechterhalten, dass das Ansinnen der SPD, die Renten-
beiträge jetzt nicht zu kürzen, ein Griff in die Tasche der
Menschen ist, die diese Beiträge erwirtschaftet haben,
also die abhängig Beschäftigten? Ist es nicht vielmehr ei-
gentlich im Interesse gerade der jungen Generation, jetzt
durch eine vernünftige Verwendung der Rentenbeiträge
zu einer Sicherung des Rentenniveaus beizutragen, da-
mit sie später nicht in Altersarmut geschickt wird?
Meine letzte Frage: Würden Sie unter all diesen Bedin-
gungen den Satz aufrechterhalten, dass das Ansinnen,
den Rentenbeitrag jetzt nicht zu kürzen, darauf abzielt,
in die Tasche der Menschen zu greifen, die in den Betrie-
ben arbeiten?
Natürlich ist das Ganze ein Griff in die Taschen derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch derBetriebe. Vor allen Dingen, Herr Kollege Ernst, ist IhrAnsinnen ja nicht, eine Demografierücklage zu bilden.
Ihr Ansinnen ist, mehr Leistungsversprechen zu erfüllen.
Genau das ist nicht im Sinne der jungen Generation.Herr Kollege Ernst, derzeit sind in Deutschland 50 Mil-lionen Menschen im erwerbsfähigen Alter. Diese Zahlwird sich bis zum Jahr 2030 auf 42 Millionen vermin-dern. Die Prognosen besagen, dass es in Deutschland imJahr 2060 nur noch 32 Millionen Menschen im erwerbs-fähigen Alter geben wird. Angesichts dessen würde manden künftigen Generationen, gerade denen, die heutejung sind – Sie glauben, ihnen dadurch helfen zu kön-nen, dass Sie dafür eintreten, dass der Beitragssatz hochbleibt –, eine gewaltige Last aufbürden, eine Last, die sienicht mehr tragen könnten.
Das ist es, und das wollen Sie nicht wahrhaben. Sie wol-len Menschen in irgendeiner Art und Weise zusätzlichbeglücken.
Aber wir stehen für eine langfristige Politik, weil wirauch langfristig Regierungsverantwortung tragen. Dasist entscheidend.
Wir können das verantworten.
Metadaten/Kopzeile:
23408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Max Straubinger
(C)
(B)
Sie in der Opposition denken von heute auf morgen,und damit ist die Sache für sie erledigt.
Wir bringen zielorientierte rentenpolitische Entscheidun-gen zustande. In diesem Sinne kann ich Ihnen nur emp-fehlen, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung inzweiter und dritter Lesung zuzustimmen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Bettina Hagedorn von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Das, was uns die Koalition hier gerade an Redebeiträgengeboten hat, ist an Heuchelei wirklich nicht zu überbie-ten.
Da sagt die Ministerin, sie fühle sich der einzahlendenGeneration verpflichtet, und vergisst dabei, zu erwäh-nen, dass sie das auf dem Rücken der künftig einzahlen-den Generationen tut, die sie in ihren Sonntagsredensonst immer so gerne vor sich herträgt. Herr Kolb dekla-riert die 5,4 Milliarden Euro, die durch diese Beitrags-satzsenkung den Arbeitgebern und Arbeitnehmern gege-ben werden sollen, quasi als eine karitativeVeranstaltung. Er sagt: Die Betroffenen werden unsdankbar sein.
Genau das ist Ihr Kalkül. Das, was Sie hier machen– eine Rentenbeitragssatzsenkung –, ist der Kitt, der IhreKoalition ein Jahr vor der Bundestagswahl zusammen-halten soll. Das Ganze ist eigentlich ein Wahlgeschenk.Es soll ein Wahlkampfschlager werden.
– Genau. Die Leute wollen es gar nicht. Sie sindvernünftiger, als Sie denken. – Wissen Sie was? DiesesVorgehen ist unverantwortlich.Vor allen Dingen versuchen Sie zu kaschieren, dassdie Bundesregierung bei dieser ganzen Nummer, mitdieser Senkung, den eigenen Haushaltsentwurf frisiert,und zwar um exakt 2 Milliarden Euro. Das tun Sie aufdem Rücken der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.Sie tun so, als könnten Sie im Schlafwagen die Schul-denbremse einhalten. Diese Frisiernummer machen Sienicht nur bei der Rente, die machen Sie auch beimGesundheitsfonds, die machen Sie auch bei der Bundes-agentur für Arbeit und auf dem Rücken der Langzeit-arbeitslosen, und das im milliardenschweren Bereich.Das ist einfach unverantwortlich.
„Beitrag zur Konsolidierung“ nennt Herr Schäuble– der Stuhl des Finanzministers ist bei dieser Debatte er-staunlicherweise leer – seinen „Vorwegabzug“ zulastender Rentenkasse. Das sind 1 Milliarde Euro im Jahr 2013und 1,25 Milliarden Euro jeweils bis 2016, sprich4,75 Milliarden Euro bis zum Ende des Finanzplan-raums, die er von der Rentenkasse zugunsten seinesBundesetats umschaufelt. Ab 2017 soll dann paradoxer-weise diese Maßnahme wieder umgekehrt werden, 2017,wenn wir unter einem verschärften Konsolidierungs-zwang aufgrund der Schuldenbremse stehen werden.Hinzu kommt, dass wir noch nicht wissen, ob die ganzenSteuerquellen und Beitragsquellen dann genauso spru-deln werden, wie es in der jetzigen konjunkturellen Lageder Fall ist. Aber dann wollen Sie das Rad zurückdrehen.Ein Schelm, der Böses dabei denkt.Noch eine zweite Stellschraube nutzen Sie – das istgenau die, die wir hier jetzt diskutieren –, um IhrenHaushalt zu frisieren. Das ist diese Beitragssatzsenkung.Etwas ist ja ganz erstaunlich: dass der Finanzminister die1 Milliarde Euro, von der hier noch nicht die Rede war,die der Bund bei dieser Nummer „spart“, schon im Juliin seinen Haushaltsentwurf eingerechnet hat. Das heißt,er hat schon im Juli seinen Haushaltsentwurf um 2 Mil-liarden Euro schöngerechnet.
Wissen Sie, was? Das sind insgesamt 9,5 MilliardenEuro während des Finanzplanraumes, die er hier einkas-siert hat. Dann will ich noch einmal daran erinnern, dassdiese Regierung ja auch schon 2011 1,8 Milliarden Eurozulasten der Rentenkasse „konsolidiert“ hat, wie sie esso schön nennt, nämlich zulasten der Langzeitarbeits-losen.
Wenn ich das noch einmal dazurechne, dann sind dasbis 2013 5,4 Milliarden Euro und 10,8 Milliarden Eurobis zum Ende des Finanzplanraums. Bei diesen Zahlenwird deutlich, dass Sie Ihre Schuldenbremse bis 2016nur deshalb angeblich erreichen können, weil Sie einenschamlosen Griff in die Sozialkassen machen.
In Europa baut man den Popanz Deutschlands als Su-persparregierung auf, und in der Realität bedient mansich vor allem an den Sozialkassen, und das in konjunk-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23409
Bettina Hagedorn
(C)
(B)
tureller Boomphase. Das ist genau das, was meinKollege über die schwäbische Hausfrau gesagt hat. Wirhaben jetzt – wir sagen ausdrücklich: glücklicherweise –eine Zeit, in der die Steuereinnahmen und die Beitrags-einnahmen sprudeln. Aber was machen Sie? Sie schöp-fen den konjunkturell entstandenen Rahm auf denSozialkassen ab, um so zu tun, als würden Sie sparen.Aber Sie tun es gar nicht. Sie machen keine Struktur-veränderung, wie Sie es einmal zugesagt haben, Siebauen keine Subventionen und all diese Dinge ab, undvor allen Dingen machen Sie es wieder nur auf dem Rü-cken der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und aufdem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.Wissen Sie, was? Ich empfehle Ihnen dringend: Stim-men Sie dem Antrag der SPD zu, einen Demografie-fonds aufzubauen! Das ist die richtige Antwort in dieserZeit, und das ist das, was die Menschen auch von unserwarten.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10743, 17/10779 und 17/10775 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend
– zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene
Rupprecht , Dr. Hans-Peter
Bartels, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Gesundes Aufwachsen von Kindern und
Jugendlichen fördern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Dörner, Maria Klein-Schmeink, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesundes Aufwachsen für alle Kinder mög-
lich machen
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Bericht über die Lebenssituation junger
Menschen und die Leistungen der Kinder-
und Jugendhilfe in Deutschland
– 13. Kinder- und Jugendbericht –
und
Stellungnahme der Bundesregierung
– Drucksachen 17/3178, 17/3863, 16/12860,
17/4754 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Marlene Rupprecht
Miriam Gruß
Diana Golze
Katja Dörner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Thomas Jarzombek, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß,
Florian Bernschneider, Nicole Bracht-Bendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Eigenständige Jugendpolitik – Mehr Chan-
cen für junge Menschen in Deutschland
– zu dem Antrag der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Die jugendfreundlichste Kommune
Deutschlands
– Drucksachen 17/9397, 17/7846, 17/9840 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Stefan Schwartze
Florian Bernschneider
Diana Golze
Katja Dörner
Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
tem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Peter Tauber
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meineHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ganzgut, dass wir uns wieder einmal Zeit nehmen, über dieKinder- und Jugendpolitik in diesem Land zu reden, unddass wir uns bei dieser Gelegenheit mit dem Kinder- undJugendbericht und mit den Anträgen aus dem Hause, dievorliegen, beschäftigen und uns ein bisschen die aktuelleSituation der Kinder und Jugendlichen in Deutschlandvor Augen führen.Ich wage die Prognose – auch wenn ich der erste Red-ner in der Debatte bin –, dass das Bild der Situation derKinder und Jugendlichen in diesem Land, das die Vertre-ter der Opposition zeichnen werden, eines sein wird, bei
Metadaten/Kopzeile:
23410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Peter Tauber
(C)
(B)
dem man sich fragen muss: Lohnt es sich, in diesemLand Kind oder Jugendlicher zu sein?Deshalb möchte ich mit Blick auf die aktuelle Situa-tion an den Anfang meiner Rede eher die positivenAspekte stellen: Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutsch-land ist so niedrig wie nirgendwo sonst in Europa. Wäh-rend der Durchschnitt bei mehr als 20 Prozent liegt, sindin Deutschland nur knapp 8 Prozent der Jugendlichenohne Job.Wir haben fast 200 000 freie Ausbildungsplätze indiesem Land. Das ist eine Entwicklung, die sensationellist, wenn man sich die Situation von vor zehn Jahren vorAugen führt. Damals war ich noch ehrenamtlicher Stadt-verordneter in meiner Heimatgemeinde. Seinerzeit sindalle Stadtverordneten quer durch die Fraktionen zu denUnternehmen gepilgert, um auf Knien darum zu bitten,Ausbildungsplätze zu schaffen. Die Unternehmer habenalle die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen undhaben gesagt: Jetzt kommt ihr noch, wir leiden schon un-ter der rot-grünen Bundesregierung; wir können keineAusbildungsplätze bereitstellen. – Die gibt es heute imÜbermaß. Fast jeder junge Mensch, der einen Schul-abschluss hat, findet den Ausbildungsplatz, den er sichwünscht.
Das heißt, in nur einem Jahr ist die Jugendarbeitslosig-keit um 14 Prozent gesunken, während sie anderswo inEuropa steigt. Das ist eine wirklich gute Nachricht fürdie jungen Menschen in diesem Land.Dasselbe gilt, wenn auch nur eingeschränkt, für dieZahl der Kinder und Jugendlichen, die auf Hartz IV an-gewiesen sind. Diese ist immer noch viel zu hoch, aberauch sie sinkt, und auch das ist eine gute Nachricht.Man sollte bei dieser Gelegenheit durchaus einmal inden Blick nehmen, dass in Berlin 33 Prozent der Kinderund Jugendlichen auf Hartz IV angewiesen sind, in Bay-ern aber nur 6,2 Prozent.
Jetzt kann man sich durchaus die Frage stellen: Hat dasetwas mit Politik zu tun? Hat das etwas mit Familien-bildern zu tun, die gelebt werden? Ich glaube, ja.
– Nein, ich werfe das niemandem vor, Frau Kollegin. Ichbin für Ihren Zwischenruf sehr dankbar. Vielleicht klei-den Sie ihn beim nächsten Mal in eine Frage; ich greifeihn jetzt trotzdem auf.Ich werfe das niemandem vor. Aber ich frage michschon, welche Familienbilder man vorlebt und vorgibt
und welche Rahmenbedingungen man setzt, damit Fami-lie gelebt werden kann. Offensichtlich sind diese inBayern nun einmal ein bisschen besser als in Berlin. Daszeigen zumindest die Zahlen.
Wir haben Weiteres geleistet. Wir haben das Deutsch-landstipendium auf den Weg gebracht, wir haben in dasBAföG investiert. Erstmals stehen für das BAföG mehrals 3 Milliarden Euro zur Verfügung. Mehr als 900 000Menschen profitieren davon. Auch das ist eine guteNachricht.Die weitere gute Nachricht ist, dass die Zahl derSchulabbrecher deutlich gesunken und die Zahl derGymnasiasten deutlich gestiegen ist. Wir machen alsoernst mit der Bildungsrepublik. Das sind gute Nachrich-ten für die jungen Menschen in diesem Land.
Was tun wir darüber hinaus? Wir haben in die Schul-sozialarbeit investiert, weil wir wissen, dass junge Men-schen in schwierigen Lebenssituationen Hilfesystemebrauchen. Der Bund ist hier in die Finanzierung ein-gestiegen, obwohl das eigentlich Aufgabe der Länderund der Schulträger ist.Wir haben das Bildungs- und Teilhabepaket auf denWeg gebracht. Von den Klassenfahrten über die Schüler-beförderung über die Nachhilfe bis hin zur Mitglied-schaft in Vereinen – wir leisten einen Beitrag dazu, dassjunge Menschen in diesem Land Perspektiven haben.
Wir haben die Jugendfreiwilligendienste in einemMaße ausgebaut, von dem Sie zu Beginn der Legislatur-periode nur geträumt haben. Die Botschaft, die wir damitden jungen Menschen mit auf den Weg geben, ist eineganz klare: Ihr werdet gebraucht. Wir wollen, dass ihr indieser Gesellschaft Verantwortung übernehmt, dass ihrErfahrungen sammelt. – Mehr als 90 000 Menschen en-gagieren sich in den verschiedenen Säulen der Freiwilli-gendienste. Das ist eine Leistung dieser Politik, aber vorallem der jungen Menschen, die einen solchen Freiwilli-gendienst leisten.
Wir haben die Förderung des Kinder- und Jugend-plans konstant gehalten, um selbstständige Jugendarbeitzu ermöglichen. Das ist die Grundlage für die Verbände,das ist die Grundlage für die ehrenamtliche Betätigungvon jungen Menschen in diesem Land, und das trotz derVorgaben der Schuldenbremse. Auch das ist ein klaresBekenntnis zu einer eigenständigen Kinder- und Jugend-politik.Dieses Thema kann man jetzt weiter ausführen. Ichnenne die Verbesserung der Mobilität. Für Jugendlicheim ländlichen Raum ist der Führerschein ab 17 interes-sant. Erstmals unterscheiden wir zwischen Kinder- undJugendpolitik, weil wir anerkennen, dass Jugendlicheandere Bedürfnisse haben als Kinder. Mit 13 Jahren istes nicht mehr sexy, in den Streichelzoo zu gehen. Dann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23411
Dr. Peter Tauber
(C)
(B)
hat man andere Wünsche, was die eigene Freizeitgestal-tung betrifft. Das symbolträchtige Thema Kinderlärmund die Tatsache, dass man dagegen nicht mehr klagenkann – es war ein wichtiger Schritt, dass wir das auf denWeg gebracht haben.
Neben den positiven Beispielen und Zahlen, sollteman auch das in den Blick nehmen, was schwierig ist. Esgibt Kinder und Jugendliche in unserem Land, die un-sere Hilfe brauchen, weil sie sie in ihrer Familie nicht inausreichendem Maße bekommen, weil sie es nicht schaf-fen, ihren Weg zu gehen. Das ist eine zusätzliche Auf-gabe, die sich für uns stellt. Natürlich müssen wir unsum diese jungen Menschen kümmern.Die Probleme sind vielfältig. Mit Blick auf meine Ge-neration könnte man sagen: Junge Leute sind heute einbisschen langweiliger als wir früher. Sie sind zumindestsehr viel vernünftiger, als es vielleicht meine Generationwar. Die Zahl derer, die exzessiv trinken, die rauchenund kiffen, geht deutlich zurück. Ob es vor diesem Hin-tergrund vorbildlich ist, wenn führende grüne Spitzenpo-litiker darüber räsonieren, welche Farben die Drachenhaben, die sie im Drogenrausch gesehen haben, sei da-hingestellt.
Wir erkennen, dass die Zahl junger Menschen, diesuchtgefährdet sind, deutlich zurückgeht. Wir erkennenaber auch neue Herausforderungen: Glücksspiel, Online-abhängigkeit, Internetsucht. Wir haben die Aufgabe, prä-ventive Angebote zu machen und für Aufklärung zu sor-gen.Ich habe einleitend gesagt, dass in diesem Land dieZahl der Kinder, die auf Hartz IV angewiesen sind, nochviel zu hoch ist. Das ist eine Aufgabe, die wir angehenmüssen. Wir müssen uns aber auch fragen, ob wir das al-lein mit staatlichen Hilfesystemen schaffen. Am Endemüssen wir Eltern ermutigen und in die Lage versetzen,ihre Erziehungsverantwortung wahrzunehmen. Wir Poli-tiker können zwar viele Dinge wollen, wir brauchen aberMenschen, die sich dieser Herausforderung stellen. Diessind am Ende des Tages in erster Linie immer die Eltern.Es bleibt dabei, dass der demografische Wandel einegroße Herausforderung für unser Land ist. Wenn manauf meine eingangs gestellte Frage zurückkommt undsich überlegt, ob in diesem Land Kinder und JugendlicheChancen haben, groß zu werden, ihre Ideen und Wün-sche zu verwirklichen, sich ein selbstbestimmtes Lebenaufzubauen, dann kann man zu dem Ergebnis kommen,dass es wahrscheinlich wenig Länder auf diesem Globusgibt, in denen junge Menschen solche Chancen haben.Wenn wir – ohne die Probleme beiseiteschieben zu wol-len – das nicht stärker in den Mittelpunkt rücken, dannbrauchen wir uns nicht zu wundern, wenn junge Paaresagen: Warum soll ich in diesem Land Kinder in dieWelt setzen? Es ist viel zu gefährlich. – Ich bleibe dabei:Sie zeichnen hier oft ein Bild, das nicht der Lebenswirk-lichkeit entspricht.
Gleich können Sie wieder das Leben von jungenMenschen in den schwärzesten Farben beschreiben. DieLebenswirklichkeit sieht jedoch ein bisschen anders aus.Deswegen brauchen junge Menschen keine Angst vor ei-nem Land zu haben, wie Sie es beschreiben. Sie müsstenvielleicht Angst vor einem Land haben, das Sie regieren.Das ist der entscheidende Unterschied. Ich freue michauf die weitere Debatte.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Marlene Rupprecht.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!Der Anlass unserer heutigen Debatte ist der 20. Septem-ber, nämlich der Weltkindertag. An diesem Tag lassenwir in Deutschland – in anderen Ländern geschieht dasan anderen Tagen – Revue passieren, was für Kinder ge-tan worden ist bzw. getan wird. Hierzu gibt es aus denunterschiedlichen Fraktionen einige Anträge, die demParlament zum Teil schon länger vorliegen. Man sieht,dass einiges von dem, was in diesen Anträgen steht, be-reits abgearbeitet wurde.Ich ziehe es vor, keine Bierzeltrede zu halten. Ebensoziehe ich es vor, keine Konfrontationspolitik zu betrei-ben, weil Eltern und Kinder davon die Nase voll haben.Sie wollen nämlich ganz schlicht und ergreifend, dassihre Situation wahrgenommen wird und dass wir allestun, um die Lebensbedingungen möglichst so zu verän-dern, dass sie lebenswert sind.In unserem Antrag, der heute ebenfalls zur Abstim-mung steht, geht es darum, wie Jugendhilfe, Gesund-heitshilfe und Behindertenhilfe besser vernetzt und ver-zahnt werden können, sodass Kinder nicht zwischen denRastern der Systeme – die für sich gesehen gut sind –hindurchfallen.Das heißt: Die einzelnen Hilfen stehen zwar zur Ver-fügung, jedoch wird nicht immer optimal zusammenge-arbeitet. Seit 21 Jahren ist gesetzlich vorgeschrieben – in§ 81 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes –, dass sichalle rund um das Kind Beteiligten zusammensetzen undabsprechen sollen. Das wird leider nicht gemacht.Es geht darum, dass Eltern, wie es in Art. 6 desGrundgesetzes festgeschrieben ist, ihre Aufgabe gutwahrnehmen können. Dazu brauchen sie alle diese Sys-teme. Wenn ein Kind in die Schule geht, braucht es dortein entsprechendes Umfeld, in dem es gesund aufwach-sen kann. Das Gleiche gilt, wenn ein Kind in den Kin-dergarten geht. Wenn das Kind behindert ist, soll es ohneAnsehen der Behinderung auch dort unterrichtet oder be-treut werden. In diesem Bereich gibt es in Deutschlandnach wie vor ein großes Defizit, obwohl internationale
Metadaten/Kopzeile:
23412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Marlene Rupprecht
(C)
(B)
Konventionen unterzeichnet worden sind. In unseremAntrag findet sich einiges zu diesem Thema. Inklusionmuss für alle Orte und bei allen Planungen von vornhe-rein berücksichtigt werden, sodass Kinder – egal auswelcher sozialen Schicht sie kommen – so angenommenwerden, wie sie sind, und es eben kein Muster gibt, wiesie sein sollen.Es ist die große Aufgabe der Politik, darauf hinzuwir-ken. Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt, weilwir noch gelernt haben, dass es „normale“ und „nichtnormale“ Kinder gibt, und dass die nicht normalen Kin-der ausgesondert werden. Dieser Weg ist ein Lernpro-zess. Wir müssen endlich lernen, dass Kinder eigeneRechtspersönlichkeiten, eigene Rechtssubjekte sind.Auch wenn die Eltern die vornehme Pflicht und dasRecht haben, sie zu erziehen, haben sie nicht das Recht,die Kinder so zu verformen oder zu verändern, dass sieSchaden nehmen. Ich erinnere hier nur an die derzeitigeDiskussion über die Beschneidung; ich kann es nicht las-sen. Hierbei zeigt sich ganz klar, wie wichtig es ist, sichwirklich für die Kinderinteressen einzusetzen und Kin-der als Rechtssubjekte zu sehen, die von niemandem,egal welchen Auftrag sie haben, auch nur berührt wer-den dürfen, um sie dauerhaft zu verändern. Diese Dis-kussion müssen wir hier führen. In diesem Haus wird sieleider immer nur aus Erwachsenensicht geführt undnicht aus Kindersicht.Uns liegen Anträge vor, bei denen das Kindeswohlund das Wohlergehen beim Aufwachsen im Mittelpunktstehen. Grundlage unserer Anträge war der 13. Kinder-und Jugendbericht. Hierin ging es um die Verzahnungvon Kinder- und Jugendhilfe sowie Gesundheitsförde-rung. Der Titel lautete: „Mehr Chancen für gesundesAufwachsen – Gesundheitsbezogene Prävention und Ge-sundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe“.Lassen Sie mich sagen, wie schwer es uns schon hierim Hause fällt, zusammenzuarbeiten. Es ist äußerstschwierig, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauenund Jugend und den Gesundheitsausschuss unter einDach zu bringen. Wenn wir beispielsweise die Mitarbei-ter des Gesundheitsausschusses bitten, sich etwas fürden präventiven Bereich zu überlegen, dann heißt es:Was habt ihr uns schon vorzuschreiben?Dann denke ich: Wenn wir, die wir täglich miteinan-der umgehen, schon nicht zusammenkommen können,wie soll das dann erst draußen gelingen? Es ist unsereAufgabe, das in Angriff zu nehmen. Das kann man nichtschlechtreden oder schönreden, sondern man mussschlicht zugeben, dass wir unsere Hausaufgaben nochnicht gemacht haben.Gestern waren zwei Fachleute in der Kinderkommis-sion, die uns gesagt haben, sie könnten keine Daten überpsychisch kranke Kinder erfassen, weil es eine Richt-linie gebe, die das verbietet. Keiner jedoch konnte erklä-ren, warum es diese Richtlinie noch gibt.Könnt ihr mir mal erklären, warum wir es hier nichtauf die Reihe bringen, dass wir wirklich alle Dinge fürKinder so regeln, dass es vom Kind, von der Familie ausgedacht ist, nicht von der Institution aus?Wir haben es hier im Deutschen Bundestag immernoch nicht geschafft, die Kinderrechte ins Grundgesetzzu bringen, damit eindeutig nachzulesen ist, dass dieKinder Rechtssubjekte sind. Ich wünsche mir, dass andrei Stellen des Grundgesetzes Änderungen vorgenom-men werden: In Art. 2, in dem es um das Individuumgeht, sollte das Recht auf die Entwicklung – das stehtdort nämlich nicht – und die freie Entfaltung aufgenom-men werden. In Art. 6 sollten die gemeinsamen Rechtevon Eltern und Kindern gestärkt werden, um kindge-rechte Lebensverhältnisse zu garantieren. Zudem hätteich gern eine Änderung an Art. 45. Dort ist geregelt, dasses für die 180 000 Soldaten – Wehrpflichtige gibt es jetztnicht mehr – einen Wehrbeauftragten mit fast 40 Mitar-beitern gibt. Wenn man das hochrechnet, dann kommtman für die 12 Millionen Kinder und Jugendlichen aufein Amt mit über 2 000 Beschäftigten. Mir würden40 Mitarbeiter reichen, wenn hier im Bundestag, nebendem Stuhl, auf dem unser Wehrbeauftragter sitzt, einKinderbeauftragter sitzen und die Interessen der Kinderwahrnehmen würde. Mit 40 Mitarbeitern wäre ich ganzzufrieden.Danke schön.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Florian
Bernschneider das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wiralle sind froh, dass wir heute zu einer recht prominentenTageszeit die Gelegenheit haben, über Jugendpolitik zudiskutieren. Entsprechend verantwortungsvoll solltenwir diese Debatte führen.
Bevor ich zu den Punkten komme, wo wir uns nicht ei-nig sind – ich verspreche Ihnen: auch dazu komme ich –,möchte ich vielleicht erst einmal eine Gemeinsamkeitherausstellen. Wir sind uns in einem Punkt einig: Diechristlich-liberale Koalition geht mit der Etablierung ei-ner Eigenständigen Jugendpolitik einen richtigen undwichtigen Schritt in die Zukunft.
Ich betone diese Gemeinsamkeit auch deswegen, weilich der festen Überzeugung bin, dass die eigenständigeJugendpolitik nur dann gelingen kann, wenn wir alle aneinem Strang ziehen. Denn wir alle wissen: Das ist keinProjekt für eine oder zwei Legislaturperioden, sonderneine langfristige Ausrichtung der Jugendpolitik.Wir alle wissen auch, dass nicht die Politik allein dieEigenständige Jugendpolitik gestalten wird, sondern es
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23413
Florian Bernschneider
(C)
(B)
darauf ankommt, verschiedenste Akteure – Jugendver-bände, Bildungsträger, Unternehmen, Medien – mitzu-nehmen. Deswegen ist es so wichtig und richtig, dass dasMinisterium eine Allianz für Jugend etabliert hat, um alldiese Akteure zusammenzubringen.Das alles, meine Damen und Herren, reicht natürlichnicht aus. Ich sage auch offen, dass wir uns als christ-lich-liberale Koalition natürlich daran messen lassenwollen, was wir mit konkreten politischen Handlungenfür junge Menschen in diesem Land erreichen. Ichglaube, wir brauchen uns, was unsere Bilanz an demPunkt angeht, nicht zu verstecken. Wir alle sind uns ei-nig, dass es bei der Eigenständigen Jugendpolitik auchzählt, über die Ressortgrenze des BMFSFJ hinaus zudenken. Wenn man sich einmal anschaut, was wir da ge-schafft haben, erkennt man: Das ist keine schlechte Bi-lanz. Wir haben uns mit der Einführung des Führer-scheins ab 17 verstärkt dem Aspekt der sicherenMobilität Jugendlicher gewidmet. Wir haben mit demDeutschlandstipendium und der Sommerferienjobrege-lung dafür gesorgt, dass sich Leistung eben auch fürjunge Menschen lohnt. Wir haben das BAföG erhöht undmit der Weiterführung des Programms „Schulverweige-rung – Die 2. Chance“ dafür gesorgt, dass auch diejeni-gen Jugendlichen mitgenommen werden, die es nichtimmer ganz leicht haben. Das alles sind Punkte – mankönnte das fortführen –, an denen man deutlich machenkann, dass in dieser Legislaturperiode schon viel passiertist und viel auf den Weg gebracht wurde. Wir alle mit-einander wollen nicht so tun, als ob das in jeder bisheri-gen Legislaturperiode auch so gut gelaufen wäre.
Wenn ich an jugendrelevante Diskussionen aus bishe-rigen Legislaturperioden denke, dann fallen mir die Dis-kussionen über Killerspielverbote, Alkoholverbotszo-nen, Alkopopsteuer usw. ein. All das hat doch mit dazubeigetragen, dass in unserem Land ein Bild von der Ju-gend von heute herrscht –
– da muss Politik auch einmal ganz selbstkritisch sein –nach dem Motto: Die sitzen zu lange vor dem Computer,die trinken zu viel Alkohol und überhaupt sind sie nichtin der Lage, Verantwortung für sich und erst recht nichtfür das Land zu übernehmen.Ich finde, die Koalition hat mit dem Freiwilligen-dienstkonzept den besten Gegenbeweis zu diesem fal-schen Bild ermöglicht – der Kollege Tauber hat esgesagt –:
Wir hatten im Jahr 2009 im Durchschnitt 68 000 Zivil-dienstleistende; heute haben wir über 80 000 Freiwillige,die einen großen Dienst erweisen, und das ohne jedenZwang. Das zeigt im Übrigen nicht nur, dass das Kon-zept Freiwilligendienst funktioniert, es zeigt auch, dassjunge Menschen in unserem Land sehr wohl bereit sind,Verantwortung zu übernehmen.Nehmen wir den Bereich Partizipation, der in den An-trägen eine wesentliche Rolle spielt. Ehrlich gesagt: Vonder Opposition höre ich dazu zu wenig. Ja, die Linkenbringen zwar einen Antrag zum Thema „jugendfreund-lichste Kommune“ ein – das Thema Kommune spielt inBezug auf die Partizipation tatsächlich eine wichtigeRolle –, aber seien wir ehrlich: Das reicht nicht aus.Von SPD und Grünen höre ich den Klassiker: Absen-kung des Wahlrechtalters. Es ist nicht nur so, dass ichimmer noch nicht verstanden habe, wie man den jungenMenschen erklären soll, dass man zwar mit 16 zur Bun-deswahl gehen soll, aber keinen Handyvertrag abschlie-ßen kann, auch allein die Tatsache, dass ich, wenn ich imfalschen Jahrgang geboren wurde, von der Absenkungdes Wahlalters überhaupt nicht profitieren würde, zeigtdoch, dass das kein sinnvoller Schritt zur Partizipationjunger Menschen sein kann. Deswegen ist die Förde-rung, die wir Ihnen in unserem Antrag vorschlagen,nämlich der U-18-Wahl – anders als die Kollegin Deligözzu Protokoll gegeben hat – kein Feigenblatt, sondern tat-sächlich ein guter Schritt, um junge Menschen an politi-schen Prozessen partizipieren zu lassen, egal wie alt siesind: ob 14, 15 oder 17 Jahre und 364 Tage.Aber auch hier bleiben wir nicht bei Sonntagsflos-keln, die wir alle meiner Meinung nach viel zu lange undviel zu häufig benutzt haben, wenn es um das ThemaPartizipation ging, sondern wir machen weitere konkreteVorschläge, zum Beispiel zum Kinder- und Jugendplan.Es ist doch schlicht nicht zu erklären, warum es beimgrößten monetären Förderinstrument, das wir in der Kin-der- und Jugendpolitik haben, für die jungen Menschenkaum Möglichkeiten gibt, dieses in irgendeiner Form be-einflussen zu können. Es ist so intransparent und in sei-nem Antragsverfahren so schwierig, dass es junge Men-schen einfach abhängt. Deswegen ist die Reform, die wirhier vorschlagen, auch im Sinne von Partizipation wich-tig.
Ich habe alle Anträge und auch die zu Protokoll gege-benen Reden sehr aufmerksam gelesen. Der Höhenflug,den die Grünen an Kreativität beim Thema Partizipationhatten, war die Forderung nach der Festschreibung vonBeteiligungsinstrumenten in den Kommunalordnungen.Das ist vielleicht gut gemeint, aber man muss so ehrlichsein und sagen: Das können wir hier im Bundestag nichtentscheiden, das müssen die Bundesländer machen. Siekönnen gerne dort, wo Sie Regierungsverantwortung tra-gen, mit gutem Beispiel vorangehen.Ich will noch kurz auf den 13. Kinder- und Jugendbe-richt eingehen, besonders unter dem Aspekt der Eigen-ständigen Jugendpolitik. Unsere Eigenständige Jugend-politik soll sich dadurch auszeichnen, dass wir zeigen,dass wir die Probleme und Herausforderungen, vor de-nen wir stehen, ernst nehmen, dass wir aber auch den„ganz normalen“ Jugendlichen in unserem Land berück-sichtigen. Der Kinder- und Jugendbericht zeigt deutlich,dass der überwiegende Teil junger Menschen und Kinder
Metadaten/Kopzeile:
23414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Florian Bernschneider
(C)
(B)
in unserem Land gesund und wohlbehütet aufwächst. Dassollten wir in der Politik betonen.
Trotzdem – Frau Rupprecht, Sie haben natürlich recht –darf man die Augen nicht vor den Herausforderungenverschließen. Es ist schlicht nicht akzeptabel, dass diesozialen und finanziellen Verhältnisse des Elternhausesüber die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ent-scheiden. Wir alle wissen um die Herausforderungen,die uns der Kinder- und Jugendbericht aufträgt. Wir alle– zumindest wir Familienpolitiker – sind der festenÜberzeugung, dass eine große Lösung sicherlich diebeste Lösung wäre.
Wir alle wissen auch, wie schwierig diese große Lösungist. Deswegen bin ich Frau Rupprecht sehr dankbar, dasswir nicht anfangen, gegenseitig mit dem Finger aufei-nander zu zeigen und zu sagen: Warum hast du nichts er-reicht?, sondern gemeinsam versuchen, weiter konstruk-tiv an einer großen Lösung zu arbeiten.Als Koalition haben wir vielleicht nicht die große Lö-sung, aber in vielen kleinen Bereichen einiges auf denWeg gebracht haben. Ich will mir keine Tatenlosigkeitvorwerfen lassen. Wir haben das Teilhabepaket auf denWeg gebracht, wir haben das Bundeskinderschutzgesetz– mit deutlichem Akzent auf dem Thema Prävention,zum Beispiel durch Familienhebammen – und die Offen-sive „Frühe Chancen“ – bis zu 4 000 Schwerpunktkitaszum Thema „Sprache und Integration“ – auf den Weggebracht. Vieles andere mehr ließe sich noch aufführen.Sie sehen: Auch in diesem Bereich geht die Koalitionvoran. Ich finde, wir können stolz auf die bisherige Bi-lanz unserer Kinderpolitik und der Eigenständigen Ju-gendpolitik sein. Ich würde mich freuen, wenn Sie sichin Ihren Anträgen statt auf blumige Worte auf konkreteForderungen konzentrierten. Lassen Sie uns gemeinsamkonkret an der weiteren Verbesserung der Situation vonKindern und Jugendlichen arbeiten. Beide Gruppen hät-ten es verdient.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Herr Tauber, ich bin ein Stück weitverwundert über Ihre Aussage. Sie haben einen Ver-gleich zwischen Bayern und Berlin angestellt, dabei wis-sen Sie sehr genau, dass sich die soziale Zusammenset-zung der Bevölkerung in Berlin deutlich von der inBayern unterscheidet. Sie wissen genauso gut wie ich,dass es Familienkonstellationen gibt, Alleinerziehendezum Beispiel, die im Durchschnitt deutlich stärker vonSozialleistungen abhängig und von Armut betroffensind. Den Alleinerziehenden das zum Vorwurf zu ma-chen und an die Berliner Politik zu appellieren, für bes-sere Vorbilder zu sorgen, finde ich, gelinde gesagt, ziem-lich arrogant.
Das hat mit einem Politikansatz, der danach fragt, wieman den Betroffenen helfen kann, überhaupt nichts zutun.Schön finde ich aber, dass Sie zumindest zur Kenntnisnehmen, dass wir in unserem Land ungleiche Lebensbe-dingungen für Kinder und Jugendliche haben. Wir wis-sen aus diversen Untersuchungen – das wissen wir nichterst seit diesem Kinder- und Jugendbericht, der sichauch mit der Kindergesundheit beschäftigt –, dass sichdiese ungleichen Lebensbedingungen auf die psychi-sche, die körperliche und die soziale Entwicklung vonKindern auswirken. Die Expertenkommission, die die-sen Kinder- und Jugendbericht erarbeitet hat, hat nichtohne Grund gesagt, dass Armut und soziale Benachteili-gung die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ge-fährden.Nun ist die Frage, wie man mit solchen Erkenntnissenumgeht. Es ist bestimmt nicht sinnvoll, die Debatte überdiesen Bericht immer wieder zu vertagen. Deshalb binich sehr froh darüber, dass aufgrund der Anträge der Op-position heute endlich über diesen Bericht diskutiertwird. Sinnvoll war mit Sicherheit auch das nicht, wasdiesbezüglich in der Bundespolitik in den letzten Jahrenpassiert ist. Ich will das kurz nennen: Die Regelsätze fürKinder und Jugendliche sind nach wie vor nicht nach ih-rem Bedarf bemessen. Es tut mir leid, das hier noch ein-mal feststellen zu müssen, aber der Paritätische Wohl-fahrtsverband hat schon vor Jahren eine Expertise vor-gelegt, die belegt, dass diese Regelsätze deutlich unter-bewertet sind. Allein in der Altersgruppe der 6- bis unter14-Jährigen liegt der Regelsatz monatlich 86 Euro unterdem tatsächlichen Bedarf, und das hat eine Unterversor-gung in den Bereichen Nahrung, Kleidung und Bildungzur Folge. Die Bundespolitik schaut seit Jahren zu, ob-wohl sie weiß, dass einige Eltern gar keine Chance ha-ben, ihre Kinder gesund zu ernähren, sie ausreichend zukleiden und zu fördern.Diesbezüglich ist in den letzten Jahren nichts passiert.Das Bundesverfassungsgerichtsurteil hatte bezüglich derKinderregelsätze keinerlei Konsequenz. Man muss essogar als Gunst der christlich-liberalen Koalition verste-hen, dass die Sätze nicht abgesenkt wurden. Das wurdeuns hier häufig genug erzählt. Das kann nicht sein. Ichsage immer noch und immer wieder: Kinder sind keinekleinen Erwerbslosen, und deshalb muss endlich einkindgerechter Regelsatz berechnet werden.
Weitere Stichworte möchte ich hier kurz nennen. DasStichwort Präventionsprogramme ist in der Debatte schongefallen. Von einem Präventionsgesetz sind wir meilen-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23415
Diana Golze
(C)
(B)
weit entfernt. Was es gibt, sind bunte Broschüren undProjekte, die in der Realität aber nicht helfen.Das Bildungs- und Teilhabepaket wurde angespro-chen. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass dasGeld nicht einmal bei der Hälfte der berechtigten Ju-gendlichen ankommt. Natürlich kann man den Elternvorwerfen, dass sie die Anträge nicht stellen. Wer aberein so kompliziertes Konstrukt erfindet, in dem Wissen,dass das Geld bei den Kindern und Jugendlichen nichtankommt, muss sich doch an die eigene Nase fassen undhier endlich etwas ändern. Das setzt aber voraus – MarleneRupprecht hat angesprochen, dass wir gestern in derKinderkommission über Beteiligung gesprochen haben –,dass man Kindern und Jugendlichen gegenüber eine ge-wisse Haltung hat. Das setzt voraus, dass man Kinderund Jugendliche endlich als eine eigene Bevölkerungs-gruppe mit eigenständigen Ansprüchen an die Gesell-schaft begreift.Damit bin ich bei dem Antrag der Koalitionsfraktio-nen zu einer Eigenständigen Jugendpolitik. Ich wusste,dass Sie das Deutschlandstipendium nennen. Die Ziel-gruppe dieses Stipendiums ist so klein, dass das für michkein Bestandteil einer Eigenständigen Jugendpolitik ist.Auch aufgrund der unübersehbaren Zahl an Prüfaufträ-gen habe ich nicht die Hoffnung, dass Sie in dieser Re-gierungszeit zu einem Ende der Prüfungen, geschweigedenn zu wirklichen Verbesserungen kommen. Dass Siein diesem Zusammenhang die Privilegierung des Kin-derlärms nennen, verstehe ich überhaupt nicht. Ich bitteSie! Sie schließen den Jugendlärm damit explizit aus.Das ist doch kein Beispiel für eine Eigenständige Ju-gendpolitik. Das ist hier völlig fehl am Platz.Es bleibt dabei: Die Tatsache, dass man eine Eigen-ständige Jugendpolitik in den Koalitionsvertrag hinein-geschrieben hat, bringt noch nichts. Dass Sie die Fach-gespräche mit den Verbänden aufgenommen haben, istlöblich, aus meiner Sicht aber selbstverständlich undkein Bestandteil einer Eigenständigen Jugendpolitik.Das heißt zusammenfassend: Wenn wir diesen Kin-der- und Jugendbericht und die Kinder- und Jugendbe-richte der letzten Jahre ernst nehmen, dann müssen wiruns den Kindern und Jugendlichen als eigenständige Be-völkerungsgruppe nähern. Wir müssen den Vorrang desKinder- und Jugendhilfegesetzes vor den anderen So-zialgesetzbüchern – das ist der allererste und wichtigsteSchritt – endlich in der Realität durchsetzen. Wir müssenein Aufwachsen in Armut verhindern. Diesbezüglich istnoch eine ganze Menge zu tun.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Katja Dörner für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Wir haben einen sehr aufschlussreichenBericht mit durchaus spannenden und bemerkenswertenHandlungsvorschlägen vorgelegt bekommen. Erstmalshat sich ein Kinder- und Jugendbericht dezidiert mit dergesundheitsbezogenen Prävention und der Gesundheits-förderung von Kindern und Jugendlichen befasst, understmals – auch das finde ich sehr bemerkenswert –wurde die Situation von Kindern mit Behinderung aus-drücklich aufgenommen und mit in den Blick genom-men.Mich irritiert aber sehr – das muss ich sagen –, dassdie Regierungsfraktionen zum gesamten Bericht wenigbeizutragen und nichts zu sagen haben. Sie haben sichoffensichtlich nicht mit den Handlungsvorschlägen aus-einandergesetzt, und sie befinden es auch nicht für not-wendig, der Regierung einen klaren Auftrag im Sinne ei-nes Forderungskatalogs, beispielsweise in Form einesAntrags, zum 13. Kinder- und Jugendbericht mitzuge-ben.
Diese Geringschätzung eines so wichtigen Themas –das muss ich sagen – lässt eine gewisse Fassungslosig-keit bei mir aufkommen. Denn es ist bei weitem nicht so,als wäre alles in Butter. Der 13. Kinder- und Jugendbe-richt, aber auch viele Studien belegen, dass die Kinder inDeutschland sehr unterschiedliche Chancen haben, gutund gesund aufzuwachsen. Die Gesundheitsrisiken kon-zentrieren sich bei ungefähr 20 Prozent der Kinder undJugendlichen. Betroffen sind insbesondere diejenigenaus sozial schwächeren Familien und diejenigen mit Mi-grationshintergrund. Diese Ungerechtigkeit darf uns dochnicht kalt lassen.Wir wissen auch, dass es eine Verlagerung innerhalbdes Krankheitsspektrums gegeben hat, und zwar von denakuten zu den chronischen Erkrankungen, von den so-matischen zu den psychischen Störungen. Die Ursachendafür liegen unter anderem im Bewegungsmangel, infalscher Ernährung, aber eben auch in einem zunehmen-den Verlust von Sicherheit und von sozialer Einbindung.All das zeigt, wie wichtig es ist, heute konsequent zuhandeln. Man darf sich vor diesen Problemen nicht ein-fach wegducken, wie diese Bundesregierung und die Re-gierungsfraktionen es tun.
Es wurde nach konkreten Vorstellungen und Forde-rungen gefragt. Diese möchte ich hier gerne anbringen.Wir brauchen beispielsweise ein Präventionsgesetz, dasalle Akteure zusammenbringt und in dem verbindlichgeregelt wird, wie die Zusammenarbeit und die Finan-zierung zu gestalten sind. Wir müssen beispielsweise dieBundesländer darin unterstützen, in den Schulen gesund-heitsförderliche Lernbedingungen zu schaffen. Die Ver-mittlung von Gesundheits- und Ernährungskompeten-zen, Bewegungsangebote und eine ausgewogene Ernäh-rung gehören unbedingt dazu.
Metadaten/Kopzeile:
23416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Katja Dörner
(C)
(B)
Wir haben eine Reihe ungelöster Schnittstellenpro-bleme; sie sind eben schon angesprochen worden. Diesemüssen wir uns auch dringend vorknöpfen. Ich erwähneals Beispiel die Komplexleistung Frühförderung. Diesbetrifft insbesondere auch die Aufsplitterung der Leis-tungen für Kinder mit Behinderung zwischen der Ju-gendhilfe und der Eingliederungshilfe; auch das ist hierschon angesprochen worden. Ich freue mich, dass hieroffensichtlich ein breiter Konsens besteht, dass wir auskinder- und familienpolitischer Perspektive eine großeLösung anstreben sollten. Ich bin froh, dass dieser Vor-schlag in der Stellungnahme der Bundesregierung zum13. Kinder- und Jugendbericht explizit gemacht wird.Wir brauchen viel mehr Vernetzung zwischen denAngeboten aus dem Gesundheitsbereich und der Kinder-und Jugendhilfe. Aber das darf man von der Bundes-ebene aus nicht immer nur von den anderen einfordernund erwarten, sondern man muss da selber auch mit gu-tem Beispiel vorangehen. Doch davon ist leider bei die-ser Bundesregierung überhaupt nichts zu spüren. Beiganz zentralen Aufgaben der letzten Monate und Jahrewar das leider sehr eindeutig. Ich nenne als Beispiel nurdas Programm „Frühe Hilfen“ und die Familienhebam-men. Es ist sehr offensichtlich, dass der Gesundheitsmi-nister die Familienministerin ziemlich schnöde hat auf-laufen lassen. Wir alle haben das Programm unterstützt;wir alle fanden, dass das ein richtiges Programm ist. An-gedacht war jedoch eine notwendige Vernetzung vonGesundheits- und Familienpolitik mit einem gemeinsa-men Konzept und strukturell verankerter Finanzierungund nicht ein kleines Progrämmchen im Familienminis-terium.Hier hat – auch das muss man einmal sagen – das Ge-sundheitsministerium offensichtlich die Zeichen der Zeitund auch die Notwendigkeiten der Zeit nicht erkannt.Vielleicht hat die Koalition ja auch deshalb keinen eige-nen Antrag zum 13. Kinder- und Jugendbericht vorge-legt. Ich finde jedenfalls, dass das ein Armutszeugnis fürdie schwarz-gelbe Politik ist.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Unser Antrag betont die Eigenständigkeit derJugendpolitik. Das setzt voraus, dass die Jugendzeit tat-sächlich eine eigenständige Zeit ist. Das hat die Politiknicht immer erkannt. Es gab ja eine Zeit, in der wir dieJugend- und die Kinderpolitik als einen Politikbereichangesehen haben. Wir wollen die Selbstständigkeit derJugendpolitik. Das haben Sie, Herr Bernschneider, be-tont, und das kann man nur unterstreichen; denn die Ju-gendzeit ist eine selbstständige Zeit. Sie hat ihren Sinn insich. Sie ist eine Zeit, in der der Jugendliche zwar nochnicht Erwachsener ist, in der er aber nicht mehr Kind ist.Die Jugendzeit ist ihre Zeit, genauso wie die Kindheitihre Zeit ist. Jeder Abschnitt hat seinen Sinn in sich.Deswegen ist es richtig, eine Eigenständige Jugendpoli-tik zu betonen. Wer dies nicht tut, nimmt die Jugend ei-gentlich nicht ernst genug.Natürlich wollen wir dabei nicht nur die Problem-gruppen betrachten; das haben wir früher vielleicht zuoft getan. Wir haben manchmal nur die Problemgruppengesehen, nicht aber die Gesamtheit der Jugendlichen; da-rauf kommt es uns aber an. Wir wollen die Interessen al-ler Jugendlichen erkennen und versuchen, sie zu vertre-ten. Es kommt natürlich entscheidend darauf an, dass wirden Jugendlichen die Chance geben, sich zu entwickeln.Wir dürfen sie aber nicht bevormunden. Wir müssen siefördern, dürfen ihnen aber keinen Lebensentwurf vor-schreiben.Zugleich müssen wir es schaffen, den Jugendlichenbeizubringen – und zwar so, dass sie es in sich aufneh-men und dafür eintreten –, dass dieser Staat auf gewissenVoraussetzungen beruht, die man nicht einfach preisge-ben darf und für die man kämpfen muss, die der Staataber, wie Böckenförde gesagt hat, nicht selber garantie-ren kann. Die Jugendlichen und die anderen Menschen,die in einem Staat leben, können diese Grundlagen ga-rantieren. Geben wir diese Grundlagen auf, dann gebenwir unser ganzes Staatsgebilde auf. Dies deutlich zu ma-chen, ist, wie ich meine, ein wichtiger Auftrag der Ju-gendpolitik.
Ein Weiteres scheint mir wichtig zu sein: Es kommtimmer wieder vor, dass der Übergang von der Bildungs-zeit zur Berufszeit schwierig wird. Die Entscheidung füreinen bestimmten Beruf erfordert Mut. Die ganz breitePerspektive, dass einem Jugendlichen die Welt gewisser-maßen offensteht, wird in dem Augenblick verengt, indem er sich entscheidet, einen bestimmten Beruf zu er-greifen. Diese Entscheidung ist allerdings eine Zukunfts-entscheidung, in der die Zukunft zugleich Gestaltannimmt. Wenn sich nämlich jemand entscheidet,Schlosser, Schreiner, Arzt oder Anwalt zu werden, dannist das eine Verengung, aber zugleich die Gestaltung derZukunft.Wir wissen aus den Informationen, die uns vorliegen,dass gerade diese Phase für Jugendliche schwierig ist,weil die Entscheidung für einen bestimmten Beruf Muterfordert. Viele bringen diese Entscheidung nicht zu-stande, und sie tauchen ab. Deswegen gibt es in manchenKommunen – nicht in allen; aber eigentlich sollte sie inallen Kommunen eingeführt werden – eine Stelle, diesich um die Jugendlichen kümmert, die fragt: „Was isteigentlich aus dem und dem, der sein Abitur oder seinemittlere Reife gemacht hat, geworden?“ und dem nach-geht. Dafür stellt das Ministerium Geld bereit. Es mussnur in Anspruch genommen werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23417
Norbert Geis
(C)
(B)
Ich meine, es ist auch notwendig, dass wir den Ju-gendlichen einen vernünftigen Umgang mit den Medienzu vermitteln versuchen. Die Medien sind eine hervorra-gende Einrichtung. Gerade für Jugendliche aus nichtsehr wohlhabenden Familien und für Jugendliche mitMigrationshintergrund ist der Laptop eine Möglichkeit,an Wissen heranzukommen, an das sie sonst nicht soschnell kommen würden. Insofern ist das Internet, sinddie Medien eine ganz ausgezeichnete Möglichkeit fürdie Jugendlichen. Aber zugleich bergen sie Gefahren;das darf man nicht übersehen. Wir müssen dafür sorgen– das scheint mir auch Auftrag der Politik zu sein –, dassdie Jugendlichen Medienkompetenz erlangen, dass sienicht einfach alles in sich aufnehmen, sondern auch ler-nen, Inhalte einzuordnen und Abstand zu nehmen; dasist wichtig. Hier ist die Kommunalpolitik gefordert.
Aber noch viel mehr sind an dieser Stelle die Schulengefordert. Dafür zu sorgen, ist ein wichtiger Auftrag derSchule. Wir haben die Verpflichtung, den Schulen diesmitzuteilen. Es kommt darauf an, dass gerade in denSchulen die Medienkompetenz gestärkt wird.
Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich die Jugendfür die Öffentlichkeit engagiert und sich für die Aufga-ben in der Öffentlichkeit interessiert. Es gibt Politikver-drossenheit – das stellen wir immer wieder fest –, undzwar in allen Schichten. Woher kommt sie? Eine Ursa-che mag sein, dass die Jugend nicht richtig informiert istbzw. vielleicht auch gar nicht richtig informiert wird,weil die Jugendlichen, wenn sie abends den Fernsehereinschalten, zu jedem Thema diese und jene Meinunghören und oft nur Streit wahrnehmen.Das alles mag richtig sein, aber das bringt uns ja nichtweiter und nützt ja nichts. Wir müssen die Jugend trotz-dem an die Öffentlichkeit heranführen.Hier scheint es mir wichtig zu sein, sich die Gedankenzu machen, die Sie, Herr Bernschneider, hier vorgetra-gen haben. Wir müssen die Frage stellen: Wie könnenwir die Jugendlichen stärker teilhaben lassen und diePartizipation der Jugendlichen an der Öffentlichkeit undan den Aufgaben der Öffentlichkeit verstärken? Ich weißnicht, ob es der richtige Weg ist, dass man jetzt dasWahlalter senken und Volksentscheide herbeiführen will.Wenn sie nicht zur Bundestagswahl gehen, dann gehensie über kurz oder lang auch nicht zu Volksentscheiden.Das scheint nicht der richtige Weg zu sein.Ich glaube auch, dass die plebiszitären Elemente mitetwas mehr Vorsicht diskutiert werden müssen; denndurch die plebiszitären Elemente wird in einer Massen-demokratie die Verantwortung ausgeschaltet. Ich kanndas Volk für eine falsche Entscheidung nicht verantwort-lich machen, aber ich kann eine Partei oder eine Regie-rung für eine falsche Entscheidung verantwortlich ma-chen. Das Prinzip der Verantwortung gehört zu einerMassendemokratie.Ich glaube, dass die Jugendpolitik ein sehr wichtigerAnsatz in der Politik insgesamt ist. Deshalb freue ichmich über diese Diskussion heute. Sie soll unterstrei-chen, wie wichtig uns dieses Anliegen ist.Danke schön.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Stefan Schwartze für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Die Eckpunkte der Bundesregierung für eine Eigen-ständige Jugendpolitik liegen uns jetzt seit über einemJahr vor, aber erst durch unsere Kleine Anfrage ist dasParlament darüber informiert worden, was die Bundesre-gierung eigentlich plant.Bis zum Ende der Legislaturperiode sollen im Dialogmit verschiedenen Akteuren Leitlinien für eine Eigen-ständige Jugendpolitik erarbeitet und dem Kabinett vor-gelegt werden. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt dieAbsicht, Jugendpolitik wieder sichtbar zu machen.Wenn in den letzten Jahren über Jugendpolitik disku-tiert worden ist, dann sehr oft defizitorientiert: über Ju-gendkriminalität, über Alkohol oder über Jugendarbeits-losigkeit. Wer redet aber eigentlich über die großeMehrheit der Jugendlichen, die ihren Weg geht?
Wer hat eigentlich über die Probleme der Jugendlichenin Schule, Ausbildung, Studium oder Beruf diskutiert?Wer hat darüber diskutiert, dass junge Menschen Zeit zurOrientierung, Zeit für die eigene Entwicklung und Zeitfür das Meistern von Übergängen brauchen?Wir brauchen ein Klima der Anerkennung und desRespekts gegenüber den Jugendlichen, und wir müssenwieder einen eigenständigen Politikbereich für die Ju-gend begründen. Ziel muss eine jugendpolitische Ge-samtstrategie sein, wie sie leider schon lange nicht mehrsichtbar ist. Das sage ich an dieser Stelle auch ganzselbstkritisch.Jede neue politische Maßnahme und jedes neue Ge-setz müssen im Hinblick auf die Gesamtstrategie über-prüft werden. Wir brauchen einen Jugendpolitik-TÜV.
Es ist wichtig, dass die Leitlinien einer Eigenständi-gen Jugendpolitik auch ressortübergreifend diskutiertwerden. Das Jugendministerium muss zumindest eineKoordinationsfunktion für alle Politikfelder bekommen,die für die Jugend relevant sind. Dabei darf es keine Res-sortstreitereien geben. Ich weiß, Ihre Kernkompetenzvon Schwarz-Gelb ist eigentlich der Streit miteinander,
Metadaten/Kopzeile:
23418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Stefan Schwartze
(C)
(B)
aber den müssen Sie an dieser Stelle einmal unter denTisch fallen lassen.
Die SPD hat die Jugendpolitik zum Thema ihres ers-ten Parteikonvents gemacht, und wir haben im Juni einenLeitantrag zur Eigenständigen Jugendpolitik verabschie-det. Das war ein wichtiger und gut beachteter Impuls fürdie Jugendpolitik.
Wo bleibt aber eigentlich Ihr Impuls?
Die Koalition schreibt den Antrag der Linken zumThema „Jugendfreundlichste Kommune“ ab.
Von uns kopieren Sie den Antrag zum Erhalt des Pro-jekts der U-18-Wahlen. Herzlichen Glückwunsch! Dashat die SPD schon für den letzten Haushalt gefordert.Gut, dass Sie diesen Weg jetzt mitgehen.Gegen die einzelnen hier geforderten Maßnahmen istnicht viel zu sagen:
ob das die Ausschreibung eines Preises für ein Praxis-handbuch zur kulturellen Bildung ist oder der Preis fürdie jugendfreundlichste Kommune. Aber das kann dochan dieser Stelle nicht wirklich alles sein.Jugendpolitik muss die Interessenvertretung für allejungen Menschen sein.
Die SPD will weder eine defizit- noch eine elitefixiertePolitik.
Wir wollen alle befähigen, ihre Talente zu entdecken undihre Persönlichkeit zu entwickeln.
Im Bildungssystem brauchen junge Menschen auchzweite und dritte Chancen. Man muss Fehler machendürfen.
Junge Leute brauchen diese Freiräume.
Sie brauchen Unterstützung beim Übergang von Schulein Beruf. Sie brauchen einen Rechtsanspruch auf einenSchulabschluss und auf eine Berufsausbildung.
Was tun Sie gegen die prekäre Beschäftigung, die be-sonders oft die jungen Menschen nach der Ausbildungtrifft? Wir dürfen an dieser Stelle keinen jungen Men-schen zurücklassen. Wir brauchen eine echte Partizipa-tion von jungen Menschen. Wir brauchen das Wahlrechtab 16 Jahren auch auf der Bundesebene.
Dazu findet sich in Ihren Anträgen kein Wort.Eine Eigenständige Jugendpolitik ist eindeutig mehrals das, was Sie hier auf den Tisch legen. Sie braucheneine Gesamtstrategie und das notwendige Geld. Beidesspielt in Ihren Anträgen leider keine Rolle.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend auf Drucksache 17/4754. Der Aus-schuss empfiehlt, in Kenntnis des 13. Kinder- und Ju-gendberichts der Bundesregierung auf Drucksache 16/12860, unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlungdie Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD aufDrucksache 17/3178 mit dem Titel „Gesundes Aufwach-sen von Kindern und Jugendlichen fördern“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung derGrünen angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/3863 mit dem Titel „GesundesAufwachsen für alle Kinder möglich machen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen dieStimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung derSPD angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/10777. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltungvon SPD und Grünen abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend auf Drucksache 17/9840. Der Aus-schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktion derCDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9397 mit demTitel „Eigenständige Jugendpolitik – Mehr Chancen für
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23419
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(C)
(B)
junge Menschen in Deutschland“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender drei Oppositionsfraktionen angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/7846 mit dem Titel „Die jugendfreundlichsteKommune Deutschlands“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen ange-nommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zu Änderungen im Bereich der ge-ringfügigen Beschäftigung– Drucksache 17/10773 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit HaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höredazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen MaxStraubinger für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! DieFraktionen der CDU/CSU und der FDP bringen heute ei-nen Gesetzentwurf ein, mit dem die Geringfügigkeits-grenzen von 400 Euro auf 450 Euro und die Grenze fürdas monatliche Gleitzonenentgelt ebenfalls um 50 Euroauf 850 Euro angehoben werden sollen. Wir sind derMeinung, dass diese Erhöhung angemessen und notwen-dig ist, weil wir seit 2003 eine starke Lohnentwicklungfeststellen können, aber die starre Entgeltgrenze bei ge-ringfügiger Beschäftigung bei 400 Euro geblieben ist.Dies wollten wir ändern.
Ich möchte zunächst anmerken, dass eine Geringfü-gigkeitsgrenze notwendig ist. SPD und Grüne haben inihrer Regierungszeit die Möglichkeit der geringfügigenBeschäftigung stark eingeschränkt, um nicht zu sagen:letztendlich ad absurdum geführt, und zwar dadurch,dass sozialversicherungspflichtig Beschäftigte keine zu-sätzliche geringfügige Beschäftigung als bezahlte Arbeitaufnehmen konnten. Infolgedessen musste festgestelltwerden, dass es vermehrt Schwarzarbeit gab. Die jüngstedazu durchgeführte Umfrage zeigt das sehr deutlich.
– Zu den Haushalten wurde angegeben, Frau KolleginFerner, dass 10 Prozent Hausarbeiten grundsätzlich inSchwarzarbeit verrichten.
– Doch, das ist sogar heute noch der Fall.
18 Prozent haben erklärt, dass sie, wenn sie Arbeit anzu-bieten hätten, diese ebenfalls in Schwarzarbeit verrich-ten lassen.Deshalb ist es meines Erachtens notwendig, dass wirdie Geringfügigkeitsgrenze regeln, weil es um Beschäf-tigung unsteter Art geht, die freundlich für die Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer auszugestalten ist, näm-lich indem sie brutto für netto ausgezahlt bekommen.Das ist der Sinn.
Das bedeutet auch, Frau Kollegin Ferner, dass es damitmehr Rechtstreue auf dem gesamten Arbeitsmarkt gibt.
– Natürlich geht es um Rechtstreue. – Darüber hinaus istauch mit wesentlich stärkeren Sozialversicherungsbeiträ-gen für unsere sozialen Sicherungssysteme zu rechnen.Die Arbeitgeber sind bei einem geringfügigen Beschäfti-gungsverhältnis verpflichtet, eine pauschale Umlage von30,88 Prozent abzuführen. Davon erhalten die gesetzli-che Rentenversicherung 15 Prozent und die gesetzlicheKrankenversicherung 13 Prozent.
2 Prozent fließen in die Arbeitslosenversicherung. Hinzukommen die pauschale Lohnsteuer bzw. die Kirchen-steuer.Frau Kollegin Ferner, es wird immer wieder unter-stellt, dass Arbeitgeber in ihrer Gesamtheit ein Interessedaran haben, Aufgaben zu stückeln und möglichst vielegeringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen.Das kann nicht im Interesse eines Arbeitgebers sein.Denn die 30,88 Prozent muss der Arbeitgeber alleine tra-gen,
während er bei einer sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigung nur den hälftigen Satz zu tragen hat, nämlichrund 19 Prozent.Sehr deutlich ist auch, dass es ein großes Interesse derBürgerinnen und Bürger an diesen Beschäftigungsver-
Metadaten/Kopzeile:
23420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Max Straubinger
(C)
(B)
hältnissen gibt. Darüber hinaus können damit unregel-mäßig vorkommende Arbeitsspitzen bewältigt werden.Das hilft dem Betriebsinhaber.Die Tankstelle, an der ich zu tanken pflege, wird vomBetriebsinhaber und seiner Ehefrau betrieben. Sie sagen:Wir brauchen ab und zu eine Entlastung beim Kassieren.– Die Tankstelle ist bis 10 Uhr abends geöffnet. Deshalbwerden Schüler und Studenten eingesetzt, die froh sind,in einem solchen Beschäftigungsverhältnis arbeiten zukönnen und damit eine Zuverdienstmöglichkeit zu ha-ben,
weil sie als Schüler oder Studenten nicht Vollzeit er-werbstätig sein können. Geringfügige Beschäftigungs-verhältnisse bieten diese Möglichkeit.
Deshalb schlagen wir die Erhöhung vor.Zusätzlich schlagen wir vor, dass geringfügige Be-schäftigungsverhältnisse zukünftig generell rentenversi-cherungspflichtig sind.
Wenn wir zum 1. Januar des nächsten Jahres den Bei-tragssatz absenken, bedeutet das für den Einzelnen einenBeitragsaufwand von 4 Prozent. Bei 450 Euro sind das22 Euro Eigenbeitrag bei voller Leistung aus der Ren-tenversicherung – ob im Erwerbsunfähigkeitsfall oderim Alter. Dafür plädieren wir.Leider ist eine Opt-out-Regelung vereinbart, die es er-möglicht, dass man sich letztendlich wieder davon ver-abschiedet.
Ich bin davon überzeugt, dass Sie das nicht tun werden.Ich appelliere auch an unseren Koalitionspartner, noch-mals über eine generelle Rentenversicherungspflichtnachzudenken, weil das weniger Bürokratie in den Be-trieben bedeuten würde
und im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,die dann versichert sind, ist. Auch die Arbeitgeberver-bände – der HDE und die Gebäudereinigerverbände –plädieren für eine generelle Rentenversicherungspflichtfür geringfügige Beschäftigungsverhältnisse.Es wird immer insinuiert, geringfügige Beschäftigungsei prekäre Beschäftigung.
Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind aber ganzreguläre Arbeitsverhältnisse
mit Anspruch auf Urlaubsgeld und mit Anspruch aufLohnfortzahlung im Krankheitsfall.
Das ist alles gesetzlich geregelt, werte Kolleginnen undKollegen aus den linken Reihen dieses Hauses. Wir müs-sen vielleicht daran arbeiten, dass dies noch stärkerdurchgesetzt wird.In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeitund bitte um Ihre Unterstützung unseres Gesetzes.
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Beidiesem Gesetzentwurf zeigen Sie, meine Damen undHerren von den Koalitionsfraktionen, Ihr wahres Ge-sicht. Sie sind sich selbst für den gröbsten Unfug nichtmehr zu schade.
– Entweder wissen Sie nicht, was Sie beschließen, oderSie kennen die Realität nicht. Eines von beidem muss essein.Wer sich nämlich die Zahlen zu den Minijobstruktu-ren anschaut, kann einen solchen Gesetzentwurf nichternsthaft zur Abstimmung stellen. Denn anstatt prekäreBeschäftigung abzubauen, vergrößern Sie sie noch. Siesollten wissen, Herr Straubinger, was unter prekärer Be-schäftigung zu verstehen ist. Ich will deshalb die Zahlennoch einmal ein bisschen deutlicher machen.Minijobs sind weiblich. Mehr als zwei Drittel der Mi-nijobs werden von Frauen ausgeübt. Wir wissen aus vie-len Untersuchungen, dass zwei Drittel gerne mehr arbei-ten würden, als sie es in einem Minijob oder auch inTeilzeit tatsächlich tun. Aber insbesondere die Frauensind in den Minijobs gefangen. Sie verfestigen mit dieserMinijobvariante in Verbindung mit der beitragsfreienMitversicherung in der gesetzlichen Krankenversiche-rung, dem Ehegattensplitting und der Steuerklasse Vauch noch die Rolle der Ehefrauen als Zuverdienerinnender Familie. Das kann ja wohl niemand ernsthaft bestrei-ten, auch bei Ihnen nicht.
Über 5 Millionen Menschen haben nur einen Minijob,sonst keinen. Wenn man sich anschaut, welche Renten-ansprüche daraus entstehen – darauf komme ich nochzurück – und dass gerade in der Gruppe der 40- bis55-Jährigen 1,4 Millionen Menschen nur einem Minijob– keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23421
Elke Ferner
(C)
(B)
nachgehen, dann kann man sagen, dass heute die Grund-lagen für die Altersarmut von morgen gelegt werden. Sieverschärfen dieses Problem mit Ihrem Gesetzentwurfnoch.
Sie erhöhen die Einkommensgrenzen, bis zu denenMenschen ohne eigenständige soziale Absicherung ar-beiten. Das ist absurd, und das ist vor dem Hintergrundder Debatte, die Frau von der Leyen eben in Bezug aufden Rentenversicherungsbeitrag noch einmal geführthat, auch scheinheilig. Frau von der Leyen beklagt inSonntagsreden die Altersarmut, insbesondere die vonFrauen, und werktags lässt sie ihr Ministerium eine For-mulierungshilfe für einen Gesetzentwurf schreiben wieden, den Sie heute einbringen, mit dem die Altersarmutnoch vergrößert wird. Die Wahrheit ist: Sie erhöhen dieungeschützte Beschäftigung, statt sie zu verringern, undverringern die geschützte Beschäftigung, statt sie zu er-höhen. Das ist die Folge dessen, was Sie machen.
Herr Straubinger, Sie haben zu Recht auf die gesetzli-chen Regelungen verwiesen. Aber in Wahrheit – das wis-sen wir alle – sind die ungeschützten Beschäftigungsver-hältnisse, also Minijobs und geringfügige Beschäftigung– das suggeriert der Name schon –, in der Realität Ar-beitsverhältnisse nicht zweiter, sondern dritter Klasse.Die Beschäftigten wissen häufig nicht um ihre Rechte.Sie wissen nicht, dass sie einen Anspruch auf Lohnfort-zahlung im Krankheitsfall haben. Sie wissen in der Regelnicht um ihr Recht auf bezahlten Urlaub. Und sie wissenauch nicht um ihr Recht auf gleiche Bezahlung bei glei-cher Arbeit. Die Arbeitgeber enthalten ihnen dieseRechte vor; denn nur so lohnt sich das für die Arbeitgeber,Herr Straubinger. Ich möchte den Arbeitgeber kennenler-nen, der freiwillig 30 Prozent zahlt, wenn er nur 20 Pro-zent Sozialversicherungsabgaben zahlen muss. Die Ar-beitgeber sparen an anderen Stellen. Sie zahlen zwar28 Prozent Sozialabgaben plus Pauschalsteuer, sparendas aber ein, indem sie den Minijobberinnen und Mini-jobbern das vorenthalten, was ihnen gesetzlich zusteht.Sie, Herr Straubinger, haben eben gesagt, dass Sie Geset-zestreue einfordern. Da frage ich mich: Wo enthält dennIhr Gesetzentwurf Maßnahmen, die dazu dienen, denMissbrauch, der Tag für Tag bei den Minijobs stattfindet,zu bekämpfen?
Die Minijobberinnen werden in der Regel schlechterbezahlt. Zwei Drittel aller Minijobberinnen arbeiten fürStundenlöhne in Höhe von weniger als 8,50 Euro. Sie er-halten häufig weniger Geld als die Teilzeitkollegin oderder Vollzeitkollege, obwohl sie die gleiche Arbeit ma-chen. Sie erhalten kein Geld, wenn sie krank werden,und auch keinen bezahlten Urlaub.Es gibt auch ganz Schlaue, die die Gesetze formaleinhalten; das hören wir ja immer wieder. Zuerst wirdeine niedrige Stundenzahl vereinbart. Dann gibt es regel-mäßig Mehrarbeit. Wenn die Menschen dann krank wer-den oder bezahlten Urlaub machen wollen, dann werdendie Lohnersatzleistung und das Urlaubsgeld auf Basisder geringen Stundenzahl berechnet. Das hat doch nichtsmit Gesetzestreue zu tun. Das kann auch niemand ernst-haft wollen. So kann man auf keinen Fall sozialversiche-rungspflichtige und existenzsichernde Beschäftigungschaffen. Vor diesem Hintergrund kann ich, ehrlich ge-sagt, nicht verstehen, warum Sie einen solchen Vor-schlag machen, der vor allem zulasten der Frauen geht.Von der FDP erwartet man eigentlich nichts anderes.Aber dass die Union einen solchen Gesetzentwurf unter-stützt, ist mir ein Rätsel.Herr Straubinger, Sie begründen diesen groben Unfugmit dem Hinweis, dass es nun endlich einen Inflations-ausgleich geben muss. Das ist schon sehr bemerkens-wert. Ich finde das, was Sie da machen, ziemlich schräg.Sie erdreisten sich sogar, das in die Begründung des Ge-setzentwurfs aufzunehmen. Einen Inflationsausgleichbekommen die Beschäftigten, um die es hier geht, nichtdadurch, dass man die Grenzen anhebt. Das bringt nochkeinen Cent mehr in die Taschen. Eigentlich müsste einInflationsausgleich bzw. eine Lohn- oder Gehaltserhö-hung parallel zur Entwicklung bei den regulär Beschäf-tigten erfolgen.
Herr Weiß, Sie suggerieren den Menschen: Weil wirdie Grenze auf 450 Euro erhöhen, bekommt ihr ab 1. Ja-nuar nächsten Jahres statt 400 Euro 450 Euro. – Dasstimmt aber nicht. Wenn die Arbeitszeit gleichbleibt,gibt es nicht 50 Euro mehr. Was Sie hier machen, istmehr als schräg. Das Schlimmste ist, dass Sie mehrMenschen in ungeschützte Beschäftigung drängen, alswir heute ohnehin schon haben.Schauen wir uns einmal an, wie sich das Ganze aus-wirkt. Wer heute 450 Euro brutto verdient, bekommtnach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträ-gen in der Steuerklasse V 314 Euro netto; nach derGleitzonenvariante sind es ungefähr 350 Euro. Jetztbrauche ich doch nicht lange zu raten, wie sich Men-schen, die jeden Cent zweimal umdrehen müssen, ver-halten werden, damit ihnen 450 Euro netto ausbezahltwerden können. Denn die Ehefrau ist beim Ehemannbeitragsfrei mitversichert, die hohen Steuern in der Steu-erklasse V fallen auch nicht an, und der Splittingvorteilerhöht sich sogar noch, welch Wunder. Man muss schonsehr willensstark sein, wenn man diesen Verlockungenwidersteht. Es werden viele in dem Einkommensseg-ment die Minijobvariante wählen und damit aus der So-zialversicherung ausscheiden; denn diese Option bestehtimmer noch. Das scheint Ihrem Kalkül zu entsprechen.
Ich muss sagen: Dieser Gesetzentwurf ist das Papiernicht wert, auf dem er steht. Ich hoffe, dass er nicht be-schlossen wird. Am besten würden Sie, Herr Straubinger,diesen Gesetzentwurf einfach zurückziehen; denn er wirdnicht gebraucht.
Metadaten/Kopzeile:
23422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Elke Ferner
(C)
(B)
Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mi-nijobs – das ist der Grund, warum wir als Koalitionsfrak-tionen diesen Gesetzentwurf hier vorlegen – sind ein Teildes erfolgreichen deutschen Arbeitsmarkts;
sie werden von den Menschen nicht nur gebraucht, son-dern sie sind auch beliebt – und das hat Gründe.
Sie leisten einen positiven Beitrag zur Bekämpfungder Schwarzarbeit – Kollege Straubinger hat es ausge-führt –, gerade in den privaten Haushalten. Frau Kolle-gin Ferner, Sie haben sich eben nicht vorstellen können,warum auch Unternehmen Interesse an Minijobs haben.Der Kollege Straubinger hat ein Beispiel aus der Praxisgebracht, nämlich das des Tankstellenbetreibers; dennUnternehmen brauchen zum Beispiel Flexibilität.
Vor allem leisten Minijobs einen positiven Beitrag fürdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem Ar-beitsmarkt; denn sie ermöglichen ganz vielen unter-schiedlichen Menschen in diesem Land, die aus den un-terschiedlichsten Altersgruppen kommen und sich in denunterschiedlichsten Lebenssituationen befinden, sich un-kompliziert etwas dazuzuverdienen, und das ist richtig.Deshalb ist es auch richtig, dass wir uns zu den Minijobsbekennen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Op-position.
In Minijobs ist die vielfältigste Gruppe beschäftigt,die wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben. Da istdie Studentin, die sich neben ihrem Studium mit Kell-nern etwas dazuverdient; da ist der Feuerwehrmann, deram Wochenende gerne beim Cateringservice ein paarStunden aushilft; da ist die Seniorin, die noch bei einerNachbarin ein paar Stunden im Haushalt tätig sein will.Das sind nur drei Beispiele, die ich aus meinem persönli-chen Bekanntenkreis nennen will. All diese Menschenüben Minijobs aus. Sie können die Minijobs nicht aufwenige Fälle, wo wir möglicherweise Probleme haben,reduzieren. Das wird diesem Instrument einfach nichtgerecht. Es gibt 7 Millionen Minijobber in diesem Land,Frau Kollegin Ferner.
Weil Minijobs ein beliebter Teil des erfolgreichendeutschen Arbeitsmarkts sind, ist es auch richtig, dasswir den Minijobbern zum ersten Mal seit zehn Jahren ei-nen Inflationsausgleich ermöglichen. Immerhin ein Drit-tel der Minijobber arbeitet an der Grenze zu 400 Euro.
Es gibt viele, denen der Arbeitgeber gerne eine Gehalts-erhöhung geben würde. Früher waren die Minijobs sogarindexiert. Da ist die Grenze automatisch gestiegen. Es istrichtig, dass wir jetzt, nach zehn Jahren, eine Erhöhungvornehmen und die Grenze von 400 auf 450 Euro anhe-ben.
Es ist auch richtig, dass wir im Bereich der Renten-versicherung ein System von Opt-out einführen;
denn wir reden darüber, bei Menschen mehr Bewusst-sein zu schaffen, damit sie sich mehr Gedanken über ihrerentenrechtliche Absicherung machen. Auch wenn Mini-jobs oft nur für eine kurze Zeit im Leben das Instrumentder Wahl sind, ist es richtig, dass derjenige, der sichkeine Gedanken macht, automatisch die vollen Beiträgein die Rentenversicherung einzahlt und dadurch Vorteileerwirbt. Gleichzeitig muss niemand, der das nicht will,weil er etwa als Student noch nichts einzahlen will, mehreinzahlen als heute. Deshalb ist Opt-out eine gute Lö-sung, der auch Sie eigentlich zustimmen könnten.
Ich will in der zweiten Hälfte meiner Redezeit,
weil die Argumente, warum man das dringend machenmuss, eigentlich auf der Hand liegen, darauf eingehen,was Sie den Minijobs vorwerfen. Was haben wir ebenwieder gehört? Es würde eine Verdrängung sozialversi-cherungspflichtiger Beschäftigung durch die Minijobsstattfinden.
Da hilft es, sich einfach einmal die Fakten anzuschauen.Ich zitiere jetzt die offiziellen Zahlen der Minijobzen-trale, also der zuständigen Behörde. Drei Viertel der Ar-beitgeber, die Minijobber beschäftigen, beschäftigen nurbis maximal drei Minijobber.
Wenn Sie eine Vollzeitstelle durch Minijobs ersetzenwollten – und das wird immer wieder behauptet –,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23423
Johannes Vogel
(C)
(B)
bräuchten Sie schon vier. Das kann schon einmal nichtaufgehen.
– Ich antworte gerne auf eine Zwischenfrage.
Sie sind schon zu einer Zwischenfrage eingeladen,
Frau Kollegin Zimmermann.
Eine Frage von der Kollegin Zimmermann, der Aus-
schussvorsitzenden, immer gern.
Danke, Herr Vogel; danke, Herr Präsident.
Herr Vogel, stimmen Sie mir zu oder ist Ihnen be-
kannt – fragen wir lieber so –, dass es gerade im Handel
durch die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten einen
Verdrängungseffekt bei Vollzeitarbeitsplätzen gibt und
dass dort aus Vollzeitarbeitsplätzen ein, zwei oder drei
Minijobs entstanden sind? Ist Ihnen das bekannt?
Mir sind die Zahlen im Handel sehr gut bekannt, dennauch sie kann man bei der Minijobzentrale erfragen. Da-bei kommt Folgendes heraus: Erstens. Für den gesamtenArbeitsmarkt gilt, was ich eben gesagt habe: Drei Viertelder Arbeitgeber beschäftigen gar nicht so viele Minijob-ber, dass sie auch nur eine Vollzeitstelle ersetzen könn-ten.
– Ich komme gleich zum Handel.Zweitens. Die Zahl der sozialversicherungspflichti-gen Beschäftigungen, die ja in diesen Monaten inDeutschland Rekordwerte erreicht, wächst erheblichstärker als die Zahl der Minijobber in Deutschland insge-samt.
Das heißt, offensichtlich findet hier keine Ersetzungstatt.
Das führt dazu, dass der Anteil von Minijobs im Verhält-nis zu sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungenseit 2003, seitdem die rot-grüne Regierung die heutigeRegelung eingeführt hat, gar nicht zugenommen hat.
Es sind also im Verhältnis nicht mehr Minijobs entstan-den, sondern eine Zunahme erfolgte zugunsten der so-zialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Das, FrauKollegin Zimmermann, gilt genauso für den Handel undübrigens ebenso für das Gaststättengewerbe. Eine Erset-zung müsste ja dazu führen, dass der Anteil der Minijob-ber im Verhältnis zu den sozialversicherungspflichtigBeschäftigten zunimmt.
Das Gegenteil ist der Fall, Frau Kollegin Zimmermann.Ersetzung sieht bei aller Liebe anders aus. Sie ist einfachnicht festzustellen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Kommen wir zu dem zweiten Argument, das ich im-mer wieder höre, Minijobs würden bedeuten, die Men-schen in den Niedriglohn abzuschieben.
Jetzt muss man berücksichtigen, dass den Minijob ausSicht des Arbeitnehmers ja gerade ausmacht, dass er seinGehalt brutto für netto bekommen kann. Das heißt, hierist es nicht fair, das Bruttogehalt zu vergleichen;
vielmehr müssen wir uns das Nettogehalt anschauen.
Dann schauen wir uns einmal das durchschnittlicheNettogehalt von Minijobbern an. Wir sind uns, glaubeich, alle einig: Minijobber sind in der Regel nicht Rake-tenwissenschaftler;
vielmehr handelt es sich natürlich eher um einfache Tä-tigkeiten. Trotzdem liegt das Nettodurchschnittsentgelt
von Minijobbern über der Niedriglohngrenze, auf nettobezogen, sogar 2 Euro darüber. Das heißt, im Durch-schnitt wird bei einem Minijob netto deutlich über demNiedriglohnsektor verdient. Dass also die Minijobs perse Niedriglohn bedeuten würden, kann am Ende, nettofür den Beschäftigten in der Tasche, auch nicht stimmen,und Sie sollten hier keine Unwahrheiten verbreiten, liebeKolleginnen und Kollegen von der Opposition.
Kommen wir zum letzten Aspekt, einem ernsten As-pekt, über den wir uns Gedanken machen sollten. Sie ha-ben nämlich die Frage angesprochen, Frau KolleginFerner: Wie sorgen wir dafür, dass Frauen, die nur einenMinijob machen und gern mehr arbeiten wollen, ausdem Minijob herauskommen können? – Ich glaube, das
Metadaten/Kopzeile:
23424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Johannes Vogel
(C)
(B)
ist ein Ziel, das wir alle teilen. Jetzt muss man natürlichnur – –
– Hören Sie doch kurz zu, wenn wir uns ernsthaft da-rüber unterhalten wollen; vielleicht folgen Sie dann auchmeinem Gedankengang ein wenig.
Jetzt muss man sich in meinen Augen auch einmal an-schauen: Liegt das wirklich an den Minijobs, oder hatdas andere Ursachen? In diesem Zusammenhang mussman sich erst einmal vergegenwärtigen, dass ausweislichaller Umfragen drei Viertel aller Minijobber gar nichtsanderes als einen Minijob machen wollen. In der Gruppederjenigen, die gern mehr arbeiten wollen, sind in derTat viele Frauen. Ich glaube, Sie haben die wahrenGründe dafür auch benannt. Natürlich ist die Steuer-klasse V hier ein Hindernis; natürlich geht es um dieVereinbarkeit von Familie und Beruf und um Betreuung.Deshalb ist es richtig, dass wir uns dem Ausbau von Be-treuung widmen. Deshalb würde ich auch sagen: LassenSie uns darüber diskutieren, ob die Steuerklasse V nichtverzichtbar ist.
Nur hat dies mit dem Minijob an sich überhauptnichts zu tun. Der Minijob ist nicht die Ursache dieserProbleme. Deshalb den Minijob jetzt kaputtmachen zuwollen oder ihn zu diffamieren, das ist ungefähr so sinn-voll, wie wenn Sie, falls Sie einen Motorschaden amAuto haben und sich nicht leisten können, den Motor zureparieren, einfach das Getriebe austauschen, weil dasAuto nicht mehr fährt.
Das bringt nichts. Das bringt Ihrem Auto nichts,
und das löst auch das Problem nicht. Deshalb ist es auchfalsch, hier die Minijobs anzugehen, wenn die Ursachender Probleme in Wahrheit woanders liegen. Es ist übri-gens vor allem auch unfair gegenüber denjenigen, dieeben gar nicht mehr wollen als einen Minijob. Diegrößte Alterskohorte derjenigen, die einen Minijob ma-chen, liegt im Alter zwischen 20 und 25 Jahren. Das giltfür Männer wie für Frauen; das sind die Studenten. Alldenen würden Sie einen Bärendienst erweisen, wenn Siehier den Minijob diffamieren.
Ich kann nur sagen: Die Kritikpunkte – –
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Der letzte Satz: Die Kritik-
punkte am Minijob halten einer Faktenüberprüfung nicht
stand. Ich freue mich, wenn wir das in der zweiten und
dritten Lesung noch vertiefen können. Auf der bisheri-
gen Grundlage kann ich nur sagen: Dann sollte man den
Minijobs aber auch nicht über die Inflation langsam die
Luft abschnüren, sondern muss eine Anhebung der
Grenze vornehmen, so wie wir das hier machen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, und deshalb ist das auch
richtig für die Minijobber in diesem Land.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Sabine Zimmermann für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Ich darf Ihnen von der Koalition erst einmalein ganz großes Kompliment aussprechen: Sie schaffenes immer wieder – Herr Kober lächelt schon –, den Men-schen im Lande Ihre Arbeitsmarktpolitik unter dem La-bel „hohe Zuverlässigkeit und hohe Konstanz“ zu ver-kaufen. Ich will es Ihnen auch erklären. Konstant undzuverlässig können die Beschäftigten im Niedriglohn-sektor erwarten, dass sie von Ihrer Arbeitsmarktpolitikkeine Verbesserungen bekommen werden.
Konstant und zuverlässig dürfen sie damit rechnen, dassSie diesen Niedriglohnsektor weiter ausbauen werden.Das beweisen Sie heute mit Ihrem Gesetzentwurf einmalmehr.
Durch die Anhebung der Entgeltgrenze bei geringfü-gig entlohnter Beschäftigung auf 450 Euro bauen Sieden Niedriglohnsektor weiter aus – das ist heute des Öf-teren schon gesagt worden – und setzen den Weg fort,den die SPD unter Kanzler Schröder mit der Deregulie-rung der Minijobs 2003 begonnen hatte. In der Begrün-dung zum Gesetzentwurf wird dargelegt, dass noch nieso viele Menschen in Beschäftigung waren wie heute.Dies ist heute ja schon öfter von Ihrer Seite gefallen.Sie verschweigen aber, dass noch nie so viele Men-schen in prekärer Arbeit wie heute waren. Wir müssendoch feststellen, dass in den letzten Jahren der Niedrig-lohnbereich stark angewachsen ist. Dazu geht die sozial-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23425
Sabine Zimmermann
(C)
(B)
versicherungspflichtige Beschäftigung in Vollzeit be-ständig zurück und wird von Teilzeit und Minijobsabgelöst. Immer mehr Menschen finden keine existenz-sichernde Arbeit, und das ist der Skandal, meine Damenund Herren.
Dies ist ein spezifisch deutsches Problem. In keinemanderen europäischen Land ist der Niedriglohnbereichso rasant gewachsen wie bei uns. Deutschland ist in Eu-ropa zum Motor der Niedriglohnbeschäftigung gewor-den. Dies wollen Sie jetzt auch noch über den Fiskalpaktzum Exportschlager für Europa machen.
Das sind die Fakten, meine Damen und Herren. Das soll-ten Sie zur Kenntnis nehmen, und darüber sollten Sievielleicht einmal nachdenken.
Viele Arbeitgeber haben in den letzten Jahren regu-läre Beschäftigung in Minijobs umgewandelt, um flexi-bel zu bleiben und Geld einzusparen. In manchen Berei-chen ist die geringfügige Beschäftigung kurz davor, zurRegelbeschäftigung zu werden, zum Beispiel in der Gas-tronomie, Herr Vogel.Lieber Herr Vogel, sosehr ich Sie als Kollege schätze,so wenig – das muss ich Ihnen sagen – kann ich Ihre ar-beitsmarktpolitischen Überlegungen nachvollziehen. Inder vergangenen Woche haben Sie in den Medien da-rüber gesprochen, dass Minijobs eine beliebte Möglich-keit seien, sich etwas dazuzuverdienen. Vorhin haben Siedas ja hier auch gesagt. Ich sage Ihnen: Die Leute wollenaber keine Minimalbeschäftigung zu Hungerlöhnen.
Sie wollen eine Arbeit, von der sie ihre Familie ernährenkönnen und von der sie auch noch etwas für ihre Renteansparen können.
Darüber sollten Sie nachdenken.Hinzu kommt, dass Sie die Anhebung der Entgelt-grenze der Minijobs als eine Art Lohnerhöhung darstel-len – Frau Kollegin Ferner ist schon darauf eingegan-gen –, da Sie anscheinend davon ausgehen, dass dieArbeitgeber sogleich die 50 Euro mal eben obendraufaufschlagen. Hätten Sie sich aber vorher einmal sach-kundig gemacht, wüssten Sie, dass ein Minijobber imSchnitt nur 260 Euro verdient, nein, bekommt – er ver-dient das ja nicht, er bekommt es – und eben nicht die400 Euro. Somit ist Ihre Argumentation doch ein totalerUnsinn, oder man muss feststellen, dass Sie die Öffent-lichkeit bewusst täuschen wollen.
Von einem besonderen Zynismus zeugt die Begrün-dung des Gesetzentwurfes, dass die nun einzuführendeRentenversicherungspflicht das Bewusstsein der gering-fügig Beschäftigten für ihre Alterssicherung stärkensolle. Glauben Sie denn wirklich, dass die Menschennicht wissen, dass sie in die Altersarmut reingehen,wenn sie einen Minijob haben, und dass sie damit auchgar keine nennenswerten Rentenansprüche erarbeiten?Da ist doch Altersarmut vorprogrammiert.Meine Damen und Herren der Regierung, ich sage Ih-nen: Verlassen Sie endlich diesen Irrweg der Niedrig-lohnpolitik, tun Sie etwas für gute Arbeit, für einen gu-ten Lohn, damit die Menschen auch etwas für ihre Renteansparen können.In diesem Sinne: Danke schön.
Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die nega-tiven Auswirkungen von Minijobs sind allenthalben be-kannt, außer bei Herrn Vogel natürlich.
Die Stichworte sind genannt worden: Niedriglohnfalle;84 Prozent aller Minijobberinnen arbeiten im Niedrig-lohnbereich; berufliche Sackgasse für die Frauen; Ein-nahmeverluste für die Sozialversicherung; Altersarmut.Mit anderen Worten: Die Ausweitung der Minijobs isteine Politik, die in die völlig falsche Richtung geht.
Herr Vogel, daran ändert das Feigenblatt der Opt-out-Regelung wirklich gar nichts, und zwar deshalb nicht,weil diese Regelung nicht wirkt. Sie ist unwirksam.Wenn Sie einmal die Begründung in Ihrem eigenen Ge-setzentwurf lesen, dann stellen Sie das fest. Sie selbergehen davon aus, dass sich 90 Prozent aller Minijobberund Minijobberinnen von der Pflicht befreien lassen, indie Rentenversicherung einzuzahlen. Das heißt, für ei-nen minimalen Effekt von zehn Prozent erzeugen Sie ei-nen maximalen bürokratischen Aufwand
für die Betroffenen selbst.
Sie selber gehen davon aus, dass ein Antrag auf Opt-out bei dem Betroffenen 40 Minuten Zeit in Anspruchnimmt, bei dem Betrieb 15 Minuten. Sie selber gehendavon aus, dass 3 150 000 Opt-out-Anträge gestellt wer-den. 3 150 000 Anträge verursachen einen Zeitaufwandvon 787 500 Stunden. Das entspricht 22 Millionen EuroLohnkosten in den Betrieben.
Metadaten/Kopzeile:
23426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Brigitte Pothmer
(C)
(B)
Meine Damen und Herren, das ist kafkaesk. Ich fordereSie auf: Stoppen Sie diesen Wahnsinn!
Ich frage mich wirklich, wo in dieser Debatte eigent-lich die Arbeitsministerin ist.
Noch vor einem Jahr hat die Arbeitsministerin der Wo-chenzeitung Die Zeit ins Blatt diktiert – ich zitiere –:... ich bin eine entschiedene Gegnerin der Auswei-tung von Minijobs.
Aus dieser entschiedenen Gegnerin ist jetzt aber eineHandlangerin geworden. Frau Ferner hat schon daraufhingewiesen: Dieser Gesetzentwurf ist im Bundes-arbeitsministerium entstanden.
Die Autorin dieses Gesetzentwurfs ist diese Gegnerinder Ausweitung von Minijobs. Frau Ministerin von derLeyen warnt intensiv vor Altersarmut und tut so, alswollte sie die Altersarmut bekämpfen. Die Ausweitungvon Minijobs ist die Ausweitung von Altersarmut, meineDamen und Herren,
insbesondere die Ausweitung der Altersarmut vonFrauen.Nun vergeht zumindest gefühlt kein einziger Tag, andem diese Bundesarbeitsministerin nicht den Eindruckerweckt, als sei sie die Speerspitze der Frauenbewegung.Ganz besonders groß ist ihr Engagement, wenn es umden Zuständigkeitsbereich ihrer Kabinettskollegin geht.
Zur Frauenquote, zum Betreuungsgeld, zur Altersarmutvon Frauen – Frau von der Leyen hat eine dezidierteAuffassung, und damit hält sie auch nicht hinterm Berg.Sie weiß wirklich alles, und im Zweifel weiß sie es auchbesser, zumindest besser als die Frauenministerin. Nunwerden Sie sagen: Das ist keine Kunst.
Aber, meine Damen und Herren, wenn es um ihre origi-näre Zuständigkeit geht, dann lässt diese Speerspitze derFrauenbewegung die Frauen im Stich.
Aus der Vorkämpferin für Frauenrechte wird dann einDuckmäuschen.
Meine Damen und Herren, Sie kennen wahrscheinlichalle die von breiten Kreisen getragene Kampagne „Nichtmeine Ministerin“. Diese Kampagne richtet sich nochgegen Frauenministerin Schröder. Frau von der Leyenmuss aufpassen, dass nicht auch sie bald Gegenstanddieser Kampagne wird.Ich danke Ihnen.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Heute Nachmittag muss man sich ernsthafte Sorgen umunsere Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktionund aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen machen.
Wenn ich die Debattenbeiträge des heutigen Nachmit-tags Revue passieren lasse, frage ich mich: Wer hat Re-gierungsverantwortung getragen, als in das Gesetz ge-schrieben wurde: „Bei einer Nachhaltigkeitsrücklagevon 1,5 Monatsausgaben muss automatisch der Renten-versicherungsbeitrag gesenkt werden“?
Welcher Partei gehörte jener Finanzminister an, derschon einmal zur Haushaltskonsolidierung befristet denallgemeinen Bundeszuschuss zur Rente abgesenkt hat?Wer hat am 1. April 2003 dieses Land regiert, als dasheute gültige Minijobgesetz in Kraft getreten ist?
– Es war nicht die CDU/CSU. Es war nicht die FDP. Eswaren auch nicht die Linken. Wer hat denn unser Landin dieser Zeit regiert? Es war Rot-Grün!
Alles, was Rot-Grün in der heutigen Debatte als Konse-quenz der eigenen Gesetzgebung beklagt, kann sie nichtbei der heutigen Regierungsbank abladen. Das muss siebei sich selber abladen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23427
Peter Weiß
(C)
(B)
Alle Finger, mit denen auf diese Regierungsbank gezeigtwird, zeigen automatisch auf euch, liebe Kolleginnenund Kollegen von Rot-Grün, zurück.
Genauso ist es bei der Grenze von 400 Euro bei einemMinijob.
Der Kollege Straubinger hat zu Recht vorgetragen:Wenn heute bei den Minijobs eine Grenze von 450 Eurovorgeschlagen wird, dann ist das exakt die Nachholungder Lohnsteigerung, der Inflation, der Preissteigerung, inden letzten zehn Jahren, nichts anderes.
Wenn heute 450 Euro falsch sind, dann waren 400 Euroim Jahr 2003 erst recht falsch. Das ist einfache Mathe-matik.
Deswegen ist alle Kritik, die Sie hier an dem Betrag vor-tragen, völlig falsch und völlig fehlgeleitet. Es fällt aufSie zurück.
Es gibt einen wichtigen Punkt, den ich herausheben will.Es ist schon eine entscheidende Frage, ob die Masse dergeringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ohne Ansprü-che an die Sozialversicherung bleibt oder nicht. Deswe-gen ist es ein entscheidender Schritt, den wir heute vor-schlagen,
dass künftig auch eine Minijobberin oder ein Minijobberin die Rentenversicherung einzahlt und damit Renten-versicherungsansprüche begründet.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn man Al-tersarmut verhindern will, dann muss der Grundsatz gel-ten: Ab dem ersten Euro, der verdient wird, Beiträge indie Rentenversicherung!
Den Grundsatz setzen wir heute durch.
Natürlich, aus einem geringfügigen Beschäftigungs-verhältnis oder einem anderen Beschäftigungsverhältnis,bei dem man nicht sehr viel verdient, erwachsen nichtmassenhaft Rentenansprüche. Für einen Schüler oderStudenten zum Beispiel, der einen 400-Euro-Job hat, istes aber doch gut, erste Ansprüche in der Rentenversiche-rung zu erwerben,
auf die er später hoffentlich mit einem guten Gehalt auf-bauen kann. Es ist doch für jemanden, der zusätzlich zuseinem normalen Job noch einmal 400 oder 450 Euroverdient, gut, wenn er auch hieraus Rentenansprüche er-wirbt und nicht nur aus seinem eigentlichen Gehalt.
Selbst für denjenigen, der zeitweise oder auch für etlicheJahre nur einen Minijob hat, ist doch diese Ergänzungfür die Rente wichtig.
Es ist wichtig, dass er auch in dieser Zeit Rentenansprü-che erwirbt.Im Übrigen ist nicht nur die Frage wichtig, „Wie vielEntgeltpunkte habe ich in der Rentenversicherung durchkonkrete Beitragszahlungen angesammelt?“, sondern dieFrage ist auch: „Habe ich die Anwartschaftszeiten in derRente erfüllt?“ Dass die Zeit, in der ein Minijob ausge-übt wird, mitzählt, ist ebenfalls ein wichtiger Gewinn fürdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unseremLand.
Heute wird gegenüber dem Gesetz aus rot-grüner Zeitnichts verschlechtert, sondern etwas Entscheidendes ver-bessert, indem Rentenbeiträge für Minijobber zur Regelwerden. Das ist der eigentliche große Erfolg, den wir indieser Koalition schaffen. Wir verbessern das, was inrot-grüner Zeit nur schlecht gemacht worden ist.
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus
den Reihen der Grünen? Ich habe jetzt nicht aufgepasst.
Ja, wenn die Debatte verlängert werden soll, bitte.
Kollegin Pothmer, bitte.
Metadaten/Kopzeile:
23428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(C)
(B)
Herr Kollege Weiß, ich frage Sie, ob Sie die Begrün-
dung Ihres Gesetzentwurfes gelesen haben
und ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass Sie sel-
ber – sozusagen die Autorinnen und Autoren des Gesetz-
entwurfes – davon ausgehen, dass diese Opt-out-Rege-
lung dazu führen wird, dass 90 Prozent aller
Minijobberinnen und Minijobber eben nicht die Renten-
beiträge zahlen, sondern einen Antrag stellen werden,
um sich davon zu befreien?
Sind Sie mit mir einer Meinung, dass es über diesen Weg
unmöglich zu erreichen sein wird, dass alle Minijobbe-
rinnen und Minijobber Beiträge in die Rentenversiche-
rung zahlen?
Verehrte Frau Kollegin Pothmer, es gibt einen ent-
scheidenden Unterschied zur heutigen Situation. Wer
heute einen Minijob annimmt, muss von sich aus tätig
werden
und einen Antrag stellen, dass er gerne einen Beitrag in
die Rentenversicherung zahlen will. Künftig – das ist der
entscheidende Unterschied – ist man automatisch in der
Rentenversicherung versichert, muss seinerseits aktiv
werden
und eine Erklärung abgeben: Ich möchte keinen Renten-
versicherungsbeitrag zahlen.
Frau Kollegin Pothmer, es wird auch an uns selber
liegen, ob wir als Abgeordnete zum Beispiel in unseren
Wahlkreisen bei den Betroffenen dafür werben, diese ge-
setzliche Regelung zu akzeptieren und zu praktizieren
und nicht die Ausnahmeregelung für sich in Anspruch zu
nehmen.
Ich gebe ehrlich zu – damit möchte ich zum Ab-
schluss kommen –, dass die Arbeitgeber zu Recht darauf
hinweisen, dass eine solche Opt-out-Regelung zusätzli-
che Bürokratie für sie bedeutet.
Deswegen bin ich der Auffassung, dass es gut wäre,
wenn wir noch einmal über diese Opt-out-Regelung
nachdächten.
Aber, Frau Kollegin Pothmer, verehrte Kolleginnen
und Kollegen, das, was jetzt im Gesetzentwurf steht, ist
immerhin eine deutliche Verbesserung gegenüber dem,
was heute im Gesetz steht. Wir sind also auf dem richti-
gen Weg: für mehr Sozialversicherung, auch für Mini-
jobber, und damit für mehr Ansprüche in der Rentenver-
sicherung.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10773 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem
Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter,
Dorothée Menzner, Caren Lay, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Unberechtigte Privilegien der energieintensi-
ven Industrie abschaffen – Kein Sponsoring
der Konzerne durch Stromkunden
– Drucksachen 17/8608, 17/9999 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Marco Bülow
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Hans-Josef Fell
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! MeineHerren! Wir haben einen Antrag vonseiten der Linkenzum Thema Energieintensive Industrie vor uns liegen.Ich möchte ganz offen für diesen Antrag danken, weil ernoch einmal deutlich macht, welche WahlkampfstrategieSie schon jetzt für die nächsten Monate einleiten.Sie möchten im Zuge der Energiedebatte, die für un-ser Land sehr wichtig ist, im Wahlkampf eine reine Ver-teilungsdebatte führen. Ihnen geht es nicht mehr darum,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23429
Thomas Bareiß
(C)
(B)
wie wir die Energiewende gemeinsam meistern, wie wires schaffen, die Energiewende für jeden bezahlbar zumachen, sondern Sie fragen nur noch, wer diese Energie-wende bezahlt.Ich glaube, dass die Debatte, die Sie anstoßen – übri-gens auch mit Unterstützung der Grünen und der SPDoftmals –, uns auf einen Irrweg führt und Sie damit eineZündschnur an die Energiewende legen. Sie sind damiteine große Gefahr für die Energiewende.
Wir sind der Auffassung: Die Energiewende muss füralle bezahlbar sein. Jeder muss Gewinner der Energie-wende sein. Deshalb sollten wir andere Debatten führen.Ich nehme Ihren Antrag jedoch gerne zum Anlass, dasswir einmal sehr grundsätzlich über die Frage diskutieren,wie wir die energieintensiven Industrien schützen, weilwir damit auch Arbeitsplätze schützen. Ich unterstützegerne deutsche Arbeitsplätze und innovative Unterneh-men in unserem Land.
Deshalb ist es richtig, sich die energieintensiven Indus-trien einmal genau anzuschauen.Wir haben in Deutschland 5,7 Millionen Arbeits-plätze in der Industrie, die wiederum 45 Prozent desStroms verbraucht. Knapp 1 Million Arbeitsplätze gibtes in den energieintensiven Industrien; 53 MilliardenEuro werden in diesen Industrien erwirtschaftet. Dazugehören die Papierindustrie, die Glasindustrie, die Che-mieindustrie. Die wichtigen Werkstoffe Aluminium,Kupfer und Zink werden hier produziert. Diese Werk-stoffe bilden die Grundlage unserer Energiewende. Bei-spielsweise braucht man für den Bau einer Offshore-windanlage allein 30 Tonnen Kupfer. Das zeigt, dass wirdiese Werkstoffe brauchen, dass wir günstige und be-zahlbare Werkstoffe brauchen, um die Energiewende tat-sächlich zu meistern.
Wir brauchen in Deutschland wettbewerbsfähige Ener-giepreise.
Wenn man sich die Preise anschaut, dann bereitet dasschon Sorge. Die Stromkunden aus der Industrie zahlenin Deutschland bereits heute 10 Eurocent je Kilowatt-stunde. In Frankreich sind es nur 5,6 Cent je Kilowatt-stunde. In den USA liegen die Preise bei 4 bis 5 Cent jeKilowattstunde.
Da zeigt sich, dass wir bereits heute einen erheblichenWettbewerbsnachteil haben und dafür sorgen müssen,dass dieser Nachteil nicht noch ausgeweitet wird. Des-halb müssen wir großes Augenmerk auf diese Preise le-gen. Eine mittelständische Chemiefirma hat heute schon500 000 Euro bis 1 Million Euro mehr Energiekosten alseine vergleichbare Firma in Frankreich.
Die Zahlen allein zeigen schon, lieber Herr Krischer,dass das arbeitsplatzgefährdend sein kann.
Es ist deshalb richtig – jetzt ist auch mal ein Lob fürRot-Grün fällig –, dass Rot-Grün diese damals neuenKosten für die energieintensiven Industrien zum Anlassgenommen hat, diese Industrien zu entlasten.
Sie haben damals, im Jahr 2000, die EEG-Befreiung aufden Weg gebracht. Nur war es damals falsch, dass Sievon Rot-Grün nur die großen Konzerne mit einem Ver-brauch von mehr als 10 Gigawattstunden entlastet ha-ben. Wir haben in der jetzigen Koalition dafür gesorgt,dass auch der industrielle Mittelstand entlastet wird,
der in einem enormen Wettbewerb steht; er muss stärkerim Fokus stehen.
Das haben wir in der jetzigen Koalition entsprechend an-gepasst.Wir haben klare Kriterien eingeführt.
Wir haben gesagt: Internationaler Wettbewerb und Ener-gieintensität müssen vorliegen, und der Verbrauch mussmehr als 1 Gigawattstunde betragen. Das sind klare Kri-terien, die Willkür verhindern und klar regeln, wer Nutz-nießer ist.
Beim Netzentgelt haben wir an das angeknüpft, wasRot-Grün gemacht hat, und sind sogar noch weiter ge-gangen, indem wir gesagt haben, dass wir auch die Sys-temrelevanz als Grundlage sehen müssen, angefangenbeim großen Pumpspeicherkraftwerk, das wir für dieEnergiewende brauchen, bis hin zu kleinen Wärmepum-
Metadaten/Kopzeile:
23430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Thomas Bareiß
(C)
(B)
pen und Nachtspeichern. Ich glaube, das ist der richtigeWeg. Auch das muss der Wahrheit halber gesagt werden.
Auch beim Spitzenausgleich führen wir fort, was Rot-Grün begonnen hat. Wir gehen sogar noch einen Schrittweiter als Rot-Grün:
Wir zahlen den Spitzenausgleich ab 2013 nur noch dann,wenn in dem Unternehmen wirklich ein Energiemanage-mentsystem eingeführt wird
und wenn ganz klar und deutlich eine Energieeffizienz-steigerung zu erkennen ist. Auch da gehen wir sogarnoch weiter als Rot-Grün.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Entlas-tungen sind notwendig. Ich will den Vorwurf ausräumen,dass die energieintensiven Industrien nichts zahlen. Diechemische Industrie allein zahlt 720 Millionen EuroEEG-Umlage. Das sind pro Arbeitsplatz 1 800 EuroEEG-Umlage.
Wenn Sie diese Zahl noch nicht überzeugt, dann rate ichgerade Ihnen von den Linken zu Gesprächen mit den Ge-werkschaften, die vehement für Entlastungen für dieenergieintensiven Industrien kämpfen. Vor wenigen Ta-gen hat die Kanzlerin, wie man in der Zeitung liest, einSchreiben von den Gewerkschaften bekommen. HerrVassiliadis schreibt hier:Eine der wichtigsten Standortbedingungen für dieenergieintensive Chemieproduktion ist die Gewäh-rung von Entlastungsregelungen, beispielsweise beiEEG, Ökosteuer und Emissionshandel.In diesem Sinne packen wir die Energiewende an,entlasten diejenigen, die es brauchen,
und sichern damit Arbeitsplätze. Ich denke, wir machendort weiter, wo Rot-Grün aufgehört hat.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Waltraud Wolff für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Wir wollen hierdoch einmal die Wahrheit auf den Tisch bringen.
Heute hat der Herr Kollege Bareiß gesprochen. In derersten Lesung am 29. März dieses Jahres hat der CDU-Kollege Koeppen über den Titel des Antrags der Linken– ich will ihn noch einmal nennen: „Unberechtigte Privi-legien der energieintensiven Industrie abschaffen – KeinSponsoring der Konzerne durch Stromkunden“ – gespro-chen. Der Herr Kollege bemühte an dieser Stelle denDuden. Er hat gesagt:„Unberechtigt“ heißt rechtswidrig, heißt ungesetz-lich, heißt illegal oder auch, wenn man es weiter-treiben würde, kriminell.Mal ganz abgesehen davon, dass „kriminell“ im Dudennicht als Synonym für „unberechtigt“ geführt wird, istdas ja nur eine der Bedeutungen.
„Unberechtigt“, so sagt der Duden, kann ebenfalls„grundlos“ oder „unbegründet“ heißen, aber die Begriffe„grundlos“ und „unbegründet“ sind weniger spektakulär,und – was noch viel wichtiger ist – darauf kann mankeine billige Polemik aufbauen.
Ich persönlich halte diese Art des Umgangs mit demDuden für bezeichnend für die Regierungskoalition.
Sie sehen immer nur die halbe Wahrheit. Was Ihnennicht passt, das blenden Sie einfach aus.
Die ganze Wahrheit ist doch, dass wir alle uns in ei-nem Punkt sehr einig sind, nämlich dass die energiein-tensiven Unternehmen, die auch im internationalenWettbewerb stehen, nicht zusätzlich belastet werden sol-len. Dazu stehen wir als SPD, und so hatten wir es da-mals unter Rot-Grün bei der Ökosteuer festgeschrieben.Ausnahmeregelungen müssen begründet sein; auch dazustehen wir. Genau diese Regelung – das gehört ebenfallszur Wahrheit – hat Schwarz-Gelb in diesem Jahr ent-scheidend geändert. Früher galt, dass ein Unternehmenab einem Stromverbrauch von 10 Gigawattstunden proJahr als energieintensives Unternehmen geführt wurde.Heute reicht ein Jahresverbrauch von 1 Gigawattstunde.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23431
Waltraud Wolff
(C)
(B)
Was – meine Damen und Herren hier oben, Sie wissen esbestimmt nicht – bedeutet das denn?
Das bedeutet, dass heute statt 540 Unternehmen – ichbeziehe mich jetzt auf Zahlen der Bundesregierung –1 600 oder mehr Unternehmen entlastet werden. Mit an-deren Worten: Statt 2,1 Milliarden Euro werden künftigbis zu 3,2 Milliarden Euro an Erneuerbarer-Energien-Umlage von kleinen Unternehmen und von den Privat-haushalten bezahlt. Das ist doch wieder eine richtigeEntscheidung à la FDP. Irgendwie hat mich das an dieSteuergeschenke an die Hoteliers erinnert.
Da fragt sich natürlich auch der kleine Handwerker,weshalb er eigentlich für ein großes Kaufhaus die EEG-Umlage zahlen soll, und auch die Rentnerin fragt sich,wieso sie eigentlich die Kosten schultern soll, damit einHotel entlastet werden kann. Diese besondere Aus-gleichsregel ist einzig und allein für die energieintensi-ven Unternehmen geschaffen worden, weil wir die Ar-beitsplätze und Deutschland als Industriestandort er-halten wollen. Es muss die Frage erlaubt sein: Ist diemassive Ausweitung, die diese Koalition jetzt vorge-nommen hat, überhaupt begründbar?Die Bundesnetzagentur hat im März dieses Jahres ei-nen Bericht vorgelegt, in dem sie zu dieser Frage Stel-lung explizit genommen. Sie hat gefragt, ob das wirklichnoch die richtige Balance ist. Es wird ausgeführt, dassim Jahr 2012 die begünstigten Unternehmen zwar18 Prozent des gesamten Stroms verbraucht haben, aber– das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen –sage und schreibe nur einen Anteil von 0,3 Prozent ander Erneuerbaren-Energien-Umlage bezahlt haben. Mitanderen Worten: Die Umlage, die uns demnächst insHaus steht, nämlich 3,59 Cent je Kilowattstunde, lägeohne dieses Privileg bei genau 3 Cent pro Kilowatt-stunde.Ich sage es noch einmal: Wir als SPD stehen zu einerAusnahmeregelung. Die Bundesnetzagentur hat dochvöllig recht, wenn sie infrage stellt, ob hier noch dierichtige Balance gewahrt wird und ob kleine Unterneh-men und Privathaushalte an dieser Stelle in die Breschespringen sollten für Unternehmen, die neuerdings zu denintensiven Energieverbrauchern gehören sollen.Übrigens klagte Schwarz-Gelb die ganze Zeit – auchdas ist sehr bezeichnend – über die hohen Kosten, diemit der Erneuerbaren-Energien-Umlage für die privatenHaushalte verbunden sind. Bei dieser Geschenkerundejetzt sagt aber niemand von Ihrer Seite, dass die Privat-haushalte und die kleinen Unternehmen die Zeche dafürbezahlen. Das ist doch die Wahrheit.
Sie selber mit Ihrer Gesetzgebung sind die Kostentreiberbei der Umlage für erneuerbare Energien.Ich bin Mitglied der Enquete-Kommission „Wachs-tum, Wohlstand, Lebensqualität“. Wir sind lange derFrage nachgegangen, wie wir unseren Wohlstand erhal-ten und trotzdem den unsäglich großen Verbrauch unse-rer Umwelt begrenzen können. Ist es möglich, diese Pro-zesse zu entkoppeln und unser Klima zu schützen? EinBaustein – das ist über alle Fraktionsgrenzen hinweg un-strittig – ist der sparsame Umgang mit Energie. Wird derStrom teurer, sieht jeder zu, dass er Strom sparen kann.Das machen auch Unternehmen. Diesen Fakt haben be-sonders die Unionspolitiker und die FDP-Politiker be-tont. Klar ist aber, dass die Ausweitung dieser Ausnah-meregelung diesem Ansatz widerspricht. Damit kommtman nicht zu Einsparungen, und so verbessert man auchnicht die Energieeffizienz.Was spräche eigentlich gegen ein verpflichtendesEnergiemanagement als Voraussetzung für die Begünsti-gung bei der Energiesteuer? Darüber sollte man einmalnachdenken. Ein Energiemanagement, das nicht nur denEnergieverbrauch und die Einsparpotenziale bewertet,sondern auch die Umsetzung von empfohlenen Maßnah-men vorschreibt, wäre eine Möglichkeit, um in der Be-völkerung mehr Akzeptanz für diese Begünstigung zuerreichen.Ein Teil unserer Industrie, an dem Arbeitsplätze undWohlstand hängen, ist stromintensiv, keine Frage. Nie-mand will die Produktion aus Deutschland verbannen.Fakt ist aber, dass bis 2020 – nach Schätzungen – 20 bis40 Prozent des Energieverbrauchs in der Industrie durcheinen wirtschaftlicheren Einsatz eingespart werdenkönnten. Dieses Potenzial müssen wir heben. Hier mussman ansetzen und nicht entlasten, wenn mehr verbrauchtwird.
Entlastungen dürfen nur dort erfolgen, wo sie notwendigsind.Zum Schluss: Viele Fragen, die in Ihrem Antrag, imAntrag der Linken, gestellt werden, sind richtig. Ihr An-trag enthält aber viele pauschale Äußerungen in Bezugauf Industrie und Standortfragen, die Arbeitsplätze be-treffen. Deshalb können wir Ihrem Antrag nicht zustim-men. Meine Fraktion wird sich der Stimme enthalten.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauWolff, Sie sollten sich vielleicht nicht nur mit Professo-ren in Enquete-Kommissionen beschäftigen, sondern als
Metadaten/Kopzeile:
23432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Michael Kauch
(C)
(B)
Sozialdemokratin auch einmal in die Betriebe inDeutschland gehen und sich den industriellen Mittel-stand anschauen.
Sie sollten sich anschauen, wie die Arbeitswirklichkeitder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der chemischenIndustrie aussieht. Die meisten Unternehmen in der che-mischen Industrie sind nämlich nicht so groß wie dieBASF.
Man muss sich einmal genau anschauen, was Sie ge-rade gesagt haben. Sie haben, wie ich unserem soge-nannten Parlamentsbuch entnommen habe, einen Ab-schluss als Unterstufenlehrerin für Mathematik. In derUnterstufe lernt man ja schon Prozentrechnung.
Das scheint bei Ihnen nicht mehr so ganz präsent zu sein,Frau Wolff.
Sie haben uns hier erzählt, das Kriterium für Energiein-tensität sei der Energieverbrauch. Den Schwellenwert,den Sie angesprochen haben – 1 Gigawattstunde oder10 Gigawattstunden –, den gibt es. Das Kriterium dafür,ob ein Unternehmen zu den energieintensiven Unterneh-men zählt oder nicht, ist aber ein Prozentsatz: 14 Prozentder Wertschöpfung. Das ist das Kriterium, das die SPDeingeführt hat. Diese Koalition hat es nicht geändert.
Den Schwellenwert haben wir in der Tat geändert. Siehaben nur die Großunternehmen befreit, nur dieThyssens und die BASFs dieser Republik. Es ist an ihrerPolitik unschwer erkennbar. Sie sind die Genossen derBosse. Wir sind diejenigen, die für den industriellenMittelstand und für die Arbeiter in diesen Unternehmenstehen.
Den Grünen ist die Wertschöpfung ja egal. Man fährt imPorsche Cayenne zum Bioladen, und die Arbeiter in derChemieindustrie sind einem egal.
Aber von Sozialdemokraten würde ich einen anderenAnsatz erwarten und nicht, dass Sie hier so tun, als seiendie Industrieunternehmen im Mittelstand nicht im inter-nationalen Wettbewerb.
Sie wollen das deutsche Volk täuschen, indem Sie sagen:Alle Kostensteigerungen gibt es nur deswegen, weil wirhier jetzt irgendwelche Unternehmen begünstigen.
Nein, die Wahrheit ist, dass wir an dieser Stelle Arbeits-plätze in Deutschland, die im internationalen Wett-bewerb stehen, schützen.
Dazu stehen wir. Wir sind stolz auf die Arbeiterinnenund Arbeiter in diesem Land.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kelber?
Ja bitte, er hat wahrscheinlich wieder keine Redezeit
von seiner Fraktion bekommen.
Ich werde als stellvertretender Fraktionsvorsitzenderin meiner Fraktion laufend unterdrückt, was die Redezeitangeht.
Ich fand es übrigens nicht gut – eine kurze Bemer-kung dazu möchte ich machen –, über die Berufe andererherzuziehen. Vor allem sollte man, wenn man selberauch noch nie in der freien Wirtschaft gearbeitet hat, dasnicht jemandem anders vorwerfen.
Meine Frage: Sie nennen die internationale Wettbe-werbsfähigkeit von Unternehmen als Kriterium – das isteines der drei Kriterien, die auch wir in unseren Anträ-gen nennen – und benennen dann erst einmal Firmen, dieschon zu Regierungszeiten der SPD diese Ausnahmenbekommen haben und von denen wir sagen, dass sieauch beibehalten werden sollen. Ich möchte Sie hinsicht-lich ein paar Unternehmen, die auch schon in der Öffent-lichkeit genannt wurden, fragen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23433
Ulrich Kelber
(C)
(B)
was dort die internationale Wettbewerbsfähigkeit aus-macht.Der Deutsche Wetterdienst, eine Behörde, ist jetztdurch Sie von der EEG-Umlage befreit. Der FlughafenStuttgart lagert alles, was mit Energie zu tun hat, in einenneuen Konzern mit einem Mitarbeiter aus und lässt die-sen von der EEG-Umlage befreien. Glauben Sie, dassdieser eine Mitarbeiter gefährdet wäre, wenn der Flug-hafen Stuttgart weiter EEG-Umlage zahlen müsste? Sieund auch ich lieben ein gepflegtes Bier. Nordrhein-Westfalen ist ja das wirkliche Hauptland der Bierbraue-rei. Glauben Sie, dass sich niemand mehr für unsereBiere entscheiden würde, wenn Sie die Brauereien inDeutschland nicht von der EEG-Umlage befreienwürden? Wo sehen Sie da die internationale Wett-bewerbsfähigkeit? Sie weiten doch im Augenblick dieAusnahmen mit der Gießkanne zulasten der Verbrauche-rinnen und Verbraucher aus.
Lieber Herr Kelber, ich wiederhole es: Wir haben das
Energieintensitätskriterium nicht geändert. Die Wett-
bewerbsfähigkeit der Deutschen Bahn, die in Ihrer Zeit
bereits als energieintensives Unternehmen eingestuft
wurde, ist im internationalen Wettbewerb zumindest auf
den deutschen Strecken auch nicht gefährdet. Wenn Sie
also das kritisieren, dann gebe ich diese Kritik gerne an
Sie zurück.
Die Frage ist in der Tat, ob wir uns ganz sachlich und
unemotional anschauen müssen, ob man die unterschied-
lichen Kriterien, die wir bei den Bereichen Emissions-
handel, Energiesteuer und EEG für die Ausnahme- und
Reduktionstatbestände anwenden, besser angleichen
könnte. Da können wir gerne zusammenarbeiten, um
solche Beispiele, wie Sie sie – –
– Herr Krischer, Sie kommen noch dran. Das können Sie
dann gleich alles erzählen.
Herr Kelber, wir können gerne seriös darüber spre-
chen, wie man diese Stilblüten, die Sie hier vortragen,
zum Beispiel den Deutschen Wetterdienst, dort wieder
herausbekommt. Aber ich sage noch einmal ganz deut-
lich: Am Energieintensitätskriterium der SPD haben wir
nichts geändert. Wir haben nur die Schwellenwerte ab-
gesenkt, damit Chemieunternehmen in Chemieparks und
Zulieferer, zum Beispiel im Sauerland – Sie haben ge-
rade auf NRW verwiesen –, die auch energieintensiv
sind, genau die gleichen Rechte haben wie Thyssen,
BASF, Lanxess oder andere Großunternehmen in dieser
Republik.
Herr Präsident, der Kollege möchte eine Zwischen-
frage stellen. – Ja, gerne.
Sie haben schon voreilig Ja gesagt. – Also, bitte
schön, Herr Kollege.
Ich möchte in der Tat eine Nachfrage stellen, ganz imSinne von Herrn Kelber.
Sie stimmen mir doch sicher zu, dass wir keine einzelbe-triebliche Regelung getroffen, sondern Kriterien festge-legt haben, nach denen sich die Unternehmen meldenkönnen.
Wir haben bei dieser Reform die Unternehmen, die Siebefreit hatten, die aber, wie wir festgestellt haben, nichtdem europäischen oder dem weltweiten Wettbewerbunterliegen, sofern sie identifiziert werden konnten,herausgenommen.
Ein Beispiel, von dem ich leider persönlich betroffenbin – genau –, ist der Zweckverband Bodensee-Wasser-versorgung. Dieses Unternehmen ist ein energieintensi-ves. Das führt – im Übrigen nicht zur Freude derjenigen,die insbesondere in der Region Stuttgart betroffen sind –zu einer rund 10-prozentigen Wasserpreiserhöhung.Aber in der Tat: Beim Zweckverband Bodensee-Wasser-versorgung ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Unter-nehmen nach Hongkong oder nach Paris auswandert,relativ gering. Deshalb ist das Unternehmen bei der letz-ten Reform, als es als energieintensives Unternehmenerkannt wurde, herausgenommen worden.
Ich gehe davon aus, dass wir uns mit diesem Thema ge-meinsam mit der FDP und mit Herrn Kauch, sobald dieentsprechenden Erkenntnisse vorliegen, befassen unddie Regelung verändern werden.
Aber wir sollten jetzt nicht versuchen, uns gegenseitigmit Einzelbeispielen, die die energieintensive Industrieinsgesamt in ein falsches Licht rücken, vorzuführen.
Metadaten/Kopzeile:
23434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Joachim Pfeiffer
(C)
(B)
Herr Kollege Pfeiffer hat völlig recht; er sieht das
richtig. Die FDP wird gerne mit Ihnen darüber diskutie-
ren, wie wir die Ausnahmeregelungen treffsicher gestal-
ten.
Unser gemeinsames Anliegen ist, Arbeitsplätze in ener-
gieintensiven Unternehmen, die im internationalen Wett-
bewerb stehen, zu befreien, damit es nicht zu Verzerrun-
gen im internationalen Wettbewerb kommt; da sind wir
ganz einer Meinung.
Meine Damen und Herren, noch einmal: Wir müssen
die unterschiedlichen Reduktions- und Befreiungstatbe-
stände möglichst einheitlich und treffsicher gestalten
und sie zusammenführen. Das ist auch im Interesse der
Unternehmen, für die unterschiedliche Vorgaben gelten,
was den Emissionshandel, die Energiesteuer und das
EEG angeht.
Die Frage, die sich dann stellt, lautet: Wie schaffen
wir es, dafür zu sorgen, dass nicht immer mehr auf im-
mer weniger Schultern lastet? Das ist ja der Ausgangs-
punkt dieser Debatte. Wie können wir verhindern, dass
die Verbraucherinnen und Verbraucher, also die Privat-
haushalte, am Schluss allein die Zeche zahlen?
An dieser Stelle sage ich ganz klar in Richtung des Bun-
desverbandes der Deutschen Industrie: Es ist keine gute
Lobbyarbeit, kein gutes Vorschlagsmanagement, wenn
vonseiten der Industrie ständig die Forderung nach wei-
teren Befreiungen erhoben wird. Es darf nicht so weit
gehen, dass wir die gesamte deutsche Wirtschaft von
EEG-Umlage, Energiesteuer usw. befreien; das ist völlig
klar.
Am Schluss muss Energie für alle Bürgerinnen und Bür-
ger bezahlbar sein.
Ihre Strategie, Ihre Ablenkungsstrategie, wird nicht
verfangen. Es ist ja ganz klar, was Sie mit Blick auf den
15. Oktober dieses Jahres machen. Am 15. Oktober wird
die EEG-Umlage um voraussichtlich 50 Prozent steigen.
Ihre Antwort ist ganz einfach:
Das liegt nur an der Befreiung der energieintensiven
Unternehmen. – Das ist doch Volksverdummung, was
Sie hier betreiben.
Zu einem großen Teil liegt diese Steigerung der EEG-
Umlage nämlich am unkoordinierten Ausbau der Photo-
voltaik in der Vergangenheit.
Diese Koalition aus FDP und Union hat diesen Miss-
stand beseitigt. Wir als FDP gehen noch weiter: Wir
wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der Ener-
giewende auf Dauer nicht überlastet werden –
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
– und dass bei jedem Cent, den wir den Bürgerinnen
und Bürgern hier aufbürden, möglichst viel an erneuer-
baren Energien herauskommt. Deshalb sollten Sie nicht
ablenken, sondern gemeinsam mit uns an einer wirkli-
chen Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes arbei-
ten.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dasist eine interessante Debatte.
Ich habe das Gefühl, wir haben eine empfindliche Stellegetroffen. Inzwischen haben die Medien ja schon sehrviel über das Thema berichtet. Sie ist auch deshalb emp-findlich, weil bei den Kosten der Energiewende bzw. derEnergiepolitik sehr oft die Unwahrheit gesagt und auchgeheuchelt wird.
Wenn es um die Kostenrechnung geht, dann machenSie Stimmung; denn es geht Ihnen darum, regenerativeEnergien zurückzudrängen. Das Stichwort von Herrn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23435
Eva Bulling-Schröter
(C)
(B)
Kauch war „unkoordinierter Ausbau“. Stellen Sie sichvor: Jetzt bauen die einfach unkoordiniert regenerativeEnergien aus! Frechheit!Herr Rösler und Herr Altmaier übersehen geflissent-lich – das muss man den Wählerinnen und Wählernsagen –, was die Kosten von Kohle- und Atomstromsind. Darüber haben wir heute noch gar nicht gespro-chen. Wir reden hier über Kosten von 1 Euro pro Kilo-wattstunde. Die Wählerinnen und Wähler sind nicht sodumm, wie Sie glauben.Es geht natürlich um Umverteilung; das ist richtig.Sie haben richtig erkannt, dass es uns, den Linken, umUmverteilung geht, nämlich um die Umverteilung derEnergiekosten. Es kann eben nicht sein, dass immermehr ausgenommen wird und dass Otto Normalverbrau-cher und der Mittelstand das alles dann bezahlen müs-sen. Das wird ihnen übergestülpt, und sie sollen dannschauen, wie sie damit zurechtkommen.Es wird dann immer das Argument Wettbewerbs-probleme genannt. Das haben wir rauf und runter gehört.Darüber, ob sie tatsächlich existieren oder herbeifanta-siert werden, reden wir nicht. Wir müssten eine Debattedarüber führen, aber die Lobby der Firmen – die kennenwir ja alle –, die viel verbrauchen, schafft es einfach im-mer wieder, Gesetze zu beeinflussen, sodass sie sauberdabei herauskommen, manchmal sogar mit einem leis-tungslosen Gewinn. Die privaten Verbraucherinnen undVerbraucher bezahlen das dann. Wir halten das für unso-zial und auch für wirtschaftsfeindlich.Ich sage Ihnen: Ich war letzten Samstag beim Techni-schen Hilfswerk, der Helferorganisation, in Bayern. Dortwaren auch drei CSU-Abgeordnete; einer sitzt hier.
Das THW hat sich auch über die Stromkosten be-schwert, weil es immer mehr bezahlen muss. Sie habenuns gebeten, den Haushalt für das THW zu erhöhen, weilsie die Energiekosten nicht mehr bezahlen können. Soläuft eins ins andere.Jetzt noch einmal zu unserem Antrag. Es geht um diePrivilegien beim EEG, bei der Energie- und bei derStromsteuer. Der Spitzenausgleich bei der Ökosteuersoll bis 2022 verlängert werden. Auch hier werden Un-ternehmen im zweistelligen Milliardenbereich entlastet.Das ist jetzt neu und wird demnächst erst beschlossen.Es geht um Netzentgelte usw. In der Summe macht das9 Milliarden Euro im Jahr aus. Den größten Teil davonwürden wir anders verwenden, nämlich zur Abfederungder Kosten der Energiewende, nicht nur im privaten Be-reich, sondern auch zur Begleitung von Strukturbrüchen,also für Umschulung, Weiterbildung, Umzugsfinanzie-rung und einen gut abgesicherten Vorruhestand, worumes heute bei der Debatte um die Rente auch ging.
Ich meine, das sind wir den Kohlekumpels und vielenanderen, um deren Lebensleistung es hier nämlich geht,auch wirklich schuldig; denn zum Teil werden Arbeits-plätze vor Ort verloren gehen, ob mit oder ohne Privile-gierung. Wir müssen in neue Zukunftsbranchen investie-ren; das ist dringend notwendig.
Noch einmal: Es geht uns nicht darum, energieinten-sive Unternehmen niederzumachen. Das ist eine Lüge,die verbreitet wird.
Bei dieser Lüge – die Gewerkschaften wurden angespro-chen – mischen auch einige Kollegen von den Grünenund der SPD mit, die mir geschrieben haben. Sie müss-ten es eigentlich besser wissen; denn Ihre Kollegen hierwissen es besser.
Es geht uns darum, zu unterstützen und zu gucken,wer wirklich im Wettbewerb steht. Ich meine, hier kön-nen wir gemeinsam mit den kleinen Firmen kämpfen,die die steigenden Energiepreise zum Teil eben nichtüberleben werden. Wir kämpfen für Menschen mit nied-rigem Einkommen. Das macht nicht die FDP. Das ma-chen wir.
Wir wollen eine lebenswerte Zukunft und zukunftsfesteArbeitsplätze.Noch eine Information: Ich bin von Beruf Schlosse-rin. Das habe ich gelernt. Ich war bis zu meiner Wahl inden Bundestag als Schlosserin tätig.
Ich war acht Jahre im Bundestag und habe dann wiederdrei Jahre an der Basis gearbeitet. Ich kenne die Kolle-ginnen und Kollegen, ich habe den Job gemacht. Ich be-suche meine Kolleginnen und Kollegen auch.
Im Gegensatz zu Ihnen habe ich schon meine Schaufel inder Hand gehabt, wie das Polt, der Kabarettist, sagenwürde.
Das Wort hat nun Oliver Krischer für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
Metadaten/Kopzeile:
23436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(C)
(B)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist völlig klar: Es gibt in Deutschland energieintensiveBranchen, die im internationalen Wettbewerb stehen.
Diese brauchen Ausnahmen bei Umlagen und Steuern,weil sie sonst im internationalen Wettbewerb keineChance haben. Aber es gehört auch zur Wahrheit, dass esin Deutschland niedrigere Industriestrompreise und vorallen Dingen fallende Industriestrompreise gibt.Ich will Ihnen drei Beispiele nennen. Wir waren neu-lich bei der Firma Bayer MaterialScience. Dort wurdeuns eine schöne Grafik aufgelegt, und es hieß: Ja, inDeutschland ist das Niveau der Industriestrompreisegünstiger als beispielsweise in Frankreich, günstiger alsin Teilen des osteuropäischen Auslands. – Fragen Sie beiBayer MaterialScience nach, nicht unbedingt verdächtig,eine den Grünen besonders nahestehende Organisationzu sein.Ein weiteres Beispiel: Norsk Hydro, ein Alukonzern,verlagert seine Produktion nach Deutschland, weil hierdie Industriestrompreise niedrig sind, gefallen sind, un-ter anderem gesenkt durch den Ausbau der erneuerbarenEnergien, den Sie abbremsen wollen. Das ist die Reali-tät.Der bekannteste Aluhersteller, der größte privateStromverbraucher in Deutschland, die Firma Trimet inEssen – Herr Kauch, Sie kennen sie – meldet einen Ver-lust, aber – jetzt hören Sie zu! – nicht wegen gestiegenerStrompreise, sondern wegen gefallener Strompreise. DieFirma hatte darauf gewettet, dass die Strompreise stei-gen werden, hatte dafür entsprechende Versicherungenabgeschlossen, und jetzt muss sie zahlen. Das ist Realitätin Deutschland, nicht das Bild, das Sie hier zeichnen.
Unser Problem – das ist schon eine Reihe von Malenangesprochen worden – ist: Wir haben überbordendeAusnahmeregelungen. Das beste Beispiel dafür – ichmeine, Sie haben es eben eine Stilblüte genannt, HerrKauch – ist der Deutsche Wetterdienst. Ihr Minister, daswirtschaftspolitische Schwergewicht Herr Rösler, hat inder letzten Sitzungswoche hier gestanden und auf meineZwischenfrage geantwortet: Der Deutsche Wetterdienstbraucht diese Ausnahmeregelungen, weil er leistungsfä-hige Computer hat. – Meine Damen und Herren, auf die-sem Niveau arbeiten Sie.Erklären Sie mir bitte einmal, warum die Rechenzen-tren von Telekommunikationsunternehmen in Deutsch-land von den Netznutzungsentgelten befreit werden.Keine Erklärung! Es ist niemandem zu erklären, warumSie das wollen und warum Sie das machen. Sie könnenauch überhaupt niemandem erklären, warum RWE undVattenfall bei der Braunkohlenförderung von der EEG-Umlage befreit sind. Das ist eine Absurdität im Quadrat.Sie müssen tagtäglich daran arbeiten, das zu ändern.Es kommt hinzu, dass diese ganzen Regelungen völ-lig intransparent sind. Bei der EEG-Umlage ist es 1 Gi-gawatt, beim Netznutzungsentgelt haben Sie 10 Giga-watt festgelegt. Bei der Haftungsumlage Offshore, dieSie als Protokolldebatte einbringen, sind es plötzlich100 000 Kilowattstunden. Dann gibt es noch ein Eigen-stromprivileg für Unternehmen mit Kraftwerken. Dasführt zu der Absurdität, dass die Bundesregierung selbernicht mehr sagen kann, welche Industriezweige welcheBefreiungen haben. Das können Sie niemandem erklä-ren. Das können Sie draußen niemandem mehr verständ-lich machen.
Diese ganzen Subventionen summieren sich inzwi-schen auf über 10 Milliarden Euro. Über diesen Betragreden wir. Diesen müssen am Ende die privaten Verbrau-cher zahlen. Herr Kauch, wenn Sie hier den BDI kritisie-ren, dann müssen Sie einmal mit dem Kollegen Pfeiffervon der Wirtschafts-AG der CDU/CSU – Pfeiffer mitdrei f – in einen Dialog eintreten. Er schickt nämlich einPapier herum, in dem steht: Die Befreiungstatbeständesind noch lange nicht ausreichend. Wir wollen noch vielmehr. Er sagt offen und ehrlich und deutlich: Die Ver-braucherinnen und Verbraucher wollen die Energie-wende, dann sollen sie sie auch bezahlen. – Das ist dasCredo von Herrn Pfeiffer und weiten Teilen Ihrer Koali-tion.
So kann es ja nun nicht laufen, dass auf der einenSeite die Industrie durch Aufträge und sinkende Preisevon der Energiewende profitiert und auf der anderenSeite die privaten Verbraucher nur bezahlen. Das werdenwir nicht hinnehmen. Das muss ordentlich debattiert undam Ende geändert werden.
Der Antrag der Kollegen der Linken benennt die Pro-bleme in der Tat richtig. Aber wenn es an die Lösunggeht, wird es reichlich nebulös.
Dazu finde ich keinen guten Vorschlag. Deshalb werdenwir uns an dieser Stelle enthalten.Ich kann Ihnen ankündigen – das steht schon auf derTagesordnung –: Wir werden in der nächsten Woche ei-nen Antrag einbringen, in dem wir konkrete Vorschlägemachen, wie wir das Problem am Ende regeln werden.Es kann nur in der Weise sein, dass wir klare Grenzenziehen, was Energieintensität und Außenhandelsintensi-tät von Unternehmen angeht. Ich sage bewusst „und“,nicht „oder“; denn das sind die Kriterien.Wir müssen vor allen Dingen die absurden Schwellenund Stufenwerte abschaffen, die dazu führen, dass ein-zelne Unternehmen ihren Energieverbrauch künstlichhochschrauben, damit sie über eine bestimmte Schwelle
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23437
Oliver Krischer
(C)
(B)
hinauskommen. Dafür müssen wir Lösungen schaffen.Dazu sind Debattenbeiträge gefordert.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Wir werden sie liefern. Von Ihnen höre ich leider nur,
dass es immer noch mehr werden soll. Das wird nicht
funktionieren. Das zerstört die Akzeptanz der Energie-
wende.
Danke schön.
Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Lieber Kollege Krischer, wenn das alles überhauptkein Problem ist und die Industrie über die Strompreiseso wettbewerbsfähig ist, wie Sie es beschreiben, dannstellt sich mir die dringende Frage, warum Rot-Grün sei-nerzeit bei der Einführung des EEG zu genau dem Härte-fallmechanismus gekommen ist, den wir jetzt ausgewei-tet haben.
Aber warum denn? Ich möchte das einmal sagen. Wirlagen damals bei Differenzkosten von 0,2 Cent. Bei0,2 Cent haben Sie gesagt: Es gibt in Deutschland eineIndustrie, die man von dieser Umlage befreien muss,weil sie sonst in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gefährdetist. Wir sind jetzt – ich ziehe ausdrücklich das ab, wastatsächlich auf die Umlage entfällt – in etwa bei 3 CentUmlage. Das ist das Fünfzehnfache. Deshalb ist es rich-tig und wichtig, dass man sehr genau fragt, ob man dieBefreiung für die energieintensive Industrie nicht aus-weiten und auch dafür Sorge tragen muss, dass geradeder industrielle Mittelstand davon profitiert. Das ist ganzklar.Das haben wir getan. Wenn man allgemeine Regelun-gen schafft, kann man kritisieren, dass das eine oderandere nicht so trennscharf geschieht. Man kann auchkritisieren, dass es den einen oder anderen Gestaltungs-missbrauch gibt. Aber das spricht nicht gegen die Rege-lung.
Es spricht vielleicht dafür, dass man im Nachgang nocheinmal darüber nachdenkt, wie man den Gestaltungs-missbrauch unterbinden kann.Aber wir haben bewusst gesagt: Wer einen Stromkos-tenanteil von 14 Prozent an der Bruttowertschöpfunghat, ist aus unserer Sicht ab einer bestimmten Schwelleenergieintensiv. 14 Prozent der Kosten sind – Sie könnenKaufleute danach fragen – eine ganze Menge. Deshalbwar die Entscheidung richtig.
Weil man Ihnen das offenbar immer wieder sagenmuss, will ich noch einmal unterstreichen: Wir sind dasletzte verbliebene wirkliche Industrieland in der Euro-päischen Union. Unsere Industrie hat uns in der Krisestabilisiert. Gerade der industrielle Mittelstand hat unsstabilisiert. Deshalb ist es richtig und wichtig, ein beson-deres Augenmerk darauf zu richten. Wer das kritisiert,soll – das richte ich bewusst an die Linke – mir bittenicht morgen mit Sozialtarifen und anderen Ideen kom-men, was man noch alles tun sollte, um von der unterenSeite letztendlich dafür Sorge zu tragen, dass nur dieMittelschicht die Mehrkosten der Energiewende zahlenwird. Das wird nicht gehen.
Wenn man schon an dieser Stelle über Schuldfragendiskutiert:
Letztendlich geht es Ihnen nur darum, ein Ablenkungs-manöver zu starten. Von was wollen Sie ablenken? Siewollen davon ablenken, dass die jetzige Höhe der EEG-Umlage insbesondere darin begründet liegt, dass Sie mitder Photovoltaik zu früh und viel zu teuer an den Marktgegangen sind und sie viel zu früh und zu hoch subven-tioniert haben
und dass Sie uns immer wieder gebremst haben, wennwir das auf ein normales Niveau zurückführen wollten.
Das haben Sie getan, und das müssen Sie sich letztend-lich anrechnen lassen.
– Nein.
Metadaten/Kopzeile:
23438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Georg Nüßlein
(C)
(B)
– Es liegt mir völlig fern, irgendwelche Schwarzer-Peter-Spielchen, die Sie hier gerne spielen wollen, mit-zuspielen. Aber man muss schon einmal sagen, wo wel-che Kosten herkommen. Es wäre mir persönlich sehrviel lieber, wenn wir die Energiewende endlich wenigerproblem- und stärker lösungsorientiert diskutieren wür-den.
Wir sollten uns einmal ernsthaft Gedanken darübermachen, welchen Beitrag wir alle miteinander dazu leis-ten können, dass dieses schwierige Experiment gelingt.
Sie haben seinerzeit nur einen Beitrag zum Aufbau teu-rer Kapazitäten geleistet. Jetzt geht es darum, wie manaus den teuer aufgebauten Kapazitäten eine Versorgungaufbaut.
Dazu höre ich relativ wenig Konstruktives von IhrerSeite. Wenn es um die Netze geht, höre ich von Ihnenmehr Widerstand als Unterstützung zu dem, was man dareduzieren kann. Ich sage Ihnen jetzt schon, dass wir beider Speicherförderung etwas auf den Weg bringen wer-den.Wir müssen schauen, wie wir schneller und mehrMarktnähe hinbekommen. Auch da sind wir seit der letz-ten EEG-Novelle auf einem ausgesprochen guten Weg.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lenkert?
Bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Nüßlein. – Ich hätte zwei
kurze Fragen an Sie.
Erstens. Wie erklären Sie sich, dass der Strompreis
zwischen 2002 und 2012 von 14 Cent auf etwa 26 Cent
pro Kilowattstunde gestiegen ist, obwohl die EEG-Um-
lage nur um 3,5 Cent pro Kilowattstunde gestiegen ist?
Wo kommt der restliche Anstieg her?
Zweitens. Wissen Sie, dass die Hauptwiderstandskraft
gegen den Neubau eines Pumpspeicherwerkes, das wir
für die Energiewende dringend brauchen, ein ehemaliger
Landesminister der CDU in Thüringen, Herr Trautvetter,
ist? Was sagen Sie dazu? Wer steht hier der Energie-
wende im Weg?
Entschuldigung, Herr Kollege, den letzten Teil habe
ich akustisch nicht verstanden.
In Thüringen ist ein Pumpspeicherwerk geplant, das
wir für die Energiewende brauchen. Ein ehemaliger Lan-
desminister der CDU, Herr Trautvetter, ist die Speer-
spitze des Widerstandes gegen dieses Pumpspeicher-
werk. Was sagen Sie dazu?
Zunächst einmal kann ich nicht für ehemalige Lan-desminister sprechen und Ihnen auch nicht erklären, wassie denken. Das ist etwas, was man sie selber fragenmuss. Das ist das eine.
Das andere kann ich Ihnen erklären. Die Anstiege derStrompreise sind auch bedingt durch die Ökosteuer unddie Stromsteuer – ein Werk der linken Seite dieses Hau-ses –, die dafür gesorgt haben, dass der Strom deutlichteurer wird. Das muss man in dieser Klarheit einfacheinmal sagen.Ein Haushalt zahlt momentan, bezogen auf den Preiseiner Kilowattstunde Strom, 8 Prozent Ökosteuer und16 Prozent Mehrwertsteuer. Das ist eine ganze Menge.Irgendwann wird man auch darüber diskutieren müssen,wie genau man da einen Ausgleich hinbekommt. Dassage ich ganz offen und ehrlich. Ich glaube, dass eineHaltet-den-Dieb-Diskussion uns nichts bringt. Wir dür-fen nicht einseitig nur auf die EEG-Thematik schauen,sondern müssen auch einmal in Augenschein nehmen,was beispielsweise Ihre Ökosteuer den Verbraucher kos-tet, und darüber nachdenken, wie man da einen Aus-gleich hinbekommt. Auch das gehört zur Wahrheit.Ich weiß aber auch, wie unsere Haushalte aussehenund wie problematisch es ist, solche Steuern zu kürzen.Deswegen würde ich mir wünschen, dass wir in dieserDebatte ein bisschen ehrlicher, konstruktiver und ziel-orientierter miteinander umgehen und Sie nicht jede Wo-che mit derselben Leier und denselben Vorwürfen kom-men,
statt endlich konstruktiv darüber zu reden, wie man dieEnergiewende voranbringt. Vielleicht hat der eine oderandere von Ihnen auch dazu eine Idee. Das wäre zur Ab-wechslung gar nicht schlecht.Danke.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23439
(C)
(B)
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitzum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Un-berechtigte Privilegien der energieintensiven Industrieabschaffen – Kein Sponsoring der Konzerne durchStromkunden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/9999, den Antragder Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8608 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltungvon SPD und Grünen angenommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-ordnungspunkt 9 auf:Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbe-auftragtenJahresbericht 2011
– Drucksache 17/8400 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
RechtsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffnet die Aussprache. Das Wort hat der Wehr-beauftragte des Deutschen Bundestages, HellmutKönigshaus.
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-schen Bundestages:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren Abgeordnete! Bitte erlauben Sie mir, als Erstes einenherzlichen Gruß nach Bosnien-Herzegowina zu schi-cken. In diesen Minuten wird im EUFOR-Hauptquartierin Sarajevo die deutsche Flagge eingeholt. Damit endetder bislang längste Auslandseinsatz der Bundeswehr.Mehr als 63 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten wa-ren dort seit 1996 im Einsatz. Beim Besuch dort habe ichmich selbst von der hervorragenden und auch erfolgrei-chen Arbeit unserer Soldaten überzeugen können.Mein Dank gilt allen Soldatinnen und Soldaten, diedurch ihren Dienst in Bosnien-Herzegowina maßgeblichzur Stabilisierung der Region beigetragen haben.
Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle aber auchihren Angehörigen, die viel zu häufig vergessen werdenund manche Entbehrung und Belastung tragen mussten.Und: Ich gedenke in Trauer der Soldaten, die bei diesemEinsatz wie auch bei den anderen Einsätzen ihr Lebenlassen mussten oder die gesundheitlichen oder seeli-schen Schaden erlitten haben. Ihre Opfer werden unsstets mahnen.Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeord-nete, bitte erlauben Sie mir vorab zwei weitere kurzeAnmerkungen zu aktuellen Fragen.Erstens. Auch wenn es immer wieder bedauerlicheEinzelfälle gibt, die zu Recht hart geahndet wurden: DerWehrbeauftragte hat keine Erkenntnisse darüber, dass esallgemeine rechtsradikale Tendenzen in der Bundeswehrgibt. Bei noch immer beinahe 200 000 Soldatinnen undSoldaten liegen jedenfalls die bekanntgewordenen Vor-fälle glücklicherweise hinsichtlich Anzahl und Schwereunterhalb der Durchschnittswerte in der Gesellschaft.Dies gilt zweitens auch für die beklagenswerten sexu-ellen Übergriffe und Sexualdelikte, von denen wir lesenmussten. Ich möchte diese Vorfälle nicht bagatellisieren.Aber man darf sie auch nicht verallgemeinern. Auch dieentsprechenden Zahlen hierfür liegen unter dem statisti-schen Mittel der allgemeinen Kriminalitätsstatistik. Den-noch ist jede dieser schändlichen Taten eine zu viel. Ichwerde diesen beiden Bereichen auch in Zukunft beson-dere Aufmerksamkeit widmen.
Nun zum Jahresbericht. Mehr denn je bestimmt wei-terhin die laufende Neuausrichtung die Diskussion überdie Bundeswehr. Über die Probleme, die beim Übergangvon der Wehrpflicht zum Freiwilligendienst in denStreitkräften aufgetreten sind, habe ich berichtet. Siesind inzwischen größtenteils gelöst. Dennoch ist dieStimmung unter den Soldatinnen und Soldaten und mehrnoch unter ihren Angehörigen noch immer schlecht. Diejüngsten Erhebungen der TU Chemnitz, im Auftrag desDeutschen BundeswehrVerbandes erstellt, und des Sozial-wissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr haben nunauch wissenschaftlich belegt, was bereits Tenor meinesJahresberichts in diesem Punkt war. Die Soldaten ver-missen ein klar umrissenes Ziel der Reform und bezwei-feln, dass die jetzt eingeleiteten Umstrukturierungen Be-stand haben können. Vor allem kritisieren sie dieUmsetzung der Reform. Ich bin dem BundeswehrVer-band und seinem Vorsitzenden Oberst Kirsch – ich seheihn jetzt nicht; er wollte eigentlich anwesend sein; aberandere Vertreter des Verbandes sind da – sehr dankbarfür die klare Positionierung in diesem Punkt.Meine Damen und Herren, es gibt eben zu viele Bau-stellen, und zu wenige Lösungen prägen die Situation.Dazu einige Beispiele.Frauen steht der Dienst in den Streitkräften in allenVerwendungsreihen offen. Ihr Anteil ist auf zurzeit9,6 Prozent gestiegen. Zweifellos ist das ein großer Er-folg; denn ohne die Frauen wird die Bundeswehr ange-sichts der demografischen Entwicklung in Zukunft nochweniger auskommen als heute. Frauen aber bekommenerfreulicherweise Kinder, die meisten jedenfalls.Dieses Hohe Haus hat eine ganze Reihe von Gesetzenbeschlossen, um Frauen dazu zu ermutigen und es ihnenauch zu erleichtern, sich für ein Kind zu entscheiden. Inder Bundeswehr aber fehlt es vielfach noch an einemsolchen ermutigenden Klima. Stattdessen wird häufig
Metadaten/Kopzeile:
23440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
(C)
(B)
darauf verwiesen, dass in der Zeit der Schwangerschaft,des Mutterschutzes oder auch der Elternzeit der Soldatinoder auch des Soldaten andere deren Arbeit miterledigenmüssten. Das ist wahr und leider unter den derzeitigenGegebenheiten auch unvermeidbar. Gerade deshalb istes aber die Aufgabe des Dienstherrn, Strukturen zuschaffen, die dieses Problem lösen. Bis heute fehlt es andem dazu notwendigen personellen Vorhalten zur Kom-pensation familienbedingter Abwesenheiten. Hier mussbald etwas geschehen, übrigens nicht nur für die Mütter,sondern auch für die Väter, damit sie den vom Gesetzher besonders geförderten Anspruch auf Elternzeit auchwahrnehmen können.
Auch bei der Kinderbetreuung gibt es kaum Fort-schritte. Für die Bundeswehrkrankenhäuser in Ulm, Ko-blenz und Berlin sollen jetzt zwar eigene Kindergärteneingerichtet werden. Ohne solche Einrichtungen wärendie Krankenhäuser nach Aussage des Ministeriums imWettbewerb um die Gewinnung qualifizierten medizini-schen Personals nicht konkurrenzfähig. Das ist wahr.Wahr ist aber auch, dass das nicht nur für die Kranken-häuser gilt. Angesichts des von der demografischen Ent-wicklung angetriebenen Wettbewerbs mit der Wirtschaftum den Nachwuchs werden sich bald alle Bereiche derStreitkräfte einem solchen scharfen Wettbewerb stellenmüssen. Hier muss also an flächendeckenden Angebotengearbeitet werden, bevor es zu spät ist.Bei Besoldung und Betreuung gibt es dagegen durchdie Übernahme des Tarifabschlusses für die Soldatenspürbare Verbesserungen. Das wird in der Truppe auchanerkannt. Die Angebote bei einem früheren Ausschei-den aus dem Dienst nach dem Bundeswehrreform-Be-gleitgesetz werden indessen insbesondere von Portepee-unteroffizieren als nicht ausreichend empfunden. DieEntwicklung in diesem Bereich werde ich natürlich wei-ter verfolgen.Meine Damen und Herren, erhebliche Sorgen bereitetmir weiterhin der Sanitätsdienst; denn die sanitätsdienst-liche Versorgung in der Fläche ist weiteren Einschrän-kungen ausgesetzt. Die Zahl der regionalen Sanitätsein-richtungen wird nahezu halbiert. Dieser Verlust solldurch einen stärkeren Rückgriff auf niedergelasseneÄrzte kompensiert werden, was aber nicht überall gelin-gen kann. Deshalb muss gerade dort eine stärkere Prä-senz des Sanitätsdienstes gesichert bleiben, wo bereitsdie ärztliche Regelversorgung zu stark ausgedünnt ist.Weiterer Anstrengungen bedarf auch die Behandlungund Betreuung einsatzgeschädigter, insbesondere trau-matisierter Soldatinnen und Soldaten. Ziel muss hier dieVersorgung aus einer Hand auch über das Ende derDienstzeit hinaus sein.Positiv hervorzuheben sind die durch den DeutschenBundestag beschlossenen Verbesserungen bei der Ver-sorgung durch das Einsatzversorgungs-Verbesserungsge-setz und das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz. Dassind Maßnahmen, die die Situation der Betroffenen deut-lich verbessert haben. Den Mitgliedern des DeutschenBundestages, die diese Verbesserungen, die übrigensweit über die Vorstellungen der beteiligten Ministerienhinaus gingen, für unsere Soldatinnen und Soldatendurchgesetzt haben, gilt mein besonderer Dank.
Meine Damen und Herren, auch Ausstattung undAusrüstung im Einsatz sowie in der einsatzvorbereiten-den Ausbildung wurden weiter verbessert. Das ist anzu-erkennen. Aber es sind noch weitere erhebliche Anstren-gungen nötig, die ich dem Verteidigungs- und demHaushaltsausschuss bereits gesondert dargestellt habe.Dabei sollten übrigens bei der Beschaffung bürokra-tische Hemmnisse abgebaut werden. Nicht immer mussfür den Einsatz neuer Systeme jede zivile verkehrstech-nische oder arbeitsrechtliche Anforderung erfüllt sein,insbesondere dann nicht, wenn dadurch im militärischenEinsatz andere Einschränkungen der Sicherheit hinge-nommen werden müssen. Entscheidend ist doch, dassdie Truppe Systeme erhält, die den Anforderungen desEinsatzes gerecht werden und den Schutz der Soldatin-nen und Soldaten verbessern. Das muss die Richtschnurzukünftiger Beschaffungs- und Entwicklungsverfahrensein.Inakzeptabel war im Berichtsjahr das Fehlen von Mu-nition für Handfeuerwaffen und die dadurch bedingteunzureichende Schießausbildung. Die Stellungnahmedes Ministeriums dazu erschöpft sich in einer Erklärung,wie es zu dem Missstand gekommen ist, und sie gibt le-diglich einen Ausblick, wann die ergriffenen Maßnah-men voraussichtlich greifen werden. Das reicht in einerEinsatzarmee für die Behebung eines so eklatanten Man-gels nicht aus. Unsere Soldaten brauchen jeden Tag ihreerforderliche Munition, sie brauchen jeden Tag die ent-sprechende Ausrüstung. Ich bin froh, dass der Inspekteurder Streitkräftebasis nun eine neue Initiative zur Verbes-serung der Situation ergriffen hat.Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhangmöchte ich kurz auf die Kritik eingehen, die jüngst auchvon Abgeordneten an einigen meiner Äußerungen vor-gebracht wurde. Der Wehrbeauftragte des DeutschenBundestages ist nicht für konkrete Beschaffungsentschei-dungen und deren haushalterische Legitimation zuständig;dessen bin ich mir bewusst. Es ist aber meine Aufgabe,soweit erforderlich, auf Fähigkeitslücken hinzuweisen,auch wenn es natürlich Stimmen gibt, die das anders se-hen. Dies haben übrigens auch meine Vorgänger bereitszu Recht so gehalten, und so wird es auch anderswo ge-sehen. Im Vereinigten Königreich haben sich schon Ge-richte mit Vorwürfen über unzureichende Ausrüstungund Bewaffnung im Einsatz befassen müssen. So weitmuss es bei uns hoffentlich nicht kommen.Meine Damen und Herren, ich wiederhole gerne, wasich an dieser Stelle schon einmal gesagt habe: DieGrundrechte unserer Soldatinnen und Soldaten, insbe-sondere der Anspruch auf den Schutz ihrer körperlichenUnversehrtheit, würden verletzt, wenn andere Gesichts-punkte wie etwa Fragen der politischen Opportunität, in-dustriepolitische Gesichtspunkte oder KostengründeVorrang vor den Schutzansprüchen der Soldatinnen und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23441
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
(C)
(B)
Soldaten fänden. Ich bedauere aber, dass mein Hinweisauf eine anerkannte Fähigkeitslücke vereinzelt als dasAbwürgen einer ethischen Debatte empfunden wurde.Das war nicht meine Absicht, und es steht ja auch garnicht in meiner Macht.Frau Präsidentin, wenn ich darf – ich sehe, dass meineZeit abgelaufen ist –,
würde ich gerne noch einen Dank sagen. Abschließendbedanken möchte ich mich zuallererst natürlich bei unse-ren Soldatinnen und Soldaten, die einen hervorragendenDienst leisten, sowie selbstverständlich bei ihren Fami-lien.
Ich danke auch Ihnen, den Mitgliedern des DeutschenBundestages, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern für Ihre stets wohlwollende Begleitung meiner Ar-beit. Danken möchte ich auch dem Minister, dem Minis-terium, militärischen Dienststellen und allen, die mitmeinem Amt zusammenarbeiten, für die zumeist konst-ruktive Zusammenarbeit.Ein besonders herzlicher Dank gilt aber natürlichmeinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Amt desWehrbeauftragten. Sie sind hier durch die Führungs-kräfte vertreten. Sie alle haben in dieser Zeit des Um-bruchs viele zusätzliche Belastungen hervorragend ge-meistert. Dafür bin ich Ihnen dankbar.Meine Damen und Herren, Ihnen bin ich dankbar fürIhre Aufmerksamkeit.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,möchte ich im Namen des gesamten Hauses dem Wehr-beauftragten und natürlich seinen Mitarbeiterinnen undMitarbeitern für die Vorlage des Jahresberichts 2011 undebenso für ihr Engagement danken.
Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidi-gung, Dr. Thomas de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-teidigung:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istheute eine Debatte des Dankes, aber das ist ja auch rich-tig so. Herr Königshaus, ich möchte deshalb gerne dieGelegenheit nutzen, Ihren Mitarbeitern, aber auch Ihnenselbst für Ihre Arbeit zu danken. Wir mussten uns aucherst ein bisschen aneinander gewöhnen, als ich ins Amtkam und Sie ins Amt kamen.
– So wechselseitig. – Wir hatten auch Debatten über Ak-tenzugänge und all das; da hat es auch manchmal einbisschen gerumst. Aber das ist alles, glaube ich, einver-nehmlich gelöst. Ich bedanke mich auch für die differen-zierte Art und Weise, in der Sie vorgehen, in der Sie hiervorgetragen haben. Es gefällt einem Minister nicht im-mer, wenn man in die Ecken guckt, wo vielleicht einbisschen Staub ist. Aber das gehört dazu, und deswegenherzlichen Dank dafür.Ich möchte auf ein paar einzelne Punkte eingehen, dieSie angesprochen haben, und auch auf einen Punkt hin-weisen, den Sie in Ihrem Bericht aufgeführt hatten, aberheute nicht angesprochen haben.Zunächst: In der Haushaltsdebatte hatten wir schondarüber debattiert, dass es infolge der Neuausrichtungder Bundeswehr, insbesondere in einer Phase, in der dieUmsetzungsschritte noch nicht für jeden Mitarbeiter, fürjeden Soldaten und jede Soldatin, für jede Mitarbeiterinklar sind, zu Unsicherheit kommt. Das ist verständlich,und wir müssen daran arbeiten, dass diese Unsicherheitschnell abgebaut wird. Das tun wir, und dazu gehört na-türlich auch, den Dienst in der Bundeswehr attraktiv zuhalten. Es war gestern vorgesehen, dazu im Verteidi-gungsausschuss umfangreich vorzutragen. Dazu kam esnicht; das wird dann sicherlich in der nächsten Sitzungerfolgen. Aber ich glaube, in dieser Hinsicht ist doch ei-niges passiert, auch im Bereich der Kinderbetreuung.Dazu will ich gern eine Ergänzung anbringen; ichweiß nicht, ob wir uns da unterscheiden. Sie haben voneinem flächendeckenden Angebot gesprochen. – Soweit, so gut. Ich bin aber nicht der Auffassung, dass essich um ein flächendeckendes Angebot der Bundeswehrhandeln sollte. Das hängt nämlich von den Umständenvor Ort ab. Es mag manchmal nicht nur billiger, sondernfür das Aufwachsen der Kinder auch besser sein, dassvor Ort mit Belegungsrechten und in anderer Weise da-für Sorge getragen wird, dass die Kinder von Soldatin-nen und Soldaten anständig betreut werden.
Es kann sogar ein Fehler sein, Kindergärten einzu-richten, in denen nur Soldatenkinder sind. Ich habe inAmerika Großstandorte besucht. Da ist alles von der Ar-mee belegt: die Häuser, die Schulen, die Kindergärten,die Sportplätze. Ich möchte das in Deutschland nicht,sondern ich möchte, dass die Soldatinnen und Soldatenund ihre Angehörigen Teil der Gesellschaft sind undKinderbetreuung für sie stattfindet, ganz gleich wo. Dasheißt, durch uns organisierte Kinderbetreuung wird esnur an Großstandorten geben. Selbst in Ulm – Sie habendas Beispiel erwähnt – soll zusammen mit der Universi-tätsklinik ein Kindergarten eingerichtet werden, in demdie Kinder zusammen aufwachsen und spielen.Wenn wir unter Kinderbetreuung also verstehen, dassjeder ein Angebot haben soll, aber es kein bundes-wehreigenes Angebot sein muss, dann sind wir, glaubeich, einig.
Metadaten/Kopzeile:
23442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
(C)
(B)
Zur Sanität vor Ort: Ich hatte schon im Ausschuss undhier bei verschiedener Gelegenheit vorgetragen, dass dieRealisierungsplanung bis auf die Standortschießplätzeund damit zusammenhängende Fragen und bis auf Sani-tät abgeschlossen ist. Warum? Weil Sanität akzessorischist; Sanitätsversorgung muss ja da sein, wo Menschensind. Deswegen muss sich die Sanitätsversorgung etwaan die zeitliche Abfolge der Schließung von Standortenanpassen und ihr nachlaufen.Nun wird überlegt – das ist im Grunde unser Anspruch –,dass wir jedem Soldaten eine sanitätsdienstliche Versor-gung von uns zur Verfügung stellen. Nur, in kleinenStandorten ist dann diese Versorgung, wenn sie dennstattfindet, nicht nur teuer, sondern schlechter; denn wirkönnen gar nicht so viel Sanitäts- und ärztlichen Sachver-stand in kleinen Standorten vorhalten, dass es dort für dieFülle der denkbaren Krankheitsbilder eine gute Versor-gung gibt. Es kann nicht im Interesse der Soldatinnen undSoldaten liegen, dass sie vor Ort zu wenig Ärzte haben,die etwas von der Sache verstehen, oder für eine vielleichtharmlose Krankheit eine Stunde zu einem Sanitätsversor-gungszentrum fahren müssen, sondern es kann viel eherim Interesse der Soldatinnen und Soldaten sein, dass wirmit dem Hausarzt um die Ecke oder dem Internisten umdie Ecke einen Vertrag abschließen und sie zu ihm gehenkönnen und die Kosten erstattet bekommen, sodass nurdann, wenn es um Dinge geht, die in besonderer Weise sa-nitätsdienstlich für uns von Interesse sind, eine spezielleVersorgung in einem Sanitätsversorgungszentrum er-folgt. Ich glaube, das ist im Interesse der Soldatinnen undSoldaten sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ge-rade an kleinen Standorten, wenn wir diese vertragsärzt-liche Versorgung ausbauen können. Das Konzept kommtdemnächst.
Nun zur Ausrüstung: Das ist, wie Sie ja wissen, wiewir alle wissen, ein ständiger, wenn Sie so wollen, mah-nender Zeigefinger, den Sie erheben. Durch Sie, aberauch durch die Haushälter, durch den Verteidigungsaus-schuss und durch meine Vorgänger ist in diesem Bereichsehr viel passiert. Sicherlich ist manches zu spät gewe-sen, was Afghanistan angeht. Aber ich würde einmal dieBehauptung aufstellen, dass heute die Soldatinnen undSoldaten unserer Bundeswehr sowohl hinsichtlich ihrerAusrüstung wie auch bei der Fortbewegung und bei an-deren Formen im Schnitt besser geschützt sind als unsereVerbündeten. Das ist so. Ich will jetzt nicht die Staatenmiteinander vergleichen, weil sich das nicht gehört.Aber wenn man mit den Soldaten vor Ort spricht undwenn man manche Folgen von Anschlägen sieht, dannstellt man fest, dass das inzwischen so ist. Dies ist auchIhr Verdienst, und das ist gut so. Dass Sie weiterhin indiese Richtung drängen, versteht sich von selbst.Eine Bemerkung will ich mir nicht verkneifen, die Sienatürlich auch kennen: Nicht immer liegt das Abstellenvon Mängeln am Ministerium oder am Geld, sondernmanchmal liegt es auch an dem, der etwas liefern sollte.Das ist ein leidgeprüftes Thema, das ich jetzt auch nichtan Beispielen vertiefen will. Aber auch das gehört zurWahrheit.Herr Königshaus, Sie haben in Ihrem schriftlichenBericht einen Punkt angesprochen, auf den ich und vieleunserer Kollegen auch bei jedem Truppenbesuch ange-sprochen werden: Das ist das Thema Weiterverpflich-tung. Viele Zeitsoldaten fragen: Warum können wir nichtweiterverpflichtet werden, obwohl wir jetzt erfahrensind, gut sind und gut ausgebildet sind? Stattdessen wer-den heurige Hasen eingestellt, die keine Ahnung haben.Wie kann das gehen in einem Einsatz? – Das ist, glaubeich, ein zentraler Punkt. Ich will dazu gern zwei Dingesagen.Zunächst muss es immer eine richtige Mischung zwi-schen sehr Erfahrenen, mittelmäßig Erfahrenen und An-fängern geben. Wir würden unseren Nachfolgern ja kei-nen Gefallen tun, wenn wir jetzt alle erfahrenen Leuteweiter verpflichten. Denn wenn diese in fünf oder sechsJahren auf einmal ausscheiden, sind überhaupt keine er-fahrenen Kräfte mehr da. Deswegen muss es immer eineMischung geben.Nun ist der Eindruck erweckt worden – nicht von Ih-nen, aber von manchen in der Truppe –, das sei alles vielzu wenig, da finde nichts statt. Deswegen habe ich mirfür die heutige Debatte die Zahlen besorgen lassen, wiehoch die Zahl der Weiterverpflichtungen von Zeitsolda-ten ist, die als Z 4, Z 8 oder Z 12 angefangen haben, de-nen es dann gefallen hat oder bei denen der Vorgesetztegesagt hat: „Junge, bleib doch bei uns“, und bei denendie Prüfung der Weiterverpflichtung zu einem positivenErgebnis gekommen ist. Wie viele dieser Weiterver-pflichtungen hat es also gegeben? Es waren im Jahr 20103 180, es waren im Jahr 2011 – in dem Jahr, in dem dieWehrpflicht ausgesetzt worden ist und in dem die Lückenatürlich besonders groß war – 6 340, davon allein fast5 000 beim Heer, wo das Problem am größten war, undes sind im Jahr 2012 bisher fast 2 800. Das wird alsoschon gemacht.Natürlich wird jeder Fall, der abgelehnt wird, beson-ders betont, während die Fälle, die bewilligt werden, alsselbstverständlich angesehen werden. Wir bleiben dabei.In diesem Zusammenhang verweise ich noch einmal aufden Bundeshaushalt, für den wir die Höherbewertungvon rund 5 000 Stellen gerade für Mannschaftsdienst-grade beantragt haben in der Hoffnung, dass sie bewil-ligt wird. Einem Zeitsoldaten geht es ja nicht nur darum,länger zu bleiben; vielmehr verbindet er mit demWunsch, länger zu bleiben, auch die Erwartung, beför-dert zu werden. Dafür braucht man dann auch die ent-sprechenden Stellen.Wir brauchen hier Augenmaß und wir brauchen Ver-ständnis für beide Positionen, nämlich die Weiterver-pflichtung von Erfahrenen und das Bemühen um die Re-krutierung von Neuen, die später die Erfahrenen seinwerden. Das ist der Sinn und Zweck einer Armee, dieeben keine Berufsarmee, sondern eine Freiwilligenar-mee ist, die zu zwei Dritteln aus Zeitsoldaten und zu ei-nem Drittel aus Berufssoldaten besteht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23443
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
(C)
(B)
Meine Damen und Herren, das Ministerium wird wei-terhin die Arbeit des Wehrbeauftragten und seiner Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter konstruktiv begleiten. Wennes einmal knirscht, werden sich immer Wege finden, aufdenen wir das abzustellen versuchen. – HerzlichenDank.
Das Wort hat die Kollegin Karin Evers-Meyer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrter Herr Wehrbeauftragter!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dasswir heute den Jahresbericht 2011 des Wehrbeauftragtenim Plenum behandeln können.Wir haben eine Bundeswehr, die Hervorragendes leis-tet. Das hat der Herr Wehrbeauftragte eben schon aus-führlich gewürdigt. Ich möchte nicht nur als Verteidi-gungspolitikerin, sondern auch im Namen meinerFraktion allen Diensttuenden für ihren Einsatz und fürihr Engagement bei der Bundeswehr herzlich danken.
Ich wünsche mir natürlich, dass die im Bericht aufge-zeigten Defizite und Mängel zügig behoben werden, da-mit unsere Soldaten auch in Zukunft erfolgreich und si-cher ihren Dienst leisten können.Herr Wehrbeauftragter Königshaus, auch wenn wirvon der SPD noch in der Opposition sind,
möchte ich für Ihren Bericht nicht mit Lob sparen. Erspricht offen und mutig Missstände an, die es schnell ab-zustellen gilt. Der Bericht zeigt, wo angesetzt werdenmuss. Das verdient unser Lob. Wir schließen ausdrück-lich Ihre Mitarbeiter darin ein.
Ich denke, dass wir Dinge anpacken müssen, Dingeaus der Welt schaffen müssen, die immer noch die Quali-tät und Sicherheit der Arbeit unserer Streitkräfte gefähr-den. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, den Be-dürfnissen und Sorgen unserer Soldatinnen und Soldatenin der besonderen Weise nachzukommen, wie auch siefür unser Land in ganz besonderer Weise Belastungentragen. Lassen Sie uns Lösungen finden, damit sich vorallen Dingen in Zukunft Dienst und Familie besser ver-tragen.
Wir müssen zum Beispiel dafür sorgen, dass Müttermit Kindern unter zwei Jahren nicht in einen Auslands-einsatz geschickt werden.
Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Bundeswehrmehr Anstrengungen unternimmt, Kinderbetreuung zuermöglichen. Herr Minister, ich habe mit Freude zurKenntnis genommen, dass Sie gesagt haben, dass Weite-res folgen soll. Auch die Kooperation mit den Kommu-nen ist sicherlich sinnvoll. Das passt aber sehr oft nichtzusammen. Die Bundeswehr kauft sozusagen Plätze,aber die Öffnungszeiten der Einrichtungen entsprechennicht den Schichtdiensten der Soldaten. Schon stehendiese Eltern wieder ohne eine adäquate Betreuung da.Ich finde, da könnte man noch eine Schippe drauflegen.Das wäre sehr schön. Die Bundeswehr will doch ein at-traktiver Arbeitgeber sein. Ein attraktiver Arbeitgebermuss auch für vernünftige Kinderbetreuung sorgen.
Ein für meine Fraktion ganz wichtiges Thema ist dieBelastung von Soldatinnen und Soldaten bei Auslands-einsätzen. Das muss besser werden. Das muss in einemerträglichen Rahmen bleiben. Drei Auslandseinsätze inzwei Jahren sind zu viel für einen Soldaten oder eineSoldatin. Ich denke zum Beispiel an das deutsch-öster-reichische ORF-Bataillon in Bruchsal. Wir sind es denSoldatinnen und Soldaten schuldig, realistische Ruhezei-ten zwischen den Einsätzen sicherzustellen und die Be-lastung auf ein erträgliches Maß zu bringen.
Auch der Einwand, dass diese zusätzlichen Belastun-gen freiwillig übernommen werden, überzeugt michnicht. Das ist doch dann eher freiwilliger Zwang. Natür-lich lässt man seine Kameraden, mit denen man in meh-reren Einsätzen zusammen war, nicht im Stich, wenn siesagen: Du willst doch unsere Truppe nicht alleine gehenlassen. – Was nützt es, wenn diese Soldaten, die sehr oftjunge Familienväter sind, zurückkommen und vor denTrümmern ihrer Ehe stehen bzw. ihre Familie daran zer-brochen ist? Dieses Thema muss man viel ernster neh-men. Auch dieses Thema trägt zur Attraktivität der Bun-deswehr bei.Herr Wehrbeauftragter, eines muss ich noch anmer-ken, auch wenn Sie es schon angesprochen haben: Übereine Sache haben wir uns in den letzten Tagen etwas ge-wundert: Uns von der Opposition ist vielleicht entgan-gen, dass der Wehrbeauftragte neuerdings auch Ein-kaufsberater der Bundeswehr ist. Anders können wir unsIhre Kaufempfehlung für bewaffnete Drohnen nicht er-klären. Dabei ist Ihr Ansinnen sicherlich honorig: DieSicherheit der Soldatinnen und Soldaten im Auslands-einsatz soll gesteigert werden. Das sehen wir auch nichtanders. In der Frankfurter Rundschau vom Montag wer-den Sie allerdings mit den Worten zitiert:„Hätten unsere Soldaten bewaffnete Drohnen zurVerfügung, müssten sie nicht mehr hilflos zu-schauen, wenn unsere eigenen Leute bedroht wer-den“, …
Metadaten/Kopzeile:
23444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Karin Evers-Meyer
(C)
(B)
Herr Königshaus, wenn Sie es ernst meinen mit derSicherheit unserer Soldaten, dann lesen Sie doch bittenoch einmal in Ihrem Bericht nach, was dort zur Ausrüs-tung unserer Truppen geschrieben steht. Aus den Zeilen… im zehnten Jahr des Afghanistan-Einsatzes be-standen zahlreiche … Mängel im Bereich der Aus-rüstung fortgeht doch eindeutig hervor, wo nachgebessert werdenmuss. Die von Ihnen im Bericht ebenfalls beschriebenenMängel an Handwaffen und Munition geben zusätzli-chen Aufschluss. Jetzt auf ein schussbereites fliegendesAuge zu setzen, trägt eventuell in einigen Jahren zumehr Sicherheit bei. Aber diese Diskussion hilft dochnicht unseren Truppen, die heute im Auslandseinsatzsind.
Verstehen Sie mich bitte richtig: Wir finden wirklich,dass Sie ordentliche Arbeit leisten. Aber nehmen Siebitte Ihre gesetzlichen Aufgaben als Hilfsorgan des Bun-destages bei der Ausübung der parlamentarischen Kon-trollen wahr. Das operative Geschäft und die Material-und Waffenbeschaffung fallen unserer Meinung nach inein anderes Ressort.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Berichtdes Wehrbeauftragten von 2011 zeigt, wo gehandelt wer-den muss. Verteidigungsministerium und Bundeswehr-führung sind gefordert, den Rahmen so zu gestalten, dassunsere Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst bestmög-lich und mit möglichst geringer Gefährdung tun können.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Christoph Schnurr hat nun für die FDP-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Am 24. Januar2012 haben Sie, Herr Königshaus, uns den aktuellen Be-richt vorgelegt. Sie haben damit neue Maßstäbe gesetzt,was die zeitliche Unterrichtung des Deutschen Bundes-tages betrifft.
Manchmal wäre man froh, wenn der eine oder andereBericht ebenfalls zeitnah vorläge. Wenn das dann, wiejetzt beim Wehrbericht, einmal der Fall ist, Herr KollegeKoch, dann muss man das auch positiv erwähnen.In diesem Zusammenhang möchte ich im Namenmeiner Fraktion insbesondere Ihrem Hause meinenDank aussprechen; denn ohne Ihre Mitarbeiterinnen undMitarbeiter wäre diese schnelle Umsetzung sicherlichnicht gelungen.Ich möchte gleichzeitig aber auch all denjenigen dan-ken, die die unterschiedlichsten Eingaben – ob es nunBriefe, E-Mails, Faxe oder teilweise auch Telefonate wa-ren – Ihnen zukommen ließen, auf deren Grundlage Siediesen Bericht verfasst haben. Im Grunde sind die Peten-ten die eigentlichen Verfasser dieses Berichtes. Sie schil-dern ihre Erfahrungen mit diversen Missständen und lei-der teilweise auch mit dem gelegentlichen Fehlverhaltenvon Kameraden.Dabei dürfen wir eines nicht vergessen: Der Jahresbe-richt des Wehrbeauftragten wird eben auch von denjeni-gen Menschen in Deutschland gelesen, die sich eineKarriere bei der Bundeswehr vorstellen können. Das In-teresse an diesem Jahresbericht 2011 ist vorhanden. Seitder Übergabe wurde er über 36 000-mal heruntergela-den. Das zeigt, dass er nicht nur eine von vielen Druck-sachen ist, die sicherlich in der Bundeswehr interessiertzur Kenntnis genommen wird, sondern dass dieser Be-richt auch in der Breite der Gesellschaft Beachtung fin-det. Darüber sollten wir uns im Klaren sein. Der Berichtund die darin beschriebenen Missstände sind entschei-dend dafür, wie die Bundeswehr im Lande wahrgenom-men wird.Ich möchte auf drei wesentliche Punkte eingehen, dieHerr Königshaus und der Minister zu Beginn schon an-gesprochen haben.Erstens. Ein wichtiger Punkt ist die wesentliche Ver-besserung von Ausstattung und Ausrüstung über dieletzten Jahre hinweg. Hierzu gehört auch – wenn ich dasan dieser Stelle ergänzen darf – die immer besser wer-dende einsatzvorbereitende Ausbildung. Hier sind vielefinanzielle Mittel geflossen, damit unsere Soldatinnenund Soldaten eben nicht erst im Einsatz die entsprechen-den Fahrzeuge oder Systeme bedienen müssen, ohne sievorher erprobt zu haben. Sie sollen schon hier inDeutschland bestmöglich ausgerüstet werden.Momentan haben wir über 1 000 geschützte Fahr-zeuge; das ist ein sehr hoher Stand. Es ist nur richtig,dass diese Fahrzeuge, die derzeit wieder aus dem Aus-landseinsatz zurückgeführt werden, unmittelbar für dieeinsatzvorbereitende Ausbildung genutzt werden. Da-mit wird sichergestellt, dass die Fahrer einen routiniertenUmgang mit den jeweiligen Fahrzeugen erlernen kön-nen. Hier sind wir auf einem guten Weg.Natürlich gab es in der Vergangenheit immer wiedereinzelne Probleme. Insgesamt lässt sich jedoch festhal-ten, dass wir auch die Erfahrungen, die wir bei den un-terschiedlichsten Gesprächen im Rahmen von Truppen-besuchen im Inland oder im Ausland gesammelt haben,in den Verteidigungsausschuss oder in den Haushaltsaus-schuss einbringen konnten. An dieser Stelle geht meinexpliziter Dank an unsere Haushälter dafür, dass fürwichtige Investitionen, für wichtige Beschaffungsvorha-ben, für Ausrüstung und für Ausbildung die jeweils be-nötigten finanziellen Mittel bereitgestellt wurden.Wenn wir über den Schutz im Einsatz sprechen, danndarf der Tiger nicht unerwähnt bleiben. Ich glaube, dass
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23445
Christoph Schnurr
(C)
(B)
wir recht gut in der Zeit liegen, und hoffe, dass es in die-sem Zusammenhang keine weiteren Verschiebungenmehr gibt.Zweitens. Ein weiterer wichtiger Punkt, über den wirim Deutschen Bundestag schon einmal diskutiert haben,ist die Betreuungskommunikation. Es gab einen inter-fraktionellen Antrag, der eine sehr starke Wirkung hatte.Einiges aus diesem Antrag ist bereits umgesetzt worden.So sind die praktischen Maßnahmen zum Schutz der Pri-vatsphäre durchgeführt worden. Die Erhöhung derBandbreite für die Internetnutzung sollte zeitnah erfol-gen und bald auch abgeschlossen sein.Selbstverständlich – darauf möchte ich an dieserStelle noch einmal hinweisen – erwarten wir auch wei-terhin die volle Umsetzung des kompletten Antrags, denwir im Deutschen Bundestag beschlossen haben. Dasgilt insbesondere für das zum Ende dieses Jahres ange-kündigte Umsetzungskonzept zur kostenfreien Nutzungdes Internets.
Dazu gehört auch, dass wir uns nicht nur die Bereicheanschauen, die oft im Fokus der politischen und gesell-schaftlichen Diskussion stehen, wie beispielsweise derEinsatz in Afghanistan. Wir müssen uns vielmehr auchden Bereich der Marine im Einzelnen vornehmen; dennauch hier gibt es vermehrt Baustellen, was die Telekom-munikationsmöglichkeiten auf Schiffen anbelangt.
Drittens: die Neuausrichtung. Die Frage der Attrakti-vität der Bundeswehr wurde immer wieder gestellt; siebegleitet uns seit Jahren und wird uns auch in den nächs-ten Jahren begleiten. Denn die Bundeswehr ist natürlichein Arbeitgeber, der um die qualifiziertesten und fähigs-ten jungen Männer, aber auch Frauen wirbt. Wir habenhier einen guten Weg eingeschlagen; die ersten Maßnah-men sind beschlossen und auch umgesetzt. Aber ichglaube, dass dies nicht das Ende sein darf.Die Zahlen sprechen für sich: Am 1. Oktober, kom-menden Montag, werden 3 500 Freiwillige ihren Dienstantreten und circa 3 000 Soldaten auf Zeit ihren Dienstbeginnen. Das zeigt doch, dass die Bundeswehr nach derAussetzung der Wehrpflicht durchaus noch attraktiv ist.Wir haben erreicht, dass die Bundeswehr weiterhin inunserer Demokratie verankert ist, und wir konnten sieals attraktiven Arbeitgeber positionieren und darstellen.Wenn ich es in der heutigen Meldung richtig gelesenhabe, haben sogar mehr als 50 Prozent derjenigen, dieam kommenden Montag ihren freiwilligen Wehrdienstbei der Bundeswehr beginnen werden, Abitur. Die ur-sprüngliche Befürchtung, dass keiner mehr zur Bundes-wehr gehen will, wenn die Wehrpflicht ausgesetzt ist, hatsich nicht bestätigt. Insofern glaube ich, dass wir auch indiesem Punkt auf einem guten Weg sind.
Ich sehe, dass meine Redezeit rasant schwindet. Ichmöchte noch einen Punkt ansprechen, der ebenfalls zumThema Neuausrichtung gehört. Frau Präsidentin, ich ver-spreche Ihnen: Es geht schnell.Herr Wehrbeauftragter, ich glaube, Sie haben schonviele Gespräche zum Thema Neuausrichtung geführt.Wir dürfen nicht vergessen: Es geht hier nicht nur umeine strategische Frage, die sicherheitspolitisch abgelei-tet wird, sondern es geht bei dieser ganzen Reform auchum Menschen; es geht um unsere Soldatinnen und Sol-daten und um die zivilen Angestellten. Deswegen ist eswichtig, dass wir uns unter anderem die Studie des Deut-schen BundeswehrVerbandes sehr detailliert anschauen.Darin steht nicht nur Negatives, allerdings auch nichtnur Positives.Lassen Sie mich am Ende noch eines sagen: Ichglaube, nicht alles ist perfekt. Aber für uns ist klar: Re-formen bedeuten Veränderungen. Wer diese Veränderun-gen nicht haben will, der sollte nicht nach Reformen ru-fen. Mein Dank gilt den Angehörigen der Bundeswehr,unseren Soldatinnen und Soldaten, den Zivilisten, aberauch den Reservisten und ganz besonders den Familien.Vielen Dank.
Der Kollege Harald Koch hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrter Herr Königshaus! Wir reden heuteüber den Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr2011, also über all diejenigen Probleme, Verfehlungen,Mängel und Unzufriedenheiten, wegen denen sich dieSoldatinnen und Soldaten im letzten Jahr an Sie gewandthaben. Dabei ist ein Phänomen zu beobachten, nämlichdass die aufgezählten Defizite Jahr für Jahr nahezu iden-tisch sind.Wir sprechen jedes Jahr aufs Neue über die unzurei-chende medizinische Versorgung und Absicherung derSoldatinnen und Soldaten, die im Einsatz verwundetoder traumatisiert werden. Wir sprechen jedes Jahr wie-der über grobes Fehlverhalten von Vorgesetzten oderüber unangemessene und herabwürdigende Aufnahmeri-tuale. Auch die ausbleibenden Fortschritte bei der Ver-einbarkeit von Dienst und Familie und die daraus resul-tierenden Trennungs- und Scheidungsquoten unter denSoldatinnen und Soldaten von zum Teil über 80 Prozentsind immer wieder ein Thema, ganz zu schweigen vonder kritischen Personalsituation im Sanitätsdienst oderder Unzufriedenheit über die halbherzigen Entschädi-gungsanstrengungen gegenüber den Radarstrahlenop-fern.Herr Königshaus, verstehen Sie mich nicht falsch: Esist gut und richtig, dass Sie all diese Mängel und Pro-bleme Jahr für Jahr auflisten und zur Sprache bringen.
Metadaten/Kopzeile:
23446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Harald Koch
(C)
(B)
Es ist aber äußerst bedenklich, dass dies anscheinend garnichts an der Situation ändert. Da muss ich in Richtungdes Ministers die Frage stellen: Wie lange soll das nochso weitergehen?
Sie sprechen in Ihrem Bericht von schlechter Stim-mung und tiefgreifender Verunsicherung in der Truppe.Dies wurde mittels der Studie des Deutschen Bundes-wehrVerbandes nun auch wissenschaftlich belegt. Ichsage Ihnen: Das Ganze kommt nicht von ungefähr, es hathausgemachte Ursachen.Zum einen wird in der Bundeswehr alles der uneinge-schränkten Einsatzfähigkeit untergeordnet. Wenn dasGeld nach der Beschaffung von millionenschwerenKriegsgeräten ausgegangen ist oder es in den Augen derEinsatzleitung nötig ist, dass Soldatinnen und Soldatensechs Monate oder länger am Stück im Einsatz sind,dann fallen die Interessen der Betroffenen hinten herun-ter und werden als nicht so wichtig erachtet. Das spürendie Soldatinnen und Soldaten auch. Das ist für die Linkenicht hinnehmbar und muss dringend überdacht werden.
Zum anderen wurde von Anfang an vergessen, dieSoldatinnen und Soldaten bei der Reform der Bundes-wehr mitzunehmen. Stattdessen wird jetzt versucht, einunausgegorenes und falsch konstruiertes Konzept vonoben herab überzustülpen. Dass da massive Unzufrie-denheiten entstehen und gut 90 Prozent der Befragten– das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen las-sen: 90 Prozent – im Rahmen der Studie des Bundes-wehrVerbandes der Meinung sind, dass diese Reformnicht von Dauer sein wird und Korrekturen unumgäng-lich sind, kann ich nur zu gut nachvollziehen. Daherkann ich dem Verteidigungsminister nur raten, diese Pro-bleme nicht länger abzutun bzw. zu ignorieren. NehmenSie die Bedürfnisse der Soldatinnen und Soldaten end-lich ernst und ändern Sie etwas. Es wird höchste Zeit.
Eines möchte ich dennoch betonen: Der Wehrbeauf-tragte – ich schließe seine Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter mit ein – macht eine sehr gute Arbeit. Er trägtdazu bei, dass Verfehlungen nicht unter den Teppich ge-kehrt werden, dass aufgeklärt wird und dass manchmalauch unangenehme Fragen auf der Tagesordnung stehen.Dafür möchte ich ihm und seinen Mitarbeitern danken.
Herr Königshaus, was aber meines Erachtens garnicht geht – das ist heute schon mehrfach angesprochenworden –, ist, dass Sie sich zum Gehilfen der Rüstungs-lobby machen und nun bewaffnete Drohnen für die Bun-deswehr fordern. Als Begründung führen Sie an – dashaben Sie noch einmal gesagt –, dass das die Sicherheitder Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzenerhöhen würde. Aber was ist mit der Sicherheit der vie-len unschuldigen Zivilistinnen und Zivilisten, die durchbewaffnete Drohnen ums Leben kommen? Ist die weni-ger wichtig? Was ist mit der moralischen und ethischenDimension des Ganzen?
Was ist mit dem Herabsinken der Schwelle für Gewalt-anwendung, der drohenden Abstumpfung, wenn der po-tenzielle Gegner von weit weg per Knopfdruck ausge-schaltet wird? Ist das auch nur um einen Deut besser?Für mich definitiv nicht.
Herr Königshaus, Ihre Aufgabe ist es, die Rechte derSoldatinnen und Soldaten zu schützen sowie dem Bundes-tag bei der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte be-hilflich zu sein. Verwenden Sie daher Ihre Energie lieberdarauf, dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr end-lich beendet werden.
Das bedeutet Sicherheit für die Soldatinnen und Solda-ten.
Das würde zeigen, dass die Bedürfnisse der Soldatinnenund Soldaten ernst genommen werden. KonzentrierenSie sich auf Ihre eigentliche Aufgabe und lassen Sie dieFinger von Drohnen und anderem Kampfgerät. Damit istden Soldatinnen und Soldaten am meisten geholfen.Danke schön.
Der Kollege Omid Nouripour hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibtgute und es gibt schlechte Routinen. Zu den guten Routi-nen gehört, dass wir immer wieder zusammenkommen,um über den jährlichen Bericht des Wehrbeauftragten zusprechen. In diesem Zusammenhang gehört es dazu, Ih-nen, Herr Wehrbeauftragter, und Ihren Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern für die gute Arbeit, die Sie leisten,herzlich zu danken. Der Wehrbeauftragte ist eine Institu-tion, die international einmalig und für eine Parlaments-armee zwingend notwendig ist.
Keine Routine ist der Bericht selbst, der in der Regelsehr gründlich und sehr gut strukturiert vorliegt.Sie haben vorhin gesagt, dass ich Ihnen in Bezug aufdas Thema Kampfdrohnen das Abwürgen der Debattevorgeworfen habe. Dazu möchte ich ein paar Sätze sa-gen. Wir brauchen bei diesem Thema Zeit für eine Dis-kussion, die sowohl die ethischen als auch die rechtli-chen Aspekte berücksichtigt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23447
Omid Nouripour
(C)
(B)
Den Zeitdruck, der hier immer wieder herbeigeredetwird, indem gesagt wird, dass wir jetzt schnell entschei-den müssen, gibt es schlicht nicht. Wenn Sie diesemZeitdruck sozusagen das Wort reden, dann würgen Siedamit die Debatte ab. Das habe ich gemeint. Helfen Sieuns bitte, dass wir diese Debatte führen können.
Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, ich kann nur fest-halten: Der Kollege Ernst-Reinhard Beck von der CDU/CSU hat in der letzten Haushaltsdebatte gesagt, dass esdurchaus möglich und kein Problem wäre, den Einsatzvon Heron 1 erst einmal zu verlängern. Dann hätten wirausreichend Zeit, um diese Debatte zu führen. Natürlichist es Ihr gutes Recht und es ist auch Teil Ihrer Aufgabe,auf Fähigkeitslücken hinzuweisen. Das ist unbestritten.Lassen Sie mich aber drei Gründe nennen – und das sindnicht die einzigen –, warum wir diese Debatte brauchen:Erstens. Es gibt unglaublich viele Großinvestitionenbei der Bundeswehr, bei denen erst beschafft und danndiskutiert wurde. Das wissen Sie selbst.
Es gibt so viele Investitionsruinen. Das hat mit demSchutz der Soldatinnen und Soldaten nichts zu tun.Zweitens. Wenn wir über den Schutz der Soldatinnenund Soldaten reden, dann sollten wir auch darüber reden,dass in den US-Streitkräften die Suizidrate bei denjeni-gen, die Kampfdrohnen steuern, höher ist als bei denje-nigen, die Bomber fliegen.
Drittens. Wenn Sie betonen, dass der Schutz der Sol-datinnen und Soldaten gewährleistet sein muss, dannmüssen wir natürlich auch solche Aspekte, die die ethi-sche Grundlage eines solchen Einsatzes berühren, be-rücksichtigen.Der Minister hat, sofern das gestern in der StuttgarterZeitung richtig zitiert wurde, gesagt:Gezieltes Töten ist ein Fortschritt. Es vermindertKollateralschäden und sorgt für weniger nicht ge-wollte Opfer und Geschädigte.Dass es einen Fortschritt bringen soll, wenn man auf Ge-richtsverfahren verzichtet, ist etwas, worüber man hierunter ethischen Geschichtspunkten einmal ganz drin-gend diskutieren muss.
Wir brauchen ganz dringend ausreichend Zeit, um dieDebatte führen zu können.In dieser Debatte gibt es auch eine schlechte Routine.Zur schlechten Routine gehört, dass wir gewisse PunkteJahr für Jahr im Bericht des Wehrbeauftragten finden.Lassen Sie mich auch hier einige Beispiele anführen:Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist schonmehrfach genannt worden. Es hilft einfach nicht, immerwieder darauf hinzuweisen, dass es 300 Eltern-Kind-Zimmer gibt. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie be-sonders häufig genutzt werden und dass sie besondershilfreich sind. Die Vereinbarkeit von Familie und Berufist aber von zentraler Bedeutung, wenn es um das ThemaAttraktivität geht und wenn es um die Frage geht, wenman für die Bundeswehr gewinnen kann.Der Sanitätsdienst ist ein immer wiederkehrendesThema. Das gilt auch für die psychologische Betreuung.Dabei geht es insbesondere um die Betreuung derjeni-gen, die zu Schaden gekommen sind, und um die Betreu-ung der Angehörigen der Versehrten. Das ist natürlichein sehr wichtiges Thema. Die Tatsache, dass die Hälfteder Dienstposten in diesem Feld nicht besetzt ist – auchdas liest man in Ihrem Bericht –, stellt ein erheblichesProblem dar.Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Bitte äu-ßern, die Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, nicht neu ist; wirhaben sie in den letzten Jahren immer wieder formuliert.Wenn man sich anschaut, wer sich freiwillig zur Bundes-wehr meldet, dann stellt man fest, dass über 25 Prozentder Bewerber einen Migrationshintergrund haben. Dasbringt langfristig eine massive Veränderung des Charak-ters der Bundeswehr mit sich.
Ich glaube, dass das auch große Veränderungen für dieGesellschaft mit sich bringen kann. Es würde mich sehrfreuen, wenn Sie sich in Ihrem Bericht eingehend mitdiesem Thema beschäftigen würden, mit den Chancenund den Problemen, die damit verbunden sein können.Ich glaube, dass uns das in den nächsten Jahren sehrstark beschäftigen wird.Herr Wehrbeauftragter, herzlichen Dank für den Be-richt, den Sie vorgelegt haben.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Anita
Schäfer das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, IhrBericht für das Jahr 2011 ist eine Besonderheit; denn erumfasst erstmals einen Zeitraum nach der Aussetzungder Wehrpflicht im vergangenen Sommer. Das war dergrößte Umbruch in der Geschichte der Bundeswehr, unddas bei weiterlaufenden, auch sehr gefährlichen Einsät-zen. Das entspricht, wie der Bundesverteidigungsminis-
Metadaten/Kopzeile:
23448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Anita Schäfer
(C)
(B)
ter es damals bei der Vorstellung der Reform bemerkthat, in etwa einer „Operation am offenen Herzen bei ei-nem Patienten, der noch die Straße entlangläuft“.Angesichts dieser Umstände können wir feststellen,dass der Patient das erste Jahr nach der Operation bemer-kenswert gut überstanden hat. Dabei will ich nicht ver-schweigen, dass es im Zusammenhang mit der Umset-zung der Reform noch einige Beschwerden gibt, die sichim Bericht des Wehrbeauftragten, aber auch in der kürz-lich vom BundeswehrVerband vorgestellten Befragungmilitärischer Führungskräfte wiederfinden.Uns als Regierungskoalition muss es also vor allemdarum gehen, die Soldaten und zivilen Mitarbeiter dabeimitzunehmen. Deswegen wird es eine wesentliche Auf-gabe des Verteidigungsministeriums, aber auch von unsAbgeordneten bleiben, die Kommunikation mit derTruppe auf allen Ebenen weiterzuführen, die Reformbe-mühungen zu vermitteln und die Rückmeldungen, Be-schwerden und Vorschläge der Soldaten aufzunehmen.Trotz der gegenwärtig noch schwierigen Situation istdas Bewerberaufkommen aber weiterhin hervorragend,obwohl die Bundeswehr nun auf einem Markt mit denniedrigsten Arbeitslosenzahlen seit 20 Jahren um ihrengesamten Nachwuchs werben muss. Es kommen alsonicht einfach diejenigen, die sonst nichts finden, wie vonmanchen prophezeit. Neben der Rekrutierung von Zeit-soldaten erfüllt auch der neue freiwillige Wehrdienst dieErwartungen, wobei es allerdings eine Abbrecherquotevon etwa 27 Prozent in den ersten zwei Monaten desDienstes gibt. Das kann uns zwar nicht befriedigen, ent-spricht aber ziemlich genau den Erfahrungen der Wirt-schaft. Selbst so verbleiben mehr als ausreichend frei-willig Wehrdienstleistende.Von denen, die ihren Dienst jetzt im Oktober antreten,hat über die Hälfte Abitur, fast ein Drittel die mittlereReife und jeder Neunte bereits einen Berufsabschluss.Es sind also junge Männer und Frauen, die durchaus alleMöglichkeiten haben, die sich aber für eine gewisse Zeitfür unser Land und unsere Gesellschaft engagieren wol-len, wobei wir ja beispielsweise auch schon den Fall ei-ner 41-jährigen Mutter von drei erwachsenen Kindernhatten, die kurzerhand diese Möglichkeit wahrgenom-men hat. Insgesamt – auch das muss man sagen – ist al-lerdings der Frauenanteil unter den freiwillig Wehr-dienstleistenden mit 6 bis 8 Prozent relativ gering. Dagibt es also noch Potenzial, das man ausschöpfen kann.Ein wichtiger Punkt bei der Nachwuchsgewinnung istdie Attraktivität des Dienstes. Für engagierte Staatsbür-ger war die Bundeswehr schon immer attraktiv, aber wirmüssen gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tra-gen, die auch vor Soldaten nicht haltmachen, wie zumBeispiel die zunehmende Zahl von Beziehungen zwi-schen berufstätigen Partnern, mehr Pendler etc. Deswe-gen freut es mich besonders, dass die über 40 Maßnah-men aus dem Attraktivitätspaket des Bundesministeriumsder Verteidigung im Haushalt 2013 voll abgedeckt sind.Wir müssen jungen Menschen ein Angebot machen,das ihnen die Entscheidung für die Bundeswehr erleich-tert. Dazu gehört nach meiner Überzeugung auch eineweitere Verbesserung des Standards der Unterkünfte.Kürzlich war ich mit dem Verteidigungsminister bei sei-nem Besuch am Standort Zweibrücken in meinem Wahl-kreis einig: Es müssen ja keine Hotelzimmer sein, aberdie alten Sechsbettstuben werden es künftig auch nichtmehr tun. Das Gleiche gilt für die Modernisierung derAusrüstung. Hier wollen wir trotz knapper Kassen allesMögliche tun, damit das bestmögliche Gerät die Solda-ten auf dem schnellstmöglichen Weg erreicht.
Den hierzu vorgesehenen neuen integrierten Pla-nungsprozess begrüße ich deshalb ausdrücklich. Es wirdnun darauf ankommen, diesen Prozess in den neuenStrukturen des Bundesministeriums der Verteidigungund seines nachgeordneten Bereichs mit Leben zu erfül-len und zu einem Erfolg vor allem für die Menschen imEinsatz zu bringen. Wir von der Koalition werden diesenProzess aufmerksam begleiten und, wo immer wir gefor-dert sind, tatkräftig unterstützen.Ich möchte noch einen Einzelpunkt aus dem Berichtherausgreifen, weil sich Soldaten im Gespräch mit mirrecht häufig dazu äußern. Es handelt sich dabei um dasseit 2007 geltende Beurteilungssystem. Bekanntlichwurde es eingeführt, um der Inflation von Bestnoten un-ter dem vorherigen System entgegenzuwirken. Diesewurde mit der Quotierung von Bewertungsstufen inner-halb der Vergleichsgruppen abgestellt. Wie sich aber ge-zeigt hat, bringt das neue Verfahren seine eigenen Pro-bleme mit sich. Weil Bestnoten nur noch begrenztvergeben werden dürfen, teilen wohlmeinende Vorge-setzte sie häufig denjenigen Soldaten zu, die sie für wei-tere Beförderungen oder die Übernahme zum Berufssol-daten brauchen, was natürlich ungerecht gegenüberebenso leistungsstarken Kameraden ist, für die aberkeine guten Noten mehr übrig sind.Ein wesentlicher Grund für diese unbeabsichtigtenFolgen ist der immer wieder angesprochene Beförde-rungsstau. Ich hoffe, dass das künftig flexiblere Ver-pflichtungssystem dieses Problem an der Wurzel packt,da hiermit der Anteil an Berufssoldaten, die vorhandenePlanstellen für lange Zeit besetzen, verringert wird.Auch die demografische Entwicklung wird sicher eini-ges dazu beitragen, wenn die geburtenstarken Jahrgängeaus dem Dienst scheiden. Dann sollten wir ein fertigesKonzept zur weiteren Verbesserung des Beurteilungssys-tems haben; denn auch gute Karriereaussichten gehörenzur Attraktivität des Dienstes.Letztlich gehört dazu auch die gesellschaftliche Aner-kennung im Hinblick auf den Wert dieses Dienstes. Ichhabe den Mangel daran hier oft beklagt, sodass ich jetztauch einmal ein Lob aussprechen möchte; denn langsamändert sich etwas. Das sehen wir gerade an der wachsen-den Zahl von Repräsentanten nicht nur aus der Politik,sondern auch aus der Kunst und der Unterhaltung, diesich dafür engagieren. Wir brauchen all diese Formen.Ich möchte allen danken, die sich auf verschiedenste Artdafür engagieren. Denn unsere Soldaten leisten ihrenDienst für uns alle, und sie sollten dafür auch den ent-sprechenden Rückhalt in der Gesellschaft finden. Daransollten wir alle arbeiten.Herzlichen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23449
(C)
(B)
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege
Wolfgang Hellmich das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächstmöchte ich mich beim Wehrbeauftragten des DeutschenBundestages für den sehr ausführlichen Bericht für dasJahr 2011 herzlich bedanken. Ausdrücklich möchte ichdas Bemühen des Wehrbeauftragten hervorheben, dieAusrüstung der Soldatinnen und Soldaten deutlich zuverbessern. Damit steht er in der guten Tradition seinerVorgänger; das ist auch in der Truppe angekommen.
Die Frage ist: Trifft dieser Bericht die Realität? DieMesslatte ist schließlich der Alltag unserer Truppe, diealltägliche Situation der Soldatinnen und Soldaten.Meine Damen und Herren, verunsicherte Soldatinnenund Soldaten sind keine gute Werbung für die Bundes-wehr. Der Reformprozess und der damit verbundeneUm- und Abbau sowie die Reduzierungen und Schlie-ßungen drücken auf die Stimmung in unserer Truppe;das ist schon an vielen Stellen erwähnt worden. Dass dieKommunikation über die Neuausrichtung der Bundes-wehr erheblich verbessert werden muss, ist zwischen al-len Fraktionen dieses Hauses Konsens.Die Vielzahl der Veränderungen verstärkt die Auf-stiegsunsicherheit innerhalb der Bundeswehr. Wie gehtes wo in welcher Verwendung und mit welchen Karriere-optionen weiter? Das sind die Fragen, die viele Soldatin-nen und Soldaten beschäftigen, nicht nur diejenigen, diehierzulande ihren Dienst tun, sondern auch diejenigen,die im Ausland im Einsatz und von diesen Entscheidun-gen noch weiter entfernt sind als diejenigen, die hiersind. Das sind die Fragen, die viele Soldatinnen und Sol-daten beschäftigen, und das in einer Truppe, die struktu-rell und personell so ausgedünnt ist, dass sie ihre Aufga-ben im Alltag manchmal kaum noch erfüllen kann. DieFrage, die sich einige stellen – manchmal wird sie eherironisch gestellt –, lautet: Wann haben wir den Punkt er-reicht, an dem die Offiziere die Wache übernehmen müs-sen?Gerne hätte ich vonseiten des Ministers etwas zu derFrage gehört, warum Soldatinnen und Soldaten in immerdichterer Folge lange Auslandseinsätze absolvieren müs-sen. Der Hinweis auf die Freiwilligkeit ist keine Ant-wort, weil es in einer modernen Armee die Aufgabe desArbeitgebers ist, sich um seine Soldatinnen und Solda-ten, seine Beschäftigten, zu kümmern. Den einen oderanderen muss man dabei schlichtweg vor seiner eigenenEntscheidung schützen. Freiwilligkeit ist kein Argu-ment.
Hierzu hätte ich, wie gesagt, gerne etwas gehört, damit andieser Stelle auch den Soldatinnen und Soldaten klarwird, in welche Richtung es gehen soll. Es besteht drin-gender Handlungsbedarf. Unseren Soldatinnen und Sol-daten wie auch den zivilen Beschäftigten stehen Pla-nungssicherheit und Teilhabe bei Strukturentscheidungenzu.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist dieAufgabe des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundesta-ges, sich aktiv in die Bundeswehrreform einzuschalten,und das zum Wohle der Soldatinnen und Soldaten. Für-sorge und Betreuung sind das eine. Die Evaluierung einesReformprozesses aber muss im Interesse der Soldatinnenund Soldaten reformbegleitend angelegt und organisiertwerden, und zwar jetzt, damit uns dann, wenn wir in derLage sind, Korrekturen vorzunehmen, das nötige Mate-rial zur Verfügung steht.Meine Damen und Herren, Betroffene wie Vorge-setzte beklagen, dass der Dienstherr Bundeswehr mehrauf Neueinstellungen anstatt auf bereits ausgebildete Be-werber aus der Truppe setzt. Ich denke, es muss auch da-rüber gesprochen werden, dass die Binnenwerbung ein-deutig verstärkt und anders angegangen werden muss.Eine moderne Armee braucht eine besser organisierteWeiterbildung in den Bereichen Sprache, Führungskom-petenzen und berufliche Qualifizierung und eine zu-kunftsorientierte Personalentwicklung im Bestand. Daswird die Attraktivität des Dienstes steigern.Das Soldatengesetz verpflichtet den Bund, seiner Für-sorgeverantwortung gegenüber den Soldaten selbst nach-zukommen. Das steht deutlich im Bericht und ist dorthervorgehoben.Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis,wenn ich Ihnen mitteile, dass Auslandseinsätze mit ho-hen physischen und psychischen Belastungen verbundensind. Das ist auch eine Konsequenz daraus, wie sie orga-nisiert sind. Posttraumatische Belastungsstörungen sindfür 2 bis 4 Prozent aller im Einsatz befindlichen Kräfteleider Realität, wie im Deutschen Ärzteblatt jüngst ver-öffentlichte Studien noch einmal aufweisen, wobei mansagen muss: Die wissenschaftliche Begleitung diesesFaktors und dieser Umstände ist in der Bundesrepublikim Vergleich zu allen anderen europäischen und außer-europäischen Ländern weit unterdurchschnittlich entwi-ckelt. Hier muss dringend nachgearbeitet werden.
Der Begriff des sogenannten Einsatzunfalls wurdedurch das Einsatzversorgungsgesetz, das am 27. Dezem-ber 2004 im Bundesgesetzblatt verkündet wurde undrückwirkend zum 1. Dezember 2002 in Kraft trat, in dasSoldatenversorgungsgesetz eingefügt. Mit dem am13. Dezember 2011 in Kraft getretenen Einsatzversor-gungs-Verbesserungsgesetz wird unter anderem derStichtag für die Anwendbarkeit des Einsatz-Weiterver-wendungsgesetzes zurückdatiert. Die rückwirkende Ver-änderung der Anspruchsvoraussetzungen war jedochnicht Gegenstand dieses Einsatzversorgungs-Verbesse-rungsgesetzes. Somit wurde die Stichtagsregelung zurGewährung einer entsprechenden Entschädigungszah-lung nicht geändert.
Metadaten/Kopzeile:
23450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Wolfgang Hellmich
(C)
(B)
Worauf will ich hinaus? Innerhalb der Bundeswehrgibt es noch zwei verschiedene Gruppen von Entschädi-gungszahlungen bei auslandsgeschädigten Soldaten mitPTBS – je nachdem, wann das schädigende Ereignisstattgefunden hat. Soldaten, die bis zum 30. November2002 geschädigt wurden, erhalten keine Entschädigung.Soldaten, die vom 1. Dezember 2002 bis zum 12. Dezem-ber 2011 geschädigt wurden, erhielten erst 80 000 Euround nach der Verabschiedung des Reformbegleitgesetzesnoch einmal 70 000 Euro, insgesamt also 150 000 Euro.Diese erhalten ebenso Soldaten, die ab dem 13. Dezem-ber 2011 geschädigt wurden.Hierbei handelt es sich nicht um zwingend vor-gegebene Daten, sondern um eine rein politische Ent-scheidung, die allein an den Absturz des CH-53 imDezember 2002 in Kabul anknüpft. Das hat zur Folge,dass 36 Soldatinnen und Soldaten, die in IFOR-,SFOR- und KFOR-Einsätzen waren und vor dem1. Dezember 2002 geschädigt wurden, keine Entschädi-gung erhalten. Daneben gibt es eine Dunkelziffer voncirca 20 Fällen. Das ist eine grobe Ungleichbehandlungund Ungerechtigkeit, die man aufheben muss.Ein im Kosovo-Einsatz geschädigter Soldat wandtesich mit diesem Anliegen an den Wehrbeauftragten desDeutschen Bundestages. In dem Antwortschreiben einesMitarbeiters vom August 2012 findet sich folgendes Zi-tat: Ich sehe zurzeit jedoch keine Möglichkeit, mich imparlamentarischen Raum mit Aussicht auf Erfolg füreine weitergehende Ausweitung im Sinne einer rückwir-kenden Änderung der Tatbestandsvoraussetzungen hin-sichtlich des Anspruchs auf Einmalentschädigung für dievor dem 1. Dezember 2002 geschädigten Soldatinnenund Soldaten einzusetzen.Sehr geehrter Herr Königshaus, ich kenne diese Ini-tiative nicht – und auch keine Anfrage in dieser Rich-tung. Würden Sie eine in dieser Richtung starten, wäreich gerne dabei und würde Sie dabei unterstützen, umdiesen 56 Soldatinnen und Soldaten Gerechtigkeit in ih-rer Lage zukommen zu lassen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedankemich an dieser Stelle für Ihre freundliche Aufmerksam-keit und hoffe, dass das noch lange so bleiben wird.Vielen Dank und Glück auf!
Kollege Hellmich, diese Rede wird im Protokoll des
Deutschen Bundestages als Ihre erste Rede vermerkt
sein. Ich gratuliere Ihnen dazu recht herzlich und wün-
sche Ihnen, sicherlich im Namen aller Kolleginnen und
Kollegen, viel Erfolg für Ihre Arbeit.
Es sei mir allerdings auch der Hinweis erlaubt, dass
man, egal wer hier vorne gerade präsidiert, seine Rede-
zeit tatsächlich nur einmal um fast die Hälfte überziehen
kann. Ich bitte Sie also, in Zukunft auf das Signal auf
dem Redepult zu achten.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8400 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Ulla Schmidt , Doris Barnett, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Kultur für alle – Für einen gleichberechtigten
Zugang von Menschen mit Behinderung zu
Kultur, Information und Kommunikation
– Drucksachen 17/8485, 17/10030 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Ulla Schmidt
Reiner Deutschmann
Dr. Rosemarie Hein
Agnes Krumwiede
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Maria Michalk für die Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! DieSPD-Fraktion hat vor einiger Zeit einen Antrag vorge-legt, in dem sie feststellt, dass nur durch den gleichbe-rechtigten Zugang auch zu kulturellen und medialen An-geboten und durch barrierefreie Informationen demAnspruch der UN-Behindertenrechtskonvention Ge-nüge getan wird. Diese Feststellung ist richtig. DieserFeststellung schließen wir uns als CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion ausdrücklich an.
Die größte Behinderung ist nicht die körperliche Be-hinderung, sondern es sind die vielen kleinen und großenBarrieren in unserem Alltag, die Menschen mit Behinde-rung tagtäglich im Wege sind und ihnen die Teilhabe amgesellschaftlichen Leben erschweren. Im kulturellen Le-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23451
Maria Michalk
(C)
(B)
ben sieht das genauso aus. Ein Beispiel: Ein Mensch ineinem Rollstuhl möchte ins Kino gehen, doch es gibtkeinen barrierefreien Eingang, keine Möglichkeit, denRollstuhl im Vorführsaal zu platzieren, weil dafür garkein Platz vorgesehen ist. Die Barriere ist also nicht derRollstuhl an sich, sondern die bauliche Gegebenheit. Sieschließt ihn von dem aus, was er in seiner freien Zeitgerne machen möchte, was alle Menschen tun, mit oderohne Behinderung.Menschen mit Behinderung wollen im Grunde genaudas tun, was alle anderen, wir alle, selbstverständlichtun. Sie wollen vor allem keine Sonderaufführungen imTheater oder im Kino, keine Sonderlesungen oder -kon-zerte, keine Sonderfernsehprogramme. Sie wollen Spiel-filme, Talkshows, Kochsendungen, Serien, die auf denregulären Kanälen angeboten werden, anschauen und ih-nen folgen können. Wir müssen weg von der Vorstel-lung, dass für Menschen mit Behinderung ganz beson-dere, ganz spezielle Angebote bereitgehalten werden,irgendwo da, wo wir alle nicht hinkommen. Das ist nichtdie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, wie wir sieverstehen. Das ist erst recht nicht der Grundgedanke derInklusion.
Wir müssen hin zu der Haltung, dass das Thema Be-hinderung immer und bei allen Entscheidungen von unsallen mitgedacht wird. So wie wir ganz persönlich, jedervon uns, eine grundsätzliche Haltung zu Sprache, Kulturund Kunst haben, so müssen wir uns eine ganz persönli-che Haltung zu dieser grundsätzlichen Teilhabe, zu In-klusion auch im kulturellen Leben unserer Gesellschaftfür Menschen mit Behinderung angewöhnen, sie unseinverleiben. Das muss eine Selbstverständlichkeit wer-den.
Es muss das Prinzip des universellen Designs gelten.Das heißt, alles muss so aufbereitet, konstruiert, gebaut,gedacht werden, dass es von allen Menschen genutztwerden kann. Dies ist ein sehr hoher Anspruch; denn wirkommen aus einer Welt, in der wir immer meinten, Gu-tes zu tun, wenn wir Sonderangebote geschaffen haben.Wir müssen uns angewöhnen, alles gemeinsam zu tun.
In dem vorliegenden Antrag wird gefordert, mehr An-gebote in leichter Sprache bereitzuhalten. Ja, nicht nurMenschen mit einer geistigen Behinderung oder mitLernschwäche würden davon profitieren. Wir alle sinddoch – seien wir einmal ganz ehrlich – selber froh, wennwir verständliche, kurze, prägnante Informationen in dieHand bekommen und nicht erst dreimal den Text lesenmüssen, bevor er im Kopf ankommt.Ich freue mich, dass der Deutsche Bundestag anläss-lich unseres gemeinsamen Projektes „Menschen mit Be-hinderung im Deutschen Bundestag“, das im Oktoberstattfinden wird, die Idee aus dem Antrag aufgegriffenhat und wir jetzt in der Realisierungsphase sind.Die leichte Sprache ist jedoch nur ein Teil dessen, wasBarrierefreiheit insgesamt ausmacht. Für ein umfangrei-ches Angebot an Information für alle Menschen mit ganzunterschiedlichen Behinderungen sind sehr viel mehrDinge zu bedenken.Für Blinde und Sehbehinderte ist es wichtig, dass zumBeispiel Fernsehprogramme eine Audiountertitelung ha-ben, dass Internetseiten oder PDF-Dokumente barriere-frei gestaltet sind, dass Broschüren in Brailleschrift an-geboten werden und vieles mehr. Sie sind zudem aufBlindenleitsysteme in Kinos, Theatern, öffentlichen Ein-richtungen, Museen, bei Denkmälern usw. angewiesen.Nehmen wir als weiteres Beispiel die gehörlosenMenschen. Sie brauchen Gebärdendolmetscher, wennsie einer Theateraufführung folgen wollen. Vor Ort gibtes Gott sei Dank sehr viele praktische und persönlicheInitiativen, durch die man diese Teilhabe über Spendenund ehrenamtliches Engagement zusätzlich verbreitert.Das sollten wir einmal positiv hervorheben und denMenschen, die sich vor Ort in diesem Bereich engagie-ren, sehr herzlich danken. Denn sie tun das in der Regelehrenamtlich.
Art. 30 der auch von Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet uns alle, da-für zu sorgen, dass Kunst und Kultur ohne Abstricheauch für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind.
Nach der Erarbeitung und Beschlussfassung zum natio-nalen Aktionsplan fußt die Umsetzung der Konventionauf einer breiten gesellschaftlichen Diskussion. Insofernist der Antrag durchaus eine Gelegenheit, wieder undwieder über diese Themen zu sprechen.Manche reden den Aktionsplan leider gerne schlecht.Ich bin nicht derselben Meinung und bin davon über-zeugt, dass dieser Aktionsplan und all die Aktivitäten inden unterschiedlichsten Lebensbereichen – dazu gehörenKultur und Kunst –, die sich entwickeln, unsere Gesell-schaft durchdringen. Denn Barrierefreiheit ist kein Ge-schenk für Menschen mit Behinderung, sondern sie er-leichtert unser aller Leben,
vor allem mit Blick auf die kulturelle Teilhabe.Wer Kultur anbietet – um einmal von der Angebots-seite auszugehen –, wird künftig an alle diese Menschendenken müssen. Denn in unserer älter werdenden Gesell-schaft sind Menschen mit Behinderung auch eine wich-tige Kundengruppe. Immerhin leben zurzeit 7,3 Millio-nen Menschen in Deutschland mit einer Behinderung.1,5 Millionen davon sind entweder blind, sehbehindert,schwerhörig oder taub. Die Zahl wird steigen, weil wirGott sei Dank älter werden und es unserem menschli-chen Körper immanent ist, dass wir zunehmend aufHilfe und Unterstützung angewiesen sind.Selbst in einem Lebensbereich, in dem man vielleichtselber weder künstlerische Aktivitäten bestreiten nochKultur aktiv konsumieren kann, sind kulturelle Ange-
Metadaten/Kopzeile:
23452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Maria Michalk
(C)
(B)
bote wichtig, zum Beispiel dass älteren kaum noch hand-lungsfähigen Personen aus guten Büchern vorgelesenwird und sie vielleicht ein Fernsehprogramm sehen kön-nen, das die wunderbaren Denkmäler Deutschlandszeigt, damit auch diese Menschen an unserem kulturel-len Gut in Deutschland teilhaben können.Deshalb lassen die Fernsehmacher die Menschen mitBehinderung längst nicht mehr links liegen: Sie habensie als Zielgruppe entdeckt. Manche Sender schaffenneue Angebote, um auch diese Zuschauer für ihr Pro-gramm zu gewinnen.Ein wirklich gutes Beispiel, wie Teilhabe über dasFernsehen gelingen kann, haben wir im Deutschen Bun-destag am 18. März bei der Wahl unseres Bundespräsi-denten erlebt, als die Übertragung auf Phoenix erstmalslive mit Einblendungen in Gebärdensprache stattgefundenhat. Kompliment dafür an die Initiatoren und Macher!Solchen guten Beispielen sollten andere folgen.Sie fordern in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen undKollegen aus der SPD-Fraktion, die öffentlich-recht-lichen Rundfunkanstalten stärker in die Pflicht zu neh-men, was barrierefreie Angebote betrifft. Ist das wirklichnötig?
Unsere Rundfunkräte, in denen auch Sie vertretensind, haben mit der neuen Gebührenordnung ab Januardes nächsten Jahres große Erwartungen geweckt; da sindwir uns einig. Es ist klar: Wenn auch von dieser Perso-nengruppe höhere Gebühren eingezogen werden, dannsind bessere Angebote notwendig. Aber ich denke, dassdie Herren und Damen in den Anstalten jetzt auf demWeg sind, das zu organisieren und die entsprechendenVoraussetzungen zu schaffen. Hinsichtlich derer, dienoch nicht daran gedacht haben, ist hier ein entsprechen-der Appell durchaus angebracht.
Denn Barrierefreiheit ist ein Prozess, der nur dann vo-rankommt, wenn viele Impulse aus vielen Richtungengegeben werden.
Das zeigt zum Beispiel auch die Filmförderung. Durchden Einsatz aller Fraktionen hat die Filmförderungsan-stalt eine barrierefreie Fassung der Förderungsbedingun-gen der Filmschaffenden erstellt. Sie will darüber hinausBarrierefreiheit in die Richtlinien des Deutschen Film-förderfonds verpflichtend aufnehmen. Dies ist eine guteInitiative, die wir ausdrücklich begrüßen.
Damit hat sich eine weitere Forderung Ihres vorliegen-den Antrags erledigt.Die SPD-Fraktion fordert in ihrem Antrag weiter dieUmsetzung der BITV 2.0. Diese ist vor ziemlich genaueinem Jahr in Kraft getreten. Diesbezüglich können auchwir nur hoffen, dass nach Veröffentlichung des Leitfa-dens, der jetzt noch in Arbeit ist, die Umsetzung auchmit Unterstützung der Länder zügig geschieht, sodassauch im Internet Barrierefreiheit erreicht wird.Denn wir wollen, dass auf jedem Kulturfeld einenachhaltige Lösung gefunden wird. Deshalb geht dasnicht schnell und über Nacht, sondern muss systematischund vor allen Dingen nachhaltig angegangen werden.Ein Teil des bunten Straußes an Forderungen aus Ih-rem Antrag ist also, wie gesagt, schon realisiert bzw. aufeinem guten Weg, und nicht alle haben einen originärenkultur- oder medienpolitischen Hintergrund. Deshalbfreue ich mich immer wieder, wenn ich kreativen Men-schen begegne, die mit ihrer und trotz ihrer Behinderungkulturelle Meisterwerke hervorbringen – für Menschenmit Behinderung und mit ihnen.Es kommt darauf an, dass wir das Kunst- und Kultur-schaffen dieser Menschen würdigen und es auch alsMenschen ohne Behinderung in einer würdigen Formbewerten, als Kulturgut anerkennen sowie konsumierenund entsprechend verbreiten.
Ich möchte, dass die eigene Kreativität auch bei Preis-verleihungen eine stärkere Rolle spielt. Auch da gibt esgute Beispiele. Ich denke etwa an den Deutschen Hör-filmpreis. Das ist seit vielen Jahren eine gute Initiative,die Jahr für Jahr zeigt, welche qualitativen Verbesserun-gen sich da entwickeln.Dies alles muss wachsen. Klar, wir sind ungeduldig.Auch in unserem Herzen sind wir ungeduldig. Aberwenn wir es schaffen, dass diese Form der kulturellenTeilhabe kein Thema für Experten oder behindertenpoli-tische Sprecher bleibt, sondern Herzenswunsch von unsallen wird, dann haben wir einen guten Beitrag für un-sere Kulturgemeinschaft geleistet.Ich danke für die heutige Debatte. Die Beschlussemp-fehlung des Ausschusses hat deutlich gezeigt, dass wirbereits viele Dinge auf den Weg gebracht haben und die-sen Weg weitergehen. Ich danke Ihnen, dass Sie sich fürdiesen großen und wichtigen Bereich engagieren.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Ulla Schmidt hat nun für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Frau Michalk, ich mache Ihnen einen ein-fachen Vorschlag: Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23453
Ulla Schmidt
(C)
(B)
Wenn alles schon erledigt oder auf einem guten Weg ist,dann weiß ich nicht, warum die CDU/CSU-Fraktion unddie FDP diesen Antrag ablehnen. Ich kann Ihnen denGrund aber nennen. Der steht in Ihrer Beschlussempfeh-lung. Da heißt es, dass zweifelsohne vieles auf dem Wegist. Es sei aber auch unbestritten, dass noch viel zu tunsei.
Aber im Hinblick auf andere Anliegen und die begrenz-ten Finanzmittel müsse endlich anerkannt werden, dassmehr im Moment nicht erledigt werden könne.
Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratenhaben da eine andere Auffassung. Die UN-Behinder-tenrechtskonvention zu ratifizieren, ist das eine. Sieumzusetzen und dafür zu sorgen, dass jeder Mensch indiesem Land, egal ob behindert oder nicht behindert,ob alt oder jung, ob zugewandert oder hier geboren, dasRecht hat und die Chance erhält, das Beste aus seinemLeben zu machen, ist das andere. Wir müssen die in derUN-Behindertenrechtskonvention enthaltenen Rechts-ansprüche erfüllen. Bei dieser Aufgabe ist das Bohrendicker Bretter, wie es Max Weber formuliert hat, not-wendig.
Sie haben recht: Es muss etwas in der Gesellschaft, inden Köpfen der Menschen verändert werden. Aber es istauch klar: Wenn wir Bundestagsabgeordnete als Gesetz-geber nicht für entsprechende rechtliche Rahmenbedin-gungen sorgen und die Strukturen, in denen wir leben,nicht so verändern, dass die Teilhabe und das Mitmi-schen aller garantiert sind, dann bleibt die UN-Behinder-tenrechtskonvention reines Wunschdenken und wird indiesem Land nicht gelebte Realität.
Wir wollen mehr und haben deshalb als SPD-Fraktioneine Reihe von Anträgen eingebracht. Wir wollen, dassüber dieses Thema hier im Bundestag diskutiert wirdund dass wir uns damit auseinandersetzen. Sie habenrecht: Das ist nicht allein eine Aufgabe der Behinderten-beauftragten der Fraktionen und des Behindertenbeauf-tragten der Bundesregierung. Vielmehr geht es um einegroße gesellschaftspolitische Aufgabe. Wir sollten unszum Ziel setzen, bis zum Ende dieses Jahrzehnts ent-scheidende Schritte voranzukommen, und zwar in allenwichtigen Bereichen wie Verkehr, Mobilität, Bildung,Arbeitswelt, politische Teilhabe und gesundheitlicheVersorgung.Wir fordern in unserem Antrag, die Barrierefreiheitim gesamten Bereich von Kultur und Medien zu garan-tieren. Das ist wichtig; denn durch die Ratifizierung derUN-Behindertenrechtskonvention erkennen wir an, dasses um die Verwirklichung von Rechtsansprüchen jedeseinzelnen Menschen und nicht um ein Goodwill geht. Esspielt als keine Rolle, ob wir das machen wollen odernicht. Wir müssen es machen.
Wir wollen alles unternehmen, um dieses Thema im-mer wieder auf die Tagesordnung zu setzen und darüberzu debattieren. Uns ist die Barrierefreiheit gerade imBereich von Kultur und Medien wichtig, weil es darumgeht, dass sich in den Köpfen – darauf haben Sie zuRecht hingewiesen – vieles verändert. Wir in Deutsch-land neigen dazu, Menschen bestimmte Eigenschaftenoder Fähigkeiten zuzuschreiben. Das geht oft mit demAusschluss von bestimmten Aufgaben einher. GeradeKultur und Medien, die daran mitwirken, dass sich dieGesellschaft verändert und dass es keine kritische Aus-einandersetzung ohne diejenigen gibt, die betroffensind, kommt eine ganz wichtige Aufgabe zu, wenn esdarum geht, die Teilhabe aller zu garantieren. Wir habengroße Chancen, unsere Ziele im Bereich von Kultur undMedien zu erreichen. Es geht nicht nur um passive Teil-habe. Wir fördern viele Bereiche und wollen erreichen,dass die aktive Teilhabe behinderter Menschen genausoselbstverständlich ist wie die nicht behinderter Men-schen.Ich habe viele Theaterstücke gesehen und Musicalsbesucht, an denen Behinderte und Nichtbehinderte mit-gewirkt haben. Die Nichtbehinderten haben gesagt:Nach einer gewissen Zeit haben wir gar nicht mehr be-merkt, wer behindert ist und wer nicht. Wir alle habenunser Bestes eingebracht. – So etwas verändert mehr inden Köpfen als viele andere Aktionen.Es nutzt aber nichts, allein Postulate aufzustellen undständig nur darüber zu reden, was wir wohl noch machenkönnten. Wir sagen in unserem Antrag ganz klar: Dierechtlichen Voraussetzungen für Barrierefreiheit müssengeschaffen werden. Das bedeutet im Bereich von Kulturund Medien, dass wir uns darauf verständigen müssen,dass kein einziger Euro mehr – das gilt auch für dieFilmförderung – in Projekte fließt, wenn die Barriere-freiheit nicht gesichert ist. Das kann der Bundestag be-schließen. Dann wird wirklich etwas geschehen.
Es geht darum, bei der Unterstützung kultureller Pro-jekte Barrierefreiheit einzufordern und alle dazu zu ver-pflichten, sich für Barrierefreiheit einzusetzen. Dannsind wir auf dem richtigen Weg. Damit setzen wirSignale, so wie wir es mit unserem Antrag gemacht ha-ben.Ich weiß sehr wohl, dass Inklusion nicht zum Nullta-rif zu haben ist. Das spreche ich hier an, weil auch dasetwas mit kultureller Bildung zu tun hat. Inklusion istvor allen Dingen da wichtig, wo es um die gemeinsameErziehung und Beschulung geht. Dafür brauchen wirGeld. Wir brauchen die entsprechenden Rahmenbedin-gungen, damit Inklusion erfolgreich ist. Im Bereich derKultur und der Medien können wir mit dem, was wirderzeit auf den Weg bringen, Verbesserungen erreichen.
Metadaten/Kopzeile:
23454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Ulla Schmidt
(C)
(B)
Wir können etwas verändern. Deshalb war es uns wich-tig, einen Weg aufzuzeigen und ein Signal zu senden.Das Ziel meiner Fraktion ist eine Gesellschaft, an deralle gleichberechtigt teilhaben und in der alle mitmachenkönnen. Das gilt für Menschen mit Behinderung, die inihrem Umfeld auf Barrieren stoßen, aber auch für Men-schen ohne Behinderung oder diejenigen, die teilweiseEinschränkungen haben. Das gilt für lernschwache undlernstarke Menschen, Ältere und Jüngere, Zugewanderteund für diejenigen, die hier geboren wurden. Sie allekönnen von der Inklusion profitieren.
Frau Kollegin Schmidt.
Ich hoffe, dass es uns gelingt, dies perspektivisch um-
zusetzen. Ich weiß, dass wir dafür Zeit brauchen.
Kollegin Schmidt, der Kollege Kurth will Ihnen durch
eine Bemerkung oder Frage die Gelegenheit geben, Ihre
Redezeit zu verlängern. Deswegen versuche ich die
ganze Zeit, Sie zu unterbrechen.
Bitte schön.
Frau Kollegin, herzlichen Dank. – Wir alle setzen uns
für Barrierefreiheit ein. Bitte richten Sie dringend mei-
nen Gruß an Ihre famose Landesregierung in Nordrhein-
Westfalen aus. Sie hat neulich die Teilnehmer der Para-
lympics in Nordrhein-Westfalen auf einer Bühne be-
grüßt, die für Rollstuhlfahrer nicht geeignet war.
Herr Kollege Kurth, ich bin sehr froh, dass die jetzige
Regierung von SPD und Grünen
die schwarz-gelbe Regierung abgelöst hat. Mit dem Ko-
alitionsvertrag, aber auch schon vorher, ist Inklusion
überhaupt erst zu einem wichtigen Thema in Nordrhein-
Westfalen geworden.
Bedauerlich ist, dass es heute noch Bühnen gibt, die
für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich sind.
– Das ist bedauerlich. Das muss man kritisieren. Ich
richte das gerne aus.
Aber, Herr Kollege Kurth, wir können darauf hinwir-
ken, dass Barrierefreiheit beim Bau berücksichtigt wird,
damit so etwas der Vergangenheit angehört. Das muss in
die Köpfe aller Beteiligten.
Ich habe am Wochenende in Marburg erlebt – das
habe ich bedauert –, dass eine Bühne für Menschen mit
einer Gehbehinderung nicht so umgebaut war, dass sie
für diese zugänglich gewesen wäre. Das zeigt, Frau Kol-
legin Michalk, dass wir noch vieles zu tun haben und es
durchaus nicht so ist, als habe sich das alles schon von
allein erledigt.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich war am
Wochenende in Marburg und habe dort erlebt, was ge-
schieht, wenn Menschen, auch solche mit einer geistigen
Behinderung, dauerhaft zu Partizipation, zu Teilhabe an-
geregt werden. Ich habe die Diskussionen verfolgt und
gesehen, wie die behinderten Menschen ihre Rechte
wahrgenommen haben. Das ist für geistig Behinderte
eine besondere Herausforderung. Dafür bedarf es einer
leichten, einfachen Sprache, und dazu bedarf es Informa-
tionen. Sie haben in die Debatten eingegriffen, für ihre
Rechte gekämpft und waren in der Lage, auf alle Bei-
träge, die dort geleistet wurden, einzugehen.
Deshalb sollten wir alles dafür tun, dass die gesetzli-
chen Grundlagen geschaffen werden, damit endlich Teil-
habe für alle möglich ist. Das ist unabhängig davon, ob
sie blind oder sehbehindert sind, ob sie taub oder
schwerhörig sind, ob sie körperlich oder geistig behin-
dert sind. Das ist völlig egal. Diese Menschen gehören in
unsere Mitte, sie gehören zu uns, und sie haben das
Recht auf Teilhabe wie alle anderen Menschen auch.
Dafür werben wir als SPD-Fraktion. Ich würde mir
wünschen, Sie würden das unterstützen.
Das Wort hat der Kollege Reiner Deutschmann für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Altbundespräsident Richardvon Weizsäcker hat einmal gesagt – ich zitiere –:Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst,sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeitgenommen werden kann.Mit diesem Ausspruch wollte Altbundespräsident vonWeizsäcker uns für die Belange von Menschen mit Be-hinderung sensibilisieren und deutlich machen, dass unsdie Belange dieser Menschen auch deshalb nicht gleich-gültig sein können, da es jeden von uns jederzeit betref-fen kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir ehrlichsind, dann ist es doch häufig so, dass wir im alltäglichen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23455
Reiner Deutschmann
(C)
(B)
Leben – am Wohnort, am Arbeitsort, im Freizeitvergnü-gen – nicht an Barrieren denken, die sich auf unserentäglichen Wegen für Menschen mit Behinderung auftun.Wir nehmen unser quasi barrierefreies Leben als selbst-verständlich hin. Für Menschen mit Behinderung gibt esdieses Selbstverständnis der Barrierefreiheit nicht. Siesind mit Barrieren konfrontiert, die aufgrund baulicheroder räumlicher Aspekte sofort sichtbar sind, aber auchmit Barrieren, die nicht sofort zu erkennen sind, wie zumBeispiel im Internet, bei Filmangeboten oder im Kom-munikationsbereich.Thomas Hänsgen, der Stiftungsratsvorsitzende undGeschäftsführer von „barrierefrei kommunizieren!“,sagte im Fachgespräch des Unterausschusses NeueMedien am 19. September 2011 – ich zitiere –:Barrierefreiheit ist eine Vision. Bisher haben wir esim besten Falle mit barrierearmen Angeboten zutun.Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns, Politik undGesellschaft, die Bedürfnisse von behinderten Menschenvergegenwärtigen und Barrieren sowie Hindernisseabbauen. Menschen mit Behinderung haben wie jederBürger in Deutschland das Recht auf gleichberechtigteTeilhabe am gesellschaftlichen Leben und auf freie Ent-faltung ihrer Persönlichkeit, und dies umfasst ganzselbstverständlich auch das Recht auf Nutzung von kul-turellen und medialen Angeboten.Schon in der ersten Lesung und auch in den Beratun-gen im Ausschuss für Kultur und Medien habe ich denKolleginnen und Kollegen von der SPD für die Anre-gungen gedankt, die sie mit ihrem Antrag unterbreitethaben. Ihr Antrag enthält eine ganze Reihe von Punkten,die wir durchaus mittragen, daneben andere, über dieman nachdenken kann, und viele, die inzwischen schonin der Umsetzung sind. Ich könnte mir durchaus vorstel-len, die Denkmalförderung an Kriterien der Barrierear-mut, nicht aber der Barrierefreiheit zu knüpfen.Allerdings gibt es einen konkreten Punkt, weshalb wirnicht zustimmen können: das Vergaberecht, denn es istnicht der geeignete Weg, Ausschreibungen mit der Erfül-lung von Beschäftigungsquoten für Menschen mitBehinderung zu verknüpfen. Nicht jedem kleinen undmittelständischen Unternehmen wird es möglich sein,die Voraussetzungen für barrierefreie Arbeitsplätze zuschaffen; damit würden aber diese Unternehmen von derAuftragsvergabe ausgeschlossen.Uns Liberalen kommt es darauf an, dass wir Wegefinden, die allen Interessen weitgehend gerecht werden.Es ist uns wichtig, dass wir den Weg des gesellschaftli-chen Umdenkens, des Bewusstmachens der Bedürfnisseder Menschen mit Behinderung, konsequent weiter-gehen. Allerdings müssen wir auch so realistisch sein,um zu erkennen, dass wir nicht alles durch Gesetzeerzwingen können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, was unser Hausselbst angeht, so wird im Oktober im Bundestag eineBroschüre vorgestellt werden, die in Leichter Spracheüber die Arbeit dieses Hohen Hauses informiert. Dies istein weiterer wichtiger Schritt hin zur Inklusion, den wirLiberale durchaus begrüßen.Ich danke Ihnen.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dr. Rosemarie Hein das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ein Professor soll zu seinen Studierenden einmal gesagthaben: Ich bin Professor; mit mir müssen Sie einfachreden. – Das war ein kluger Mann.Wir denken nicht selten, wir seien besonders klug,wenn unsere Reden mit möglichst vielen Fremdwörterngespickt sind und wir Fachbegriffe verwenden. Das istfalsch. Wer klug ist, kann Kompliziertes einfach erklä-ren. Da nehme ich mich selbst aus der Kritik nicht aus.Die SPD hat mit der Übersetzung ihres Antrags in eineeinfache Sprache ein Beispiel gegeben: So geht es auch.Manche und mancher meint immer noch, dass manmit einer einfachen Sprache Menschen mit Lernschwie-rigkeiten und geistigen Behinderungen abwertet. Das istfalsch. Mit der Verwendung einer einfachen Sprachezeigt man vielmehr, dass man sie ernst nimmt. Um-gekehrt bedeutet man ihnen mit einer Sprache, die sienicht verstehen können, dass man sie für dumm hält, wassie nicht sind.
Darum halte ich es für wichtig, politische Entschei-dungen auch in einer einfachen Sprache zu veröffentli-chen. Ebenso wichtig ist es – das ist hier heute schon ge-sagt worden –, sie für Gehörlose in Gebärdenspracheoder Schriftsprache anzubieten.
Vielleicht ist Ihnen ja an der Tür unseres Plenarsaalesdas kleine blaue Bildchen mit der Abbildung eines Ohresund einem „T“ aufgefallen. Das ist das Zeichen dafür,dass hier im Sitzungssaal eine Hörschleife liegt. Dasheißt, alle Menschen mit einer Hörhilfe können sich übereine gesonderte Schalterstellung an ihrem Hörgerät indie Lage versetzen, das besser zu hören und zu verste-hen, was hier im Saal gesagt wird. Ich bin mir nichtsicher, ob dies alle wussten.Ich kenne die Einschränkungen von Hörgeschädigtenseit meiner Kindheit durch meine Mutter gut. Ich weiß,was sie braucht, um am kulturellen Leben teilnehmen zukönnen. Aber wirklich gut kenne ich eben nur die Be-sonderheiten dieser Beeinträchtigungen.Es gibt aber unendlich viel mehr Barrieren beim Zu-gang zu Kultur und Medien: zum Beispiel der Zugangzur Stadtbücherei über eine Treppe. Wenn dann noch dieeinzige öffentliche Bibliothek aus Geldmangel geschlos-
Metadaten/Kopzeile:
23456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Rosemarie Hein
(C)
(B)
sen wird, wie es zum Ende dieses Jahres in der StadtCalbe in meinem Wahlkreis in Sachsen-Anhalt vorgese-hen ist, wird für viele auch der Zugang zu guter Literaturabgeschnitten werden. Übrigens ist die Leiterin dieserBibliothek schwerbehindert.Oder nehmen wir die Haltestelle vorm Zoo in meinerStadt Magdeburg: Man kann zwar in die Straßenbahnmöglicherweise barrierefrei einsteigen und zum Zoo fah-ren, aber man kommt an Ort und Stelle alleine im Roll-stuhl nicht wieder heraus. Zum Zoo hat man dann sehrweite Wege.Die Aufzählungen lassen sich nahezu unbegrenztfortsetzen. Hier sind heute auch schon einige weitereBeispiele genannt worden. Der Antrag der SPD kannhelfen, das Verständnis dafür zu schärfen und das Prob-lembewusstsein zu entwickeln.
Die meisten von uns haben sicherlich mit großerBewunderung die Leistungen der Sportlerinnen undSportler mit Handicaps bei den Paralympics in Londonverfolgt. Mir scheint, noch in keinem Jahr wurde so um-fassend davon berichtet. Auch das ist ein Fortschritt.
Da konnte man auch sehen, was alles möglich ist,wenn entsprechende Hilfen gewährt werden: nahezu al-les. Die Sportlerinnen und Sportler mit Behinderungensind darum auch Vorreiterinnen und Vorreiter; denn nochlange nicht allen Menschen mit Handicaps werden dieseHilfen gewährt. Dies erfährt man sehr schnell, wenn manplötzlich in die Lage versetzt ist, dass man sich um An-gehörige kümmern muss, die pflegebedürftig werden.Wir haben eine Verantwortung dafür, dass Menschenmit unterschiedlichen Beeinträchtigungen am öffentli-chen Leben uneingeschränkt teilnehmen können; dennwir machen die Gesetze. Aber von den notwendigenGesetzesveränderungen ist im Nationalen Aktionsplangerade bei dem Thema Zugang zu Kultur und Informa-tionen eben nichts zu lesen, und darum ist Nachbesse-rung angesagt. Wenigstens für öffentliche Einrichtungenkönnten wir diese Regelungen schaffen. Wir müssenendlich dafür sorgen, dass Städte und Gemeinden finan-ziell so ausgestattet werden, dass sie ihre einzige kultu-relle Einrichtung nicht schließen müssen. Kultur ist ebennicht Luxus und freiwillig, sondern sie gehört zum Le-ben in den Städten und Dörfern dazu, und zwar für alle.
Wir können mit gutem Beispiel vorangehen, indemzum Beispiel die Internetseite dieses Parlaments so ge-staltet wird, dass man auch erfährt, welche Barrierennicht mehr vorhanden sind. Auch könnte diese Internet-seite selbst barrierefrei gestaltet werden. Die Beschluss-empfehlung des Ausschusses empfiehlt nun aber leiderals Lösung, diesen Antrag abzulehnen.
Kollegin Hein, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich bin sofort fertig. – Es steht in dieser Beschluss-
empfehlung, es gebe keine Alternativen. Nach dem, was
ich heute gehört habe, bin ich da sehr enttäuscht; denn
Sie haben davon gesprochen, dass Sie das alles als wich-
tig ansehen. Nun bitte ich Sie: Lehnen Sie die Beschluss-
empfehlung ab; denn Alternativen bietet der Antrag der
SPD sehr wohl.
Danke schön.
Ein kleiner geschäftsleitender Hinweis sei uns gestat-
tet: Bis vor zwei Sekunden konnten wir Sie im Saal nicht
sehen, da wir hier den Platz an der Sonne hatten. Wir
haben der Rednerin eben und auch ihrem Vorredner
zugestanden, dass sie wahrscheinlich das Signal nicht er-
kennen konnten. Ich bitte aber jetzt darum, die Signale
aus dem Präsidium zu beachten. Sollten wir eine
Meldung aus dem Saal aufgrund der Verhältnisse hier
übersehen, bitte ich, es uns irgendwie akustisch noch an-
zuzeigen.
Das Wort hat die Kollegin Agnes Krumwiede für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Barrierefreiheit beginnt hier im Parlament.Wenn Gesetze und Anträge so formuliert sind, dass diemeisten Bürgerinnen und Bürger nicht verstehen kön-nen, worum es geht, läuft etwas falsch. VerklausulierteSprache führt zur Ausgrenzung und verstärkt die Kluftzwischen Politik und Bevölkerung. Die Anregung derSPD zu einer freiwilligen Selbstverpflichtung, bei zen-tralen Debatten die Leichte Sprache zu berücksichtigen,unterstützen wir daher ausdrücklich.
Wir begrüßen den Antrag der SPD, weil er konkreteVorschläge macht für mehr Barrierefreiheit in Kultur,Medien und Politik – ganz im Gegensatz zum Nationa-len Aktionsplan der Bundesregierung. Dieser verliertsich nämlich in vagen Kannbestimmungen. Ende 2012laufen viele Maßnahmen des Aktionsplans auch schonwieder aus, ohne dass sich im Bereich Inklusion Ent-scheidendes verändert hat.Ab 2013 ist beispielsweise die Förderung für dasBundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit nicht mehrgesichert. So kommen wir in Deutschland bei der Um-setzung des UN-Übereinkommens über die Rechte derMenschen mit Behinderung nicht weiter.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23457
Agnes Krumwiede
(C)
(B)
Meine Fraktion denkt bei ihren Anträgen Barrierefrei-heit immer mit. Unser Antrag zum Aufbau der Deut-schen Digitalen Bibliothek enthält auch die Forderung,die Bedürfnisse hörgeschädigter, gehörloser undtaubstummer Menschen bei der Bereitstellung digitalerKulturgüter mit einzubeziehen. Seit einem Jahr stehtunsere Forderung nach einem Sofortprogramm „Barrie-refreier Film“ im Raum. Auch in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten müssen mehr Angebotefür hör- und sehbeeinträchtigte Menschen geschaffenwerden.
Nicht nur Verbesserungen beim substanziellen Zu-gang zu unserer medialen und kulturellen Infrastrukturfür Menschen mit Behinderung sind notwendig. Es gehtauch darum, wie wir ihre Mitgestaltung individuell för-dern können. Ansonsten geht unserer Gesellschaft vielkreatives Potenzial verloren.Was wäre unsere Musiklandschaft ohne die Stimmeeines Thomas Quasthoff? Seine Karriere hätte beinahegeendet, bevor sie begonnen hat: vor den Türen derMusikhochschule, die ihn nicht aufgenommen hat, weiler aufgrund seiner Conterganschädigung nicht Klavierspielen kann. Ohne das Pflichtfach Klavier ist an unse-ren Musikhochschulen auch heute noch offiziell keinGesangsstudium möglich.Alle Ausbildungseinrichtungen im Bereich Kulturund Medien müssen sich auf die Besonderheiten vonMenschen mit Behinderung einstellen. Ihr kreatives,künstlerisches und intellektuelles Potenzial muss sichentfalten können – das fordert auch die UN-Behinderten-rechtskonvention.
In meinem Wahlkreis Ingolstadt gibt es an einer För-derschule eine Tanzgruppe mit besonderen Kindern.Einmal in der Woche kommt eine Tänzerin, um mit ih-nen zu arbeiten. Vor der Sommerpause habe ich dort eineAufführung besucht. Es war berührend und beeindru-ckend, wie sich diese Kinder mit teilweise schwerstenBehinderungen zur Musik bewegten. Durch die Musikund den Tanz wurden ihre Persönlichkeiten sichtbar.Und ich rede hier von Kindern, die für uns oft nichtsichtbar sind.Ich wünsche mir, dass vielfältige künstlerische Ange-bote für alle Kinder und Jugendlichen mit und ohneBehinderung gleichermaßen selbstverständlich werden.Es geht um die Entfaltung von Fantasie und Empathie,um Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung.Sorgen wir gemeinsam dafür, dass Barrierefreiheit inKunst und Kultur für alle Menschen nicht nur einWunsch auf dem Papier bleibt, sondern umgesetzt wird.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Burkhardt Müller-Sönksen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Inklusion geht uns alle an, nicht nur als breite gesell-schaftliche Initiative. Insbesondere uns hier in diesemHause sollte sie ein ganz besonderes Anliegen sein.Frau Kollegin Schmidt, Sie haben es in der letztenDebatte auf den Punkt gebracht: Wenn wir Volksvertre-ter sein wollen, dann müssen wir für alle MenschenKlartext reden und Klartext schreiben. Diese Äußerungmöchte ich ausdrücklich zitieren.
Den Antrag der SPD-Fraktion können wir zwar, wiemein Kollege Reiner Deutschmann ausgeführt hat, nichtin allen Punkten mittragen. Ich möchte aber den Impulsdes Antrags gerne aufgreifen, weil das gesellschaftlicheUmdenken jetzt beschleunigt werden muss.
Nach den Empfehlungen des Vereins „Mensch zuerst –Netzwerk People First Deutschland e. V.“ habe ich Teilemeiner Homepage in Leichte Sprache übersetzt. Ich bindem Beispiel meiner Kollegin Gabi Molitor gefolgt, weilich der Auffassung bin, dass auch Menschen mit Lern-schwierigkeiten meine parlamentarische Arbeit verfol-gen sollen. Liebe Gabi, das machst du genau richtig.Alle Kolleginnen und Kollegen aus dem Hause solltendeinem Beispiel folgen.
Und wie Sie, Frau Schmidt, stand ich vor der Heraus-forderung, im Wortsinne unübersetzbare Begriffe allenBesuchern zugänglich zu machen. Es ist nicht einfach,sich in Leichter Sprache auszudrücken. Es ist aber not-wendig, und deshalb werbe ich bei allen Kolleginnenund Kollegen, sich damit zu beschäftigen und den zu-sätzlichen Aufwand, den die Übersetzung in LeichteSprache mit sich bringt, bei der Bearbeitung der Home-page auf sich zu nehmen.Bei der Übersetzung fiel mir auf, was die Koalitionschon geleistet hat. Vor noch nicht einmal einem Jahr ha-ben wir den Antrag zur Ausweitung des barrierefreienFilmangebotes beschlossen. Die Koalitionsfraktionenhaben die Bundesregierung aufgefordert, das Kriteriumdes barrierefreien Zugangs zu Filmen bei der Filmförde-rung stärker zu berücksichtigen. Nun wurden die Förder-richtlinien des Deutschen Filmförderfonds entsprechendangepasst und treten zu Beginn des nächsten Jahres inKraft. Damit haben wir einen Anreiz für mehr barriere-freie Filmangebote gesetzt, von denen viele hör- undsehbehinderte Menschen profitieren werden.
Metadaten/Kopzeile:
23458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Burkhardt Müller-Sönksen
(C)
(B)
Als Beispiel für die Umsetzung der Barrierefreie-In-formationstechnik-Verordnung möchte ich auf das Aus-wärtige Amt verweisen. Auf dessen Website finden sichzum Beispiel sehr informative Texte in Leichter Sprachezur Menschenrechtspolitik und Videos mit Gebärden-sprache.Außerdem möchte ich die Bemühungen des Verteidi-gungsministeriums – gerade war der Wehrbeauftragtehier – hervorheben. Die Komplexität sicherheitspoliti-scher Begriffe in Leichter Sprache wiederzugeben, istwirklich eine anerkennenswerte Leistung.
Ich komme zum Schluss. Wir sehen uns nach alledemauf einem guten Weg: Ein Antrag der SPD, mein Beispieleiner Homepage oder der Beschluss des Ältestenrates,zum Beispiel bei www.bundestag.de, sind erste Schritte.Liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen wir diesenWeg konsequent gemeinsam weiter, dann wird die Inklu-sion in allen Bereichen gelingen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Frak-
tion der SPD mit dem Titel „Kultur für alle – Für einen
gleichberechtigten Zugang von Menschen mit Behinde-
rung zu Kultur, Information und Kommunikation“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10030, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/8485 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion,
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Bericht des Petitionsausschusses
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2011
– Drucksache 17/9900 –
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
Elektronische Petitionen und Modernisierung
des Petitionswesens in Europa
– Drucksache 17/8319 –
Überweisungsvorschlag:
Petitionsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Vorsit-
zende des Petitionsausschusses, die Kollegin Kersten
Steinke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Werte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschuss-dienstes! Der Petitionsausschuss war auch im Jahr 2011wieder Anlaufpunkt für viele Menschen, die sich Hilfeerhofften. Zwei Zahlen prägten die Arbeit des Petitions-ausschusses im Jahr 2011: 15 191 Petitionen wurden imvergangenen Jahr eingereicht, und 1,1 Millionen Bürge-rinnen und Bürger haben sich auf der Internetseite desPetitionsausschusses angemeldet, um Petitionen aufelektronischem Weg einzureichen oder öffentliche Peti-tionen mitzuzeichnen oder zu diskutieren.Ein Drittel aller Eingaben, also circa 5 000, wurdenper E-Mail eingereicht. Knapp ein Viertel der Gesamt-eingaben, nämlich 3 364 Vorgänge, fielen auf das Res-sort Arbeit und Soziales. Damit belegt es, wie auch inden Vorjahren, den Spitzenplatz unter den betroffenenBundesministerien.Allein zum ALG II gab es 937 Petitionen. Hier ginges zum Beispiel um Fehler bei der Berechnung, um dieAussetzung von Leistungen, um Sanktionen oder Son-derregelungen für unter 25-Jährige, um die Verrechnungmit anderen Einkommen wie Ferienjobs oder Aufwands-entschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeit.Zahlreiche Beschwerden gingen beim Petitionsaus-schuss ein, weil bei der Anrechnung einer Verletztenrenteaus einer gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Renteaus der gesetzlichen Rentenversicherung für Ost undWest unterschiedliche Freibeträge galten. Die Petentenforderten die Abschaffung dieser Ungleichbehandlung.Dieser Forderung schloss sich der Petitionsausschuss ein-stimmig an, blieb aber im ersten Anlauf erfolglos. Doch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23459
Kersten Steinke
(C)
(B)
es wäre nicht unser Petitionsausschuss, wenn er die Er-folglosigkeit einfach so akzeptieren würde. Es wurde einweiteres Gespräch mit Regierungsvertretern geführt undum eine Lösung gerungen. Das Ergebnis: Seit dem 1. Julides vergangenen Jahres gelten für Ost und West einheit-liche Freibeträge.
Das Bundesministerium der Justiz mit 1 885 Einga-ben bzw. 12 Prozent der Gesamteingaben lag auch imvergangenen Jahr auf dem zweiten Rang der Eingaben-statistik. Adoptionsrecht, Unterhaltsrecht, Mietrecht undVerbraucherschutz sind nur einige Themen aus diesemBereich, mit denen sich die Bürgerinnen und Bürger anuns wenden.Neben seinen 22 regulären Sitzungen hat der Aus-schuss 32 Berichterstattergespräche mit einzelnen Minis-terien geführt, um Lösungen für schwierige Fälle zu fin-den. Hier wurden beispielsweise das Verbot von Action-Computerspielen, der Lärmschutz im Luftverkehr und anSchienenwegen, die Wiedergutmachung nationalsozialis-tischen Unrechts und die wohnortnahe Versorgung mitHebammenhilfe thematisiert.Hervorzuheben sind vier öffentliche Sitzungen, in de-nen zehn Petitionen zur Einzelberatung aufgerufen wur-den. Themen waren unter anderem: die Verankerung desKlimaschutzes als Staatsziel im Grundgesetz, das Verbotdes Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen, die nu-kleare Ver- und Entsorgung, die Ambulante Kodierricht-linie, die Finanztransaktionsteuer und die Kopfpauschalezur Finanzierung der GKV.In drei Fällen führte der Ausschuss Ortsterminedurch. Besprochen wurden gemeinsam mit den Petentenund den Vertretern der zuständigen Verwaltungen dieTrassenführung der S-Bahn bei Fürth, die Nutzung derFerienanlage Prora auf Rügen sowie der Bau einerOrtsumgehung bei Ratzeburg.Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass sich dieMitglieder des Petitionsausschusses mit großem Engage-ment darum bemühen, die bestmögliche Lösung für jedePetentin und jeden Petenten zu erreichen und dabei in vie-len Fällen eine über die Fraktionsgrenzen hinausgehendekonstruktive Zusammenarbeit praktizieren. Selbstver-ständlich ist aber auch, dass es zu manchen Themen sehrunterschiedliche Sichten gibt und somit unterschiedlichvon den Fraktionen votiert wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere mit-hilfe des Internets eröffnen sich den Bürgerinnen undBürgern seit 2005 völlig neue Arten der Beteiligung. DieMöglichkeit, Petitionen im Internet zu veröffentlichenund online zu unterstützen, erlaubt es den interessiertenMenschen, sich zusammenzutun und sich gemeinsam fürein Anliegen starkzumachen. Ziel der öffentlichen Peti-tion ist es, der Öffentlichkeit Themen von allgemeinemInteresse vorzustellen und zu diskutieren. Auf dieseWeise wird die Informationsbasis des Ausschusses, diedie Grundlage seiner Empfehlungen an das Plenum desDeutschen Bundestages bildet, erheblich erweitert.Seit 2005 besteht die Möglichkeit, Petitionen per In-ternet einzureichen, öffentlich zu stellen und mitzudisku-tieren. Und die Zahlen beweisen: Die Entscheidung fürdas Internet war richtig, und wir tun gut daran, das An-gebot immer weiter zu verbessern.
Neben den bereits erwähnten 1,1 Millionen registrier-ten Nutzern auf der Internetseite wurden auch die 650im Berichtsjahr veröffentlichten Petitionen insgesamt1 Million Mal mitgezeichnet und 66 000-mal kommen-tiert.Eine weitere Zahl ist imposant: 4 bis 5 Millionen Sei-tenaufrufe pro Monat zeigen das rege Interesse der Be-völkerung an diesem Angebot des Petitionsausschusses.Unser Internetportal ist damit klarer Spitzenreiter unterden Internetangeboten des Deutschen Bundestages.Die am häufigsten über das Internetportal mitgezeich-neten öffentlichen Petitionen im Berichtsjahr waren diePetition zum Verbot der Vorratsdatenspeicherung mitüber 64 000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnernund zum Verbot des Anbaus von gentechnisch veränder-ten Pflanzen mit über 43 000 elektronischen Mitzeich-nungen.Ich bin der festen Überzeugung: Insbesondere das In-strument der öffentlichen Petitionen kann helfen, die De-mokratie zu stärken und Mitwirkung auf eine breitereBasis zu stellen. Doch bei all den Möglichkeiten, die dasPetitionsrecht in Verbindung mit dem Internet bringt,dürfen wir eines nicht vergessen: die sehr persönlichenSorgen und Nöte des einzelnen Bürgers, die quasi dasKerngeschäft des Petitionsausschusses sind und auchden Kernanteil unserer Arbeit ausmachen. Bei all denpersönlichen Bitten und Beschwerden, etwa wegen fal-scher Berechnung der Rente, Nichtfinanzierung einesRollstuhls oder Ablehnung eines Besuchervisums, gehtes für den Einzelnen, der sich an uns wendet, um exis-tenzielle Probleme. Diese Eingaben eignen sich abernicht für Diskussionsforen und öffentliche Beratungen.Doch auch diese Beschwerden zeigen, wo in der Politiketwas nicht funktioniert.Der Petitionsausschuss wird täglich mit diesen Einzel-schicksalen konfrontiert, bei denen Bürgerinnen undBürger in die Mühlen der Bürokratie geraten sind undnicht mehr ohne fremde Hilfe herauskommen. Hier einBeispiel: Eine Petentin, die an einer degenerativen Er-krankung des Nervensystems leidet, wandte sich an uns,damit die Deutsche Rentenversicherung Bund die Kostender Wartung der Rollstuhlladehilfe an ihrem Pkw über-nehme; denn trotz ihrer Erkrankung war es der Dame mitdem entsprechend ausgestatteten Pkw möglich, am Be-rufsleben teilzunehmen. Durch eine verzögerte Bearbei-tung durch die Deutsche Rentenversicherung Bund warsie jedoch gezwungen, die Wartungskosten selbst zuübernehmen, wenn sie weiter dem Beruf nachgehenwollte. Durch die vom Petitionsausschuss eingeleiteteErmittlung konnte der Frau dann doch geholfen werden.Der Petentin wurden die Wartungskosten erstattet und
Metadaten/Kopzeile:
23460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Kersten Steinke
(C)
(B)
die Finanzierung eines Kraftverstärkers am Rollstuhl be-willigt, um ihr auch weiterhin die Teilnahme am aktivenLeben zu ermöglichen. Ja, die Lösung solcher Problemeist zeitaufwändig und in aller Regel auch wenig öffent-lichkeitswirksam. Aber diese Anfragen sind genausowichtig wie die Petitionen mit Hunderttausenden Unter-schriften.
Ein Wermutstropfen bleibt jedoch: Der Bericht desBüros für Technikfolgen-Abschätzung, der heute auchauf der Tagesordnung steht, kommt zu der Einschätzung:Der Petitionsausschuss ist für die Bürger relativeinfach erreichbar, gleichzeitig aber in der Durch-setzung von Bürgerinteressen schwach.So weit, so gut bzw. so schlecht. Ich frage mich aller-dings, wie wir diese Einschätzung ins Gegenteil kehrenwollen, wenn wir nicht einmal die Anerkennung des Par-laments, geschweige denn ausreichend Gehör zur Durch-setzung im Parlament finden.
Wie sonst soll ich es bewerten, dass der Tagesordnungs-punkt so aufgesetzt wurde, dass unsere Debatte erst zudieser späten Uhrzeit stattfindet? Die Obleute aller Frak-tionen haben sich gemeinsam dafür stark gemacht, die-sen Tagesordnungspunkt zu einer früheren Tageszeit imPlenum aufzurufen, und sind den Kompromiss einge-gangen, den Jahresbericht nicht im Juni, sondern im Sep-tember zu debattieren. Das Ergebnis der Bemühungen– und damit die mangelnde Akzeptanz und Würdigungunserer Arbeit – wurde heute wieder sichtbar.
Doch seien Sie sicher: Wir werden uns nicht entmutigenlassen und immer wieder anmahnen, unsere Arbeit undihre Ergebnisse zu achten, aber vor allem ernst zu neh-men. Denn bei unserer Arbeit geht es um die Menschenin unserem Land, um ihre Rechte, ihre Fragen, ihre Sor-gen, ihre Nöte, ihre Vorschläge und Anregungen. Es gehtalso um die Ausübung und Achtung eines demokrati-schen Rechts, des Petitionsrechts.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die heu-tige Debatte auch dazu nutzen, mich bei den Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschussdienstesganz herzlich zu bedanken. Sie sorgen trotz stetigenWechsels und dünner Personaldecke für einen kontinu-ierlichen Zustrom an beratungsreifen Petitionen, arbei-ten konstruktiv mit den Abgeordneten zusammen undstehen uns Abgeordneten stets unterstützend zur Seite.Dafür ganz herzlichen Dank!
Darüber hinaus möchte ich mich natürlich bei den Aus-schussmitgliedern aller Fraktionen ganz herzlich für ihrEngagement und für die gute Zusammenarbeit bedan-ken.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für das kom-mende Jahr wünsche ich mir von den Mitgliedern unse-res Parlaments, des Petitionsausschusses und den Mitar-beitern des Petitionsausschussdienstes eine weiterhinkonstruktive und respektvolle Zusammenarbeit, um un-sere Bemühungen für die Bürgerinnen und Bürger nocheffektiver zu gestalten.Georg Christoph Lichtenberg sagte einmal:Es ist unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch einGedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zuversengen.Ich sehe unseren Petitionsausschuss als Fackelträger.Wenn bei unserer Tätigkeit der eine oder andere Bartversengt wird, können Sie gesichert davon ausgehen,dass dies immer im Sinne der Petentinnen und Petentengeschieht.Herzlichen Dank.
Der Kollege Günter Baumann hat nun für die Unions-
fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir stellen oft fest, dass sich in unserem Land ein gewis-ses Maß an Politikverdrossenheit breit macht. Besondersstellen wir das bei Wahlen fest, da manchmal nur 25 Pro-zent der Bürgerinnen und Bürger von ihrem demokrati-schen Recht Gebrauch machen.Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler sagte:„Wir dürfen nicht müde werden, uns zu fragen, was wirtun können, um unsere Demokratie attraktiv, aktuell undlebendig zu erhalten.“ Mein persönlicher Eindruck ist:Der Petitionsausschuss wird nicht müde, sich Tag fürTag mit den Problemen der Menschen zu beschäftigenund zu versuchen, Abhilfe zu schaffen. Nach dem Wahl-recht bietet der Petitionsausschuss den Bürgerinnen undBürgern die wichtige Möglichkeit, sich direkt an derPolitik beteiligen.Die Bürgerinnen und Bürger haben nach meiner An-sicht Vertrauen in unsere Arbeit, und das, obwohl es ne-ben uns in Behörden und Institutionen eine Vielzahl vonBeauftragten gibt. Trotzdem kommen seit vielen Jahren15 000 bis fast 20 000 Petitionen pro Jahr zusammen.Auch im letzten Jahr, 2011, belegen das die Zahlen ineindrucksvoller Weise; die Vorsitzende hat darauf hinge-wiesen.Ich möchte an dieser Stelle meinen herzlichen Dankan die Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss richten.Wir pflegen ein kollegiales Miteinander. Wir haben nichtimmer die gleiche Meinung – das ist normal –, abertrotzdem geht es kollegial zu und wir versuchen gemein-sam, Lösungen zu finden. Wir danken unseren Mitarbei-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23461
Günter Baumann
(C)
(B)
terinnen und Mitarbeitern, die uns zuarbeiten, um dieBerge von Akten zu bewältigen. Ohne sie wäre unsereArbeit nicht möglich. Ein herzliches Dankeschön gilt na-türlich auch dem Ausschussdienst, der uns mit sehr ho-hem Sachverstand zuarbeitet, sonst könnten wir unsereAufgaben nicht packen.Meine Damen und Herren, ich möchte behaupten: DieArbeit im Ausschuss ist erfolgreich, auch wenn wir anmanchen Stellen etwas zu kritisieren haben. Wir könnenauf unsere Arbeit ein Stück stolz sein, auch wenn wirheute Abend erst um 19 Uhr hier im Plenum sprechendürfen.Wenn wir als Delegationen in verschiedene Länderder Welt reisen, stellen wir fest, dass Bürgerproblemeteilweise anders behandelt, teilweise ignoriert werden.Wir können daher stolz darauf sein, wie das bei unsläuft.Die eindrucksvollen Zahlen hat die Vorsitzende ge-nannt. Es gab reichlich 15 000 Petitionen. Zur Ergän-zung ist zu erwähnen: Das sind immerhin fast 60 Petitio-nen pro Tag, die im Bundestag eingehen. Die müssenerst einmal bearbeitet werden, der Aufwand ist also groß.500 000 Mitzeichnungen im Internet sind ebenfalls eineeindrucksvolle Zahl. Wir haben im Ausschuss 728 Peti-tionen zur Einzelberatung aufgerufen, das heißt, wir hat-ten sie in den Büros, in den Arbeitsgruppen zu bearbei-ten. Das war ein riesiger Aufwand. Eine Zahl noch, diedie Vorsitzende nicht genannt hat: Immerhin konnten wirbei rund 6 500 Petitionen, also rund 43 Prozent, den Pe-tenten helfen, in welcher Form auch immer.Auffällig ist, dass auch 22 Jahre nach der deutschenEinheit prozentual immer noch die meisten Petitionen,auf die Einwohner bezogen, aus den neuen Bundeslän-dern kommen. Aus Berlin, Brandenburg, Sachsen undThüringen sind das zwischen 200 und fast 500 Petitionenpro Land. Im Vergleich dazu Bayern: 137. Das heißtnicht – das sage ich jedes Jahr wieder –, dass die Ossisam meisten meckern, sondern es gibt im Osten eineReihe von Problemen – bedingt durch die Geschichteund durch die Erwerbsbiografien der Menschen –, undnicht alles konnte durch den Einigungsvertrag komplettgeregelt und aufgearbeitet werden. Einige Herausforde-rungen liegen noch immer vor uns: Ich denke an offeneVermögensfragen, an das Sachenrechtsbereinigungsge-setz, an Rentenfälle und die Zusatzversorgung, wo im-mer noch die berühmten „Ostfälle“ bei uns aufschlagen.Wir nutzen unsere besonderen Befugnisse im Aus-schuss sehr stark, um höhere Sachkenntnis für die ein-zelne Petitionsbearbeitung zu erreichen und die Fachmi-nisterien einzubeziehen. Die Vorsitzende sprach bereitsvon 32 Berichterstattergesprächen zu den Themen Ge-sundheit, Verkehr, Lärmschutz, Vermögensfragen, Ren-ten, Asyl und Spätaussiedler. Wir haben im Zuge der Ge-spräche für eine Reihe von Petitionen Lösungen findenkönnen, nicht immer komplett im Interesse des Petenten,aber zumindest Teillösungen wurden erzielt.Ich möchte die Verhandlungen mit dem BMVBS undder Flugsicherung über das Thema Südabkurvung amFlughafen Leipzig ansprechen. Dabei ging es um Lärm-schutz. Wir haben nach mehreren Gesprächen erreicht,dass die Trassen verändert wurden. Das Problem wurdenicht vollkommen gelöst, heute sind aber wesentlich we-niger Bürger durch Lärm belästigt als vor den Verhand-lungen. Das ist ein Erfolg des Petitionsausschusses.Ich möchte erwähnen, dass wir im letzten Jahr durchHärtefallregelungen Spätaussiedler in bereits geneh-migte Fälle einbeziehen konnten. Damit konnten wir ei-ner Reihe von Bürgerinnen und Bürgern helfen.Wir nutzen die Möglichkeit von Ortsterminen. DieVorsitzende hat das schon erwähnt. In Prora auf Rügenhaben wir uns nicht um eine Ferieneinrichtung geküm-mert, sondern wir haben uns bemüht, ein kulturhistori-sches, geschichtsträchtiges Museum zu erhalten. Ichdenke, das war eine ganz gute Aktion. Wir haben einenKompromiss ausgehandelt, sodass das Museum erst ein-mal erhalten bleibt. Jetzt müssen wir schauen, wie esdort weitergeht.Ich möchte auch die Lärmbelästigung durch abge-stellte Züge in der Nähe von Wünsdorf auf der Eisen-bahnstrecke Dresden–Berlin erwähnen. Wir haben dazueine Reihe von Stellungnahmen des Ministeriums erhal-ten, auch von der Deutschen Bahn, die uns nicht befrie-digt haben. Man hat das Thema nicht ernst genommen.Erst nach dem Ortstermin kam Bewegung in die Sache.Nach einer langen Verhandlungszeit haben wir nun er-reicht, dass die Lärmsanierung für 2015 im Plan steht.Die Bürger sind nun ein ganzes Stück zufriedener.
Der schönste Erfolg für uns im Petitionsausschuss ist,wenn Bürger uns schreiben und sich dafür bedanken,dass etwas erreicht worden ist. Ich freue mich immerüber solche Briefe. Im letzten Jahr haben uns mehrereBriefe erreicht, in denen die Bürger einfach geschriebenhaben: Danke. Durch Ihre Arbeit habe ich wieder Mutgefunden. Mein Problem konnte gelöst werden.Auch der TAB-Bericht steht heute zur Diskussion. Esist ein Novum, dass wir heute in der Zeit, in der wirsonst nur über den Petitionsbericht debattiert haben,zwei Berichte bereden müssen. Also haben wir nur sehrwenig Zeit dafür. Daher nur einige kurze Bemerkungendazu: In dem Bericht, der am 15. März 2012 veröffent-licht wurde, wird empfohlen, dass öffentliche Petitionenvon der Ausnahme zur Regel erklärt werden. Ich möchtefür meine Fraktion deutlich sagen: Diese Einschätzungteilen wir nicht. Petitionen können elektronisch einge-reicht werden. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sieim Internet veröffentlicht werden. Wir haben einver-nehmlich Kriterien festgelegt, an die wir uns halten. Pe-titionen, die nicht elektronisch eingereicht wurden, müs-sen nicht im Internet veröffentlicht werden. DasInstrument der öffentlichen Petitionen, das 2005 als Mo-dellprojekt eingeführt wurde, hat sich als ständige Ein-richtung auf der Internetseite des Deutschen Bundesta-ges bewährt. Inzwischen werden monatlich zwischen 30und 80 Petitionen neu eingestellt. Das ist also ein gutesSystem. Die Veröffentlichung hat allgemeines Interessegefunden.
Metadaten/Kopzeile:
23462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Günter Baumann
(C)
(B)
In dem Bericht wird ferner bemängelt, dass nur einSiebtel aller Petitionen, die öffentlich sind, bei uns zuge-lassen wird.
Herr Kollege, nicht dass Sie denken: „Ossis meckern
doch“,
aber ich muss Ihnen sagen: Ihre Redezeit ist zu Ende.
Okay. Ich nehme den Hinweis sehr gerne ernst. – Ich
glaube, über den TAB-Bericht müssen wir noch einmal
sprechen. Die Zeit reicht dafür heute absolut nicht aus.
Ja.
Ein letzter Satz, wenn Sie gestatten. – Wir wollen,
dass alle Petitionen gleich behandelt werden, egal ob sie
öffentlich oder nichtöffentlich sind, ob sie von einem
oder von 50 Leuten eingereicht werden. Für uns ist jeder
Petent gleich. Daran wollen wir festhalten und dieses
System in der Form weiter ausbauen.
Recht vielen Dank.
Klaus Hagemann hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tri-bünen! Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich zwar injeder Sitzungswoche hier im Plenum mit Petitionen, aberes wird nur über Listen abgestimmt, und zwar ohne De-batte. Einmal im Jahr haben wir die Möglichkeit – das istder Höhepunkt –, hier über das Petitionswesen und dasThema Petitionen öffentlich zu diskutieren. Heute disku-tieren wir zu einer Uhrzeit – Frau Vorsitzende, diesbe-züglich stimme ich Ihnen vollkommen zu –, wie ich esnoch nie erlebt habe, seitdem ich Mitglied des Petitions-ausschusses bin. In der Zeit von Rot-Grün haben wirfestgelegt, dass wir in der Kernzeit miteinander diskutie-ren. Ich verstehe nicht, warum die Fraktionsführungender Koalitionsfraktionen diese Debatte so weit nach hin-ten geschoben haben. Es gibt doch gar keinen Grund, un-sere Arbeit zu verstecken. Auch ihr von den Koalitions-fraktionen müsst eure Arbeit nicht verstecken. Ihr müsstdoch nicht versteckt werden. Ihr macht, genauso wie wir,gute Petitionsarbeit. Deswegen habe ich überhaupt keinVerständnis dafür, dass man den Tagesordnungspunktzeitlich so weit nach hinten geschoben hat.
Wenn ich auf die Regierungsbank schaue, stelle ichfest, dass es dieses Jahr eine deutliche Verstärkung gibt.Kompliment an die Herren Staatssekretäre. Aber ichmuss rügen, dass der Staatssekretär, der eben noch hiergewesen ist und dem die meisten Petitionen zugeleitetwerden, nämlich der aus dem Bereich Arbeit und Sozia-les, nicht mehr anwesend ist. Dieses Ministerium istnicht vertreten. Das will ich hier rügen.
Ich muss sagen, dass es so aussieht, als wollten dieFraktionsführungen hier nicht zuhören. Mein stellvertre-tender Fraktionsvorsitzender ist anwesend; das freutmich.
– Entschuldigung. – Damit signalisiert man den Peten-ten, dass man ihnen nicht zuhören will. Das schließe ichdaraus, dass man die Debatte auf eine derart späte Tages-zeit verschoben hat. Ihre Nervosität zeigt, dass ich garnicht so falsch liege. Liebe Frau Piltz, das ist wohl derGrund, und diesen musste ich hier herausstellen.
– Passen Sie auf, es zeigen immer drei Finger auf einenselbst zurück, wenn man mit dem Finger auf anderezeigt.
Wenn ich mir den Koalitionsvertrag ansehe, der vonSchwarz-Gelb vor drei Jahren geschlossen worden ist,dann sehe ich, dass dort steht – ich hatte die Hoffnung,dass es auch weiterentwickelt wird –: Das Petitionswe-sen soll weiterentwickelt und verbessert werden. – Wasist geschehen? Bisher nichts. Dort steht: Das Anhö-rungsrecht soll verbessert werden. – Was ist geschehen?Bisher nichts. Vom Kollege Thomae wurde in der Pressevorgeschlagen – das finde ich ganz toll; wir haben unsdem auch angeschlossen –, mehr Petitionen hier im Ple-num zu behandeln und nicht nur einmal im Jahr über dasThema zu diskutieren. Was ist geschehen? Ich weiß esnicht, lieber Kollege Thomae, ich vermute, nicht viel;sonst würde es hier schon Vorlagen geben. Hier mussalso noch etwas mehr Butter bei die Fische gegeben wer-den.Petitionsrecht ist nicht nur der Kummerkasten der Na-tion. Unsere Frau Vorsitzende hat darauf hingewiesen.Das ist wichtig und die Hauptsache. Aber Petitionswe-sen bedeutet auch, die Bürgerinnen und Bürger am poli-tischen Geschehen im Deutschen Bundestag teilnehmenzu lassen. Nach unserem Grundgesetz ist das die einzigeMöglichkeit der Bürger, auf das politische Geschehenhier im Parlament, aber auch auf die Regierung direktEinfluss zu nehmen. Das hat man nicht genügend he-rausgestellt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23463
Klaus Hagemann
(C)
(B)
Wir haben im Jahre 2005 – Kollege Baumann hat da-rauf hingewiesen; er musste damals ein bisschen zum Ja-gen getragen werden –
unter Rot-Grün eine Reform durchgeführt. Sie war gut.Wir haben die elektronischen Petitionen eingeführt. Wirhaben die öffentlichen Petitionen eingeführt. Wir habendie Diskussionsforen eingeführt. Unsere Frau Vorsit-zende hat deutlich gemacht, wie stark diese Möglichkei-ten wahrgenommen werden und dass wir auf einem gu-ten Weg sind. Der TAB-Bericht, also die wissenschaft-liche Untersuchung, die das evaluiert, belegt, dass wirauf einem guten Weg sind. Von dieser Innovation, diewir damals im Petitionswesen gestartet haben – lieberJosef Winkler, liebe Gabriele Lösekrug-Möller, wir ha-ben hier an einem Strang gezogen –, leben wir nochheute; aber es folgt nichts, es kommt nichts nach. Des-wegen bitte ich darum, dass wir uns dieses Thema nocheinmal zusammen ansehen.Was ist bei den öffentlichen Anhörungen nicht allesbesprochen worden? Wir haben öffentlich über Internet-sperren diskutiert. Das Gesetz wurde zwischenzeitlichaufgehoben. Das Thema ACTA ist zu den Akten gelegtworden; auch damit haben wir uns im Petitionsausschussbeschäftigt. Zur Finanztransaktionsteuer liegt immernoch nichts vor; darüber wird immer noch beraten.Stichwort „Hebammen“: 200 000 Unterschriften wareneingegangen. Was ist geschehen? Bisher noch nichts. Esist noch nichts Konkretes vorgelegt worden. Ich denkeauch an das Beispiel Vorratsdatenspeicherung, an dieDiskussion, die wir dazu geführt haben. 65 000 Mitbür-gerinnen und Mitbürger hatten diese öffentliche Petitionunterschrieben. Dreimal haben wir von der Oppositionversucht, das Thema hier auf die Tagesordnung zu set-zen, aber Sie haben dem nicht zugestimmt, obwohl derRechtsanspruch gegeben war; denn die Koalition warzerstritten, und dies wollten Sie nicht zeigen.Ähnliches gilt auch im Hinblick auf das Thema „Ge-neration Praktikum“. Wir haben dazu eine Anhörungdurchgeführt. Fünf, sechs Jahre hat es gedauert, bis einpaar Konsequenzen gezogen worden sind.
Schließlich hat man eine Broschüre vorgelegt – FrauPiltz, es ist nun einmal so; die Wahrheit tut manchmalweh –,
die man „Leitfaden für die Generation Praktikum“nennt. 100 000 junge Menschen haben hier unterschrie-ben, aber es ist nichts dabei herausgekommen. Diejungen Menschen sind enttäuscht worden. Das ist derfalsche Weg.Ich könnte Ihnen weitere Beispiele nennen, abermeine Redezeit ist leider zu Ende.
– Es ist schwierig, die Wahrheit zu ertragen, Herr Kol-lege, nicht wahr?Wie sieht es im Hinblick auf die Beschlüsse zuBerücksichtigungen oder Erwägungen aus, die wir ge-meinsam gefasst haben?
Nur die Hälfte von ihnen ist von der Regierung bishererledigt worden.
Herr Kollege?
Ich komme zu meinem letzten Satz. – Das muss kon-
sequenter aufgearbeitet werden; denn Petitionsrecht ist
auch Teilhabe an der Politik.
Danke schön.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Otto Fricke.
Herr Kollege Hagemann, es ist ja immer möglich, einThema auf eine billige parteipolitische Ebene zu schie-ben. Aber ich glaube, dafür ist das Thema Petitionen zuschade.
Sie haben gerade behauptet – das bekommen die Bür-ger dann ja auch mit –, die Koalitionsfraktionen hättendiesen Tagesordnungspunkt auf diese Uhrzeit gelegt. Ichdarf Sie darauf hinweisen – ich habe mich extra nocheinmal informiert –, dass sich die Ersten Parlamentari-schen Geschäftsführer aller Fraktionen darauf geeinigthaben, diese Debatte zu diesem Zeitpunkt durchzufüh-ren. Man sollte eher sagen – dafür plädiert meineFraktion –: Lasst uns alle noch einmal auf die Parlamen-tarischen Geschäftsführer zugehen, um dafür zu sorgen,dass das beim nächsten Mal nicht wieder passiert! Wirsollten daraus nicht eine parteipolitische Sache machen,sondern im Interesse der Petenten und im Interesse desPetitionsverfahrens handeln.Da Sie darauf hingewiesen haben, wie viele Abgeord-nete hier anwesend sind, muss ich Ihnen entgegnen: Ichwerde den Linken nicht vorwerfen, dass nur drei von ih-nen hier sind; denn auch sie machen noch ihre Arbeit.Ich werde auch Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie, obwohlIhre Fraktion etwas größer ist als unsere, nicht in derLage sind, mehr Leute als unsere Fraktion hier aufzubie-ten. Wir sollten wirklich versuchen, Herr Kollege
Metadaten/Kopzeile:
23464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Otto Fricke
(C)
(B)
Hagemann, beim wichtigen Thema Petitionen, bei derAnknüpfung von Bürgern ans Parlament, nicht auf par-teipolitischer Ebene, sondern gemeinschaftlich zu agie-ren. Das wäre sehr schön.Herzlichen Dank.
Herr Hagemann, bitte.
Wahlkampf brauche ich nicht mehr zu machen, weil
ich nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidiere.
Insofern, meine Damen und Herren, war dieser Zwi-
schenruf falsch.
Erstens, lieber Kollege Otto Fricke. Es geht nicht
darum, irgendjemanden anzugreifen,
sondern ich habe, um das deutlich zu machen, die Reali-
täten geschildert, um auch den Kolleginnen und Kolle-
gen aus Ihrer Fraktion und aus der Unionsfraktion, mit
denen wir gemeinsam an einem Strang ziehen, den
Rücken zu stärken.
Zweitens: zum Termin. Das Aufsetzungsrecht haben
die Koalitionsfraktionen.
Wir haben versucht, um auch das noch einmal zu sagen,
den Termin in eine andere Sitzungswoche zu verschie-
ben, damit wir dann die Möglichkeit haben, früher zu
tagen. Ich könnte Ihnen Kollegen, die mit dabei waren,
als Zeugen nennen; das geschah sogar auf Anregung des
Kollegen Baumann.
Aber man hat sich nicht durchgesetzt. Meine Fraktion
wäre dazu bereit gewesen. Dann hätten wir zu früherer
Stunde über dieses Thema diskutieren können.
Lieber Otto Fricke, im Petitionsausschuss ziehen wir
bei allen Tagungen gemeinsam an einem Strang; das
möchte ich betonen. Aber man muss auch die Schwach-
stellen deutlich machen. Petitionswesen heißt nämlich
auch: Lieber Petent, liebe Mitbürgerinnen und Mitbür-
ger, wir wollen Ihr bzw. dein Interesse ernst nehmen. –
Das muss man deutlich machen, und das muss man auch
zeigen.
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Peter Röhlinger für
die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Werte Kol-leginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!Wenn Sie gestatten, kehre ich, ohne das Gespräch überdie Terminierung der heutigen Veranstaltung zu kom-mentieren, zur Sache zurück und knüpfe an das an, wasder Herr Bundestagspräsident anlässlich der Eröffnungdes Internetportals getan hat. Er hat unseren Ausschussnämlich als den fleißigsten und öffentlichkeitswirksams-ten bezeichnet und für die Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter sehr viel Lob übriggehabt.
Das ist für mich der Anknüpfungspunkt: Lieber HerrHagemann, ich kenne Sie auch aus den Ausschusssitzun-gen als einen sehr konstruktiven Kollegen und bin ganzüberrascht, dass Ihnen das heute so schwerfällt.
Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuss istim Grunde genommen tatsächlich Ihr Ausschuss. Überden Petitionsausschuss kommunizieren wir mit den Bür-gerinnen und Bürgern. Jeder von ihnen darf und soll sichmit Petitionen an uns wenden. So viel zum Werbeblock!Ich sage Ihnen: Wir haben durchaus damit zu tun, demnachzukommen. Es ist uns aber jede Anstrengung recht,um dieser Verpflichtung nachzukommen – frei nachSchiller, Herr Hagemann: „Der brave Mann denkt ansich selbst zuletzt“.
Die Zahlen sind sehr beeindruckend; sie sind vorge-tragen worden. Ich will sie hier nicht noch einmal wie-derholen. Eines will ich aber schon sagen: Der Trend istpositiv. Wir haben die Bürger in den vergangenen Jahrenoffensichtlich zunehmend erreicht. Es wurden viele neueFragen gestellt – unabhängig von Geschlecht und Alterund insbesondere auch von dem sozialen Umfeld derPetenten. Wir freuen uns darüber, dass sich so vieleMenschen an den Deutschen Bundestag wenden und unsAbgeordneten zutrauen, dass wir ihnen wirklich helfenwollen. Wir werten das als einen großen Vertrauens-beweis.Das Interesse an der Ausübung des Petitionsrechts istin einer Zeit, in der sich viele Bürgerinnen und Bürgernicht an Wahlen beteiligen, eine Chance für die Demo-kratie.Die Ausschussmitglieder bearbeiten die Eingaben mitgroßem Engagement. 2011 haben wir in 26 Sitzungen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23465
Dr. Peter Röhlinger
(C)
(B)
über 700 Petitionen behandelt. Das ist ein ordentlichesPensum. Ich werde oft gefragt, wie das funktionierenkann, wenn 25, 30 oder noch mehr Petitionen auf derTagesordnung stehen. Ich will dazu eine kurze Ausfüh-rung machen:Verstehen Sie den Petitionsausschuss vielleicht soähnlich wie den Hausarzt bei den Medizinern, der oftEingangsarzt ist. Er wird die Therapie mit der Untersu-chung des Patienten auch nicht beenden, sondern er isthäufig genötigt, ihn zu anderen Ärzten zu schicken. Soist es bei uns auch. Das heißt, wir legen mit unseren ver-schiedenen Voten fest, was wir zur Weiterbearbeitungdieser Petition empfehlen. Wenn wir zum Beispiel wis-sen, dass eine Gesetzesänderung geplant ist, dann gebenwir diese Petition dem betreffenden Ministerium oderAusschuss zur Beachtung und zur Einarbeitung. Wirsind dann sicher, dass die Petition dort nicht ab-geschmettert, sondern in Ruhe und mit hoher Sachkom-petenz bearbeitet wird.Die Bearbeitung der Petition liegt zunächst einmal inden Händen von über 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern – ein Teil der Führungskräfte ist hier anwesend –,die die Petitionen dann den Berichterstattern zuleitenund für den weiteren Verfahrensweg zuständig sind. Ichmuss Ihnen sagen: In den vergangenen Jahren ist hier einsehr enges und gutes Vertrauensverhältnis entstanden –auch dadurch, dass Mitarbeiter des Ausschussdienstesuns auf den Auslandsreisen begleitet haben. Auf vieler-lei Weise konnten wir uns von deren Kompetenz über-zeugen.Wir sind unsererseits natürlich daran interessiert, dieMitarbeiter, auch unsere eigenen, durch gute Rahmen-bedingungen zu motivieren und in die Lage zu verset-zen, diesen hohen Anforderungen gerecht zu werden.Ich sage hier aber auch: Wir schieben zurzeit einenBerg von Petitionen vor uns her, es gibt einen regelrech-ten Stau. Herr Hagemann, das sollten wir auch sagen.Wir haben noch keinen Terminkalender, nach dem wirdiesen Berg abarbeiten. Fangen wir doch bei uns einmalan, Herr Hagemann, bevor wir andere bitten, uns ernstzu nehmen.
Uns ist es bislang nicht gelungen, zu konzipieren, wiewir diesen Stau auflösen. Das ist unsere Sache. Da binich der Auffassung: Das sollten wir selber machen.Wir bemühen uns – das ist erfreulich, auch wenn esheute so aussieht, als sei das untypisch – bei der Bearbei-tung von Petitionen um Übereinstimmung. Das ist eingutes Zeichen, ein Ausdruck dessen, dass wir nicht dieWidersprüche suchen, sondern dass wir froh und dank-bar darüber sind, wenn wir das eine oder andere frak-tionsübergreifend besprechen und in Übereinstimmungbehandeln können.Petitionen machen uns Abgeordnete auf die Sorgenund die Probleme aufmerksam, mit denen Bürgerinnenund Bürger zu tun haben, wo sie Ungerechtigkeit erfah-ren und wo die Gesetze unzulänglich sind. Wir müssenallerdings auch sagen: Wir können nicht in jedem Fallhelfen. Wir können also nicht immer versprechen, dassdas Anliegen im nächsten Gesetzgebungsverfahren auf-genommen wird.Aber auf eines haben wir Einfluss, nämlich darauf,dass die Fristen eingehalten werden und dass unsereAntwort, wie immer sie auch ausfällt, vom Petenten ver-standen wird. Er soll merken, dass wir uns nicht nur umden Inhalt bemühen, sondern auch darum, dass er unsereAntwort versteht. Er soll nicht das Gefühl haben, mit unsauf Distanz gewesen zu sein, sondern es soll deutlichwerden: Der Bundestagsabgeordnete hat mich verstan-den, der Ausschussdienst hat ihm ordentlich zugearbei-tet. Er kann mir vielleicht nicht helfen, aber er ermuntertmich, am Ball zu bleiben und mein Anliegen gegebenen-falls auf anderem Weg weiter zu verfolgen.
Ich sehe, meine Redezeit ist abgelaufen. Frau Präsi-dentin, weil ich das sehr respektiere, bedanke ich michsehr freundlich für den Hinweis und wünsche der Veran-staltung einen guten Verlauf.
Dazu trägt jetzt die Kollegin Sabine Stüber für die
Fraktion Die Linke bei.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter des Ausschussdienstes! Ein Parlament ist laut politi-scher Theorie eine Volksvertretung. Wir sind also hierversammelt, um die politischen Meinungen der deut-schen Wahlbevölkerung zu vertreten und zu repräsentie-ren.Tun wir das in einer Art und Weise, die von der Wahl-bevölkerung akzeptiert wird? Wenn ich mir allein diezahlreichen Beschwerden vieler Menschen anschaue, diedem Petitionsausschuss jeden Monat zugehen, beschlei-chen mich gewisse Zweifel. Da wird bei politischenEntscheidungen mangelnde Bürgerbeteiligung beklagt.Uns Abgeordneten wird vorgeworfen, abgehoben undintransparent nur unsere eigenen Ziele zu verfolgen. DieListe ließe sich fortsetzen. Wie also können wir dasändern?Ein erster Schritt wäre es, die bereits vorhandenenMitwirkungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger,zum Beispiel den Petitionsausschuss hier im Bundestag,einfach ernster zu nehmen. Die individuellen Anliegenvon Petentinnen und Petenten werden in der Regel vonden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschuss-dienstes in einem ersten Schritt sorgfältig geprüft.Manchmal können sie dabei schon durch eine Nachfragebei zuständigen Behörden etwas für diejenigen bewegen,
Metadaten/Kopzeile:
23466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Sabine Stüber
(C)
(B)
die sich an den Ausschuss gewandt haben. Das isttatsächlich Arbeit in deren Sinn.Wir Abgeordneten bewerten die Anliegen darüberhinaus politisch. Wenn sich bestimmte Beschwerdenwiederholen oder in den Fachausschüssen ein Problemnoch gar nicht behandelt worden ist, können wir parla-mentarisch aktiv werden. In diesem Bereich läuft dieArbeit des Ausschusses meiner Meinung nach gut.Im Bereich der öffentlichen Petitionen sehe ich aller-dings erheblichen Verbesserungsbedarf. Alle reden voneinem notwendigen Liquid Feedback an die Politik, alsovon fließenden Übergängen zwischen repräsentativerund direkter Demokratie. Wir erleben, dass Menschenihre Anliegen selbst vorbringen wollen. Jedoch werdensie durch bürokratische Hürden und unverständliche Hi-erarchien meist daran gehindert. Würden wir den Peti-tionsausschuss als bereits vorhandenes Instrument rich-tig nutzen und optimieren, könnten wir a) mehr über dieZustände in Deutschland erfahren als aus manch hoch-wissenschaftlicher Studie und b) dazu beitragen, dassMenschen ihre Anliegen auch besser selbst vortragenkönnten.Ein Beispiel dafür ist für mich die öffentliche Aus-schusssitzung zum Thema Finanztransaktionsteuer imFebruar 2011. Über 66 000 Bürgerinnen und Bürger ha-ben diese Forderung unterschrieben. Es ist nicht nach-vollziehbar, dass es nun schon über anderthalb Jahredauert, das Anliegen des Petenten im Ausschuss voran-zubringen.
Denn die Bürgerinnen und Bürger sind ja nicht blind. Siesehen: Unser Nachbarland Frankreich beispielsweise hatden ersten Schritt gemacht und am 1. August eine Fi-nanztransaktionsteuer eingeführt. Deutschland hat sichdem bisher nicht angeschlossen und trotz Ankündigungdie zu erwartenden Einnahmen noch nicht einmal in denHaushaltsentwurf 2013 eingestellt. Das Anliegen der Pe-tentinnen und Petenten wird also gerade nicht vorange-bracht. Ihrem Anliegen wird nicht einmal teilweise ent-sprochen.Wir müssen uns also nicht wundern, wenn sich zu-nehmend mehr Menschen von dieser Art und Weise desPolitikmachens nicht mehr vertreten fühlen. Die Regie-rungsmehrheit erweist damit sowohl dem Anliegen desPetitionsausschusses als auch der Demokratie insgesamteinen Bärendienst.
Ich fordere Sie auf, diese politische Praxis zu ändern.Gelegenheit dazu haben Sie ausreichend. Laut Koali-tionsvertrag soll im kommenden Jahr ein Petitionsgesetzzur Behandlung von Massenpetitionen dem Plenum undden Fachausschüssen vorgelegt werden. Ich bin gespanntdarauf.Die Linke wird im Oktober einen Antrag im Plenumeinbringen. Darin werden unsere Positionen zusammen-gefasst. Die Menschen werden sich in diesem Landebesser mit ihren Anliegen vertreten fühlen.Abschließend bedanke ich mich sehr herzlich bei denMitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdiens-tes für die gute Zusammenarbeit und freue mich auf einweiteres Jahr im Petitionsausschuss.Danke schön.
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der KollegeDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Demokratie ist kein Zuschauersport. Der Petitionsaus-schuss ermöglicht allen Bürgerinnen und Bürgern, sichan der Demokratie zu beteiligen. Deswegen ist es eigent-lich unerhört, dass wir heute um diese Uhrzeit diskutie-ren.
Der Petitionsausschuss sollte nicht nur in Sonntagsre-den, sondern auch in den Sitzungswochen die Wertschät-zung erhalten, die er verdient.
Nach meinem Dafürhalten ist der Petitionsausschusseiner der spannendsten Ausschüsse. Das liegt auch andem im Bundestag nicht immer üblichen kollegialen undkonstruktiven Umgang der Kolleginnen und Kollegenuntereinander,
aber insbesondere natürlich an dem breiten Spektrumvon Themen, von der Atombombe bis zur Zahnplombe,und den zahlreichen Vorschlägen der Petentinnen undPetenten, die im Ausschuss beraten werden. Nicht nurdas: Es geht auch immer mehr um Petitionen, die diepolitische Diskussion in der Gesellschaft mit bestimmen.Vier Beispiele: Erstens. Die Petition „Steuer gegenArmut“ von Pastor Jörg Alt hat die Kampagne inDeutschland für die Finanztransaktionsteuer verstärktund einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Fi-nanztransaktionsteuer ganz weit oben auf der politischenAgenda stand und jetzt vielleicht tatsächlich kommt. Ichfreue mich auf die hoffentlich in absehbarer Zeit stattfin-dende Sitzung, auf der wir beschließen können: Ab-schluss, weil dem Anliegen entsprochen werden konnte.
Zweitens. Die Petition von Susanne Wiest zumGrundeinkommen mit fast 60 000 Unterstützungen, die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23467
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(C)
(B)
die Idee des Grundeinkommens einer breiten Öffentlich-keit bekannt gemacht und damit einen wichtigen Beitragzu einer wichtigen gesellschaftlichen Diskussion geleis-tet hat.Drittens. Besonders erfolgreich war die Petition vonMartina Klenk vom Deutschen Hebammenverband mitsage und schreibe rund 190 000 Unterschriften. Der Pro-test hat sich ausgezahlt: Freiberufliche Hebammen be-kommen jetzt von den Krankenkassen tatsächlich einenAusgleich für die gestiegenen Haftpflichtversicherungs-beiträge. So erfreulich die Teileinigung der Hebammen-verbände mit den Krankenkassen ist, so ist dies doch nurein Teilerfolg. Denn noch immer sind eine viel zu ge-ringe Vergütung, der drohende Verlust der flächende-ckenden Hebammenversorgung sowie eine zunehmendeZahl an Kaiserschnitten zu beklagen. Aber ohne die Peti-tion hätte es diesen wichtigen Teilerfolg nicht gegeben.
Viertens. Ganz aktuell ist die Petition von TimWessels als Reaktion auf die Pläne von Ursula von derLeyen zur Rentenversicherungspflicht von Selbstständi-gen, die von 80 000 Menschen unterstützt wurde und inder nächsten Sitzungswoche, am 15. Oktober 2012, inöffentlicher Sitzung behandelt wird, die wie alle öffentli-chen Petitionsausschusssitzungen live im Internet aufwww.bundestag.de übertragen wird.Vielen Dank an Susanne Wiest, Tim Wessels, JörgAlt, Martina Klenk und den vielen, vielen Tausenden Pe-tentinnen und Petenten, die zeigen, wie lebendig die par-lamentarische Demokratie dank des Petitionsausschus-ses sein kann. Vielen Dank!
Ganz besonderer Dank natürlich auch an die Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes und– nicht zu vergessen – die Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter der Fraktionen und in den Abgeordnetenbüros!
Ihrem Einsatz und ihrer Sachkenntnis ist es zu verdan-ken, dass die Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Rechtkommen.Wir sind stolz darauf, dass das 2005 von Rot-Grüngegen heftige Vorbehalte von CDU/CSU und FDP ein-geführte Instrument der öffentlichen elektronischen Peti-tion heute zu einem unverzichtbaren und selbstverständ-lichen Bestandteil der Demokratie geworden ist.
Bei aller Freude über das Erreichte bleibt weiterhinviel zu verbessern. Wir streben deshalb einen grundle-genden Ausbau der Mitwirkungsmöglichkeiten an. Sosind beispielsweise die Fristen zur Mitzeichnung zu kurzund ist das Quorum zu hoch. Darüber hinaus sollte dieöffentliche Petition von der Ausnahme zur Regel ge-macht werden, wie es auch der TAB-Bericht vorschlägt.Wir haben zwar eben gerade gehört, dass die CDU nochdagegen ist, aber das war bei den elektronischen Petitio-nen auch einmal der Fall. Ich denke, dass wir auch dadurch Diskussionen wieder vorankommen können.Wichtig ist uns, auch die Belange der Bürgerinnenund Bürger zu berücksichtigen, die sich nicht im Internetbewegen wollen oder können. Wir sprechen uns dafüraus, in den Kommunen, in den Bürgerämtern und in denBürgerbüros Anlaufstellen einzurichten, die den Men-schen behilflich sind, ihre Eingaben einzureichen und zuformulieren. Dort sollte es auch möglich sein, mündlichvorgetragene Petitionen verschriftlichen zu lassen. Wirhatten eben die Diskussion über Barrierefreiheit in derKultur. Wir sollten auch mehr Barrierefreiheit im Peti-tionsrecht schaffen.
Auch bei den Onlinepetitionen sehen wir die techni-schen und grundsätzlichen Möglichkeiten des Petitions-rechts noch lange nicht ausgeschöpft. Wir wollen das In-strument der öffentlichen Petition zu einer offenenPetition für die Bürgerinnen und Bürger weiterentwi-ckeln. Petitionen sollten nicht nur, wie bisher, gemein-sam im Onlineangebot des Petitionsausschusses disku-tiert, sondern auch gemeinsam erarbeitet und eingereichtwerden können. Derart gemeinsam von Bürgerinnen undBürgern erarbeitete und eingereichte Bitten zur Gesetz-gebung bis hin zu Gesetzentwürfen sollten dann auch inden Fachausschüssen und im Plenum des Bundestagesberaten werden können.Mit dieser Vision schließe ich meine Rede und be-danke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Stefanie Vogelsang für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrStrengmann-Kuhn, eigentlich wollte ich über etwas ganzanderes reden, aber als ich Ihren Beitrag gehört habe,habe ich mir überlegt: Darauf musst du eingehen. Natür-lich ist es richtig und sinnvoll, sich modernen Möglich-keiten zu stellen. Natürlich muss man jeden Einzelfallüberprüfen. Und natürlich muss man gerade im Zeitaltervon Internet und Computern und dem breiten Zugangder Bevölkerung dazu auch darüber nachdenken, ob mandiesbezüglich nicht etwas verändert.Aber ich habe das Gefühl, dass über die Diskussiondieser Themen der einzelne kleine Fall des einzelnenBürgers, der einzelne kleine Bürger, der ganz allein vonetwas betroffen ist, ins Hintertreffen gerät.
Metadaten/Kopzeile:
23468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Stefanie Vogelsang
(C)
(B)
Wir betrachten mit großem Interesse öffentliche Peti-tionen, die von 50 000, 70 000, 80 000, 120 000 Men-schen eingereicht werden. Angesichts solcher Zahlen be-steht die Gefahr, dass die Petition, die ein kleiner, abergenauso wichtiger, großer Bürger unterschrieben hat,hinten rüberfällt.
Ich glaube, dass das nicht richtig wäre. Herr Hagemann,über Ihren Beitrag habe ich mich sehr geärgert,
weil er auf wesentliche Themen gar nicht zutrifft.Ein Meinungsforschungsinstitut hat in einer repräsen-tativen Umfrage 1 000 Menschen in der Bundesrepublikgefragt: Was ist das Wichtigste für euch, um im Wohl-stand zu leben? – Darauf haben 80 Prozent der Befragtengeantwortet: Glücklich zu sein. – Die Meinungsforscherwaren ganz irritiert, weil sie sich gefragt haben: Was istdenn „glücklich“? Für jeden Einzelnen doch etwas ande-res. Daraufhin gab es eine weitere Umfrage, in der dieMenschen gefragt wurden: Was versteht ihr unter„glücklich sein“? – Daraufhin haben die Befragten ge-antwortet: gesund zu sein. – Wir nehmen im Petitions-ausschuss wahr, dass es ganz viele Petitionen gibt, dieden Gesundheitsbereich betreffen.In dieser Legislaturperiode haben wir große Kampf-ansagen erlebt, unterstützt von Verbänden, die meinten,ihrer politischen Position mit einer Petition mehr Nach-druck verleihen zu können. Es gab aber auch viele kleineEinzelfälle, um die wir uns intensiv gekümmert haben.Ich glaube, in den letzten Jahren sind in keinem anderenBereich so viele Petitionen berücksichtigt worden wieim Gesundheitsbereich. Es gab viele Petitionen, derenInhalte das Ministerium und wir in der Gesetzgebungnachvollzogen haben. So war es nicht die Petition einerKrankenkasse, aufgrund der im Bereich der Hebammengesetzlich nachgebessert wurde, sondern die Petitionvon Frau Klenk, aufgrund der das Ministerium im Rah-men des Versorgungsstrukturgesetzes Änderungen vor-genommen hat. Auf dieser Grundlage haben wir dannberaten.Ich möchte noch auf eine Petition eingehen, die mitt-lerweile von 800 Menschen unterstützt wird. Diese Peti-tion wurde von einem einzelnen Ehepaar eingereicht undbefasst sich mit einem zuerst sehr tragisch anmutendenFall. Die Ehefrau hatte ein Kind tot zur Welt gebracht,das weniger als 500 Gramm wog. Die Eltern haben imKrankenhaus zur Kenntnis nehmen müssen, dass manihr Kind für Klinikabfall hält, weil es weniger als500 Gramm wiegt. Die Eltern haben des Weiteren imStandesamt zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie denNamen ihres Kindes nicht in das Personenstandsregistereintragen lassen können, weil es sich um eine Sache, umMüll und nicht um menschliches Leben handelt. Um diePetition, die diese Eltern eingereicht haben, habe ichmich von Anfang an intensiv gekümmert. Wir haben siedem Ausschussdienst gegeben. Die Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter haben tolle Arbeit geleistet und die Peti-tion an das Ministerium weitergeleitet. Die erste Stel-lungnahme des Innenministeriums lautete: Das Gesund-heitsministerium sagt, wir können das nicht ändern, weildie WHO weltweit eine Grenze von 500 Gramm vor-schreibt; diese können wir nicht unterschreiten. – DasFamilienministerium sagt: Wir können die Grenzennicht ändern. – Darauf erklärt das Innenministerium:Wenn die von der WHO vorgegebene Grenze gilt, kannder Name des Kindes nicht in das Personenstandsregistereingetragen werden. – Wir, Herr Schwartze und ich, ha-ben uns erneut an das Ministerium gewandt, die Petitionzurückgeschickt und gesagt: Nein, diese Antwort akzep-tieren wir nicht; das wollen wir uns nicht gefallen lassen. –So ging es vier-, fünf- oder sogar sechsmal hin und her.Dann hat die Bundesregierung gesehen, dass ein parla-mentarischer, von engagierten Abgeordneten erzeugterDruck entstanden ist. Die Familienministerin hat nun ei-nen Entwurf zur Änderung des Personenstandsrechtsvorgelegt, über den wir demnächst debattieren werden.Dieses Personenstandsrechts-Änderungsgesetz stellt ei-nen ersten großen Schritt dar. Ich glaube, dass wir in denBeratungen über diesen Gesetzentwurf an der einen oderanderen Stelle noch eine kleine Verbesserung im Sinneder Betroffenen erzielen werden. Im Petitionsausschussgab es jedenfalls ein fraktionsübergreifendes Votum fürdie Forderung an die Bundesregierung, diese Verbesse-rung in Erwägung zu ziehen. Die Bundesregierung hatreagiert. Wir im Parlament vollziehen es nach.Ich komme zu den neuen Medien, insbesondere zuFacebook, zurück. Es handelt sich hier nicht um 80 000,sondern um rund 800 Menschen. Aber wie glücklichsind diese Menschen, dass Politik – das war zu der Zeit,als wir über PID und den Beginn des werdenden Lebensdiskutiert haben – ihre Interessen und Begehren ernstnimmt.Ich komme zum Schluss. Ich denke, dass das eineSternstunde für den Petitionsausschuss des DeutschenBundestages war. Wir brauchen uns mit unserer Arbeitgar nicht zu verstecken.
Frau Kollegin.
Man muss die Regierung manchmal etwas pushen.
Das können wir gemeinsam tun. Da haben Sie in Ihrem
Bereich zu arbeiten, wir machen es in unserem.
Frau Kollegin.
Dann wird das schon gut.Danke schön.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23469
(C)
(B)
Michael Groß hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sozusagen No-
vize im Ausschuss. Ich will damit sagen: Ich bin nicht
einem Orden beigetreten, sondern seit eineinhalb Jahren
ein Neuling im Ausschuss. Für mich ist es wichtig, in
den Sitzungswochen, nachdem man im Wahlkreis alle
Probleme, die die Menschen in diesem Land bewegen,
einatmen konnte, auch hier zu erleben, was die Men-
schen in Deutschland bewegt und welche Probleme sie
haben. Ich kann nur sagen: Alle im Ausschuss interessie-
ren die Einzelfälle genauso wie öffentliche Petitionen,
die von vielen Hundert Menschen unterschrieben sind.
Es geht um die Lösung von Problemen. Ich glaube, das
liegt uns allen am Herzen. Dafür sollten wir weiter kon-
struktiv zusammenarbeiten.
Ich möchte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
seitens der SPD-Fraktion danken. Ich habe dazu den
Auftrag bekommen, aber ich hätte es auch von selber ge-
macht. Ich habe im Jahresbericht gelesen, dass Sie auch
Eingaben bearbeiten, die nicht den Anforderungen ent-
sprechen. Ich finde das sehr wichtig; denn wir haben ge-
hört, dass manche Menschen der Schriftform nicht
mächtig sind und manche Leute die Regeln nicht ken-
nen. Sie setzen sich trotzdem hin und bearbeiten diese
Eingaben. Sie kümmern sich darum, sind so etwas wie
Kümmerer bzw. ein Kummerkasten. Ich finde, das ist
eine wichtige Arbeit. Ich hoffe, dass das auch so bleibt
und Sie weiterhin Zeit dafür haben. Letztendlich ist es
wichtig, dass die Menschen eine Rückmeldung bekom-
men. Herzlichen Dank auch dafür.
Wichtig ist natürlich – das wurde vorhin angespro-
chen –, dass hier demokratische Grundrechte wahrge-
nommen werden. Die Menschen erleben, dass sie Ein-
fluss auf das, was im Parlament geschieht, haben,
Einfluss auf die Gesetze und darauf, was ihr Leben be-
einflusst, auch negativ beeinflusst. Ich denke, es ist auch
wichtig, dass die Leute erleben, ob sie Erfolg oder kei-
nen Erfolg haben. Ich habe gerade die Information be-
kommen, dass in der 17. Wahlperiode von 12 Berück-
sichtigungen, für die einstimmig im Ausschuss votiert
wurde, erst 6 umgesetzt worden sind. Von 27 Erwägun-
gen wurden 7 umgesetzt, 11 sind offen und 9 wurden ab-
gelehnt. Da stellt sich für mich schon die Frage, warum
es so viele Ablehnungen oder nicht bearbeitete Fälle
gibt, wenn ein einstimmiges Votum vom Ausschuss vor-
liegt. Ich bin der Überzeugung, dass die Kolleginnen und
Kollegen von der Regierung einen positiven Einfluss auf
ihre Ministerien nehmen können.
Petitionen sind die älteste Form der Bürgerbeteili-
gung. Ich bin ganz stolz, dass aus NRW die meisten Peti-
tionen kommen; denn das ist ein Zeichen dafür, dass die
Menschen verstanden haben, worum es geht.
Ich möchte auf eine Situation hinweisen, die mir Sor-
gen macht und die zeigt, woran wir arbeiten müssen. Ge-
rade im Bereich der Verkehrsinfrastruktur ist es wichtig,
dass wir die zunehmenden Beschwerden der Bürger
ernst nehmen und neben den strukturierten Verfahren
auch die Petition ernst nehmen. Bei Ortsterminen be-
schäftigen wir uns insbesondere mit Schienenlärm und
Straßenlärm. Vor Ort kann man sehr gut erleben, unter
welchen Umständen Menschen leben müssen und wa-
rum sie sich berechtigterweise gegen Lärm wenden und
dafür den Petitionsausschuss anrufen.
Es ist wichtig, öffentlich auf das Petitionsrecht hinzu-
weisen. Mich wundert schon, dass der Bundesminister
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in seinem neues-
ten Papier zum Thema Bürgerbeteiligung die Petition
noch nicht einmal genannt hat.
Es ist nicht erwähnt worden, dass die Petition ein offi-
zieller Weg ist, den Bürgerinnen und Bürger nutzen kön-
nen, um ihre Einwendungen und Bedenken zu äußern.
Ich kann nur sagen: Mir hat die Arbeit sehr viel ge-
bracht. Ich habe sehr viel gelernt. Ich habe sehr viel über
Dinge gelesen, die mir vorher in dieser Tiefe nicht be-
kannt waren. Ich glaube, dass in Deutschland viele
Schätze vorhanden sind, die zu Recht bei uns landen und
mit denen auf die Gesetzgebung Einfluss genommen
werden sollte. Ich wünsche uns weiterhin eine gute Zu-
sammenarbeit.
In diesem Sinne: Glück auf!
Der Kollege Paul Lehrieder hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Lieber Kollege Hagemann, auch ich be-dauere, dass wir nicht eher über unser sehr wichtigesThema debattieren können. Wenn man sich die heutigeTagesordnung anschaut, so fällt auf, dass wir zu promi-nenterer Zeit, etwa von 12.30 bis 13.45 Uhr, über die un-terschiedlichen Auffassungen innerhalb der Koalitionaus CDU/CSU und FDP diskutieren durften, und zwarauf Antrag der SPD. Das heißt, der Zusatzpunkt 5, Ak-
Metadaten/Kopzeile:
23470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Paul Lehrieder
(C)
(B)
tuelle Stunde, hat unsere Debatte nach hinten geschoben.Dass man das dazusagt, gehört zur Ehrlichkeit.
– Doch, wir sind uns schon einig. Aber die SPD wolltehalt darüber debattieren.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich kann Sie beru-higen: Im Petitionsausschuss geht es nicht ganz so kon-trovers zu, wie der Kollege Hagemann hier hat vermit-teln wollen.
Lieber Klaus Hagemann, du hast heute die Ritterrüs-tung angezogen. Spätestens nächsten Mittwoch ziehst dusie wieder aus. Dann reden wir wieder ganz normal überPetitionen, um den Leuten zu helfen.Es ist tatsächlich so: Wenn zu Beginn der Legislatur-periode Abgeordnete für den Petitionsausschuss gesuchtwerden, so üben sich viele der Kolleginnen und Kolle-gen – ich weiß nicht, wie es in der FDP oder der SPDausschaut – in Schweigen. Eingezogene Köpfe, Blickenach unten gerichtet. Während meiner nunmehr sieben-jährigen Arbeit im Petitionsausschuss habe ich schon ei-niges erlebt. Dass sich aber Kolleginnen und Kollegenum einen Platz im Petitionsausschuss gestritten haben,gehört nicht dazu.Die Arbeit im Petitionsausschuss ist möglicherweisenicht so prestigeträchtig. Sie mag auch weniger im Zen-trum der öffentlichen Wahrnehmung stehen als die in an-deren Ausschüssen; wir debattieren nur einmal im Jahrim Plenum über die Arbeit des Petitionsausschusses.Dennoch ist sie eine der wichtigsten. Mit der verfas-sungsrechtlichen Verankerung in Art. 17 unseres Grund-gesetzes – „Jedermann hat das Recht, sich einzeln oderin Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oderBeschwerden an die zuständigen Stellen und an dieVolksvertretung zu wenden“ – wird die besondere Be-deutung, die diesen Ausschuss begleitet, zum Ausdruckgebracht.Nachdem bereits von mehreren Vorrednern das Prin-zip der grundsätzlichen Öffentlichkeit von Petitionsbe-handlungen hier vorgetragen worden ist, möchte ichschon darauf hinweisen: Es gibt Massenpetitionen, esgibt Petitionen, die von allgemeinem öffentlichen Inte-resse sind – sie werden in aller Regel auch in den Fach-ausschüssen diskutiert und durch Anträge begleitet –,und es gibt – darauf hat die Kollegin Vogelsang völlig zuRecht hingewiesen – etwa die Rentnerin, die einen Ba-dewannenlift will, aber nicht möchte, dass ihr Anliegenin der Öffentlichkeit bekannt wird. Man muss also mitAugenmaß an die ganze Angelegenheit herangehen.Was wir verdient haben, ist, dass uns die Öffentlich-keit im Fokus behält, dass sie genau aufpasst, was wirmachen. Aber auch wir müssen aufpassen. Wir wollennämlich auch Anwälte der kleinen Leute sein. Das giltfür alle Mitglieder des Petitionsausschusses. Ich habedieses Bemühen, diese Anstrengung bei vielen Kollegengespürt. Es tut gut – die beiden Schriftführer hinter mirkönnen es bestätigen; sie sind ebenfalls im Petitionsaus-schuss –, wenn man wie in den letzten Sitzungen, etwader am vergangenen Mittwoch, parteiübergreifend Ein-stimmigkeit zustande bringt, liebe Frau KolleginSteinke. Da freut sich die Vorsitzende. Wir freuen uns;denn wir können sagen: Wir haben den Menschen ge-meinsam helfen können. – Jetzt hätte ich einen Applauserwartet.
Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuss isteiner der wenigen Ausschüsse, dessen Einrichtung dasGrundgesetz in Art. 45 c zwingend vorschreibt. Die Ar-beit im Petitionsausschuss bietet eine Plattform für ge-lebte Demokratie; die Vorredner haben zum großen Teilbereits darauf hingewiesen. Hier haben Bürgerinnen undBürger die Möglichkeit, aktiv am politischen Geschehenteilzunehmen und es maßgeblich mit zu beeinflussen,und zwar durch allgemeine Petitionen, aber auch durchpersönliche Einflussnahme. Von der so oft beschwore-nen Politikverdrossenheit ist hierbei zu meiner großenFreude nichts zu verspüren. Im Gegenteil: 2011 wurdeninsgesamt 15 191 Eingaben und Petitionen beim Peti-tionsausschuss eingereicht. Das bedeutet durchschnitt-lich stolze 60 Zuschriften pro Werktag. Dies erklärt wo-möglich auch die besagte Zurückhaltung mancherKolleginnen und Kollegen bei der Mitarbeit im Peti-tionsausschuss zu Beginn der Legislaturperiode.Die Arbeit im Petitionsausschuss eröffnet wie kaumeine andere die Möglichkeit, ein direktes, ungefiltertesFeedback über unsere Arbeit im Bundestag zu erhaltenund nah am und mit den Menschen zu arbeiten. KollegeGroß hat darauf hingewiesen. Ich sehe es genauso wieSie.Wo muss gesetzlich nachgebessert werden? Wo sinddie Bürger mit Entscheidungen der Obergerichte, aberauch mit gesetzlichen Entscheidungen und Verwaltungs-entscheidungen nicht einverstanden? Wo drückt denBürger der Schuh?In keinem Ausschuss ist es leichter als im Petitions-ausschuss, die Befindlichkeiten, die Sorgen, die Nöteunserer Bürger kennenzulernen. Das ist anstrengend,aber es ist in aller Regel auch sehr befriedigend, wennman merkt: Jawohl, man kann etwas erreichen. – Nichtsist für einen Abgeordneten schöner, als von einem Bür-ger bzw. von einer Bürgerin nach einer eingereichten Pe-tition, im Rahmen derer man helfen konnte, ein Dankes-schreiben zu erhalten, in dem steht: Prima, ihr habt dasgut gemacht.
Meine Damen und Herren, zu guter Letzt möchte ichallen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschuss-dienstes – ähnlich wie die Kollegen vor mir – noch ein-mal sehr herzlich danken. Sie haben ein immenses Pen-sum an Arbeit zu bewältigen, und wir diskutieren schon,ob wir mit einer Stunde für die Ausschusssitzung hin-kommen. Wir werden vielleicht irgendwann dahin kom-men, dass wir gegen Mitternacht anfangen, in unserem
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23471
Paul Lehrieder
(C)
(B)
Ausschuss zu tagen. Denn das Interesse der Bürger, unshier kritisch zu begleiten, wächst stetig.
Ob wir alle Petitionen hier im Plenum diskutierenkönnen
und ob, wenn ja, lieber Herr Kollege Strengmann-Kuhn,wir das zu prominenter Zeit tun können, wage ich zu be-zweifeln. Wenn wir irgendwann einmal nach Mitternachthier zusammensitzen, geht das Lamentieren wieder los,dass wir eine prominentere Zeit wollen. Also, es istschwierig. Wir haben kontrovers, lieber Herr KollegeThomae, darüber diskutiert, ob es Sinn macht. Wir guckenda noch einmal hin, aber ich habe keine große Hoffnung,dass wir es bis zum Ende der Legislaturperiode schaffen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Drucksa-
che 17/8319 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in
der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie einverstan-
den. Dann ist das so beschlossen.
Somit rufe ich jetzt auf den Tagesordnungspunkt 12:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts-
ordnung des Deutschen Bundestages zu dem von
den Abgeordneten Christine Lambrecht, Olaf
Scholz, Bärbel Bas, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Verlängerung der straf- und
zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei
sexuellem Missbrauch von Kindern und min-
derjährigen Schutzbefohlenen
– Drucksachen 17/3646, 17/10697 –
Berichterstattung:
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren, und als Erste hat das Wort die Kollegin Sonja
Steffen für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Menschen – vor allem junge Menschen und insbeson-dere Kinder – haben oftmals die Gabe, erlittene Gewaltin eine innere Schublade zu stecken. Dort ruht das Er-lebte oft jahrelang, bis die Bilder und das ganze Leidmanchmal aufgrund eines bestimmten Ereignisses wie-der an die Oberfläche und ins Bewusstsein gelangen,und bei Menschen, die als Kind sexuelle Gewalt erlittenhaben, ist dies oft der Zeitpunkt, an dem sie selbst eineFamilie gründen.Das erlittene Trauma ist nie ganz vergessen. Letztend-lich muss das Missbrauchsopfer selbst entscheiden, obes die Konfrontation mit dem Täter sucht. Denn wer sichder Konfrontation mit dem Täter stellen möchte, derbraucht eine sehr starke und engmaschige Unterstüt-zung.Meine Damen und Herren, im Jahr 2010 wurde nachdem Bekanntwerden einer unglaublich großen Miss-brauchswelle in Heimen und Internaten ein RunderTisch zum sexuellen Kindesmissbrauch eingerichtet.Hier haben Vertreter aus Gesellschaft, Kirche und Politikhervorragende Arbeit geleistet. Innerhalb kürzesterZeit – und dennoch mit besonderer Sensibilität – hat derRunde Tisch Empfehlungen erarbeitet, um den Opferneine bessere Hilfe und Unterstützung zukommen zu las-sen. Aber jetzt frage ich Sie: Wozu richtet man einenRunden Tisch ein, der nach getaner Arbeit in seinemSchlussbericht sinnvolle und fundierte Empfehlungenabgibt, wenn diese Empfehlungen nicht umgesetzt wer-den?
Meine Fraktion hat bereits im Jahr 2010 einen Ge-setzentwurf eingebracht, der sich mit dem Thema Ver-längerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungs-vorschriften beschäftigt. Der Opferschutz verlangt einesolche Verlängerung. Warum? Derzeit liegt die Frist derstrafrechtlichen Verjährung bei sexuellem Missbrauchvon Kindern bei 10 Jahren. Zwar beginnt die Frist erstmit Vollendung des 18. Lebensjahres der Opfers zu lau-fen, jedoch bedeutet diese Frist Folgendes: Spätestenswenn das Opfer Ende 20 ist, können die Täter strafrecht-lich nicht mehr belangt werden.Bei Missbrauch von jugendlichen Schutzbefohlenen– von Internatsschülern beispielsweise – verjährt die Tatsogar schon nach fünf Jahren, also spätestens dann,wenn das Opfer 23 Jahre alt ist.Es ist doch zutiefst ungerecht, wenn die Täter davonprofitieren sollen, dass ihre Opfer sie aus Scham und oftauch wegen massiver Drohungen seitens des Täters zu-nächst nicht anzeigen.In Ihrem Gesetzentwurf, meine Kolleginnen und Kol-legen von der Regierungskoalition, wollen Sie nur diezivilrechtlichen Verjährungsfristen auf 30 Jahre erhöhen.Aber das ist doch zu kurz gedacht.
Die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche scheitertoft genug an dem Mangel an finanziellen Mitteln beimTäter. Aber was noch viel schlimmer ist: Dem Opfer istes doch nahezu unmöglich, ganz auf sich allein gestelltund höchstens von seinem Anwalt begleitet, den langeZeit zurückliegenden Missbrauch zivilrechtlich zu be-weisen.
Metadaten/Kopzeile:
23472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Sonja Steffen
(C)
(B)
Hier kommt der Runde Tisch übrigens zu folgendemErgebnis – ich zitiere –:Aufgrund der Verlängerung der zivilrechtlichenVerjährung– die vom Runden Tisch vorgeschlagen wurde –können die Betroffenen in Zukunft den Ausgang ei-nes Strafverfahrens gegen den Täter abwarten, be-vor sie vor dem Zivilgericht klagen.Wem nützt denn dann die Verlängerung der zivilrechtli-chen Verjährungsfrist, wenn die strafrechtliche Verfol-gung aufgrund der kurzen Verjährungsfrist gar nichtmehr möglich ist?
Am 26. Oktober 2011, also vor fast einem Jahr, hateine Anhörung von Experten stattgefunden. Sie alle, zu-mindest all diejenigen, die bei der Anhörung dabei wa-ren, wissen: Die Sachverständigen haben sich mehrheit-lich, nämlich sechs von acht, für eine Modifizierung derstrafrechtlichen Verjährungsfristen ausgesprochen.Es ist nach der guten Arbeit des Runden Tisches über-haupt nicht zu verstehen, dass sich unser Gesetzentwurfseit 2010 im Gesetzgebungsverfahren befindet und bisheute keine Umsetzung erfolgt ist.Ihr Gesetzentwurf, meine Kolleginnen und Kollegenvon der Koalition, sollte ursprünglich bereits Anfang2012 in Kraft treten. Doch bis heute ist nichts passiert,und es bedurfte der Heranziehung einer Geschäftsord-nungsvorschrift, damit die heutige Debatte überhauptstattfinden kann, leider zu einer sehr unpopulären Zeit.Im Namen der Opfer fordere ich Sie hiermit auf, sichdes Themas endlich anzunehmen. Die zivilrechtlichenund die strafrechtlichen Verjährungsfristen für Kindes-misshandlungen müssen verlängert werden. Wir sind esden Opfern schuldig.
Ansgar Heveling hat für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach der Geschäftsordnung sind die Ausschüsse zur bal-digen Erledigung der ihnen überwiesenen Aufgaben ver-pflichtet, und es gehört damit zum selbstverständlichenRecht des Parlaments, dann, wenn Aufgaben nicht kurz-fristig erledigt werden können, über die Gründe zu de-battieren. So beraten wir heute darüber, warum der vonder SPD eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Ver-längerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungs-vorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern undminderjährigen Schutzbefohlenen noch nicht abschlie-ßend beraten worden ist.Zunächst einmal ist es richtig, dass Handlungsbedarfhinsichtlich der strafrechtlichen Vorschriften zum sexu-ellem Missbrauch von Kindern und minderjährigenSchutzbefohlenen besteht. Das Ausmaß des sexuellenMissbrauchs in den letzten Jahrzehnten in konfessionel-len und nichtkonfessionellen pädagogischen Einrichtun-gen hat uns sicherlich alle aufgeschreckt. Der zu denVorgängen eingerichtete Runde Tisch hat hervorragendeArbeit geleistet und viele Handlungsfelder, insbesondereim Hinblick auf Opferschutz- und Verfahrensregeln,identifiziert und aufgezeigt. Neben nichtlegislativenMaßnahmen braucht es natürlich auch gesetzgeberischeEntscheidungen zur Umsetzung von vielen Vorschlägendes Runden Tisches.Im SPD-Gesetzentwurf wird im Wesentlichen ein As-pekt aufgegriffen, die Frage der strafrechtlichen Verjäh-rung; dazu wird eine einzelne Regelung vorgeschlagen.Auch wenn anzuerkennen ist, dass Handlungsdruck inzeitlicher Hinsicht besteht, so ist dieses Vorgehen den-noch insgesamt nicht zielführend, weil die Angelegen-heit doch komplexer ist.Die Bundesjustizministerin hat deshalb richtigerweiseeinen anderen Weg gewählt und mit dem Entwurf einesGesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellenMissbrauchs ein erstes Paket verschiedener Maßnahmenvorgelegt, die sowohl zivilrechtliche wie strafrechtlicheAspekte betreffen und auch verfahrensrechtliche Rege-lungen vorsehen. Diesen Gesetzentwurf beraten wir mo-mentan intensiv in der Koalition.
Das ist der Grund, weshalb wir den SPD-Gesetzentwurfnoch nicht abschließend beraten haben.
Dabei erkennen wir, so glaube ich, in allen Fraktionenan, dass wir über den strafrechtlichen und strafgesetzli-chen Umgang mit sexuellem Missbrauch ebenso redenmüssen wie über die zivilrechtlichen, insbesondere dieschadensersatzrechtlichen Fragen. Bei aller Handlungs-notwendigkeit sollten wir aber auch eines bedenken: DasStrafgesetzbuch ist ein vielfältig ineinandergreifendesRegelwerk von aufeinander abgestimmten Normen, des-sen gesellschaftliche Akzeptanz nicht zuletzt wesentlichdarauf beruht, dass jedermann seine Systematik durch-schauen kann. Alle müssen auf das System vertrauenkönnen. Ständige Durchbrechungen systematischer Li-nien sind nicht hilfreich. Das sollten wir bei der Diskus-sion auch bedenken. Deswegen ist der Vorschlag derSPD, eine Sonderverjährungsvorschrift – 20 Jahre – vor-zusehen, sicherlich nicht der richtige Weg. Ich will nichtverhehlen, dass wir als CDU/CSU-Fraktion das ThemaVerjährungsfrist mit großer Sympathie sehen und daauch unsere Überlegungen ansetzen. Wir müssen abernoch beraten, wie wir hier weiterkommen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23473
(C)
(B)
Die Frage ist in diesem Zusammenhang, ob das dereinzige systematische Anknüpfungspunkt ist. Es gäbe si-cherlich auch noch die Möglichkeit, darüber nachzuden-ken, beim Strafrahmen anzusetzen, und die Frage zu klä-ren, ob wir für die einzelnen Straftatvorschriften eineErhöhung des Strafrahmens vorsehen. Das könnte dazuführen, dass einige Straftaten vom Vergehen zum Ver-brechen hochgestuft werden. Das führt aber ohne Frageauch zu weiteren systematischen Überlegungen; dassollten wir genau bedenken.Ein dritter Ansatzpunkt ist, zu überlegen, ob man beider Hemmung der Verjährung ansetzt.
Das ist bereits in den 90er-Jahren diskutiert worden. Sei-nerzeit hat es eine erste Regelung des Komplexes gege-ben. Damals ist festgelegt worden, dass die Verjährungbis zum 21. Lebensjahr – statt bis zum 18. Lebensjahr –gehemmt ist. Auch das ist ein Ansatzpunkt, nämlich da-rüber nachzudenken, ob man an dieser Stelle die Hem-mung der Verjährung nicht weiter hinausschiebt, weiluns die aktuellen Fälle aus den Institutionen gezeigt ha-ben – anders als in den 90er-Jahren, wo es um Fälle ausdem unmittelbaren familiären Nahbereich ging –, dassviele Opfer erst dann, wenn sie älter werden, in der Lagesind, ihre Erlebnisse zu reflektieren und tätig zu werden.Man muss sehr sorgsam abwägen und schauen, wie es indie Systematik des Strafgesetzbuches passt. In diesemProzess befinden wir uns noch. Wir sind aber zuversicht-lich, dass wir eine Regelung finden werden und dann dieBeratung des Gesetzentwurfs der SPD abschließen kön-nen – sicherlich auf dem Wege, dass deren Gesetzent-wurf nicht zum Tragen kommt.Vielen Dank.
Halina Wawzyniak hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir reden über den Bericht des Rechtsausschus-ses zum Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, mit wel-chem die straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvor-schriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern undminderjährigen Schutzbefohlenen verlängert werden sol-len. Dieser Gesetzentwurf war ebenso wie die Gesetzent-würfe von Bündnis 90/Die Grünen und der Bundesregie-rung Gegenstand einer Anhörung im Rechtsausschuss.Eine abschließende Beratung hat noch nicht stattgefun-den; deshalb jetzt der Bericht.Lassen Sie mich zunächst eine Bitte äußern. LassenSie uns bitte zukünftig nicht von sexuellem Missbrauchvon Kindern und Schutzbefohlenen reden, sondern vonsexualisierter Gewalt. Der Begriff „Missbrauch“ legtnämlich unbeabsichtigt nahe, es gäbe auch einen richti-gen sexuellen Gebrauch von Kindern und Schutzbefoh-lenen,
und – ich glaube, da sind wir uns alle einig – genau dengibt es nicht.
Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Schutz-befohlenen ist ein sehr sensibles Thema. Dabei stehen,glaube ich, für alle Fraktionen im Haus der Schutz derOpfer und die Wiedergutmachung im Zentrum der De-batte.„Schutz der Opfer“ meint für uns in allererster LiniePrävention. Es klingt abgedroschen und ist dennochwahr: Der beste Opferschutz ist Prävention. Deshalbmüssen die Mittel für Projekte wie „Kein Täter werden“,die zum Beispiel in der Charité angeboten werden, erhal-ten bleiben und aus unserer Sicht sogar aufgestockt wer-den.
Unser vorrangiges Ziel muss sein, potenzielle Täterzu erreichen, um sie von Straftaten abzuhalten. Zu Rechtwurde in der Anhörung durch den SachverständigenBöhm auf diesen Aspekt hingewiesen. Er forderte früh-zeitig einsetzende psychotherapeutische Behandlungen;die Rückfallraten könnten so erheblich gesenkt werden.Es geht aber auch darum, Kinder zu stärken. Sie müs-sen ihre Rechte kennen, in der Lage sein und ermutigtwerden, diese wahrzunehmen. Aus der Sicht der Opfervon sexualisierter Gewalt spricht viel dafür, die zivil-rechtlichen Verjährungsvorschriften zu verlängern. So-weit ich das sehe, sind sich darin alle Fraktionen einigund greifen damit eine Empfehlung des Runden Tischesauf; darauf wurde bereits hingewiesen. Dieses Signal derEinigkeit sollten die Opfer sexualisierter Gewalt von derheutigen Debatte mitnehmen; daran wäre mir sehr gele-gen. Alle Fraktionen sprechen sich für die Verlängerungder zivilrechtlichen Verjährungsfristen aus.Die existierende Frist von drei Jahren zur Geltendma-chung von Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprü-chen ist deutlich zu kurz. Es ist richtig, dass Opfer sexua-lisierter Gewalt im Kindesalter oft massiv traumatisiertsind und erst als Erwachsene und nach Jahrzehnten inder Lage sind, ihr Schweigen zu brechen.Dass Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüchedann nicht mehr geltend gemacht werden können, sehenwir als erhebliches Problem an. Hier hilft die Hemmungder Verjährung bis zum 21. Lebensjahr nicht wirklichweiter. Die Verjährungsfristen müssen – so sieht es dervorliegende Gesetzentwurf vor – tatsächlich verlängertwerden, um die zivilrechtlichen Ansprüche der Opfer se-xualisierter Gewalt zu erhalten. Wir unterstützen dasausdrücklich.
Metadaten/Kopzeile:
23474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Halina Wawzyniak
(C)
(B)
Wir sehen auch das Problem, dass die Verjährungs-fristen bei Vergewaltigung und sexueller Nötigung aufder einen Seite und die Verjährungsfristen bei sexuali-sierter Gewalt gegenüber Kindern auf der anderen Seiteauseinanderklaffen. Das ist der entscheidende Grund da-für, dass ein Teil unserer Fraktion zu einer Zustimmungzum SPD-Entwurf tendiert.Unsere gesamte Fraktion sagt sehr deutlich, dass se-xualisierte Gewalt gegenüber Kindern nicht zu rechtfer-tigen ist.Ein anderer Teil von uns tut sich schwer mit einerVerlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen.Sosehr eine Angleichung der Verjährungsfristen auf denersten Blick eine innere Logik hat – dieser Teil unsererFraktion beurteilt das Ansinnen skeptisch. Es erscheintdiesem Teil unserer Fraktion nicht sinnvoll, für den Fall,dass beispielsweise ein Täter innerhalb der von der SPDvorgeschlagenen 20-jährigen Verjährungsfrist eine The-rapie gemacht hat und seitdem keine erneute Straffällig-keit aufgetreten ist, noch strafrechtlich aktiv zu werden.Dem Opfer und dem Täter ist nach Ansicht dieses Teilsunserer Fraktion damit nicht geholfen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Christian Ahrendt hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir debattieren die Frage, warum ein Gesetzent-
wurf der SPD zur Verlängerung der Verjährungsfristen
im Strafrecht und auch im Zivilrecht noch nicht ab-
schließend im Rechtsausschuss beraten worden ist.
Wir haben im Juni zusammen mit den Grünen und bei
Enthaltung der Linken entschieden, diese Beratung noch
einmal zu vertagen. Das hat gute Gründe. Es gab eine
Sachverständigenanhörung – über die ist eben schon be-
richtet worden –, bei der das Bild bei weitem nicht so
klar war, wie es hier den Eindruck erweckt. Zahlreiche
Sachverständige haben gesagt, dass die Verlängerung
der Verjährungsfristen nicht unbedingt zielführend ist.
Dafür gibt es auch Gründe, die man sorgfältig erwägen
muss.
Je weiter eine Tat in der Vergangenheit liegt, desto
schwieriger ist es, diese Tat aufzuklären. Beweismittel
werden nicht gesichert. Die Zeugen, die über eine solche
Tat Auskunft geben können, verlieren an Erinnerungs-
vermögen. Insofern führt eine Verjährungsfrist, die es er-
möglicht, dass nicht sofort in der Sache ermittelt wird,
nicht dazu, dass der Täter wirklich herangezogen wird.
Der entscheidende Aspekt ist, dass es zu einer Anzeige
kommt; der Kollege Ansgar Heveling hat es eben schon
gesagt. Deswegen kommt es uns auf ein Rechtsregime
an, das in erster Linie darauf ausgerichtet ist, dass das
Opfer die Tat früh anzeigt. Denn je früher die Tat ange-
zeigt wird, desto früher können Beweise gesichert, Zeu-
gen vernommen und der Täter einer Verurteilung zuge-
führt werden; je früher die Ermittlungen auf das
Tatgeschehen folgen, desto besser ist es möglich, das
Tatgeschehen wirklich gerichtsfest zu beweisen.
Herr Kollege, Frau Steffen würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Sie sind jetzt leider schon in Ihrem Text fortgefahren,
aber Sie haben vorhin gesagt, die meisten Sachverständi-
gen hätten sich bei der Anhörung nicht für eine Verlän-
gerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen ausge-
sprochen. Ich habe in meiner Rede bewusst nur von
„Modifizierung“ gesprochen. Sie haben vorhin gesagt,
zahlreiche Sachverständige hätten sich nicht für eine
Verlängerung der Fristen ausgesprochen; das ist richtig.
Wir sind gerade im Gesetzgebungsverfahren; leider fan-
gen wir eigentlich erst mit dem Verfahren an. Es gibt
verschiedene Modelle; wir werden gleich das von den
Grünen hören. So besteht etwa die Möglichkeit, bei der
Hemmung anzusetzen; Ihr Kollege hat diese Möglich-
keit auch schon vorgestellt. Würden Sie mir unter die-
sem Aspekt recht geben, dass sich die Mehrheit der
Sachverständigen für eine Modifizierung der strafrecht-
lichen Verjährungsfristen ausgesprochen hat?
Frau Kollegin, Sie sagen jetzt, dass wir die Fristenmodifizieren könnten, und haben so mit Ihrer Frage mei-nen weiteren Ausführungen vorgegriffen. Wenn es umdie reine Verlängerung der Verjährungsfristen geht, dannist das Bild bei den Sachverständigen klar; so habe ich esgesehen. Wenn wir darüber nachdenken, möglicherweiseden Beginn der Verjährung bis zu einem bestimmten Al-ter zu hemmen – Sie haben in Ihrer Rede sehr ausführ-lich dargestellt, dass es oftmals ein Herauslösen aus demFamilienkreis braucht, um den Mut zur Anzeige zu fin-den –, wenn es also um die Frage der Hemmung bis zum18. oder 21. Lebensjahr geht, um die Frage, ob erst danndie Frist der strafrechtlichen Verjährung beginnen soll,und Sie das als „Modifizierung“ bezeichnen, dann binich von Ihnen gar nicht so weit weg. Das ist etwas, überdas wir tatsächlich nachdenken, weil es auch sinnvoll ist.Aber das ist etwas anderes als die pauschale Verlänge-rung der Verjährungsfristen und ist, wenn ich das so sa-gen darf – zumindest habe ich es so in Erinnerung –,nicht Gegenstand Ihres Gesetzentwurfs.Lassen Sie mich fortfahren. Der entscheidende As-pekt ist – darum ringen wir –, dass wir ein Rechtsregimeschaffen, bei dem es darum geht, dem Opfer frühzeitig
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23475
Christian Ahrendt
(C)
(B)
den Mut zu geben, die Tat anzuzeigen. Denn wir habendie Situation, dass das Opfer nicht nur von der Tat selberbetroffen ist. Es sieht sich nachher auch in der Situation,das, was geschehen ist, berichten zu müssen. Je öfter dasOpfer davon berichtet, desto gravierender, desto mehrwird es mit dem Erlebten konfrontiert. Deswegen sindwir mit dem StORMG auf dem Weg, die Opferrechte sozu verbessern, dass es einfacher wird, die Tat anzuzei-gen. Damit ist das Ziel dieses Gesetzes klar im Fokus.Wenn wir sexuellen Missbrauch von Kindern erfolg-reich bekämpfen wollen, dann müssen wir ihn dort be-kämpfen, wo er beginnt. Wir müssen dafür sorgen, dassdie Taten aus den Familien heraus oder von den Opfernfrüh angezeigt werden. Je früher sie angezeigt werden,desto besser können Beweismittel gesichert werden,desto klarer ist das Erinnerungsbild der Zeugen, destogrößer ist die Chance, dass es zu einer Verurteilungkommt. Man muss sich auch Folgendes vor Augen hal-ten: Wenn eine Tat erst spät angezeigt wird, also erstnach Ablauf einer größeren Zahl von Jahren, das Opfererst dann den Mut findet, aber die Tat vor Gericht nichtmehr bewiesen werden kann, ein Verfahren eingestelltwird oder es gar zum Freispruch kommt, dann hat dasOpfer nicht nur mit der Tat zu kämpfen, sondern auchnoch mit dem Problem umzugehen, dass das, was es er-lebt hat, nicht vor Gericht gesühnt wird.Deswegen ist es wesentlich sorgfältiger, daran zu ar-beiten, die Opferschutzrechte so auszugestalten, dass eszu einer frühzeitigen Anzeige kommt. Man muss in derTat darüber nachdenken – wir tun das in der Koalition –,einerseits im Zivilrecht und andererseits im Strafrecht zueiner gemeinsamen Hemmungsregelung zu kommen, diebesagt, wann die Verjährungsfrist beginnt. Meines Er-achtens kann man sich sehr gut am 21. Lebensjahr orien-tieren, aus zwei Gründen: Wir haben hier einen klarenAnknüpfungspunkt im Jugendstrafrecht. Ab 18 ist manstrafmündig; dann hat man noch die Zeit des Heran-wachsenden bis zum 21. Lebensjahr. Das ist ein deutli-ches Indiz dafür, dass man in einem gewissen Familien-verbund noch verfangen ist und deswegen möglicher-weise davor zurückschreckt, eine solche Tat anzuzeigen.Das ist der richtige Ansatz. Dann haben wir auch dieMöglichkeit, mit den Verjährungsfristen, die jetzt imStrafgesetzbuch stehen, vernünftig auszukommen. Aberzu sagen: „Wir verlängern jetzt einfach die Verjährungs-frist um fünf oder zehn Jahre und haben damit eine wirk-liche Verbesserung für die Opfer erreicht“, den Weg hal-ten wir für falsch. Ich glaube auch nicht, dass wir diesenWeg gehen werden.Wichtig ist, dass wir die Sache gut beraten, und wirwerden die Sache gut beraten. Ich gehe davon aus, dasswir in diesem Herbst zum Abschluss kommen, unddanke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Ingrid Hönlinger hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir alle konnten uns in den schlimmsten Alpträumennicht vorstellen, was sich seit den 70er-Jahren und teil-weise bis in die Gegenwart hinein hinter den Mauernvon kirchlichen, schulischen und anderen Einrichtungenereignet hat. Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchsvon Kindern und Jugendlichen, schutzbefohlenen Mäd-chen und Jungen spielte sich jahrelang im Geheimen ab.Bis heute sind nicht alle Fälle aufgeklärt, die Traumati-sierungen der Opfer sind noch lange nicht geheilt, unddiese Untaten sind nicht ausreichend gesühnt, weder mo-ralisch noch finanziell.Wir wissen heute, dass Opfer von sexuellem Miss-brauch oft jahrelang das Erlebte nicht in Worte fassenkönnen. Sie brauchen Zeit, um über das sprechen zukönnen, was ihnen widerfahren ist. Vor diesem Hinter-grund müssen wir unsere rechtlichen Abwägungen tref-fen.Das aktuelle Recht räumt den Opfern nicht ausrei-chend Zeit ein. Bei den Missbrauchsfällen aus den 70er-und 80er-Jahren sind die Verjährungsfristen längst abge-laufen, und zwar sowohl die zivil- als auch die straf-rechtlichen Fristen. Wir als Gesetzgeber müssen jetztden rechtlichen Rahmen dafür schaffen, dass die Men-schen, deren Forderungen noch nicht verjährt sind oderdie in Zukunft Opfer sexueller Gewalt werden, ihre An-sprüche in angemessener Zeit durchsetzen können.Heute sprechen wir über den Gesetzentwurf der SPD.Auch wir Grünen haben einen Gesetzentwurf zur Ver-besserung der rechtlichen Stellung von Opfern sexuellenMissbrauchs vorgelegt. Einig sind wir uns mit der SPDdarin, dass die Verjährungsfrist im Zivilrecht für An-sprüche von Opfern sexueller Gewalt viel zu kurz ist.Wir Grünen wollen, genauso wie die SPD, eine Auswei-tung auf 30 Jahre einführen.Im Gegensatz zur SPD wollen wir die Hemmungsre-gelungen nicht nur beibehalten, sondern ausweiten. So-wohl im Zivil- als auch im Strafrecht soll der Beginn derVerjährung bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres ei-nes misshandelten Menschen gehemmt sein.Die Hemmungstatbestände treffen den Kern der Dis-kussion – das Schweigen junger Menschen nach sexuel-lem Missbrauch. Selbst junge Erwachsene sind häufigemotional nicht in der Lage, ihre Ansprüche wegen sol-cher Taten geltend zu machen; gerade hier sollten wiransetzen.Nun wende ich mich an die Regierung, die ebenfallseinen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Sie, meine Damenund Herren, wollen im Zivilrecht ebenfalls die Verjäh-rungsfrist auf 30 Jahre anheben, aber im Gegenzug wol-len Sie die Hemmung komplett streichen. Damit beginntdie Verjährungsfrist bereits mit dem Entstehen des An-spruchs, also sofort nach der Tat und nicht erst mit Voll-endung des 21. Lebensjahres des Opfers, wie das nachaktuellem Recht der Fall ist. Das ist ein völlig falschesSignal an die Betroffenen.
Metadaten/Kopzeile:
23476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Ingrid Hönlinger
(C)
(B)
Der Regierungsentwurf weist auch noch ein weiteresProblem auf: Die Verjährungsfrist von 30 Jahren sollnicht nur für Verletzungen der sexuellen Selbstbestim-mung gelten, sondern auch für sonstige vorsätzliche Ver-letzungen des Körpers und der Gesundheit. Damit unter-fiele jede Beibringung einer Wunde der Verjährungsfristvon 30 Jahren.
Sicher stimmen Sie mit mir überein, dass wir hier diffe-renzieren müssen. Dass Sie innerhalb der Koalition nochüber den Gesetzentwurf der Regierung streiten und sichnicht einigen können, zeigt den Zustand Ihrer Koalitionund schadet den Betroffenen. Meine Damen und Herrenvon der Regierung, beschränken Sie Ihren Gesetzent-wurf auf die Verletzung der sexuellen Selbstbestim-mung, verlängern Sie die Verjährungsfrist im Zivilrecht,und schieben Sie den Verjährungsbeginn im Zivil- undStrafrecht hinaus! Je länger Sie mit dem Inkraftsetzendes Gesetzes warten, desto mehr Ansprüche von Opfernverjähren. Dies sollte für die Rechtspolitik Grund genugsein, schnell und gründlich zu handeln.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Thomas Silberhorn hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich finde, dass der Ton in dieser Debatte der Ernsthaftig-keit der Problematik sehr angemessen ist. Bei allen Un-terschieden, die es in Detailfragen gibt, sind wir uns alledarüber einig, dass der sexuelle Missbrauch von Kindernund minderjährigen Schutzbefohlenen seelische Schädenhinterlässt, die irreparabel sind und die die Betroffenenein Leben lang belasten. Die körperlichen Schäden, diedamit oft verbunden sind, mögen verheilen, aber die see-lischen Wunden kann auch die beste psychologische Be-treuung nicht wirklich heilen, auch wenn Therapien hel-fen, solche schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten.Opfer sexuellen Missbrauchs tragen schwer an dem, wasman ihnen angetan hat, auch noch nach Jahren, nachJahrzehnten, oft das ganze Leben lang.Wir haben nun einen Gesetzentwurf in Vorbereitung,mit dem die Schwächsten unserer Gesellschaft, Kinderund Jugendliche, besser geschützt werden sollen. Damitverfolgen wir einen breiten Ansatz. Ziel ist es, nicht nurpunktuell Verbesserungen für die Betroffenen zu errei-chen, sondern umfassendere Lösungen zu finden. Wirhaben dabei auch auf die Empfehlungen des Runden Ti-sches zurückgegriffen, der wichtige Ergebnisse erarbei-tet hat.Wir wollen beispielsweise die Opfer sexuellen Miss-brauchs im Gerichtsverfahren besser schützen und scho-nen. Das Leid, das sie erfahren haben, soll im Gerichts-saal nicht noch einmal durchlitten werden müssen. Dazudient beispielsweise, dass es leichter möglich sein soll,einen Opferanwalt zu bestellen. Wir erweitern die Infor-mationsrechte von Opfern. Wir vermeiden mehrfacheVernehmungen. Wir ergänzen die Vorschriften zum Aus-schluss der Öffentlichkeit bei Hauptverhandlungen.Schließlich sind wir uns darin einig, dass die zivil-rechtliche Verjährungsfrist für Schadensersatzansprüchewegen sexuellen Missbrauchs auf 30 Jahre verlängertwerden soll. Das ist dringend notwendig. Spätestens diein den vergangenen Monaten aufgedeckten gravierendenMissbrauchsfälle haben deutlich gemacht, dass die Re-gelverjährung von drei Jahren in diesem Bereich viel zukurz bemessen ist. Ich finde, es ist eine wichtige und be-deutende Botschaft der heutigen Debatte, dass wir einenfraktionsübergreifenden Konsens in der Frage der Ver-längerung der zivilrechtlichen Verjährungsfrist festhal-ten können.Bei dieser Verjährungsfrist setzt auch der Gesetzent-wurf der SPD an. Allerdings beschränkt sich die SPDausdrücklich auf die Fragen der Verjährung. Das, findeich, greift entschieden zu kurz. Man wird den Opfern se-xuellen Missbrauchs am ehesten helfen können, wennman die Reform ein bisschen breiter aufstellt, so wie dasbei uns mit einem ganzen Maßnahmenbündel angedachtist.
Es gibt immer wieder Fälle, in denen Opfer aufgrundihrer starken Traumatisierung im Kindesalter erst sehrspät in der Lage sind, über eine solche Tat zu sprechen.Sie sind erst nach vielen, vielen Jahren bereit und fähig,eine Strafanzeige zu erstatten. Ich persönlich bin derAuffassung, dass wir deshalb die Möglichkeiten, sexuel-len Missbrauch auch strafrechtlich zu ahnden, erweiternmüssen. Wir sollten darauf achten, dass die Hemmungder Verjährung und die Verjährungsfrist im Strafrechtund im Zivilrecht nicht zu weit auseinanderfallen. DieHemmung der Verjährung zu erweitern und die Verjäh-rungsfrist zu verlängern, das wäre nach meinem Dafür-halten eine unmissverständliche Regelung. Das würdeRechtsklarheit, auch Rechtssicherheit schaffen. Daswürde auch den Besonderheiten dieser Taten Rechnungtragen. Bei der strafrechtlichen Verfolgung wird die Be-weisführung mit dem Zeitablauf sicherlich immerschwieriger. Aber es ist ja nicht erst die strafrechtlicheVerurteilung, die eine abschreckende Wirkung auf Täterhat, auch schon die Anklage und die Ermittlungen signa-lisieren möglichen Tätern: Wer das tut, muss sehr langedamit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden.
Natürlich könnte man eine Verlängerung der straf-rechtlichen Verjährungsfristen auch automatisch errei-chen, indem man den sexuellen Missbrauch zum Verbre-chen aufstuft. Ich bin durchaus der Meinung, dass eineStrafschärfung im Grundsatz angemessen wäre, wennman die lebenslange und schwere Beeinträchtigung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23477
Thomas Silberhorn
(C)
(B)
durch sexuellen Missbrauch im Kindesalter in Rechnungstellt. Ich nehme allerdings auch die kritischen Stimmenzur Kenntnis, die sagen, dass durch eine Mindestfrei-heitsstrafe von einem Jahr – die die Aufstufung zum Ver-brechen bedeuten würde – in Grenzfällen unangemes-sene Härten entstehen könnten. Darüber wird man weiterdiskutieren müssen. Ich finde, wir sollten diese Fragenweiter erörtern.Lassen Sie mich abschließend auf einen Punkt einge-hen: den Schutz von Schülern gegen sexuelle Übergriffedurch Lehrer. Wir haben gesehen, dass nach der Recht-sprechung Schüler eines Vertretungslehrers diesem Leh-rer unter Umständen nicht zur Erziehung anvertraut sind,sodass in diesem Lehrer-Schüler-Verhältnis ein strafba-rer sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen nichtvorliegt. Ich finde, es sollte für uns selbstverständlichsein, dass wir jegliche sexuellen Übergriffe von Lehr-kräften auf Schüler unterbinden und scharf sanktionie-ren. Wir können das nicht zulassen.
Ich sage das ausdrücklich auch als Vater. Wenn wirals Eltern unsere Kinder in die Obhut einer Schule ge-ben, dann müssen wir uns darauf verlassen können, dasssie dort in jeder Hinsicht vor sexuellen Übergriffendurch Lehrkräfte geschützt sind. Schüler können sichden Lehrkräften in ihrer Schule nicht entziehen. AlleLehrkräfte haben eine gewisse Machtposition den Schü-lern gegenüber. Deshalb darf es bei der Strafbarkeit vonsexuellem Missbrauch keinen Unterschied machen, obes sich um Klassenlehrer, Aushilfslehrer oder Vertre-tungslehrer handelt.Ich bin sehr froh, dass die Bundesländer eine Arbeits-gruppe eingesetzt haben, um an ihren Schulen zunächsteinmal zu erkunden, wie die Lage ist. Wir werden das indieses Gesetzgebungsverfahren nicht mehr einbeziehenkönnen, aber ich bin auf die Ergebnisse dieser Arbeits-gruppe gespannt.Ich denke, wir können festhalten: Die Stärkung derRechte von Opfern sexuellen Missbrauchs ist auf einemguten Weg.
Herr Kollege.
Wir sind zuversichtlich, dass wir unser Verfahren
zeitnah abschließen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Marlene Rupprecht.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Wir haben heute diese Debatte, weil ein Gesetzent-wurf der SPD nicht innerhalb des Zeitraums, der nachder Geschäftsordnung vorgesehen ist, beraten wurde. Esgibt zu diesem Thema auch einen Gesetzentwurf der Re-gierung, der im Juni letzten Jahres eingebracht wurde,nämlich den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung derRechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Auch dieserGesetzentwurf hängt irgendwo.Ich bin jetzt lange genug im Parlament, um Ihnen zusagen: Es kann immer vorkommen, dass man etwas nichtdebattiert. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dassman dann mit den anderen Fraktionen redet und ihnensagt, dass man noch etwas in Vorbereitung hat und etwasspäter darüber miteinander debattieren möchte. DiesenWeg müsste die Regierung eigentlich gehen, um zu zei-gen: Wir sind dran. So sollte man miteinander umgehen.Das scheint nicht erfolgt zu sein. Das bedaure ich sehr,weil wir vor allem den Menschen, die es betrifft, nämlichden Opfern sexuellen Missbrauchs – das sage ich be-wusst so; hier geht es um das Strafrecht und nicht umTherapie, sozialpädagogische Betreuung oder Sozial-politik –, dringend das Signal geben wollen, dass jetzt diegesetzlichen Maßnahmen kommen. Das, was am RundenTisch bearbeitet wurde, wurde bereits schrittweise imersten Aktionsplan 2003 umgesetzt. Weiteres wird jetztim zweiten Aktionsplan, der auf dem Weg ist, umgesetzt.
Natürlich reicht das Strafrecht nicht; das ist ganz klar.Das wäre eine völlige Fehleinschätzung. Zum Umgangmit Missbrauch und mit massiver Gewalt gegen Kinderhat der Europarat ein Übereinkommen zum Schutz vonKindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Miss-brauch erarbeitet. Die EU hat eine Richtlinie verabschie-det, die mit in die Gesetzgebung einfließen muss. Außer-dem gibt es Fakultativprotokolle der UN, die aucheinfließen müssen. Ich denke, wenn wir gut arbeiten, be-achten wir das alles und sehen nicht nur durch die natio-nale Brille.Beim Übereinkommen des Europarates geht es umdie vier „P“. Ich denke, wir behandeln sie schon in unse-rem Aktionsplan. Aber für diejenigen, die nicht so nahan diesem Thema dran sind, sage ich, was die vier „P“der Konvention bedeuten.Das erste „P“ steht für Prävention. Das heißt, Be-kämpfung sexueller Ausbeutung mit allen Mitteln derAufklärung und des Schutzes. Man tut also alles, wasmachbar ist, damit es gar nicht erst zu einem Übergriff,einem Missbrauch oder einer schweren Gewalttatkommt.Das zweite „P“ steht für Protektion, also für denSchutz der Rechte von kindlichen Opfern. Das betrifftdas Gesetz, das gerade in der Pipeline ist und endlichvorgelegt werden müsste; denn es ist dringend notwen-dig.Das dritte „P“ steht für Prosekution, also für Strafver-folgung. In diesen Bereich gehört das Thema, das wirheute debattieren. Deshalb hätte es überhaupt nicht ge-
Metadaten/Kopzeile:
23478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Marlene Rupprecht
(C)
(B)
schadet, zu sagen: Wir gehen jetzt an die Verjährungs-fristen heran und ändern sie. – Daran kann man Schrittfür Schritt arbeiten. Man kann jemandem auch mit Blickauf die Schwere der Tat – da stimme ich Ihnen zu – wirk-lich einen Schuss vor den Bug verpassen und deutlichmachen: Wir, die Gesellschaft, zeigen null Toleranz ge-genüber solchen Straftätern.Das vierte „P“ steht für Promotion. Das heißt, dasswir Strategien entwickeln und in diesem Bereich natio-nal und international kooperieren, damit wir tatsächlichetwas erreichen.Diese vier „P“ müssen wir in das, was wir gerade ma-chen, mit einbauen. Da sind natürlich auch wir, die Mit-glieder des Familienausschusses, gefragt, vor allemdann, wenn es um Prävention und Promotion geht. Wasdie Strafverfolgung und den Schutz betrifft, wenn es alsoum das Recht geht, sind allerdings vor allem die Mitglie-der des Rechtsausschusses am Zuge. Das Ganze muss soausgestaltet werden, dass man überprüfen kann, ob dieMaßnahmen wirken. Wenn man also beispielsweise dieVerjährungsfristen verlängert oder Hemmnisse einbaut,muss überprüft werden: Wirkt das, und wie wirkt das?Das ist sehr wichtig.Die europäische Kinderrechtekonferenz findet ja inDeutschland statt. Die heutige Debatte sollte dazu füh-ren, dass wir im März nächsten Jahres auch das Lan-zarote-Übereinkommen zum Schutz von Kindern vorsexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch ratifi-zieren – wir haben es im Jahre 2007 unterzeichnet, abernoch nicht ratifiziert – und damit zeigen: Jawohl, wirschließen uns an. Wir schließen uns auch der Kampagnedes Europarates an.
Frau Kollegin?
Eines von fünf Kindern ist betroffen. Ich denke, das
sollte uns so sehr aufschreien lassen, –
Frau Kollegin.
– dass wir jetzt über alle Grenzen hinweg gemeinsam
an diesem Gesetz arbeiten.
Danke.
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 und den Zusatz-
punkt 7 auf:
18 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ausführung der Verordnung Nr. 236/
2012 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 14. März 2012 über Leerverkäufe
und bestimmte Aspekte von Credit Default
Swaps
– Drucksache 17/9665 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksache 17/10854 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Manfred Zöllmer
Björn Sänger
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter
Aumer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Bankenunion – Subsidiaritätsgrundsatz be-
achten
– Drucksache 17/10781 –
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren.
Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus von der
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir re-den zu dieser späten Stunde über Finanzmarktthemen.Ich möchte diese Debatte zum Anlass nehmen, über dreiPunkte zu sprechen: erstens über die Umsetzung der EU-Leerverkaufsverordnung, zweitens über den Antrag zurBankenunion und drittens – ich glaube, das bietet sich indieser Woche an – über das revolutionäre Papier, das unsden Durchbruch auf den Finanzmärkten bringen wird,des ehemaligen nordrhein-westfälischen Finanzministersund Ministerpräsidenten sowie ehemaligen Bundes-finanzministers Peer Steinbrück.Fangen wir doch einfach einmal mit der EU-Leerver-kaufsverordnung an. Das ist heute für uns ein freudigerTag, weil auf europäischer Ebene etwas umgesetzt wor-den ist, was wir vor zwei Jahren auf den Weg gebrachthaben. Wir sind damals belächelt worden. Man sagte: Ihrkönnt nicht vorangehen und das alleine machen. – Wirhaben es gemacht und sind vorangegangen. Am Endedes Tages hat das dazu geführt, dass die EuropäischeKommission und der Europäische Rat im Wesentlichendas abgeschrieben haben, was wir gemacht haben. Dasist ein großer Erfolg für uns.Das ist für uns heute auch deswegen ein großer Erfolg,weil das nunmehr das 17. Finanzmarktgesetz ist, das wirin den letzten drei Jahren hier verabschiedet haben. Da-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23479
Ralph Brinkhaus
(C)
(B)
runter waren wichtige Dinge wie Bankenrestrukturie-rung, Anlegerschutz, Vergütungen, Ratingagenturen,Verbriefungen und ganz viele andere Dinge. Ich erwähnedas an dieser Stelle ganz besonders gerne, weil man denEindruck hat, dass Finanzmarktregulierung in Deutsch-land erst vor drei Tagen und nicht vor drei Jahren erfun-den worden ist.
Nach mir wird der Herr Kollege Zöllmer von der SPDreden und zu dem EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetzsagen: Na ja, eigentlich ist das alles ja ganz richtig, abereine Sache stört mich. – Dabei geht es darum: Wenn beiSchieflagen der Handel von irgendwelchen Papierenausgesetzt werden muss, soll das nicht, wie bei uns vor-gesehen, durch die örtlichen Börsen, sondern zentraldurch die BaFin geschehen. Wir haben das geprüft undsind der Meinung, dass die örtlichen Behörden das bes-ser machen können, weil sie näher dran sind. Wir sindauch der Meinung, dass das bewährte Verfahren, bei demsie sich abgestimmt haben, fortgesetzt werden kann, so-dass wir bundesweit eine gute Regelung erreichen ha-ben.Herr Zöllmer, Sie werden das gleich aber erläutern.Man kann auch anders darüber denken. Eines muss ichIhnen aber sagen: Wenn Sie das gleich als Begründungdafür nehmen, sich bei der Abstimmung über dieses Ge-setz zu enthalten, dann ist das ein bisschen hochgehängt.Überdenken Sie das also noch einmal. Ich glaube, das istein gutes Gesetz. Das wird die Finanzmärkte besser undsicherer machen. Deswegen bitte ich hier um Ihre Zu-stimmung.
Zweiter Punkt; die Bankenunion. Am 28. und 29. Juni2012 fand ein Gipfel statt, auf dem vereinbart wordenist, dass wir europäische Aufsichtsstrukturen und auchHaftungsstrukturen zusammenführen. Als erster Schrittsollte unter dem Dach der EZB, der Europäischen Zen-tralbank, eine gemeinsame Aufsicht eingerichtet werden.Das ist gut; das begrüßen wir. Die Kommission ist zumArbeiten geschickt worden. In den letzten Tagen ist siewiedergekommen und hat ein Papier vorgelegt. Wir sindnicht mit allem, was in diesem Papier steht, einverstan-den, aber wir werden jetzt frohen Mutes in den Verhand-lungsprozess hineingehen.Damit die Bundesregierung in diesem Verhandlungs-prozess ein robustes Mandat hat und auch weiß, was derDeutsche Bundestag über dieses Papier von HerrBarroso und Herrn Barnier denkt, werden wir der Bun-desregierung einige Dinge mit auf den Weg geben.
Herr Kollege, möchten Sie Ihre üppige Redezeit noch
dadurch verlängern, dass Sie dem Kollegen Schick die
Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben?
Ich weiß jetzt nicht, was er dazwischenfragen möchte,
weil ich ja erst noch etwas sagen möchte, aber er kann
das gerne machen.
Das weiß ich leider auch nicht.
Bitte schön, Herr Kollege.
Bitte.
Liebe Frau Kollegin, es geht gar nicht so sehr darum,
dass ich viel Zeit habe, aber ich möchte zu Ihrem Antrag
gerne ein paar Fragen stellen, weil wir das im Ausschuss
nicht tun können, da er heute sofort zur Abstimmung
steht.
Ein paar Fragen?
Ja, in der Tat. Hier ist der einzige Ort, an dem ich die
Fragen stellen kann. Deswegen muss ich sie hier stellen.
Mich würde erstens interessieren, was bezogen auf
die Aufsichtsaufgaben der EZB mit einer „ausreichen-
den demokratischen Kontrolle“ gemeint ist. Soll man die
Stellenbesetzungen vom Europäischen Parlament aus
kontrollieren? Soll es da Auskunftspflichten der EZB ge-
genüber dem Parlament geben? Ich finde, es ist eine
wichtige Frage, wie die Kontrollmechanismen ausgestal-
tet sind.
Mich würde zweitens interessieren, wie das mit dem
„Netz nationaler Restrukturierungsfonds“ gedacht ist.
Soll es hier nach Ansicht der Koalitionsfraktionen eine
Überlaufregelung geben oder nicht?
Drittens würde mich interessieren, was mit „große
systemrelevante und grenzüberschreitend tätige Banken“
gemeint ist. Sind das nur die 25 systemrelevanten Ban-
ken, die in dieser Liste stehen, von der wir immer reden,
oder sind darunter auch noch größere Institute im deut-
schen Raum, wie zum Beispiel die Landesbank Baden-
Württemberg oder andere Institute dieser Art?
Ich möchte einfach wissen, was Sie uns hier vorlegen.
An diesen Stellen ist der Antrag in der jetzigen Debatte
für mich nämlich nicht einleuchtend.
Würden Sie diesem Antrag denn zustimmen, wennich Ihre Fragen zufriedenstellend beantworte?
Metadaten/Kopzeile:
23480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(C)
(B)
Das werde ich nachher in meiner Redezeit gerne sa-gen.
Es ist nicht vorgesehen, dass eine Zwischenfrage der
Beginn eines wunderbaren Dialogs hier im Deutschen
Bundestag ist.
Herr Brinkhaus, Sie hätten jetzt die Gelegenheit, die
Fragen zu beantworten.
Ich möchte diese Fragen beantworten. Ich denke, dieerste Frage beantwortet sich im normalen Verlauf meinerRede. – Es geht zunächst um die Verknüpfung der natio-nalen Restrukturierungsfonds. Ich glaube, die ersteHerausforderung ist es, jetzt einen Restrukturierungs-fonds aufzubauen, der so groß ist, dass er auch inter-national tätige Banken umfasst. Dann stellt sich die ganzeinfache Frage: Wie gehen wir beispielsweise mit derDeutschen Bank um? Zahlt sie dann in einen nationalenRestrukturierungsfonds ein? Zahlt sie in einen europäi-schen Restrukturierungsfonds ein? Wie erreichen wir dadie Abgrenzung? Das muss also noch geklärt werden.Wie gesagt, die anderen Fragen klären sich im Laufemeiner restlichen Rede. Einfach wieder hinsetzen, HerrSchick, abwarten und danach zustimmen, wenn es gutwar.
Fangen wir einmal damit an, was wir der Bundesre-gierung mit auf den Weg geben wollen. Der erste Punktist: Wir wollen mit dem Konstrukt Europäische Zentral-bank, die unabhängig ist und die Geldpolitik macht, diezweite Säule schaffen. Diese zweite Säule ist die Auf-sicht. Dann kann aber die Zentralbank nicht unabhängigsein, sondern die Aufsicht erfolgt im Auftrag der Politik,des Souveräns. Dementsprechend brauchen wir Mecha-nismen. Es kann nicht sein, dass ein Aufsichtshandelnerfolgt und die Europäische Zentralbank sagt: LiebesEuropäisches Parlament, du hast hier nichts zu sagen,weil wir unabhängig sind. – Das heißt, die Regelungenzur Aufsicht müssen vernünftig formuliert werden. Wirmüssen eine personelle und organisatorische Trennungerreichen. Das ist uns wichtig.Ein zweiter wichtiger Punkt: Die Kommission hatsehr schnell einen Vorschlag vorgelegt. Für uns gehtQualität vor Schnelligkeit. Wir haben schlechte Erfah-rungen damit gemacht, wenn Sachen übers Knie gebro-chen werden. Wir möchten aber, dass hier etwas Gutesentsteht, weil wir uns keine Fehler und keinen zweitenWurf leisten können.Der dritte für uns wichtige Punkt ist, dass sich dasGanze nicht nur auf den Euro-Raum erstreckt, sonderndass es eine Öffnungsklausel für die Länder gibt, dienicht zum Euro-Raum gehören. Das heißt, es muss eineBeitrittsmöglichkeit bestehen.Der vierte Punkt ist allerdings sehr entscheidend. Aufdem EU-Gipfel am 28. und 29. Juni dieses Jahres hatman unterschiedliche Vorstellungen von dem gemein-samen Verbund gehabt. Wir als Deutsche hatten dieVorstellung: Dieses Projekt wird in die Zukunft hinein-reichen und wird für die Zukunft stabile Verhältnisseschaffen. Ich glaube, der eine oder andere südeuropäi-sche Regierungschef hatte so ein bisschen die Vorstel-lung: Für meine Problembanken soll auf europäischeEbene eine Lösung gefunden werden, und ich muss michdann nicht mehr selber darum kümmern. – Hier bestehtnoch eine Menge Klarstellungsbedarf.Die Restrukturierungsfonds hatte ich bereits ange-sprochen.
Wir haben vor zwei Jahren ein Restrukturierungsgesetzauf den Weg gebracht. Das Restrukturierungsgesetz warsehr erfolgreich. In den entsprechenden Fonds fließen inNormaljahren mehr als 1 Milliarde Euro hinein.
Die Tatsache, Herr Zöllmer – darauf werden Sie gleichnoch eingehen –, dass in den Fonds weniger Geld geflos-sen ist, liegt einfach daran, dass wir komischerweiseeinige Staatsanleihen abschreiben mussten. WelchWunder, dass dabei Banken nicht die Gewinne machen,die wir uns vorgestellt haben.
Wir wussten gleich, dass uns dieses Restrukturie-rungsgesetz an Grenzen bringt. Das heißt, die Rettungder Deutschen Bank wäre auf der Grundlage desRestrukturierungsgesetzes nicht machbar gewesen. DasGleiche gilt wahrscheinlich für eine mittelgroße Landes-bank. Deswegen hat diese Bundesregierung, haben dieKoalitionsfraktionen immer auf eine europäischeLösung gedrängt. Diese muss kommen.Ein Punkt bereitet insbesondere den Sparkassen undVolksbanken viele Sorgen. Das ist: Müssen sie jetzt ihreEinlagensicherungssysteme in einem großen Einlagen-sicherungssystem auf europäischer Ebene zusammenfas-sen? Wir denken, das wäre momentan keine vertrauens-bildende Maßnahme. Dementsprechend wollen wir diebewährten nationalen Systeme weiter existieren lassenund das dann mit einem Kommissionsvorschlag, derbereits vorliegt, entsprechend abstimmen.
Am allerwichtigsten ist, dass die Aufsicht das Subsi-diaritätsprinzip und das Proportionalitätsprinzip beach-tet. Was bedeutet das Subsidiaritätsprinzip? Herr Schick,bitte drehen Sie sich wieder zu mir um, ich komme jetztzu Ihrer letzten noch offenen Frage: Was sind systemi-sche Banken, die europäisch überwacht werden sollen?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23481
Ralph Brinkhaus
(C)
(B)
Das verändert sich von Jahr zu Jahr. Systemische Ban-ken sind Banken, die ein derartiges Risiko verursachen,dass das europäische Finanzsystem beschädigt werdenkann. Es muss von Jahr zu Jahr neu entschieden werden,wer dazugehört. Vielleicht sind das einmal 25 Banken,vielleicht sind das auch einmal 50 Banken.
Das ist im Prinzip das Entscheidende.Wir wollen, dass Banken, die europäisch systemischsind, aber auch Banken, die dem europäischen Steuer-zahler zur Last fallen, von der EZB zentral überwachtwerden. Wir wollen aber auf der anderen Seite – auchdas heißt Subsidiarität –, dass Dinge, die hier inDeutschland erledigt werden können, weiterhin von dernationalen Aufsicht erledigt werden. Das wollen wir derBundesregierung mit auf den Weg geben.Proportionalität heißt in diesem Bereich, dass unter-schiedliche Dinge auch unterschiedlich behandeltwerden. Das heißt, die Volksbank Kaunitz bei mir imWahlkreis muss nicht mit den gleichen Werkzeugen wiedie Deutsche Bank in Frankfurt, die Santander in Madridoder andere Banken überwacht werden. Auch das mussim europäischen Verhandlungsprozess berücksichtigtwerden. Wir sind optimistisch, dass wir mit dieser Leit-linie, die wir der Bundesregierung mitgeben, erfolgreichsein werden und ein gutes System bekommen werden.Jetzt komme ich zu einem weiteren Punkt, den ich mirnicht verkneifen kann. Peer Steinbrück hat ein großesPapier vorgelegt.
Ich habe großes Verständnis dafür. Peer Steinbrück willKanzlerkandidat der SPD werden. Er muss eine Bewer-bungsmappe abgeben.
Normalerweise müsste er sich auch an der Kanzlerinabarbeiten. Das ist aber momentan schlecht. Die Kanzle-rin hat viel Vertrauen in der Bevölkerung. Deshalb hat ersich ein einfacheres Ziel gesucht: die Banken. Das kannich verstehen. Sie sind momentan tatsächlich ein einfa-ches Ziel. Das ist in Ordnung, auch wenn es nicht beson-ders originell ist.Er hat sich dann, wie ich heute gelernt habe, nachzweijähriger Klausur entschieden, ein Sammelsuriumvon Maßnahmen aufzuschreiben, das im Wesentlichenbis auf einige wenige kleine Ausnahmen in einer Auf-zählung von Maßnahmen besteht, die wir bereits umge-setzt haben,
die momentan in der Umsetzung sind oder die wir mo-mentan intensiv international diskutieren, weil es keinenZweck hat, sie allein auf nationaler Ebene durchzufüh-ren.
Wir freuen uns darüber, dass wir eine große Überein-stimmung haben. Vielen Dank. Auch das ist nicht zubeanstanden, aber es ist ebenfalls wenig originell. Ichbeanstande es auch nicht, dass jemand, der sich in dieFinanzmarktdiskussion, in der wir alle hier in den letztendrei Jahren hart gearbeitet und gerungen haben, nichteingeschaltet hat, jetzt auf einmal wie Kai aus der Kistekommt und sagt: Ich habe jetzt eine Lösung gefunden. –Es ist schön, dass er sich wieder einbringt. Auch das istnicht zu beanstanden.Trotzdem ist das Ganze in gewisser Weise auch eineZumutung. Es ist deswegen eine Zumutung, weil erkomplett verkennt, was in den letzten drei Jahren pas-siert ist. Wir haben in den letzten drei Jahren, wenn ichalle Anträge und Gesetze zusammenzähle, über 20 Pro-jekte gehabt. Wir haben über 50 Debatten geführt undunglaublich viele Berichterstattergespräche, Anhörun-gen, Symposien und Ähnliches durchgeführt. Wo wardenn Peer Steinbrück in dieser Zeit?
Ich wende mich jetzt den Kollegen von der SPD zu.Ganz ehrlich, irgendwie ist das für Sie doch auch einbisschen unangenehm. Sie mühen sich drei Jahre langab, und jetzt kommt jemand, der sagt: Das ist alles nichtsgewesen; ich hab’s jetzt. – Ich würde mir ein bisschenveralbert vorkommen.
Das muss man an dieser Stelle einfach sagen.Was im Grunde genommen auch wenig lustig ist undso nicht geht, ist die Tatsache, dass der gute HerrSteinbrück aufgrund seiner guten Erkenntnisse, die ergewonnen hat, jetzt meint, er hat den großen grünenKnopf gefunden, und wenn er auf diesen Knopf drückt,dann wird alles gut. Dieser große grüne Knopf sind dieTrennbanken.Meine Damen und Herren, wir reden mit unserenPartnern in Großbritannien und in den USA über dasTrennbankensystem. Wir haben im Übrigen auf EU-Ebene eine Kommission unter Führung des finnischenNotenbankchefs Liikanen auf den Weg gebracht, der unsdazu Vorschläge vorlegen wird. Ich will nicht sagen,dass Trennbanken grottenfalsch sind. Aber eines istFakt: Die Krise 2008 wäre durch ein Trennbanken-system nicht verhindert worden.
Fakt ist auch: Ob es die nächste Krise verhindert oderverschärft, wissen wir ebenfalls nicht. Das heißt, mankann über die Sache diskutieren und trefflich darüberstreiten, sie aber als Königsweg darzustellen, durch denalles gut werden soll, halte ich für etwas zu ambitioniert.
Metadaten/Kopzeile:
23482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Ralph Brinkhaus
(C)
(B)
Der letzte Punkt ärgert mich wirklich, weil es einbisschen zu viel Volksverdummung ist,
nämlich wenn ein Papier verfasst wird, in dem sinn-gemäß steht: „Wir machen jetzt das und das und das, unddann wird alles gut“, und der Eindruck erweckt wird:Wenn ich in der Regierung bin, dann werde ich das in-nerhalb von zwei oder drei Wochen umsetzen. – Das istdoch im Grunde genommen das, was gemacht wird. Dieganzen Mühen, die da drinstecken, wie die internationaleAbstimmung, weil wir wissen, dass Finanzmarktregulie-rung auf nationaler Ebene nicht läuft, werden komplettnegiert. Jetzt kommt jemand mit seinen Ideen, und eswird so getan, als würde das sofort umgesetzt und alles,was vorher gemacht worden ist, wäre Mist.Wenn das dann nicht klappt, dann wissen wir, wie dasGanze bei Herrn Steinbrück weitergeht.
– Du hast es richtig gesagt: Dann kommt die Kavallerie,genauso wie bei der Schweiz.So kann man keine Politik machen. Dementsprechendkann ich Ihnen nur eines raten: Seien Sie vorsichtig mitdem, was Sie versprechen. Sie werden es nicht haltenkönnen.Danke schön.
Manfred Zöllmer hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit der Umsetzung der EU-Leerverkaufsverordnung ge-hen wir grundsätzlich einen richtigen Regulierungs-schritt. Denn seit der Finanzmarktkrise wissen wir, wieschädlich Leerverkäufe sein können. Sie haben ganz we-sentlich zu schweren Kurseinbrüchen beigetragen unddienen letztendlich nichts anderem als Zockerei und sinddamit ein Brandbeschleuniger in der Finanzkrise. DieBundesregierung bzw. die EU setzt damit nur das end-lich um, was der ehemalige Bundesfinanzminister PeerSteinbrück, den Sie eben erwähnt haben
– ich würde da nicht lachen –, bereits 2008, auf demHöhepunkt der Finanzkrise, gemacht hat, als er imHerbst 2008 ungedeckte Leerverkäufe untersagte.
Nach einem eineinhalbjährigen Verbot war es dieschwarz-gelbe Regierung, die diese Leerverkäufe dannwieder erlaubt hat.
Erst im Mai 2010 besann man sich und verbot wiederbestimmte hochspekulative Finanztransaktionen.Allein dieses Beispiel, Herr Brinkhaus, belegt sehrdeutlich das ganze unentschlossene Hin und Her dieserBundesregierung, der schwarz-gelben Koalition, wennes um Fragen der Regulierung der Finanzmärkte geht.Häufig versuchen Sie, sich einfach mit virtueller Regu-lierung aus der Affäre zu ziehen, in der Hoffnung, dieMenschen würden das schon nicht merken, weil wir eshier nun wirklich mit schwer verdaulicher Kost zu tunhaben.Sie, Herr Brinkhaus, und der Kollege Flosbach habensich bei der Vorstellung des Steinbrück-Papiers zurRegulierung öffentlich echauffiert. Sie haben es hier ge-rade noch einmal getan. Der Kollege Flosbach hat ge-sagt, seit drei Jahren arbeite die Regierung an der Regu-lierung der Finanzmärkte.
Arbeit allein genügt aber nicht. Es müssen auch die rich-tigen Ziele verfolgt werden.
Wenn von Frau Merkel als Ziel Ihrer Politik ausgegebenwird, dass Sie eine marktkonforme Demokratie wollen,dann kann bei der Regulierung natürlich nichts Vernünf-tiges herauskommen.
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele. In dem Teil desvorliegenden Gesetzentwurfs, den Sie verändern durften,sehen Sie eine geteilte Zuständigkeit für den Erlass zeit-lich befristeter Leerverkaufsverbote vor. Sie haben dasdankenswerterweise ausgeführt. Der Börsenvorstandsoll für Verbote zuständig sein. Damit haben wir insge-samt ein Problem. Nicht nur der Bundesrat hat in seinerStellungnahme eine einheitliche Zuständigkeit der BaFingefordert. Auch in der Anhörung ist von den meistenSachverständigen genau dieser Punkt kritisch beleuchtetworden.
Warum? Sie öffnen damit Schlupflöcher für Spekulan-ten. Das ist nichts anderes als Regulierung light. Dennwenn die örtliche Börsenaufsicht die gefährliche Zocke-rei an einer Börse verbietet, besteht für diejenigen, diezocken, immer noch die Möglichkeit, auf andere Börsen-plätze auszuweichen. Dieses Schlupfloch haben Sieoffen gelassen. Und Sie wissen das. Damit wird derZweck der Leerverkaufsverbote, die Unterbindung desLeerverkaufs, im Zweifelsfalle in einer Krisensituationad absurdum geführt.
Das ist Regulierung light. Sie sehen: Arbeit allein genügtnicht. Man muss auch die richtigen Maßnahmen ergrei-fen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23483
Manfred Zöllmer
(C)
(B)
Nun regen Sie sich über die Vorschläge zur Banken-trennung auf. Als ob die Bankentrennung das Übel wäreund nicht die Zockerei! Sie haben doch bei Ihren Maß-nahmen, die Sie selbst immer hochjubeln, weil es sonstkeiner tut, scheunentorgroße Schlupflöcher bei den Ban-kerboni offen gelassen. Ich erinnere an die Commerz-bank-Vorstände, die sich dann bedienen konnten. Sie ha-ben dazu gesagt: Das sieht das Gesetz nun einmal vor.Sie haben versprochen, die Banken an den Kosten derKrise zu beteiligen. Was ist geschehen? Nichts. Siewollen jetzt den Hochfrequenzhandel regulieren, habeich gelesen, aber ohne eine Haltefrist. Damit wird dieRegulierung wieder vollständig ausgehebelt. Denn denHochfrequenzhandel können Sie nur dann eindämmen,wenn Sie auch eine Haltefrist einführen.
Restrukturierungsfonds: Sie haben eben selbst gesagt,dass da nichts im Topf ist.
Das heißt, in einer Krisensituation haben wir keineMunition. Das, was Sie gemacht haben, wirkt nicht.
Wir haben es Ihnen gesagt. Finanztransaktionsteuer:Was ist daraus geworden? Bisher nichts.Wie plan- und hilflos diese Koalitionsfraktionen häu-fig agieren, sieht man auch an der heutigen Tagesord-nung. Wir sollten hier eigentlich eine halbe Stunde überLeerverkäufe diskutieren. Flugs haben Sie noch einenAntrag zur Bankenunion untergeschoben. Als ob das einvöllig unwichtiges Thema ohne große Relevanz wäre!
Wir wissen: Das Gegenteil ist der Fall. Die Relevanz die-ses Themas ist klar. Es ist für die Euro-Rettung und diezukünftige Struktur der Finanzmärkte von entscheidenderBedeutung, wie wir diese Probleme lösen. Das scheint al-len klar zu sein, nur nicht den Koalitionsfraktionen. Siewollen noch nicht einmal Redezeit dafür opfern und pres-sen das in eine halbstündige Debatte. – Lieber Herr Kol-lege Brinkhaus, wenigstens jetzt könnten Sie zuhören. –Wie peinlich ist es eigentlich, wenn Sie dies noch nichteinmal zu einem eigenständigen Tagesordnungspunktmachen?
Kann man noch deutlicher machen, wie gering Ihr Ge-staltungswille bei zentralen Zukunftsfragen Deutsch-lands und Europas eigentlich ist? Ich kann das nicht ver-stehen.
Warum haben Sie nicht den Versuch unternommen,sich in wesentlichen Fragen der zukünftigen Finanz-marktpolitik in Europa mit den anderen Fraktionen we-nigstens abzustimmen, wenigstens einmal ein Gesprächzu führen, um herauszufinden, ob es nicht eine gemein-same Positionierung gibt? Es geht doch um wichtigeFragen. Die Sparkassen beispielsweise schalten ganzsei-tige Anzeigen. Es geht um fundamentale deutsche Inte-ressen. Aber Sie versuchen, dieses Thema totzumachen.Ich sage Ihnen: So geht es nicht.Wir haben jetzt nicht die Gelegenheit, auf einzelne In-halte und Punkte, die Sie angesprochen haben, einzuge-hen, weil Sie mit Ihrem Vorgehen eine Debatte über die-ses Thema unmöglich machen. Ich sage Ihnen: Wirwerden uns in der Abstimmung über den Gesetzentwurfzum Thema Leerverkäufe enthalten – warum, habe ichbereits begründet – und Ihren Antrag ablehnen. In dieserForm geht es nicht. Das erinnert mich an den ehemaligenTrainer von Bayern München Trapattoni, der einmal ge-sagt hat: Flasche leer!
Ich sage Ihnen: Genau das trifft auf diese Koalition wirk-lich zu.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Volker Wissing hat für die FDP-
Fraktion das Wort.
Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Herr Kollege Zöllmer, die Gegenwartund die Zukunft kann man gestalten. Mit seiner Vergan-genheit muss man leben. Ich weiß, dass Sie als Sozial-demokraten gerne auf die Ära sozialdemokratischerFinanzminister in der Form zurückblicken würden, dassSie mit Stolz auf deren knallharte Regulierungspolitikverweisen könnten. Ihre Vergangenheit sieht aber andersaus, und mit der müssen Sie leben.
Die Zeit, als die Sozialdemokratie Verantwortung für dasFinanzressort in Deutschland trug, war geprägt von einerPolitik der Deregulierung der Finanzmärkte, die zusam-men mit den Grünen betrieben wurde.
Metadaten/Kopzeile:
23484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Volker Wissing
(C)
(B)
Als Peer Steinbrück, der heute den Eindruck zu er-wecken versucht, er sei ein Bändiger der Finanzmärkte,Regierungsverantwortung hatte, hat er sich mit Finanz-marktregulierung nicht befasst.
Nachdem er dann die Regierungsverantwortung verlorenhatte, die Finanzkrise eskaliert war und die christlich-liberale Koalition Verantwortung übernommen hat, hatFinanzmarktregulierung in Deutschland stattgefunden.Ratingagenturen wurden unter Aufsicht gestellt – CDU/CSU und FDP. Leerverkäufe wurden verboten – CDU/CSU und FDP. Gesetz zur Beschränkung des Hochfre-quenzhandels – CDU/CSU und FDP.
Die Reihe können Sie fortsetzen: Bankenrestrukturie-rungsfonds – CDU/CSU und FDP. Beteiligung der Ban-ken an den Kosten der Krise – CDU/CSU und FDP.Schaffung von Aufsichtsstrukturen auf europäischerEbene – CDU/CSU und FDP. Sie waren jedenfalls niedabei. Sie haben auch nie eigene Vorschläge gemacht.
Nun kommt Ihr ehemaliger Finanzminister, der Regu-lierungsverweigerer in Deutschland, wie Kai aus derKiste – so hat es der Kollege Brinkhaus zu Recht formu-liert – und sagt: Wir müssen einen großen Katalog anRegulierungsmaßnahmen auf den Weg bringen.
Dabei hat er noch nicht einmal bemerkt, dass sein Forde-rungskatalog genau das enthält, was CDU/CSU und FDPumgesetzt haben; er aber nicht, als er in der Regierungwar.
Was Sie machen, ist deswegen nichts anderes alsRegulierungsklamauk. Sie legen die Menschen, die hiersitzen oder zuschauen, herein, indem Sie ihnen dieGeschichte von der Sozialdemokratie als Finanzmarkt-regulierer erzählen. Dabei haben Sie mit der Regulie-rung der Finanzmärkte nichts, aber auch gar nichts zutun. Regulierungspolitik ist das Werk der christlich-libe-ralen Koalition.
Wir haben Verantwortung und Haftung wieder zusam-mengeführt. Das ist die Leistung dieser Bundesregie-rung.
Wie ich sehe, möchte Herr Schick eine Zwischen-frage stellen. Wenn die Uhr angehalten wird, lasse ichsie zu. – Bitte, Herr Schick.
Danke. – Ich will es konkret machen, um die Positionder Koalition zu verstehen. Welche Banken sollen euro-päisch beaufsichtigt werden?
– Nein, das war nicht eindeutig. – Es geht mal um 25,mal um 50 Banken. Es stellt sich konkret die Frage, wel-che es sein sollen. Das ist die große Streitfrage. Das wirdaus Ihrem Antrag nicht deutlich. Ich möchte wissen, obnach dem Willen der Koalitionsfraktionen Banken wiedie Landesbank Berlin mit einer Bilanzsumme von129 Milliarden Euro, die Berlin Hyp mit einer Bilanz-summe von 38 Milliarden Euro oder die SparkasseKölnBonn mit einer Bilanzsumme von 29 MilliardenEuro europäisch oder national beaufsichtigt werden sol-len. Wie sollen wir den Antrag verstehen?Meine zweite Frage ist, wie das mit den nationalenund europäischen Restrukturierungsfonds geplant ist.Ich habe den Kollegen Brinkhaus so verstanden, dass eseinen europäischen Restrukturierungsfonds und natio-nale Restrukturierungsfonds geben soll. Im Antrag istnur von nationalen Restrukturierungsfonds die Rede. Ichwürde gerne verstehen, was die Verhandlungslinie derKoalition in Bezug auf dieses System von Restrukturie-rungsfonds ist.
Zunächst zu Ihrer Frage, welche Banken auf europäi-scher Ebene und welche auf nationaler Ebene beaufsich-tigt werden sollen. Sie können das nicht so machen, wiesich das Peer Steinbrück in seiner Welt vorstellt. Danachwerden alle Banken, die heute systemrelevant sind, aufeuropäischer Ebene beaufsichtigt und alle anderen aufrein nationaler Ebene; denn – das ist in der Debatte heuteschon gesagt worden – das kann sich verändern. Es gibtBanken, die sich von nicht systemrelevanten Banken zusystemrelevanten Banken entwickeln können.
Das war in Deutschland bei der Hypo Real Estate derFall. Das hätte ein früherer Finanzminister eigentlichwissen können, aber mit den Dingen hat er sich schondamals nicht richtig beschäftigt.
Wenn Sie sehen, dass man sich damals bei der HypoReal Estate monatelang in Deutschland gestritten hat, obdie Bank systemrelevant ist oder nicht, dann erkennenSie auch, dass es keinen Sinn macht, dass man einen kla-ren Schnitt macht und sagt: Die Banken, die heute sys-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23485
Dr. Volker Wissing
(C)
(B)
temrelevant sind, werden europäisch beaufsichtigt, dieanderen nur national. – Denn die Instanz, die für dieKontrolle systemrelevanter Banken zuständig ist, mussauch die Banken im Blick haben, die jederzeit systemre-levant werden können. Genau das steht in unserem An-trag. Wir wollen die Konzentration der europäischenAufsicht auf die Systemrelevanz und die grenzüber-schreitende Tätigkeit, wir wollen aber auch, dass sie sys-temische Risiken jederzeit aufgreifen kann.Das muss jetzt – wir befinden uns ja nicht in einemGesetzgebungsverfahren, sondern es handelt sich beiunserer Vorlage um einen Antrag – mit den europäischenPartnern institutionell so auf den Weg gebracht werden,dass es den Anforderungen des Deutschen Bundestagesgenügt. Deswegen ist es wichtig, dass dieser Antragheute beraten wird. Sie können auch einen eigenen An-trag einbringen, wenn Sie eigene Vorstellungen haben.Peer Steinbrück hat bisher nur ein Papier für die Medienmit viel Klamauk gemacht, aber einen eigenen Antragder SPD gibt es nicht. Vielleicht kommt einer von denGrünen.
Jetzt komme ich zu der zweiten Frage, der nach denRestrukturierungsfonds. Peer Steinbrück lässt hier vonseinen sozialdemokratischen Freunden vortragen, derdeutsche Restrukturierungsfonds sei nicht ausreichendgefüllt. Gleichzeitig schlägt er vor, dass der Hauptzahlerin den deutschen Fonds künftig in einen europäischenRestrukturierungsfonds einzahlen soll. Darüber müssenSie sich einmal mit Herrn Steinbrück unterhalten. Daspasst nämlich nicht zu dem, was Sie, Herr Zöllmer, hiervorgetragen haben.
Dieser europäische Restrukturierungsfonds machtdoch nur dann Sinn, wenn es eine auf europäischerEbene exekutiv handelnde Instanz gibt, die in einer Ret-tungsnacht – wir wissen beide, wie so etwas abläuft; wirwaren zusammen im Untersuchungsausschuss zur HypoReal Estate – auch handeln kann. Einen europäischenFonds zu schaffen und in diesen die Hauptsummen ein-zuzahlen, aber am Ende niemanden zu haben, der ineiner Rettungssituation darüber entscheidet, wie restruk-turiert wird, das ist Peer Steinbrücks Politik. Wir habenda andere Vorstellungen. Wir wollen einen handlungsfä-higen Staat haben, damit nicht am Ende der Steuerzahlerwieder die Zeche bezahlt, wie es bei dem Konzept vonPeer Steinbrück der Fall ist; die Zeche soll vielmehr ausdem Restrukturierungsfonds bezahlt werden, den dieBanken gespeist haben. Das verbirgt sich hinter dem An-trag. Er dient dem Schutz der Steuerzahler, damit sienicht wieder sozialdemokratischer Deregulierungspolitikpreisgegeben werden.
– Man muss die Dinge klarrücken. Es hilft nichts, wennSie sich die Welt schönreden. Noch einmal: Sie müssenmit dieser Vergangenheit leben. Sie hatten die Verant-wortung und haben sie leider nicht wahrgenommen.
Das, was wir in dem Bereich Leerverkaufsverbot aufden Weg gebracht haben, ist eine Blaupause für Europa.Jetzt geht es darum, dass die Beschlüsse, die auf europäi-scher Ebene gefasst worden sind, so konkretisiert wer-den, dass sie den Anforderungen genügen, die wir fürunser Land für wichtig und erforderlich halten. Das be-deutet für die europäische Aufsicht, dass es eine Einbe-ziehung der Europäischen Zentralbank geben kann, ge-nauso wie wir national die Deutsche Bundesbank mitihrem Sachverstand und ihrer Kompetenz in die Beauf-sichtigung einbeziehen. Aber selbstverständlich brau-chen wir eine strikte Trennung zwischen Aufsichtspoli-tik und Geldpolitik, und das kommt in diesem Antragklar zum Ausdruck. Deswegen empfehle ich Ihnen, liebeKolleginnen und Kollegen, diesem Antrag zuzustimmen.Dieser Antrag ist wichtig. Er stellt wichtige Weichenfür eine solide, eine schlagkräftige europäische Aufsicht.Deswegen ist keine Eile geboten, sondern Sorgfalt.Wichtig ist auch, der Bundesregierung Rückendeckungzu geben, sie in ihrer Haltung zu stärken, dass es nichtdarauf ankommt, jetzt ganz schnell eine europäischeAufsicht zu schaffen, sondern darauf, eine solide, sorg-fältig verhandelte europäische Aufsichtsinstanz auf denWeg zu bringen. Darauf kommt es an.Die weiteren Punkte sind schon genannt worden. Wirwollen keine europäische Einlagensicherung, sondernwir wollen nationale Verantwortung für die Einlagen-sicherung. Wir wollen keine Missachtung des Subsidia-ritätsprinzips, zugleich jedoch die systemische Kontrolledurch die europäische Instanz jederzeit gewährleisten.Auch das kommt in dem Antrag zum Ausdruck. Wir leh-nen außerdem – das habe ich schon deutlich gemacht –die Schwächung der nationalen Restrukturierungsfonds,wie Peer Steinbrück sie will, ab.Ich glaube, dass wir mit diesem Konzept den richti-gen Ansatz haben. Es wird nicht leicht sein, eine euro-päische Struktur aufzubauen; aber es ist notwendig. Wirsind es den Menschen schuldig, die in der Vergangenheitdie Defizite der Aufsicht erlebt haben.
– Sie können ja darüber lächeln. Aber die Leute könnensich noch gut daran erinnern: Damals gab es keinenFinanzminister, der verhindert hätte, dass die Steuerzah-ler einspringen müssen.
Wir stehen hinter der Bundesregierung. Wir unterstüt-zen sie bei ihren Bemühungen auf europäischer Ebene.
Metadaten/Kopzeile:
23486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Volker Wissing
(C)
(B)
Wir wissen dieses Projekt bei BundesfinanzministerSchäuble in guten Händen. Wir wissen, dass die Bundes-kanzlerin eine außerordentlich starke Durchsetzungs-kraft auf europäischer Ebene hat. Nach Annahme diesesAntrags wird sie mit voller Rückendeckung des Deut-schen Bundestages auf europäischer Ebene verhandelnkönnen. Wir werden eine gute Aufsicht auf europäischerEbene bekommen, genauso wie wir mit dieser Regie-rung und dieser Koalition die beste nationale Finanz-marktregulierung bekommen haben, die wir jemals inDeutschland hatten. Was Sie als Lücke hinterlassenhaben, konnten wir durch Kompetenz ausfüllen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Kollege Zöllmer hat bereits darauf hingewiesen,dass wir durch die kurzfristige Einbringung eines neuenAntrags auf einmal zwei völlig unterschiedliche The-menfelder zu behandeln haben. Ich will mich jetzt aufdiesen Antrag zur sogenannten Bankenunion konzentrie-ren, wobei ich keinen Hehl aus meiner Meinung zu die-sem Begriff mache. In meiner Fraktion werde ich immergefragt, ob damit die bankenfreundliche Unionsfraktionmit ihrer Lobbypolitik für Großbanken und den entspre-chenden Spenden, die man bekommt, gemeint ist.
Der Begriff „Bankenunion“ ist also völlig fehl am Platz.Mit diesem Begriff meint man aber in der Tat, dass einneues, gemeinsames europäisches System aus Aufsicht,Einlagensicherung und Krisenmechanismen für die eu-ropäischen Banken gefunden werden soll.Das Ganze ist kurzfristig verabredet worden in derNacht vom 28. auf den 29. Juni, als es darum ging, obauch spanische Banken Mittel aus dem ESM bekommen.Da war die deutsche Verhandlungsposition: Das gehtnur, wenn es bis zum Jahresende eine europäische Ban-kenunion gibt. Dazu gibt es einen Vorschlag der Kom-mission, der in der Tat völlig unausgereift ist. Es war ge-nau diese Bundesregierung, die auf dem nächsten Gipfelgesagt hat: Das muss jetzt wieder weg. Das muss auf dielange Bank geschoben werden, weil in der Tat völlig un-klar ist, was hier wie in welcher Institution geregelt wer-den soll. – Das macht noch einmal deutlich, dass es drin-gend erforderlich ist, dass wir darüber im Bundestagausführlich diskutieren, statt uns in einer Sofortabstim-mung, quasi am Finanzausschuss vorbei, mit diesemThemenfeld zu beschäftigen.
In der Tat, wir brauchen eine solche europäische Ban-kenaufsicht. Aber wo die Aufsicht dann wirklich ange-siedelt ist, ob sie bei der EZB oder bei der EuropäischenBankaufsichtsbehörde, also bei der EBA, richtig ange-siedelt ist, das muss man in Ruhe diskutieren. Es gibt aufeuropäischer Ebene nämlich genau die gleichen Pro-bleme wie in Deutschland. Im Koalitionsvertrag habenSie ja zunächst festgelegt, die nationale Bankenaufsichtsolle bei der Bundesbank angesiedelt werden. Dochdann haben Sie andere Konsequenzen gezogen: Letztlichhaben Sie eine entsprechende Aufsicht bei der BaFinorganisiert.Wir brauchen kurzfristig die Rekapitalisierung einigerBanken aus gemeinsamen Mitteln, zum Beispiel überden ESM. Aber das darf aus unserer Sicht natürlich nichtmit völlig verfehlten Auflagen für die Staaten verbundensein,
und es muss in der Tat von den Verursachern der Krisefinanziert werden. Die Stichworte sind heute Morgen ge-fallen: Vermögensteuer, Vermögensabgabe, Finanztrans-aktionsteuer, Abgabe systemrelevanter Banken.Wir müssen also dringend Maßnahmen ergreifen,aber diese Maßnahmen werden nicht ausreichen. Nebeneinem Bankenrettungsfonds müssen wir auch auf ein Zu-rechtstutzen der Größe der Banken abstellen und Bankenmassiv verkleinern, um so das Systemrisiko herunterzu-fahren. Aus unserer Sicht – das wurde angesprochen –ist der Vorschlag, Trennbanken einzuführen,
noch unzureichend. Ich glaube nämlich, man muss nichtnur trennen, sondern bestimmte Geschäfte komplett un-terbinden, erst entsprechend zusammenschrumpfen undletztendlich verbieten.
Das heißt aus unserer Sicht – und das ist die Grund-idee –, dass ein Finanz-TÜV einzurichten ist. Nur dieBankgeschäfte sind dann erlaubt, die vorher genehmigtworden sind, weil sie relevant, systematisch und sinnvollsind. Das muss sozusagen im Mittelpunkt stehen.
Ganz kurz zum EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetz.Natürlich ist dies vom Prinzip her eine vernünftige Akti-vität – Sie haben sich auch lange genug und oft genugdafür entsprechend gelobt –, aber das Gesetz ist unzurei-chend; Kollege Zöllmer hat auf viele Fehler hingewie-sen. Es regelt schließlich nur einen kleinen Bruchteil desgesamten Finanzmarktgeschäftes. Insofern gilt: DasHaus brennt, aber Sie erlassen erst einmal Rauchverbote.Das ist unzureichend, und deswegen werden wir uns indiesem Fall auch enthalten. Die Grundrichtung stimmtzwar, aber es reicht leider nicht.Danke.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23487
(C)
(B)
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun derKollege Dr. Gerhard Schick das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zwei Punkte sind anzusprechen. Das eine ist das ThemaLeerverkäufe, das andere die Bankenunion.Kurz zum ersten Thema: Es ist richtig, ungedeckteLeerverkäufe zu verbieten; dieses findet jetzt bei Staats-anleihen statt. Deshalb sind weitere Schritte bei anderenFinanzprodukten notwendig. Die Verordnung auf euro-päischer Ebene stellt mehr Transparenz her, und sie gibtauch nationaler und europäischer Aufsicht entspre-chende Befugnisse, um einzugreifen. Das ist richtig, undwir Grünen haben uns im Europaparlament mit dem grü-nen Berichterstatter Pascal Canfin aktiv dafür eingesetzt,dass es ein generelles Verbot ungedeckter Leerverkäufegibt und dass es auch klare Regeln für die Eindeckungs-verfahren bei Leerverkäufen gibt, sodass Anreize fürschädliche Spekulationen verhindert werden.Das sind wichtige Schritte, die auf europäischerEbene unter aktiver grüner Mitwirkung vorangebrachtworden sind. Jetzt haben wir in Deutschland die Umset-zung vor uns. Es ist wichtig, dass es jetzt vorangeht.Aber der Fehler bleibt natürlich, dass Sie nicht dieBaFin, die Finanzaufsicht, damit beauftragen, das umzu-setzen, sondern dass es den Börsen überlassen wird.Sie machen immer wieder den Fehler, dass Sie auf dieeigeninteressierten Marktakteure vertrauen. Damit ha-ben Sie genau das nicht aus der Krise gelernt, was in vie-len Diskussionen – ich erinnere mich an einige Redenhier – immer wieder gesagt worden ist: Die Selbstregu-lierung, auf die man vertraut hat, hat nicht funktioniert.Daraus muss man Konsequenzen ziehen und muss zuse-hen, dass es wirklich unabhängige staatliche Aufsichts-behörden gibt, die in den Markt eingreifen können.
Zum zweiten Punkt, der Bankenunion. Was Sie unsheute vorgelegt haben, ist offensichtlich sehr kurzfristigunter großer Hektik entstanden, sodass wir dieses Themaheute in einer Art und Weise behandeln, die diesemThema und seiner Bedeutung nicht angemessen ist.
Es ist nicht nur so, dass es kurzfristig gemacht wurde.Vielmehr waren beide Redner der Koalition nicht in derLage, die entscheidenden Fragen hier zu beantworten.
Die erste Frage, die ich gestellt habe, lautete: Wie se-hen die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten fürdas Europäische Parlament aus? Man muss doch eineVerhandlungslinie haben, wenn man der Bundesregie-rung irgendetwas mitgibt. Das kann doch nicht ein biss-chen Blubb-blubb sein. Vielmehr besteht die zentraleHerausforderung darin, dass trotz dieser neuen Mecha-nismen in Europa die Demokratie nicht auf der Streckebleibt.Deswegen will ich die Frage für unsere Fraktion be-antworten: Wir wollen, dass das Europäische Parlamentbei den Stellenbesetzungen im Bereich Bankenaufsichtkonkrete Mitwirkungsrechte erhält. Wir wollen, dass dieEuropäische Zentralbank im Bereich Bankenaufsichtdem Europäischen Parlament Auskünfte geben muss,also eine klare Auskunftspflicht besteht, sodass es nichtim Ermessen der Zentralbank steht, was sie erzählt. Wirwollen, dass es die Pflicht zur regelmäßigen Berichter-stattung gibt. Das muss ganz klar festgelegt werden. Eswäre notwendig, dies in einem solchen Antrag ganz klardarzustellen.
– Das steht da so allgemein, dass Sie alles Mögliche da-runter fassen können.
Die zweite Frage lautete: Welche Banken sind denndrin? – An dieser Stelle ist es ganz wichtig, noch einmalzurückzublicken. Im Jahr 2008 gab es bereits den Vor-schlag, auf europäischer Ebene gemeinsam die Restruk-turierung, Abwicklung oder Sanierung von Banken vor-zunehmen. Die deutsche Bundesregierung, damals vonder Großen Koalition getragen, hat das abgelehnt. Dasist einer der zentralen Fehler im Krisenmanagement ge-wesen.Im Jahr 2010 hat das Europäische Parlament vorge-schlagen, den europäischen Aufsichtsbehörden klareDurchgriffsrechte zu geben und Großbanken unmittelbarauf europäischer Ebene zu beaufsichtigen. Die deutscheBundesregierung, damals schon von Schwarz-Gelb ge-tragen, war dagegen.Jetzt endlich sind Sie auch darauf gekommen, dass eseine europäische Aufsicht braucht, wenn man eine Au-genhöhe zwischen Großbanken und staatlicher Aufsichthinbekommen will. Ihre Erkenntnis kommt sehr, sehrspät. Es ist eine 180-Grad-Wende. Hoffen wir, dass esdiesmal gelingt.
Unser Vorbild ist, dass es in den USA gelungen ist,mehr als 450 Regionalbanken abzuwickeln, statt mitdem Geld der Steuerzahler zu retten;
Metadaten/Kopzeile:
23488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Gerhard Schick
(C)
(B)
für diese Banken mussten die Steuerzahler nicht auf-kommen. Das muss auch in Europa das Ziel sein. Jetztstehen Sie allerdings wieder auf der Bremse und machennicht klar, was Sie wollen. Sie sagen, es soll doch ir-gendwie nicht richtig europäisch sein. Nach den Ant-worten von Herrn Brinkhaus und Herrn Wissing ist völ-lig unklar geblieben, wie das Verhältnis zwischen demeuropäischen und den nationalen Restrukturierungsfondsaussehen soll. Unsere Vorstellung ist: Es gibt einen euro-päischen Restrukturierungsfonds, der in der Lage ist,auch größere Banken abzuwickeln.Die nächste Frage lautete: Wer ist von der Aufsicht ei-gentlich eingeschlossen? Ich möchte die konkret ge-stellte Frage für unsere Fraktion beantworten: Institutewie die Landesbanken gehören unter eine europäischeAufsicht, weil sie eben nicht klar abgegrenzte regionaleGeschäftstätigkeiten ausüben, so wie kleine Sparkassen,und weil sie von den hiesigen Institutssicherungen imZweifelsfall nicht gerettet werden könnten. Dieses genaumüssen wir tun.Ich fordere Sie auf, mit mehr Klarheit heranzugehenund vor allem die Perspektive für einen europäischenRestrukturierungsfonds, für klare demokratische Kon-trolle und für eine Aufsicht, die wirklich Durchgriffs-rechte hat, zu unterstützen und nicht wieder wie 2008und 2010 auf der Bremse zu stehen. Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines EU-Leerver-kaufs-Ausführungsgesetzes. Der Finanzausschuss emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/10854, den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufDrucksache 17/9665 in der Ausschussfassung anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich derStimme? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen ange-nommen worden.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-wurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und derFDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, derFraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen angenommen worden.
– Enthaltung der Oppositionsfraktionen, Entschuldi-gung. Das war schon einmal der Aufmerksamkeitstest.Wir kommen nachher noch zu sehr vielen Abstimmun-gen. Ich bedanke mich für den Hinweis.Zusatzpunkt 7. Wir kommen zur Abstimmung überden Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP aufDrucksache 17/10781 mit dem Titel „Bankenunion –Subsidiaritätsgrundsatz beachten“. Wer stimmt für die-sen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?– Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen ange-nommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe zu dem Antragder Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth,Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEAusbeuterische Kinderarbeit weltweit be-kämpfen– Drucksachen 17/5759, 17/6930 –Berichterstattung:Abgeordnete Ute GranoldChristoph SträsserPascal KoberKatrin WernerVolker Beck
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschussfür Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6930,den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache17/5759 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?– Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen derUnionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stim-men der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion an-genommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke,Sibylle Pfeiffer, Peter Altmaier, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowieder Abgeordneten Joachim Günther ,Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga Daub,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPEntwicklung durch Wachstum – Der Beitragder deutschen Wirtschaft zum Erreichen derMillenniumsziele– Drucksachen 17/9423, 17/9892 –Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen Klimke1) Anlage 3
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23489
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Dr. Sascha RaabeJoachim Günther
Heike HänselUte KoczyInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind auch hier einverstanden.1)Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschussfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/9892, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSUund FDP auf Drucksache 17/9423 anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der Opposition angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinMüller , Volker Beck (Köln), MarieluiseBeck , weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Zwei-Staaten-Perspektive für den israe-lisch-palästinensischen Konflikt erhalten –Entwicklung der C-Gebiete in der Westbankfördern – Abrissverfügungen für Solaranlagenstoppen– Drucksache 17/9981 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinMüller , Volker Beck (Köln), MarieluiseBeck , weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Zwei-Staaten-Perspektive für eine friedli-che Regelung des israelisch-palästinensischenKonflikts retten– Drucksache 17/10640 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben bereits vor einem Jahr über den palästinensi-schen Antrag auf Aufnahme in die Vereinten Nationendebattiert. In diesem Monat, gerade in dieser Woche, fin-det wiederum die UN-Generalvollversammlung statt. Zudiesem Zeitpunkt ist dieses Anliegen völlig in den Hin-tergrund getreten, nicht nur, weil Iran und Syrien dieNahostdebatte inzwischen dominieren, sondern auch– das muss man ganz klar und generell sagen –, weil dasvergangene Jahr für eine friedliche Regelung des israe-lisch-palästinensischen Konfliktes ein verlorenes Jahrwar. Es war wieder einmal ein Jahr ohne substanzielleFriedensverhandlungen. Es war ein Jahr von weiteremmassiven Siedlungsausbau und verstärken Angriffendurch israelische Siedler. Es war auch ein Jahr der dra-matischen Verschlechterung der Wirtschaftslage in derWestbank.Man muss festhalten, dass es 19 Jahre nach Oslo im-mer noch keinen palästinensischen Staat gibt. Im Gegen-teil: Das international akzeptierte Konzept von zweiStaaten zur Regelung des Konfliktes verkommt immermehr zur Bedeutungslosigkeit. Alternativen sind nicht inSicht. Auch deshalb haben wir uns heute entschlossen,noch einmal zwei Anträge für die Zweit-Staaten-Rege-lung in den Bundestag einzubringen.
Es gibt keinen palästinensischen Staat. Es gibt in Zo-nen geteilte palästinensische Gebiete. Es gibt den Gaza-streifen, der von der Hamas beherrscht wird. Dann gibtes die Westbank, die in drei Zonen geteilt ist: Zone Awird komplett von den Palästinensern kontrolliert. ZoneB kontrollieren zwar die Palästinenser, aber die Israelissind für die Sicherheit verantwortlich. Zone C wird al-lein von israelischer Seite kontrolliert; sie umfasst im-merhin 62 Prozent der Westbank.Ich habe im März dieses Jahres ein palästinensischesDorf in der Zone C besucht. Sie kennen meine Positionzum Nahostkonflikt; ich sehe vieles durchaus auch kri-tisch. Aber die Lebensbedingungen der Palästinenser indieser Zone C sind wirklich erschütternd.
Sie sind erschütternd, und trotzdem gibt es dort Projekte,die auch Hoffnung machen. In diesem Dorf beispiels-weise wurde die Versorgung mit elektrischem Stromdurch ein Windrad und durch Solarpanels sichergestellt.Es handelt sich um ein sehr kleines Projekt von wenigenIsraelis – medico international –, finanziert durch dasAuswärtige Amt.Dieses Projekt ist wie andere Projekte diese Art, dievon der EU unterstützt werden, nun vom Abriss der ent-sprechenden Anlagen bedroht. Warum? In den C-Gebie-ten gibt es keine Bebauungspläne. Die Palästinenserkönnen keine Anträge auf Baugenehmigungen stellen;deshalb werden solche Projekte illegal durchgeführt, unddann kommt es eben zu jenen Abrissverfügungen.1) Anlage 4
Metadaten/Kopzeile:
23490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Kerstin Müller
(C)
(B)
Warum berichte ich davon? Nach Aussage aller Ex-perten ist völlig klar: Ohne die Entwicklung der C-Ge-biete wird es keinen lebensfähigen palästinensischenStaat oder ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstumfür einen solchen noch zu gründenden Staat geben.
Deshalb habe ich mich entschlossen, hierzu einen An-trag zu erarbeiten, wenngleich die Hintergründe allge-mein kaum bekannt sind. Es gibt nämlich Versorgung inden C-Gebieten. Die findet aber nur für die jüdischenSiedler statt, nämlich für den massiven Ausbau ihrerSiedlungen, der dort leider betrieben wird.Wenn wir zusammen mit der internationalen Gemein-schaft an der Zwei-Staaten-Regelung festhalten wollen,wenn wir sagen, dass es dazu keine Alternative gibt,dann muss der israelischen Seite unmissverständlichklargemacht werden, dass ihre Politik in den C-Gebie-ten, die auf eine Vertreibung der palästinensischen Be-völkerung hinausläuft – viele dieser Menschen verlassendiese Gebiete nämlich –, absolut inakzeptabel ist.
Es muss auch hier endlich demokratische Planungs-verfahren geben, die in die Verantwortung der palästi-nensischen Autonomiebehörde gehören. Die Abrissver-fügungen müssen gestoppt werden. Eine Politik „on theground“, die die internationale Politik unterminiert,muss beendet werden.Darüber hinaus muss die EU auch endlich zu einemgemeinsamen Handeln kommen. Die Palästinenser wer-den in der UN-Generalversammlung zunächst einmal dieAufwertung ihres Status beantragen. Dafür werden sieeine Mehrheit bekommen. Ich glaube jedoch, dass es un-abhängig von dieser Mehrheit wichtig ist, dass geradedie Europäer an dieser Stelle einmal gemeinsam Zustim-mung signalisieren, weil diese natürlich noch ein ganzanderes Gewicht in diesem Konflikt hat. Die Palästinen-ser warten jedenfalls darauf.Ich hoffe, dass es weitere Initiativen gibt, dass wirweiter in diesem Sinne handeln werden. Die Vorstellung,in der derzeitigen Lage ließe sich wegen der Unsicher-heiten im Hinblick auf den palästinensischen Konfliktnichts machen, ist nach meiner Überzeugung ebensofalsch wie die Vorstellung, dass Fortschritte bei der Re-gelung automatisch zu einer Lösung der vielfältigenSpannungen und Konflikte führen würden. Dennochmüssen wir daran arbeiten.Danke schön.
Der Kollege Jürgen Klimke hat nun für die Unions-
fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren! Zum Abschluss seinerNahostreise im Mai dieses Jahres hat BundespräsidentGauck das Recht der Palästinenser auf einen eigenenStaat betont – ich zitiere –:Deutschland bekennt sich nachdrücklich zur Zwei-Staaten-Lösung und unterstützt die Schaffung eineseigenständigen palästinensischen Staates.Diese Meinung unseres Staatsoberhaupts steht damitauch in der Tradition der CDU/CSU-Außenpolitik.Klar ist: Die vielfältigen Probleme das Nahen Ostensgehören alle zusammen, doch ist für uns die Lösung derZwei-Staaten-Frage im Nahen Osten das wichtigste Ele-ment, um den gordischen Knoten zu zerschlagen. UnsereBemühungen sind immer wieder auf Wiederaufnahmedirekter Verhandlungen gerichtet, egal wie sprachlosbeide Seiten zurzeit miteinander umgehen. Ein solcherVerhandlungsprozess steht für uns im Mittelpunkt; denndie Lösung des Gesamtkonflikts lässt sich nur mit diesenMitteln erreichen.Die Augen der Weltöffentlichkeit sind derzeit auf denBürgerkrieg in Syrien gerichtet. Trotzdem dürfen wir dieSicherheit Israels, die für die CDU/CSU zur Staatsräsongehört, niemals aus den Augen verlieren. Für diesesSelbstverständnis gibt es viele ähnliche Formulierungen.Ich halte nichts davon, in jeder etwas anderen Formulie-rung eine Verstärkung oder eine Abschwächung dieserAussage zu sehen. Die Aussage ist nämlich klar.Ich bin angesichts der jüngsten Entwicklungen über-zeugt: Auch der Nahostkonflikt kann und darf nicht un-gelöst bleiben. Anders gesagt: Die Wiederaufnahme derVerhandlungen duldet keinen Aufschub. Der jetzigeStillstand hilft niemandem. Aber klar ist auch: Eine trag-fähige Lösung erfordert politische Entschlossenheit; sieerfordert schmerzhafte Kompromisse, und zwar auf bei-den Seiten.Das Ziel müssen zwei Staaten sein: ein demokrati-scher jüdischer Staat Israel Seite an Seite mit einem le-bensfähigen palästinensischen Staat. Wo immer Deutsch-land und Europa zusammen mit den USA diesen Prozessunterstützen können, werden wir das tun; wir unterstüt-zen alles, was den berechtigten Belangen des palästinen-sischen Volkes entspricht und Rechnung trägt.Hier geht es um Fragen, die beantwortet werden kön-nen, wenn beide Seiten aufeinander zugehen und dieRechte des jeweils anderen anerkennen und akzeptieren.Es sind keine leichten Fragen; es sind aber auch keineabstrakten Fragen. Es sind vielmehr Fragen von sehrgroßer Aktualität, die uns alle unmittelbar betreffen.Nicht alle diese Fragen können wir heute oder morgenabschließend beantworten.Verantwortung ist kein Automatismus. Sie bewährtsich nicht im Falle von Ankündigungen, sondern eher ineiner konkreten Situation. Das Denken in Wenn-dann-Sätzen wirkt im Nahen Osten eskalierend, vor allemauch das vorherige öffentliche Ziehen von roten Linien.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23491
Jürgen Klimke
(C)
(B)
„Der Unterschied zwischen Europa und dem NahenOsten“, so hat es der israelische Schriftsteller Amos Ozvor wenigen Wochen in einem Interview mit der Welt ge-sagt, „ist der Unterschied zwischen Frieden und Krieg.“Damit hat er wohl recht: Der Nahe Osten ist heute eineder explosivsten Regionen der Welt, Europa erlebt hin-gegen eine historisch einmalige Periode des Friedens.Meine Damen und Herren, nur weil bei uns Friedenherrscht, dürfen wir nicht nachlässig werden.Die Hauptfrage ist jedoch: Wo setzen wir an? DieseFrage stellen auch die Grünen in ihren Anträgen. Wir be-danken uns für den Beitrag. Wir setzen in diesem Be-reich aber schon seit Jahren eigene Prioritäten, entspre-chend der Überzeugung der Kanzlerin. Nach dieserÜberzeugung geht es um Verständigung und vor allemum gegenseitigen Respekt. Klare Kante: Die Palästinen-ser verzichten auf Gewalt, und die palästinensische Füh-rung erkennt Israel an; Israel verzichtet auf den Sied-lungsbau in den besetzten Gebieten.
Meine Damen und Herren, unser gemeinsames Enga-gement geht jedoch über diesen Grundsatz hinaus: Wirsorgen für anhaltende humanitäre Hilfe, Verhütung desillegalen Handels mit Waffen und Munition, dauerhafteÖffnung der Grenzübergänge, Instandsetzung und Wie-deraufbau von Infrastruktur, Förderung der innerpalästi-nensischen Versöhnung sowie Unterstützung der EUBorder Assistance Mission im Bereich der Grenzkon-trollen.Für die Unionsfraktion ist jedoch eines klar – hierliegt im Übrigen der Unterschied zu den Grünen –: Ei-nen unabhängigen demokratischen und lebensfähigenStaat Palästina kann es nur ohne völkerrechtliches Präju-diz geben. Alle Maßnahmen, die einen palästinensischenStaat präjudizieren, wie etwa die Aufnahme eines derzeitnicht existenten Staates Palästina in die UNESCO imOktober 2011, sind deshalb abzulehnen. Deutschland hatgemeinsam mit seinen Verbündeten gegen eine Auf-nahme gestimmt.Weitere Hinderungsgründe für das Erreichen einerZwei-Staaten-Lösung liegen im palästinensischenSchisma zwischen der Hamas im Gazastreifen und derFatah im Westjordanland. Solange die Palästinensernicht mit einer Stimme sprechen, kann es keine Zwei-Staaten-Lösung geben. Wenn im Antrag der Grünen ge-fordert wird, dass der Bundestag die Aufnahme Palästi-nas in die UNO unterstützen soll, so ist allein das für unsein Grund zur Ablehnung.Meine Damen und Herren, der Friedensprozess imNahen Osten ist ein langwieriger Prozess. Deutschlandnimmt hier auf verschiedensten Kanälen seine Verant-wortung wahr. Dazu gehören auch Aufforderungen derBundesregierung an Israel, den Bau neuer Häuser in denPalästinensergebieten zu überdenken.In der vorliegenden Form sind beide Anträge nichtzustimmungsfähig, weil die Umsetzung der Forderungenwiederum Fakten schaffen würde, anstatt einen offenenVerhandlungsprozess zu ermöglichen.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Rolf Mützenich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zuerst möchte ich darauf hinweisen, dass es noch immerisraelische Bürgerinnen und Bürger gibt, die auf der ei-nen Seite eine Debatte über die Voraussetzung für eineZwei-Staaten-Lösung in Israel selbst führen und auf deranderen Seite auch über die bisherigen Versäumnisse aufdem Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung sprechen.Ich bin beeindruckt gewesen, dass zum Beispiel ehe-malige israelische Soldaten mit einer wichtigen Fotoaus-stellung, die bis Ende September im Willy-Brandt-Haushier in Berlin gezeigt wird, auf das Schicksal der Palästi-nenserinnen und Palästinenser aufmerksam machen.
Es gehört zum Bau einer Friedensbrücke mit dazu, dasssich die Menschen mit wachen Augen begegnen, und da-für gilt mein Dank.Die Rahmenbedingungen, zu einer Friedenslösungzwischen Palästina und Israel zu kommen, sind in denletzten Jahren in der Tat schwieriger geworden. Deramerikanische Präsident Obama hat zumindest am An-fang seiner Amtszeit versucht, im Rahmen seiner Mög-lichkeiten Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass dieGespräche wieder aufgenommen werden.Die Spaltung der palästinensischen Bewegung ist einHindernis auf diesem Weg, aber es hat in den letztenMonaten nach meinem Dafürhalten durchaus den Ver-such gegeben, insbesondere Präsident Abbas zu legiti-mieren, wieder Friedensverhandlungen zu führen.Im Nahen und Mittleren Osten liegt der Fokus auf denUmbrüchen in der arabischen Welt und insbesondere aufder humanitären Katastrophe in Syrien. Dennoch hat esunter diesen schwierigen Bedingungen Chancen gege-ben. Leider hat es die Bundesregierung versäumt, dieseChancen zu ergreifen. Ich will in diesem Zusammen-hang auf drei Punkte aufmerksam machen.Erster Punkt. Wir hatten die Chance einer Aufwer-tung der palästinensischen Vertretung hier in Deutsch-land. Ich unterstelle dem Außenminister durchaus gutenWillen, aber ich glaube, er ist am Bundeskanzleramt undletztlich an der Bundeskanzlerin gescheitert. Es gehörtzu einer ehrlichen Debatte mit dazu, zuzugeben, dass wirhier die große Chance verpasst haben, der deutschenVerantwortung zumindest durch eine leichte Aufwertungder Palästinenser gerecht zu werden und auf die Interes-
Metadaten/Kopzeile:
23492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Rolf Mützenich
(C)
(B)
sen beider Staaten einzugehen. Ich finde, Sie hätten diestun können.
Zweiter Punkt. Hierüber hat es eine Debatte gegeben.Wir von der SPD haben dazu einen Antrag eingebracht.Es wäre gut gewesen, in den Unterorganisationen derVereinten Nationen eine gemeinsame Haltung der Euro-päischen Union zum Status Palästinas zu erarbeiten. Dashaben Sie nicht geschafft. Sie haben zum Beispiel auchdagegen gestimmt, dass Palästina eine wichtige Rolle inder UNESCO wahrnimmt. Dafür hat es aber eine Mehr-heit gegeben, wir waren auf der Ebene der Vereinten Na-tionen erneut in der Minderheit. Auch hier ist eine großeChance aufseiten der Bundesregierung verpasst worden,sozusagen leichte, neue Stützpfeiler für die Friedensbrü-cke aufzubauen.
Dritter Punkt. Nach dem Gaza-Krieg – dieser Mei-nung waren wir alle – gab es verschiedene Möglichkei-ten, auch Möglichkeiten aufseiten der israelischen Re-gierung. Ich sage ganz bewusst: der israelischenRegierung, weil ich in Israel andere Menschen, vielePolitiker, aber insbesondere eine lebhafte Zivilgesell-schaft, kennengelernt habe. Das Upgrade des Assoziie-rungsabkommens mit der EU ist wegen der Blockadedes Gaza-Streifens und wegen des fortgeführten Bausvon Siedlungen ausgesetzt worden. Was haben wir imSommer erlebt? Es wurden 60 Punkte für ein neues Up-grade beschlossen. Ich finde, Sie haben damit leichtfer-tig ein Instrument aus der Hand gegeben, mit dem Siedafür hätten sorgen können, dass die israelische Regie-rung ihr Verhalten ändert;
denn die israelische Regierung braucht die Zusammenar-beit mit der Europäischen Union.In der Tat versperrt der Siedlungsbau alle Wege inRichtung Frieden. Ich glaube, dass sollte vom DeutschenBundestag sehr deutlich gesagt werden.
Ich gönne dem Außenminister das Lob des General-sekretärs der Arabischen Liga, das er, glaube ich, gesternim Sicherheitsrat ausgesprochen hat. Ich habe überhauptkeine Bedenken bei diesem Lob, aber vielleicht solltesich die Bundesregierung fragen, ob dies möglicher-weise ein vergiftetes Lob war. Er hat nämlich Taten an-statt Worte gefordert, und genau daran mangelt es. Daswird deutlich, wenn man an diese Fragen erinnert. Ichglaube, der Bundesaußenminister sollte nicht immer nurgute Worte im Munde führen, sondern er sollte sichletztlich auch für Taten einsetzen. Daran mangelt es inder deutschen Politik, und daran wird gerade in diesemZusammenhang Kritik geübt.Wir alle wollen die Sicherheit Israels. Ich glaube,diesbezüglich gibt es über alle Fraktionsgrenzen hinwegüberhaupt keine Differenz.
– In einem demokratischen Gemeinwesen müssen SieUnterschiede anerkennen. – Dennoch besteht in einemdemokratischen Parlament die Möglichkeit, dass wir be-zogen auf einzelne Aspekte gemeinsame Anträge ein-bringen. So haben wir in den letzten Jahren hier einigeDinge gemeinsam beschlossen. Manchmal haben wirwortgleiche Anträge eingebracht, weil der eine oder an-dere nicht alle Fraktionen mit dabei haben wollte. Ichglaube, das war ein gutes Signal des Deutschen Bundes-tages, aber leider hat die Bundesregierung auch dieseChance nicht ergriffen.Wenn wir wollen, dass die Menschen in Israel in Si-cherheit leben, dann müssen wir die israelischen Partnerund die israelische Regierung fragen, mit wem sie glaubtin Zukunft einen Frieden schließen zu können, wennnicht mit diesem palästinensischen Präsidenten. Sie wirdauf keinen anderen stoßen, der die Hand ausstreckt. Ichwar erschüttert über seine Rede heute vor der General-versammlung der Vereinten Nationen. Daraus hat Frus-tration, daraus hat Hilflosigkeit und auch Resignationgesprochen. Wir werden uns noch wundern, was pas-siert, wenn dieser palästinensische Präsident Israel nichtmehr die Hand reichen kann, weil er nicht mehr dieKraft dazu hat und zurücktritt. Ich finde, die deutscheBundesregierung täte gut daran, den Worten Taten fol-gen zu lassen, damit eine der letzten Chancen möglicher-weise genutzt werden kann.
Deswegen möchte ich daran erinnern, dass die tat-sächliche Entwicklung auf das Ende der Zwei-Staaten-Lösung hinausläuft. Schon 1999 hat der damalige undheutige Verteidigungsminister Barak geäußert, Israelkönne weder als demokratischer noch als jüdischer Staatüberleben, wenn die Zwei-Staaten-Lösung scheitert. Un-klar ist mir, ob er heute noch so denkt; aber seine Mah-nung ist nach wie vor angebracht und bleibt aktuell.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vor zwei Stunden hat in New York Präsident Abbas ge-sprochen. Vor ungefähr einer Stunde hat Herr Netanjahugesprochen. Das Ganze findet in einem Kontext statt, deruns allen zunehmend Angst machen muss: Kriegsrheto-rik ist alltäglich geworden; es wird täglich darüber ge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23493
Dr. Rainer Stinner
(C)
(B)
sprochen, dass Angriffe unmittelbar bevorstehen. Ausdem Iran hören wir zum Beispiel immer wieder, dassdieses zionistische Regime vernichtet werden muss.Volker Perthes hat neulich in einem Beitrag in derSüddeutschen Zeitung eine Analogie zu 1914 gezogen.Damals haben viele Kräfte über Krieg gesprochen. Siehaben den Krieg quasi herbeigeredet, und dann ist dieserfurchtbare Krieg ausgebrochen. Ich glaube, das sindDinge, die uns gemeinsam bewegen müssen. Wir müs-sen sehen, in welchem Kontext über den Konflikt, überden wir heute debattieren, gesprochen wird.Angesichts des Tenors der beiden Anträge, in denenvieles Richtige steht – das ist gar keine Frage –, muss ichdas wiederholen, was ich in jeder Rede zu diesemThema sage: Wir müssen verstehen, dass im Zentrum je-der israelischen Politik die Sicherheit des Staates Israelstehen muss.
Wir müssen verstehen, dass die Lage in Israel außeror-dentlich sensitiv ist. Jeden Tag – das weiß die Öffentlich-keit nicht, weil das nicht immer in der Zeitung steht –werden Raketen auf Israel abgefeuert. Und wir wissen,dass im Südlibanon ein Arsenal von mehr als 45 000hochmodernen Raketen vorhanden ist, die Israel bedro-hen.
Das ist der Kontext, in dem Israel reagiert.Nun stimme ich durchaus der Auffassung zu, dass dieisraelische Siedlungspolitik sehr kontraproduktiv ist. Sieist völkerrechtswidrig. Die Bundesregierung sagt dasdeutlich, und zwar nicht nur allein, sondern im europäi-schen Verbund und auch im Rahmen der Vereinten Na-tionen. Es ist völlig richtig, dass die Siedlungspolitik einHindernis ist.Man muss sich fragen, was man mit solchen Anträgenbewirkt. Glauben Sie, dass Sie mit diesen Anträgenwirklich etwas erreichen und die Situation verbessern?Ich glaube, das ist nicht der Fall.
Man muss diese Anträge in einen Kontext stellen,zum Beispiel in den Kontext, den Herr Mützenich ebenrichtigerweise angesprochen hat. Nach meinem Dafür-halten – ich glaube, dieses teilen viele hier in diesemHaus, auch wenn es in den Anträgen nicht zum Aus-druck kommt – ist die Zwei-Staaten-Lösung in Gefahr,uns zwischen den Fingern zu zerrinnen. Wir halten jetzthier die Schimäre aufrecht, dass das ein Ziel ist, das wirnoch erreichen können, und doch wird es von Tag zu Tagunwahrscheinlicher, dass wir es erreichen. Wir müssenden Gesamtkontext sehen. Diesen können wir nur be-trachten, wenn wir wissen, in welcher Weise wir etwaserreichen können.Wir wissen – ich spreche jetzt den zweiten Antrag, indem es um den Status Palästinas geht, an –, dass wirnichts erreichen können, wenn wir nur einseitig Paläs-tina aufwerten und Palästina die Mitgliedschaft in derUNO verschaffen wollen, wie dies in Ihrem Antragsteht. Vielmehr müssen wir sagen, dass man nur gemein-sam etwas erreichen kann. Ich bin dafür – und das habeich schon vor einem Jahr hier gesagt; ich bitte die Bun-desregierung, dies auch durchzusetzen –, den Status Pa-lästinas aufzuwerten. Ich habe mich schon vor einemJahr für den Status ausgesprochen, den Sie leider immernoch als Vatikan-Status bezeichnen. Das klingt etwasverniedlichend. Das ist der Deutschland-Status, unterdem wir jahrzehntelang gelebt haben, und das ist auchder Schweiz-Status.
– Ja, richtig, aber diese Bezeichnung wird der Situationnicht gerecht. – Es ist eben kein Status nur für sehrkleine Staaten, sondern dieser Sonderstatus ist auch fürgroße Staaten veritabel. Ich bin dafür, dass wir als nächs-ten Schritt diesen Status einführen. Ich hoffe, dass dieBundesregierung die Kraft findet, diesen Schritt zu ge-hen und die europäischen Staaten hier entsprechend mit-zunehmen.Ich spreche mich aber, liebe Frau Kollegin Müller, ge-gen Ihre weitergehenden Forderungen aus, die Sie erho-ben haben. Das werden wir in den Ausschüssen beraten.In dieser Form ist der Antrag für uns bisher nicht zustim-mungsfähig.In dem ersten Antrag, also dem Antrag zu den C-Ge-bieten, steht auch sehr viel Richtiges. Ich habe meineMeinung zur Siedlungspolitik hier sehr deutlich zumAusdruck gebracht. Das war unmissverständlich, das hatjeder gehört und kann jeder nachlesen. Das ist gar keineFrage. Aber ich glaube, dass Sie auch mit diesem Antragnichts erreichen können, weil Sie der Komplexität desProblems und der gesamten Situation und Sicherheits-lage der Region mit diesem Antrag nicht gerecht wer-den. Deshalb befürchte ich, dass wir auch diesen Antrag,wenn er nach Debatten im Ausschuss nicht verändertwird, ablehnen werden.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die
Fraktion Die Linke.
Schönen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Um das auszugleichen, was KollegeStinner eben gesagt hat, möchte ich am Anfang ankündi-gen, dass wir den beiden Anträgen zustimmen werden,weil sie politisch richtig und vernünftig sind.
Metadaten/Kopzeile:
23494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Wolfgang Gehrcke
(C)
(B)
Darüber sollte man auch nicht entlang von Parteigrenzendebattieren.Ich muss Ihnen sagen: Es hat mich unendlich trauriggestimmt, einen völlig resignierten und verzweifeltenPräsidenten Abbas vor den Vereinten Nationen zu sehen.Es ist mir zu Herzen gegangen, diesen Mann, der – auchin den eigenen Reihen – so lange für einen Ausgleichzwischen Palästinensern und Israelis gekämpft hat, indieser Verfassung zu sehen. Am Ende bleibt ihm eigent-lich nur noch die Botschaft: Wir schmeißen alles hin. –Das darf man so nicht weitertreiben.
Ich war gerade wieder einmal in Israel und Palästina.Ich rede mir ja selber Mut zu: Meine Erfahrung ist, dassauch die Menschen in Israel einem zu Recht erklären:Die Zwei-Staaten-Lösung ist die beste Lösung, die manerhalten kann. Alle Eckpunkte der Zwei-Staaten-Lösungliegen vor, aber niemand glaubt mehr an ihre Umset-zung. Das ist das eigentliche Problem. Ich möchte, dasswir den Glauben an die Zwei-Staaten-Lösung erneuernund politisch untermauern; denn wir brauchen sie, umStabilität zu erhalten.Deswegen nenne ich Ihnen zuerst ein positives Bei-spiel, das mich sehr glücklich gestimmt hat. Ich habezwei Jahre lang mit jüdischen Freunden aus Israel undmit Palästinensern an einer Ausstellung von jungenKünstlerinnen und Künstlern gearbeitet, die unter demNamen „Wonderland“, Wunderland, in Haifa eröffnetworden ist. Sie wird im Februar 2013 im Bundestag ge-zeigt. Das ist für mich ein Projekt, mit dem man prak-tisch nachweisen kann, dass Palästinenserinnen und Pa-lästinenser sowie Jüdinnen und Juden an einer gemein-samen Sache arbeiten können und dass dadurch alle rei-cher und klüger werden.Ich möchte dieses Beispiel auf die staatliche Ebeneübertragen. Durch die Zwei-Staaten-Lösung gewinnen ineinem solchen Prozess alle, wenn man sie ernsthaft willund nicht nur darüber redet. Hören Sie sich nur die Re-den von Netanjahu an. Er spricht zwar von einer Zwei-Staaten-Lösung. Aber schon in seinen Reden wird deut-lich, dass er politisch das Gegenteil betreibt; in der poli-tischen Praxis wird das erst recht deutlich. Was Netanjahuvorschlägt, ist ein Israel bis an die Grenzen des Jordans,das mithilfe von Siedlungen durchgesetzt werden soll.Es reicht aber nicht, nur verbal gegen diese Siedlungenzu protestieren, sondern man muss auch klarmachen,dass diese Siedlungen das Ende der Zwei-Staaten-Lö-sung bedeuten.Die Palästinenser haben angeboten, dass sie, was dieSiedlerinnen und Siedler betrifft, eine Zweistaatlichkeitfür möglich halten, dass sie also die israelische und diepalästinensische Staatsbürgerschaft haben könnten. Hierpassiert also sehr viel. Ich bin glücklich, dass die Palästi-nenser nicht zu einer neuen Intifada aufrufen, sondernversuchen, das Prinzip der Gewaltfreiheit in der Politikdurchzusetzen. Wäre es nicht notwendig, dass diesesParlament endlich einmal sagt: „Das ist eine richtigeEntscheidung, und wir helfen euch dabei, eure Rechte zuverteidigen“? Solche Signale brauchen wir.
Das Grundproblem ist die Besatzung. Die Besatzungmuss beendet werden. Kerstin Müller und ich waren imgleichen Ort; Susa heißt die kleine Stadt. Wer in Hebronan der Grenze gestanden hat, versteht, dass es so nichtweitergehen kann. Ich finde, das müssen auch wir alsMitglieder des Deutschen Bundestages Israel sehr deut-lich sagen.Ich erwarte von der Bundesregierung – es ist übrigensinteressant, dass niemand hierzu etwas gesagt hat –, dassman in der Vollversammlung der Vereinten Nationendem minimalen Vorschlag, den Palästinensern einen Be-obachterstatus zu verleihen – das ist der sogenannte Vati-kan-Status –, zustimmen wird und dass man in Europadafür wirbt, damit man endlich einen Schritt voran-kommt.
Was wollen Sie Präsident Abbas denn anbieten? Wassoll er seinen Leuten sagen, wenn es um die Gewaltfrei-heit geht? Er hat doch nichts in der Tasche, und ihm istnichts in die Tasche gesteckt worden. Das sind dieDinge, die geändert werden müssen. Ich möchte, dasswir diesen Mut zusammen aufbringen.Ich freue mich über die Ausstellung im Willy-Brandt-Haus mit dem Titel „Das Schweigen brechen“. Ich warda und muss sagen: Das ist eine sehr beeindruckendeAusstellung. Ich finde es toll, dass das Willy-Brandt-Haus der Gastgeber ist. Im Bundestag werden wir imRahmen der Ausstellung „Wonderland“ sehen können,wie ein politischer Konflikt kulturell verarbeitet wird.Ich lade Sie dazu ein und bitte Sie, solche gemeinsamenProjekte zu unterstützen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist schon fast ein Ritual: Es ist September, in NewYork tagt die Generalversammlung der Vereinten Natio-nen, und wir diskutieren im Deutschen Bundestag zumwiederholten Mal über den israelisch-palästinensischenKonflikt.Noch vor einem Jahr hat Präsident Abbas seine Initia-tive gestartet, die Palästinensische Autonomiebehörde
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23495
Thomas Silberhorn
(C)
(B)
als ordentliches Mitglied in die Vereinten Nationen auf-zunehmen. Ein Unterausschuss der Vereinten Nationenhat festgestellt, dass es nicht möglich sei, eine einstim-mige Empfehlung zu diesem Antrag abzugeben. Seitherwird dieses Anliegen von palästinensischer Seite nichtweiter forciert. Es ist auch fraglich, ob es dafür eine Zu-stimmung im Sicherheitsrat geben würde.Trotzdem unternimmt die palästinensische Seite er-neut den Versuch einer Internationalisierung des Kon-flikts, und sie unternimmt einen erneuten Anlauf aufdem New Yorker Parkett. Der Sinn scheint mir nichtganz klar zu sein, auch wenn natürlich zu erwarten ist,dass man die Anerkennung als staatliches Nichtmitgliedanstrebt. Klar ist aber, dass Deutschland einem einseiti-gen Vorstoß auch weiterhin nicht wird zustimmen kön-nen. Das ist die konsistente Linie der Bundesregierung,die wir auch beibehalten wollen: keine einseitigen Ma-növer, sondern direkte Gespräche ohne Vorbedingungen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es würde inder Tat Sinn machen, wenn beide Seiten Energie undKreativität in direkte Friedensgespräche und nicht in ein-seitige Schritte stecken würden, die die israelische Posi-tion im Übrigen aller Erwartung nach nicht verändernwürden. Bei einseitigen Schritten besteht auch die Ge-fahr, dass es zu Eskalationen kommt, die wir alle geradejetzt, in einer Zeit aufgeheizter Stimmung, in der wir al-les tun sollten, um eine weitere Verschärfung der Lagezu vermeiden, nicht wollen.Der Friedensprozess stockt seit längerem, und es istrealistischerweise wohl auch nicht mit neuer Bewegungvor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen und vorder Bildung einer neuen US-Regierung zu rechnen, zu-mal Präsident Obama mit einer Grundsatzrede im Juliund mit dem Bekenntnis zu einer Lösung, die Israel inden Grenzen von 1967 sieht, eine Position definiert hat,die für Israel noch immer unannehmbar scheint.Trotzdem wäre es hilfreich, wenn es in den Verhand-lungen zwischen Israel und den Palästinensern neue Be-wegung geben würde. Man verheddert sich aber nachwie vor in Bedingungen und Gegenbedingungen. Mansetzt sich nicht an einen Tisch und ist noch nicht einmalin der Lage, sich zunächst pragmatisch um die konkretenProbleme der Bürger zu kümmern.
Ich bin überzeugt, dass vor allem Israel von einer dau-erhaften Friedenslösung profitieren würde. Das würdeIsrael nämlich nicht nur aus dem Fokus der Kritik derarabischen Straße nehmen, sondern auch Mittel für In-vestitionen in Wirtschaft und Gesellschaft freisetzen, dieangesichts immer wieder aufflammender sozialer Pro-teste in der Region dringend nötig wären.Wir müssen aber konstatieren, dass wir auf der israe-lischen Seite derzeit nur wenig Interesse sehen, sich denVerhandlungen mit den Palästinensern zu widmen. Fastim Gegenteil: Es wird über die Gefahr eines iranischenNuklearschlags diskutiert. Damit wird der Fokus natür-lich auf ein Thema außerhalb des Israel-Palästina-Kon-flikts gelenkt. Gleichzeitig geht der Siedlungsbau – dasist angesprochen worden – unvermindert weiter. Hierteilen wir die Position, die im Antrag der Grünen formu-liert wird. Insbesondere in der Westbank ist die Lage be-sonders unbefriedigend, was sowohl die EuropäischeUnion als auch die deutsche Seite immer wieder anmer-ken.Die Sorge, dass Fakten geschaffen werden, die eineZwei-Staaten-Lösung in immer weitere Ferne rücken, istschon begründet, zumal die wirtschaftlichen Perspekti-ven für die palästinensischen Gebiete nicht besser wer-den. Gerade weil deutsche Entwicklungsprojekte in derRegion betroffen sind, muss diese israelische Siedlungs-politik immer wieder thematisiert werden, was nachmeiner Kenntnis auch geschieht.Es mag monoton klingen, aber eine dauerhafte Frie-denslösung zur Stabilisierung der Lage im Nahen Ostenwird es nur mit Gewaltverzicht der Palästinenser ein-schließlich einer Anerkennung Israels geben; das istschon angesprochen worden.Man wird aber auch nicht darum herumkommen, dieHamas einzubeziehen, die im Zuge der arabischen Revo-lutionen stärker geworden ist und sich besser vernetzthat. Genauso werden wir im Übrigen in der Zukunft mitden Muslimbrüdern als relevante Akteure auskommenmüssen. Man kann sich seine Verhandlungspartner ebennicht immer aussuchen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Kernele-mente einer Verhandlungslösung liegen seit langem aufdem Tisch. Neu ist aber: Die Weichen im Nahen Ostenwerden in dieser Zeit neu justiert. Kurzfristiges Denkenin Nullsummenkategorien wird es in Zukunft immer we-niger geben können. Die Zeichen stehen auf Emanzipa-tion und hoffentlich zunehmend auch auf Demokratisie-rung.Deshalb wird es nicht viel weiterhelfen, wenn die eineSeite versucht, auf internationaler Bühne immer wiederKnalleffekte zu setzen, die am Ende wirkungslos blei-ben, und die andere Seite versucht, dauerhaft rechtlichverbindliche Abreden zu unterminieren. Beide Seiten tä-ten besser daran, aufeinander zuzugehen und sich füreine kluge Steuerung einzusetzen.Deswegen dürfen wir nicht müde werden, zu appellie-ren: Setzt euch an einen Tisch! Dieser Konflikt brauchtdirekte Gespräche ohne Vorbedingungen auf beiden Sei-ten.Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Wieczorek-Zeul das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin ge-hört, was Herr Stinner gesagt hat. Er hat sich dafür aus-gesprochen, dass Deutschland den Antrag, den Präsident
Metadaten/Kopzeile:
23496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Heidemarie Wieczorek-Zeul
(C)
(B)
Abbas heute in der UN-Generalversammlung angekün-digt hat, unterstützt. Ich habe Herrn Silberhorn so ver-standen, dass er das für falsch hält. Wir haben Vertreterder Bundesregierung hier. Ich erwarte, dass hierzu eineklare Aussage gemacht wird.
Der Wunsch nach Unterstützung dieses Antrages ist inder Breite des Deutschen Bundestages sehr deutlich vor-handen.Das ist für die Palästinensische Autonomiebehördevielleicht die allerletzte Chance, hier einen Erfolg zu er-zielen. Diese Behörde ist im Grunde doch die einzige aufder palästinensischen Seite, die sagt: Wir wollen Ver-handlungen, wir wollen gewaltfreie Lösungen. Wer die-sen Antrag, der bald in der UN-Generalversammlungvorliegen wird, ablehnt, der bestärkt nur diejenigen, diegewaltsame Lösungen wollen. Deshalb müssen wir dazubeitragen, dass Abbas mit seiner Initiative einen Erfolgerzielt.Es wird eine klare Mehrheit in der Generalversamm-lung geben. Ich erwarte, dass die Bundesregierung nichtwieder verzögert, taktiert oder sich enthält. Das ist dasMindeste, was wir aus der heutigen Debatte lernen kön-nen.
Wünschen Sie noch einmal das Wort, Kollege
Silberhorn?
– Wir haben hier Regeln. Die Kurzintervention ist wäh-
rend der Rede des Kollegen Silberhorn angemeldet wor-
den. Da er jetzt auf eine Erwiderung verzichtet, schließe
ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9981 und 17/10640 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Elf-
ten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immis-
sionsschutzgesetzes
– Drucksache 17/10771 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer , Arnold Vaatz, Daniela
Ludwig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick
Döring, Michael Kauch, Birgit Homburger, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schienenlärm wirksam reduzieren – Schienen-
güterverkehr nachhaltig gestalten
– Drucksache 17/10780 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Sobald
die notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionen
vorgenommen sind, kann ich die Aussprache eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Daniela Ludwig für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wo möchten Sie lieber wohnen? An einer Autobahnoder an einer Zugstrecke?
Jetzt werden Sie vermutlich sagen: An keinem von bei-dem, wenn es irgendwie geht. Wenn Sie sich aber ent-scheiden müssten, müssten Sie nach geltender Rechts-lage erwidern: Dann lieber an einer Autobahn. Warum?Weil man hier bei gleichem Lärm mehr Lärmschutz be-kommt als an einer Zugstrecke. So jedenfalls geltendesRecht, geregelt in der 16. Bundesimmissionsschutzver-ordnung. Schienenlärm darf nämlich 5 dB lauter seinals Straßenlärm. Das nennt sich dann Schienenbonus.Oder anders: Der Lärmpegel an der Schiene muss we-sentlich lauter sein als an der Straße, bevor der Anwoh-ner ein Recht auf Lärmschutzmaßnahmen hat. Eine der-artige Bevorzugung der Schiene wird es, zumindestwenn es nach den Koalitionsfraktionen geht, demnächstnicht mehr geben, und das ist gut so.
Diese unterschiedliche Behandlung von Lärm wurdein den 70er-Jahren geschaffen, weil man damals glaubte,dass Schienenlärm als weniger störend empfunden wer-den würde als Straßenlärm. Das war damals vielleichtsogar noch nachvollziehbar; denn die Frequenz der Zügewar deutlich überschaubarer als heute, und auch der Gü-terverkehr hielt sich noch in Grenzen, die wir uns heut-zutage oftmals wünschen würden, wenn wir über Lärm-belastungen an Zugstrecken sprechen.Wie wir alle wissen, nimmt der Schienenverkehr mas-siv zu. Wir bemühen uns auch von staatlicher Seite,möglichst viel Güterverkehr auf die Schiene zu verla-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23497
Daniela Ludwig
(C)
(B)
gern. Dass dabei die Belastung der Anwohner auf schierunerträgliche Weise steigt, ist eine wenngleich logische,aber extrem unerfreuliche Konsequenz.Es kann also nicht mehr davon die Rede sein, dassSchienenlärm vielleicht nicht mehr ganz so schlimm istoder als nicht mehr ganz so schlimm empfunden wird.Denn wir wissen alle: Lärm macht krank. In der Fre-quenz, in der ihn sehr viele Anwohner in Deutschlandaushalten müssen, ist das schlimm genug, und das müs-sen wir auch so festhalten.Wir haben die fast schon absurde Situation, dass wirnachts, wenn es am leisesten ist, den meisten Lärm ha-ben, weil wir dann die Güterzüge über die Schienenschicken, während tagsüber die sehr leisen hochmoder-nen Personenzüge auf unseren Gleisen fahren. Deswe-gen ist es an der Zeit, die Privilegierung des Schienen-verkehrs durch einen besseren Lärmwert endlichabzuschaffen. Ich bin ausgesprochen froh, dass es unsnun endlich auch mit einem Gesetzentwurf und einemsehr guten Antrag gelingt, dies anzugehen.
Dass wir Maßnahmen umsetzen wie das Lärmsanie-rungsprogramm, das unter Rot-Grün angestoßen wurde– es ist ein sehr gutes Programm, das wir gerne weiter-führen; die 100 Millionen Euro im Jahr sind gut inves-tiertes Geld, um an bestehenden Strecken mehr Lärm-schutz für die Anwohner zu ermöglichen –, ist gut undrichtig und muss fortgeführt werden. Es ist aber auchrichtig, dass wir versuchen, den Lärm an der Quelle zubekämpfen, das heißt, leisere Bremssohlen und derenUmrüstung zu fördern. Dass ein leiser Zug weniger fürdie Trassenbenutzung zahlen muss als ein lauter Zug, istebenfalls richtig.
Aber auch diese Umrüstung kostet Geld und natürlichauch Zeit. Denn Sie alle wissen, dass nicht gerade wenigGüterzüge, nämlich 180 000, in Deutschland umgerüstetwerden müssen. Das kostet uns einige Jahre, und es kos-tet uns 300 Millionen Euro. Aber ich sage auch hier: Dasmuss es uns wert sein, wenn wir andererseits von denBürgerinnen und Bürgern Akzeptanz für große Schie-nen- oder Straßenprojekte verlangen.Deswegen sind wir hier auf einem guten Weg. Aufdiesem guten Weg passt es extrem gut ins Konzept, dasswir endlich den Schienenbonus angehen. Wie machenwir das? Mit der nächsten Änderung des Bundesschie-nenwegeausbaugesetzes 2016 und dem dazugehörigenBedarfsplan wird er nicht mehr angewendet.
– Jetzt kann man sagen, Frau Wilms – es war mir klar;Ihren Zwischenruf hatte ich an dieser Stelle eingeplant –:viel zu spät. Wissen Sie, wünschenswert ist vieles. Dabin ich sofort bei Ihnen. Wir glauben aber, dass sich dieAufgabenträger in sinnvoller Weise auf diese neue Tat-sache vorbereiten müssen. Wir haben große und lang-wierige Projekte, bei denen eine Umstellung innerhalbweniger Monate oder innerhalb von zwei Jahren einiger-maßen schwierig ist.Deswegen halte ich die Abschneidegrenzen, wie wirsie gewählt haben, für richtig für Schienenprojekte, fürdie das Planfeststellungsverfahren bis dahin noch nichteingeleitet wurde.
Sie sind logisch und politisch richtig.
Ich glaube, es ist auch an der Zeit, dass wir das ange-hen. Wir tun es wenigstens. Wir reden nicht nur darüber,sondern wir tun es auch, und das ist richtig.Ich verhehle nicht, dass es sicherlich den einen oderanderen Haushaltspolitiker geben mag, der jetzt vor lau-ter Schreck erst einmal umkippt, bildlich gesprochen,weil er sich sagt: Oh Gott, jetzt wird alles teurer.
Meine lieben Freunde, wenn uns die Gesundheit unserMitbürgerinnen und Mitbürger das nicht wert ist, dannweiß ich es nicht. Wir müssen schlicht und ergreifendspringen.Der Schienenbonus, wie er in den 70er-Jahren ent-standen ist, ist ein Relikt aus dieser Zeit. Er hat sichlängst überholt, ist nicht mehr sachgerecht und wird denmassiven Belastungen unserer Bürgerinnen und Bürgerdurch stark gestiegenen Verkehr nicht mehr gerecht.Deswegen ist es höchste Zeit, dass wir endlich diesesProjekt angehen und künftig statt des Schienenbonus lei-sere Zugstrecken haben.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Gustav Herzog für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! In diesemHause gibt es große Übereinstimmung, dass der Schie-nenlärm zurzeit die verkehrspolitische Herausforderungist. Millionen von Menschen sind erheblich belastet. Wirgehen nach volkswirtschaftlichen Schätzungen von10 Milliarden Euro an Schäden aus.Als Rheinland-Pfälzer, der häufig im Mittelrheintalunterwegs ist, weiß ich, was es bedeutet, wenn nachtsGüterzüge an den Häusern entlangfahren und 100 Dezi-bel Lärm und Erschütterungen verursachen. 100 Dezibelentsprechen einem Presslufthammer im Vorgarten. Ichglaube, wir stimmen darin überein, dass dies ein Endehaben muss.
Metadaten/Kopzeile:
23498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Gustav Herzog
(C)
(B)
Trotzdem gibt es eine strittige Debatte hier im Plenumund sicherlich später auch im Ausschuss. Aber diesestrittige Debatte liegt nicht an der Opposition. Bevor Sienachher wieder den Vorwurf bringen, wir hätten unterRot-Grün oder in der Großen Koalition keinen entspre-chenden Antrag eingebracht, möchte ich Ihnen sagen,dass ich mich auch nicht daran erinnern kann, dass je-mals ein Antrag von der FDP gekommen wäre, denSchienenbonus abzuschaffen, als Sie in der Oppositionwaren.
Also halten Sie den Rand in dieser Frage.Es liegen seit Frühjahr 2011 Anträge der SPD vor.Seit über einem Jahr gibt es entsprechende Anträge vonuns und auch von den Grünen. Auf der rechten Seite die-ses Hauses wurde deren Beratung immer wieder vertagt.Wir hatten im Dezember letzten Jahres eine viel-beachtete Anhörung. Auch danach haben Sie die Bera-tung unserer Anträge vertagt. Wir haben dann über dieGeschäftsordnung am 27. April dieses Jahres eineDebatte hier im Deutschen Bundestag erzwungen. Ichwill einmal zitieren – ich glaube, es ist auch für die Men-schen wichtig, das noch einmal nachzuvollziehen –, wasam Schluss des Zwischenberichtes unseres Ausschuss-vorsitzenden Toni Hofreiter steht:Im Obleutegespräch … wurde übereinstimmendfestgestellt, dass eine Aufsetzung der Vorlagen zurabschließenden Beratung derzeit am Einspruch derFraktionen der CDU/CSU und FDP scheitert, da dieAbstimmung zwischen den Koalitionsfraktionennoch nicht abgeschlossen ist.Drei Jahre arbeiten Sie Ihren Koalitionsvertrag ab.
Die Mövenpick-Steuer haben Sie in ganz kurzer Zeitdurchgesetzt. Da gab es keinen Zank zwischen denKoalitionsfraktionen und kein Problem bei der Ressort-abstimmung. Das haben Sie hinbekommen. Aber in ei-ner ganz wichtigen Frage für die Menschen sind Sie zer-stritten.Interessant ist, dass mein Kollege Michael Hartmannvon Herrn Staatssekretär Ferlemann als Auskunftbekam, dass die Ressortabstimmung am 26. April 2012begonnen hat, also einen Tag bevor wir die Debatte hierim Deutschen Bundestag erzwungen haben. Das ist mehrals ein Symbol dafür, dass wir diese Koalition in Fragendes Lärmschutzes nicht nur schieben, sondern treibenmüssen. Sie schaffen es nicht von alleine.
Ich frage mich immer, was der Kollege Fischer, denich seit 1998 als engagierten Verkehrspolitiker kenne– ich weiß, dass er sich in dieser Frage sehr stark enga-giert hat –, 2009 angestellt hat, dass er mit einem sol-chen Bundesverkehrsminister bestraft worden ist, sodasser über die Koalitionsfraktionen dafür sorgen muss, dassein Stückchen des Koalitionsvertrages umgesetzt wird.
In Ihrem Koalitionsvertrag schreiben Sie noch, dassSie den Schienenbonus stufenweise abschaffen wollen,und zwar in dieser Wahlperiode.
Jetzt will ich Sie einmal an Ihren eigenen Maßstäbenmessen. Sie haben einen Antrag und einen Gesetzent-wurf unter dem Motto vorgelegt: Wasch mich, abermach mich nicht nass! Ich kann mir auch erklären, wa-rum, nämlich weil Ihr Verkehrsminister gesagt hat: JedesDezibel weniger kostet mich 1 Milliarde Euro. Außer-dem hat Ihr Kanzleramtsminister Pofalla gesagt – demwurde bisher nicht widersprochen –: in dieser Wahlpe-riode nicht. Und damit hat er recht; denn 2016/2017,Frau Kollegin Ludwig, ist nicht mehr in dieser Wahlpe-riode. Da werden die Karten schon neu gemischt sein.Ihren Koalitionsvertrag können Sie also nicht umsetzen.Auch das, was Sie jetzt vorgelegt haben, ist doch nurweiße Salbe. Frau Kollegin Ludwig, ich weiß nicht, wa-rum Sie einen Herzinfarkt Ihrer Haushälter befürchten.Es steht doch nirgendwo, dass es mehr Geld gibt. ImGegenteil: Sie machen deutlich, dass alle Maßnahmenlänger dauern werden und dass Sie im Haushalt keinenzusätzlichen Euro bereitstellen wollen, um den Schie-nenlärm effektiv zu bekämpfen. Das müssen Sie denMenschen auch deutlich sagen.
Sie sind sehr locker darüber hinweggegangen, dassdie von Ihnen vorgesehenen Maßnahmen erst mit demInkrafttreten der Änderung des Bundesschienenwe-geausbaugesetzes 2017 wirksam werden. Aber alle Plan-feststellungsverfahren, die bis zu diesem Zeitpunkt lau-fen, werden noch nach altem Recht abgearbeitet. Ichkann Ihnen aufgrund meiner allgemeinen Lebenserfah-rung sagen: Es wird in den Monaten und Jahren zuvoreine Flut von Planfeststellungsverfahren geben, die allenoch nach altem Recht beschieden werden. Sie habengesagt: Demnächst wird der Schienenbonus abgeschafft.Mit „demnächst“ meinen Sie das Jahr 2020.
So können Sie mit den Menschen, die unter Schienen-lärm leiden, nicht umgehen.
Was bleibt bis dahin zu tun? Ich hätte von Ihnen etwasmehr Engagement bei der Beschleunigung der Um-rüstung erwartet. Wir werden sehr genau darauf achten,ob das System, das Sie zu Umrüstung und Finanzierunganbieten, also der lärmabhängige Trassenpreis, funktio-nieren wird.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23499
(C)
(B)
Herr Kollege Herzog, gestatten Sie eine Zwischen-
frage oder Bemerkung des Kollegen Jarzombek?
Ja.
Kollege Herzog, Sie sind doch ein Abgeordneter aus
Rheinland-Pfalz. Durch Ihren Wahlkreis fahren ver-
dammt viele Güterzüge. Ich hatte eigentlich erwartet,
dass Sie am heutigen Tag sagen: Es ist ein großer Erfolg
für die Menschen – auch in meinem Wahlkreis –,
dass endlich, nachdem zehn Jahre unter allen SPD-
Verkehrsministern nichts geschehen ist, der Durchbruch
geschafft ist und das Rheintal beruhigt wird. Warum
haben Sie nicht ein Mal gesagt: „Danke, ein toller Tag
für das Rheintal, ein toller Tag für Rheinland-Pfalz“?
Herr Kollege, als Rheinland-Pfälzer weiß ich, was
Schienenlärm bedeutet. Deswegen bin ich stolz auf die
rot-grüne Bundesregierung, dass sie überhaupt angefan-
gen hat, Mittel für die Lärmsanierung an der Schiene in
den Verkehrshaushalt einzustellen. Das waren wir. Wir
haben damals mit 50 Millionen Euro angefangen.
Ich glaube, Sie waren noch nicht Mitglied des Bundes-
tages, als wir dann die Mittel erhöht haben. Tun Sie also
nicht so, als ob in der Vergangenheit nichts passiert
wäre. Die ersten beiden Lärmschutzpakete haben sozial-
demokratische Minister auf den Weg gebracht. Wir
haben die Sache in Bewegung gesetzt. Sie sind leider
nicht in der Lage, mit dem notwendigen Schwung und
Engagement dies zu einem vernünftigen Ende zu
bringen.
Wir als Sozialdemokraten wollen, dass umgerüstet
wird, weil allein eine schnelle Umrüstung einen hörba-
ren Erfolg für die Menschen bringt. Es wird spannend
sein, zu beobachten, ob Ihr System, wonach der Trassen-
preis um 1 Prozent erhöht werden soll, um die Umrüs-
tung zu finanzieren, tatsächlich funktioniert. Ich jeden-
falls habe niemanden in der Wirtschaft oder bei der Bahn
getroffen, der mit Überzeugung gesagt hätte: Das, was
diese Bundesregierung vorlegt und was der Bundesver-
kehrsminister will, funktioniert.
Deswegen werden wir die parlamentarische Debatte
nutzen, um Sie weiterzutreiben. Wir werden Ihre Vor-
schläge in einer Anhörung auf den Prüfstand stellen. Der
Erfolg der Politik muss für die Menschen hörbar werden.
Mit Ihrer Politik wird uns das leider nicht gelingen.
Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Oliver
Luksic das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Unser Anliegen ist, den Lärm bei neuen Bahn-projekten durch die Abschaffung des Schienenbonus undbeim Bestand durch weitere Anreize zu reduzieren. Diechristlich-liberale Koalition will die Infrastruktur beimGüterverkehr weiter stärken. Kollege Herzog, elf Jahrehatten Sie Zeit. Sie haben es nicht hinbekommen. DieseKoalition bekommt es nun hin. Es ist richtig und not-wendig, dass wir das tun.
Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wirden Schienenbonus schrittweise reduzieren und ihnschließlich abschaffen.
Wir schaffen ihn jetzt ganz ab; denn er ist eine alte Privi-legierung aus den 70er-Jahren.
Der Bonus beruht auf einer überholten Annahme. Es gibtnämlich unserer Meinung nach beim Lärm keinen Unter-schied zwischen Straße und Schiene. Lärm ist Lärm, under ist eine Bedrohung für die Gesundheit.Kollege Herzog, die FDP-Bundestagsfraktion hatschon 2007 einen solchen Antrag gestellt, aber damalshat ein SPD-Verkehrsminister unsere Forderungen abge-lehnt. Insofern, Herr Kollege Herzog, machen Sie sicherst einmal schlau.
Klar ist: Steigende Mobilität verursacht hohe gesamt-gesellschaftliche Kosten. Der volkswirtschaftliche Scha-den durch Schienenlärm wird auf 800 Millionen Eurobeziffert. Deswegen ist es nachhaltige Verkehrspolitik,diesen Lärm zu reduzieren. Denn sonst wird das weitereWachstum des Schienenverkehrs – das ist ein besonderswichtiger Punkt, der zu Recht von Kollegin Ludwig an-gesprochen worden ist – beschränkt. Der Lärm droht zueinem Haupthindernis für die Verlagerung von Transpor-ten auf die Schiene zu werden. Lärmschutz ist uns andieser Stelle eine Herzensangelegenheit. Mit der vorhan-denen Stichtagsregelung ist die Umstellung machbar.
Metadaten/Kopzeile:
23500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Oliver Luksic
(C)
(B)
Mehr Güterverkehr kann nur durch mehr Akzeptanz er-reicht werden.Wir ergreifen weitere Maßnahmen zur Stärkung derInfrastruktur der Schiene. Ich nenne das nationale Lärm-schutzkonzept und die Vereinbarung zu lärmabhängigenTrassenpreisen. Für Lärmsanierungsmaßnahmen werden100 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt. DerEinstieg in die leise Technik wird belohnt. Besonderswichtig ist: Wir wollen mit dem Einstieg in lärmabhän-gige Trassenpreise marktwirtschaftliche Anreize zur An-schaffung leiserer Fahrzeuge setzen. Das ist ein Punkt,der der FDP-Bundestagsfraktion besonders am Herzenliegt.
Wir müssen dieses Thema in naher Zukunft natürlichauch auf europäischer Ebene angehen. Hier bestehtHandlungsbedarf, weil die Güterzüge, die in Deutsch-land rollen, nicht nur deutsche Züge sind. Deswegen istdas ein europäisches Thema.Wir werden, wie gesagt, auch im Eisenbahnregulie-rungsgesetz weitere Anreize setzen.
Wir freuen uns, dass wir das auf den Weg gebrachthaben. Es stimmt, dass es diesbezüglich Bedenken inner-halb der Koalition gab. Aber Sie haben das in elf Jahrennicht hinbekommen. Wir freuen uns über unserenErfolg. Wir haben einen wichtigen Schritt getan, um dieInfrastruktur der Schiene zu stärken. Das hat dieseKoalition hinbekommen, aber nicht die SPD. Es ist rich-tig, dass wir den Schienenbonus abschaffen. Leiderhaben Sie, Kollege Herzog, in dieser Hinsicht wenig hin-bekommen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte in Erinnerung rufen, worüber wir sprechen. Diegesundheitlichen Belastungen für die Leute im Mittel-rheintal und im Rheintal überhaupt durch die Güter-verkehrszüge sind nach Berechnungen von ProfessorGreiser mindestens doppelt so hoch, wahrscheinlichdreimal so hoch, wie die Belastungen von Menschen, diein Einflugschneisen von Flughäfen wohnen. Die Vorsor-gewerte, die jetzt für Neubaustrecken vorgesehen sind,mit deren Bau nach dem Gesetzentwurf, den Sie hiervorlegen, irgendwann nach dem Jahr 2016 begonnenwird, werden heute um das etwa Zehnfache überschrit-ten. Professor Greiser sagt, man müsse angesichts dieserWerte eigentlich von aktiver Körperverletzung mit mög-licher Todesfolge sprechen,
weil sich tatsächlich die gesundheitlichen Risiken enormsummieren.Jetzt wird am 1. Oktober unser Verkehrsminister, HerrRamsauer, in Bingen eine große Show veranstalten.
Er wird dort mit einem halbsanierten Güterzug auflaufenund zeigen, wie das Programm „Leiser Rhein“ dieEntlastung der Bürgerinnen und Bürger bewirken soll.Genau die gleiche Veranstaltung mit dem gleichen Vor-führzug ist 2007 in Bingen schon einmal vonstatten-gegangen, ohne dass sich für die Leute dort irgendetwasgeändert hat.Tatsächlich ist es mit dem Programm „Leiser Rhein“inzwischen gelungen, 1 250 der 800 000 Güterwaggonszu sanieren, von denen die Kollegin vorhin gesprochenhat. Das sind 0,7 Prozent. Das hören die Leute nicht, ge-nauso wenig wie sie hören, dass der Schienenbonus imJahr 2016 abgeschafft werden soll. Denn die Strecken,die vorhanden sind, werden überhaupt nicht saniert. Eswerden keine zusätzlichen Lärmschutzmaßnahmen ge-troffen. Das heißt, die Menschen haben von dem, wasSie hier heute beschließen werden, gar nichts. Sie fühlensich verhöhnt. Sie fühlen sich nicht ernst genommen. Siehaben vor allen Dingen nicht den Eindruck, dass dasProblem Lärmbelastung ernst genommen wird, genausoernst, wie Sie die wirtschaftlichen Interessen derjenigenUnternehmen nehmen, die ihre Güter durch das Rheintalrasen lassen.Es gibt in der Schweiz – die ist gar nicht weit entfernt –ein sehr gutes Beispiel dafür, wie mit Lärmschutz an Gü-terverkehrstrassen umgegangen werden kann. Da wirddamit sehr systematisch umgegangen. Da wird Lärm ge-messen. Da werden verschiedene Maßnahmen ergriffen.Da wird mit den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsamüberlegt, wie man es besser machen kann. Außerdemwerden da klare Festlegungen für das Ende der lautenGüterzüge getroffen. Wir haben im Verkehrsausschusseine Anhörung durchgeführt – Sie erinnern sich sicherdaran –, und alle dort vertretenen Unternehmen habengesagt: Es ist für uns überhaupt kein Problem, die Güter-züge auf leise Bremsen umzurüsten; aber die Politikmuss klare Vorgaben machen. Es muss eine Deadline ge-setzt werden, bis wann die Güterzüge umzurüsten sind.
Die Lärmsanierung der bestehenden Strecken würde– das haben wir bei der Bundesregierung erfragt –1,2 Milliarden Euro kosten. Sie wollen die ganze Ge-schichte kostenneutral organisieren. Das wird nicht klap-pen. 1,2 Milliarden Euro, hört sich viel an. Aber wennich bedenke, dass der Bundesverkehrsminister damiteinverstanden ist, dass ungefähr 1,6 Milliarden Euro fürdie Förderung der Automobilindustrie zur Entwicklung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23501
Sabine Leidig
(C)
(B)
von Elektroautos eingesetzt werden und dass man mitdiesem Geld eigentlich die Elektromobilität auf derSchiene vernünftig gestalten könnte, nämlich mit ordent-lichem Lärmschutz, dann finde ich die Situation nachge-rade skurril.
Ich möchte zum Schluss sagen, dass die Bürgerinitia-tiven, die im Rheintal sehr aktiv sind, eine sehr konkreteForderung haben, deren Umsetzung sie ganz schnell undganz sicher entlasten würde, nämlich ein Nachtfahrver-bot für laute Güterzüge.
Dieselben Forderungen erheben die Flughafeninitiativenim Hinblick auf den Flugverkehr. Ich kann Ihnen sagen:Wenn Sie die Leute nicht ernst nehmen, dann werdensich die Auseinandersetzungen dort zuspitzen. Die Bür-gerinitiativen gegen Fluglärm haben es geschafft, einNachtflugverbot durchzusetzen. Das ist noch nicht ge-nug, aber es ist etwas. Flieger können von den Bürgerini-tiativen nicht gestoppt werden; aber Zuggleise sind zu-gänglich. Die Bürgerinitiativen, die Bürgerinnen undBürger befinden sich an der obersten Belastungsgrenze.Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie dort nochIhr blaues Wunder erleben.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Dr. Valerie Wilms das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns das so an-hören, was die Kolleginnen und Kollegen eben schongesagt haben: Es ist erschütternd. Wir bekommen schonseit langem keine vernünftigen Begründungen mehr da-für, dass der Schienenverkehr doppelt so laut sein darfwie der Straßenverkehr. Man muss es sich auf der Zungezergehen lassen: Der sogenannte Schienenbonus in Höhevon 5 Dezibel, also eine Prämie für die Schiene, gehteinher mit einer Verdopplung der Lautstärkewirkung.Das ist etwas, worum wir uns wirklich dringend küm-mern müssen.Auf diesen Gesetzentwurf haben wir schon lange ge-wartet. Wir können uns fragen, warum dieser EntwurfEwigkeiten zwischen den Ressorts hin- und hergescho-ben wurde. Das können wir aber auch sein lassen; dennein solches Verhalten ist ja bei allem der Fall, was dieseRegierung in ihrer Endzeitstimmung anfasst.
Im Detail hat sich im Vergleich zu den ersten Entwür-fen jedenfalls nichts Wesentliches geändert. Grundsätz-lich kann man sagen: Die Sache ist richtig, notwendigund vor allem dringend. Sie ist aber nur ein Detail einesgroßen Problems. So wie Sie das Ganze jetzt angelegthaben, wird es zunächst nur ganz wenigen helfen, dievom Verkehrslärm betroffen sind.Erst nach dem nächsten Bundesverkehrswegeplansollen neue Schienenstrecken leiser gebaut werden. Dasmüssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen:Dieser muss eigentlich 2015 beschlossen werden. DieErfahrungen lehren uns allerdings, dass es, sofern es gutgeht, 2016 oder eher 2017 sein wird. Und mit dem vonHerrn Herzog schon angesprochenen kleinen Kniff kannder Vorhabenträger besonders genial vorgehen: Dannschiebt er alles nach hinten, indem er vorher mit derPlanfeststellung für all die Projekte, die er noch durch-ziehen will, beginnt, und schon haben wir 2020 und nochspäter.Jeder weiß, dass sich der Bau von Schienenprojektenüber Jahrzehnte hinziehen kann. Das ist vor allem dannder Fall, wenn die Mittel nicht reichen. Dafür haben wirein besonders unrühmliches Beispiel, das wir eigentlichbis 2020 fertigstellen sollten. Ich denke da an die Rhein-talbahn. Der Entwurf hält nämlich ausdrücklich fest,dass kein zusätzliches Geld ausgegeben werden soll.Dann wird alles noch länger dauern.Wer Pech hat, bekommt auch noch in vielen Jahreneine neue Schienenstrecke in alter Lautstärke vor dieNase gesetzt. Soll das etwa eine ernsthafte Lösung fürdie von Güterzuglärm geplagten Anwohner sein? Wohlkaum. Hinzu kommt, dass es auch nur für Neubaustre-cken in ferner Zukunft gilt. Das eigentlicheProblem – beispielsweise das Mittelrheintal – sind diebestehenden Strecken, aber die haben Sie, werte Kolle-ginnen und Kollegen von der Koalition, im Gesetzent-wurf explizit ausgeschlossen.
Alte Strecken sind laut und dürfen es Ihrer Meinungnach bleiben.Es wird keinen Rechtsanspruch auf Sanierung beste-hender Strecken geben. Nur wenn es im Haushalt ent-sprechende Mittel gibt, kann überhaupt etwas passieren.Die Koalition lehnt aber eine Erhöhung der Mittelab – auch das steht in Ihrem Gesetzentwurf –, und dannschauen die Betroffenen noch lange in die Röhre.
Das alles zeigt uns: Auf die größte Frage des Problemshat diese Koalition in der Endzeit keine Antwort.
Die Kernfrage lautet letztendlich: Wollen wir als Ge-meinschaft, als Gesellschaft auf Kosten von Millionenvon Menschen weiter Krach machen? Darum geht es,und darüber müssen wir diskutieren.Verkehrslärm ist neben Luftverschmutzung der zweit-größte Verursacher von Gesundheitsrisiken. Auch so-ziale Folgen sind spürbar, weil ärmere Menschen häufigan lauten Orten – diese sind nämlich billiger – leben. Die
Metadaten/Kopzeile:
23502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Valerie Wilms
(C)
(B)
standortbedingten gesundheitlichen Probleme verstärkensich damit weiter.Das, Kolleginnen und Kollegen, sind die Probleme,über die wir reden müssen. Das sind die Probleme, fürdie wir eine Lösung brauchen. Aber leider hilft uns IhrGesetzentwurf dabei keinen Schritt weiter.
Wir brauchen deswegen eine breite gesellschaftlicheDebatte. Lassen Sie uns darüber reden, wie lange Men-schen noch unter Verkehrslärm leiden sollen. Wir müs-sen diskutieren, was uns das wert ist. Es geht nicht nurallein um die Abschaffung des Schienenbonus; ichglaube, wir sind uns alle einig, dass es dazu kommenmuss. Vielmehr muss es jetzt darum gehen, wie wir dieMittel dafür generieren können – und zwar schleunigstund nicht erst 2020 oder noch später.
Kollegin Wilms, achten Sie bitte auf die Zeit.
Dem müssen wir uns stellen – Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluss –; denn alles andere ist nur Placebo
oder maximal eine Beruhigungspille. Die wollen Sie der
Tribüne zwar verpassen, aber sie wird die Ursache nicht
beseitigen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Steffen Bilger für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Als ich mich auf den Weg ins Plenum gemacht habe,habe ich eigentlich gedacht, uns könnte vielleicht dochein harmonischer Abschluss dieses Sitzungstages erwar-ten.
Denn im Ziel, der Abschaffung des Schienenbonus, sindwir uns alle einig. Dann habe ich allerdings, FrauDr. Wilms, Ihren Twitter-Beitrag gelesen und die Redevon Herrn Herzog gehört und festgestellt: Die Opposi-tionsreflexe dominieren leider auch diese Debatte.
– Ich kann Ihnen sagen, lieber Herr Kollege Herzog:
Wir haben nicht nur im Koalitionsvertrag festgeschrie-ben, dass wir den Schienenbonus abschaffen, sondernwir haben uns bereits im März 2011 in unserem Antragzur Rheintalbahn dazu bekannt, und ich kann Ihnen ver-sichern, dass auch der Bundesverkehrsminister für dieAbschaffung des Schienenbonus einsteht.
Nicht zuletzt deswegen können wir heute auch diesenAntrag vorlegen.Schon bei unserer letzten Debatte – daran erinnernmich einige Beiträge –, die im April 2012 – KollegeHerzog hat es gesagt – stattgefunden hat, habe ich fürunsere Koalitionsfraktionen bekräftigen können, dasswir den Schienenbonus abschaffen wollen, und bereitsdamals – ich habe im Protokoll nachgelesen – musstenwir uns vorwerfen lassen, wir seien eine Koalition derVerweigerung und der Vertagung.
Wir würden nichts auf die Reihe kriegen. Das alles hatsich nun als das erwiesen, was es auch damals schonwar, nämlich reines Oppositionspoltern.
Ich kann mich nicht nur an die Debatte erinnern, son-dern auch an viel Unterstützung, die wir von den Bürger-initiativen bekommen haben, aber durchaus auch an kri-tische Nachfragen, wann denn dem LippenbekenntnisTaten folgen würden.Das ist heute der Fall. Die Koalition steht nach wievor ganz klar zu der Aussage im Koalitionsvertrag: Wirschaffen den Schienenbonus ab. Ich will deutlich ma-chen, dass der Schienenbonus heute nicht mehr zeitge-mäß ist. Damals, als der Schienenbonus eingeführtwurde, gab es Untersuchungen, die belegen sollten, dasses gerechtfertigt wäre, diesen Schienenbonus einzufüh-ren, weil bei dem Halbstundentakt, der früher üblichwar, der Schienenlärm eher verträglich sei, als es bei-spielsweise beim Straßenlärm der Fall sei. Heute, in Zei-ten, in denen die Zugtaktung sehr viel enger ist, wissenwir, dass dieser Schienenbonus nicht mehr zeitgemäß ist.Damals hat man auch gedacht, dass man der Bahn et-was Gutes damit tun würde, wenn der Schienenbonuseingeführt wird. Mittlerweile muss man sagen, dass eher
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23503
Steffen Bilger
(C)
(B)
das Gegenteil der Fall ist; denn für Schieneninfrastruk-turprojekte in der Zukunft wird es immer wichtiger, dassdie Akzeptanz bei der Bevölkerung gewährleistet ist.
– Zur Rheintalbahn komme ich gleich noch ausführlich,lieber Herr Kollege.Wir sind uns, glaube ich, alle darin einig, dass Schie-nenlärm eine enorme Belastung für die Bevölkerung dar-stellt. Deswegen wurde es auch zu einer Art Symbol fürdie Bevölkerung, wenn es um den Kampf für mehrSchutz vor dem Schienenlärm geht, den Schienenbonusabzuschaffen. Auch und gerade deshalb ist die Abschaf-fung des Schienenbonus ein Zeichen, dass wir das Lärm-problem sehen und verstanden haben, dass wir uns alsVerkehrspolitiker an diese Aufgabe machen müssen.
Dabei soll es aber nicht bleiben. Es kann noch vielmehr getan werden. Der Bund ist schon in der richtigenRichtung unterwegs: freiwilliges Lärmsanierungspro-gramm,
lärmabhängiges Trassenpreissystem und die Einführungneuer und damit leiserer Bremsen.Die Abschaffung des Schienenbonus ist aber nicht nurein Symbol, sondern sie wird massiv hörbar sein.
Wir haben es heute schon gehört: Das Privileg, auf derSchiene 5 Dezibel mehr Lärm produzieren zu dürfen, be-deutet im Klartext – das zeigen auch Studien beispiels-weise des Umweltbundesamtes –, dass der Lärmpegelum 50 Prozent höher ist. Das gilt es zu ändern.
Die Lärmschutzmaßnahmen werden aufgrund derAbschaffung des Schienenbonus deutlich umfassenderwerden. Das sind gute Nachrichten für die Menschen,die entlang der Bahnstrecken wohnen.
Damit wird endlich der Lärm nicht mehr abqualifiziert,sondern als das beschrieben, was er ist, nämlich als mas-siver Störfaktor.
Dabei – das will ich auch deutlich sagen – ist natür-lich klar, dass die Abschaffung des Schienenbonus erstfür Neubaumaßnahmen gelten wird, die ab Inkrafttretender nächsten Änderung des Bundesschienenwegeaus-baugesetzes im Jahr 2015 geplant werden.Wir bedauern sicherlich alle, dass nicht sofort eineRegelung für alle lärmgeplagten Anwohner gefundenwerden kann.
Aber wenn Sie einmal ehrlich sind, liebe Kollegen vonder Opposition, wenn Sie hier in der Verantwortung wä-ren und als Regierungsfraktion einen Antrag zur Ab-schaffung des Schienenbonus vorlegen müssten, wäreIhnen auch kein anderer Weg möglich.
Schließlich geht es hier um Planungen, die über denHaufen geworfen werden würden. Wir müssen auch da-ran denken, dass der Haushalt bei einer sofortigen Ab-schaffung des Schienenbonus infrage gestellt werdenwürde. Trotzdem ruhen wir uns nicht darauf aus.
Wir müssen daran arbeiten, dass der Verkehr in Deutsch-land insgesamt leiser wird. Deshalb finanziert der Bundunter anderem die Umrüstung auf leise Güterzüge.
Meine Damen und Herren, schon lange beschäftigtuns das Thema Schienenlärm im Bundestag. Als Koali-tionsfraktion haben wir uns bereits im März 2011 in un-serem Antrag zur Rheintalbahn dafür eingesetzt, dassdieses wichtige Bahnprojekt so geplant wird, als wennder Schienenbonus bereits abgeschafft wäre. Daraufhatten wir uns – die Wahlkreisabgeordneten ArminSchuster und Peter Götz können es bestätigen – mit denanderen Beteiligten, mit den Bürgerinitiativen, mit denLandesregierungen, mit der Bundesregierung, mit denkommunalen Vertretern und der Deutschen Bahn ver-ständigt. Das kann doch ein gutes Beispiel auch für an-dere Projekte sein.
Abschließend kann ich meine Forderung aus der letz-ten Debatte nur wiederholen: Es würde uns in Deutsch-land sehr helfen, wenn die Europäische Union mittelfris-tig nur noch leise Güterzüge in Europa zulassen würde.Ein wichtiger Schritt für mehr Lärmschutz ist getan,sobald unser Gesetzentwurf beschlossen ist. Lassen Sieuns doch gemeinsam daran arbeiten, dass weitereSchritte folgen.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
23504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(C)
(B)
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Judith
Skudelny.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich wundere mich über den einen oder an-
deren Redebeitrag.
Ich spreche oft mit den Bürgerinitiativen vor Ort, die
sich seit Jahren für die Abschaffung des Schienenbonus
einsetzen.
Die meisten Parteien, die jetzt dagegen – ich sage
einmal – maulen, dass wir nicht schnell genug sind und
zehn Jahre gar nichts getan haben, müssten eigentlich
ganz froh sein über unseren Gesetzentwurf.
– Natürlich muss ich lachen, weil Sie wissen, dass es für
die Bürger im Rheintal nicht rechtzeitig kommen würde,
selbst wenn wir morgen den Schienenbonus abschaffen
würden.
Es geht darum, einen modernen, leistungsfähigen, zu-
kunftsorientierten und menschenfreundlichen Schienen-
verkehr für kommende Generationen zu schaffen.
– Mehr als alle Regierungen vorher.
Jetzt bitte eine Zwischenintervention.
Diejenigen, die hier am lautesten schreien, haben in
den letzten Jahren am wenigsten gemacht.
Dieser Gesetzentwurf ist nicht wegen der Opposi-
tionsparteien zustande gekommen, sondern wegen der
Bürgerinnen und Bürger der betroffenen Region, der
Rheintalschiene. Das ist richtig. Die haben sich seit Jah-
ren vor Ort in Bürgerinitiativen, in Kommunalräten, bei
den Bürgermeistern, aber auch bei den Bundespolitikern
dafür eingesetzt. Sie haben E-Mails geschrieben und im
Vorder- und Hintergrund gearbeitet, damit heute und hier
endlich der richtige Schritt in die richtige Richtung ge-
macht wird.
Der heutige Gesetzentwurf geht in die richtige Rich-
tung.
Wir haben vorhin gehört, dass Rot-Grün die Lärmsanie-
rung mit 50 Millionen Euro eingeführt hat. Ich darf Ih-
nen gratulieren. Wir haben bis heute den Betrag verdop-
pelt.
Es ist richtig, dass Kinderlärm privilegiert ist.
– An die Zwischenblöker von links: Ich muss lachen,
weil mich die Debatte amüsiert, weil Sie so viel Quark
erzählen, dass mir kaum noch etwas anderes einfällt, au-
ßer zu lachen.
Es ist durchaus richtig, dass Kinderlärm privilegiert
ist. Auch das hat die
schwarz-gelbe Koalition gemacht. Das haben die ande-
ren nicht geschafft. Oppositionslärm ist hinzunehmen.
Nicht hinzunehmen ist Lärm von Güterverkehr, der bis-
her gegenüber dem Straßenverkehr privilegiert war und
künftig nicht mehr privilegiert sein wird.
Liebe Kollegen, überlassen Sie der Kollegin
Skudelny bitte überwiegend das Wort.
Meine Damen und Herren, ich beende diese lustigeDebatte damit, zu sagen, dass wir immer die richtigenSchritte gemacht haben, die Sie nicht auf die Reihe be-kommen haben. Ich freue mich auf die Debatten im Aus-schuss.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23505
(C)
(B)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/10771 und 17/10780 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 8 a und 8 b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung personenbeförde-
rungsrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 17/8233 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
Martin Burkert, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn,
Dr. Valerie Wilms, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung personenbeförderungs- und
mautrechtlicher Vorschriften
– Drucksachen 17/7046 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/10857 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel
Sören Bartol
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu dem Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Thomas Lutze,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Keine Liberalisierung des Buslinienfernver-
kehrs – Für einen Ausbau des Schienenver-
kehrs in der Fläche
– Drucksachen 17/7487, 17/10857 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel
Sören Bartol
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und Bünd-
nis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen
Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde
vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer.
D
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Bei diesem Tagesordnungspunkt gibt es sicherlich
keine lustige, sondern vielmehr eine friedliche und kol-
legiale Debatte.
– Der Kollege von der Linksfraktion hat zu diesem Frie-
den nichts beigetragen.
Ich möchte mich zunächst sehr herzlich für die gute
politische Kultur unter den Kolleginnen und Kollegen
bedanken. Wir haben eine Einigung erzielt zwischen
CDU/CSU, SPD, den Grünen und der FDP. Vier Fraktio-
nen im Deutschen Bundestag zusammen mit den Bun-
desländern haben für die Lebenswirklichkeit der Perso-
nenbeförderung in Deutschland einen guten und sehr
demokratischen kollegialen Beitrag geleistet. Herzlichen
Dank dafür.
Obwohl es jetzt 22.50 Uhr ist, wäre gerade dieses für
die Verkehrspolitik doch sehr wichtige Reformprojekt
gut dafür geeignet gewesen, dass die Medien etwas öf-
fentlichkeitswirksamer hätten darüber berichten kön-
nen, anstatt es lediglich irgendwo in einem Einspalter
darzustellen. Insbesondere angesichts der Vergabesitua-
tion in den Kommunen im Hinblick auf die Personenbe-
förderungsrealität hätte die Tatsache, dass jetzt auch die
Liberalisierung der Fernbuslinien verwirklicht wird,
mehr Raum in der öffentlichen Diskussion verdient ge-
habt.
Ich denke, dass verkehrspolitisch ein Riesenschritt
gemacht wurde, nämlich zum einen beim Schienenbonus
für die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger – darüber
wurde vorhin diskutiert – und zum anderen mit Blick auf
die Lebenswirklichkeit der Personenbeförderung vor Ort
in den Gemeinden, in den Städten.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Dr. Seiffert?
D
Ja, natürlich.
– Wir haben doch Zeit.
Metadaten/Kopzeile:
23506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(C)
(B)
Meine lieben Damen und Herren, Sie hätten ja den
Tagesordnungspunkt weiter nach vorne setzen können,
wenn Ihnen das jetzt zu spät ist für diese Frage.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie die vier Fraktionen
gelobt haben, sind Sie bereit, zumindest einen Satz dazu
zu sagen, dass es großen Drucks aus der Behindertenbe-
wegung in ganz Deutschland bedurfte, Sie überhaupt auf
den Gedanken zu bringen, bei der Liberalisierung des
Fernreiseverkehrs auch an barrierefreie Busse zu den-
ken, obwohl das die UN-Behindertenrechtskonvention
als geltende Gesetzesgrundlage in Deutschland zwin-
gend vorschreibt?
D
Wissen Sie, Herr Kollege, ich habe jetzt noch fünf
Minuten und drei Sekunden Redezeit auf der Uhr stehen;
ich wäre schon noch dahin gekommen.
Sie hätten auch noch Ihr Lob abbekommen.
Lassen Sie mich diese fünf Minuten noch reden. Ich
hätte auch noch den Behindertenbeauftragten Hubert
Hüppe hervorgehoben. Wir hatten zahlreiche Gespräche
mit den Berichterstattern, woran sich die Linksfraktion
nicht beteiligt hat.
Wir aber haben wenigstens die Berichterstattergespräche
mit den Behindertenverbänden und dem Behinderten-
beauftragten geführt. Hierzu wäre ich noch gekommen.
Wenn Sie schon diesen Punkt herausgreifen, dann las-
sen Sie mich sagen: Es ist ein guter Schritt, dass auch die
Verbände der Behinderten dazu bereit waren, Kompro-
misse einzugehen und von den Maximalforderungen ab-
zuweichen. Dieser Gesetzentwurf wurde insgesamt sie-
ben Jahre lang mit den verschiedenen Mehrheits-
verhältnissen und in den verschiedenen Entwurfsstadien
diskutiert. Dass wir jetzt miteinander diese Lösung er-
zielt haben, zeigt, wie kompromissbereit dieses Haus in
den einzelnen Fraktionen ist. Es ist hervorzuheben, dass
alle Beteiligten – die vier Fraktionen, die Bundesländer,
die Verbände – ihren Beitrag zu diesem Kompromiss-
werk geleistet haben.
Gerade im Hinblick auf die vollständige Barrierefrei-
heit haben wir natürlich auch Verpflichtungen, die zu er-
füllen wir uns vorgenommen haben. Aber bis dann 2020,
2022 diese Regelungen vollständig umgesetzt sein müs-
sen, ist es zumindest ein guter Kompromiss, dass wir bei
den Fernbuslinien für die Behinderten Plätze vorgesehen
haben, und zwar jeweils mindestens zwei Plätze für die
Rollstühle sowie die notwendigen Einstiegshilfen.
Neben diesen Punkten ist natürlich auch der Schutz
des öffentlichen Nahverkehrs von besonderer Bedeu-
tung. Im Fernbuslinienverkehr soll freier Wettbewerb
entstehen, um den Bürgerinnen und Bürgern komplette
Wahlfreiheit zu geben: Sie können jetzt natürlich nach
wie vor mit dem Pkw fahren, können aber genauso – wir
alle wünschen das – auf den Zug, auf die Schiene um-
steigen; diejenigen, die vielleicht nicht auf die Uhr
schauen müssen und mehr Zeit haben oder auf den Geld-
beutel schauen müssen, nämlich beispielsweise die Stu-
denten und die Rentnerinnen und Rentner, können auf
das Fernbuslinienangebot zurückgreifen. Das ist eine
gute Botschaft. Wir haben an dieser Stelle Liberalität in
der Mobilität erreicht. Das ist ein sehr guter Schritt.
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle erlaube ich
mir, die Kolleginnen und Kollegen hervorzuheben, die
daran mitgewirkt haben: Dirk Fischer, Sören Bartol,
Patrick Döring und Toni Hofreiter, die Berichterstatter
der verschiedenen Fraktionen, unter der Moderation von
Volkmar Vogel, vor allem auch die diversen Länderver-
treter, die Fraktionsmitarbeiter und die Mitarbeiter unse-
res Hauses. Sie haben sich, wie gesagt, mehrere Jahre
mit der nationalen Umsetzung kompliziertester Sachver-
halte von europäischer Ebene beschäftigen müssen. Die
Mitarbeiter Doose und Hamburger haben großen Einsatz
gezeigt; sie mussten mit unseren Fraktionsmitarbeitern
große Schmöker bearbeiten. Wenn ein Werk gut gewor-
den ist, dann ist es Zeit, in einer solchen Debatte die Mit-
arbeiter hervorzuheben, ebenso die Kompromissbereit-
schaft der Kolleginnen und Kollegen.
Es ist eine gute Botschaft zu später Stunde, dass wir
einen weiteren positiven Beitrag zur Entwicklung der
Mobilität und der Verkehrspolitik in Deutschland geleis-
tet haben. Ich freue mich, dass wir damit Klarheit für die
vielen mittelständischen Unternehmen in dem Bereich
schaffen, die über Jahre hinweg eine harte Zeit hatten.
Denn es gab Bedenken und Ängste, die im Zusammen-
hang mit der Umsetzung europäischer Vorgaben auf na-
tionaler Ebene aufkommen mussten. Es gab in den ver-
schiedenen Verhandlungsstadien immer wieder große
Diskussionen, Debatten, parlamentarische Abende, An-
hörungen und vieles mehr. Es freut mich, dass wir heute
zu diesem Ergebnis gekommen sind.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Sören Bartol für die SPD-
Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Das Thema Personenbeförderungsgesetz hat nicht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23507
Sören Bartol
(C)
(B)
nur uns Fachpolitiker seit mehreren Jahren beschäftigt:Kommunen, Verkehrsunternehmen und ihre Beschäftig-ten, Gerichte und vor allen Dingen eine Vielzahl von Ju-risten begleitet dieses Thema schon lange. Kaum jemandhat noch damit gerechnet, dass die Novellierung des Per-sonenbeförderungsgesetzes in dieser Legislaturperiodekommt. Deswegen freue ich mich umso mehr – der Kol-lege Staatssekretär hat es schon gesagt –, dass es unsParlamentariern gelungen ist, einen Kompromiss zu fin-den, der – davon gehe ich ganz schwer aus – auch voneiner breiten Mehrheit der Länder mitgetragen wird.Ab 2013 wird der öffentliche Nahverkehr in Deutsch-land einen neuen Rechtsrahmen haben, der mehr Rechts-sicherheit bringt, vor allem aber ein qualitatives, hoch-wertiges Nahverkehrsangebot sichert. Ich möchte michdem Dank an die Kolleginnen und Kollegen anschlie-ßen, die daran mitgearbeitet haben, vor allen Dingen da-für, dass sie sich auf dieses Experiment eingelassen ha-ben und wir sachlich und konstruktiv über Monatehinweg an dem jetzt vorliegenden Kompromiss arbeitenkonnten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war, wieich finde, Gesetzgebungsarbeit im besten Sinne. Zahlrei-che Länder von A-, B- und neuerdings auch G-Seite ha-ben uns mit ihrem fachlichen Rat unterstützt. Auch dafürmöchte ich mich ganz herzlich bedanken.
Leider stehen die Fernlinienbusse im Mittelpunkt deröffentlichen Wahrnehmung; man sieht es auch an derKurzbezeichnung des Tagesordnungspunktes. Ich kannes niemandem verdenken; denn der ÖPNV ist ein schwerzugängliches Expertenthema, ein Expertenthema, das al-lerdings konkrete Auswirkungen hat, auf das täglicheLeben der Menschen, die Busse und Bahnen nutzen, undauf die Beschäftigten in den Verkehrsunternehmen. Unsals SPD war es deshalb wichtig, dass die kommunalenAufgabenträger die Gestaltungshoheit über das Ver-kehrsangebot bekommen. Sie sind diejenigen, die für dieDaseinsvorsorge verantwortlich sind, und dieser Kom-promiss setzt das auch um. Die Aufgabenträger bekom-men eine klare Aufgabenbeschreibung und Handlungs-instrumente entsprechend der EU-Verordnung. Nebeneiner Vergabe in einem wettbewerblichen Verfahren sindEigenerbringung und Direktvergabe ausdrücklich mög-lich. Das ist wichtig für die Kommunen und ihre Ver-kehrsunternehmen, aber auch für kleine und mittelstän-dische private Unternehmen. Die Gewerkschaften, liebeKolleginnen und Kollegen, begrüßen diesen Erfolg dochausdrücklich.Die Besonderheit des deutschen Rechts, der Vorrangeigenwirtschaftlicher Verkehre, bleibt, auch auf Wunschder Länder. Dieser Vorrang wird aber dann einge-schränkt, wenn kommunale Aufgabenträger selbst aktivden Nahverkehr gestalten wollen. EigenwirtschaftlicheVerkehre dürfen Qualitätsanforderungen zu Takt, Be-dienzeiten und Barrierefreiheit nicht wesentlich unter-schreiten, ansonsten bekommen sie keine Genehmigung.Welche Qualitätsanforderungen unter welchen Vo-raussetzungen gelten, wann Abweichungen davon we-sentlich sind, das haben wir in einem langen, ich gebezu, sehr komplizierten Paragrafen verfasst, der sicherlichkein Lehrbuchbeispiel wird. Aber was uns am Ende ge-lungen ist – ich glaube, darauf kommt es an –, ist einSystem von Checks and Balances zwischen kommunalerVerantwortung auf der einen Seite und Unternehmensin-teressen auf der anderen Seite, das Rosinenpickerei auflukrativen Linien und die Unterschreitung von Qualitäts-standards wirkungsvoll verhindert.An zwei weiteren wichtigen Stellen wird das ÖPNV-Recht modernisiert. Erstens. Im Nahverkehrsplan wirddas Ziel vollständiger Barrierefreiheit vorgegeben.
Diese Regelung gilt ab 2022, und dann sind Ausnahmen– und das ist wirklich neu – nur noch mit Begründungmöglich. Zweitens. Wir gehen außerdem einen erstenSchritt, um die Genehmigung alternativer Bedienformenzu erleichtern: Von Anrufsammeltaxen über Rufbussebis hin zu Linienbandbetrieb – in der Praxis hat sich eineerfreuliche Vielfalt entwickelt, die endlich eine tragbarerechtliche Grundlage braucht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen: Bei derLiberalisierung der Fernbuslinien waren wir als SPDnicht von Anfang an vollauf begeistert.
Neben den Chancen eines zusätzlichen, preisgünstigenMobilitätsangebots sehen wir allerdings auch die Risi-ken. Deswegen ist es uns besonders wichtig, dass in dasGesetz nun eine Regelung zum Schutz des Regionalver-kehrs aufgenommen wird; denn der Regionalverkehr aufder Schiene wird mit viel öffentlichem Geld bezahlt, under ist für viele Pendler – das muss man einmal deutlichsagen – alternativlos.Wir müssen die neue Entwicklung des Fernbusmark-tes aufmerksam beobachten. Im Gesetz ist deshalb eineBerichtspflicht der Bundesregierung verankert, Anfang2017 soll dieser Bericht dem Deutschen Bundestag vor-liegen. In unserem gemeinsamen Entschließungsantragfordern wir die Bundesregierung noch einmal auf, dasBundesamt für Güterverkehr personell so auszustatten,dass es diese neuen Fernlinienbusse auch effektiv kon-trollieren kann. Es geht dabei um einen fairen Wettbe-werb, die Arbeitsbedingungen der Fahrer und damitnicht zuletzt um die Sicherheit der Fahrgäste, und dasvon Anfang an.Ich freue mich besonders, dass es uns gelungen ist,bei den Fernlinienbussen Barrierefreiheit zur Pflicht zumachen. Ab 2016 gilt für neue Busse, dass sie mit zweiRollstuhlplätzen und einem Hublift ausgestattet seinmüssen. Ab Ende 2019 gilt das dann für alle Busse. DieHersteller und die Unternehmen werden genug Zeit ha-ben, sich darauf einzustellen. Was wir in den letzten Ta-gen in der Presse gelesen haben, dass das die Unterneh-men überfordert, ist im Sinne einer modernen Politik für
Metadaten/Kopzeile:
23508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Sören Bartol
(C)
(B)
Menschen mit Behinderung eigentlich nicht mehr zu dis-kutieren.Die Novelle zum Personenbeförderungsgesetz, diewir heute beschließen, ist ein wichtiger Schritt auf demWeg zu mehr Rechtssicherheit und zu einem guten öf-fentlichen Nahverkehr. Mit den Fernlinienbussen wagenwir uns auf Neuland, unter jetzt vernünftigen Rahmen-bedingungen, auf die wir uns alle gemeinsam verständigthaben. Dass dieser Kompromiss gelungen ist, das zeigtauch die politische Handlungsfähigkeit jenseits vonmanchmal doch recht tiefen ideologischen Gräben.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirfreuen uns, dass der gefundene Kompromiss beim Perso-nenbeförderungsgesetz innerhalb und auch außerhalbdieses Hauses breite Zustimmung findet. Es gibt nurkleine Unzufriedenheiten und Kritikpunkte. Das zeigt,dass es sich um einen ausgewogenen Kompromiss han-delt. Er ist ein großer Erfolg aller beteiligten Fraktionenund auch der Bundesländer. Deswegen gilt mein herzli-cher Dank im Namen der FDP-Bundestagsfraktion all je-nen, die an diesem Kompromiss beteiligt waren.
Unser zentrales Anliegen war und ist, den bewährtenOrdnungsrahmen für den ÖPNV in Deutschland an dasgeänderte europäische Recht anzupassen, aber auchnicht völlig umzukrempeln. Deutschland hat im Ver-gleich zu anderen Ländern einen attraktiven und erfolg-reichen ÖPNV. Mehr Transparenz und Wettbewerb tunaber auch dem ÖPNV in Deutschland gut.Dabei die Interessen der kleinen und mittelständi-schen, meist familiengeführten Busunternehmen zu wah-ren, war für die FDP ein zentrales Anliegen in den Ver-handlungen. Das ist an den entscheidenden Stellen auchgelungen. Im ÖPNV bleibt es beim Vorrang der eigen-wirtschaftlichen Verkehre. Das ist ein Thema, das unsbesonders wichtig war und bleibt. Das heißt, die Aufga-benträger können nur unter engen Voraussetzungen miteinem öffentlichen Dienstleistungsauftrag eigenwirt-schaftlichen Verkehr verdrängen.Auch im Fernverkehr haben wir nicht nur die weitge-hende Liberalisierung erreicht, sondern auch das Geneh-migungsverfahren entbürokratisiert. Das ist gut für Kun-den, für Steuerzahler und das mittelständische Trans-portgewerbe. Deswegen können wir uns mit dem Ergeb-nis wirklich sehr gut anfreunden. Das ist auf Linie desKoalitionsvertrages, weil wir, wie Kollege Bartol zuRecht beschrieben hat, eine angemessene Rollenvertei-lung zwischen Staat und Markt im ÖPNV haben, diekommunalen Gestaltungsmöglichkeiten mit dem Instru-ment des Nahverkehrsplans und des öffentlichen Dienst-leistungsauftrages konkreter als bisher beschrieben undgestärkt haben, es aber auch noch ausreichend Spielraumfür eigenwirtschaftlichen Verkehr gibt. Dies kann durchverschiedene Vorgaben des Nahverkehrsplans quasi hin-ten herum nicht mehr ausgehebelt werden. Der eigen-wirtschaftliche Genehmigungsantrag kommt, vereinfachtgesagt, nur dann nicht zum Zug, wenn er wesentlich vondem abweicht, was der Aufgabenträger an Verkehr be-stellen will.
Wir freuen uns besonders über die wirklich überfäl-lige Freigabe des Buslinienfernverkehrs. Diese Freigabebedeutet natürlich nicht, dass jeder tun und lassen kann,was er will. Es gelten strenge gewerberechtliche Anfor-derungen, was Zuverlässigkeit und Sicherheit angeht.Natürlich ist es weiterhin notwendig, eine Verkehrsge-nehmigung, eine Liniengenehmigung zu beantragen. DerUnterschied zu vorher ist, dass man diese Genehmigungnicht mehr einfach mit der Begründung verweigernkann, dass es andere Unternehmer bzw. die Eisenbahngibt. Der bisherige Wettbewerbsschutz entfällt. Das istunserer Meinung nach nichts anderes als eine Selbstver-ständlichkeit bei einer Tätigkeit, die der Staat nicht be-zuschussen muss und die auch nicht in das eigentlicheTätigkeitsfeld staatlicher Aufgaben fällt.
Das heißt, wir vollziehen beim Busverkehr nichts ande-res als das, was wir auf allen anderen Verkehrsmärktenhaben. Heute würde ja auch keiner mehr auf die Ideekommen, einem Spediteur Beförderungsdienstleistungenzu verbieten, nur weil ein anderer sie erbringt.
Wir sind der Überzeugung, dass Wettbewerb undmarktwirtschaftliche Ordnung auch im Verkehrssektordafür sorgen, dass Kunden und die Volkswirtschaft pro-fitieren, dass die Preise fallen, dass Service und Qualitätsich verbessern. Das wird auch mit der Liberalisierungim Fernverkehr der Fall sein. Deswegen ist das gut undrichtig.
Welche Angebote es nun geben wird – das wurdeeben zu Recht angesprochen –, das kann niemand vo-raussagen. Wir wollen Marktchancen für etablierte Un-ternehmen, aber auch für junge, innovative Unterneh-men. Wir werden sehen, wie sich der Markt entwickelt.Auf jeden Fall machen wir Schluss mit der Bevormun-dung des Bürgers, dem bis jetzt die Freiheit abgespro-chen wurde, selbst zu entscheiden und auszuwählen,welches Fernverkehrsangebot er nutzen will.Der Fernbus ist gerade für Reisende mit geringemEinkommen eine hervorragende Alternative. Deswegen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23509
Oliver Luksic
(C)
(B)
kann ich die Bedenken auf der linken Seite des Hausesnicht verstehen. Im Gegenteil: Es ist sogar unsozial, dassSie ein solches Instrument ablehnen wollen.
Wir erhoffen uns von der Freigabe des Buslinienfern-verkehrs natürlich auch, dass Bewegung in das Thema„Monopolstellung der Bahn“ kommt. Auch 20 Jahrenach der Bahnreform muss sich noch viel tun. Wir wis-sen: In den Bereichen, in denen wir Monopole haben,haben wir steigende Preise. Das ist auch bei der Bahnder Fall, wie wir gerade jetzt wieder merken. Deswegensind wir der Überzeugung, dass ein wenig Konkurrenzauch die Bahn beflügeln wird. Vor allem wird das Ver-kehrsangebot breiter und besser. Von diesem neuen An-gebot profitieren alle Kunden in unserem Land.
Uns war es besonders wichtig, dass wir mit demneuen PBefG, dem Personenbeförderungsgesetz, verläss-liche Rahmenbedingungen und Rechtssicherheit für alleBeteiligten, Aufgabenträger und Unternehmen, imÖPNV schaffen und den Fernbusmarkt liberalisieren.Das ist ein Thema, über das seit fast zehn Jahren disku-tiert wird. Deswegen freut es uns umso mehr, dass wiram Ende einen Erfolg haben.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, das Foto-
grafieren einzustellen. Was soll das? Das ist eine Unsitte.
Kollege Kurth, ich habe Sie gesehen.
Das Wort hat nun Thomas Lutze für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Herr Staatssekretär Scheuer, man kann auch einen in-haltlichen Disput führen und dabei friedlich sein. Ichdenke, im Bundestag haben wir das immer so gehand-habt. Die Linksfraktion hier als nicht friedlich darzustel-len, geht, finde ich, ein bisschen zu weit. Lassen Sie unsbei den Argumenten bleiben.Der öffentliche Nahverkehr ist eine wichtige Lebens-ader unserer modernen Gesellschaft. Ebenso wie Strom-und Wasserversorgung sowie die Müllabfuhr ist auch derNahverkehr ein öffentliches Gut, zu dem jeder Zuganghaben muss. Es war die Rede davon, die EU wolle vor-schreiben, dass die kommunalen Verkehrsleistungen zu-künftig ausgeschrieben werden müssen. Dadurch be-stünde die Gefahr, dass EU-rechtlicher Vorrang fürprivate Verkehrsanbieter in der Bundesrepublik gelten-des Recht werden würde. Es kam anders: Die EUschreibt nicht ausdrücklich vor, dass Nahverkehrsleis-tungen an private Anbieter vergeben werden müssen; sielässt es offen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonden vier Fraktionen, die hier Gesetzentwürfe einbringenoder unterstützen, machen das aber nun, indem Sie dieMöglichkeit einräumen, dass private Anbieter Vorrangbekommen. Genau das lehnen wir Linke ab.
Uns reicht auch eine kleine Klausel, die im Gesetzent-wurf sicherlich enthalten ist, nicht aus, durch die manversucht, die sogenannte Rosinenpickerei zu verhindern.Wenn dieses Gesetz umgesetzt wird, wird der Alltag al-ler Wahrscheinlichkeit nach zeigen, dass das allein nichtfunktioniert. Die Linke ist somit die einzige Fraktion imDeutschen Bundestag mit der Auffassung, dass Nahver-kehrsleistungen primär öffentlich sein müssen. Eine ge-setzliche Regelung, dass kommunale Verkehrsunterneh-men den Verkehrsauftrag bekommen und dann einzelneLeistungen an Privatunternehmen weitervergeben, waralltagstauglich. Diese Regelung hätte fortgeschriebenwerden können, auch nach neuem EU-Recht.Wenn Sie heute die künftige Bevorzugung privaterUnternehmen durchwinken, dann bin ich sehr gespanntauf die Reaktionen Ihrer Bürgermeisterinnen und Bür-germeister, gerade der beiden großen Parteien CDU undSPD. Ich weiß nicht, ob der Applaus da so stark seinwird wie hier im Deutschen Bundestag. Sie drücken dashier durch; es Durchwinken zu nennen, wäre noch ge-schmeichelt. Am Dienstag haben Sie sich geeinigt – ichhabe das im Ausschuss schon gesagt –, und am Mitt-woch ist es im Schnellverfahren durch den Ausschussgebracht worden.
Jeder durfte einmal etwas dazu sagen. Heute, am Don-nerstag, geht es kurz vor Mitternacht durch das Plenum.Das ist eine sehr kurze Zeit, um einen Diskurs über IhrenVorschlag zu führen. Man kann schon fast froh sein, dassdas hier nicht einfach zu Protokoll gegeben wurde.Bei der Fernbusdebatte sieht es nicht viel besser aus.Ein Sprecher der Firma Touring – Touring ist einer derfünf großen Player; so viel zum Thema kleine mittelstän-dische Unternehmen auf diesem Markt – brachte es aufden Punkt. Er hat gesagt, dass sein Unternehmen aus-schließlich dort fahren wird, wo man zwischen den gro-ßen Metropolen richtig viel Geld verdienen kann. Dieanderen Unternehmen haben sich nicht anders geäußert.Die Deutsche Bahn betreibt ja schon seit Jahren dieseFirmenpolitik.Fernverkehrsbusse sollen eine preiswerte Alternativezur teuren Bahn darstellen. Das wurde immer wieder ge-sagt. Diese Busse fahren vor allen Dingen deshalb güns-tiger, weil die Löhne und Gehälter der Busfahrer wesent-lich niedriger sind. Sie verdienen schlichtweg wenigerals ein Lokführer. Sie sind auch deshalb günstiger, weildiese Busse keine Streckengebühr zahlen müssen. Wäh-rend die Deutsche Bahn und auch private Bahnunterneh-men auf der Schiene für jeden Kilometer viel Geld zah-len und für jeden Halt extra zahlen müssen, können diese
Metadaten/Kopzeile:
23510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Thomas Lutze
(C)
(B)
Busse frei von zusätzlichen Kosten auf Autobahnen fah-ren, es sei denn – das kann man hier im Parlament nochändern –, Sie stimmen heute unserem Antrag zu, den wirübrigens dankenswerterweise von der SPD übernommenhaben. Die Zulassung der Fernbusse ohne Autobahn-maut ist nichts anderes als pure Wettbewerbsverzerrungzulasten der Bahn.
Positiv ist einzig die Entwicklung bei der Barriere-freiheit. Auch auf Druck der Linken – wir waren nichtdie Einzigen, aber wir haben ganz massiv Druck ge-macht – haben Bushersteller und Verkehrsunternehmendas Problem erkannt und bieten mittlerweile erste guteLösungen an. Doch Ihr Gesetzentwurf enthält nun län-gere Übergangsfristen, auch wenn es nur ein Jahr ist, alsdie Unternehmen nach eigenen Angaben hätten realisie-ren können. Das wurde zumindest bei den Veranstaltun-gen deutlich.Letzter Satz, Herr Präsident. – Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen, wenn Sie tatsächlich wollen, dass derPersonenfernverkehr preiswerter wird, folgen Sie ein-fach dem Vorschlag, den ich in meiner letzten Rede ge-macht habe: Senken Sie den Mehrwertsteuersatz fürFernverkehrsfahrkarten von 19 auf 7 Prozent! Dannwürde in unser Verkehrswesen endlich europäischer All-tag einkehren.Danke schön.
Das Wort hat nun Anton Hofreiter für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Dieses Thema ist ein wunderschönes Beispieldafür, dass selbst völlig verfahrene Situationen, wennParlamentarier die Dinge in die Hand nehmen, zu einemvernünftigen Ergebnis gebracht werden können.
Ich glaube, wir können uns alle zu dem Verfahren unddem Ergebnis gratulieren; das ist bereits gesagt worden,und wir haben uns gegenseitig gedankt. Man muss ins-besondere den Mitarbeitern danken: den Mitarbeiternder Fraktionen, den Mitarbeitern des Ministeriums undden Mitarbeitern der Landesverkehrsministerien, mit de-nen wir sehr konstruktiv zusammengearbeitet und dieuns sehr unterstützt haben. Außerdem können wir unsgegenseitig für den konstruktiven Umgang miteinanderdanken.
Welche sind die drei zentralen Punkte dieses Gesetz-entwurfes? Es ist erstens die Regelung zum ÖPNV,zweitens sind es die Regelungen zur Barrierefreiheit,und drittens ist es die Regelung zum Fernverkehr.Was haben wir im Hinblick auf den ÖPNV erreicht?Natürlich sind wir nicht mit allen Regelungen hundert-prozentig glücklich. Warum? Weil es sich um einenKompromiss zwischen 4 Fraktionen und 16 Bundeslän-dern handelt. Natürlich kann angesichts dessen niemandsagen, er habe sich zu 100 Prozent durchgesetzt. Sonstwäre das ein unanständiger Kompromiss, weil jemandanders über den Tisch gezogen worden wäre.Beim ÖPNV haben wir erreicht – da irren Sie sich,Herr Lutze –, dass die Aufgabenträger, die demokratischbestimmten Aufgabenträger, wenn sie es denn wollenund wirklich Geld dafür in die Hand nehmen, jetzt einenvernünftigen ÖPNV anbieten können.
Das ist die Neuerung, und das war ein Kompromiss. DerKompromiss lautet: wenn sie es wollen und ernsthaftGeld hinterlegen. Das ist im Gesetzentwurf klar geregelt.Des Weiteren ist geregelt, dass eine Kommune, die eineigenes kommunales Verkehrsunternehmen betreibt, dasgut arbeitet – auch dafür gibt es Kriterien –, direkt andieses Unternehmen vergeben darf.
Genau das, von dem Sie bemängelt haben, dass es nichtim Gesetzentwurf geregelt sei, ist also im Gesetzentwurfgeregelt.Selbstverständlich hätten wir uns beim Thema Barrie-refreiheit mehr gewünscht. Ich glaube, man kann sogarsagen, dass wir alle uns bei diesem Thema mehr wün-schen würden. Hier sind aber gar nicht so sehr die Fern-busse das Problem,
sondern das zentrale Problem ist der allgemeine ÖPNV.
Aber woran liegt es? Es liegt daran, dass es U-Bahn-Sys-teme gibt, die zum Teil fast 100 Jahre alt sind,
und dass es Unmengen von Bahnhöfen gibt, die uraltsind. Hier war nun einmal nichts anderes möglich, alsden Ländern – allerdings mit vollem Verständnis für dieLänder – Übergangsregelungen zuzugestehen. Schließ-lich können die Länder kein Geld schnitzen, um diesenProzess zu gestalten. Wie gesagt, wir hätten uns hier vielmehr gewünscht. Es gab auch unterschiedliche Vorstel-lungen darüber, wie schnell man etwas erreichen kann.Es war nicht mehr drin, und die gefundene Lösung ist imVergleich zur bestehenden Regelung ein großer Fort-schritt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23511
Dr. Anton Hofreiter
(C)
(B)
Zu den Fernbussen. Ja, wir haben den Fernbusverkehrliberalisiert. Das Umweltbundesamt hat festgestellt, dassein Fernbus, wenn er vernünftig besetzt ist, unter ökolo-gischen Aspekten ähnlich gut zu bewerten ist wie dieBahn. Die Regelung, die wir getroffen haben, sieht vor:Wenn jemand bereit ist, eine Buslinie, ein ökologischesVerkehrsmittel, anzubieten, und dafür nicht einen Centvom Staat will, dann darf er das tun. Was ist daranschlimm?
Seien Sie ehrlich: Was ist daran schlimm, dass jemand,der bereit ist, seinen Kunden ein ökologisches Verkehrs-mittel anzubieten, dies jetzt tun darf? Hier wäre ich mitKritik ganz vorsichtig. Wenn ich mir anschaue, wer zuwessen Klientel gehört, muss ich nämlich sagen: Ichglaube, dass dies gerade für Menschen mit geringeremEinkommen eine hervorragende Alternative ist.
Insgesamt glaube ich, dass wir einen guten Kompro-miss gefunden haben. Auf diesen Kompromiss könnenwir stolz sein. Jetzt geht es darum, dieses Vorhaben mög-lichst schnell durch den Bundesrat zu bringen; aber dabin ich sehr optimistisch.Vielen Dank.
Letzter Redner ist Kollege Volkmar Vogel für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Ich denke, das ist ein versöhnlicher Abschluss einesdoch auch kontroversen Plenartages. Nicht, dass ichirgendetwas gegen kontroverse Debatten habe, ganz imGegenteil, das macht Demokratie aus, aber das, was wirhier gerade auch der interessierten Öffentlichkeit gezeigthaben,
ist vor allen Dingen eine Wertschätzung derjenigen, diejeden Tag mit dem Bus oder als Eisenbahner die Men-schen sicher und zuverlässig transportieren und beför-dern.
Wir sehen, dass es mittlerweile 23.20 Uhr ist. Das istauch ein richtiges Signal, weil es um diese Zeit geradedie von mir eben erwähnten Mitarbeiter sind, die ihrenDienst ordentlich tun, und wir müssen dafür sorgen, dassdie rechtlichen Grundlagen so gestaltet sind, dass dasauch in Zukunft weiter so geschehen kann.Eines muss man nämlich auch sagen: Der ÖPNV undder Fernverkehr in Deutschland können sich bei allerKritik, die wir auch üben müssen, weltweit sehen lassen.Sie sind beispielgebend, und für uns ist es wichtig, dasswir dieses System erhalten und ausbalancieren, damit esein vernünftiges Miteinander der einzelnen Strukturengibt, nämlich der mittelständischen Unternehmen, dieviel in unserem Land tun und viele fleißige Mitarbeiterhaben, mit den qualitativ hochstehenden kommunalenBetrieben, die hier die notwendigen Pflichten zurDaseinsvorsorge auch in der Praxis erfüllen.Bei den Gesprächen über das Gewerbe stand einesfest – das wurde uns sehr schnell klar –: Dieses Themataugt nicht für ideologische Auseinandersetzungen oderfür den Vermittlungsausschuss. Wir von CDU/CSU undFDP waren uns sehr schnell im Klaren darüber, und alswir unsere Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-nen ansprachen, haben wir gemerkt, dass sie das genausosehen. Das war die Grundlage für die Verhandlungen,die hart, aber niemals zäh waren; denn sonst würden wirheute noch sitzen und verhandeln. Sie waren auch immerfair; denn sonst hätten wir heute keinen so tragbarenKompromiss.All den Mitarbeitern aus unseren Fraktionen, aus demBundesverkehrsministerium – Herr Doose und HerrHamburger –, aus den Länderministerien bzw. aus denLändern und auch aus den Verbänden, die uns dabei un-terstützt haben, gilt auch heute unser Dank. Den möchteich hier für meine Fraktion auch noch einmal bestärken.
Es war nicht leicht. Wir mussten einen Kompromissfinden zwischen dem Vorrang der eigenwirtschaftlichenVerkehre, die uns wichtig sind, weil für uns auch dieGleichbehandlung der mittelständischen Unternehmenin diesem Markt wichtig ist, und den Pflichten zur Da-seinsvorsorge, die bei den kommunalen Aufgabenträ-gern liegen und bestimmte Zwänge auslösen. Wir muss-ten uns darüber verständigen: Wie wollen wir in Zukunftden Nahverkehrsplan gestalten? Wie gestalten wir dasVerhältnis zwischen dem Aufgabenträger mit den Pflich-ten, die er hat, und den Rechten, die sich daraus für ihnableiten, und einer neutralen Genehmigungsbehörde, diedarüber wacht, dass das Gesetz ordnungsgemäß ange-wendet wird? Wir mussten auch einen Kompromiss fin-den zwischen dem Willen der christlich-liberalen Koali-tion zur Liberalisierung des Fernbusverkehres und denZwängen, die bestehen, um vor allen Dingen den schie-nengebundenen Nah- und Fernverkehr zu schützen.Ich glaube, wir haben in all diesen Bereichen sinn-volle Regelungen geschaffen. Meine Vorredner habendarauf hingewiesen. Ich muss das nicht noch im Einzel-nen darlegen.
Trotz alledem ist es wichtig, dass wir gerade imBereich des Fernverkehrs einfache Lösungen gefundenhaben. Hätten wir die Freigabe des Fernverkehrs mit zuweitreichenden Vorgaben belastet, dann wäre der Start
Metadaten/Kopzeile:
23512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Volkmar Vogel
(C)
(B)
dieses neuen Marktsegmentes sicherlich schwierigergewesen – vielleicht nicht für die Großen am Markt, dieeuropaweit agieren, auf alle Fälle aber für die vielenKleinen, die hier neue Chancen zur Betätigung sehenund aktiv sein wollen.Gerade in diesem Bereich war die Barrierefreiheitnatürlich ein wichtiger Punkt, über den wir auch gemein-sam diskutiert haben. Die Barrierefreiheit ist wichtig,weil sie jeden von uns betreffen kann. Auf der anderenSeite hat Barrierefreiheit nicht nur für Menschen mitkörperlicher Behinderung, sondern auch für junge Fami-lien mit Kinderwagen eine Bedeutung, die genauso ent-sprechende Einstiegsmöglichkeiten haben müssen.
Mit dem Kompromiss, den wir hier gefunden haben, sodenke ich, werden wir den berechtigten Anliegen derBehinderten gerecht. Andererseits können auch die Un-ternehmen, vor allen Dingen die kleinen Unternehmen,wenn es um Investitionen geht, mit den wirtschaftlichenZwängen leben.Zum Abschluss lassen Sie mich noch zwei Worte zuunserem Entschließungsantrag sagen. Ich denke, die Tat-sache, dass wir einen gemeinsamen Entschließungsan-trag vorlegen, zeigt, dass wir an diesem Thema gemein-sam dranbleiben wollen. Die Stärkung des BAG ist einrichtiger Ansatz, damit es auch in Zukunft die erweiter-ten Kontrollaufgaben, die sich mit dem Markt Fernbus-linienverkehr ergeben, realisieren kann. Daran müssenwir arbeiten.Abschließend muss man sagen: Barrierefreiheit heißtnatürlich auch technische Umsetzung. Wir haben in Ge-sprächen erfahren, dass die technischen Standards, dieaus unserer Sicht europaweit bei Fernbussen gelten müs-sen, noch nicht in der Schärfe vereinheitlicht sind, wiedas notwendig wäre.Man muss auch hier sehen: Wir wollen die Barriere-freiheit und das Angebot dafür im Fernverkehr haben. Dasheißt aber für die Unternehmen, die das umsetzen müssen,Planungssicherheit und Investitionssicherheit, sodass sienicht am Ende einen Bus kaufen, der zwar augen-scheinlich Barrierefreiheit gewährleistet oder Plätze fürBehinderte bietet, aber dann nicht den beschlossenenStandards entspricht.An diesem Punkt müssen wir weiter arbeiten. Daswerden wir gemeinsam im Auge behalten. Ich denke, umdiese Zeit kann man sagen, dass wir diesen Tag zu einemguten Abschluss gebracht haben. Ich möchte Sie darumbitten, dass Sie alle gemeinsam, auch die Linken, unse-rem Gesetzentwurf zustimmen.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurÄnderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschrif-ten. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/10857, den Gesetzentwurfder Bundesregierung auf Drucksache 17/8233 in derAusschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Ände-rungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wirzuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantragauf Drucksache 17/10858? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stim-men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmender Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen dieStimmen der Linken mit Zustimmung der übrigen vierFraktionen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Hierzu liegt eine persönlicheErklärung zur Abstimmung des Kollegen Ilja Seifertvor.1) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit denStimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegendie Stimmen der Linken angenommen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-schließungsanträge. Zunächst Entschließungsantrag derFraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10859. Wer stimmt fürdiesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist von denbeantragenden Fraktionen bei Enthaltung der Linken an-genommen.Nun Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/10860. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Entschließungsantrag ist mit den gleichen Mehr-heitsverhältnissen wie zuvor abgelehnt.Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu demEntwurf eines Gesetzes der Fraktionen der SPD undBündnis 90/Die Grünen zur Änderung personenbeförde-rungs- und mautrechtlicher Vorschriften. Der Ausschussempfiehlt unter Buchstabe b seiner Empfehlung aufDrucksache 17/10857, den Gesetzentwurf der Fraktio-nen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/7046 für erledigt zu erklären. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim-mig angenommen.Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/7487 mit dem Titel „Keine Liberalisierung desBuslinienfernverkehrs – Für einen Ausbau des Schienen-verkehrs in der Fläche“. Wer stimmt für diese Beschluss-1) Anlage 2
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23513
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(C)
(B)
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der vierFraktionen gegen die Stimmen der beantragenden Frak-tion Die Linke angenommen.Nun kommt eine ganze Reihe von Abstimmungenund von zu Protokoll gegebenen Reden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten EdelgardBulmahn, Lothar Binding , KlausBrandner, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDDeutschland braucht dringend eine kohä-rente Strategie für die zivile Krisenpräven-tion– zu dem Antrag der Abgeordneten KerstinMüller , Marieluise Beck (Bremen),Volker Beck , weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENZivile Krisenprävention ins Zentrum deut-scher Außenpolitik rücken– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. FrithjofSchmidt, Omid Nouripour, Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRessortübergreifende Friedens- und Sicher-heitsstrategie entwickeln– Drucksachen 17/4532, 17/5910, 17/6351,17/8711 –Berichterstattung:Abgeordnete Roderich KiesewetterEdelgard BulmahnJoachim SpatzJan van AkenKerstin Müller
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind einverstanden.1)Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung desAuswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/8711. DerAusschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion der SPD auf Drucksache 17/4532 mit dem Titel„Deutschland braucht dringend eine kohärente Strategiefür die zivile Krisenprävention“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stim-men von SPD und Grünen angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/5910 mit dem Titel „Zivile Kri-senprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitikrücken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissenwie zuvor angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-che 17/6351 mit dem Titel „Ressortübergreifende Frie-dens- und Sicherheitsstrategie entwickeln“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Auch hier haben CDU/CSU, FDP undLinke dafür gestimmt und SPD und Grüne dagegen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 20 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Energiesteuer- und des Strom-steuergesetzes– Drucksachen 17/10744, 17/10797 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOInterfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die Re-den zu Protokoll zu geben.2) – Ich sehe, Sie sind damiteinverstanden.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufDrucksachen 17/10744 und 17/10797 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nichtder Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 21:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Angelika Graf , Bärbel Bas, ElkeFerner, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDGlücksspielsucht bekämpfen– Drucksachen 17/6338, 17/10695 –Berichterstattung:Abgeordnete Christine Aschenberg-DugnusWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll gegeben.
Seit Dezember 2011 wird der Entwurf zur 6. Verord-nung zur Änderung der Spielverordnung mit Ressorts,Ländern und Verbänden abgestimmt. Der Entwurf greiftdie Vorschläge zur Verbesserung des Spieler- und Ju-1) Anlage 5 2) Anlage 6
Metadaten/Kopzeile:
23514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Karin Maag
(C)
(B)
gendschutzes bei den Geldspielgeräten auf, die im Be-richt des Bundesministeriums für Wirtschaft und Tech-nologie zur Evaluation der 5. Spielverordnung enthaltensind.Das ist gut und richtig, denn Glücksspiel ist weit ver-breitet. 45 Prozent der erwachsenen Bevölkerung habenim vergangenen Jahr schon einmal an einem öffentlichangebotenen Glücksspiel teilgenommen. Rund 9 Prozentder Bevölkerung haben bereits an Geldspielautomaten inSpielhallen und Gaststätten gespielt. Aber auch11 Prozent der Deutschen haben ein oder mehrmals dieSpielbanken aufgesucht und dort am sogenannten großenSpiel an den Spieltischen oder am sogenannten kleinenSpiel an den dortigen Spielautomaten teilgenommen.Besorgniserregend ist in der Tat – insoweit teile ichdie Grundüberlegung Ihres Antrages –, dass mittler-weile rund 1,4 Prozent der Bevölkerung in den letzten12 Monaten risikoreich gespielt haben, 0,3 Prozent pro-blematisch und 0,35 Prozent spielten pathologischGlücksspiele, wobei pathologisches Glücksspiel als ei-genständige psychische Erkrankung im internationalendiagnostischen System des CDI-10 anerkannt ist.Die Suchtpotenziale unterscheiden sich nach Art desSpiels. Die Teilnahme an Sportwetten, dem kleinen Spielin der Spielbank, Poker und Geldspielautomaten ist miteinem erhöhten Risiko für pathologisches Glücksspielverbunden. Geldspielautomaten haben nach allen Un-tersuchungen das höchste Suchtpotenzial. Das ist aucheinleuchtend, denn zum einen erlebt der Spieler mit derschnellen Spielefrequenz und der bislang erlaubtenMehrfachbespielung den Verlust immer weniger. Er hatkeine Zeit, zu realisieren, dass im Augenblick des Spielsvor dem neuen Druck auf die Taste der Einsatz weg ist.Zum andern wird mit höherem Einsatz der Anreiz, denVerlust auszugleichen, auch unmittelbar höher. Vor al-lem sind die Automatenspiele außerhalb der staatlichenSpielbanken in Spielhallen und Gaststätten überall ver-fügbar. Deshalb ist es sicher richtig, dort anzusetzen.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD:Ihr Antrag ist mit dem Adressaten Bundesregierungüberwiegend an die falsche Adresse gerichtet. Mit derFöderalismusreform im Jahr 2006 ist die Kompetenz fürdie Hallen auf die Länder übergegangen, und zum1. Juli 2012 ist auch der neue Glücksspielstaatsvertragder Länder in Kraft getreten. Ich gehe deshalb auch da-von aus, dass Sie Ihre Forderungen und Anregungen beiihren jeweiligen Landesregierungen erfolgreich ange-bracht haben. Der Bund bleibt lediglich für die geräte-bezogene Regelung zuständig. Nicht nur in diesem Teil-bereich sind wir uns in der christlich-liberalen Koa-lition selbstverständlich unserer Verpflichtung bewusst.Ich will hier auch darauf hinweisen, dass das BMGseit 2007 im Rahmen eines Modellprojektes mit einerGesamtsumme von 1,1 Millionen Euro die Entwicklungund Erprobung von frühen Interventionen bei pathologi-schem Glücksspiel fördert. Schon jetzt steht fest, dass dieQualifizierung in der Suchthilfe für Glücksspielsucht mitdem Modellprojekt gelungen ist. Die Bundeszentrale fürgesundheitliche Aufklärung ist umfassend tätig; ichnenne als Beispiel das Beratungstelefon. Soweit Sie denEinsatz auf europäischer Ebene anmahnen, hatDeutschland im Rahmen der Ratsarbeit zum Glücksspielselbstverständlich auf die Bedeutung hingewiesen, diedem Schutz der Allgemeinheit vor unkontrolliertemGlücksspiel zukommt. Es geht dabei insbesondere umden Minderjährigenschutz, die Bekämpfung der Spiel-sucht und den Schutz vor Folge- oder Begleitkriminali-tät.Spielerschutz und Vorbeugung sind mir wichtige An-liegen. Die christlich-liberale Union wird alles dafürtun, dass in ihrem Einflussbereich Spielerschutz undPrävention zentraler Punkt jeder Neuregelung sind.Deshalb sind natürlich neue, gerätebezogene Regelun-gen nach der Evaluation der 5. Spielverordnung drin-gend notwendig. Denn die früheren Unterhaltungs-spiele, bei denen der Geldeinsatz nur dazu dienen sollte,das Gerät zu bedienen, wie zum Beispiel bei denFlipperautomaten, gibt es kaum noch. Das Unterhal-tungselement trat im Laufe der Zeit in den Hintergrund.Heute dominiert bei den Automaten der Gewinnaspekt.Gerade durch die Novellierung der Spielverordnung2006 wurden die Ereignisfrequenz, die Illusion der Be-einflussbarkeit von Einsatz und Gewinn erhöht. Es istvor allem festzuhalten, dass mit der folgenden zuneh-menden Attraktivität des Automatenspiels nicht gleich-zeitig die Schutzmaßnahmen zur Verhinderung vonSucht angepasst wurden. Die Evaluation der 5. Spielver-ordnung hat ergeben, dass der damals beabsichtigteSchutz zum Beispiel mit dem Verbot der Fungamesdurchaus erreicht wurde. Allerdings konnten die Vorga-ben vor allem illegale Praktiken, insbesondere bei denPunktspielen, wie das sogenannte Vormünzen, nicht aus-reichend verhindern. Der Jugendschutz in den Hallenwurde weitestgehend eingehalten; aber in den Gaststät-ten liegt oder lag offenbar vieles im Argen.Der Entwurf der 6. Spielverordnung greift nun bereitsviele Aspekte auf: Er sieht erfreulicherweise Maßnah-men zur Verbesserung des Jugend- und Spielerschutzesvor. Zudem sollen die gerätebezogenen Regelungen ge-nerell verschärft werden. Zu diesem Zweck sollenSpielanreize und Verlustmöglichkeiten durch die Absen-kung des maximalen Durchschnittsverlustes pro Stundebegrenzt, das sogenannte Punktspiel eingeschränkt unddie Mehrfachbespielung eingedämmt werden. Vorgese-hen ist die Einführung einer Spielunterbrechung mitNullstellung der Geldspielgeräte nach drei Stunden. Dassogenannte Vorheizen der Geldspielgeräte, also dasHochladen von Punkten durch das Personal der Spiel-stätte, wird ausdrücklich verboten. Die Mehrfachbespie-lung von Geldspielgeräten wird weiter eingedämmtdurch eine Reduzierung der Geldspeicherung in Ein-satz- und Gewinnspeichern und eine Verschärfung derBeschränkung von Automatiktasten. Insgesamt soll soder Unterhaltungscharakter der Geldspielgeräte wiedergestärkt werden. Das bestehende Spielverbot für Ju-gendliche soll durch Verschärfung der Regelungen zuAutomaten in Gaststätten gestärkt werden. Um schnellerauf Fehlentwicklungen reagieren zu können, sollen dieBauartzulassung und die Aufstelldauer für Geldspielge-räte befristet werden. Alles in allem ist das, meine ich,eine gute Entwicklung.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23515
Karin Maag
(C)
(B)
Wenn wir von Mängeln und Versäumnissen reden, diesich aus der Evaluation deutlich erkennen lassen, ist miraber eine differenzierte Betrachtung wichtig: Ich wehremich entschieden dagegen, dass eine gesamte Branche,die nach wie vor ein zulässiges Gewerbe betreibt, Aus-bildungs- und Arbeitsplätze schafft und Steuern zahlt, inVerruf gebracht wird, um die schwarzen Schafe – die essicher in der Branche gibt – zu erfassen.Selbstverständlich müssen Regeln eingehalten wer-den und muss jeder, der versucht, Regeln zu umgehen,empfindlich bestraft werden. Zurzeit sind einige sucht-politische relevante Vorgaben – wie beispielsweise dasAuslegen von Informationsbroschüren über die Risikendes übermäßigen Spielens – noch nicht einmal als Ord-nungswidrigkeit geahndet. Das geht so nicht und ist zuändern. Auch ist die Höhe der Bußgelder für viele Ord-nungswidrigkeiten-Tatbestände zu gering. Das BMWiwill die Bußgeldandrohung bei Verstößen gegen dieSpielverordnung von 2 500 Euro auf 5 000 Euro anhe-ben. Hier werde ich auf empfindlichere Bußgelder hin-wirken.Ich rede aber jetzt nicht nur von den Erhöhungen imOrdnungswidrigkeitenbereich, sondern von kriminellerEnergie. Nicht zuletzt hat das BMF Ergänzungen derSpielverordnung um Regelungen zur Datenspeicherungund zur Verbesserung des Manipulationsschutzes zurVerhinderung von Geldwäsche und Steuerhinterziehungverlangt. Die entsprechenden Vorschläge werden aktuellerarbeitet. Es geht um die Bauartzulassung, die künftignur erteilt werden soll, wenn sämtliche von der Kontroll-einrichtung in Spielgeräten erfasste Daten dauerhaftund jederzeit verfügbar, lesbar und auswertbar sind undwenn vor allem nachträgliche Änderungen erkennbarbleiben. Die Umstellung erfordert insbesondere Anpas-sungen der technischen Richtlinien der PTB, neueSchnittstellenstandards und Auslesetechniken sowie an-gemessene Übergangsfristen. Infolgedessen sind dieVorarbeiten zur 6. Spielverordnung auch noch nicht ab-geschlossen.Ich konnte mich jedenfalls in vielen Gesprächen, de-nen auch Taten gefolgt sind, selbst davon überzeugen,dass die Branche die Probleme erkannt hat und durch-aus bereit ist, mitzuwirken. Deshalb setze ich mich dafürein, dass das Element der freiwilligen SelbstkontrolleTeil der Regelung bleibt und dass erst dann, wenn diesenicht funktioniert, die staatliche Repression – dann aberauch mit aller Schärfe – einsetzt.Noch ein Aspekt ist mir wichtig: Allein mit weiterentechnischen Vorschriften kann der Spielerschutz auflange Sicht nicht sichergestellt werden. Ein Gutachtenvon Professor Tilmann Becker, Universität Stuttgart-Ho-henheim, nimmt unter anderem zu Maßnahmen der Auf-klärung und Information von Spielern und Mitarbeiternund zum Schutz der gefährdeten Spieler Stellung. Pro-fessor Becker zeigt, dass Identitätskontrollen eine Maß-nahme sind, um die soziale Verfügbarkeit zu verringern.Er stellt dar, dass die Selbstsperre zu den effektivstenMaßnahmen des Spielerschutzes gehört, und er erklärt,dass eine Verpflichtung der Anbieter, Sozialkonzeptevorzulegen, die Mitarbeiter zu schulen sowie die Spieleraufzuklären und zu informieren, maßgeblich zur Präven-tion beitragen kann.Die Studie weist nach, dass der Automatenspieler ei-nen Spielemix in Anspruch nimmt. Neben dem Spiel inden Spielstätten pokern 52,2 Prozent. 42,9 Prozent spie-len auch in Automatensälen von Spielbanken und39,6 Prozent nehmen am Fußballtoto teil. Im Durch-schnitt werden von pathologischen Spielern 5 Spielfor-men genannt, die sie betreiben. In dieser Studie werdenübrigens nur von 3,4 Prozent der pathologischen SpielerGeldgewinnspielgeräte als bedeutsamstes Spiel in denvergangenen 12 Monaten genannt. Jedenfalls gibt es, sodie Studie, nicht den pathologischen Automatenspieler,sondern allenfalls den pathologischen Spieler, der ebenunter anderem auch an Automaten spielt. Sollte also dasAutomatenspielangebot gänzlich für ihn wegfallen, istzu erwarten, dass er den Automaten durch ein anderesAngebot ersetzt. Vor dem Hintergrund der Tatsache,dass man die Spieler in den Spielhallen mit Schutz-maßnahmen, Prävention und Suchtangeboten noch ambesten erreicht, dem dortigen Alkoholverbot und denSteuerungsmöglichkeiten der Kommunen wäre ein Aus-weichen ins Internet mit gleichen Glücksspielangeboten,wie ich es an dieser Stelle bereits beschrieben habe, si-cher eine sehr schlechte Variante.Für die Suchtentwicklung ist auf den Einzelfall, aufden einzelnen Menschen, seinen Lebenshintergrund unddas von ihm bevorzugte Glücksspiel abzustellen. Auchdas Emnid-Institut hat in seiner neuesten Studie dazufestgestellt, dass der pathologische Spieler diese fünfunterschiedlichen Spielformen nutzt. Nicht das Spielan-gebot sei ursächlich, sondern krankhafte Strukturen inder Spielerpersönlichkeit.Nochmals: Selbstverständlich darf der Schutz vor denGefahren des Automatenspiels nicht vernachlässigt wer-den. Maßnahmen wie die Spielerkarte gegen illegaleSpielpraktiken wie Mehrfachbespielung sind hier sichergut und richtig. Genau dazu wird mit der 6. Verordnungzur Änderung der Spielverordnung vom BMWi eine Er-mächtigungsgrundlage geschaffen. Die Karte soll nurfür einen Tag und für eine Spielstätte gelten. Sie kannnur an einem Gerät eingesetzt werden, sodass Mehr-fachbespielungen ausgeschlossen werden. Die Kartesoll auch eine maximale Obergrenze für mögliche Ein-zahlungen beinhalten. Gewinne werden nicht auf derKarte gespeichert, sondern müssen – ebenso wie mögli-cherweise verbleibende Restbeträge – bis zur Schlie-ßung der Spielhalle ausbezahlt werden.Ich werde mich auch weiterhin dafür einsetzen, dassdie Kenntnisse der Spielhallenbetreiber über den Spie-ler- und Jugendschutz verbessert werden und eine Sach-kundeprüfung zur Voraussetzung für eine Spielhallener-laubnis gemacht wird. Auch dazu konnte ich michübrigens von Fortschritten überzeugen. Es geht auch umdie Förderung von Sozialkonzepten, zum Beispiel dieEinführung von Suchtpräventionsbeauftragten.Mir ist der kohärente Spielerschutz ein dringendesAnliegen. Ich bin davon überzeugt, dass wir für den Teil-bereich Automatensucht eine gute Lösung erwarten kön-nen. Ihren Antrag lehnen wir ab.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(C)
(B)
Von der FDP haben wir in den Ausschussanhörungenzu unserem Antrag gehört, dass Glücksspielsucht angeb-lich nur wenige Menschen betreffe. Das halte ich vordem Hintergrund von rund 500 000 pathologischenGlücksspielern, rund 800 000 problematischen Spielernund rund 3 Millionen Menschen, die ein oder zwei Krite-rien für risikoreiches Glücksspiel erfüllt haben, für äu-ßerst zynisch. Zumal die Bundesregierung in ihrem eige-nen Drogenbericht nicht nur die besonders starkeSuchtgefahr erwähnt, die es bei Geldspielautomatengibt, sondern auch von einer starken Steigerung derZahl der Süchtigen, insbesondere im Bereich jungerMänner, spricht und sich der Bruttospielertrag seit 2005von 2,35 Milliarden Euro auf 4,14 Milliarden Euro umüber 76 Prozent dramatisch erhöht hat.Von CDU und CSU haben wir in den Beratungen ge-hört, dass nicht das Spielangebot ursächlich für dieSucht sei, sondern „krankhafte Strukturen in der Per-sönlichkeit der Spieler“. Das hört man in den USA auchimmer von der Waffenlobby; nicht die Waffen sind dasProblem, sondern die Menschen, die diese Waffen benut-zen. Die Schlussfolgerung der Lobby in den USA: Weildie Waffen ja nicht das Problem sind, braucht es keineRegulierung. Beim Glücksspiel ist die schwarz-gelbeLogik, dass man – weil ja das Problem bei den Spiel-süchtigen liege – auf eine Regulierung der Geldspielau-tomaten weitgehend verzichten könne. Das ist auch des-wegen ein Skandal, da die Bundesregierung damit deneigenen Evaluierungsbericht der Novelle der Spielver-ordnung, der einen deutlichen Ausbau der Regulierungfordert, einfach ignoriert.Daran kann man leider sehen, dass die Automaten-lobby bei der Bundesregierung vollen Erfolg hatte. So-gar die krude Theorie der Lobby, wonach eine zu starkeRegulierung der Geldspielautomaten die Menschen an-geblich in die noch schlimmere Online-Glücksspielsuchttreibe, scheint inzwischen eine schwarz-gelbe Mehr-heitsmeinung zu sein, und das, obwohl die einzigeGrundlage dieser Theorie eine von der Automatenlobbyselbst finanzierte Studie ist und alle seriösen Suchtex-perten in der Anhörung zu unserem Antrag „Glücks-spielsucht bekämpfen“ energisch diese Theorie insReich der Fantasie verwiesen haben. Das Gegenteil istder Fall, in der Anhörung haben wir gehört, dass sichdie Süchte sogar noch gegenseitig verstärken, eine bes-sere Regulierung daher dringend notwendig wäre unddie angebliche „Kanalisierung“ lediglich eine Schutz-behauptung für diejenigen ist, die keine Suchtpräventionwollen. Die Frage ist also nur, ob die Regierungsfrak-tionen nicht zugehört haben oder ob sie nicht zuhörenwollen.Das endlose Gezerre um die neue Spielverordnung,die von der Bundesregierung eigentlich schon für daserste Halbjahr 2011 angekündigt war, vermittelt eherden Eindruck, dass Schwarz-Gelb schlicht und ergrei-fend den Schutz von Süchtigen und den Jugendschutz ge-genüber wirtschaftlichen Interessen der Automatenwirt-schaft als nachrangig erachtet. So hatten alle bisherigenEntwürfe des FDP-geführten Bundeswirtschaftsministe-riums für die Novelle der Spielverordnung stets eines ge-meinsam: viele Placebos, wenig Suchtprävention.Nehmen wir zum Beispiel die Spielerkarte. Die SPDfordert die Einführung eines Identifikationssystems undeine personengebundene Spielerkarte, mit der es zumBeispiel in Norwegen einige gute Erfahrungen gibt. DasPrinzip ist dabei, dass jeder nur eine personalisierteKarte erhält und Jugendliche keine erhalten. Damitwäre auch das dringend notwendige bundesweite Sperr-system für Süchtige möglich, für das wir uns einsetzen.Denn Süchtige können sich bisher nur für die in Kompe-tenz der Länder befindlichen Glücksspielbereiche selbstsperren lassen. Das gilt zum Beispiel für Spielcasinos,für Geldspielautomaten in Spielhallen und gastronomi-schen Einrichtungen gilt es aber nicht, wodurch dasganze Sperrsystem ausgehöhlt wird. Das müssen wirdringend ändern.Das Bundeswirtschaftsministerium will aber bishereine personenungebundene Spielerkarte einführen, dieauch von der Automatenwirtschaft befürwortet wird.Alle Experten aus der Suchthilfe haben dagegen in derAnhörung zu unserem Antrag erklärt, dass eine per-sonenungebundene Spielerkarte im besten Fall ein Pla-cebo ist und im schlechtesten Fall die Suchtgefahr nocherhöht, nämlich dann, wenn sie eher den Charakter ei-ner Kundenkarte hat. Das Problem mit einer Spieler-karte ohne Identifizierung ist, dass sie problemlos wei-tergegeben werden kann, sowohl an Süchtige, die anmehreren Automaten gleichzeitig spielen wollen, alsauch an Minderjährige. Dies befürchtet auch der Bun-desrat. Zeitliche oder finanzielle Begrenzungen alsSchutzfunktion sind zudem nicht möglich, wenn jederSpieler in jeder Spielhalle eine neue Karte erhaltenkann. Eine personenungebundene Spielerkarte verbes-sert also weder den Jugendschutz noch die Suchtpräven-tion und hat auch keine Steuerungsfunktion.Noch schlimmer wäre es nur, wenn diese personenun-gebundene Spielerkarte auch noch eine Geldkartenfunk-tion erhielte und damit bargeldloses Zahlen ermögli-chen würde, was die Sucht fördern würde. Derzeit wirdvon der Bundesregierung und interessanterweise auchvon Vertretern der Automatenwirtschaft dementiert,dass eine Geldkartenfunktion geplant sei, Bundeswirt-schaftsminister Philipp Rösler von der FDP hatte sichjedoch in der Vergangenheit wohlwollend genau dazugeäußert.Vor diesem Hintergrund darf man sich nicht wundern,dass die Koalitionsfraktionen zu unserer Anhörung zumAntrag „Glücksspielsucht bekämpfen“ ausgerechnetHerrn Gauselmann eingeladen hatten, der von „Lobby-Control“ für eine „Lobbykratie-Medaille“ nominiertwurde. Und die jetzige Debatte über verdeckte Partei-spenden und die wirtschaftlichen Verflechtungen derFDP mit der Gauselmann AG kann einen auch nichtwirklich überraschen.Überraschend ist für mich lediglich, dass es offen-sichtlich niemanden in CDU, CSU und FDP gibt, der dieSuchtprävention gegenüber wirtschaftlichen Interessenals vorrangig betrachtet. Die gesamte Opposition hathier eine andere Herangehensweise.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23517
Angelika Graf
(C)
(B)
Die SPD hat in ihrem Antrag „Glücksspielsucht be-kämpfen“ etliche Vorschläge für die notwendige Weiter-entwicklung der Suchtprävention und des Jugendschut-zes sowie auch speziell für die Novelle der Spiel-verordnung vorgelegt. Wir haben konkrete Vorschlägefür die Entschärfung und Entschleunigung der Geld-spielautomaten, mehr Transparenz für die Spieler hin-sichtlich der realen Gewinnchancen sowie den Abbauvon suchtfördernden Funktionen der Automaten vorge-stellt. Ich freue mich darüber, dass der Antrag sowohlmehrheitlich von den Experten in der Anhörung unter-stützt wurde als auch von den anderen Oppositionsfrak-tionen viel Zuspruch erhalten hat. Ich freue mich zudemdarüber, dass die Bundesregierung offenbar unserenVorschlag aufgreifen will, den Einfluss der Kommunenauf die Standortentscheidungen von Spielhallen auszu-bauen. Wir werden sehr darauf achten, dass es im Rah-men der Novelle des Baugesetzbuches dabei nicht nurbei Ankündigungen bleibt.Wir brauchen dringend ein Gesamtkonzept zur Prä-vention und Bekämpfung von Glücksspielsucht und dazuauch eine bessere Zusammenarbeit von Bund und Län-dern, für die wir bei der Drogenbeauftragten der Bun-desregierung einen unabhängigen Beirat einsetzen wol-len, der auch Empfehlungen für die Prävention abgebensoll. Ein kohärentes System der Prävention und Be-kämpfung der Glücksspielsucht ist nicht zuletzt die Vo-raussetzung für den Erhalt des staatlichen Glücksspiel-monopols, und Letzteres dürfen wir nicht aufs Spielsetzen, denn es bietet den bestmöglichen Rahmen für dieSuchtprävention und den Jugendschutz. Schwarz-Gelbgefährdet daher mit der Untätigkeit im Bereich derGeldspielautomaten das gesamte staatliche Glücksspiel-monopol und mit ihm die Suchtprävention auch in ande-ren Glücksspielbereichen.
Glücksspielsucht ist ein ernstzunehmendes Problem,
dem wir uns weiterhin zuwenden müssen. Denn Spielen
kann zu einem schweren Problem werden. Glücksspiel-
sucht geht im Extremfall mit hoher Verschuldung und
gesteigertem Verarmungsrisiko einher und stellt für die
Betroffenen und ihre Familien eine große psychische Be-
lastung dar. Wie bei jeder Suchterkrankung droht sich
die Spirale immer weiter zu drehen, wenn nicht rechtzei-
tig interveniert wird.
Bei aller Notwendigkeit, praktikable Lösungsansätze
gegen Glücksspielsucht zu entwickeln, muss aber auch
festgehalten werden: Es sind in Deutschland rund
264 000 Menschen im Alter von 16 bis 65 Jahren glücks-
spielsüchtig. Weitere 275 000 weisen ein problemati-
sches Glücksspielverhalten auf. Unter dem Strich ist das
circa 1 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in
Deutschland.
Die absoluten Zahlen klingen gewaltig, und klar ist
auch, dass jedem Einzelnen geholfen werden sollte. Die
relativen Zahlen sprechen allerdings auch eine eindeu-
tige Sprache: 99 Prozent der Bevölkerung im Alter von
16 bis 65 Jahren weisen kein problematisches oder pa-
thologisches Glücksspielverhalten auf. Ich empfinde es
als erfreulich, dass Glücksspiel für die überwiegende
Mehrheit nicht mehr ist als ein faszinierender Frei-
zeitspaß. Das dürfen wir auch bei der Regulierung des
Automatenspiels nicht vergessen.
Genau deshalb muss bei der Neujustierung der Re-
geln mit viel Augenmaß vorgegangen werden. Ein
Schwerpunkt bei der Bekämpfung von Glücksspielsucht
sollte daher bei Information und Prävention liegen. Zen-
trale Punkte dabei sind zum Beispiel Mitarbeiterschu-
lungen zur Früherkennung sowie Informationsmateria-
lien über kostenfreie und anonyme Beratungsmög-
lichkeiten. Auch die Hinweise auf das Beratungstelefon
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind
von zentraler Bedeutung.
Sehr begrüßenswert ist auch das seit 1985 bestehende
Alkoholverbot in vielen sogenannten „Spielotheken“.
Dies hilft den Spielgästen im wahrsten Sinne, einen kla-
ren Kopf zu behalten und nicht in riskantes Spielverhal-
ten abzudriften.
Von besonderer Wichtigkeit ist der Jugendschutz:
Minderjährige gehören einfach nicht an Automaten.
Wenn mancherorts das Jugendschutzgesetz nicht einge-
halten wird, haben wir ein Vollzugsdefizit, aber kein Ge-
setzesdefizit. Hier sind die Ordnungsbehörden angehal-
ten, das Jugendschutzgesetz konsequenter zu über-
wachen.
Die Bundesregierung arbeitet darüber hinaus an ge-
setzlichen Neuregelungen der Spielverordnung und der
Gewerbeordnung, um einen noch besseren Jugend- und
Spielerschutz zu erreichen. Geplant ist beispielsweise die
Einführung einer personenungebundenen Spielerkarte,
mit der man den Automaten freischalten muss. Dies
schafft einen besseren Jugendschutz, denn so wird die Ge-
fahr verringert, dass Minderjährige an Automaten spie-
len. Und dies schafft auch einen besseren Spielerschutz,
denn damit wird die gefährliche Automaten-Mehrfachbe-
spielung unterbunden.
Die Neuregelung der Spielverordnung und der Ge-
werbeordnung befindet sich gerade in der Feinjustie-
rung zwischen den zuständigen Ministerien. Der von
der SPD-Fraktion vorgelegte Antrag hat seine Erledi-
gung gefunden. Nicht nur, weil sich die christlich-libe-
rale Koalition der Glücksspielproblematik bereit ist an-
genommen hat, sondern auch, weil der SPD-Antrag in
weiten Teilen über das Ziel hinausschießt.
Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofesvom 8. September 2010 ist das Thema Glücksspielsuchtverstärkt in den Vordergrund der sucht- und drogenpoli-tischen Debatten gerückt. Aufgrund dieses Urteilsmusste der Glücksspielstaatsvertrag der Bundesländerreformiert werden, um das staatliche Glücksspielmono-pol aufrechterhalten zu können. Das Gericht hatte unteranderem die staatliche Werbung für Lotterien und dengleichzeitigen Auftrag der Suchtprävention mit dem Mo-nopolanspruch des Staates auf das Glücksspiel für un-vereinbar erklärt.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Frank Tempel
(C)
(B)
Vor allem Geldspielautomaten stellen sich hierbei alsHauptproblem einer Glücksspielsucht heraus, und dieAnhörung zum Antrag im Gesundheitsausschuss vom21. März 2012 hat ergeben, dass vor allem bei den Geld-spielautomaten ein enormer Handlungsbedarf besteht:Gerade das Glücksspiel an Geldautomaten, das einenSchwerpunkt des Antrags bildet, besitzt ein erhöhtesSuchtpotenzial.Der Antrag der SPD greift die mit dem Glücksspielverbundene Suchtproblematik auf und enthält richtigeForderungen, die uns aber noch nicht weit genug gehen.Daher auch unsere Enthaltung zu diesem Antrag.Die Forderung nach einer Entschleunigung der Geld-spielautomaten, die Senkung des maximalen Verlustespro Stunde, die Einführung eines verpflichtenden Identi-fikationssystems sowie eine Höchstzahl von Automatenin gastronomischen Einrichtungen sind richtige Punkteim Antrag der SPD. Allerdings sind die vorgeschlagenen15 bis 20 Sekunden pro Spiel immer noch viel zu niedrigangesetzt. Ergebnisse verschiedener Suchtforscher unddes Fachbeirats Glücksspielsucht sprechen eher von60 Sekunden. Dies ist neben der Reduzierung der Ver-fügbarkeit entscheidend für die Suchtbekämpfung und -prävention und prioritär vor Spielerkarten oder auchanderen Gerätespezifika zu bewerten.Gleichzeitig muss aber gefragt werden, ob es über-haupt sinnvoll ist, das Automatenspiel außerhalb vonSpielkasinos zu ermöglichen. Zwar sieht der Antrag derSPD Sanktionierungsmaßnahmen gegen Betreiber vor,falls diese sich nicht an die vorgeschlagenen Regelun-gen halten, die Frage der Kontrolle bleibt jedoch offen.Es ist nur schwer vorstellbar, dass nun die Ordnungsäm-ter und Polizeikräfte – neben der Vielzahl an Aufgaben,die bisher erledigt werden können – nun auch noch dieKontrolle von Lokalitäten übernehmen sollen. Die „Er-hebung zur Einhaltung des Jugend- und Spielerschutzesin Berliner Imbissen mit Geldspielautomaten“ der Fach-stelle für Suchtprävention im Land Berlin in Koopera-tion mit dem Präventionsprojekt Glücksspiel 2011 bestä-tigte, dass Jugendliche unter 18 Jahren in der Gastro-nomie unkontrollierten Zugang zu Geldspielgeräten ha-ben. Wie im Antrag der SPD selbst niedergeschrieben,ist der Zugang zu den Automaten viel zu niedrigschwel-lig, gerade auch für Personen unter 18 Jahren.Nachforschungen haben ergeben, dass vor allemjunge Migranten aus sozial schwierigen Verhältnissendie größte Gruppe der abhängigen Spieler abbilden.Spielhallen befinden sich besonders häufig in sozialschwachen Gebieten.Automatenspiel außerhalb von Spielkasinos, vor al-lem in gastronomischen Einrichtungen, sollte dahergänzlich verboten werden. Im Gegensatz zu gastronomi-schen Einrichtungen verfügen Spielkasinos potenziellüber bessere Sicherungsmaßnahmen, um pathologi-schen Spielern den Zutritt zu verwehren und den Ju-gendschutz einzuhalten. Dies muss weiter gestärkt wer-den.Aus kommunalpolitischer Sicht bieten sich hierdurchaus Handlungsmöglichkeiten: So hat der ehema-lige rot-rote Senat von Berlin im Mai 2011 als Erster einSpielhallengesetz beschlossen. Das Gesetz schreibtstrengere Vorschriften zum Aufstellen von Automatenvor. So wurde zum Beispiel ein Mindestabstand von500 Metern zwischen Hallen und Kinder- und Jugend-einrichtungen beschlossen. Mitarbeiter müssen zudemden Nachweis erbringen, Spielsucht erkennen zu kön-nen. Anfang des Jahres 2011 wurde außerdem die Ver-gnügungsteuer in Berlin auf Spielautomaten von 11 auf20 Prozent erhöht. Die FDP stimmte im Abgeordneten-haus als einzige Fraktion gegen dieses Gesetz.Aber von der FDP können wir in diesem Bereich auf-grund der offensichtlich guten Beziehungen mit der Au-tomatenlobby keinerlei Änderungen zum Schutz vor denSuchtgefahren durch das Automatenspiel erfahren. Soberichtete die ARD am 10. September 2012, dass anFDP-Tochterunternehmen vom Glücksspielautomaten-hersteller Gauselmann 2,5 Millionen Euro geflossen unddiese teilweise an die Partei weitergeleitet worden sind.So ist es nicht verwunderlich, dass die längst überfäl-lige Novellierung der Spielverordnung bis heute durchdas Bundeswirtschaftsministerium, FDP, verschlepptwird. Und auch bei der Anhörung zum Thema Glücks-spielsucht vom 21. März 2012 im Gesundheitsauschussdes Deutschen Bundestages wurde Herr Gauselmannvon der FDP als Sachverständiger geladen. Einen Inte-ressenskonflikt zwischen dem Verkauf von Glücksspiel-automaten und der Aufklärung über die Suchtgefahrendes Automatenspiels sieht die FDP hierbei offensicht-lich nicht gegeben. Wie bereits nach der Veröffentli-chung durch die ARD wiederhole ich an dieser Stellemeine Forderung: Das von der FDP geführte Bundes-wirtschaftsministerium ist nun in der Pflicht, die nötigeUnabhängigkeit von der Automatenwirtschaft nachzu-weisen. Es muss die Blockadehaltung in Fragen derSpielverordnung aufgeben. Die überfällige Novellierungdieser Verordnung muss in enger Rücksprache mit denSuchthilfeverbänden geschehen.
Vor zwei Wochen berichtete das ARD-Magazin Moni-tor darüber, dass ein Vertrauter und Geschäftspartnerder Firma Gauselmann, die hierzulande Geldspielge-räte herstellt, insgesamt 2,5 Millionen Euro in ein FDP-Tochterunternehmen investiert hat, wovon zumindest einTeil des Geldes auch an die Partei geflossen sein soll. Sokaufte das besagte Unternehmen der FDP beispiels-weise ein Grundstück zu einem wohl überhöhten Preisab. Die Bundestagsverwaltung prüft derzeit, ob es sichdabei um eine verdeckte Parteispende gehandelt hat.Derselbe Gauselmann-Berater ist übrigens auch Mitin-haber der Firma Pro Logo, die für die FDP in Sponso-ringfragen tätig ist.Vor dem Hintergrund dieser engen Verbindung ist esmittlerweile kein Wunder mehr, dass das FDP-geführteBundeswirtschaftsministerium die Novellierung derSpielverordnung nur zögerlich angeht. Eine vom Minis-terium selbst in Auftrag gegebene Studie hat zwar imVorfeld noch einmal das erhebliche Suchtpotenzial vonSpielautomaten und die Unwirksamkeit der bisherigenZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23519
Dr. Harald Terpe
(C)
(B)
Präventionsbemühungen festgestellt, aber davon ließsich Minister Rösler bislang nicht beeindrucken. Wirwissen jetzt vielleicht wieso.Wie stark die Industrie Einfluss auf die derzeitigenReformbemühungen nimmt, lässt sich an zwei Beispielenveranschaulichen: Die Automatenhersteller haben inden letzten Jahren durch die Umrechnung von Geldbe-trägen in Punkte einen Weg gefunden, die geltenden Vor-gaben der Spielverordnung zu umgehen. Anstatt diesePraxis zu untersagen, hat das Ministerium ihr zwischen-zeitlich durch einen Erlass de facto seinen Segen gege-ben. Nun wurde selbst im Zuge der vom Ministerium inAuftrag gegebenen Studie erklärt, dass dieses soge-nannte Punktespiel ein maßgeblicher Faktor für die Ent-stehung von Spielsucht und für den Verlust erheblicherGeldsummen sei. Man könnte also meinen, dass dies derdringendste Punkt ist, bei dem die BundesregierungHandlungsbedarf sieht – weit gefehlt. Rösler und seinMinisterium erklären ausdrücklich, das Punktespiel zu-lassen zu wollen, weil – und hier wird es jetzt zynisch –ein Verbot von der Branche umgangen werden würde.Zweites Beispiel. Die Bundesregierung erklärte, derEntstehung von Sucht und der Umgehung des Jugend-schutzes zukünftig dadurch begegnen zu wollen, indemsie eine Spielerkarte einführt – so weit, so gut. Nun gabes innerhalb der Bundesregierung – interessanterweisezwischen zwei FDP-geführten Ministerien – einen Streitdarüber, wie diese Spielerkarte aussehen soll. Die Dro-genbeauftragte der Bundesregierung schlug die Einfüh-rung einer personengebundenen Spielerkarte vor, weilnur diese aus suchtpolitischer Sicht Sinn macht. In die-sem Punkt stimme ich ihr ausdrücklich zu. Die Automa-tenbranche erklärte allerdings, allenfalls mit einer nichtpersonengebundenen Karte leben zu können, etwas,dass aus der Sicht von Spielsuchtexperten völlig nutzlosist und auch von den Ländern im Bundesrat abgelehntwird. Nun dürfen Sie raten, welcher Position sich dasBundeswirtschaftsministerium angeschlossen hat. DieEinführung einer personengebundenen Karte soll nun-mehr allenfalls mittelfristig erfolgen. Mit anderen Wor-ten: nie.Insofern begrüßen wir die Initiative der SPD, die aufÄnderungen im Bereich der Spielautomaten drängt, zu-mal es seinerzeit das SPD-geführte Wirtschaftsministe-rium war, das die Spielverordnung auf Wunsch derBranche erheblich gelockert hatte und somit für die der-zeitige Situation mitverantwortlich ist. Meine Fraktionhat in der Vergangenheit mehrfach Anläufe unternom-men, die Prävention im Bereich Glücksspielsucht geradeim Hinblick auf das Automatenspiel zu verbessern, zu-letzt mit einer Anhörung im Gesundheitsausschuss undmit einem Antrag, mit dem den Kommunen bessere Mög-lichkeiten an die Hand gegeben werden sollten, die Neu-ansiedlung von Spielhallen zu verhindern. Erfreulich ist,dass die SPD nun ebenfalls vorschlägt, dieser Spielhal-lenflut mittels einer Änderung der Baunutzungsverord-nung Herr zu werden. Dem entsprechenden Antrag un-serer Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wollten sie jaseinerzeit noch nicht zustimmen.Auch andere Forderungen des SPD-Antrags könnenvon uns unterstützt werden, insbesondere die strengerenRahmenvorgaben für Geldspielgeräte. Dies setzt aller-dings voraus, dass die Einhaltung der Vorgaben durchSachverständige auch vor Ort kontrolliert werden kann.Gerade diese Kontrollen vor Ort will die Bundesregie-rung aber jetzt abschaffen. Eine sinnvolle Begründunghat sie bislang dafür nicht abgegeben. Das fiele auchschwer, waren es in den vergangenen Jahren geradediese Sachverständigen, die auf Manipulations- undUmgehungsmöglichkeiten hingewiesen hatten. Viel-leicht ist gerade das aber auch der Grund für die Ab-schaffung.Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungs-fraktionen, wirksamer Spielerschutz und eine effektiveSuchtprävention sind kein Ausdruck von Wirtschafts-feindlichkeit. Sie entspringen einer nüchternen Kosten-Nutzen-Bilanz. Die negativen Auswirkungen, die gesell-schaftlichen Probleme und auch die sozialen Kosten, diedie Spielautomatenindustrie hierzulande zu verantwor-ten hat, überwiegen bei Weitem das, was diese Branchewirtschaftlich zur Entwicklung Deutschlands beiträgt.Anstatt den Wünschen gerade dieser Szene blind Folgezu leisten, sollten Sie sich die Mühe machen, sich mitden Folgen genauer zu beschäftigen. Wenn Sie dieswirklich einmal täten, würden auch Ihre Reformvor-schläge anders aussehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürGesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 17/10695, den Antrag der Fraktion derSPD auf Drucksache 17/6338 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Lin-ken angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergän-zung des Geldwäschegesetzes
– Drucksachen 17/10745, 17/10798 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden dazuzu Protokoll zu geben. – Ich sehe, Sie sind damit einver-standen.1)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufDrucksachen 17/10745 und 17/10798 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Gibt es anderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nichtder Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.1) Anlage 7
Metadaten/Kopzeile:
23520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(C)
(B)
Tagesordnungspunkt 23:Beratung des Antrags der Abgeordneten NicoleGohlke, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEKeine Rüstungsforschung an öffentlichenHochschulen und Forschungseinrichtungen –Forschung und Lehre für zivile Zwecke sicher-stellen– Drucksache 17/9979 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
VerteidigungsausschussWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen.
Die Erforschung und die Entwicklung neuer Techno-logien sind wesentliche Grundlagen des wirtschaftli-chen Erfolges und Wohlstandes unseres Landes.Dank des Engagements der Bundesregierung konntesich auch die zivile Sicherheitsforschung in Deutschlandals eigenständiges Forschungsgebiet mit einer gut ver-netzten Akteurslandschaft etablieren.Angesichts der globalen Bedrohungsszenarien derletzten Jahre ist es wichtig, die Sicherheit der Bürgerin-nen und Bürger sowie den Schutz kritischer Infrastruktu-ren durch systematische Forschungsaktivitäten zu erhö-hen. Die Sicherheit und die daraus resultierendeFreiheit der Bürger unseres Landes zu gewährleisten, istsomit ein expliziter Auftrag unserer Forschungspolitik.Die besagten Fördergelder des Bundesministeriumsfür Bildung und Forschung werden ausschließlich imHinblick auf die zivile Nutzbarkeit von Forschungspro-jekten vergeben. Nun unterstellen die üblichen Ver-schwörungstheoretiker in den Reihen der Opposition,dass die Gelder – durch die Hintertür – zur Finanzie-rung der Wehrtechnikindustrie dienen. Ich kann an die-ser Stelle nur immer wieder betonen, dass diese Unter-stellung schlichtweg falsch ist. Die Förderung vonwehrtechnischer Forschung hat hiermit nichts zu tunund fällt in den Zuständigkeitsbereich des Verteidi-gungsministeriums. Unser Programm für zivile Sicher-heitsforschung dient ausschließlich dem Ausbau der in-ternationalen Vorreiterstellung deutscher Anbieterziviler Sicherheitsprodukte und der Weiterentwicklunginterdisziplinärer akademischer Ausbildungsstrukturen.Es liegt dabei auf der Hand, dass zahlreiche Erkennt-nisse aus der zivilen Sicherheitsforschung auch militä-risch nutzbar sind. Und das, verehrte Kollegen von derLinken, ist auch gut so. Die alte Leier der unrechtmäßi-gen Doppelnutzung wird nicht stichhaltiger, je mehr Siedarauf herumreiten. Im Gegenteil: Die Doppelnutzungvon Forschungsergebnissen in dieser Sparte ist keinFluch, sondern ein Segen!Warum soll beispielsweise verbesserte Schutzklei-dung, die primär für Feuerwehrleute oder THW-Mitar-beiter entwickelt wurde, nicht auch unseren Soldaten imEinsatz zugutekommen? Oder weshalb sollten unsereStreitkräfte nicht ebenfalls von verbesserten Spreng- undKampfstoffdetektoren profitieren, die ursprünglich fürFlughäfen und andere empfindliche Punkte entwickeltwurden?Ich halte es für eine zutiefst ungehörige und unverfro-rene Forderung, unseren Soldaten, die tagtäglich ihreGesundheit oder gar ihr Leben für die Sicherheit diesesLandes riskieren, die neuesten Entwicklungen im Hin-blick auf eine bessere Ausrüstung vorzuenthalten.Doch damit nicht genug. In ihrem Antrag fordert dieLinke, „Zivilklauseln in den Statuten der Hochschulenund Forschungseinrichtungen sowie in den jeweiligenLandeshochschulgesetzen zu verankern“. Aus unsererSicht ist das ein höchst bedenklicher Eingriff in die For-schungsfreiheit der Wissenschaftler.Aber davon einmal ganz abgesehen, ist Ihr Vorhabenauch verfassungsrechtlich sehr problematisch. DerBund hat in diesem Bereich keinerlei Kompetenzen.Hochschulpolitik ist nach wie vor Ländersache. Akzep-tieren Sie das und streben Sie nicht ständig danach, dieföderalistischen Prinzipien dieser Republik auszuhe-beln.Zuletzt möchte ich dazu bemerken, dass mit dieserForderung neben Ihrer fehlenden juristischen Fach-kenntnis ein weiterer Denkfehler zutage tritt, der dieganze Diskussion um die Zivilklausel ohnehin alsScheindebatte entlarvt. Selbst wenn die Hochschulensich einer Zivilklausel unterwerfen würden, wäre damitnoch lange nicht gesichert, dass ihre rein zivilen For-schungserkenntnisse nicht irgendwann militärisch ge-nutzt werden könnten. Es ist doch während der Entwick-lungsphase oft gar nicht klar, für welche Fälle dasProdukt in Zukunft Verwendung finden kann.Ebenfalls absurd ist im Übrigen Ihr Appell zur Er-greifung einer „Initiative zur Offenlegung aller Koope-rationsverträge der Hochschulen“. Offensichtlich ist Ih-nen nicht klar, dass es sich hierbei um empfindlicheGeschäftsgeheimnisse handelt! Eine derartige Maß-nahme würde verfassungsrechtlich ebenfalls einen äu-ßerst bedenklichen Eingriff darstellen, ganz zu schwei-gen von dem erheblichen Schaden, den die deutscheWirtschaft davontragen würde.Zuletzt möchte ich noch ein paar Sätze zu Ihrer For-derung nach einer „Ausfinanzierung der Hochschulenin der Breite“ sagen. Sie können unserer Regierung nunwirklich nicht vorwerfen, zu wenig in die deutschenHochschulen investiert zu haben. Trotz der primärenVerantwortung der Länder wurden mehr Bundesmittelals jemals zuvor an die Hochschulen vergeben. Allein4,8 Milliarden Euro wurden in den Hochschulpakt 2020investiert.Zusätzlich wollen wir die Länder sogar dauerhaft mitBundesgeld für die Hochschulen unterstützen. Es sindvielmehr die rot-grünen Länder, die sagen, wir nehmendas Geld nur, wenn wir zusätzlich auch noch finanzielleZuwendung für die Schulen bekommen. So werden dieHochschulen von der Opposition in Geiselhaft genom-men, um deren leere Landeskassen zu füllen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23521
Florian Hahn
(C)
(B)
Sie sehen, der Vorwurf, die Bundesregierung ver-nachlässige die Förderung von Bildung und Forschungin Deutschland, ist unhaltbar. Vielleicht werfen Sie nocheinmal einen genauen Blick in den Einzelplan 30. Ichdenke, die Zahlen belegen das Engagement von FrauSchavan und der gesamten Koalition eindeutig.Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass dieForderungen im Antrag der Linkspartei allesamt über-zogen und nicht vertretbar sind. Sie sehen über sämtli-che verfassungsrechtlichen Grundsätze hinweg, Sie ma-chen keinen Halt vor der Unabhängigkeit der Hoch-schulen, die föderale Struktur unseres Landes scheint Ih-nen fremd zu sein, und, was ich noch schlimmer finde:Sie weisen eine äußerst ignorante Einstellung gegen-über den deutschen Soldatinnen und Soldaten auf.Den Antrag gilt es daher abzulehnen.
Einige von Ihnen wissen, dass ich mich sehr leiden-schaftlich für die Friedensforschung in Deutschlandeinsetze. Auch zu dem Thema zivile Sicherheitsfor-schung habe ich an dieser Stelle bereits öfter gespro-chen. Insofern war ich auf den uns hier vorliegendenAntrag durchaus gespannt. Aber um es gleich vorwegzu-nehmen: Ich bin von diesem Papier enttäuscht. Warum,möchte ich Ihnen anhand einzelner Punkte des Antragesdarstellen.Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen derLinken, fordern in dem Papier den Bund auf, an denUniversitäten eine Zivilklausel einzuführen. Wir Sozial-demokratinnen und Sozialdemokraten halten es für un-terstützenswert, wenn Universitäten für sich Zivilklau-seln einführen, die darauf abzielen, keine militärischeForschung zu machen, sondern dem Frieden in der Weltdienlich zu sein. Aber dafür ist der Bund der komplettfalsche Ansprechpartner. Das ist ganz klar Landeskom-petenz bzw. greift in die Autonomie der Hochschulen ein.Die Studierenden und Hochschulangestellten sind, wieSie in Ihrem Antrag selbst aufzählen, hingegen eigen-ständig in der Lage, wenn sie die nötige Mehrheit mobi-lisieren können, diese Klausel zu verankern. Eine Bewe-gung von unten ist bei solchen Überzeugungsfragensowieso besser als die Verordnung von oben, wie es dieLinke hier fordert.Vor allem aber weiß ich nicht, ob es wirklich fair ist,dass „die Politik“, also Parlament, Regierung usw., ei-nerseits Forschungsaufträge vergibt, auch für militäri-sche Zwecke, aber anderseits von den Hochschulen, alsoden Wissenschaftlern und Studierenden, verlangt, dieseAufträge bzw. Angebote nicht wahrzunehmen. Eine sol-che Vorgehensweise erscheint mir nicht redlich. Wir ver-schieben hier Verantwortung auf die Wissenschaft, diewir doch eigentlich hier im Parlament haben. Und wirsind es auch, die über den Einsatz der Forschungsergeb-nisse zu entscheiden haben. Wir können die Wissen-schaft beauftragen, einen Lastwagen zu entwickeln, undwir haben dann zu entscheiden, ob der Lkw zu zivilenoder militärischen Zwecken genutzt wird. Mit einem An-trag „Entwickelt uns einen Lkw, der auf keinen Fall fürmilitärische Zwecke genutzt werden kann“ schieben wirunsere Verantwortung auf die Wissenschaft ab.Daneben fordern Sie eine Offenlegung von Koopera-tionsverträgen zwischen Universitäten und Unterneh-men. Diese Forderung unterstützen wir. Aber auch hierist der Bund der falsche Ansprechpartner. Diese Forde-rung von Ihnen geht also ebenfalls ins Leere.Darüber hinaus fordern Sie, dass das Bundesministe-rium für Verteidigung keine Aufträge mehr an Universi-täten vergibt. Damit könnte ich einverstanden sein, wennklar wäre, was denn militärische Forschung ist. Hilfrei-cher wäre es, wenn Sie dazu eine Definition liefernkönnten, aber Sie kommen auf das zentrale Problem desDual Use nicht wirklich zu sprechen. Unter der Dual-Use-Problematik versteht man das Dilemma, dass zumBeispiel einige Technologien militärisch wie auch zivilverwendet werden können. Aktuell debattieren wir For-schungspolitiker zum Beispiel über die Veröffentlichungder H5N1-Publikationen. Darin haben Forscher ge-zeigt, wie ein gefährliches Virus übertragbarer gemachtwerden kann. Vor der Publikation wurden die Chancen– mögliche Erkenntnisse zur Bekämpfung einer Pande-mie – und Gefahren – mögliche Nutzung als Waffe – ge-geneinander abgewogen. Nach einer langen Diskussionkamen die Experten zu dem Ergebnis, dass die Chancendie Gefahren überwogen. An diesem Beispiel sieht manbereits, wie komplex die Dual-Use-Problematik oftmalsist. Nur auf Verbot zu setzen, wie die Linken es tun, hilftuns nicht weiter. Dabei benutzen Sie selbst unklare For-mulierungen wie dass Dual Use „weitestgehend verhin-dert wird“. Was heißt das konkret? Es muss vielmehrimmer wieder abgewogen werden, und das nicht nur imNachhinein, sondern die einzelnen Wissenschaftler müs-sen sich ihrer Verantwortung für ihre Forschung(-sergeb-nisse) insgesamt bewusster sein. Dieses wichtige Themagreifen Sie in Ihrem Antrag aber leider nicht auf. Sofehlt bei Ihrem Versuch einer historischen Einordnungdes Themas Rüstung und Wissenschaft dann auch, nichtganz überraschend, ein Verweis auf die für den deutschenWissenschaftsbetrieb so wichtige „Göttinger Erklärung“von 1957. Die 18 Atomphysiker haben das Thema mili-tärische versus zivile Forschung damals auf den Punktgebracht. Zu Recht gilt die Erklärung auch heute nochals Gründungsdokument dessen, was wir unter Wissen-schaftsethik verstehen.Ebenso fehlt in Ihrem Antrag ein Abschnitt zur Frie-dens- und Konfliktforschung, zu der Wissenschaft also,die sich maßgeblich mit den Themen auseinandersetzt,wie Frieden erhalten und gestützt werden kann. Dabeiwäre eine breite politische Unterstützung des Wissen-schaftszweiges durchaus angebracht. Wie Sie zu diesemThema stehen, muss der Leser Ihres Antrages hingegenerahnen. Vielleicht, weil auch hier Grenzen verwischenkönnen?Wie Sie wissen, habe ich mich in den letzten Jahrenöfters zum zivilen Sicherheitsforschungsprogramm derBundesregierung kritisch geäußert. Wir Sozialdemokra-tinnen und Sozialdemokraten haben dabei immer wiederinsbesondere die starke Technikzentriertheit und dieVerengung des Sicherheitsbegriffs auf terroristischeZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
René Röspel
(C)
(B)
Anschläge bemängelt. Wir sehen heute, dass das Minis-terium bei den Überlegungen zum neuen Sicherheitsfor-schungsprogramm einen Teil unserer Kritik aufgenom-men hat. Das neue Programm ist jetzt breiter aufgestellt.Wir gehen davon aus, dass sich dies am Ende auch inden Ergebnissen widerspiegeln wird. Mögliche Anwen-der der erforschten Lösungsansätze sind THW, Feuer-wehr und Polizei. Zu Recht gibt es in Deutschland dieTrennung zwischen militärischer und ziviler Forschung.Allerdings wird in vielen Bereichen im Nachhinein beiVorliegen der Ergebnisse eine Dual-Use-Diskussionmöglich sein, ohne dass man sie vorher gesehen hat.Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen von den Linken, Sie sprechen in Ih-rem Antrag viel über das, was Sie nicht wollen. Wie manaber tatsächlich militärische Nutzung eines für zivileZwecke produzierten Forschungsergebnisses bereits vorEntstehung des Ergebnisses verhindern kann, wäre einespannende Frage gewesen. Um eine Antwort aber mo-geln Sie sich herum. So kann man den Antrag wohl fol-gendermaßen zusammenfassen: einige gute Grundideen,diese werden aber total durcheinander an den falschenAdressanten verschickt. Schade! Das so wichtige ThemaWissenschaft und Rüstung hätte mehr verdient.
Der Antrag „Keine Rüstungsforschung an öffentli-chen Hochschulen und Forschungseinrichtungen – For-schung und Lehre für zivile Zwecke sicherstellen“ derLinken offenbart ein überaus fragwürdiges wissenschafts-politisches Verständnis, das wir Liberale in keinsterWeise teilen. Wir lehnen den Antrag ab, weil wir die Auf-fassung von Forschung und unserem Wissenschaftssys-tem, die der Antrag transportiert, nicht unterstützen.Im März 2012 stellte die Linke einen Antrag, der un-ter dem Titel „Freiheit von Forschung und Lehre schüt-zen“ die Forschungsfreiheit als zentralen Punkt propa-gierte. Heute greift sie mit dem vorliegenden Antraggenau diese Freiheit frontal an. Sie wollen der Wissen-schaft, den Hochschulen und Forschenden die Freiheitnehmen, selbst zu entscheiden, welche Forschungspro-jekte angenommen werden und in welchen Bereichen ge-forscht werden darf. Sie wollen, wie im aktuellen Antraggefordert, die gesetzliche Verankerung von Zivilklauselnin den Landeshochschulgesetzen, in den Statuten vonHochschulen und Forschungseinrichtungen. Eine sol-che gesetzliche Verankerung ist mit Forschungsfreiheitaber nicht vereinbar. Wenn Sie Wissenschaftsfreiheiternst nehmen, dann müssen Sie auch akzeptieren, dassder Wissenschaftler seine eigenen Maßstäbe anlegt undselbst entscheidet, welche Kooperation und Aufträge erannimmt. Ideologische Einschränkungen, wie die For-derung nach einer politisch verordneten Zivilklausel unddem Verbot von Forschung mit militärischem Hinter-grund bzw. zur militärischen Nutzung, lehnen wir ent-schieden ab.Für uns Liberale ist die Freiheit von Forschung undLehre ein überaus hohes und kostbares Gut. Wissen-schaftsfreiheit ist ein in Art. 5 GG garantiertes Grund-recht und wird nur durch den Schutz anderer verfas-sungsrechtlich geschützter Werte begrenzt. Es ist nachunserem Verständnis Grundlage wissenschaftlichen Ar-beitens sowie Fundament unseres Wissenschaftssystems.Forschungsfreiheit bedeutet für uns aber nicht nurSelbstbestimmung darüber, zu welchen Forschungsthe-men und in welchen Bereichen der Wissenschaftlerforscht, sondern es impliziert auch eine gesellschaftlicheVerantwortung des Wissenschaftlers. Dieser Verantwor-tung sind sich Wissenschaftler in Hochschulen und inForschungseinrichtungen bewusst, so beispielsweise dieMax-Planck-Gesellschaft, die in 2010 das Papier „Hin-weise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum ver-antwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und For-schungsrisiken“ für sich und ihre Mitglieder die Grenzenvon Forschung formulierte und dabei die Personen, deneinzelnen Wissenschaftler als Verantwortungsträger inden Mittelpunkt rückt.Die Linke fordert in einem weiteren Punkt, dass derWissenschaftsrat mit der Erarbeitung eines Kodex be-auftragt werden soll. Laut Antrag soll definiertes Zieldes Kodex die ausschließlich zivile Ausrichtung vonForschung und Lehre an öffentlichen wissenschaftlichenEinrichtungen sein. Allein diese Forderung legt offen,welche kruden Vorstellungen von der Arbeit und demVerständnis des Wissenschaftsrates bei der Linken vor-herrschen. Der Wissenschaftsrat ist aber kein Instru-ment zur Durchsetzung politischer Ideologie, sondernein wissenschaftspolitisches Beratungsgremium. DerWissenschaftsrat ist unabhängig und wird von der Poli-tik um Stellungnahme gebeten. Für uns Liberale ist einsolcher Kodex auch nicht von oben zu verordnen. Wel-che Legitimation besitzt solch ein Kodex, wenn er oktro-yiert wurde? Vielmehr müssen sich die Wissenschaftlerund die Einrichtungen von sich aus und aus sich herausüber die Grenzen von Forschungsfreiheit austauschenund, wenn notwendig, zu einem Kodex finden. Das besteBeispiel hierfür ist das von der Linken ausgewählte undgeforderte Beispiel der Zivilklausel und die Einführungan den Hochschulen in der jungen Bundesrepublik. Eswaren die zahlreichen Hochschulen, die sich selbst imRahmen der sogenannten Zivilklausel gegen die Beteili-gung an wehrtechnischer Forschung ausgesprochen ha-ben.Interessanterweise war es der Wissenschaftsrat, derin 2007 in seiner Stellungnahme zur Neustrukturierungder Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwis-senschaften e.V. der Politik empfahl, die drei Ressortfor-schungseinrichtungen des Bundesministeriums für Ver-teidigung in die Fraunhofer-Gesellschaft zu überführen.Es war zwar eine politische Entscheidung, die 2009 zurIntegration der drei Ressortforschungseinrichtungen indie Fraunhofer-Gesellschaft führte, aber – anders als esder Antrag von der Linken zur Interpretation freigibt –auf Empfehlung der Wissenschaft.Ein weiterer Punkt, den wir am Antrag der Linken zukritisieren haben, ist die Behauptung, mittels Regelun-gen und Gesetzen eine Trennlinie zwischen militärischerund ziviler Forschung ziehen zu können, so als sei eskein Problem, Forschung und Forschungsergebnisse zukategorisieren und eine Doppelnutzung auszuschließen.Als Beispiel wird das von der christlich-liberalen Koali-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23523
Dr. Martin Neumann
(C)
(B)
tion aufgelegte Programm „Forschung für die zivile Si-cherheit“ kritisiert, wo die Bundesregierung nach demAntrag der Linken auszuschließen hat, dass die For-schungsergebnisse auch militärisch genutzt werden. Inden Beratungen im Ausschuss wurde darauf hingewie-sen, dass die Forschungsfragen im Programm „For-schung für die zivile Sicherheit“ entlang ziviler Sicher-heitsszenarien erfolgen. Dass nun abermals angemahntwird, dass Forschungsprojekte zu Detektionssystemenzum Nachweis von Gefahrenstoffen eine Doppelnutzungerlauben und militärisch eingesetzt werden können,zeigt, dass der Versuch der lupenreinen Trennung von zi-vil und militärisch nicht möglich ist.Als einen letzten Kritikpunkt sei auf die Forderungnach einer Ausfinanzierung der Hochschulen verwiesen.Für die Grundfinanzierung der Hochschulen sind alleindie Länder verantwortlich. Ähnlich pauschal, wie dieseForderung in jedem Antrag der Linken formuliert wird,lehnen wir es ab. Es ist für die Zukunft sicherlich einfa-cher, wenn die Linke den Förderalismus und die Zustän-digkeit der Länder anerkennt, als in ihren Anträgen dieRealitäten zu verdrehen. Zudem sei darauf verwiesen,dass von der Linken bislang die konkreten Schritte die-ser christlich-liberalen Koalition abgelehnt wurden.Wenn die Linke an der Finanzierung der Hochschulenmitwirken möchte, ist diese gerne eingeladen, dieGrundgesetzänderung in Art. 91 b im Bundesrat zu un-terstützen und so dem Bund zu ermöglichen, sich an derFinanzierung von Hochschulen zu beteiligen.Der Antrag von der Linken wird dem Anspruch andas Wissenschaftssystem nicht gerecht. Wir Liberalesind gegen ideologische Denkverbote. Aus diesemGrund lehnen wir den Antrag ab.
Diese Woche, vom 24. bis 29. September, findet diebundesweite Aktionswoche gegen die Aktivitäten vonBundeswehr an Schulen und Hochschulen statt. DieHauptforderung des Bündnisses lautet: „Wir fordern diesofortige Kündigung der bestehenden Kooperationsver-einbarungen zwischen Kultusministerien und der Bun-deswehr sowie die flächendeckende Einführung und Ein-haltung von Zivilklauseln, um eine Lehre und Forschungan Hochschulen zu garantieren, die ausschließlich zivi-len Zwecken dient.“Dem kann ich mich nur voll und ganz anschließen –gerade hier in der Bundesrepublik, einer der größtenWaffenexportnationen der Welt.Wissenschaft im Dienste des Krieges und des Militärsund die Einführung von Zivilklauseln, also die Verpflich-tung auf eine friedlichen und zivilen Zwecken dienendeForschung und Lehre, werden an immer mehr Hoch-schulen unter Studierenden, Wissenschaftlerinnen undWissenschaftlern, unter Professorinnen und Professorenund den Beschäftigten der Hochschule diskutiert. In ei-ner Reihe von Hochschulen wurde in den letzten Mona-ten positiv über die Einführung von Zivilklauseln be-schieden: In einer Urabstimmung an der Uni Frankfurthaben sich 76 Prozent dafür ausgesprochen. An denUniversitäten Tübingen und Rostock sowie an der Hoch-schule Bremen wurden Zivilklauseln direkt in die Statu-ten der Hochschulen aufgenommen. Immer mehr Stu-dierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlermöchten sich also im Rahmen ihrer Tätigkeit an derHochschule nicht an der Entwicklung militärischer Gü-ter beteiligen.Diese Position reflektiert nicht nur die deutsche Ge-schichte – es ist auch der bewusste Umgang mit der ethi-schen Verantwortung als Wissenschaftlerin oder Wissen-schaftler.Die Haushaltsgesetze 2009 bis 2012 bescheinigen,dass das Bundesministerium für Verteidigung, BMVg,jährlich Summen zwischen 900 Millionen und 1,2 Mil-liarden Euro für „Wehrforschung, wehrtechnische undsonstige militärische Entwicklung und Erprobung“ aus-gibt. Der Großteil dieser Gelder fließt an Institute derRessortforschung sowie an private Firmen, doch auchan öffentlichen Hochschulen und außeruniversitärenForschungseinrichtungen wird Rüstungsforschung undmilitärisch nutzbare Forschung betrieben.Nach bisherigen Erkenntnissen vergab das Bundes-ministerium für Verteidigung, BMVg, von 2006 bis 2009jährlich etwa 8 Millionen Euro an Drittmitteln für wehr-technisch relevante oder militärische Forschung andeutsche Hochschulen; rund 36 Millionen Euro flossenfür dieselben Zwecke zwischen 2000 und 2010 jährlichan öffentliche Forschungseinrichtungen.Diese Zahl zeigt aber nur an, was offiziell für militä-rische Forschung ausgegeben wird. Die Frage, was ei-gentlich alles unter militärische und Rüstungsforschungfällt, ist abschließend nicht einmal geklärt. Und leidersind oftmals bei offiziell als zivil deklarierten Projektenund Mitteln keineswegs auch wirklich zivile Absicht undziviler Zweck sichergestellt.Gerade im Rahmen des durch das Ministerium fürBildung und Forschung aufgelegten „zivilen Sicher-heitsprogramms“ finden sich viele Forschungsprojekte,die unter den Begriff des „Dual Use“ fallen, Projektealso, die einem zivilen Zweck dienen, genauso aber auchmilitärisch genutzt werden können. Viele Forscherinnenund Forscher wissen also oftmals gar nicht, wie die Er-gebnisse ihrer Forschung letztlich verwertet werden. Siesind Teil eines Großprojektes und arbeiten in ihren spe-ziellen Teilbereichen, ohne zu erfahren, was als Endpro-dukt eigentlich herauskommen soll. Diese Wissenschaft-lerinnen und Wissenschaftler haben durch die fehlendeklare Abtrennung und die mangelnde Transparenz nichteinmal die Chance, sich die Gewissensfrage zu stellen,ob sie bereit wären, Militär- oder Rüstungsgüter zu ent-wickeln. Wenn die Bundesregierung ihre vielgepriesene„Wissenschaftsfreiheit“ wirklich ernst nehmen würde,dann würde diese für sie auch unterhalb der Leitungs-und professoralen Ebene gelten – nämlich für alle Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie müssen end-lich wieder die Kontrolle über ihr wissenschaftlichesHandeln bekommen; dafür ist die Herstellung vonTransparenz eine Grundvoraussetzung.Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antragdeshalb auf, sich für die Offenlegung von Kooperations-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Nicole Gohlke
(C)
(B)
verträgen zwischen Hochschulen und privaten Auftrag-gebern einzusetzen und eine entsprechende Verpflich-tung in den jeweiligen Gesetzen zur Informationsfreiheitbzw. in den Hochschulgesetzen zu verankern.Wir fordern die Bundesregierung auch auf, die Ge-heimhaltung bei ihrer eigenen Vergabepraxis aufzuhe-ben. Es kann nicht sein, dass Mittel aus dem Verteidi-gungsministerium an öffentliche Hochschulen undForschungseinrichtungen dem Geheimschutz unterlie-gen und der öffentlichen Kontrolle vorenthalten werden.Die Bundesregierung sollte stattdessen gemeinsammit den Ländern eine Initiative starten, um sicherzustel-len, dass Forschung und Lehre an öffentlichen Hoch-schulen und außeruniversitären Forschungseinrichtun-gen ausschließlich zivilen und friedlichen Zweckendient. Wir fordern, dass sich auch die Bundesregierung– genauso wie viele Studierende und einzelne Hochschu-len – zu der im Grundgesetz verankerten Friedensver-pflichtung bekennt und sich dafür einsetzt, dass bundes-weit Zivilklauseln in den Statuten der Hochschulen undForschungseinrichtungen und in den jeweiligen Lan-deshochschulgesetzen verankert werden. Was wir brau-chen, ist die Ausfinanzierung der Hochschulen in derBreite. Das würde die wissenschaftliche Unabhängigkeitgewährleisten, würde die Hochschulen unabhängig ma-chen vom Druck, private Mittel einwerben zu müssen,um überhaupt forschen und lehren zu können.Das Verteidigungsministerium gibt jährlich über1 Milliarde Euro für Wehrforschung aus. Kriege und be-waffnete Konflikte machen einen weltweit wachsendenWirtschaftszweig aus: Laut des Stockholmer Instituts fürFriedensforschung belaufen sich die weltweiten Staats-ausgaben für Militär- und Rüstungsgüter auf 1,74 Billio-nen US-Dollar im letzten Jahr.Der aktuelle OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick2012“ hat uns noch einmal vor Augen geführt, wie drin-gend in der Bundesrepublik Bildungschancen und So-zialstatus entkoppelt werden müssten: Nur 20 Prozentder jüngeren Beschäftigten in Deutschland haben einenhöheren Bildungsabschluss als ihre Eltern, 22 Prozenteinen niedrigeren. Damit ist die BundesrepublikSchlusslicht unter den OECD-Ländern.Die Milliarden für Rüstungsgüter und militärischeForschung werden offensichtlich in diesem chronischunterfinanzierten Bildungswesen dringend benötigt. Dawären sie besser aufgehoben!
Wir haben bei verschiedenen Gelegenheiten mehrTransparenz bei der öffentlichen Forschungsförderung,dem Einsatz von öffentlichen Forschungsmitteln und beiKooperationsverträgen zwischen Hochschulen, staat-lichen Forschungseinrichtungen und Dritten gefordert.Ich habe die Bundesregierung mehrfach aufgefordertgemäß der Empfehlung des wissenschaftlichen BeiratsKriterien zu entwickeln, die den zivilen Charakter desRahmenprogramms Sicherheitsforschung gewährleis-ten. Wir brauchen zweifellos Spielregeln und Standardsfür Offenlegungspflichten und zur Wahrung der Freiheitder Wissenschaft.Aber den Antrag der Linken werden wir ablehnen. Indiesem Antrag kommt die Linke mal wieder auf einemziemlich hohen moralischen Ross daher. Aber dieseMoral erweist sich ähnlich wie Herr Tur Tur bei „JimKnopf“ als Scheinriese, der immer mehr zusammen-schrumpft, je mehr man sich ihm zu nähern wagt.Als jemand, der Anfang der 80er-Jahre selbst in derFriedensbewegung aktiv war, muss ich feststellen, dassdie Linke gedanklich und rhetorisch noch in der histori-schen Phase der Blockkonfrontation verhaftet ist, alsverfeindete Staaten bzw. Staatenblöcke durch wechsel-seitige Hochrüstung und gegenseitige Drohung mit Ver-nichtung ein sogenanntes Gleichgewicht des Schreckenszu etablieren suchten und die Friedensbewegung sichmühte, diese grausame Logik zu durchbrechen.Inzwischen hat sich das internationale Völkerrecht– nicht zuletzt vor dem Hintergrund neuer Herausforde-rungen wie innerstaatlicher ethnischer und nationalisti-scher Konflikte und asymmetrischer terroristischer Ge-walt – weiterentwickelt.Das Völkerrecht und die UN als System kollektiverFriedens- und Sicherheitsordnung bejahen ausdrücklichdie subsidiäre Schutzverantwortung der internationalenStaatengemeinschaft „the responsibility to protect“ ein-schließlich der Option für militärische Interventionenals Ultima Ratio.Wer wie die Linke auf die besondere historische Ver-antwortung Deutschlands verweist, muss sich fragenlassen, ob diese Deutschland nicht geradezu verpflich-tet, sich nicht in die Büsche zu schlagen, wenn die inter-nationale Staatengemeinschaft die Notwendigkeit einersolchen subsidiären Schutzverantwortung unter Einsatzauch militärischer Mittel im Einzelfall feststellt.Es ist schon seltsam, wenn bei der Linken die histori-sche Verantwortung dafür herhalten muss, dassDeutschland die Teilnahme an internationalen UN-mandatierten Einsätzen lieber den Ländern überlassensoll, die seinerzeit mit nationalsozialistischem Angriffs-krieg und Besatzung überzogen wurden, kleine Länderwie Dänemark und Norwegen, bei denen der gesell-schaftliche Konsens darüber viel größer ist, dass manmanchmal den Versuch machen muss, Menschen davorzu bewahren, in ethnischen, religiösen oder nationalisti-schen Konflikten abgeschlachtet zu werden – auch wenndies nicht heißt, dass dies immer möglich ist oder immergelingt. Was es bedeutet, wenn der Versuch unterbleibtund die Staatengemeinschaft sich auf ziviles Zuguckenverlegt, davon habe ich mich selbst 1996 in Bosnienüberzeugen können.Wenn sich Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnenund Polizisten freiwillig für solche schwierigen undgefährlichen Aufgaben auf der Basis demokratischerpolitischer Entscheidungen zur Verfügung stellen, dannhaben sie das Recht auf gute Ausbildung, gute Vorberei-tung und optimale Ausrüstung für solche Einsätze. Allesandere wäre verantwortungslos.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23525
Krista Sager
(C)
(B)
Die Auffassung, es sei per se unmoralisch, durch For-schung und Entwicklung zur Verbesserung und Weiter-entwicklung dieser Ausrüstung beizutragen, teile ichnicht.Richtig ist, dass in diesem Zusammenhang wichtigepolitische Fragen der Rüstungskontrolle und des Rüs-tungsexports geklärt werden müssen, und dazu gibt esauch von uns jede Menge kritische Beiträge. Aber dieBehauptung der Linken, jede Forschung und Entwick-lung, die nicht ausschließlich zivilen Zwecken diente,verstoße gegen das Friedensgebot des Grundgesetzes,halte ich für ziemlich weit hergeholt. Dann wäre unserGrundgesetz ja mit dem internationalen Völkerrechtnicht kompatibel.Noch abenteuerlicher finde ich die Behauptung, diebloße mögliche Doppelnutzung von Forschungs- undEntwicklungsergebnissen sei ebenfalls mit der Friedens-pflicht des Grundgesetzes unvereinbar. Gerade im Be-reich IT-intensiver Entwicklungen ist es unvermeidbar,dass viele dieser Dinge sowohl in der Polizeiarbeit,beim Katastrophenschutz, bei der Verkehrs- und Bau-überwachung oder auch in einem militärischen Umfeldgenutzt werden können. Die gesamte Forschung in die-sem Kontext für unmoralisch und verfassungswidrig zuerklären, halte ich für absurd.Es liegt nun mal auch in der Natur asymmetrischerterroristischer Gewalt, dass sie im Inland gegen dieZivilbevölkerung zuschlagen kann oder im Ausland beiinternationalen Einsätzen. Sollen deshalb Entwicklun-gen zur Gefahrstofferkennung per se unmoralisch sein?Und was ist überhaupt die Moral bei der Geschichte?Wenn ein Sensor dazu eingesetzt werden kann, einenverloren gegangenen Feuerwehrmann in einem bren-nenden Gebäude aufzuspüren, ist er gut, und wenn dergleiche Sensor hilft, einen verloren gegangenen Solda-ten bei einem Einsatz wiederzufinden, ist er böse – oderwas ist die Moral der Linken?Natürlich gibt es bei sicherheitstechnologischen Ent-wicklungen wichtige Fragen in der Abwägung zwischenBürgerrechten und Sicherheitsbedürfnissen. DieseFragen lassen sich aber nicht mit Forschungsverbotenund moralischen Stigmatisierungen beantworten.Aber die Linke will ja sogar öffentlichen Hochschulendie geisteswissenschaftliche Forschung über Auslands-einsätze am liebsten verbieten – als wenn es da nichtsNützliches zu lernen gäbe, und sei es aus Fehlern, dieman nicht wiederholen sollte.Ob Hochschulen oder Forschungseinrichtungen eineZivilklausel einführen wollen und was sie beinhaltensoll, darüber sollten diese selbst entscheiden. Das Wich-tigste dabei scheint mir ein offener intensiver Diskus-sionsprozess. Die staatliche Verordnung einer solchenKlausel widerspricht der autonomen Leitbildentwick-lung. Die Motive der Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler bei den älteren Zivilklauseln waren klar: Siewollten nicht zur Vorbereitung eines Angriffskrieges bei-tragen. Wie müsste eine Friedensklausel heute aussehen,die dem Friedenswunsch im Rahmen einer kollektivenFriedens- und Sicherheitsordnung entspricht und neuengesellschaftlichen und technologischen Entwicklungengerecht werden kann. Darüber lohnt sich die Debatte.Aber die Antwort ist aus meiner Sicht nicht so ein-fach, wie die Linke sich das vorstellt.Für mich steht das Massaker von Srebrenica – derVölkermord an 8 000 muslimischen Bosniaken im Alterzwischen 12 und 77 Jahren trotz der Anwesenheit vonBlauhelmsoldaten – auch dafür, dass es eine Illusion ist,zu glauben, „ausschließlich zivile Zwecke“ seien immerund überall identisch mit „friedlichen Zwecken“.Übrigens sollte die Linke bei aller moralischen Über-höhung bedenken, dass das Hauptproblem von HerrnTur Tur war, das seine scheinbare Riesenhaftigkeit ihnziemlich einsam machte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9979 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 24:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Postbeamtenversor-
gungskasse
– Drucksache 17/10307 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses
– Drucksache 17/10853 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Brackmann
Carsten Schneider
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Mit dem vorliegenden Gesetz übertragen wir die Auf-gaben der Postbeamtenversorgungskasse BPS-PT aufdie Bundesanstalt für Post und TelekommunikationDeutsche Bundespost. Wir kommen damit insbesonderevom Bundesrechungshof geäußerten rechtlichen Beden-ken nach.Worum geht es genau? Der BPS-PT ist Anfang 2011aus der Verschmelzung der von der Deutschen Telekom,der Deutschen Post und der Deutschen Postbank imJahre 1995 gegründeten Unterstützungskassen in derRechtsform eines eingetragenen Vereins entstanden.Hauptaufgabe der Postbeamtenversorgungskasse ist es,Versorgungs- und Beihilfeleistungen an Versorgungs-empfänger der früheren Deutschen Bundespost und derPostnachfolgeunternehmen zu erbringen. Sie betreutderzeit fast ein Fünftel der Versorgungsempfänger in der
Metadaten/Kopzeile:
23526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Norbert Barthle
(C)
(B)
Bundesrepublik und ist damit die größte Beamtenversor-gungskasse in Deutschland. Finanziert wird der BPS-PTdurch Beiträge der Postnachfolgeunternehmen unddurch den Bund. Der Bund leistet dabei den größten Teilder Zuführungen an die Postbeamtenversorgungskasse.Diese beliefen sich im Jahr 2011 auf rund 6,3 MilliardenEuro. Im laufenden Jahr sind rund 6,8 Milliarden Eurovorgesehen.Der Bundesrechnungshof hat in der Vergangenheitwiederholt die Rechtsform des BPS-PT als privatrecht-licher Verein kritisiert, nicht zuletzt auch vor dem Hin-tergrund der umfangreichen finanziellen Zuwendungendes Bundes an die Kasse. Kritisch wurde dabei insbe-sondere gesehen, dass rechts- und fachaufsichtliche Ent-scheidungen gegenüber dem Verein nur eingeschränktdurchgesetzt werden können. Wir akzeptieren die Kritikdes Bundesrechnungshofs und übertragen mit dem heutedebattierten Gesetz die Aufgaben sowie die vermögens-rechtlichen Rechte und Pflichten der Postbeamtenver-sorgungskasse auf die Bundesanstalt für Post und Tele-kommunikation Deutsche Bundespost, wie sie korrektheißt.Die Bundesanstalt wurde im Rahmen der zweiten Stufeder Postreform im Jahr 1995 als Anstalt des öffentlichenRechts eingerichtet. Sie nimmt unternehmensbezogeneund soziale Aufgaben mit Bezug zu den Postnachfolgeun-ternehmen wahr. Dafür wird sie im Wesentlichen vondiesen finanziert. Die mit dem vorliegenden Gesetzent-wurf geplante Aufgabenübertragung ist aus unsererSicht ohne größere Probleme und kostengünstig mög-lich. Den öffentlichen Haushalten entstehen weder da-durch noch durch die sonstigen Regelungen des Geset-zes zusätzliche Kosten. Die Verwaltungskosten derPostbeamtenversorgungskasse wurden schon bisher vonden Postnachfolgeunternehmen getragen. Sie werden esauch weiterhin tun.Die Rechtsformänderung ist im Detail mit vielen Re-gelungsanpassungen verbunden, stellt aber insgesamteinen eher technischen Akt dar. Ich möchte im Folgen-den noch auf einen besonderen Aspekt dieser techni-schen Umsetzung hinweisen. In den Jahren 2005 und2006 hat der BPS-PT in einer umstrittenen Aktion einenGroßteil der gegenüber den Postnachfolgeunternehmenbestehenden, zukünftigen Beitragsforderungen an zweiZweckgesellschaften verkauft und übertragen. Der BPS-PT steht für diese Forderungen gerade. Er hat diese Ga-rantie durch die Verpfändung seiner Ansprüche gegenden Bund abgesichert. Zur Finanzierung der von denVerbriefungszweckgesellschaften an den BPS-PT ge-zahlten Kaufpreise haben die Zweckgesellschaften An-leihen am internationalen Kapitalmarkt platziert. AufGrund der erzielten Verkaufserlöse musste der Bund inden Jahren 2005 und 2006 keinen und im Jahr 2007 nureinen geringen Zuschuss an die Postbeamtenversor-gungskasse leisten. In Bezug auf die jetzige Aufgaben-übertragung ist zu sagen, dass die Bundesanstalt insämtliche im Zusammenhang mit den Forderungsver-käufen begründete vertragliche Rechte und Pflichteneintritt. Die Rechte der Gläubiger aus den Forderungs-verkäufen bleiben gewahrt. Pfandrechte und sonstige Si-cherungsrechte bestehen unverändert fort. Der Gesetz-entwurf ist auch mit Blick auf mögliche Kapital-marktrisiken sehr genau geprüft und mit den relevantenAkteuren besprochen worden.Lassen Sie mich abschließend noch kurz auf die wei-teren wesentlichen Neuregelungen des Gesetzes hinwei-sen:Da ist erstens die Verlängerung der Regelungen zumVorruhestand für die bei den Postnachfolgeunternehmenbeschäftigten Beamtinnen und Beamten um vier Jahre.Zweitens schaffen wir mit dem Gesetz eine Ermächti-gungsgrundlage für unternehmensspezifische Regelun-gen zur Altersteilzeit.Schließlich besteht mit dem Gesetz die Möglichkeitder dauerhaften Zuweisung von Beamtinnen und Beam-ten an Konzernmutter- und -schwestergesellschaften derPostnachfolgeunternehmen. Dies wird aber niemals ge-gen den Willen der Betroffenen stattfinden.Ich bin davon überzeugt, dass wir mit diesem ehertechnischen Gesetz gleichwohl Sinnvolles regeln. DieAufgaben des BPS-PT werden in der Bundesanstalt fürPost und Telekommunikation Deutsche Bundespost inguten Händen sein. Ich bitte Sie daher um breite Zustim-mung.
„Unbürokratisch“, „kostengünstig“ und „effizient“sind drei Eigenschaften, die dieses Gesetzesvorhaben insich vereint. „Unbürokratisch“ und „kostengünstig“,das gilt, da die Aufgaben der Postbeamtenversorgungs-kasse für beamtenrechtliche Versorgungs- und Beihilfe-leistungen vom Bundes-Pensions-Service für Post undTelekommunikation e. V. auf die bereits bestehende Bun-desanstalt für Post und Telekommunikation DeutscheBundespost übertragen werden. „Effizient“, das giltaufgrund der erhöhten Durchsetzungskraft von rechts-und fachaufsichtlichen Entscheidungen des Bundes undder Umsetzung der Kritikpunkte des Bundesrechnungs-hofes.Die aus der früheren Deutschen Bundespost hervor-gegangenen Unternehmen Deutsche Post AG, DeutschePostbank AG und Deutsche Telekom AG, Postnachfolge-unternehmen, bedienen sich bei der Erfüllung ihrer Zah-lungsverpflichtungen aus beamtenrechtlichen Versor-gungs- und Beihilfeansprüchen der ihnen zugeordnetenVersorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfän-ger der Postbeamtenversorgungskasse vom Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V.Er betreut derzeit fast ein Fünftel der Versorgungsemp-fänger und ist damit die größte Beamtenversorgungs-kasse Deutschlands. Für rund 273 000 Ruhestandsbe-amtinnen und -beamte, Witwen, Witwer und Waisen sindim Jahr 2011 rund 7,1 Milliarden Euro ausgezahlt wor-den. 2012 werden es mit einem Anstieg auf circa274 000 Empfänger rund 7,3 Milliarden Euro sein –Tendenz steigend.Der Bundesrechnungshof hat in der Vergangenheitwiederholt darauf hingewiesen, dass eine Erbringungvon Versorgungs- und Beihilfeleistungen an die Versor-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23527
Norbert Brackmann
(C)
(B)
gungsempfänger und Versorgungsempfängerinnen desBundes sowie deren Hinterbliebene durch einen privat-rechtlichen Verein – Postbeamtenversorgungskasse vomBundes-Pensions-Service für Post und Telekommunika-tion e. V. – als Dauerlösung kritisch zu sehen ist, nichtzuletzt vor dem Hintergrund der erheblichen finanziel-len Zuwendungen des Bundes. Zwar speist sich die imJahre 1995 eingerichtete Kasse aus Leistungen derPostnachfolgeunternehmen, die Beiträge in Höhe von33 Prozent der Bruttobezüge ihrer aktiven und der fikti-ven Bruttobezüge ihrer beurlaubten Beamtinnen und Be-amten zahlen und auch die Verwaltungskosten der Kasseübernehmen, jedoch leistet der Bund auch erheblicheZuführungen zur Postbeamtenversorgungskasse. ImJahr 2011 waren es rund 6,34 Milliarden Euro, und indiesem Jahr sollen es rund 6,75 Milliarden Euro sein.Mit der Aufgabenübertragung auf die Bundesanstaltkann nun die Kritik des Bundesrechnungshofes, der zu-dem die eingeschränkte Möglichkeit der Durchsetzungrechts- und fachaufsichtlicher Entscheidungen des Bun-des gegenüber den Organen des Vereins monierte, beho-ben werden.Die Aufgabenübertragung auf die Bundesanstalt, diebereits langjährig die unternehmensbezogenen und so-zialen Aufgaben mit Bezug zu den Postnachfolgeunter-nehmen wahrnimmt, ist effektiv und kostengünstig. Denöffentlichen Haushalten entstehen durch die Aufgaben-übertragung und die Überleitung des Personals auf dieBundesanstalt sowie durch die sonstigen Regelungendes Gesetzes keine zusätzlichen Kosten. Die Verwal-tungskosten der Postbeamtenversorgungskasse, die bis-lang bereits von den Postnachfolgeunternehmen getra-gen wurden, werden auch weiterhin von diesengetragen.Die Bundesanstalt tritt zudem in sämtliche begrün-dete vertragliche Rechte und Pflichten unter anderem imZusammenhang mit Forderungsverkäufen ein; dieRechte der Gläubiger aus den Forderungsverkäufenbleiben gewahrt. In den Jahren 2005 und 2006 hat derVerein – Bundes-Pensions-Service für Post und Tele-kommunikation e. V. – einen Großteil der gegenüber denPostnachfolgeunternehmen bestehenden, zukünftigenBeitragsforderungen an zwei Verbriefungsgesellschaf-ten verkauft und übertragen. Der Verein hat die Höheund Einbringlichkeit der verkauften Forderung garan-tiert und diese Garantie durch Verpfändung der ihm alsPostbeamtenversorgungskasse zustehenden Ansprüchegegen den Bund abgesichert. Zur Finanzierung der vonden Verbriefungsgesellschaften an den Verein gezahltenKaufpreise haben die Zweckgesellschaften Anleihen be-geben und am internationalen Kapitalmarkt platziert.Soweit der Bundes-Pensions-Service für Post und Tele-kommunikation e. V. im Zusammenhang mit den Forde-rungsverkäufen Pfandrechte oder sonstige Sicherungs-rechte bestellt hat, bleiben diese ebenfalls unverändert.Neben der Aufgabenübertragung enthält der Gesetz-entwurf drei weitere Neuregelungen, die den Postnach-folgeunternehmen bei der Erfüllung ihrer Beschäfti-gungspflicht für die noch verbliebenen circa 110 000Beamtinnen und Beamten der früheren Deutschen Bun-despost dienen. Die Regelungen zum Vorruhestand fürdie bei den Postnachfolgeunternehmen beschäftigtenBeamtinnen und Beamten sollen um vier Jahre verlän-gert werden, und es soll eine Ermächtigungsgrundlagefür unternehmensspezifische Regelungen zur Altersteil-zeit geschaffen werden.Darüber hinaus soll es die Möglichkeit der dauerhaf-ten Zuweisung von Beamtinnen und Beamten anKonzernmutter- und -schwestergesellschaften der Post-nachfolgeunternehmen geben; jedoch setzt diese Zuwei-sung stets die Zustimmung der Beamtin oder des Beam-ten voraus. Die Neuregelungen gehen auf entsprechendeVorschläge der Postnachfolgeunternehmen zurück, diehinsichtlich Vorruhestand und Altersteilzeit auch vonden Gewerkschaften unterstützt werden.Der Bundes-Pensions-Service für Post und Telekom-munikation e. V. bleibt nach der Aufgabenübertragungauf die Bundesanstalt bestehen. Das Bundesministeriumder Finanzen wird den von ihm benannten Mitgliederndes Vereins jedoch empfehlen, für eine Auflösung desVereins wegen Aufgabewegfalls zu votieren.
Die Bundesanstalt für Post und Telekommunikationbekommt ab 2013 zu ihren bisherigen Aufgaben neuehinzu. Sie wird die Angelegenheiten der Postbeamten-versorgungskasse, auch Bundes-Pensions-Service fürPost- und Telekommunikation e. V., vollständig überneh-men. Die Arbeitsplätze der Mitarbeiter sind gesichert,sie werden in Gänze von der Bundesanstalt übernom-men. Alle Fraktionen unterstützen die Reform. Wir be-schließen deshalb heute gemeinsam den Gesetzentwurfder Bundesregierung.Bisher hat sich die Postbeamtenversorgungskasse umdie Versorgung, also die Pensionsangelegenheiten, so-wie um die Beihilfeleistungen bei Krankheit der Ruhe-standsbeamtinnen und -beamten der Postnachfolgeun-ternehmen und deren Hinterbliebenen gekümmert. Dabeihandelt es sich um rund 275 000 Versorgungsempfänger.Die Postbeamtenversorgungskasse betreut damit fast einFünftel der gesamten Versorgungsempfänger und ist diegrößte Versorgungskasse in Deutschland. Da mit derÜbertragung ihre Aufgaben wegfallen, wird das Bundes-finanzministerium empfehlen, den Verein schließlichaufzulösen.Zwar ist mit dem Postpersonalrechtsgesetz 1994 be-schlossen worden, dass die Postnachfolgeunternehmendem Bund gegenüber die Versorgungs- und Beihilfekos-ten tragen müssen. Allerdings sind erhebliche Zuschüssedes Bundes nötig, um die Ansprüche der pensioniertenBeamten voll zu decken. In den Jahren 2010 und 2011hat der Bund die Postbeamtenversorgungskasse je mitknapp über 6 Milliarden Euro bezuschusst, für 2012werden es voraussichtlich weit mehr als 6 MilliardenEuro sein.Die hohen Zuschüsse durch den Bund weisen daraufhin, um was es in der Neuregelung durch den Gesetzent-wurf hauptsächlich geht: um bessere Aufsicht. Der Bun-desrechnungshof hat in der Vergangenheit wiederholtZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Stefan Ruppert
(C)
(B)
kritisiert, dass die Versorgungsangelegenheiten bei derPostbeamtenversorgungskasse in der Rechtsform eineseingetragenen Vereins geregelt werden. Dieser unter-liegt einer eingeschränkten Rechts- und Fachaufsichtdurch das Bundesfinanzministerium, da es sich um einenprivatrechtlichen Verein handelt. Aufsichtsentscheidun-gen können gegenüber den Organen des Vereins deshalbnur beschränkt durchgesetzt werden.Der Bundesrechungshof hat angemahnt, dass nichtzuletzt vor dem Hintergrund der erheblichen Bundeszu-schüsse dies keine Dauerlösung sein kann. Die Aufga-ben sollten stattdessen an eine öffentlich-rechtliche Ein-richtung übertragen werden. Mit dem Gesetzentwurfsetzen wir diese Forderung um.Die Bundesanstalt für Post und Telekommunikationwurde im Zuge der Postreform 1995 als Anstalt des öf-fentlichen Rechts errichtet. Bislang nimmt sie unterneh-mensbezogene und soziale Aufgaben wahr. Sie beauf-sichtigt Personalentscheidungen und Stellenpläne derPostnachfolgeunternehmen. Die sozialen Aufgaben be-ziehen sich in der Hauptsache auf die Weiterführung derSozialeinrichtungen der ehemaligen Deutschen Bundes-post. Dazu gehören beispielsweise die Postbeamten-krankenkasse, Wohnungsfürsorge und das Betreuungs-werk für die Mitarbeiter der Postbeamtenversorgungs-kasse.Darüber hinaus verlängern wir mit dem Gesetzent-wurf die Vorruhestandsregelungen für die Beamtinnenund Beamten bei den Postnachfolgeunternehmen fürweitere vier Jahre. Dass damit bisher positive Erfahrun-gen gemacht wurden, haben auch die Spitzenorganisati-onen der Gewerkschaften bestätigt. Der Deutsche Be-amtenbund, dbb, und der Deutsche Gewerkschaftsbund,DGB, begrüßen auch, dass das Bundesfinanzministe-rium künftig per Rechtsverordnung neben dem Lauf-bahnrecht und der Arbeitszeit auch die Altersteilzeit fürdie Postnachfolgeunternehmen gesondert regeln darf.Die allgemeinen Vorschriften berücksichtigen die be-sonderen Bedürfnisse der im Wettbewerb stehenden Un-ternehmen nicht ausreichend. Ich freue mich, dass wirfraktionsübergreifend diese Reformen auf den Weg brin-gen.
Mit der Privatisierung der Deutschen Bundespostübernahm die Postbeamtenversorgungskasse die Ver-waltung der Versorgungs- und Beihilfeleistungen an dieden Postnachfolgeunternehmen Deutsche Post AG,Deutsche Telekom AG und Deutsche Postbank zugeord-neten Versorgungsempfängerinnen und Versorgungs-empfänger sowie deren Hinterbliebene. Die bisherige
gangenheit des Öfteren, zuletzt 2011, bemängelt undeine öffentlich-rechtliche Einrichtung angemahnt. Mitdem Gesetzentwurf hat die Bundesregierung die Kritikendlich aufgegriffen und schlägt die Überführung derAufgaben des BPS-PT an die Bundesanstalt für Post undTelekommunikation Deutsche Bundespost vor. DieserÄnderung der Rechtsform stimmt die Fraktion Die Linkezu.Zusätzlich ist im Gesetzespaket eine Verlängerungder Vorruhestandsregelungen um 4 Jahre vorgesehen.Auch das begrüßen wir, da solch eine Regelung von denMitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausdrücklich gefor-dert wird.Wie Sie wissen, ist die Privatisierung der DeutschenBundespost von der PDS und den Linken abgelehnt undkritisch begleitet worden. Immer wieder haben wir an-gemerkt, dass der Trend bei den Nachfolgeunternehmen,insbesondere bei der Deutschen Post AG und den aus-gelagerten Bereichen, zu Geringbeschäftigung, über-proportional vielen Überstunden und Sonderschichten,Personalabbau und Ausdünnung der Versorgungsdichtegeht. Die Privatkunden stehen heute oftmals schlechterda, als vor der Privatisierung. Die Preise steigen immerweiter, und die Kunden müssen zunehmend mehr Leis-tungen selbst erbringen.Der gleiche kapitalistische Geist wehte offensichtlichauch, als der Verkauf der Forderungen gegen die Post-nachfolgeunternehmen durch den Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V. im Jahr2005 durchgeführt wurde. Das hat bis heute Folgen. Fürden Bundeshaushalt erbrachte dieses Konstrukt in denJahren 2005 bis 2007 kurzfristig einen Liquiditätsvor-teil. Ab dem Jahr 2008 musste der Bundeshaushalt denFinanzbedarf fast vollständig selbst tragen. In diesemJahr werden Zuwendungen in Höhe von 6,755 Milliar-den Euro geleistet. Längerfristig gesehen entgehen demBund Einnahmen, die er ohne Verbriefung gehabt hätte.Unter dem Strich ist es ein Minusgeschäft!Man kann sich aussuchen, ob die Idee zur Verbrie-fung einfach nur dem neoliberalen Zeitgeist entsprach,oder dem immer wieder zu beobachtenden Trend zurVerschiebung der Finanzierung von Pensionszahlungenauf zukünftige Generationen zuzurechnen ist. Unzurei-chende Rücklagen und geplünderte Pensionsfonds inBund und Ländern werden dem Steuerzahler eine im-mense Belastung aufbürden. Das Prozedere aus demJahre 2005 wird einen nicht unbedeutenden Anteil andieser fatalen Entwicklung tragen.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Der Bundesrechnungshof hat zu Recht wiederholt kri-tisiert, dass die Postbeamtenversorgung bisher nichtüber eine öffentlich-rechtliche Einrichtung, sondernüber einen eingetragenen Verein organisiert ist. Die Kri-tik ist nachvollziehbar, es geht hier um milliarden-schwere Versorgungsausgaben, die sollten auch ver-nünftig organisiert werden; das ist völlig richtig.Der vorliegende Gesetzentwurf sieht nun vor, diesemilliardenschweren Versorgungsausgaben der Postbe-amtenversorgung nicht wie bislang durch den Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V.,also durch einen eingetragenen Verein, abzuwickeln,sondern durch eine öffentlich-rechtliche Einrichtung zuvollziehen. Die Bundesregierung trägt der Kritik desZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23529
Priska Hinz
(C)
(B)
Rechnungshofes nun also Rechnung. Die Aufgaben derPostbeamtenversorgungskasse werden durch die Geset-zesänderung auf die „Bundesanstalt für Post und Tele-kommunikation Deutsche Bundespost“ übertragen. Dasist so weit auch in Ordnung, das ist sogar sinnvoll, dasshier endlich eine deutliche Verbesserung erreicht wird.Wenn man aber den Fokus auf die geplanten Ände-rungen des Postpersonalrechtsgesetzes im Hinblick aufdie Möglichkeiten der Tätigkeitszuweisung richtet, musseines klar sein: Wir reden hier über mehr als 100 000Bundesbeamtinnen und -beamte, die von ihrem Arbeit-geber bundesweit ohne ihre Zustimmung und ohne zeit-liche Begrenzung „versetzt“ werden können. Für dieseBeamtinnen und Beamten haben auch wir als Bundestageine Fürsorgepflicht; da müssen wir genau hinschauen.Der neu gefasste § 4 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 und 2 desPostpersonalrechtsgesetzes bedeutet für die Beamtinnenund Beamten der Postnachfolgeunternehmen, dass fürsie die strikteren Zuweisungsregeln des Bundesbeamten-gesetzes, die vor unzumutbaren Zuweisungen schützen,nicht in Gänze gelten. Sie sind also schlechter geschütztals andere Bundesbeamtinnen und -beamte. Man ver-langt ihnen eine höhere Flexibilität in der Lebenspla-nung ab. Es kann ja sein, dass diese höhere Flexibilitätbei einem betriebswirtschaftlich ausgerichteten Arbeit-geber auch sinnvoll sein kann, das will ich gar nichtgrundsätzlich bezweifeln. Das will ich an dieser Stelledeutlich sagen, damit hier kein falscher Eindruck ent-steht.Ich will aber auch deutlich sagen, dass der betriebs-wirtschaftliche Druck in Richtung Zuweisung den be-troffenen Personen in der Praxis faktisch kaum eineWahl lässt, auch wenn nach dem Gesetz eigentlich ihreZustimmung erforderlich ist. Auch vor diesem Hinter-grund ist für unsere Fraktion maßgeblich und wichtig,dass Kriterien der sozialen Zumutbarkeit auch weiterhinbei Zuweisungsentscheidungen berücksichtigt werdenmüssen. Nicht zuletzt geht es hier zu einem großen Anteilum Menschen im einfachen und mittleren Dienst. In die-sem Sinne fordere ich das Bundesministerium der Fi-nanzen anlässlich der heutigen Beratung auf, die Aus-führungshinweise für Zuweisungen, die das Ministeriumim Jahre 2004 erlassen hat, auf die Neuregelung desPostpersonalrechtsgesetzes inhaltsgleich zu übertragen.Die bisherige Gleichbehandlung von Tarifbeschäftigtenund Beamtinnen und Beamten beim Rationalisierungs-schutz darf nicht aufgegeben werden. Der bestehendeStandard muss erhalten bleiben.Für die Rechte der Beamtinnen und Beamten bei derPost tragen Sie ganz direkt auch Verantwortung. Ichbitte Sie darum, dieser Verantwortung auch gerecht zuwerden. Insgesamt unterstützen wir das Anliegen desGesetzentwurfes vollkommen, die Änderungen sind sinn-voll und dafür haben Sie unsere Unterstützung.
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Haushalts-
ausschuss empfiehlt in seiner Empfehlung auf Drucksa-
che 17/10853, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/10307 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ein-
stimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Sahel-Region stabilisieren – Humanitäre Ka-
tastrophe eindämmen
– Drucksache 17/10792 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Re-
den zu Protokoll genommen.
Die humanitäre Lage in der Sahelregion darf unsnicht unberührt lassen. Menschenleben sind in Gefahr.Unschuldige Kinder stehen vor dem Hungertod. Mitmeinem geschätzten Kollegen Thilo Hoppe habe ich mirvor einigen Monaten bei einer Reise ans Horn vonAfrika ein Bild machen können von den Zuständen inden Flüchtlingscamps, die infolge der Dürrekatastropheim vergangenen Jahr entstanden sind. Schon damalswurden wir vor Ort in der Region Ostafrika auf die be-vorstehende Ausweitung der Dürre und ihrer humanitä-ren Folgen in das nordwestliche Gebiet der Sahelzonehingewiesen.Spiegel Online berichtete bereits am 23. März 2012unter der Überschrift „In der Sahelzone droht eine Hun-gerkatastrophe“ von der Lage im Sahel. Mit SebastianLesch wurde der Sprecher des Entwicklungshilfeministe-riums zitiert, der zu diesem Zeitpunkt bereits konsta-tierte, dass mehr als 10 Millionen Menschen von Hun-ger bedroht seien.Diese befürchtete Verschärfung der humanitären Si-tuation in der Sahelregion ist nun bittere Realität gewor-den.Am 1. August lasen wir in der Süddeutschen Zeitungvon einem aktuellen Bericht der Hilfsorganisationen„Save the Children“ und „World Vision“: „Den Organi-sationen zufolge sind bald 1 Million Menschen in derRegion akut vom Hungertod bedroht. Insgesamt seienmehr als 18 Millionen Menschen von Unterernährungbetroffen.“ Laut UNICEF sind mehr als 1 Million Kin-der in der Sahelzone in akuter Lebensgefahr.
Metadaten/Kopzeile:
23530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Frank Heinrich
(C)
(B)
Wie der Antrag richtig beschreibt, ist „die Sahelre-gion eines der ärmsten Gebiete der Welt. Seit Jahrenkommt es in den Ländern dieser Region durch Dürrenund Misswirtschaft zu Lebensmittelkrisen. Ernteaus-fälle, politische Umbrüche in den Staaten Nordafrikas,die Rückkehr bewaffneter Söldner aus Libyen und derElfenbeinküste, organisierte Kriminalität, islamistischerTerrorismus sowie Kampfhandlungen im Norden Malishaben die Ernährungskrise und fragile Sicherheitslagein der Sahelregion dramatisch verschärft“.In welche Richtung muss die Hilfe nun weisen? Nun,es ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen notwendig, wiedas Zitat aus dem Antrag bestätigt. Von weitreichendenpolitischen Initiativen, zu denen auch mögliche militäri-sche Interventionen in einzelnen Ländern gehören kön-nen, bis zu schneller humanitärer Hilfe muss das Portfo-lio der Instrumente reichen.Der Antrag stellt daher auch insgesamt 20 verschie-dene Forderungen an die Bundesregierung. Allerdingsverzettelt sich für meine Begriffe damit leider das gutge-meinte und notwendige Anliegen.Was ist tatsächlich zu tun? Zunächst einmal ist eswichtig, die humanitären Hilfen und politischen Instru-mente bestmöglich zu koordinieren. Dies geschieht aufder Ebene der Vereinten Nationen durch das Amt für dieKoordinierung humanitärer Angelegenheiten der Ver-einten Nationen – UNOCHA –, das VN-Kinderhilfswerk– UNICEF – und VN-Flüchtlingshilfswerk, UNHCR. Aufdieser Ebene ist dringend geboten, eine dauerhafteKonferenz zur humanitären Lage in der Sahelzone zu in-stallieren, wie es auf EU-Ebene geplant ist. Neben deraktuellen Abstimmung der Maßnahmen bedarf es unbe-dingt der Entwicklung eines Frühwarnsystems für dasgesamte Subsahara-Afrika.Zu begrüßen ist auf der Ebene der EU, dass bereits imJuni eine neue Partnerschaft der Geberländer, die Ini-tiative mit dem Namen AGIR Sahel, Alliance Globalepour l'Initiative Resilience, ins Leben gerufen und diehumanitäre Hilfe der EU um 40 Millionen Euro auf337 Millionen Euro – zusätzlich zu den 208 MillionenEuro für die Finanzierung laufender Projekte für Ernäh-rungssicherheit – aufgestockt wurde.Vertreter der EU-Mitgliedstaaten, der USA, Norwe-gens, Brasiliens, der Vereinten Nationen, der Weltbank,der Afrikanischen Entwicklungsbank, der Organisationfür Islamische Zusammenarbeit sowie Botschafter derSahelländer, Vertreter zweier regionaler Organisationen– ECOWAS und UEMOA – und Vertreter der Zivilgesell-schaft sind zu AGIR eingeladen.EU-Entwicklungskommissar Andris Piebalgs er-klärte zu AGIR: „In der heutigen Zeit ist es schwierig zuakzeptieren, dass manche Menschen nicht genug zu es-sen haben. Dies kann verhindert werden, indem mit denSahelländern und internationalen Partnern zusammen-gearbeitet wird, um tragfähige landwirtschaftliche Sys-teme aufzubauen und somit künftige Krisen zu vermei-den. Allerdings kann eine solche Widerstandsfähigkeitnicht über Nacht entwickelt werden. Die Initiative AGIRSahel wird alle wichtigen Akteure auf diesem Gebiet zu-sammenbringen und den Menschen in der Region auflange Sicht Hoffnung auf eine stabilere Zukunft geben.Die EU wird ihren Teil leisten und in den kommendenJahren die Landwirtschaft und die Ernährungssicher-heit in den Mittelpunkt ihrer Unterstützung stellen. Da-mit wird eine fundamentale Grundlage geschaffen, umauf nachhaltiges und breitenwirksames Wachstum hin-zuarbeiten.“ Piebalgs findet darin meine uneinge-schränkte Zustimmung.Natürlich engagiert sich auch die Bundesregierung inder Sahelregion. Das BMZ hat im August seine Unter-stützung um 14,7 Millionen Euro, die Bundesregierungihre Unterstützung damit auf insgesamt 51 MillionenEuro aufgestockt. Sie ist damit drittgrößter bilateralerGeber des Welternährungsprogramms in der Sahelkrise.Das BMZ und das Auswärtige Amt stehen in ständigemKontakt untereinander und mit den Partnern in Europasowie den in der Sahelregion tätigen NGOs. Die Not-wendigkeit einer Aufstockung der Hilfe wird jederzeitweiter im Blick behalten.Doch noch einmal zurück zu meinen persönlichenEindrücken. Thilo Hoppe und ich sind tapferen Men-schen begegnet, die unter katastrophalen Umständen le-ben müssen, und die Erstaunliches leisten. Der Begriff„humanitäre Katastrophe“ ist spätestens nach solchenBegegnungen kein leerer Fachterminus mehr, sondernes verbergen sich Gesichter und Geschichten hinter dennackten Zahlen. Es geht um Menschen. Um diesen Men-schen zu helfen, müssen wir die politischen Aktivitätenin Europa und den Vereinten Nationen bündeln. Wirmüssen die Bürgerinnen und Bürger zu verstärktem En-gagement und Spendenbereitschaft motivieren, indemwir diese „vergessene Region“ thematisieren. Wir müs-sen internationale NGOs unterstützen – und alles dasüber Parteigrenzen hinweg. Darum begrüße ich denheutigen Antrag und diese Debatte. Ich hoffe, sie führtzu einer größeren Wahrnehmung der Sahelregion in derÖffentlichkeit. Doch wir dürfen die konzertierten Hilfender Weltgemeinschaft und den starken Anteil der Bun-desrepublik dabei nicht kleinreden.
Heute befassen wir uns mit einem Thema, welchesschon längst auf der Tagesordnung des Plenums hättestehen sollen, ein Thema, das schon längst mehr Auf-merksamkeit verdient hätte.Die humanitäre Lage in der Sahelzone ist, zweifels-ohne und nicht erst seit gestern, katastrophal. Bereitsvor einigen Monaten haben internationale Hilfsorgani-sationen auf die sich anbahnenden Probleme hingewie-sen. Auch die bestehenden Frühwarnsysteme, die es seitder Hungerkatastrophe am Horn von Afrika im Jahr2011 gab, haben auf diese Entwicklung hingewiesen.Dank dieser konnten erste Maßnahmen eingeleitet undinternationale und nationale Hilfe auf die anstehendenBedürfnisse angepasst werden. Es ist unerlässlich, jetztsofort und auf schnellstem Wege Hilfen für die Bewohne-rinnen und Bewohner der Sahelregion bereitzustellen.Gleichwohl muss im gleichen Augenblick auch darangedacht werden, wie eine Krise wie die derzeitige zu-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23531
Christoph Strässer
(C)
(B)
künftig effektiv verhindert und die umfangreichen Risi-kofaktoren für Hunger sowie die Krisenanfälligkeit derRegion abgemildert, besser gänzlich beseitigt, werdenkönnen.Ein wesentliches Problem ist derzeit die anhaltendeDürre sowie die Verfügbarkeit von Rohstoffen. Prinzi-piell sind die Märkte der Region in der Lage, klimabe-dingte Schwankungen in der Verfügbarkeit von Rohstof-fen zu verkraften. Es sind zumindest statistisch aus-reichend Anbaukapazitäten und Lebensmittel vorhan-den; allerdings können diese aufgrund des hohen Prei-ses von der lokalen Bevölkerung nicht mehr erworbenwerden. Preissteigerungen bei Getreide von bis zu20 Prozent werden beobachtet; in einigen Regionen be-richtet die Welthungerhilfe von weitaus größeren Steige-rungen.Besonders die erhöhten Weltmarktpreise für Roh-stoffe haben die Lage der Bevölkerung in der Sahelzoneverschlimmert. So sind in letzter Zeit vermehrt Spekula-tionen auf Rohstoffe zu beobachten. Dies führt zu einemerheblichen Anstieg des Preisniveaus für Reis, Mais undZucker. Es ist unerträglich, dass sich große Fonds undBanken zulasten der ohnehin Ärmsten der Armen berei-chern und es für eine Familie nicht mehr möglich ist, ih-ren Kindern mehr als eine Tasse Tee am Morgen alsNahrung anzubieten. Nach der Linderung der akutenNot müssen wir diese Frage angehen und aktiv gegendiese anstößige Praxis von Finanzinvestoren vorgehen.Durch die politischen Umwälzungen in den Ländernder Sahelzone wird die akute Notlage weiter verschärft.Einerseits entsteht durch rückkehrende Flüchtlinge einhoher Druck auf die angespannte Versorgungslage; an-dererseits ist der Zugang in die am schwersten betroffe-nen Regionen durch unklare und unsichere Verhältnissesowie gewaltsame Auseinandersetzungen erheblich er-schwert, teilweise sogar unmöglich. Insbesondere inMali ist die Lage extrem angespannt. Infolge des Put-sches und der instabilen politischen Verhältnisse, aberauch der Nahrungsmittelkrise flüchteten mittlerweileüber 250 000 Malier in die Nachbarländer BurkinaFaso, Mauretanien und Niger. Außerdem gab es im sel-ben Zeitraum rund 185 000 Binnenflüchtlinge innerhalbMalis. Sowohl die ausreichende Versorgung der Flücht-linge mit Nahrungsmitteln, Wasser und Unterkunft alsauch ihre medizinische Versorgung sind mangelhaft.Fast eine halbe Million Menschen sind ohne Heimat undObdach. Zwischenzeitlich berichten Hilfsorganisatio-nen auch vom Auftreten von Cholera, die durch das engeZusammenleben der lokalen Familien und der zahlrei-chen Flüchtlinge bedingt sind. Die schlechte Ernäh-rungssituation und die Überflutungen im Niger sind einweiterer Herd für die Ausbreitung von Cholera und an-deren Krankheiten.Zunehmend bedienen sich auch internationale Ver-brechergruppen der Sahelregion, um von hier aus unge-hindert Drogen-, Waffen- und Menschenhandel zu be-treiben. Einige Organisationen sprechen bereits vom„Pulverfass Sahelzone“, da sich in dem enormen, übermehrere Ländergrenzen greifenden Gebiet ein nahezurechtsfreier Raum entwickelt hat, der unter anderem be-waffneten und terroristischen Gruppen wie Boko Haramund der al-Schabab als Rückzugsgebiet dient. Kaum ei-nem der Sahelstaaten gelingt es, auch aufgrund der Topo-grafie, sein Territorium zu kontrollieren. Das Operierender Gruppierungen setzt die Bevölkerung vor Ort erhebli-chen Gefahren aus und erschwert auch die Arbeit interna-tionaler Hilfsorganisationen. Wir fordern in diesem Zu-sammenhang auch eine stärkere Kontrolle der deutschenRüstungsexporte. Zunehmend oft werden deutsche Rüs-tungsgüter, insbesondere Klein- und Leichtwaffen, inStaaten exportiert, die den Verbleib der Waffen nicht kon-trollieren können oder nicht transparent über den Ver-bleib berichten. Insbesondere unter dem Aspekt, dassauch terroristische Organisationen in den Staaten derSahelregion operieren, müssen Waffenexporte genauerkontrolliert und gegebenenfalls auch eingestellt werden.Langfristig müssen die politischen und sicherheits-politischen Verhältnisse vor Ort so stabilisiert werden,dass die Menschen sich niederlassen und ihre Versor-gung sicherstellen können, ohne befürchten zu müssen,gewaltsamen Auseinandersetzungen ausgesetzt zu wer-den. Deshalb ist eine Lösung des Konflikts in Nordmaliim vorrangigen Interesse der benachbarten Staaten inWestafrika, insbesondere aber natürlich der dort leben-den Menschen.Es ist daher äußerst positiv zu bewerten, dass seitDienstag eine grundsätzliche Einigung zwischen Maliund der westafrikanischen WirtschaftsgemeinschaftECOWAS über die Bedingungen und den Einsatz allererforderlichen Mittel vorliegt. In den kommenden Tagenwird eine formelle Einigung über die Stationierung vonTruppen, unter anderem in Bamako, erwartet. Nach ers-ten Informationen soll die Hilfe von ECOWAS-Personalerbracht werden, um so eine höhere Akzeptanz bei derBevölkerung herzustellen. Wir begrüßen diese innerafri-kanische Initiative und erwarten, dass auch ein hoch-rangiges Treffen am Rande der UN-Vollversammlung inNew York weitere konkrete kurz- und langfristige Hilfenfür die Menschen in der Sahelregion hervorbringt. Wirfordern die Bundesregierung dringend dazu auf, geradeals Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationenselbst Unterstützung zu leisten und bei den Partnern da-für zu sorgen, dass die notwendige Unterstützung derStaatengemeinschaft nicht entweder an den Interesseneinzelner Staaten scheitert oder mit dramatischen Fol-gen für die betroffene Bevölkerung verzögert wird.Die derzeit sichtbaren akuten Probleme werden flan-kiert von grundlegenderen Herausforderungen, die inlangfristigen Entwicklungsprojekten bearbeitet werdenmüssen. So ruft der weltweite Klimawandel in der Sahel-region bereits sehr deutliche Veränderungen hervor. Ineiner Region, in der Ackerbau, Landwirtschaft und Vieh-zucht schon heute äußerst mühsam und wenig ertrag-reich sind, sind sich ausbreitende Desertifikation undzunehmend unregelmäßige Niederschläge eine Kata-strophe. Zudem belastet der weiterhin hohe Bevölke-rungsanstieg die angespannte Versorgungslage der Be-völkerung. Nach der gegenwärtig notwendigen Akut-versorgung mit Wasser und Lebensmitteln braucht esauch hier langfristige Strategien zur Verbesserung derVersorgungslage. Gemeinsam mit internationalen Orga-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Christoph Strässer
(C)
(B)
nisationen und in der bilateralen Zusammenarbeit müs-sen wir den Bäuerinnen und Bauern Strategien und In-strumente an die Hand geben, die es ihnen ermöglichen,unter veränderten klimatischen Bedingungen und beidrohenden oder akuten Extremwetterlagen ihre Versor-gung trotzdem sicherzustellen.Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung bereitsmit Aufkommen der ersten Anzeichen für die Versor-gungskrise gegen Ende des letzten Jahres und zu Beginndieses Jahres Unterstützungsmaßnahmen ergriffen hatund über verschiedene Wege finanzielle Hilfen bereitge-stellt hat. Gleichwohl scheint dies angesichts der fort-schreitenden und sich verschlimmernden Krise wie einTropfen auf den heißen Stein.Wir unterstützen daher die Forderung nach zusätzli-chen Mitteln und Initiativen, um die Situation der Men-schen vor Ort schnellstmöglich zu verbessern und ihreNot zu mildern. Wir müssen jetzt die notwendigen Maß-nahmen ergreifen, um die akute Not in der Sahelregionzu lindern und in ausreichendem Maß Wasser, Nah-rungsmittel, Unterkunft und medizinische Versorgungzur Verfügung zu stellen.Langfristig müssen wir uns jedoch darauf verständi-gen, die Staaten dabei zu unterstützen, die strukturellenProbleme, welche zu der aktuellen Notlage führten, zubewältigen. Neben stabilen politischen Verhältnissenbraucht es insbesondere auf dem Gebiet der Nahrungs-mittelsicherheit grundlegende Veränderungen. Es musssichergestellt werden, dass die regionale Landwirtschaftverbessert wird und den Bedingungen des Klimawandelsangepasst wird. Es muss sichergestellt werden, dass anden internationalen Märkten keine Spekulationen aufRohstoffe getätigt werden, die die Weltmarktpreise ex-plodieren lassen.Denn wenn die Menschen die aktuelle Krise über-standen haben, müssen wir – wenn es keine strukturellenVeränderungen gibt – im nächsten Jahr bereits dienächste Akutmaßnahme verabschieden. Es wäre drama-tisch, wenn die Menschen in der Sahelregion von einerhumanitären Katastrophe in die nächste kämen. An derBeratung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen wer-den wir uns deshalb konstruktiv beteiligen.
Eines schicke ich vorweg: Ich begrüße diese Debatteausdrücklich. Bereits beim Besuch des Menschen-rechtsauschusses in Genf beim Menschenrechtsrat imMai hat man uns auf die Situation in der Region hinge-wiesen und die Brisanz der Lage verdeutlicht.Gestern fand am Rande der 67. Sitzung der VN-Gene-ralversammlung eine Konferenz zur aktuellen humanitä-ren und politischen Situation der Sahelregion statt. BanKi-moon hatte diese unter anderem einberufen, um dieneue regionale Strategie der Vereinten Nationen für denSahel vorzustellen. Die Länder der krisenerschüttertenRegion stehen vor zahlreichen Herausforderungen.Viele der Probleme verstärken sich gegenseitig. So ver-schärfen beispielsweise die anhaltenden Flüchtlings-ströme aus Mali die ohnehin schon schlechte Nahrungs-mittellage in der Region.Die Strategie der Vereinten Nationen verfolgt hierzu ei-nen übergreifenden Ansatz und soll die Bereiche Sicher-heit, Regierungsführung, Entwicklung und Menschen-rechte sowie eine humanitäre Dimension umfassen. Dabeisollen insbesondere regionale Strukturen und grenzüber-schreitende Herangehensweisen gefördert werden.Wenn wir die aktuellsten Zahlen zur humanitärenLage in der Sahelzone lesen, wird deutlich, dass es auchweiterhin eines solchen entschiedenen Handelns bedarf.Das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegen-heiten der Vereinten Nationen, UNOCHA, veranschlagtden humanitären Bedarf im Sahel auf 1,6 Milliarden US-Dollar. Etwa ein Fünftel der gesamten Bevölkerung derRegion ist von Ernährungsunsicherheit bedroht; dassind 18 Millionen Menschen in neun Ländern.Die deutsche Bundesregierung hat schnell auf dieersten Berichte über eine bevorstehende Nahrungsmit-telkrise im Sahel reagiert. Seit Ende 2011 haben wir ins-gesamt 55 Millionen Euro an humanitärer Hilfe für dieRegion bereitgestellt. Die Gelder flossen in Nahrungs-mittelhilfen des World Food Programme, in Flüchtlings-hilfen von UNHCR, unterstützten die Verwundetenver-sorgung durch das Internationale Komitee vom RotenKreuz oder humanitäre NGOs wie Help oder Care.Selbstverständlich werden wir dieses Engagementfortsetzen; aktuell gibt es zum Beispiel eine finanzielleNeuzusage an das Internationale Komitee vom RotenKreuz für Mali.Die Bundesregierung und die internationale Gemein-schaft wollen durch ihren Einsatz verhindern, dass ausder Krise eine Katastrophe wird. Humanitäre Hilfsorga-nisationen haben hier beachtliche Leistungen erbracht,vornehmlich für die 1 Million Kinder, die von der Nah-rungsmittelkrise besonders betroffen sind.Dürren, Ernteeinbußen, steigende Lebensmittelpreiseund kriegerische Umwälzungen verschärfen die Nah-rungsmittelsituation der ohnehin unterentwickelten Re-gion. Zwar gibt es die Hoffnung, dass die nächste Ernteim Oktober die Krise vorübergehend lindern wird unddie Marktpreise wieder sinken werden. Zahlreiche mali-sche Flüchtlinge werden dieses Jahr jedoch nicht ihreFelder bestellen können. Eine Wiederholung der Krisen-situation ist damit vorprogrammiert.Hier offenbaren sich die strukturellen Probleme derRegion, die bei akuter Unterstützung und Eindämmungder humanitären Notlage nicht ausgeblendet werdendürfen. Schwache Produktions- und Versorgungssystemeführen zu einer sprunghaft ansteigenden Unterernäh-rung der Bevölkerung im Falle eines externen Schocks.Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass dieBundesregierung über die akute Nothilfe hinaus die Sa-helregion auch dabei unterstützt, ihre Widerstandskraftdauerhaft zu verbessern. Dies geschieht durch den Auf-bau von Nahrungsmittelreserven, das Fruchtbarmachenvon Böden oder durch Schulungen von Kleinbauern.Eine Erkundungsmission der GIZ gemeinsam mit Nicht-regierungsorganisationen hat die hohe Wichtigkeit einerZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23533
Marina Schuster
(C)
(B)
engen Abstimmung zwischen EZ-Programmen und hu-manitärer Hilfe bestätigt. Dies entspricht auch den res-sortübergreifenden Leitlinien „Für eine kohärente Poli-tik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten“,die letzte Woche im Kabinett beschlossen wurden.So dramatisch die humanitäre Lage und die Nah-rungsmittelkrise im Sahel sind, die politische Dimensiondürfen wir bei allem akut gegebenen Handlungsbedarfnicht aus den Augen verlieren. António Guterres, derFlüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen, be-klagte unlängst eine unzureichende Aufmerksamkeit fürdie politische Situation in Mali vonseiten der internatio-nalen Gemeinschaft und sprach gar von einer „verges-senen Krise“.Dabei sind die Entwicklungen in Mali mehr als alar-mierend; sie gefährden die Sicherheit und die Stabilitätder Region auf ernst zu nehmende Weise. Der Kommis-sionspräsident der Afrikanischen Union, Jean Ping,sieht in der Krise gar eine der „ernsthaftesten Bedro-hungen“ für den gesamten afrikanischen Kontinent.Seit dem Militärputsch im März ist das Land faktischgeteilt. Mali befindet sich in einer verheerenden Spiralevon Marginalisierung, Nahrungsmittelknappheit, be-waffneten Auseinandersetzungen, Separatismus, Terro-rismus und organisierter Kriminalität. Die Lage spitztsich kontinuierlich zu, weitere Entwicklungen werdenzunehmend unvorhersehbarer.Nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi kehrtenTausende Söldner, meist Tuareg, die vom libyschenMachthaber rekrutiert worden waren, nach Mali zurückund kämpfen nun gegen die malische Armee. Währenddie Rebellion zunächst von säkularen Motiven wie Auto-nomiebestrebungen geprägt war, haben sehr schnell is-lamistische Kräfte an Einfluss gewonnen. Die „Bewe-gung für die Einheit und den Dschihad in Westafrika“,Mujao, al-Qaida im Maghreb, AQIM, und die mit ihnenverbündete radikal-islamische Gruppe Ansar al-Din be-herrschen den Norden Malis und haben in den von ihnenkontrollierten Gebieten die Scharia eingeführt. DieHochkommissarin für Menschenrechte der VereintenNationen, Navi Pillay, berichtete letzte Woche von grau-samen Amputationen, Steinigungen, Massenhinrichtun-gen und der Verletzung von Frauenrechten aufgrund vonScharia-Vorschriften.Es ist unerlässlich, dass die malische Übergangsre-gierung entschiedene Bemühungen unternimmt, um dieOrdnung im Land wiederherzustellen. Deutschland un-terstützt dabei ausdrücklich den konsequenten Einsatzder Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECO-WAS und stimmt sich bei seinen Aktivitäten mit der EU,der Afrikanischen Union und den Vereinten Nationen ab.Mit einem nachdrücklichen Engagement muss die inter-nationale Gemeinschaft verhindern, dass sich die Krisein Mali zu einem Flächenbrand auf die gesamte Sahelre-gion ausweitet.
Zum dritten Mal innerhalb von sieben Jahren werdendie Menschen in der Sahelregion von akutem Hungerbedroht. Durch die unregelmäßigen Regenfälle, ausfal-lende Ernten und sterbende Tiere geraten immer mehrMenschen in eine akute Notlage. Durch die viel zu kur-zen Zeiträume zwischen den Trockenperioden haben dieGemeinden überhaupt keine Chancen mehr, Vorräte an-zulegen, um die Dürreperioden überstehen zu können.Während sich die Dürren in den Jahren 2005 und 2010noch hauptsächlich auf Niger und Teile des Tschad be-schränkten, betrifft die diesjährige Hungerkrise die ge-samte Sahelzone.Die Getreideproduktion liegt in vielen Ländern derRegion weit unter dem Durchschnitt der letzten fünfJahre. Die Erträge in Mauretanien sind dieses Jahr um46 Prozent, im Tschad um 37 Prozent, im Niger um23 Prozent und in Burkina Faso um 14 Prozent geringerals prognostiziert.Im Niger sind 20 Prozent aller Kinder zwischen 6 und23 Monaten mangelernährt, in Burkina Faso leiden1,7 Millionen Menschen unter Hunger, in Mali sind über4,6 Millionen Menschen vom Hunger betroffen. NachAngaben des UN-Kinderhilfswerks UNICEF leiden inder Sahelregion mehr als 1 Million Kinder unter schwe-rer Mangelernährung.Die Staaten des globalen Nordens tragen direkte Mit-verantwortung für die Not der Menschen in der Sahelre-gion: Klimaforscher weisen seit vielen Jahren daraufhin, dass diese deutliche Zunahme der Dürreperiodenauf die Folgen des Klimawandels zurückzuführen ist.Spekulationen mit Nahrungsmitteln haben dazu beige-tragen, dass sich Nahrungsmittel in der Sahelregion imletzten Jahr extrem verteuert haben. Die Getreidepreisein der Region sind überdurchschnittlich angestiegen, dieVersorgung mit Grundnahrungsmitteln wie Hirse ist teil-weise nicht mehr gesichert. Viele Familien können sichdie Lebensmittel nicht mehr leisten. Aufoktroyierte Frei-handelsabkommen haben lokale Märkte durch subven-tionierten Export von landwirtschaftlichen Gütern ausder EU zerstört und viele Kleinbauern in existenzielleNot gebracht. Der nicht zu verantwortende Angriff derNATO auf Libyen hat die Sicherheitslage in der Regionmaßgeblich verschlechtert. Viele der mit NATO-Waffenoder erbeuteten Waffen ausgerüsteten Söldnertruppenaus Libyen sind nach dem Sturz des Regimes in die Sa-helregion eingesickert und haben zum Umsturz im Nor-den von Mali beigetragen. Durch die prekäre Sicher-heitslage in einigen Gebieten der Region ist der Zugangzu den hilfsbedürftigen Menschen deutlich erschwert.Die Destabilisierung Nordafrikas durch die Militär-interventionen der NATO-Staaten hat den radikalenStrömungen in Afrika deutlichen Zulauf gebracht.Die Folge sind große Flüchtlingsströme, für die eineschnelle Hilfe organisiert werden muss. Nach Angabender UNHCR sind alleine aus dem Norden Malis435 000 Menschen als Binnenflüchtlinge unterwegs oderin die Nachbarstaaten geflohen. Die aufnehmendenNachbarstaaten müssen von der internationalen Gemein-schaft unterstützt werden.Die Ausführungen in dem Antrag von Bündnis 90/DieGrünen zu Aktivitäten der Gruppe al-Qaida sind einsei-tig, da sie die Ursachen für das Erstarken dieser Grup-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Annette Groth
(C)
(B)
pen verschweigen. Viele der heutigen Kämpfer von al-Qaida wurden durch die NATO-Interventionen radikali-siert. Viele der Waffen, die diese Gruppen heute einset-zen können, stammen aus den Waffenlieferungen derNATO-Staaten an die Opposition in Libyen.Wieder einmal zeigt sich deutlich, dass die imperialePolitik eine negative Rolle für die Entwicklung ganzerRegionen spielt. Auch aus diesen Gründen halten wir dieForderung nach Ausbau der Krisenreaktionskräfte fürproblematisch.Nicht nachvollziehbar ist die in dem Antrag aufge-stellte Forderung nach Aufbau eines Asylsystems in denbetroffenen Ländern. Das hat mit der Realität derFlüchtlingsbewegungen in dieser Region wenig zu tun.Die Grenzen in dieser Region sind willkürliche Grenzenaus der Zeit des Kolonialismus und spielen für die rea-len Bewegungen der Menschen und die Wirtschaft keinezentrale Rolle.Wir brauchen in der Region kein Asylsystem wie inder EU, das nicht zum Flüchtlingsschutz, sondern zurFlüchtlingsabwehr aufgebaut wurde, sondern eine Lö-sung zur Überwindung der bestehenden Grenzkonflikteund eine Ausrichtung der Politik der Bundesregierungauf wirtschaftliche Hilfe für die Region, die eigene Ent-wicklungschancen ermöglicht.Die Fraktion Die Linke erwartet von der Bundesre-gierung schnelle und umfassende Hilfe für die Men-schen. Wir erwarten, dass sie sich nicht auf einen Ver-handlungsmarathon zwischen den Geberländern ein-lässt, um angeblich „faire Anteile“, wie dies im Antragvon Bündnis 90/Die Grünen benannt wird, auszuhan-deln, sondern durch schnelle und umfassende Maßnah-men den Menschen hilft. Die Betroffenen in der Sahelre-gion haben keine Zeit, auf das Ergebnis von inter-nationalen Verhandlungen zu warten, sondern brauchensofort Hilfe.Mehr als 18 Millionen Menschen sind von akuter Un-terernährung betroffen, 8 Millionen Menschen brauchendringend Nothilfe. Die Fraktion Die Linke unterstütztausdrücklich die Forderung im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, dass die Mittel für humanitäre Hilfe und dieentwicklungsfördernde und strukturbildende Über-gangshilfe für die Sahelzone sofort auf 82,5 MillionenEuro angehoben werden müssen. Dass die Bundesregie-rung sich seit Jahren weigert, die entsprechenden Titelangemessen aufzustocken, ist skandalös angesichts derHäufung lebensbedrohender Krisen in den Ländern desSüdens. Jetzt sind auf dem Verschiebebahnhof zwischenAA und BMZ unterm Strich auch noch Gelder gekürztworden. Wir werden die Haushaltsberatungen 2013 nut-zen, um hier energisch mehr Mittel einzufordern.
Die Lage in der Sahelregion ist dramatisch. MeineFraktion bringt diesen Antrag in den Bundestag ein,weil wir befürchten, dass die dortige humanitäre Kata-strophe angesichts der Euro-Krise und des Bürgerkriegsin Syrien nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auchim politischen Bereich nicht die Beachtung erfährt, diesie benötigt. Wir sollten uns die Dimension dieser Krisevor Augen führen: Durch die Nahrungsmittelkrise sindmittlerweile 18 Millionen Menschen in der Sahelregionbedroht. Laut OCHA wären 1,7 Milliarden Euro notwen-dig, um die nötige Nothilfe zu leisten. Bisher sind geradeeinmal 56 Prozent davon aufgebracht.Als infolge des Libyen-Konflikts ehemalige Gaddafi-Söldner mit einer Vielzahl schwerer Waffen aus Gadda-fis Arsenal die Sahelregion überströmten und dort dazubeitrugen, dass alte Konflikte mit nie gekannter Intensi-tät wieder ausbrachen, schaute Europa tatenlos zu.Seit Ausbruch des Tuareg-Aufstandes in Nord-Mali,der durch die Söldner Gaddafis erst richtig ins Rollenkam, und verstärkt noch seit der Machtübernahme dortdurch die Islamisten von Ansar Dine und MUJAO sindbisher 435 000 Menschen aus diesen Gebieten geflüch-tet, zum Teil in die Nachbarländer Niger, Burkina Fasound Mauretanien, zum Teil in den Süden des Landes.Grund dafür sind Menschenrechtsverletzungen, dievon allen Seiten berichtet werden. Plünderungen, Zer-störungen von Kulturgütern, Rekrutierung von Kinder-soldaten, Vergewaltigungen, drakonische Körperstrafenund Exekutionen und Massaker sind aus dem NordenMalis vermeldet worden.Hier ist leider von der internationalen Gemeinschaftund auch von der EU einiges versäumt worden. Dies istumso tragischer, als einige in der EU frühzeitig auf dieangespannte Lage in der Sahelregion aufmerksam ge-macht haben: Bereits im März 2011 hat die EU die Sahel-Strategie für Sicherheit und Entwicklung verabschiedet.Leider hat es bis zum Juni dieses Jahres gedauert, bisdie erste angestrebte Unterstützungsmission im Sicher-heitsbereich von der EU begonnen wurde. EUCAP NigerSahel will die Ausbildung von Polizei und Gendarmeriein Niger unterstützen. Aus unserer Sicht eine richtigeund wichtige Mission.Sicherlich gibt es für diese Verzögerung einigeGründe. Aber bedauerlicherweise hören wir aus Brüs-sel, dass es gerade auch diese Bundesregierung war, diesich gegen eine EU-Mission im Rahmen der GSVP inder Sahelregion lange gesperrt hat. Anstatt sich auf ihrepositive Rolle in der Region zu besinnen – immerhin ge-hörte die Bundesrepublik zu den ersten Staaten, die dieUnabhängigkeit Malis 1960 anerkannt haben –, hat dieBundesregierung das Handeln der EU verzögert. Warum?Aus Furcht, vor den französischen Karren gespannt zuwerden, oder wegen der Uneinigkeit in der EU infolgedes Libyen-Einsatzes? Wir müssen in der EU endlich zueiner gemeinsamen Einschätzung der sicherheitspoliti-schen Erfordernisse kommen. Eine veraltete Sicherheits-strategie hilft da augenscheinlich nicht weiter. Es reichtnicht aus, dass Bundesminister Niebel für eine Stipp-visite nach Mali fährt und ein paar von seinen Mützenverschenkt.Nun stellt sich die Frage: Was tun, um Mali nach demPutsch bei der Rückkehr zur Demokratie und zu stabilenInstitutionen zu unterstützen? Was tun, um die territo-riale Integrität Malis wieder herzustellen? Und was tun,um einer Destabilisierung der ganzen Region entgegen-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23535
Katja Keul
(C)
(B)
zuwirken und Strukturen für eine nachhaltige Entwick-lung unter demokratischen Vorzeichen zu schaffen?Wichtig ist nun aus unserer Sicht, dass jetzt nicht ausÜbereifer der falsche Weg eingeschlagen wird. Bishersteht die westafrikanische Staatengemeinschaft ECOWASim Mittelpunkt aller Vermittlungsversuche. Der malischeÜbergangspräsident Traoré hat explizit die ECOWAS ge-beten, bei der Ausbildung und Reorganisation der mali-schen Streitkräfte sowie logistisch bei der Rückerobe-rung des Nordens unterstützend tätig zu werden. Einenentsprechenden Brief hat Traoré auch schon an UN-Ge-neralsekretär Ban Ki-moon geschickt. Deutschland istzurzeit Mitglied im UN-Sicherheitsrat und hat daher be-sondere Verantwortung. Die internationale Gemein-schaft muss versuchen, möglichst alle wichtigen Akteurein der Region in den Prozess um die Lösung der Kon-flikte in Mali einzubeziehen. Besonders wichtig sind dieNachbarstaaten Malis Algerien und Mauretanien, dienicht Mitglieder der ECOWAS sind. Ohne ihre Beteili-gung könnte ein Eingreifen der ECOWAS den Konflikteher eskalieren, als ihn der Lösung näherbringen. DieAfrikanische Union sollte daher stärker in die Konflikt-lösung einbezogen werden. Wenn eine breite Einbettungeiner Friedensmission, die sich auf die Reorganisationund Ausbildung der malischen Armee beschränkt, zu-standekommt, sind Deutschland und die EU aufgefor-dert, diese finanziell und logistisch zu unterstützen.In dieser Hinsicht gilt es für die Bundesregierung,auch den UN-Generalsekretär bei der Ausarbeitung undImplementierung einer UN-Sahel-Strategie zu unterstüt-zen.Wenn wir zur Stabilisierung der Region beitragenwollen, müssen wir in unserer Politik umsteuern. Wirmüssen regionale Akteure auch außerhalb der ECOWASstärker in die Umsetzung der Sahel-Strategie einbinden.Auch Nigeria sollte dabei neben Algerien und Libyeneine wichtige Rolle spielen. Zudem empfehlen wir, denAnsatz der Strategie „Sicherheit ist Voraussetzung fürEntwicklung“ zu überprüfen. Eine Studie des Europäi-schen Parlamentes hat deutlich gezeigt, dass die Ar-mutsbekämpfung viel zu kurz kommt. Die Bundesregie-rung sollte ihr politisches Gewicht in die Waagschalewerfen, um hier eine Veränderung herbeizuführen.Die Sahelregion liegt vor der Haustür der EU. Einedestabilisierte Region, in der Menschen tagtäglich umihr Überleben kämpfen müssen, die große Rückzugs-räume für islamistischen Terror und die organisierteKriminalität lässt, geht uns alle an. Unterstützen Sieunseren Antrag, damit wir gemeinsam dazu beitragenkönnen, dass sich dort ein Raum entwickelt, in demVoraussetzungen für ein sicheres und wirtschaftlichnachhaltiges Umfeld gewährleistet sind.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/10792 an die in der Tagesordnung vorge-sehenen Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Tagesordnungspunkt 26:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Joachim Pfeiffer, Nadine Schön ,Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenDr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner
, Heinz Lanfermann, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDPBerufsqualifikation – Mobilität erleichtern,Qualität sichern– Drucksache 17/10782 –Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Re-den zu Protokoll genommen.Nadine Schön (CDU/CSU):In Europa leben derzeit nicht einmal 10 Prozent derWeltbevölkerung. Diese produzieren ein Viertel desBruttoinlandsprodukts der Welt und geben 50 Prozentder Sozialausgaben der Welt aus. Daran sieht man: Wirsind im weltweiten Kontext wenige, diese wenigen sindaber ein hohes Wohlstandsniveau gewohnt. Und diesenWohlstand wollen wir auch erhalten.Um innerhalb eines agilen und dynamischen Welt-marktes diesen Wohlstand zu sichern, müssen wir wett-bewerbsfähig sein; denn nur wenn wir wettbewerbsfähigsind, können wir den Wohlstand erhalten, von dem un-sere auch und die nächste Generation profitieren soll.Dies wird umso schwerer, je mehr der demografischeWandel in Europa und gleichzeitig die Attraktivität an-derer Standorte dazu führen, dass gut ausgebildete undqualifizierte Fachkräfte entweder nicht vorhanden sindoder in andere Regionen abwandern.Aus diesem Grund ist es richtig und wichtig, dass dieEuropäische Union mit all ihren Mitgliedstaaten seitJahren darum bemüht ist, die Mobilität der Fachkräfteinnerhalb Europas zu erleichtern, um das vorhandeneFachkräftepotenzial bestmöglich auszuschöpfen. Dervorliegende Entwurf der Europäischen Kommission zurÜberarbeitung der Richtlinie 2005/36/EG über die An-erkennung von Berufsqualifikationen und über die Ver-waltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarktin-formationssystems soll diesem Ziel dienen. Er soll einBeitrag zur besseren Mobilität innerhalb Europas unddamit zur Sicherung des Fachkräftebedarfs und schließ-lich zu mehr Wettbewerbsfähigkeit sein. Dieses Anliegender Kommission teilt und begrüßt die CDU/CSU-Frak-tion.Intensiv haben sich deshalb die Mitglieder meinerFraktion mit dem Richtlinienentwurf auseinanderge-setzt. Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Wirt-schaft und Technologie, Bildung und Forschung, Ge-sundheit, Arbeit und Soziales, Recht und Europa habenden Entwurf eingehend geprüft. Wir haben ein Experten-gespräch mit den größten betroffenen Verbänden durch-geführt und gerade gestern in einer Fachtagung zusam-men mit den Kollegen aus dem Europäischen Parlamentsowie den Verbänden die Dimension des Themas ausdeutscher und europäischer Sicht beleuchtet. Allen, die
Metadaten/Kopzeile:
23536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Nadine Schön
(C)
(B)
daran mitgewirkt haben, will ich auch von dieser Stellenoch einmal herzlich danken.Einig sind wir uns innerhalb der Fraktion und auch inden erwähnten Fachgesprächen darin, dass wir jedenVorschlag begrüßen, der die Mobilität in Europa er-leichtert und das Fachkräftepotenzial erhöht. Aller-dings: Der Wille zur Vereinfachung darf nicht auf Kos-ten der Qualität gehen. Und ich sage hier ganz deutlich:Es gibt zahlreiche Vorschläge in diesem Entwurf, die alleAlarmglocken zum Läuten bringen. Den Richtlinienent-wurf durchziehen zahlreiche Vorschläge, die mit unse-rem System der dualen Ausbildung nicht oder nurschwer vereinbar sind.So verkennen etwa die Vorschläge, eine zwölfjährigeSchulzeit für Krankenpfleger und Hebammen als Vo-raussetzung für die automatische Anerkennung zu ver-langen, gänzlich, dass in Deutschland gerade in denPflegeberufen mit einem bewährten System von zehnjäh-riger Schulzeit und qualitativ hochwertiger dualer Aus-bildung hohe Fachkraftquoten erreicht werden. EineAnhebung auf zwölf Jahre Schulzeit als Zugangsvoraus-setzung würde 45 Prozent der Krankenpflegerinnen undKrankenpfleger und 85 Prozent der Altenpflegerinnenund Altenpfleger von der Anerkennung ausschließen.Dabei sind heute kaum Unterschiede in der Qualitätzwischen Auszubildenden mit Fachhochschulreife undsolche mit Mittlerer Reife zu erkennen. Es besteht alsokein Grund, einem Großteil der Jugendlichen den Zu-gang zu dieser Ausbildung zu verwehren. Dadurch ver-bessert man keine Qualität, sondern erhöht nur denFachkräftemangel in den betroffenen Bereichen und da-mit die Arbeitsbelastung der Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter. Die Mehrheit der betroffenen Verbände – unddie Allianz reicht von der Krankenhausgesellschaft überDIHK bis hin zu Caritas und Verdi – plädiert daher ent-schieden gegen den Vorschlag der Kommission, pau-schal eine Schulzeit von zwölf Jahren zu verlangen.Mehr Anerkennung und eine bessere Bezahlung erreicheman nicht durch den Umweg der Anhebung der Ausbil-dungsvoraussetzungen, so die mehrheitliche Meinung,der wir uns in aller Deutlichkeit anschließen.Diese Deutlichkeit und dieses einheitliche Bild unddie klare Positionierung haben wir auch hier im Deut-schen Bundestag. Das freut mich sehr; denn es ist wich-tig, dass wir mit einer Stimme sprechen. Mit einerStimme sprechen sollten wir dann aber auch in Brüssel.Deshalb hat es mich sehr überrascht, zu hören, dass esin den Reihen der SPD auf EU-Ebene eine Parlamenta-rierin gibt, die diese deutsche Position gerade nicht ver-tritt. Liebe Freunde der SPD, werben Sie auch in IhrenReihen in Brüssel und nicht nur im Deutschen Bundes-tag für unsere hervorragende duale Ausbildung, geradeauch in den Pflegeberufen. Es ist wichtig, dass wir hiermit einer Stimme sprechen!Nicht nur die Pflegeberufe, sondern auch viele an-dere regulierte Berufe sind von der Richtlinie betroffen.Besonders beim deutschen Handwerk werden die Pläneder Kommission daher kritisch betrachtet. Gerade hierspielt die duale Ausbildung eine entscheidende Rolle.Mehr als in anderen Bereichen sichert sie hier den eige-nen und auch den industriellen Fachkräftenachwuchs.Mit einer Ausbildungsquote von 9 Prozent leisten zahl-reiche Handwerksbetriebe in Deutschland hervorra-gende Arbeit für die junge Generation und einen ent-scheidenden Beitrag zur Prosperität Deutschlands.Deshalb ist mit Beunruhigung zu sehen, dass in derRichtlinie zahlreiche delegierte Rechtsakte vorgesehensind, die dazu führen können, dass Regelungen durchge-setzt werden, die unser duales System empfindlich tref-fen, ohne dass der deutsche Gesetzgeber die Möglichkeithat, dem entgegenzusteuern. Auch der partielle Zugangkann nach Auffassung des Handwerks eine Gefahr fürunser qualitativ hochwertiges deutsches Ausbildungs-system darstellen, da es durch die Gewährung des par-tiellen Zugangs zu einer Zersplitterung gewachsener Be-rufsbilder kommen könnte. Deshalb ist es wichtig, diesesInstrument restriktiv einzusetzen. Auch was die Ausge-staltung der Niveaustufen angeht, befürchtet speziell dasHandwerk eine Benachteiligung der dualen Ausbildung,wenn etwa einem deutschen Handwerksmeister der Zu-gang zu Berufen, die in anderen Mitgliedstaaten einenBachelor oder Master voraussetzen, grundsätzlich ver-wehrt bliebe, umgekehrt aber einem EU-Bürger mit Pri-märschulabschluss mit einer höchstens dreijährigenAusgleichsmaßnahme zukünftig die Führung eines zu-lassungspflichtigen Handwerksbetriebs gestattet werdenkann. Diese Bedenken müssen ernst genommen und inder Richtlinie entsprechend klargestellt werden.Schließlich muss das System der gemeinsamen Ausbil-dungsgrundsätze so ausgestaltet sein, dass es keine An-gleichung auf niedrigem Niveau nach sich zieht. Auchbeim europäischen Berufsausweis ist darauf zu achten,dass er Verfahren vereinfacht und beschleunigt, nichtaber zu Unsicherheit führt.In all diesen Einzelpunkten ist die konkrete Ausge-staltung der Vorschläge der Kommission entscheidenddafür, dass unser duales System nicht gefährdet wird.Wir wollen das duale System stärken: im Handwerk, inden Gesundheitsberufen und in allen anderen von derRichtlinie betroffenen Berufsgruppen. Deshalb gilt esjetzt, zusammen mit unseren Kolleginnen und Kollegenim Europäischen Parlament für eine sinnvolle und klugeAusgestaltung zu werben, die das duale System stärktund nicht schwächt.Diese Stärkung des dualen Systems ist nicht nur inunserem eigenen Interesse: Schließlich entdecken ge-rade auch andere Staaten der EU und weltweit das dualeAusbildungssystem als Garant für hohe Beschäftigungs-und Fachkraftquoten. So waren im Juni in Deutschland7,9 Prozent der Jugendlichen arbeitslos, in Frankreichhingegen 22 Prozent und in Spanien sogar über 50 Pro-zent. Das duale System sichert eine hohe Fachkraft-quote, beugt dem Fachkräftemangel vor, indem sich dieUnternehmen selbst um ihren Nachwuchs bemühen, undverteilt die Kosten der Ausbildung auf Wirtschaft undAllgemeinheit. Viele Berufe, die in anderen Ländern mitHochschulstudium erreicht werden, werden in Deutsch-land durch die duale Ausbildung in der gleichen Quali-tät sichergestellt. Meisterausbildung und Durchlässig-keit zum Hochschulstudium garantieren gleichzeitigAufstiegsmöglichkeiten. So sichert das duale System inZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23537
Nadine Schön
(C)
(B)
Deutschland quantitativ und qualitativ eine hohe Fach-kraftdichte. Damit leistet die duale Ausbildung einen un-verzichtbaren Beitrag zur wirtschaftlichen Prosperitätunseres Landes. Dies haben andere Länder erkannt undmachen es uns nach. Allein aus diesem Grund gilt es,dieses Erfolgsmodell zu bewahren, auf europäischerEbene für dieses System zu werben und es zu verteidi-gen. Deshalb plädieren wir eindringlich für eine Ände-rung der oben genannten Vorschläge.Neben den Bestandteilen der Richtlinie, die die dualeAusbildung betreffen, gibt es darüber hinaus innerhalbdes Richtlinienentwurfs weitere problematische Ge-sichtspunkte. In unserem Antrag sind wir auf die Berufs-gruppe der Notare, auf die Apotheker und Ärzte sowieauf weitere Einzelregelugen, die besonders für die Ge-sundheitsberufe von Relevanz sind, eingegangen. Ichkann in meiner Rede leider nicht alle diese wichtigenThemen aufgreifen. Es gilt aber für alle diese Punkte,wenn ich sage: Wir werden gemeinsam mit der Bundes-regierung und unseren europäischen Kollegen sowie denVerbänden im Europäischen Parlament und bei derKommission dafür werben, dass die Richtlinie so ausge-staltet wird, dass sie Mobilität erhöht, ohne Qualität zugefährden. Das ist unser aller Ziel im Sinne unseresLandes und im Sinne des Wohlstandes in Europa.
Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb derEuropäischen Union ist eine wegweisende Errungen-schaft eines zusammenwachsenden Europas.Jeder EU-Bürger kann sich entsprechend seinerQualifikationen frei auf dem europäischen Arbeitsmarktbewegen. Diese Mobilität macht es unseren deutschenUnternehmen möglich, um die „Besten“ zu werben undmit niedrigen bürokratischen Hürden dem Fachkräfte-mangel entgegenzuwirken.Die Novelle der Berufsanerkennungsrichtlinie istdeswegen ein wesentlicher Baustein dafür, dass dasFachkräftepotenzial in der EU optimal genutzt wird.Auch durch den angestrebten Berufsausweis soll dieMobilität zukünftig noch leichter werden.Aber: Unter der zunehmenden Mobilität darf dieQualität der Arbeit und der Ausbildung nicht leiden. Dieberufliche Mobilität in Europa darf nicht zulasten beste-hender und bewährter Berufsqualifikationen führen.Denn auch oder gerade deutsche Arbeitnehmer profitie-ren von einem freien europäischen Arbeitsmarkt.Diese Tatsache ist neben der sehr guten Ausbildungan den deutschen Universitäten vor allem auf das deut-sche duale Berufsbildungssystem zurückzuführen. Denndieses gewährleistet nicht nur einen sehr guten Bil-dungsstand, sondern auch eine hochwertige Ausbildung,wie zum Beispiel in den Sozial- und Handwerksberufen –und das auch ohne Abitur oder Hochschulabschluss.Ebendiese duale Ausbildung ist ein wesentlicherGrund für die geringe Jugendarbeitslosigkeit inDeutschland. Nur 7,9 Prozent der Jugendlichen sindarbeitslos. Ihre Qualität ist der engen Verzahnung vonTheorie und Praxis geschuldet. Selbst im neuestenOECD-Bericht wird den USA vorgeschlagen, unserduales Ausbildungssystem aufzugreifen und einzufüh-ren. Nicht nur die USA interessieren sich dafür, auch an-dere Länder, zum Beispiel in Südamerika und selbst beiuns in Europa. Die Welt schaut auf unsere duale Ausbil-dung. Und wir können stolz auf sie sein.Gerade die zehnjährige Schulausbildung als einemachbare Zulassungsvoraussetzung ist für die geringeArbeitslosigkeit bei Menschen mit mittlerem Bildungs-abschluss und besonders bei den Jugendlichen verant-wortlich.Etwa zwei Drittel aller Jugendlichen absolvierennach ihrem Schulabschluss eine betriebliche Ausbil-dung. 2011 gab es 1,5 Millionen Auszubildende inDeutschland.Doch für viele Menschen endet nach der Ausbildungdie berufliche Qualifikation nicht: Sie schließen an ihreAusbildung eine Zusatzausbildung an, wie zum Beispieleinen Meister oder Techniker, eine Fortbildung oder einStudium.Das deutsche duale Ausbildungssystem und die da-rauf aufbauenden Weiterbildungsmöglichkeiten sind dieelementaren Bausteine unserer Wirtschaftskraft. Seinehohe Qualität ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit.Grundsätzlich begrüßen wir, die CDU/CSU-Fraktion,die Überarbeitung der Qualifikationsrichtlinie. Sie istgut und in vielen Punkten auch richtig.Aber in einem wesentlichen Punkt sehen wir unserduales Ausbildungssystem durch den Richtlinienvor-schlag gefährdet: Mit der Forderung, die schulischeVoraussetzung für die Zulassung zur Ausbildung zumKrankenpfleger/zur Krankenpflegerin und Hebammevon zehn auf zwölf Jahre anzuheben, untergräbt dieNovelle der Richtlinie weite Teile unseres Ausbildungs-systems.Wir, die CDU/CSU-Fraktion, setzen uns dafür ein,dass die bisherige Zugangsvoraussetzung einer zehnjäh-rigen Schulausbildung zur Krankenpflege- und Hebam-menausbildung bestehen bleibt und nicht auf eine zwölf-jährige allgemeine Schulausbildung angehoben wird.Eine Ausbildung im Gesundheits- und Krankenpfle-gewesen muss auch für Realschulabgänger möglichsein. Nur so kann dem Fachkräftemangel entgegen-gewirkt werden.Im Schuljahr 2010/2011 haben 31 Prozent derSchülerinnen und Schüler Abitur gemacht, 40,5 Prozenthingegen aber einen Realschulabschluss. Diesen Ab-solventen würde durch den Richtlinienvorschlag der EUein Zugang zum Pflegeberuf verwehrt werden.Welche Kompetenzen erwerbe ich denn wirklich,wenn ich länger zur Schule gehe? Würde sich ein Abitu-rient überhaupt für eine Ausbildung im Pflegebereichentscheiden, wenn er auch Medizin studieren kann?Wird so die Akzeptanz und Attraktivität des Pflegeberu-fes bei Abiturienten gestärkt? Ist ein Abiturient besserqualifiziert für den Pflegeberuf als jemand mit Real-schulabschluss?
Metadaten/Kopzeile:
23538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Philipp Murmann
(C)
(B)
Der Pflegeberuf ist sehr anspruchsvoll. Daranbesteht kein Zweifel. Ich selbst konnte mich erst im Au-gust davon überzeugen, als ich im Rahmen meiner Som-mertour mehrere Pflegeeinrichtungen in meinem Wahl-kreis besucht habe. Diesem Berufsfeld gilt mein vollerRespekt.Doch was spricht dagegen, dass auch Mädchen undJungen mit Realschulabschluss den Anforderungen die-ses Berufes voll genügen? Nichts. Seit Jahrzenten erler-nen Realschulabsolventen den Beruf des Krankenpfle-gers oder der Hebamme. Sie machen ihre Arbeit gut.Und auf einmal sollen sie die Anforderungen mit ihrerschulischen Ausbildung nicht mehr erfüllen?Die Kompetenzen am Ende einer zehnjährigen Schul-bildung plus dreijähriger Ausbildung sind nicht nur gut –sie sind hervorragend. Warum sollte man an einem Sys-tem etwas verändern, das erfolgreich ist.Im Gegenteil – mit der Anhebung der schulischenAusbildungsvoraussetzungen würde man nicht nur demgrößten Teil unserer Schulabsolventen den Zugang zueinem Berufsfeld verweigern, dies hätte auch erheblicheKonsequenzen: Bei Zulassung nur von Abiturienten zurKrankenpflege- und Hebammenausbildung wird sichder bereits bestehende Fachkräftemangel in der Bran-che weiter dramatisch zuspitzen. Eine alternde Gesell-schaft ist heute mehr denn je auf viele Pflegekräfte ange-wiesen. Aufgrund des demografischen Wandels werdenin den nächsten zehn Jahren über 200 000 neue Pflege-fachkräfte benötigt. 200 000! Aber 50 Prozent einesAusbildungsjahrgangs in der Gesundheits- und Kran-kenpflege würden durch die neue Richtlinie von der Aus-bildung ausgeschlossen werden.Neben den Konsequenzen für den Arbeitsmarkt unddie deutsche Wirtschaft würde eine Änderung der Zulas-sungsvoraussetzungen für Krankenpfleger/-innen undHebammen auch einen massiven Umbruch bei den aus-zubildenden Schulen und den Pflegeeinrichtungen nachsich ziehen: Eine systemische Umstellung von einem aufdas andere System würde Jahre dauern.Anstatt die Zulassungsvoraussetzungen anzuheben,sollten größere Anstrengungen unternommen werden,die Qualität der Ausbildung in den Schulen und in derPraxis weiter zu verbessern.Müssen sich bei strengeren Zulassungsvoraussetzun-gen auch die Inhalte der Ausbildung ändern und auf einnoch höheres Niveau gebracht werden?Was würde eine veränderte Zulassungsvoraussetzungfür die Lehrerausbildung bedeuten? Welche Auswirkun-gen hätte das?Können wir uns das Ausmaß der Auswirkungen über-haupt bewusst machen?Maßgeblich für die Qualifikation eines Arbeitneh-mers sollte nicht die Anzahl seiner besuchten Schuljahresein, sondern die innerhalb von Aus- und Weiterbildungerworbenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen.Die Attraktivität des Pflegeberufes wird nicht durchdie Anhebung der schulischen Bildung erhöht. Nein, imGegenteil – sie wird sogar verringert. Das können wiruns in Zeiten des Fachkräftemangels nicht leisten, unddeshalb ist unser Antrag „Berufsqualifikation – Mobili-tät erleichtern, Qualität sichern“ richtig und auch sowichtig. Wir wollen verhindern, dass uns der Richt-linienvorschlag der EU in unser Ausbildungssystem ein-greift, unser erfolgreiches duales Ausbildungssystemgar zunichte macht. Liebe Kolleginnen und Kollegen:Lassen Sie uns auf Kompetenzen setzen.Deshalb, stimmen Sie für diesen Antrag. Stimmen Siefür unser duales Ausbildungssystem.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen zum Richtlinien-entwurf über die Anerkennung von Berufsqualifikatio-nen in Europa ist zunächst zu begrüßen. Dies schonallein deshalb, weil damit der Deutsche Bundestag dieGelegenheit bekommen könnte, dieses nicht ganzunwichtige Projekt zu diskutieren und der Regierungeine Wegweisung nach Brüssel mitzugeben. Das solltenwir generell zur Gepflogenheit in unserem Parlamentmachen und der Bundesregierung auch auf die Fingerschauen, inwieweit sie sich an unsere Empfehlungenhält.In einigen Teilen können wir Ihren Positionen zurBQR-Richtlinie vollständig folgen. Auch wir meinen,dass es sinnvoll und notwendig ist, den Menschen einenArbeitsplatzwechsel und die Arbeitsplatzsuche inner-halb der EU zu erleichtern. Vor allem geht es aber da-rum, erworbene Qualifikationen einsetzen zu könnenund sie auch im Sinne einer angemessenen Bezahlungund möglichen Weiterentwicklung anerkannt zu bekom-men. Davon profitieren sowohl die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer als auch die Betriebe.Wir unterstützen auch die Hervorhebung der Bedeu-tung unseres dualen Ausbildungssystems und die Forde-rung, dass dies mit seinen Abschlüssen im europäischenKontext nicht unterbewertet werden darf. Da wir aucham Prinzip der Beruflichkeit festhalten und eine Zer-splitterung von Berufsbildern verhindern wollen, sehenwir den „partiellen Zugang“ in Übereinstimmung mitdem Koalitionsantrag sehr kritisch.Für völlig verfehlt halten wir den Ansatz des Richt-linienentwurfes in der Frage des Zugangs zu Ausbildun-gen im Gesundheits- und Pflegebereich. Wir diskutierenseit Jahren über bundesweit einheitliche Ausbildungs-ordnungen mit gemeinsamen Grundlagen in der Alten-und Krankenpflege, am besten auf der Grundlage desBerufsbildungsgesetzes. Die bisherigen Regelungen er-weisen sich immer mehr als zusätzliches Hemmnis beider Gewinnung von genügend Fachkräften. Jetzt kommtder Richtlinienentwurf mit der Vorstellung, die Hürdenzu solchen Ausbildungen noch anzuheben und zwölfJahre Schulbildung zu verlangen, um überhaupt einesolche Ausbildung beginnen zu können. Wir begrüßen essehr, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen dazu eineklare Aussage in dem Sinne trifft, de facto eben nicht dasAbitur zur Voraussetzung für Pflegeberufe zu machen.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23539
Klaus Barthel
(C)
(B)
Allerdings muss damit auch für die nationale Ebeneklar sein, dass wir hier endlich mehr Durchlässigkeitaus dualen und auch pflegerischen Ausbildungen inRichtung Weiterbildung und Hochschule brauchen.Auch in anderen genannten Punkten finden wir Über-einstimmungen, die ich hier nicht im Einzelnen aufzäh-len kann.Uns fehlen aber zentrale Aussagen, und teilweisemüssen wir widersprechen.Es ist schon bezeichnend für diese Lobbyistenkoali-tion, dass sie sich zu Aussagen über Notare und Apothe-ker aufschwingen kann, das Handwerk beispielsweiseaber nicht vorkommt. Bei genauerer Betrachtung lässtsich nämlich der Eindruck nicht von der Hand weisen,dass gerade in diesem Bereich, aber auch bei den grenz-überschreitenden Dienstleistungen im Allgemeinen einneuer Versuch läuft, das Herkunftslandprinzip durch dieHintertür einzuführen. Das könnte im Ergebnis dazuführen, dass es in bestimmten Bereichen einfacher wird,sich zur Erbringung von Dienstleistungen niederzulas-sen, als vorübergehend einen Beruf auszuüben. Insge-samt werden Ausbildungsgrundsätze auch in dualenBerufen eher aufgeweicht, statt dass eindeutig dafürplädiert wird, das duale System explizit als Mindeststan-dard zu verankern.So weit waren wir schon gemeinsam mit unserem Be-schluss im Wirtschaftsausschuss vom 22. Juni 2012.Auch in vielen anderen Gesprächen zeichnete sich einbreiter Konsens in den Kernpunkten ab.Was es dagegen nach einjähriger Debatte ausgerech-net heute soll, bei Nacht und Nebel einen so kurzfristigvorgelegten Antrag zu verabschieden, verstehen wohlnur die besteingeweihten Koalitionsstrategen. Auch mitBlick auf die derzeit laufenden Ausschussberatungen imEuropäischen Parlament würde uns – ebenso wie gegen-über der Bundesregierung – nur breiter Konsens helfen.Das war auch unsere bisherige Stärke in den Gesprä-chen mit Kommission und Parlament. Ich erinnere andie seinerzeitige Videokonferenz.Einmal mehr vertun Union und FDP diese Chance.Dass es für die SPD-Bundestagsfraktion nur zu einerEnthaltung reicht, wird jeder verstehen.
Im Dezember vergangenen Jahres hat die Europäi-sche Kommission einen Vorschlag zur Überarbeitungder Richtlinie über Berufsqualifikationen vorgelegt.Meine Fraktion und ich begrüßen die Evaluierungund Modernisierung der Richtlinie ausdrücklich.Damit verbunden unterstützen wir die Bundesregie-rung mit dem vorliegenden Antrag und der heutigenDebatte im Plenum in den laufenden Verhandlungenüber den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates und desEuropäischen Parlaments zur Änderung der bisher gel-tenden Berufsqualifikationsrichtlinie.Die Änderung der Richtlinie ist ein zentrales Reform-projekt im europäischen Binnenmarktprogramm; dennwährend in Europa der grenzüberschreitende Waren-und Güterverkehr mittlerweile an der Tagesordnung ist,können die Entwicklungen im Dienstleistungsbinnen-markt nicht Schritt halten, und das angesichts einesAnteils der Dienstleistungen an der europäischen Brut-towertschöpfung von knapp 70 Prozent im Jahr 2011.In den kommenden Jahren ist in Europa ein signifi-kanter Anstieg der Nachfrage nach hoch qualifiziertenArbeitskräften zu erwarten. Aber auch schon jetzt wer-den vor allem in Deutschland händeringend Fachkräftegesucht. In anderen Ländern Europas hingegenherrscht, besonders im Fachkräftebereich, eine hoheArbeitslosigkeit, gerade auch unter Jugendlichen.Um diesen ungleichen Strukturen entgegenzuwirken,müssen Arbeitsplätze und Arbeitskräfte in Europabesser zueinanderfinden und vor allem Fachkräfte imBinnenmarkt besser zirkulieren können – mobile und gutausgebildete Berufstätige aus anderen EU-Mitglied-staaten müssen zukünftig noch problemloser dorthin ge-hen können, wo sie gebraucht werden.Aus diesem Grund stimmen wir mit der EuropäischenKommission überein und erachten es ebenfalls für not-wendig, dass die Qualifikationen der Arbeitskräfte inder gesamten Europäischen Union einfacher, transpa-renter, nutzerfreundlicher und zuverlässig anerkanntwerden.Die Vorschläge der Kommission enthalten unseresErachtens viele positive Elemente, um eine besserewMobilität insbesondere von Berufstätigen bzw. Fach-kräften im Binnenmarkt zu erreichen. Zum Beispiel sollein für alle interessierten Berufsgruppen angebotenerEuropäischer Berufsausweis die angesprochene leich-tere und schnellere Anerkennung von Qualifikationenermöglichen. Diese Maßnahme ist unserer Meinungnach durchaus positiv zu bewerten; jedoch muss sicher-gestellt werden, dass die abschließende Entscheidungüber die Anerkennung der Qualifikation letztendlichdem jeweiligen Aufnahmeland vorbehalten bleibt.Darüber hinaus werden die Mitgliedstaaten aufgefor-dert, das Ausmaß der Reglementierung von Berufenjeweils zu überarbeiten.Da die Gründe für die Reglementierung eines Berufs-zugangs vielgestaltig sind – hier sind beispielsweiseRechts- und Berufstraditionen anzuführen –, ist es daherzu begrüßen, dass die letztendliche Entscheidung da-rüber, ob ein Berufsabschluss reglementiert werden soll,den Mitgliedsländern überlassen wird. Hier wäre esdann unsere Aufgabe als Gesetzgeber, zum einen dieZahl der reglementierten Berufe zu überprüfen und,wenn möglich, zu verringern. Zum anderen sollte auchder Bereich der automatischen Anerkennung von Quali-fikationen auf neue, innovative Berufe überprüft und,wenn möglich, erweitert werden.Wir Liberalen sind der Meinung, dass im vorliegen-den Antrag der Koalitionsfraktionen sowohl die positi-ven als auch die noch kritisch zu sehenden Elemente imZusammenhang mit der europaweiten Anerkennungvon Berufsqualifikationen ausgewogen zum Ausdruckkommen.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Claudia Bögel
(C)
(B)
Ich möchte darüber hinaus abschließend noch einmalbetonen, dass die Überarbeitung der Berufsqualifika-tionsrichtlinie eine wichtige Voraussetzung dafür ist, daseuropäische Fachkräftepotenzial optimal nutzen zu kön-nen und die Freizügigkeit in Europa zu verbessern.Vor diesem Hintergrund unterstützen wir mit demvorliegenden Antrag die deutschen Verhandlungsinte-ressen in Brüssel und hoffen, dass letztlich ein inhaltlichausgewogenes Paket zur Modernisierung der Berufs-qualifikationsrichtlinie geschnürt wird.
Das duale Ausbildungsmodell in Deutschland ist im
europäischen Vergleich einzigartig.
Die Kombination aus praktischer Ausbildung im Be-
trieb und Bildung in der Berufsschule gewährleistet den
Auszubildenden eine optimale Vorbereitung auf ihr spä-
teres Arbeitsleben. Gerade die enge Verzahnung von
Theorie und Praxis ermöglicht das hohe Bildungsniveau
unserer Gesamtbevölkerung. Denn in vielen Berufszwei-
gen ist eine Ausbildung in Deutschland mit einem aka-
demischen Abschluss im Ausland vergleichbar.
Junge Menschen mit einer abgeschlossenen Berufs-
ausbildung sind auf dem Arbeitsmarkt besonders ge-
fragt, sodass Deutschland europaweit derzeit die nied-
rigste Jugendarbeitslosigkeit verzeichnen kann.
Diese Vorteile sehe ich besonders deutlich bei den
Pflegeberufen. Derzeit ist es allen Absolventen mit Real-
oder Hauptschulabschluss möglich, eine hochwertige
Pflegeausbildung abzuschließen, in der sich theoreti-
sche Schulblöcke mit Praxiseinheiten in Pflegeeinrich-
tungen fortlaufend abwechseln. Mithilfe dieses berufs-
begleitenden Systems können junge Pflegerinnen und
Pfleger eine Bindung zu ihrer Praxisstelle aufbauen und
ihrem Arbeitgeber nach Ausbildungsabschluss als quali-
fizierte Fachkräfte erhalten bleiben. Davon profitieren
beide Seiten gleichermaßen.
Der Zugang zu einer Ausbildung im Gesundheits- und
Pflegebereich muss sich deshalb weiterhin für alle
Haupt- und Realschulabsolventen so einfach gestalten
wie bisher! Und darf eben nicht, wie von der Europäi-
schen Kommission gefordert, durch eine Anhebung auf
zwölf Jahre Schulausbildung erschwert werden. Mit
Blick auf die geringe Jungendarbeitslosigkeitsrate
würde sich ansonsten die Situation auf dem deutschen
Arbeitsmarkt der Pflegekräfte verschärfen. Rund die
Hälfte der Absolventen eines heutigen Jahrgangs für den
angestrebten Pflegeabschluss würde der Zugang zu ei-
ner Ausbildung versperrt werden; denn derzeit erfüllen
nur 50 Prozent der Auszubildenden die Anforderungen
eines Abiturs. Für die betroffenen Haupt- und Real-
schulabgänger würde dies eine Verletzung der Berufs-
wahlfreiheit bedeuten.
Entscheidend in Gesundheits- und Pflegeberufen sind
jedoch insbesondere menschliche Fähigkeiten, wie Für-
sorglichkeit, Empathie und soziale Kompetenz, und
nicht die Anzahl besuchter Schuljahre. Gerade wenn es
um die Pflege Demenzkranker geht, merkt man schnell:
Wir brauchen nicht Heerscharen von Diplom-Pflegema-
nagern – sondern anständig ausgebildete Menschen mit
Geduld, Einfühlungsvermögen und praktischen Fach-
kenntnissen! Dafür braucht’s nicht zwangsläufig Abitur,
am besten noch mit Großem Latinum.
Die Pflegeausbildung in Deutschland ist auf dem in-
ternationalen Arbeitsmarkt in Qualitätsfragen absolut
konkurrenzfähig! Deshalb muss unser Ausbildungsab-
schluss auch weiterhin im Ausland anerkannt werden.
Darüber hinaus wird Deutschland in den nächsten
Jahrzehnten der Herausforderung eines Wandels des Al-
tersaufbaus der Gesellschaft entgegentreten müssen.
Eine gestiegene Lebenserwartung sowie der medizi-
nisch-technische Fortschritt führen zukünftig zu einer
größer werdenden Anzahl älterer Menschen, die auf
Pflegeleistungen angewiesen sein werden. Dem gegen-
über steht eine niedrige Geburtenrate, die zu einer sta-
bilen Bevölkerungsentwicklung kaum ausreicht. Damit
verbunden ist ein stetig steigender Bedarf an qualifizier-
tem Personal in den medizinischen Versorgungs- und
Pflegeberufen, der allerdings aus der schrumpfenden
Zahl an Arbeitskräften gedeckt werden muss.
Schon bis 2020 ist mit einem Mehrbedarf an 170 000
Stellen in der Altenpflege zu rechnen. Diesem stärker
werdenden Fachkräftemangel kann nicht damit begeg-
net werden, die Zulassungsvoraussetzungen zu einer
Pflegeausbildung zu verschärfen. Wir müssen uns viel-
mehr der Frage zuwenden, wie wir die Potenziale der
Pflege ausschöpfen und weiter fördern können. Dazu ge-
hört insbesondere der sogenannte informelle Bereich,
also der häusliche Bereich. Denn sobald eine Pflegebe-
dürftigkeit eintritt, leisten in den meisten Fällen zu-
nächst die Angehörigen den größten Teil der Pflege.
Hier setzen wir alles daran, die Rahmenbedingungen so
zu gestalten, dass die Pflege im eigenen Heim so einfach
und so individuell wie möglich stattfinden kann.
Mit dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz stellen wir
uns den Herausforderungen des demografischen Wan-
dels und der Pflege in der Zukunft. Wir ermöglichen
erstmals besondere Leistungen für den wachsenden An-
teil an dementiell Erkrankten in der Gesellschaft und
ihre Angehörigen und berücksichtigen deren besondere
Bedürfnisse. Darüber hinaus werden weitere Maßnah-
men für die Verbesserung der Situation von Menschen
mit eingeschränkter Alltagskompetenz eingeführt.
Mit dem umfangreichen Maßnahmenpaket, das wir
mit dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz geschnürt ha-
ben, leisten wir eine großen Beitrag zur Verbesserung
der Pflege in Deutschland. Es wäre absolut kontrapro-
duktiv, sogar äußerst töricht, uns selbst nun Steine in
den Weg zu legen und den Zugang zu Pflegeberufen so
verantwortungslos und sinnlos zu erschweren.
Seit Jahren wird auf der europäischen Ebene versucht,die EU-Richtlinie über die Anerkennung von Berufsquali-fikationen und die Verordnung über die Verwaltungszu-sammenarbeit mithilfe des Binnenmarktinformationssys-tems gemeinsam zu erarbeiten.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23541
Agnes Alpers
(C)
(B)
Ganz Europa ringt in dieser Frage um ein gemeinsa-mes Handeln, aber CDU/CSU und FDP legen heute ei-nen Antrag vor, der zu einem Großteil ein Nein-Sager-Antrag ist. Europa will gemeinsame Standards für Be-rufe und Qualifikationen, und die Regierungsparteienlegen keinen Wert darauf, dieses im Plenum zu diskutie-ren. Diese Reden gehen zu Protokoll und der Antrag solleinfach mal so durchgewunken werden.Hier sagen wir als Linke Nein, Nein zum Nein-Sager-Antrag, Nein zum geräuschlosen Durchwinken und Neinzum Umgang von Schwarz-Gelb mit dem jahrelangenRingen auf europäischer Ebene um gemeinsames Han-deln.Schauen wir uns den Nein-Sager-Antrag zum gemein-samen europäischen Vorgehen an einigen Beispielen an:Nehmen wir zunächst den europäischen Berufsausweis.Der Vorschlag der EU-Ebene war, dass nach einem an-erkannten Abschluss die Ausbildungsberufe in einemBerufspass eingetragen und von allen Staaten anerkanntwerden. CDU/CSU und FDP begrüßen diesen Vor-schlag, doch ob die Ausbildungen anerkannt werden,soll letztendlich das Aufnahmeland entscheiden. Wasalso wollen uns die Antragstellerinnen und Antragstel-ler damit mitteilen? Die Idee ist ja ganz nett, aber wirentscheiden alleine, was wir anerkennen.Und hier sagen wir als Linke: Nicht mit uns! Wir wol-len gemeinsame und qualitativ hochwertige Inhalte fürdie Ausbildungsberufe in Europa festlegen. Das sichertQualitätsstandards, schafft berufliche Perspektiven inganz Europa und vermeidet nebenbei noch aufwendigeAnerkennungsverfahren.Schauen wir nun auf die Einschätzung der Koalitionzu den gemeinsamen Ausbildungsrahmen und -prüfun-gen. Hier sprechen die Antragstellerinnen und Antrag-steller zwar von der Stärkung gemeinsamer Ausbil-dungsgrundsätze, sie betonen sogar, dass eine großeGruppe von Mitgliedstaaten voranschreiten kann, wennsich nicht alle Mitgliedstaaten auf gemeinsame Ausbil-dungsgrundsätze einigen können. Allerdings – und nunwird es an zentraler Stelle wieder spannend – heißt ihreberühmte Ultima Ratio an dieser Stelle nicht: Wir gehengemeinsam voran. Sondern: Es muss jedem Mitglied-staat freistehen, an den gemeinsamen Ausbildungsrah-men oder Qualifikationsprüfungen teilzunehmen.Das bedeutet: Jeder kann mitmachen, aber wenn esuns nicht passt, können wir dann doch wieder machen,was wir wollen. Das ist nicht unsere Vorstellung einesgemeinsamen Handelns in Europa!Wir als Linke stehen für ein Europa, in dem wir soli-darisch Wege beschreiten, um gemeinsame verlässlicheund verbindliche Perspektiven zu eröffnen.Im Gegensatz dazu fordern CDU/CSU und FDP, dassdie Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bei Ausbildungs-inhalten gewahrt bleiben muss. Es dürfen keine tieferge-henden Kompetenzen an die EU-Kommission übertra-gen werden. Ich wiederhole: Es dürfen keine tiefer-gehenden Kompetenzen an die EU-Kommission übertra-gen werden! Das ist die Kernaussage der Regierungs-parteien. Das bedeutet: Europa ja, aber nicht, wenn na-tionale Interessen verletzt werden.Und auch hier sagen wir als Linke klar und deutlich:Nein! Für uns gibt es in Europa nur einen Weg: gemein-sam, solidarisch, sozial und gerecht! Europa ist keineSpielwiese nationaler Machtinteressen, sondern ein ge-meinsames Projekt, um Zukunft für alle zu gestalten.Und das, was wir hierfür benötigen, sind Regierungs-parteien, die gemeinsame konstruktive Wege für Europaaufzeigen, statt mit ihrem Handeln Europa ad absurdumzu führen.Arfst Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Das duale Ausbildungssystem hat sich in Deutsch-land als besonders erfolgreich erwiesen. In den weiterenBeratungen zur Richtlinienmodernisierung muss dieBundesregierung sicherstellen, dass die EU-Ausbil-dungsgrundsätze keine Qualitätserosion zur Folge ha-ben und die duale Ausbildung gestärkt statt geschwächtwird.In dieser Grundausrichtung begrüßen wir den Antragder Koalitionsfraktionen. Wir teilen aber nicht alle vor-gebrachten Kritikpunkte an der Ausrichtung des Ände-rungsvorschlages der Kommission zur Berufsqualifika-tionsrichtlinie. Denn dieser stärkt die berufliche Mobi-lität in Europa. Zur Stärkung der beruflichen Mobilitätgehört Transparenz im Anerkennungsverfahren bei denBerufsqualifikationen und in den jeweiligen Min-destausbildungsanforderungen für die Berufstätigen.Dazu gehören die verbesserte Zusammenarbeit zwi-schen Aufnahmestaaten und Herkunftsstaaten über daselektronische Binnenmarkinformationssystem und dieStärkung des gegenseitigen Vertrauens durch das neueVorwarnsystem. Auch andere Maßnahmen, die den Be-teiligten künftig mehr Planungssicherheit verschaffenwerden und Hürden und Diskriminierung im Zuge derAnerkennung von Berufsqualifikationen zwischen denEU-Mitgliedstaaten abbauen, begrüßen wir. Dazu gehö-ren: der klare zeitliche Rahmen für das Anerkennungs-verfahren sowie die Pflicht zur Erstellung nationalerListen der jeweils reglementierten Berufe und natürlichdie Einführung des freiwilligen Europäischen Berufs-ausweises.Mit dem Kommissionsvorschlag, die Zulassungsvo-raussetzungen für die Ausbildung der Krankenpflegerund Krankenschwestern sowie der Hebammen von einerzehnjährigen allgemeinen Schulausbildung auf zwölfJahre heraufzusetzen, werden auf der anderen Seite je-doch neue Hürden aufgebaut. So bedeuten zwölf Schul-jahre, wie sie in bereits 24 EU-Ländern Ausbildungs-voraussetzung sind, nicht in allen Ländern das Gleiche.Während sie in Deutschland gleichbedeutend mit einerHochschulzugangsberechtigung sind, werden in Frank-reich und Irland beispielsweise die Vorschuljahre miteingerechnet, sodass ein mittlerer Schulabschluss aus-reicht.Der Koalitionsantrag lehnt den Zwölfjahresvor-schlag für beide Berufsgruppen gleichermaßen katego-risch ab. Wir Grüne halten dies nicht für zielführend:Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Arfst Wagner
(C)
(B)
Sowohl der Kommissionsvorschlag als auch der Koali-tionsantrag werfen die Krankenpflege- und die Hebam-menausbildung in einen Topf, wenn auch mit entgegen-gesetzten Konsequenzen. Eine fundamentale Ablehnung,wie die CDU/CSU-Fraktion hier vorlegt, ist kurzsichtig,an der Qualifikationsrealität der Hebammen vorbeige-dacht und ignoriert darüber hinaus die laufende inner-deutsche Debatte und den Ruf der Hebammen nach ei-ner schrittweisen Akademisierung ihres Berufsstandes.Wir Grüne plädieren dafür, die Forderung nach An-hebung der formalen Voraussetzungen für die Ausbil-dung in der Entbindungspflege auf der einen Seite undder Krankenpflege auf der anderen Seite differenziert zubetrachten und dabei die derzeitige Lage in den Blick zunehmen. Im Falle der Hebammen halten wir eine Anhe-bung für gerechtfertigt, weil die große Mehrheit derHebammenschülerinnen aktuell schon überwiegend eineHochschulzugangsberechtigung erlangt hat und Heb-ammen zudem später sehr stark eigenverantwortlich ar-beiten. Ihr Berufsverband spricht sich deutlich für dieErhöhung des Qualifikationsniveaus aus, und die ent-sprechende Entwicklung ist schon im Gange.Die Situation in der Krankenpflege dagegen stelltsich anders dar. Eine Erhöhung der schulischen Zu-gangsvoraussetzungen würde rund 45 Prozent der Aus-zubildenden betreffen. Deshalb glauben wir, dass eineAnhebung in diesem Fall zu einer Verschärfung desFachkräftemangels führen würde, und lehnen diese ab.Klar ist: Wir dürfen die Zulassung zur Krankenpfle-geausbildung nicht an eine Hochschulzugangsberechti-gung binden, wenn wir damit die Chancengerechtigkeitunseres Bildungssystems nachhaltig gefährden und Tau-senden jungen Menschen mit Haupt- und mittleremSchulabschluss einen Weg in die Gesundheits- undKrankenpflegeausbildung verwehren.In einem weiteren Punkt bewerten wir den Kommis-sionsvorschlag anders als die Koalitionsfraktionen: Wirerwarten von der Bundesregierung in den Beratungenim Rat, bezüglich der Aufnahme des Notarberufes in denGel-tungsbereich der Richtlinie Klarheit zu schaffen,insbesondere bezüglich möglicher „Wandernotare“. Wirunterstützen den Vorschlag der Kommission, die Nieder-lassung von Notaren zuzulassen. Einig sind wir uns mitden Antragstellerinnen und Antragsstellern jedoch inder Kritik an der grenzüberschreitenden Dienstleistungder Notare.Wir begrüßen die in der Richtlinie vorgeschlageneStreichung der bisherigen Möglichkeit, Apothekerinnenund Apothekern mit ausländischen Ausbildungsnach-weisen die Eröffnung ihrer eigenen Apotheke zu verwei-gern. Dieses Privileg sehen wir weder als förderlich fürdie berufliche Mobilität noch als notwendig für die Si-cherheit der deutschen Verbraucherinnen und Verbrau-cher an.Hinsichtlich der Einführung des Europäischen Be-rufsausweises und der Nutzung des elektronischen Bin-nenmarktinformationssystems darf Datenschutz natür-lich kein Lippenbekenntnis sein und muss ernstgenommen werden.Problematisch ist aus meiner Sicht das Prinzip derstillschweigenden Anerkennung. Sollte ein Aufnahme-mitgliedstaat innerhalb einer bestimmten Frist nicht aufden Antrag zur Anerkennung seiner Berufsqualifikationreagieren, soll dies nach Auffassung der Kommission ei-ner faktischen Anerkennung gleichkommen. Die Bun-desregierung muss in den weiteren Beratungen sicher-stellen, dass ein Weg für ein unbürokratisches,nutzerfreundliches Verfahren gefunden wird, ohne dasserhebliche Rechtsunsicherheit geschaffen wird.Generell ist es aus meiner Sicht wichtig, dass wirauch darüber nachdenken, unter welchen Bedingungendie Richtlinie für Drittstaatsangehörige greifen kann,die ihren Abschluss in einem EU-Mitgliedsstaat erwor-ben haben, um auch hier Diskriminierung abzubauen. InDeutschland haben wir mit dem Gesetz zur Verbesse-rung der Feststellung und Anerkennung im Ausland er-worbener Berufsqualifikationen im Jahr 2011 die In-halte der Berufsqualifikationsrichtlinie im Prinzip aufPersonen aus Drittstaaten bzw. auf in Drittstaaten er-worbene Qualifikationen ausgedehnt. Politisch solltenwir alle dafür eintreten, dass das EU-weit so gehand-habt wird.Aufgrund dieser Mischung aus zustimmungsfähigenund abzulehnenden Punkten enthalten wir uns zu IhremAntrag.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksa-
che 17/10782. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit
den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grü-
nen angenommen.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Katrin Kunert, Katja Kipping, Dr. Kirsten
Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Mindeststandards bei der Angemessenheit der
Kosten der Unterkunft und Heizung
– Drucksachen 17/7847, 17/10199 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Dörflinger
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Nachdem sich das Bundesverfassungsgericht in sei-nem richtungsweisenden Urteil vom Februar 2010 mitden Regelleistungen nach dem SGB II auseinanderge-setzt und wir uns in der Folge im Ausschuss unter ande-rem mit den beschlossenen Regelungen für die Kostender Unterkunft beschäftigt haben, befassen wir uns heutemit einem Antrag der Fraktion Die Linke. Sie fordert in
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23543
Thomas Dörflinger
(C)
(B)
ihrem Antrag beispielsweise, dass die kommunalen Sat-zungen, die die Angemessenheit von Aufwendungen derUnterkunft und Heizung regeln, Mindeststandards erfül-len müssen, und verkennt offensichtlich, dass die Kommu-nen bereits verfassungsrechtliche Vorgaben zur Gewäh-rung bedarfsgedeckter Leistungen zu beachten haben.Das Bundessozialgericht hat in gefestigter Rechtspre-chung ein Konzept zur Ermittlung der bedarfsgedecktenHöhe der Unterkunftsleistungen entwickelt. Wird die An-gemessenheit der Bedarfe für Unterkunft und Heizung imRahmen einer Satzung nach §§ 22 a bis c SGB II festge-legt, so hat der kommunale Satzungsgeber selbstverständ-lich ebenfalls die verfassungsrechtlichen Vorgaben zurGewährung bedarfsdeckender Leistungen zu erfüllen.Auf Ihre Anträge hin, sehr geehrte Kolleginnen undKollegen der Linksfraktion, führen wir gerade im Aus-schuss für Arbeit und Soziales eine Vielzahl von Anhö-rungen durch. Der Sinn all dieser Veranstaltungen wäreeinmal, zu diskutieren. Ich kann aber zumindest erwar-ten, dass Sie die Ergebnisse dieser Anhörungen zurKenntnis nehmen. Stattdessen legen Sie einen Antragvor, der die geltende Rechtslage – damit beziehe ichmich gar nicht auf das Gesetz zur Ermittlung von Regel-bedarfen und zur Änderung des Zweiten und ZwölftenSozialgesetzbuches – unberücksichtigt lässt.Machen wir es konkret: Eine Pauschalierungssatzungmuss die Gewähr für eine Finanzierung des grundsiche-rungsrechtlich angemessenen Wohnraums bieten. EinePauschale, die den verfassungsrechtlichen Vorgaben zurSicherung des Existenzminimums gerecht werden will,muss sich daher ebenfalls an den Maßstäben orientie-ren, die das Bundessozialgericht für den Angemessen-heitsbegriff nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II entwickelthat. Eine Notwendigkeit, diese Regelungen zu modifizie-ren oder gar abzuschaffen, erschließt sich mir dahernicht.Auf der anderen Seite sind viele Ihrer Anliegen imneuen Recht der Kosten der Unterkunft bereits berück-sichtigt und entsprechen kommunaler Praxis. Das be-trifft den zusätzlichen Raumbedarf. Hier sind exempla-risch in § 22 b Abs. 3 SGB II zwei Fallgruppen genannt,die erweiterbar sind. Es betrifft die Nutzung von Miet-spiegeln, die nach § 22 c Abs. 1 Nr. 1 SGB II schon vor-geschrieben ist. Auch die kostenlose Mietberatung, dieim Antrag als Neuerung gefordert wird, gibt es vielerortsin den Kommunen.Zu guter Letzt enthält der vorliegende Antrag Forde-rungen, die – auch das kennen wir von der Fraktion DieLinke – die Kostenseite völlig unberücksichtigt lassen;hier beziehe ich mich insbesondere auf den Vorschlag,unangemessene Wohnkosten bis zu zwei Jahre zu über-nehmen. Die Verlängerung des Toleranzzeitraums bringtdem Leistungsberechtigten keinen Mehrwert, erhöht denfinanziellen Aufwand für die kommunalen Träger undauch den Bund beträchtlich.Auf der einen Seite laufen Ihre Forderungen auf einehöhere Belastung der Kommunen hinaus, und auf deranderen Seite weisen Sie zu Recht darauf hin, dass dieKommunen genügend Geld für die Erfüllung ihrer Auf-gaben benötigen. Auch dieser Widerspruch ist bei Ihnennicht neu. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt Ih-ren Vorschlag ab. Es gibt keinen Gesetzesänderungsbe-darf. Einen solchen Bedarf hat die Sachverständigenan-hörung nicht ergeben, und den haben wir auch imAusschuss nicht gesehen.Mit dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfenund zur Änderung des Zweiten und Zwölften Sozialge-setzbuches haben wir unsere Hausaufgaben gemachtund die Forderungen von Bundesverfassungs- und Bun-dessozialgericht konsequent und umfassend zum Wohlder Bedürftigen in unserem Land umgesetzt.
Wir befassen uns heute mit den Regelungen, nach de-nen Hartz-IV-Bezieher Leistungen für die Kosten derUnterkunft und der Heizung beziehen. Wir wissen, dieseBestimmungen beruhen auf einer Vereinbarung zwi-schen Bund und Ländern. Diese Absprachen sind nichtin Stein gemeißelt. Sie müssen die Erfahrungen, die da-mit in der Praxis gemacht werden, berücksichtigen. Undsie müssen vor allem die Lage auf dem Arbeitsmarkt be-rücksichtigen.Die Länder fordern seit längerem eine Überarbeitungein, und auch wir von der SPD-Fraktion sehen langfris-tig Änderungsbedarf. Das, was uns die Linke mit ihremAntrag vorgelegt hat, halten wir allerdings insgesamtfür zu weitgehend und nicht sachgerecht.Die heute bekanntgewordenen Arbeitslosenzahlen fürden ablaufenden Monat zeigen, dass die Konjunktur-flaute endgültig am Arbeitsmarkt angekommen ist.Saisonbereinigt müssen wir einen Anstieg registrieren.Normalerweise bringt der Herbst regelmäßig eine Bele-bung des Arbeitsmarktes mit einem Rückgang der Ar-beitslosigkeit. Diese ungünstige Entwicklung wird sichauch bei den Bedarfsgemeinschaften niederschlagen.Für den September zählen wir bundesweit 150 693Bedarfsgemeinschaften. Hier ist absehbar, dass sich diepositive Entwicklung der vergangenen Jahre wieder um-kehren wird. Schon die letzten Monate haben eine Ab-schwächung des Trends erkennen lassen. Damit wirdauch die Nachfrage nach günstigem Wohnraum weiteransteigen, und das auf einem Wohnungsmarkt, der invielen Regionen von Verknappung gekennzeichnet ist.Nehmen wir das Beispiel Berlin. „Berlin brauchtTausende neue Wohnungen“, titelte die Hauptstadt-presse zuletzt. Wie in anderen Großstädten auch wächstdie Nachfrage nach Wohnungen deutlich stärker als dasAngebot. Das wirkt sich natürlich auf die Mietpreiseaus. Die Neumiete liegt in einigen Bereichen bereits bei8 Euro pro Quadratmeter. 800 Euro für 70 Quadratme-ter sind keine Seltenheit. Das sind Mieten, die für Berli-ner mit geringem Einkommen nicht machbar sind.Hinzu kommt, dass – nicht nur in der Hauptstadt –der Trend zu Einpersonenhaushalten weiter anhält. Dasbringt eine zusätzliche Verknappung bei kleineren Woh-nungen mit den entsprechenden Verdrängungseffektenmit sich.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Angelika Krüger-Leißner
(C)
(B)
Auch bei mir im Wahlkreis in Oberhavel zeigt sichdieser Effekt. Das Grundsicherungsamt bestätigte mir,dass Ein- und Zweiraumwohnungen im Speckgürtel vonBerlin zu erschwinglichen Preisen inzwischen Mangel-ware sind.Damit fehlt es ganz grundsätzlich an der Verfügbar-keit von Ausweichmöglichkeiten für Leistungsbezieher,deren Wohnkosten das Angemessenheitskriterium nichtmehr erfüllen. In der Folge führt das oftmals dazu, dassdie Leistungsbezieher einen Teil ihrer Grundsicherungfür die Wohnkosten aufbringen müssen.Diese Kostensteigerungen werden natürlich auch fürdie Kommunen zum Problem. Die Folge ist, dass dieKommunen oftmals sehr strikt mit den Unterkunftskos-ten verfahren und ihren Ermessensspielraum nicht aus-schöpfen.Vor diesem Hintergrund fordern die Länder schonseit längerem eine Reform der Vereinbarung mit demBund. Sie wollen, dass sich der Bundeszuschuss nichtnur an der Entwicklung der Zahl der Bedarfsgemein-schaften bemisst. Nötig wäre eine Orientierung an dentatsächlichen Kosten.„Heizkosten in Berlin und Brandenburg steigen dras-tisch“, titelte zuletzt die „Berliner Morgenpost“. FürErdgas müssen Brandenburger jährlich 83 Euro, Berli-ner sogar 102 Euro mehr zahlen. Das sind jährlicheSteigerungsraten um die 10 Prozent.Kehrtwende am Arbeitsmarkt, absehbare Zunahmeder Bedarfsgemeinschaften, Wohnraumverknappung invielen Regionen, drastisch steigende Miet- und Energie-preise, knappe Kommunalfinanzen – das sind die aktuel-len Rahmenbedingungen für die Bedarfsgemeinschaf-ten. Per Gesetz müssen sie dafür Sorge tragen, dass ihreWohnkosten „angemessen“ sind, wie es heißt. Denn„Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höheder tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweitdiese angemessen sind“, so § 22 SGB II. Und das wirdunter den gegebenen Bedingungen für immer mehr Be-darfsgemeinschaften zum Problem.Vor diesem Hintergrund greift der Antrag der Linkenein wichtiges Thema auf, zumal die Kosten der Unter-kunft regelmäßig zum Streitfall vor den Sozialgerichtenwerden. Hier könnte eine Überprüfung der entsprechen-den gesetzlichen Bestimmungen helfen.In vielen Punkten kann die SPD-Fraktion dem Antragfolgen, in anderen nicht.Nach § 22 a SGB II können die Länder die Kommu-nen ermächtigen oder verpflichten, durch Satzung diejeweilige Angemessenheit der Aufwendungen für Unter-kunft und Heizung zu bestimmen. Im Gegensatz zur Lin-ken halten wir diese Satzungsermächtigung für ein sinn-volles Instrument. Die Kommunen vor Ort kennen dieLage auf dem jeweiligen Wohnungsmarkt am besten. Siekönnen auf Besonderheiten reagieren und so den gege-benen Ermessensspielraum nutzen, und das meine ich imInteresse der Betroffenen.Alternativ können die Länder die Kreise und kreis-freien Städte auch ermächtigen, für die Kosten für Un-terkunft und Heizung eine monatliche Pauschale festzu-legen. Diese Pauschalierungen will die Linken-Fraktionabschaffen. Das können wir nachvollziehen. Auch dieMehrheit der Experten der Anhörung im Ausschusslehnt Wohnkostenpauschalen bei Hartz-IV-Empfängernab. Die Sachverständigen bestätigten: Pauschalen brin-gen den Kommunen keine Einsparungen, da es ohnehinEinzelfallprüfungen geben muss. In der Praxis greifendie Kommunen daher so gut wie nie auf Pauschalen zu-rück.Ich habe oben die schwierigen Rahmenbedingungenauf dem Wohnungsmarkt beschrieben. Für viele Be-darfsgemeinschaften erhöhen sie den Druck, sich nachgünstigerem Wohnraum umsehen zu müssen. Per Gesetzmuss das spätestens nach sechs Monaten erfolgen. DieExperten der Anhörung konnten die SPD überzeugen,dass die Forderung der Linken, diesen Zeitraum auf einganzes Jahr auszudehnen, begründet ist. Das machtSinn. Schon allein aufgrund der dreimonatigen Kündi-gungsfrist bleibt den Empfängern gegenwärtig kaumZeit, sich um eine neue Wohnung zu kümmern. Zudemsollten sie sich eher auf die Suche nach einer neuen Ar-beit konzentrieren können.Auch die Forderung nach kostenloser unabhängigerMieterberatung wurde von den Sachverständigen unter-stützt. Das ist ein sinnvolles Instrument, das dabei helfenkann, einvernehmlich zu guten Wohnlösungen zu kom-men.In jedem Fall meinen wir, dass man von einemZwangsumzug bei bestimmten Personengruppen Ab-stand nehmen sollte: bei Schwerkranken, Pflegebedürf-tigen oder Behinderten, Älteren, Alleinerziehenden oderbei besonders langjährigen Mietern. Damit könntenauch die umständlichen Einzelfallprüfungen entfallen,die einen hohen Verwaltungsaufwand mit sich bringen.Alle Anzeichen sprechen dafür, dass statt Entspan-nung auf dem Arbeitsmarkt wieder ein rauherer Wind zuerwarten ist. Zusammen mit der zunehmenden Verknap-pung auf dem Wohnungsmarkt und der anhaltend klam-men Finanzlage der Kommunen wird das auch dieWohn- und Lebenslage der Menschen in den Bedarfsge-meinschaften verschärfen. Die entsprechenden gesetzli-chen Bestimmungen sollten überprüft werden. Auch dieSozialgerichte könnten damit entlastet werden.Vor diesem Hintergrund tragen wir einige Forderun-gen im vorliegenden Antrag mit. Andere – wie insbeson-dere die nach bundeseinheitlichen Mindeststandards –schießen über das Ziel hinaus. Deshalb enthalten wiruns.
Der Antrag der Linken, der sich mit Mindeststan-dards bei den Kosten von Unterkunft und Heizung be-fasst, ist in vielen Punkten obsolet. Obsolet deshalb, weileinige der von Ihnen angesprochenen Punkte in der Praxisseit dem Gesetz zur Festsetzung der Leistungssätze nachdem Sozialgesetzbuch II gelöst werden konnten. AndereIhrer Vorschläge haben wir in diesem Gesetzgebungs-verfahren bewusst und begründet nicht umgesetzt.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23545
Pascal Kober
(C)
(B)
So können schon heute beispielsweise zusätzlicheLeistungen bei einem Wohnortwechsel auf Antrag über-nommen werden. Daher sehen wir hier keinen Rege-lungsbedarf.Dass Sie die vor kurzem eingeführte Möglichkeit derPauschalierung von Kosten für Unterkunft und Heizungkritisieren, halte ich für verfrüht, und auch Ihre vorge-brachten Bedenken teile ich nicht. Durch die Pauscha-lierung haben wir die Möglichkeit geschaffen für mehrEigenverantwortung und eine freiere Lebensgestaltung.Wir werden selbstverständlich die Entwicklung indiesem Bereich kritisch verfolgen, um etwaigen Fehlent-wicklungen entgegenwirken zu können.Wenn Sie fordern, dass Zwangsumzüge zur Wohnkos-tensenkung vermieden werden sollen, kann ich Ihnen imGrundsatz recht geben. Die Lösung, wie dies verhindertwerden kann, ist einfach: Die Menschen müssen wiederArbeit finden. Das ist die beste Maßnahme gegenZwangsumzüge, und kostensparend obendrein.Im Mai 2012 gab es in Deutschland 3,3 Millionen Be-darfsgemeinschaften mit insgesamt 6,2 Millionen Men-schen. Noch im Mai 2010 waren es 600 000 Menschenbzw. 350 000 Bedarfsgemeinschaften mehr. DieserRückgang ist unbestreitbar auch der wachstumsorientier-ten Politik dieser christlich-liberalen Regierungskoali-tion zu verdanken. Wir zeigen, dass die beste Sozialpoli-tik ist, die Menschen in sozialversicherungspflichtigeArbeit zu bringen.Ihr Vorschlag, sogenannte Zwangsumzüge, gleich wiegroß und teuer die Wohnung ist, nicht umzusetzen, kannhingegen keine Antwort sein. Wie können Sie dies je-mandem erklären, der als Alleinerziehender 40 Stundendie Woche arbeitet und für sich und seine Kinder dieKosten für die Miete vollständig selbst tragen muss?Der sich vielleicht nur eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit50 bis 60 Quadratmeter leisten kann? Da ist es dochnicht gerecht, wenn der Staat größere und teurere Woh-nungen für andere übernimmt.Ihre Antwort wäre jetzt sicher: Dann muss Letzterereben auch einen staatlichen Zuschuss bekommen. AberIhr „Mehr für Alle“ muss auch finanziert werden kön-nen, und Ihre Gegenfinanzierungsvorschläge taugen danichts, da sie den Motor für Wirtschaftswachstum, fürWohlstand und Arbeitsplätze in unserem Land drosselnwürden.In der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und So-ziales zu Ihrem Antrag haben sich sowohl die kommunalenSpitzenverbände, der Deutsche Verein sowie die Bundes-agentur für Arbeit gegen die Vorschläge der Linken aus-gesprochen. Ich finde, dass auch das sehr aussagekräf-tig ist und Ihnen zu denken geben sollte.Immer wieder erklären uns Sachverständige, dassEinzelfallgerechtigkeit kein guter Ratgeber im Sozial-recht ist und dass sie vor allem zu einem gewaltigen Auf-wuchs an Bürokratie führt. Deshalb sind Pauschaleneine gute Möglichkeit, um Bürokratie abzubauen.Im Steuerrecht sind Pauschalen gang und gäbe. So-wohl bei Werbungskosten als auch beim Grundfrei-betrag wird mit Pauschalen gearbeitet. Auch bei denKosten für Unterkunft und Heizung sind Pauschalensinnvoll.Allein 2010 gab es 900 000 Widerspruchsverfahrenzu Bescheiden im Sozialgesetzbuch II. Davon hat sichcirca ein Viertel mit der Thematik der Kosten der Unter-kunft beschäftigt. Das Bundessozialgericht befasst sichin jedem dritten Fall mit den Kosten der Unterkunft.Dieser Anteil dürfte in den unteren Instanzen sogar nochhöher sein.Ich finde, dass dies alles Argumente für eine mög-lichst bürokratiearme Lösung sind. Wenn dazu dannnoch die Vorteile durch mehr Entscheidungsfreiheit fürdie Leistungsberechtigten kommen, dann bin ich über-zeugt, dass wir an den Pauschalierungen dringend fest-halten müssen.Daher werden wir Ihren Antrag heute ablehnen.
Die Kosten für Miete und Heizung von Hartz-IV-Be-ziehenden, auch unter der Abkürzung KdU bekannt,werden übernommen, soweit sie angemessen sind. Soformuliert es der Gesetzgeber derzeit sinngemäß in § 22Abs. 1 SGB II. Man würde natürlich denken, dass es beieinem für die Menschen so wichtigen und grundrechts-relevanten Thema wie dem Wohnen eine Vielzahl vonRegelungen gibt, die genau beschreiben, welche Woh-nungsgröße und welcher Mietpreis angemessen sind undwie man die Angemessenheitswerte für die unterschied-lichen Regionen Deutschlands mit ihren unterschiedli-chen Wohnungsmärkten ermittelt. Tatsächlich ist dereingangs erwähnte erste Satz des § 22 Abs. 1 SGB II dieeinzige Festlegung, die der Bundesgesetzgeber in dieserFrage trifft.In der Praxis bedeutet dies, dass die für die KdU zu-ständigen Kommunen durch Richtlinien oder neuerdingsin einigen Bundesländern durch Satzungen selbst be-stimmen müssen, bis zu welcher Höhe die KdU in ihremGebiet als angemessen gelten. Sie können hierfür zwarauf eine umfassende Rechtsprechung des Bundessozial-gerichts zurückgreifen, dessen Urteile sind aber letzt-endlich einzelfallbezogen. Die dort entwickelten Krite-rien sind nicht immer ohne Weiteres übertragbar. Einebestimmte Methode zur Berechnung der angemessenenKdU kann in einer Kommune aufgrund der dort beste-henden Wohnungsmarktstruktur zulässig sein, währenddie gleiche Methode in einer Kommune mit einer ande-ren Wohnungsmarktstruktur von den Gerichten alsrechtswidrig angesehen wird. Die Bestimmung vonrechtssicheren KdU wird für die Kommunen zusätzlichdurch zum Teil unterschiedliche Rechtsprechung in un-terschiedlichen Bundesländern erschwert.Die Risiken dieser Unsicherheiten tragen zum einendie Hartz-IV-Beziehenden, die sich häufig durch die In-stanzen klagen müssen, um die Übernahme ihrer Wohn-kosten zu erreichen, und zum anderen die Kommunen,die regelmäßig juristische Auseinandersetzungen umdas Thema KdU fürchten müssen. Die zu unserem An-trag im Sozialausschuss durchgeführte Anhörung hat inZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Katrin Kunert
(C)
(B)
diesem Zusammenhang übrigens ergeben, dass Wider-sprüche von Hartz-IV-Beziehenden, die sich ausschließ-lich gegen die KdU richten, etwa zu 50 Prozent erfolg-reich sind. Es ist daher nur folgerichtig, wenn dieSozialgerichte in ihren Urteilen nicht mehr nur die je-weils zu beurteilende kommunale Richtlinie, sondern diegesetzliche Regelung direkt kritisieren. Einige Gerichtestellen dabei sogar die Verfassungsmäßigkeit der derzei-tigen Praxis infrage.So hat beispielsweise das Sozialgericht Mainz in sei-ner Entscheidung vom 8. Juni 2012 erklärt, die beste-hende Konkretisierung des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB IIdurch das Bundessozialgericht – gemeint ist hiermit dieRechtsprechung zur Angemessenheit – sei nicht mit demGrundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdi-gen Existenzminimums vereinbar, wie es im Urteil desBundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen näherbestimmt worden ist. Aus der Zuordnung der KdU zummenschenwürdigen Existenzminimum folgt für das So-zialgericht Mainz, dass der Gesetzgeber ein Gesetz vor-legen muss, welches einen konkreten Leistungsanspruchdes Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträ-ger enthält. Mit unserem Antrag liegt zumindest ein Vor-schlag auf dem Tisch, wie den durch das SozialgerichtMainz formulierten Vorgaben entsprochen werdenkönnte.Eine Verbesserung der Situation durch die derzeitigeBundesregierung ist allerdings nicht in Sicht. Anstattendlich aktiv zu werden und selbst Standards für die Be-stimmung der Angemessenheit zu definieren, hat die Bun-desregierung durch ihre letzte Gesetzesänderung denLändern die Möglichkeit eingeräumt, ihre Kommunendazu zu ermächtigen, die Angemessenheit durch kommu-nale Satzungen zu regeln. Möglich sollen hiernach sogarPauschalen sein. Gerade zu dem letzten Punkt möchteich noch einmal ausdrücklich auf die mündliche Stel-lungnahme des Sachverständigen Dr. Joachim Rock inder öffentlichen Anhörung des Sozialausschusses ver-weisen. In dieser werden die sozial- und verfassungs-rechtlichen Probleme herausgearbeitet, die eine Pau-schalierung mit sich bringen würde.Die fatalen Auswirkungen der derzeitigen KdU-Rege-lungen, wie zum Beispiel Verdrängung von Hartz-IV-Be-ziehenden aus begehrten Wohnlagen in Großstädten unddie damit verbundene Erschwernis der Wiedereingliede-rung, entstehen jedoch nicht nur durch die mangelndeBestimmtheit des Begriffes der Angemessenheit. Hinzukommen die Regeln zum sogenannten Kostensenkungs-verfahren. Diese sehen vor, dass Hartz-IV-Beziehende,deren Wohnungskosten über dem Angemessenheitswertliegen, in der Regel innerhalb von sechs Monaten in einebilligere Wohnung umziehen müssen, um ihre Kostenweiterhin vollständig erstattet zu bekommen. Die Gründefür eine derartige Überschreitung der Angemessenheits-werte können dabei vielfältig sein. So kann es sein, dassjemand nach Auslaufen des Arbeitslosengeldes I erst-mals Hartz IV bezieht. In Betracht kommt aber auch, dasssich jemand schon länger im Hartz-IV-Bezug befindet,dessen Wohnung schlicht durch die allgemeinen Miet-steigerungen zu teuer wird.Die Linke schlägt in ihrem Antrag zur Einführung vonbundeseinheitlichen Mindeststandards bei der Angemes-senheit der Kosten der Unterkunft und Heizung eineReihe von Maßnahmen vor, mit denen die derzeitigenMissstände bei den KdU überwunden werden könnten.Im Wesentlichen lassen sich hierbei drei Hauptforderun-gen herausstreichen:Erstens. Es muss bundeseinheitliche Mindeststan-dards für die Bestimmung der Angemessenheit der KdUgeben.Zweitens. Die Pauschalierungsmöglichkeit im SGB IIist ersatzlos zu streichen.Drittens. Die Fristen für das Kostensenkungsverfah-ren müssen auf mindestens ein Jahr ausgedehnt werden,und es muss in bestimmten Fällen, zum Beispiel beischwer kranken oder behinderten Menschen, von derDurchführung eines Kostensenkungsverfahrens abgese-hen werden.Ich bitte Sie, unseren Antrag zu unterstützen.
Das soziokulturelle Existenzminimum umfasst nebender Sicherung der physischen Existenz des Menschendie Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischen-menschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß anTeilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politi-schen Leben. Die Kosten für Unterkunft und Heizung ge-hören hierbei genauso zum physischen Existenzmini-mum wie Nahrung, Kleidung, Hausrat, Hygiene undGesundheit. Dies hat das Bundesverfassungsgericht zu-letzt in seinem Urteil zum Grundrecht auf Gewährleis-tung eines menschenwürdigen Existenzminimums vom9. Februar 2010 unzweideutig festgestellt.Wie kein anderer Bestandteil des Existenzminimumsist die Frage der Kosten für Unterkunft und Heizungjedoch Gegenstand behördlicher und richterlicher Aus-einandersetzung. Unzureichende Angemessenheits-werte, Aufforderungen zur Senkung der Mietkosten, einenicht erfolgte Übernahme der Mietkaution oder einenicht genehmigte Erstattung der Umzugskosten sind da-bei nur einige Probleme, mit denen Leistungsberechtigtetagtäglich zu kämpfen haben. Dass solche Auseinander-setzungen um den eigenen Wohn- und Sozialraum so-wohl die Leistungsberechtigten stark belasten als auchdem Ziel der Arbeitsmarktintegration dieser Personenentgegenstehen können, ist wohl unbestritten. Denn werin ständiger Angst lebt, seine Wohnung zu verlieren, werüber den Angemessenheitswerten liegende Wohnungs-kosten langfristig über den Regelsatz ausgleicht oderwer monatelang Rechtstreitigkeiten mit dem Jobcenterführt, hat wohl einige Schwierigkeiten, sich uneinge-schränkt auf die Suche nach einem neuen Arbeitsplatzeinzulassen.Vor diesem Hintergrund ist die Einbringung desAntrages „Mindeststandards bei der Angemessenheitder Kosten der Unterkunft und Heizung“, Drucksache17/7847, der Linksfraktion begrüßenswert. Dieser An-trag gab Anlass, in einer öffentlichen Anhörung des Ar-beits- und Sozialausschusses am 7. Mai 2012 im Deut-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23547
Markus Kurth
(C)
(B)
schen Bundestag Sachverständige zur Praxis und dengesetzlichen Regelungen zu den Kosten der Unterkunftzu befragen.Die Anhörung zum Antrag am 7. Mai 2012 zeigtenoch einmal eindrücklich, dass zum Teil erheblicher ver-waltungstechnischer sowie gesetzgeberischer Ände-rungsbedarf bei Fragen des Wohnens besteht. Jede ver-meidbare Aufforderung zur Wohnkostensenkung underst recht jeder vermeidbare Umzug kann – neben indi-viduellen Belastungen – zu enormen Folgekosten für dieGesellschaft führen. So attestiert etwa eine Topos-Studiezu den Auswirkungen der Wohnungsaufwendungsver-ordnung, WAV, auf Hartz-IV-Empfänger in Berlin ausdem Mai 2012 Umzügen aufgrund des Ausziehens einesElternteils: „Ein Wohnungswechsel würde aber ange-sichts der hohen Neuvermietungsmieten selten eine Ver-ringerung der Miete ergeben. Zudem würden die Kinder,die in der Regel durch die Trennung psychisch stark be-lastet sind, durch den Verlust der vertrauten Wohnungund Wohnungsumgebung einer zusätzlichen Belastungausgesetzt.“ Nur ein Bündel an Maßnahmen, das überdie in dem vorliegenden Antrag der Linksfraktion hi-nausgeht, kann die genannten Probleme in den Griff be-kommen.Da sind zuallererst die Wohnungspolitik sowie dasMietrecht zu nennen. Wir wollen soziale Entmischungverhindern, indem wir die Modernisierungsumlage aufdie energetische Modernisierung und altersgerechtenUmbau konzentrieren und sie auf 9 statt 11 Prozent ab-senken. Außerdem wollen wir die Kappungsgrenze beider ortsüblichen Vergleichsmiete von 20 Prozent auf15 Prozent senken und die energetische Gebäudebe-schaffenheit als Vergleichsvariable aufnehmen.Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen setztsich zudem für eine Stärkung des sozialen Wohnungs-baus ein, indem sie unter anderem dafür eintritt, dieEFRE-Mittel für die energetische Sanierung von Wohn-gebäuden und den sozialen Wohnungsbau weiterhin ver-wenden zu können.Auch im Bereich des SGB II bedarf es allerdings di-verser Änderungen. So ist vollkommen zutreffend, dassdie individuelle Beratung und Fallbetrachtung durch dieJobcenter verbesserungswürdig ist. Dies haben wir indiversen Anträgen bereits zur Sprache gebracht. Sokönnten schon im Vorfeld Missverständnisse ausge-räumt und viele Wohnkostensenkungsaufforderungenvermieden werden.Mehr als sinnvoll wäre auch die Aufnahme der Krite-rien der Verfügbarkeit sowie der Vorgabe, dass eine Auf-forderung zur Wohnkostensenkung nur ergehen kann,wenn dies auch wirtschaftlich für den Kostenträger ist.Dem Vorschlag der Sachverständigen Gautzsch und Dr.Schifferdecker, wonach die Höchstgrenze von sechs Mo-naten einer flexibleren Regelung weichen solle, ist zuzu-stimmen. Allein in Berlin zeigt sich, dass etwa 250 000ALG-II-Haushalten 627 000 entsprechende Ein- bisZweizimmerwohnungen gegenüberstehen. Die Verfüg-barkeit angemessenen Wohnraums ist daher sehr einge-schränkt.Die Aufbringung der Mietkaution durch das Einset-zen des Schonvermögens ist nicht sinnvoll, wie die Sach-verständigen glaubhaft darstellen konnten. Da die Miet-kaution für die Dauer des Mietverhältnisses nicht zurVerfügung steht, wird dem Sinn und Zweck des Schon-vermögens mit dieser Regelung nicht Genüge getan.Nach Angaben des Paritätischen Wohlfahrtsverban-des wurde im Jahr 2012 schätzungsweise 200 000Hartz-IV-Empfängern der Strom abgestellt. Dies liegtunter anderem daran, dass die entsprechende Positionim Regelsatz viel zu niedrig angesetzt ist. Der aktuelleRegelsatz reicht bei weitem nicht aus, die täglichen Be-dürfnisse des Lebens sicherzustellen. Allein eine Regel-satzerhöhung reicht jedoch nicht aus, einkommens-schwache Haushalte zu unterstützen. So muss etwa dieStreichung des Heizkostenzuschusses durch Schwarz-Gelb wieder rückgängig gemacht werden. Stromsparta-rife müssen angeboten und progressiv ausgestaltet wer-den. Es kann nicht sein, dass Mehrverbrauch mit einemniedrigeren Preis belohnt wird, während diejenigen, diegeringe Verbräuche haben, hohe Grundkosten zahlenmüssen. Darüber hinaus bedarf es großer Anstrengun-gen zur Steigerung der Energieeffizienz. Wir Grünenwollen daher zusätzlich zu 2 Milliarden Euro im Gebäu-desanierungsprogramm einen Energiesparfonds mit ei-nem Finanzvolumen von 3 Milliarden Euro jährlich auf-legen. Dieser muss sich kurzfristig auf die energetischeSanierung von Wohngebäuden in Stadtteilen mit einemhohen Anteil einkommensschwacher Haushalte konzen-trieren.Werden all diese Dinge beachtet und entsprechendangegangen, bedarf es keiner weiteren gesetzlichen Än-derungen bezüglich erweiterter Ausnahmeregelungenfür bestimmte Personengruppen und der Kostenüber-nahme von Aufwendungen im Rahmen eines Wohnungs-wechsels. Bei viel Zuspruch und Zustimmung zum An-trag kann aber, wie dargelegt, nicht allen Forderungenzugestimmt werden. Daher enthält sich die grüne Frak-tion zum Antrag 17/7847.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürArbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/10199, den Antrag der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 17/7847 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grü-nen angenommen.Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b:a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPzu der Reform der Gemeinsamen Fischereipo-litik der EUVorschlag für eine Verordnung des Europäi-schen Parlaments und des Rates über die Ge-
Metadaten/Kopzeile:
23548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(C)
(B)
meinsame FischereipolitikKOM(2011) 425 endg.; Ratsdok. 12514/11Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-schen Parlaments und des Rates über die ge-meinsame Marktorganisation für Erzeugnisseder Fischerei und der AquakulturKOM(2011) 416 endg.; Ratsdok. 12516/11Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-schen Parlaments und des Rates über den Eu-ropäischen Meeres- und Fischereifonds zurAufhebung der Verordnungen Nr. 1198/2006 des Rates und Nr. 861/2006 des Ra-tes sowie der Verordnung Nr. XXX/2011des Rates über die integrierte MeerespolitikKOM(2011) 804 endg.; Ratsdok. 17870/11hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgeset-zes– Drucksache 17/10783 –b) Beratung des Antrags der Abgeordneten CorneliaBehm, Dr. Valerie Wilms, Thilo Hoppe, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Überfischung beenden – Vorschläge zurReform der EU-Fischereipolitik überarbeiten– Drucksache 17/10790 –Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Re-den zu Protokoll genommen.
„Gib einem Menschen einen Fisch und Du ernährstihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und duernährst ihn für sein Leben.“ Um die Bedeutung derFischerei wusste schon Konfuzius. Denn Fisch ernährtMenschen, als wertvolles Grundnahrungsmittel und alsunverzichtbare Existenzgrundlage. Daran hat sich bisheute nichts geändert. Deshalb ist die geplante Reformder Gemeinsamen Fischereipolitik der EuropäischenUnion auch für viele Familienbetriebe und Verbrau-cher von größter Bedeutung. Mit der Reform der Euro-päischen Fischereipolitik steht ein ehrgeiziges Projektauf der Brüsseler Agenda; denn sie soll die nächstenzehn Jahre tragen.Die Debatten sind in vollem Gang, von der spani-schen Küste bis zum norwegischen Fjord. Den Startmachte die EU-Kommission. Im Juni diesen Jahres ver-ständigten sich die Fischereiminister auf eine allge-meine Ausrichtung zu den zentralen Reformelementen.Inzwischen liegen im Europäischen Parlament mehr als2 500 Änderungsanträge zu den Vorschlägen der Kom-mission vor. Es ist also höchste Zeit, dass sich auch der DeutscheBundestag in die Debatte einbringt und zu diesem wich-tigen Reformprojekt Farbe bekennt. Ich hätte mich per-sönlich gefreut, wenn wir dazu heute ein gemeinsamesBekenntnis über die Fraktionsgrenzen hinaus abgege-ben hätten. Das wäre ein starkes Signal gewesen. DieChancen für einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU,FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen standen gut. Wirtrafen uns etliche Male. Der Text wurde hin- und herge-sandt. Es wurde gehämmert, gefeilt, poliert. Für das kol-legiale Miteinander bedanke ich mich an dieser Stellenoch einmal ausdrücklich bei meinen beiden Kollegin-nen Dr. Christel Happach-Kasan und Cornelia Behm so-wie bei unserem Kollegen Holger Ortel.Aber dann kam leider die Parteipolitik ins Spiel. DieKolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünenzogen sich auf Druck ihrer Entwicklungshilfepolitikerzurück. Die SPD-Spitze folgte auf den Fuß, übrigensauch nicht wegen inhaltlicher Bedenken. Die Begrün-dung lautete: Wir wollen unseren Hoffnungskoalitions-partner nicht allein stehen lassen. Hir ging es nicht umdie Sache sondern nur um die Partei. Die Fischer hättenBesseres verdient.Da hilft jetzt auch kein Schnellantrag mehr. Gesternhat die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen einen An-trag eingebracht, mit der heißen Nadel gestrickt. Hiergreift das Sprichwort „Mancher denkt zu fischen undkrebst nur“ oder die Erkenntnis von Mark Twain: „Er-zähl Leuten, die dich kennen, kein Anglerlatein, undschon gar nicht Leuten, die die Fische kennen.“ Schade.Denn das Thema ist ernsthaft genug. Es ist unstrittig, dass die Europäische Union ihreselbst gesteckten Ziele in der Fischereipolitik bislangverfehlt hat. Trotz positiver Tendenzen in den letztenJahren sind nach wie vor einige Fischbestände über-fischt. Die wirtschaftliche Situation der Fischer und ihreZukunftsperspektiven sind nicht gerade rosig. Und esgibt weiterhin Defizite bei den Fischereipartnerschafts-abkommen mit den Entwicklungsländern. Wir haben jetzt die Chance, bei dieser ehrgeizigenReform der EU-Fischereipolitik mitzuwirken. Wir habenes selbst in der Hand, wichtige Impulse zu geben. Wirsollten diese Chance nutzen. Denn die Zeit drängt. Wirmüssen der Überfischung der Meere wirksam Einhaltgebieten. Denn wir tragen die Verantwortung dafür,dass die Fischbestände auch für kommende Generatio-nen erhalten bleiben. Fische gehören zu den wichtigstenNahrungsquellen der Menschheit. Und die Beständesind für unsere Fischer die Existenzgrundlage, die wirdauerhaft sichern müssen.Wir haben die Chance genutzt. Ihnen liegt unser An-trag vor. Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner ha-ben wir analysiert, wo sich etwas ändern muss. Und wirzeigen, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen,um diese Ziele zu erreichen. Das oberste Ziel der Re-form muss die Nachhaltigkeit sein. Nach wie vor sindBestände überfischt. Das bisherige Krisenmanagementin Brüssel reicht offensichtlich nicht. Ohne eine Erho-lung der überfischten Bestände und der Bewahrung desempfindlichen Ökosystems „Meer“ lässt sich die Zu-kunft der deutschen und europäischen Fischerei nicht si-chern. Dabei reicht es nicht, nur die europäischen Ge-wässer im Blick zu haben. Nein, wir müssen auch hierglobal denken und die Weltmeere insgesamt in unsereÜberlegungen einbeziehen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23549
Gitta Connemann
(C)
(B)
Die Fischerinnen und Fischer in unserem Land wirt-schaften bereits heute nachhaltig und bestandserhal-tend. Dieses Selbstverständnis sollte Vorbild für Europaund die Welt sein. Eine nachhaltige bestandserhaltendeFischerei muss auf allen Meeren sichergestellt werden.Deshalb fordern wir in und mit unserem Antrag, dasskünftig alle Fischbestände nach dem Prinzip des nach-haltigen Dauerertrags bewirtschaftet werdenmüssen. Dieses Ziel soll bis zum Jahr 2015 entsprechendden Beschlüssen des Nachhaltigkeitsgipfels von Johan-nesburg erreicht werden.Wir, die Mitglieder der christlich-liberalen Koalition,wollen einen grundlegenden Kurswechsel. Die Flick-schusterei der vergangenen Jahrzehnte muss ein Ende ha-ben. Wie muss dieser Kurswechsel nun beschaffen sein? An erster Stelle benötigen wir ein modernes Fischerei-management. Zentrales Instrument dieses Fischerei-managements sind schon heute mehrjährige Bewirtschaf-tungspläne. Diese müssen künftig auf alle kommerziellgenutzten Bestände ausgedehnt werden. So lässt sich dasNachhaltigkeitsziel schneller erreichen. Es bringt denVorteil mit sich, das fischereipolitische Tagesgeschäftvom Mikromanagement zu entlasten. Dies gilt insbeson-dere für die jährlichen Quotenverhandlungen der Fische-reiminister im Dezember. In den letzten Jahren habendiese durch die bereits geltenden Bewirtschaftungsplänedeutlich an politischem Sprengstoff verloren. Und das istgut so.Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Erhöhung der Se-lektivität der Fischereien. Nur so lassen sich Jungfischebesser schützen und unerwünschte Beifänge stärker ver-meiden. Deshalb müssen wir gleichzeitig die Forschungund Entwicklung innovativer und selektiver Fang-geräte stärken.Eines der Kernprobleme der europäischen Fischerei-politik sind die hohen Rückwürfe infolge unerwünschterBeifänge. In manchen Fischereien belaufen sich dieseauf über 50 Prozent der Fänge. Die Bilder von Rück-würfen verunsichern Verbraucherinnen und Verbrau-cher. Mit dieser unverantwortlichen Verschwendung un-serer wertvollen Meeresressourcen muss endlich Schlusssein. Deshalb sind wir der Bundesregierung auch für dieInitiative dankbar, die sie bereits im Jahr 2010 dazu ge-startet hatte. Aufgrund dieser Initiative unserer Bundes-ministerin Frau Aigner wurde eine Gemeinsame Erklä-rung über Rückwürfe im Rahmen der Reform derGemeinsamen Fischereipolitik mit Vertretern Däne-marks, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs ge-troffen. Wir unterstützen unsere Bundesregierung in die-ser Haltung und setzen uns deshalb in unserem Antragmit Nachdruck dafür ein, Rückwurfverbote und Anlan-degebote einzuführen. Dies soll nicht pauschal nach Ar-ten, sondern nach Fischereien und im Rahmen der Be-wirtschaftungspläne geschehen. Beifangarten, die hoheÜberlebensraten aufweisen, wie zum Beispiel Haie undRochen, wollen wir vom Rückwurfverbot ausnehmen. Esdarf keine Fehlanreize für die Vermarktung von Jung-fischen geben. Aber eine möglichst hochwertige Nut-zung muss möglich sein. Die Ressource Fisch ist zuwertvoll, als nur als Fischmehl oder -öl zu enden. Die Einhaltung des Rückwurfverbots muss natürlichwirksam kontrolliert werden. Dazu sollte es Anreize zumfreiwilligen Einbau von Kameras an Bord der Fischerei-fahrzeuge geben. Eine generelle Kamerapflicht lehnenwir dagegen kategorisch ab. Ich sage sehr deutlich fürmeine Fraktion: Eine Kameraüberwachung von Fische-rinnen und Fischern wird es mit uns nicht geben. Einesolche Vorschrift wäre insbesondere mit Blick auf unserehandwerkliche Küstenfischerei völlig überzogen. Fürdiese Fischerei müssen alternative Monitoringsystemeentwickelt werden. Es wird von den Vertretern einer sol-chen Forderung offensichtlich vergessen, dass ein Fische-reifahrzeug auch immer ein Arbeitsplatz ist. Auch Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer auf diesen Schiffenhaben Anspruch auf Datenschutz.Bei der Bewirtschaftung der Fischereibestände gibtes für uns einen weiteren wichtigen Punkt. Das Systemder Quotenverwaltung in Deutschland hat sich bewährt.Es darf nicht verändert werden. Deshalb müssen die Na-tionalstaaten auch künftig für das Quotenmanagementzuständig bleiben. Die verpflichtende Einführung vonhandelbaren Quoten, wie von der Kommission vorge-schlagen, lehnen wir ab. Jeder Mitgliedstaat muss selbstentscheiden können, ob er handelbare Quoten einführenwill oder nicht. Wir wollen es nicht. Denn damit würdenwir unseren aktiven deutschen Familienbetrieben denBoden unter den Füßen wegziehen. Bei ihnen handelt essich im Wesentlichen um kleine und mittelständische Be-triebe, die bei einem Marktwettbewerb um Quoten nichtgegen zahlungskräftige Investoren bestehen können.Aber auch sie, gerade sie brauchen Zukunftsaussichtenund die Chance, sich zu entwickeln. Wir wollen deshalbin Deutschland unser Quotensystem fortführen. Fische-reiressourcen müssen deshalb öffentliches Gut bleiben. Ein weiteres zentrales Element der Fischereireformist für uns der Abbau der Flottenüberkapazitäten. So-lange die Fangkapazitäten größer sind als die tatsäch-lichen Fangmöglichkeiten, wird es immer einen Anreizgeben, die zugeteilten Quoten zu überfischen. Deshalbfordern wir in unserem Antrag einen verbindlichen Zeit-plan für den Flottenabbau. Die neuen Kapazitätsober-grenzen müssen so festgelegt werden, dass sie zu einereffektiven und nachprüfbaren Reduzierung der Fangka-pazitäten führen. Diese müssen im Einklang mit den na-tionalen Fangmöglichkeiten stehen. Dafür muss drin-gend ein entsprechendes Verfahren entwickelt werden.Und es muss der Satz gelten: Strafe muss sein. Leidergibt es nicht in jedem Mitgliedstaat ein so rigides Ahn-dungssystem wie in Deutschland. Deshalb sind die Mit-gliedstaaten, die ihren Verpflichtungen zum Flottenab-bau nicht nachkommen, zwingend mit Sanktionen zubelegen.Die Förderung der Fischereiwirtschaft soll künftigüber den neuen Europäischen Meeres- und Fischerei-fonds erfolgen. Verglichen mit den Strukturfonds handeltes sich hier um einen vergleichsweise kleinen EU-Fondsmit einem jährlichen Volumen von insgesamt nur rund1 Milliarde Euro für alle Mitgliedstaaten zusammenge-nommen. Umso wichtiger ist es, dass diese Mittel zielge-richtet eingesetzt werden. Insbesondere muss eine Ver-zahnung mit den übrigen EU-Fonds erfolgen, um eineZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Gitta Connemann
(C)
(B)
größtmögliche Wirkung bei der Begleitung des Struktur-wandels in den Regionen zu gewährleisten, in denen dieFischerei eine besondere Rolle spielt. Wir sind äußerst besorgt darüber, dass die Kommis-sion für den neuen Fischereifonds zusätzliche bürokrati-sche Lasten vorsieht. Bereits in der derzeitigen Förderpe-riode ist eine Reihe deutscher Bundesländer aus demlaufenden Förderprogramm ausgestiegen. Die Verwal-tungskosten stehen in keinem vertretbaren Verhältnismehr zur tatsächlichen Förderung. Für den Fall, dass eszu keiner durchgreifenden Verwaltungsvereinfachung undKostenentlastung kommen sollte, haben weitere deutscheLänder ihren Ausstieg angekündigt. Das müssen wir un-bedingt vermeiden. Deshalb setzen wir uns in unseremAntrag für eine spürbare Senkung der Bürokratie-kosten dieses kleinen Fonds und für deutliche Vereinfa-chungen bei der Beantragung von Maßnahmen ein. Hinsichtlich der Förderschwerpunkte ist uns wich-tig, dass künftig Forschung und Entwicklung im Fische-reibereich ein stärkeres Gewicht erhalten, insbesonderewas die Entwicklung innovativer und selektiver Fang-methoden angeht. Wir halten es für richtig, dass dieAquakultur zu einem neuen Förderschwerpunkt werdensoll. Gleichzeitig setzen wir uns dafür ein, dass die För-derung der bestehenden Aquakulturbetriebe weiterge-führt wird. Zur besseren Durchsetzung von EU-Rechtmüssen Fischereiunternehmen, die mehrfach oder gra-vierend gegen Fischereivorschriften verstoßen haben,künftig von der Vergabe von Fördermitteln ausgeschlos-sen werden.Besondere Verantwortung trägt Europa auch bei derNutzung von Fischbeständen außerhalb der EU-Gewäs-ser, etwa vor der Küste Westafrikas. Umso wichtiger istes, dass wir hier in der europäischen Fischereipolitik fürklare Regeln sorgen. Dort sind die gleichen strengenMaßstäbe anwenden wie in den EU-Gewässern. DasNachhaltigkeitsprinzip darf nicht an den Grenzen derEU-Gewässer haltmachen. Deshalb halten wir es fürrichtig, dass die EU-Fischereifahrzeuge nur den Über-schuss an Fangmengen fischen können, der von den Fi-schern in den Entwicklungsländern nicht selbst genutztwerden kann. Dieser Grundsatz muss in allen Fischerei-partnerschaftsabkommen der EU fest verankert werden.Gleichzeitig muss in diesen Abkommen mehr Transpa-renz über zusätzliche Vereinbarungen der Partnerstaa-ten mit Drittländern eingefordert werden. Nur so lässtsich wirksam verhindern, dass die Fischbestände zulas-ten der lokalen Fischer übernutzt werden. Parallel dazu halten wir flankierende Maßnahmenfür erforderlich: Die Entwicklungsländer müssen ver-stärkt dabei unterstützt werden, eine effektive Fischerei-kontrolle in ihren Hoheitsgewässern durchzuführen undRechtsvorschriften durchzusetzen. Kapazitäten für wis-senschaftliche Untersuchungen zur Bestandsabschät-zung müssen sowohl innerhalb der EU als auch in denPartnerländern gestärkt werden. Die finanzielle Unter-stützung des Fischereisektors in den Partnerländernmuss von den Zahlungen für Fangmöglichkeiten entkop-pelt und an das Prinzip der nachhaltigen Fischerei ge-bunden werden.Bei alledem kommt dem Verbraucher eine wesentli-che Rolle zu. Wir alle wollen mehr Transparenz für dieVerbraucher, davon sind Fischereierzeugnisse natürlichnicht ausgenommen. Gerade die Verbraucher könnendurch ihre Kaufentscheidung eine nachhaltige Fischereiwesentlich unterstützen. Dafür muss der Verbraucheraber wissen, was wirklich in der Truhe oder aber derDose ist. Deshalb setzen wir uns für eine europäischeRahmenregelung ein, die Mindestkriterien für Nachhal-tigkeitssiegel in der Fischerei vorsieht. Hier muss dervorliegende Kommissionsvorschlag noch deutlich nach-gebessert werden.Die Fischereipolitik ist ein weites Feld, auf dem wirt-schaftliche Interessen, der Schutz unserer natürlichenLebensgrundlagen, der wirkungsvolle Einsatz von Steu-ergeldern und die Transparenz für die Verbraucher inEinklang gebracht werden müssen. Dieser schwierigenAufgabe haben wir uns gestellt. liebe Kolleginnen undKollegen von der Opposition, Sie müssen nur noch einestun: zustimmen.
Ich möchte zunächst mein Bedauern darüber ausdrü-cken, dass wir heute nicht über einen gemeinsamen An-trag aller Fraktionen sprechen. Dass die Union die Zu-sammenarbeit mit den Linken verweigert, ist genausobedauerlich wie das Aussteigen der Grünen kurz vordem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen. Aberauch, wenn wir hier heute nicht über einen gemeinsa-men Antrag sprechen, kann ich feststellen, dass wir allevon der Notwendigkeit dieser Reform der GemeinsamenFischereipolitik überzeugt sind.Das Grünbuch der Europäischen Kommission ausdem Jahr 2009 hat ein düsteres Bild vom Zustand derFischbestände in europäischen Gewässern, von denFlotten und vom Fischereimanagement gezeichnet. Inder Zwischenzeit wurden verschiedenen Lösungsmög-lichkeiten ausprobiert, einige mit Erfolg, andere nicht.Sehr erfolgreich waren die Langzeitmanagement-pläne. Diese müssen in Zukunft ausgeweitet werden. Al-lerdings müssen diese Pläne auch mehrere Arten umfas-sen, denn verschiedene Arten wie zum Beispiel Heringund Dorsch stehen oftmals in einer Jäger-Beute-Bezie-hung.Weniger erfolgreich war das Management mittelsQuote und Aufwand. Diese Doppelung hat sich nicht be-währt. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass es nurnoch dort Management mittels Aufwand gibt, wo eskeine Quoten gibt. Das ist vor allem im Mittelmeer derFall.Die erfolgreiche Anwendung einiger Instrumentezeigt sich auch in kürzlich von der Europäischen Kom-mission veröffentlichten Zahlen. Der Anteil nachhaltigbewirtschafteter Bestände wuchs von 6 Prozent im Jahre2005 auf 53 Prozent im Jahre 2012. Scholle und Heringin der Nordsee haben die Wiederaufbauziele seit Jahrenbeständig überschritten. Nur beim Kabeljau bleibt nocheiniges zu tun.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23551
Holger Ortel
(C)
(B)
In der Ostsee werden mittlerweile 70 Prozent der ge-samten Anlandungen nachhaltig gefischt. Dem Ziel ei-ner Befischung auf MSY-Niveau, dem Niveau des nach-haltigen Dauerertrages, bis zum Jahr 2015 kommen wirmit großen Schritten näher. Es besteht aber leider immernoch eine deutliche Diskrepanz zwischen den nördlichenund den südlichen EU-Gewässern. Im Mittelmeer geltennoch immer 90 Prozent der Bestände als überfischt.Wir verfügen also bereits über die Instrumente für einnachhaltiges Fischereimanagement. Aber die Vorausset-zungen dafür sind eben vielfach noch nicht gegeben. DieFlotten einiger Mitgliedstaaten sind zu groß, und effek-tive Kontrolle kann nicht überall gewährleistet werden.Nun möchte ich auch noch etwas zu den vorliegendenAnträgen sagen. Frau Ministerin Aigner hat sich mehr-fach und öffentlichkeitswirksam für ein Nachhaltigkeits-siegel eingesetzt. Davon fehlt jetzt aber jede Spur. FrauMinisterin hat am 13. Juni 2012 erklärt, dass sie sich inden weiteren Verhandlungen dafür einsetzen werde, dassEU-weite Mindestkriterien für freiwillige Nachhaltig-keitssiegel der Wirtschaft festgelegt werden. Jetzt for-dern Sie auch, dass Frau Ministerin sich weiterhin dafüreinsetzen soll. Wir werden beobachten, mit welchem Er-folg.Die Rednerin der Union hat in unserer letzten De-batte zu diesem Thema behauptet, dass Verbraucher be-reit seien, für nachhaltig gefangenen Fisch höherePreise zu zahlen. Das sollte bedeuten, dass die Fische-reibetriebe die Kosten für den Einbau von Überwa-chungskameras an Bord wieder über höhere Preise he-reinholen könnten. Da muss ich Sie fragen, in welcherWelt leben Sie denn?Das Fisch-Informationszentrum veröffentlicht jedesJahr aktuelle Zahlen zum Fischverzehr in Deutschland.Aus den aktuellen Zahlen geht hervor, dass der größteTeil des Fisches als Tiefkühlware beim Discounter ge-kauft wird. Glauben Sie ernsthaft, dass der Fischer demEinkäufer des Discounters sagen kann: Ich musste jetztfür 30 000 Euro Kameras einbauen und möchte deshalbjetzt von dir mehr Geld haben? – Sie haben sich immervehement gegen den Einbau von Kameras an Bord aus-gesprochen. Jetzt wollen Sie sogar Anreize zum Einbauvon Kameras schaffen.In ihrer Rede hat die Berichterstatterin der Unionauch eine Übergangsphase für den Systemwechsel vonAnlande- zu Fangquoten vorgeschlagen, in der dieFischer auf freiwilliger Basis beteiligt werden. Ich habeIhnen schon damals gesagt, dass das nicht geht, denndie Gefahr, dass viele Fischer in dieser Übergangsphasezu viel fischen, um Referenzen zu erlangen, ist zu groß.Das fordern Sie im vorliegenden Antrag nun nicht mehr.Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie viele Forderun-gen in Ihrem Antrag haben, die von der SPD kommen.Die Urheberrechte werden wir aber trotzdem nicht be-anspruchen. Eine ganz wichtige Forderung ist dabei dieErsatzbauförderung unter bestimmten Bedingungen.Die Bundesregierung war bislang strikt gegen die Neu-bauförderung. Zu diesem Sinneswandel kann ich Sie be-glückwünschen.Dem Antrag der Koalition können wir aber nicht zu-stimmen, denn auch sie fordert verbindliche Anlandege-bote im Rahmen der externen Dimension. Abgesehenvon der Frage, wie verbindlich ein Gebot ist, haben Siedie tatsächliche Situation vor Ort nicht berücksichtigt.Eine entsprechende Logistik für die Anlandung existiertnämlich nicht. Diese muss erst gebaut werden, und dafürbraucht es entsprechende Abkommen und eine zweckge-bundene Mittelverwendung in den Partnerländern.Es ist keine Frage, dass wir die Abkommen der EUmit den westafrikanischen Staaten verbessern müssen.Das Mauretanien-Abkommen ist dabei ein Meilenstein.Hier wurden die Küstenfischer besser geschützt. DasMenschenrecht auf Nahrung ist explizit erwähnt, undüber eine zweckgebundene Mittelverwendung wird si-chergestellt, dass das Geld nicht irgendwo versickert.Darüber hinaus fordern wir aber noch mehr für die ex-terne Dimension.Weit wandernde Arten müssen von allen Küstenstaa-ten verwaltet werden, in deren Gewässern sie sich bewe-gen, und zwar gemeinsam im Rahmen einer regionalenOrganisation. Das heißt, dass nicht nur Mauretanienfestlegen können darf, was ein Überschuss ist. DieserÜberschuss muss auch vom Senegal und den anderenbetroffenen Küstenstaaten festgelegt werden. Die Reedermüssen einen angemessenen Teil der Zugangskosten tra-gen.Obwohl Ihnen die Signalwirkung des Ausgangs derderzeitigen schwierigen Situation des Mauretanien-Ab-kommens bekannt ist, sparen Sie es einfach aus. HabenSie die Tragweite des Abkommens nicht erkannt oder istes Uneinigkeit in den eigenen Reihen?Außerdem halte ich es für falsch, eine Stellungnahmenach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz zu verabschieden, dienicht von einer fraktionsübergreifenden Mehrheit getra-gen wird.Die Grünen kann ich zu ihrem Antrag größtenteils be-glückwünschen. Im Prozess zur Reform der Gemeinsa-men Fischereipolitik haben Sie sich offensichtlich vieleGedanken über die Fischerei in Deutschland und Eu-ropa gemacht und sind von Ihren früheren dogmatischenPositionen abgerückt.Ansprechen möchte ich an dieser Stelle die Ausnah-men vom Rückwurfverbot. In einigen Fischereien er-scheint es tatsächlich sinnvoll, dass diese ihre Beifängewieder über Bord werfen können, da ein erheblicher An-teil davon überlebt.Trotz allem ist Ihnen dieser Übergang zu einer prag-matischen Position nicht vollends geglückt: Die fische-reipolitische Sprecherin der Grünen hat sich in der Ver-gangenheit vielfach zur Küstenfischerei in Deutschland,vor allem den Krabbenfischern, geäußert. Dort wolltesie unter anderem den Fischern ermöglichen, mehr In-vestitionsmittel abrufen zu können. Mit dem vorliegen-den Antrag tun die Grünen aber genau das Gegenteil.Mit der vorgesehenen Vergabe von Fischereibefugnissenüber mehrere Jahre gibt die EU den Fischern Sicherheit.Damit können die Fischer zur Bank gehen, und sie be-kommen wesentlich einfacher die notwendigen KrediteZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Holger Ortel
(C)
(B)
für ihre Investitionen. Sie wollen genau diese Sicherheitfür die Fischer kaputtmachen und ihnen stattdessennoch Verwaltungsgebühren aufbürden.Darüber hinaus wollen Sie bestehende fischereilicheNutzungen in Schutzgebieten einschränken. Das bedeu-tet, dass keine Fischerei auf Krabben im Wattenmeerstattfinden soll. Dabei wissen Sie ganz genau, dass dasWattenmeer auch mit den Krabbenfischern UNESCO-Weltnaturerbe wurde.Obwohl die Positionen der SPD also an vielen Stellenmit den Positionen der Grünen übereinstimmen, könnenwir das nicht mitmachen und dem Antrag der Grünennicht zustimmen.
Leider beraten wir heute keinen fraktionsübergreifen-den Antrag zur Reform der gemeinsamen europäischenFischereipolitik, GFP, nach 2013, obwohl wir uns in derpolitischen Bewertung der bisherigen GFP ebenso wiein unseren Vorstellungen über die notwendigen Verbes-serungen für die zukünftige Fischereipolitik grundsätz-lich fraktionsübergreifend einig sind. Ich bedauere essehr, dass es uns aufgrund der Uneinigkeit innerhalb derOpposition nicht gelungen ist, mit einer starken gemein-samen Stimme der Bundesregierung für die Verhandlun-gen in Brüssel den Rücken zu stärken. Dennoch möchteich mich bei allen Fischereiexperten für die konstrukti-ven Diskussionen bedanken, auch wenn Sie sich in IhrenFraktionen nicht gegen überzogene Forderungen ausden Reihen der Entwicklungshilfe durchsetzen konnten.Es ist politisch der falsche Ansatz, mit der Reform derGemeinsamen Fischereipolitik der EU weitreichendeentwicklungspolitische Ziele durchsetzen zu wollen.Dieses Reformvorhaben hat einen eigenen Wert. Teileder Opposition erkennen ihn offensichtlich nicht an undsind nicht bereit, für faire Wettbewerbsbedingungen fürunsere Fischer einzutreten.Warum ist eine Überarbeitung der europäischen Fi-schereipolitik überhaupt notwendig? Der Blick auf dieZahlen und Fakten des Fischereisektors ebenso wie derFischerei- und Meereswissenschaften macht deutlich:Die EU-Fischereipolitik hat trotz einiger Erfolge ihreZiele bisher nicht erreicht. Weder hat sich die wirt-schaftliche Lage des Fischereisektors in Deutschlandwie in Europa nachhaltig verbessert, noch befinden sichalle Fischbestände auf einem zukunftssicheren Niveau.Auch wenn einige Maßnahmen zur Sicherung der Be-stände erste Erfolge aufweisen und dabei auch die deut-schen Fischereibetriebe endlich von großen Einschnit-ten der Vergangenheit profitieren können, sindvielfältige Verbesserungen notwendig.Die deutschen Fischerinnen und Fischer haben inden letzten Jahren bereits durch tiefe Einschnitte bei denFangquoten und den notwendigen Kapazitätsabbauihren Anteil zu einer nachhaltigeren Fischerei beige-steuert. Deswegen hat der Erhalt der relativen Stabilitätbei der Vergabe der Fangquoten für die FDP eine sehrhohe Priorität. Die Fangkapazitäten der Fischereiflot-ten, vor allem der großen Fischereinationen wie Spa-nien, Italien oder Frankreich, sind dagegen nicht imEinklang mit den eigenen Fangquoten und vorhandenenFischbeständen. Eine zukünftige, nachhaltige GFP wirddaran gemessen werden, ob es gelingt, die Überkapazi-täten abzubauen und eine nachhaltige Bestandsbewirt-schaftung nach dem Prinzip des höchstmöglichenDauerertrags, MSY – maximum sustainable yield,durchzusetzen. Nur dann ist sowohl der Erhalt unsererMeeresumwelt wie auch die Zukunft der Fischerinnenund Fischer gesichert. In den ärmeren Ländern ist nachAuffassung der FDP der Abbau der Fangquoten durchSchaffung alternativer Einkommensmöglichkeiten zuunterstützen. Ansonsten geschieht der Abbau nur aufdem Papier, aber nicht in der Realität.Aus diesem Grund halte ich es für zwingend notwen-dig, Forschung und Innovation zu einem Schwerpunktder neuen Fischereipolitik zu machen. Einerseits müssenwir mehr, genauere und zuverlässigere Daten überGröße und Entwicklung von Fischbeständen erheben,um Zusammenhänge besser verstehen und Vorhersagentreffen zu können. Andererseits muss die Entwicklung in-novativer, schonender und spezifischer Fangmethodenvorangetrieben und die Aquakultur als nachhaltigeAlternative ausgebaut und weiterentwickelt werden.Dies muss eine Hauptaufgabe des neuen EuropäischenMeeres- und Fischereifonds werden.Es wird nach aktuellen Schätzungen inzwischen mehrals die Hälfte der europäischen Bestände im Nordostat-lantik nachhaltig bewirtschaftet. Allerdings fehlen fürviele Bestände valide wissenschaftliche Daten darüber,wo der spezifische MSY liegt und wie dieser in einemnotwendigen ökosystemaren Ansatz zu berechnen ist.Wir begrüßen die Vorschläge der Kommission, mehrjäh-rige Bewirtschaftungspläne für alle Fischbeständeeinzuführen. Diese Bewirtschaftungspläne vereinen öko-logische Erfordernisse und wirtschaftliche und sozialeÜberlegungen und leisten einen wichtigen Beitrag zurPlanungssicherheit der Fischer. Das beste Beispiel füreinen erfolgreichen Bewirtschaftungsplan ist der Planfür den Dorsch in der Ostsee, dessen Bestand seit derEinführung des Planes eine erfreuliche Entwicklung ge-nommen hat und heute größer ist als vor 20 Jahren. Esgilt, diesen Erfolg auf alle anderen Bestände auszudeh-nen.Aus unserer Sicht, und hier sind wir uns einig mit derBundesregierung und dem Europäischen Parlament, istes keine Frage mehr, ob ein Rückwurfverbot und Anlan-degebot für unerwünschte Beifänge kommt, sondern wiees ausgestaltet werden soll. Um keine Ressourcen zuverschwenden und gleichzeitig dringend notwendigewissenschaftliche Daten zu erheben, ist die Anlandungund Dokumentation unerwünschter Beifänge wichtig.Ausnahmen dürfen hierbei nur für Fischereien gelten,bei denen wissenschaftlich eine hohe Überlebensrateder Rückwürfe nachgewiesen wurde. In der handwerkli-chen Fischerei konnten für einige Fischarten Überle-bensraten von über 90 Prozent nachgewiesen werden.Die externe Dimension der GFP und die Ausgestal-tung der partnerschaftlichen Fischereiabkommen mitDrittstaaten wurden hier im Bundestag kontrovers dis-kutiert. Wir wissen, dass die Europäische Union nicht inZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23553
Dr. Christel Happach-Kasan
(C)
(B)
der Lage ist, den Bedarf aus eigenen Gewässern zudecken. Wir importieren, gemessen am Wert, etwa24 Prozent der weltweit produzierten Fischereizeug-nisse. Die Europäische Union hat als weltgrößterImporteur von Fischereierzeugnissen eine besondereVerantwortung für die nachhaltige Nutzung eigener wiedrittstaatlicher Meeresressourcen; darin sind wir unseinig.Das allgemeine Menschenrecht auf Nahrung muss inder europäischen Fischereipolitik ein wichtiger Schwer-punkt sein und verstärkt beachtet werden. Darin sindwir uns ebenfalls einig. Dennoch kann die GFP nichtdas geeignete Instrument sein, um die Probleme derWelternährung zu lösen. Werden unüberwindbareHürden aufgebaut, fischen zukünftig chinesische oderkoreanische Fangflotten statt europäischer Fischer. Daslöst weder das Problem der Überfischung in Drittgewäs-sern, noch wird dort der Hunger der einheimischenBevölkerung gelindert.Abschließend möchte ich anerkennen, dass sich dieBundesregierung bei den bisherigen Verhandlungen zurGFP ebenso wie bei den jährlichen Quotenfestlegungenvorbildlich verhalten hat. Für die Zukunft unsererFischereiressourcen ebenso wie des Fischereisektors,der wirtschaftlich wie touristisch in unseren Küsten-gebieten nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, müssenwir die Fischereipolitik neu ausrichten. Dabei müssenerstmals die Kommission, das Europäische Parlamentsowie der Rat zusammenfinden. Darum ist es aus unse-rer Sicht wichtig, dass der Deutsche Bundestag ein star-kes Signal nach Brüssel sendet und der Bundesregierungden Rücken stärkt. Ich lade deshalb alle Kolleginnenund Kollegen aus der Opposition ein, sich aufgrund derhohen inhaltlichen Übereinstimmungen, die sich in denausführlichen Beratungen gezeigt haben, unseremAntrag anzuschließen.
Über die EU-Fischereipolitik, GFP, wird aktuell weitweniger gestritten als über die EU-Agrarpolitik nach2014, obwohl beide Bereiche bis Ende 2013 politischneu ausgerichtet werden sollen und obwohl es auch inder GFP dringenden Änderungsbedarf gibt. Das standungewöhnlich deutlich schon 2008 im Grünbuch derEU-Kommission, denn viele der selbstgesteckten Zielewurden verfehlt. Aus Sicht der Linken gerät in der De-batte leider häufig ein wichtiges Problem außer Sicht:Die Zukunftsaussichten der Fischerinnen und Fischersind nicht besser geworden. Damit ist klar: Eine Kehrt-wende muss her.Das Thema ist auch in der Bundesrepublik wichtig –trotz relativ wenig Meer und Hochseefischerei. Deshalbhaben die fischereipolitisch zuständigen Abgeordnetenaller fünf Fraktionen seit Monaten an einem gemeinsa-men Antrag zur EU-Fischereireform gearbeitet. Eigent-lich waren wir uns in vielen Punkten einig. Trotzdem istdas Projekt gescheitert. Erst wurde erneut die Linksfrak-tion aus der Gruppe ausgeschlossen, weil die CDU/CSU-Fraktion Parteipolitik über demokratische Regelnstellt. Kurz vor dem Ziel zerbrach die Gruppe im um-welt- und entwicklungspolitischen Streit – aus meinerSicht eine vergebene Chance. Die in der Fischerei Be-schäftigten hätten die Unterstützung ihrer Interessendurch eine einheitliche Stimme aus dem deutschen Par-lament für eine nachhaltige Fischerei dringend ge-braucht.Die Reformvorschläge aus Brüssel gehen aus Sichtder Linken in die richtige Richtung. Die GFP muss einenachhaltige berufliche Perspektive für die Menschen amund mit dem Meer unterstützen. Das ist mehr als eine ro-mantische Hafenidylle mit Fischbrötchen. Fischerinnenund Fischer brauchen ein gutes Einkommen und guteArbeitsbedingungen. Dazu werden faire, kostende-ckende Erzeugerpreise gebraucht. Das ist auch ange-sichts der steigenden Kosten, zum Beispiel für Schiffs-diesel, durchaus eine Herausforderung. Grundlage fürdiese wirtschaftlichen Perspektiven ist und bleibt abereine nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichenFischbestände. Das muss das Ziel sein.Drei Themen sind uns Linken auf dem Weg zu einernachhaltigen GFP besonders wichtig:Erstens. Es muss ausreichend Fisch vorhanden seinund gefangen werden, die Ware muss fair bezahlt und re-gional vermarktet werden können.Zweitens. Die Förderung muss sich auf die Erforder-nisse einer nachhaltigen Produktion von Fisch konzen-trieren.Drittens. EU-Fisch-Trawler müssen mit ökologischerund sozialer Verantwortung agieren.Das führt zurück zum Schlagwort „Überfischung derMeere“. Betrachtet man dieses Schlagwort einer be-drohlichen Situation genauer, ergibt sich ein differen-zierteres Bild. Das soll keine Entwarnung sein, sondernzum kritischen Hinterfragen einladen. Laut dem Fische-reiverband ist der Anteil überfischter Bestände in denvergangenen sieben Jahren von 94 auf 47 Prozent zu-rückgegangen.Ein Beispiel: Dem Ostseedorsch geht es heute deut-lich besser. Aktuell ist der Bestand sogar auf Rekord-niveau. Das ist bei aller berechtigten Kritik an der GFPein großer, wenn auch hart erkämpfter Erfolg, der übri-gens den natürlichen Druck für die Beutearten desDorschs, Hering und Sprotte, erheblich erhöht.Auch die Scholle wird unterdessen nach dem MSY-Prinzip – das ist der höchstmögliche Dauerertrag – be-fischt. Die sich erholenden Bestände haben zu höherenFängen geführt, die wiederum die Erzeugerpreise unterDruck gesetzt haben. Bis 2015 soll dieser MSY-Ansatzbei allen Arten und Beständen gelten. Das ist richtig so.Aber wie das Dorsch-Beispiel zeigt, muss die EU zu-künftig den Ökosystemansatz in der Fischerei stärken,das heißt, Mehrjahrespläne als Bewirtschaftungsgrund-lage erarbeiten und die Beziehungen zwischen denFischarten berücksichtigen.Besonders wichtig ist mir auch der Europäische Mee-res- und Fischereifonds, EMFF. Mit ihm werden zumBeispiel unterstützende Maßnahmen für die Binnenfi-scherei finanziert. Mit der neuen EU-FischereipolitikZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Kirsten Tackmann
(C)
(B)
soll nun erstmals auch die Aquakultur in die GFP einbe-zogen werden. Das löst nicht nur Freude aus bei den Be-schenkten. Binnenfischerinnen und Binnenfischer kla-gen schon jetzt über hohe bürokratische Hürden. Icherwarte, dass Brüssel darauf reagiert und dass die Kom-mission für eine vereinfachte Antragsstellung sorgt. DieLinksfraktion unterstützt den weiteren Ausbau der hei-mischen Aquakultur, wenn sie nachhaltig ist. Dazu wirdunter anderem mehr Forschung gebraucht. Binnen-fischerinnen und Binnenfischer stehen unter dem Druckbilliger Fischimporte, die sozial und ökologisch kaumverantwortbar sind. Dazu kommen wasser- und natur-schutzrechtliche Auflagen. Hier ist mehr Interessensab-wägung mit Fingerspitzengefühl notwendig. Die einhei-mische Forellenzucht zum Beispiel ist eine wichtigeLebensmittelproduktion und darf nicht den Bach hinun-tergehen, auch wenn wir die Herstellung der Durchläs-sigkeit von Flussläufen als wichtiges Naturschutzan-liegen unterstützen. Aber wir brauchen auch ausNachhaltigkeitsgründen mehr regional erzeugten Fisch,nicht weniger. In meinem Heimat-Bundesland Branden-burg stammt nur jeder zehnte verspeiste Süßwasserfischaus märkischen Fischereibetrieben. Das ist zu wenig.Die EU trägt auch international Verantwortung fürdie nachhaltige Bewirtschaftung der Gewässer. Im Rah-men der sogenannten externen Dimension der GFP fi-schen EU-Trawler auch in weit entlegenen Fischfang-gründen. Über die Abkommen mit den betroffenenStaaten bekommen EU-Schiffe Zugang zu den Fisch-gründen. Als Linksfraktion sehen wir diese Abkommensehr kritisch. Zu oft sind diese weder nachhaltig nochkommen sie der lokalen Bevölkerung zugute. Selbst dieKoalition bestätigt diese Defizite in ihrem Antrag. DieLinke fordert daher wirklich faire Partnerschaftsabkom-men unter Beachtung der neuen FAO-Leitlinien.Ein schwerer Fehler der bisherigen GFP war dasRückwurfverbot, also die Pflicht, Teile des Fangs wiederüber Bord zu werfen, für die keine Fangerlaubnis vor-liegt. Diese „Rückwürfe“ machen aber nur Sinn bei Ar-ten mit sehr hoher Überlebenswahrscheinlichkeit, zumBeispiel bei einigen Haiarten oder bei bestimmten Platt-fischen. Deshalb begrüßen wir die neue Regelung mitRückwurfverbot und Anlandegebot. Und es ist gut, dassder fischereibezogene statt eines artbezogenen Ansatzesgewählt wurde. Der angelandete Beifang sollte abernicht nur zu Fischmehl oder -öl, sondern auch als Le-bensmittel verarbeitet werden.Die Linksfraktion enthält sich bei beiden Anträgen.
Wir Grüne wollen, dass die Reform der EU-Fische-reipolitik die Überfischung der europäischen Gewässerbeendet und die Nutzung der Meeresressourcen durcheuropäische Fischer gerecht und umweltverträglichgestaltet. So können sich die Fischbestände erholen.Davon profitieren nicht nur Natur und Umwelt, sondernüber kurz oder lang auch die Fischer. Das ist die Leit-linie unserer Fischereipolitik. Dass diese Leitliniehundertprozentig richtig ist, kann am Beispiel der imNordostatlantik erreichten Bestandserholungen ein-drucksvoll belegt werden. Für einen dauerhaft nachhal-tigen Ertrag ist es aber notwendig, die von den Wissen-schaftlern empfohlenen Fangmengen nicht mehrmutwillig zu überschreiten!Das ist aber immer noch nicht bei allen Beständender Fall. Laut Mitteilung der EU-Kommission wurdenaktuell bei 11 Prozent der Fischbestände im Nordostat-lantik und seinen Nebenmeeren Nord- und OstseeGesamtfangmengen oberhalb des Niveaus einer nach-haltigen Bewirtschaftung festgelegt. Im Jahr 2011 warenes noch 23 Prozent und 2003 sogar 46 Prozent. DieRichtung stimmt also. Aber es sind immer noch 11 Pro-zent zu viel!Dass sich die Mäßigung auszahlt, kann man an derEntwicklung des Anteils der überfischten Bestände able-sen: Er ist im Nordostatlantik und seinen Nebenmeerenvon 2005 bis 2012 von über 90 Prozent auf knapp dieHälfte zurückgegangen. Viele Bestände erholen sichalso bereits. Das ist bei diesen Beständen auf eine striktePolitik der vorübergehenden Fangzurückhaltungzurückzuführen, auf die wir Grüne gegen erheblicheWiderstände seit Jahr und Tag drängen.Das Glas ist aber genauso halb voll, wie es halb leerist. Denn mit knapp der Hälfte ist das Maß der über-fischten Bestände im Nordostatlantik und seinen Neben-meeren immer noch erschreckend hoch. Noch erschre-ckender ist die Situation im Mittelmeer und imSchwarzen Meer. Dort sind die Fortschritte erheblichgeringer: Lediglich 13 von 65 beurteilten Beständenwerden gemäß MSY und damit nachhaltig bewirtschaf-tet. 52 Bestände werden überfischt. Hier wirkt es sich of-fenbar aus, dass sich insbesondere Mittelmeeranrainerbei den Quotenverhandlungen alljährlich gegen einEnde der Überfischung wehren. Die Quittung erhaltensie und ihre Fischwirtschaft in Form von sinkendenFischereierträgen! Daraus sollte die Fischereipolitikendlich ihre Lehren ziehen und die Politik der Über-fischung stoppen!Die deutschen Fischer merken mittlerweile, dass sichdie für sie durchaus schmerzliche Politik der Fangzu-rückhaltung der letzten Jahre, die bei ihnen ja auchnicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen ist, für sie all-mählich auszahlt. Sie profitieren heute bei mehrerenBeständen von steigenden Fangmengen – mit der gene-rellen Aussicht, dass die Fangmengen auch in Zukunfthoch bleiben, wenn man weiter auf die Fangmengen-empfehlungen der Fischereibiologen hört und dieManagementpläne einhält und nicht wieder dazuübergeht, die wissenschaftlichen Empfehlungen zumissachten.Diese für die Fischerei positiven Ergebnisse sollteneigentlich alle Fischer in der EU davon überzeugen,endlich damit aufzuhören, von den Fischereiministernhöhere Fangmengen einzufordern, als die Fischereibio-logen empfehlen. Und davon, dass es falsch ist, die EU-Fischereireform zu torpedieren, das Rückwurfverbot zudurchlöchern und das Erreichen des maximalen Dauer-ertrags MSY auf die lange Bank zu schieben sowie denFischereirat zu drängen, weiterhin zu hohe Fangmengenzu beschließen.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23555
Cornelia Behm
(C)
(B)
Wir haben intensiv mit den Koalitionsfraktionen undder SPD darüber verhandelt, wie die EU-Fischereipoli-tik reformiert werden muss, um die Überfischung zubeenden. Ich gebe zu: Diese Verhandlungen haben zumehr Gemeinsamkeiten geführt, als ich mir am Anfangerhofft habe. Wir konnten unsere Kollegen bei einigenPunkten davon überzeugen, unsere Forderungen aufzu-greifen. Dass wir mit verhandelt haben, das sieht manvielen Formulierungen des Koalitionsantrages noch an.Dass aber zum Beispiel die so zentrale Forderungnach Einhaltung der wissenschaftlichen Empfehlungenzu nachhaltigen Fangmengen durch den Fischereirat imKoalitionsantrag immer noch fehlt, macht deutlich, wieschwer sich Union und FDP mit einer konsequentenPolitik zur Beendigung der Überfischung immer nochtun. Auch im Bereich der externen Dimension konntenwir uns nicht einigen, sodass die Verhandlungen über ei-nem möglichen gemeinsamen Antrag letztlich geschei-tert sind.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksa-
che 17/10783 zu drei Vorschlägen des Europäischen
Parlaments und des Rates für Verordnungen zur Reform
der gemeinsamen Fischereipolitik der EU, hier: Stel-
lungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23
Abs. 3 des Grundgesetzes. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der An-
trag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken
und Grünen angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10790 mit dem
Titel „Die Überfischung beenden – Vorschläge zur Re-
form der EU-Fischereipolitik überarbeiten“. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD und FDP bei Enthaltung der Linken und Zustim-
mung der Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 29:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck , Dr. Konstantin von Notz, Ingrid
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur verfassungs-
rechtlich gebotenen, rückwirkenden
Übertragung ehebezogener Regelungen im öf-
fentlichen Dienstrecht auf Lebenspartner-
schaften
– Drucksache 17/10769 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
In dem von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Ge-setzentwurf zur verfassungsrechtlich gebotenen, rück-wirkenden Übertragung ehebezogener Regelungen imöffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften for-dern sie eine Rückwirkung des Geltungszeitraumes un-seres Gesetzes von 1. Januar 2009 auf den 1. Januar2001.Ich möchte mich daher zuerst bei den Kolleginnenund Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen bedanken.Immerhin steckt in Ihrem Antrag wenigstens ein ver-stecktes Lob an die Koalition. Ja, wir haben im Gegen-satz zur rot-grünen Regierung, wie im Koalitionsvertragzwischen CDU/CSU und FDP vereinbart, die familien-und ehebezogenen Regelungen im öffentlichen Dienst-recht per Gesetz vom 14. November 2011 auf Lebens-partnerschaften übertragen. Mit diesem Gesetz ist einevollständige Gleichstellung im Recht des öffentlichenDienstes des Bundes mit Wirkung vom 1. Januar 2009erfolgt.Das BVerfG hat uns also nicht, wie es bei Rot-Grünbis 2005 notwendig gewesen wäre, wegen Untätigkeitermahnt, sondern lediglich die Rückwirkung bis zum1. August 2001 weiter gefasst. Bevor ich Ihnen erläu-tere, warum wir den heute gestellten Antrag dennoch ab-lehnen, möchte ich einige grundsätzliche Anmerkungenzur aktuellen Diskussion um die Gleichstellung von Le-benspartnerschaften machen.Natürlich diskutieren wir in der Union zum Beispielauch über das Für und Wider einer Einführung des Steu-ersplittings für homosexuelle Paare, wenn sie in einereingetragenen Partnerschaft leben. Aber gibt es mit derAntwort auf diese Frage eine Lösung für das sozialeKernproblem unserer Gesellschaft, nämlich eine histo-risch niedrige Geburtenrate von durchschnittlich1,36 Babys pro Frau? Abermals wurde in dem jetzigenKarlsruher Urteil darauf hingewiesen, dass es dem Ge-setzgeber freisteht, die Ehe gegenüber anderen Bezie-hungsformen zu begünstigen. Hierfür bedarf es gemäßdem Urteil jenseits des Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs.1 Grundgesetz aber weiterhin eines hinreichend gewich-tigen Sachgrundes, der die Benachteiligung andererLebensformen rechtfertigt. Mehrfach habe ich an dieserStelle darauf hingewiesen, dass die Weitergabe vonLeben ein solcher gewichtiger Sachgrund für michdarstellt, der naturgemäß homosexuellen Paaren nichtmöglich ist.Ich zitiere aus der Begründung des aktuellen Bundes-verfassungsgerichtsurteiles:In ihrer Eignung als Ausgangspunkt der Generatio-nenfolge unterscheidet sich die Ehe zwar grund-sätzlich von der Lebenspartnerschaft, da aus derBeziehung gleichgeschlechtlicher Paare grundsätz-lich keine gemeinsamen Kinder hervorgehen kön-nen. Dieser Gesichtspunkt kann jedoch nicht alsGrundlage einer unterschiedlichen Behandlung vonEhegatten und Lebenspartnern herangezogen wer-den, da er in der gesetzlichen Regelung nicht hin-reichend umgesetzt ist. Denn das geltende Rechtmacht – im Unterschied zu früheren Regelungen –
Metadaten/Kopzeile:
23556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Armin Schuster (CDU/CSU)
(C)
(B)
die Privilegierung der Ehe bzw. die Höhe des Frei-betrags für Ehegatten gerade nicht vom Vorhan-densein gemeinsamer Kinder abhängig.Wenn wir dieses Urteil also richtig auslegen, geht esdarum, die Privilegierung der Ehe vom Vorhandenseingemeinsamer Kinder gesetzlich abhängig zu machen.Es geht mir nicht darum, einzelne Gruppen zu be-nachteiligen, es geht auch nicht in erster Linie um Steu-erpolitik, sondern einzig darum, diejenigen in unsererGesellschaft besser zu unterstützen, die sich für Kinderentscheiden. Das ist Familienpolitik im ureigenstenSinne. Neben Familien mit Kindern fördert der Staatheute auch Millionen kinderloser Ehepaare. Insgesamtwenden wir 15 Milliarden Euro für das Splittingverfah-ren auf. Das würde ich über ein Familiensplitting sehrgerne privilegiert Familien mit Kindern zukommen las-sen. Die Vater-Mutter-Kind-Konstellation ist für unsnach wie vor die beste, aber gleichwohl nur noch eineVariante von vielen Lebensformen, in denen Kinderheute geboren werden und aufwachsen. Deshalb solltenwir bei den heute vielfältigen Lebensformen nicht dieGeschlechterfrage als gesetzlichen Privilegierungs-grund diskutieren. Das Kind muss unser Kompass sein.Daher sollte das geltende Recht so verändert werden,dass sich die steuerliche Privilegierung von Familienam Vorhandensein gemeinsamer Kinder orientiert.Jetzt zu den Gründen, warum wir den Antrag in dervorliegenden Form ablehnen:Die vom Bundesverfassungsgericht entschiedene er-hebliche, rückwirkende Erweiterung von 2009 auf 2001,wird, anders als im vorliegenden Antrag beschrieben,gerade im Versorgungs- und Beihilferecht mit erhebli-chen Kosten verbunden sein. Deshalb geht es uns umeine präzise Auslegung des Urteils, nicht um die Erfül-lung eines Wunschkonzerts. Genau genommen hat dasBundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet,rückwirkend zum 1. August 2001 eine gesetzlicheGrundlage für die Gewährung des Familienzuschlags zuschaffen. Wichtig ist: Das Gericht hat den Anspruch aufden Kreis derjenigen begrenzt, die einen entsprechendenAntrag zeitnah gestellt haben, ohne dass über ihren An-spruch schon abschließend entschieden worden ist, dasheißt die rückwirkende Gewährung betrifft nicht alle po-tenziellen Empfänger des Familienzuschlags der Stufe 1,und sie erfolgt frühestens erst ab dem Haushaltsjahr, indem ein Antrag gestellt wurde.Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen er-streckt die Rückwirkung demgegenüber auf alle ehebe-zogenen Regelungen im öffentlichen Dienstrecht, nichtnur auf das Familienrecht, und auf alle eingetragenenLebenspartner und soll auch die belohnen, die nicht ei-nen zeitnahen Antrag gestellt haben.Insbesondere eine Erstreckung auf alle eingetrage-nen Lebenspartner ist sehr problematisch. Heute ge-stellte Ansprüche wären nicht durchsetzbar, da ihnen so-wohl der Grundsatz der zeitnahen Geltendmachung alsauch Verjährungsregelungen entgegenstehen. Durcheine gesetzliche Regelung, die alle eingetragenen Le-benspartner erfasst, würde faktisch ein Verzicht auf denGrundsatz der zeitnahen Geltendmachung und auf dieEinrede der Verjährung erfolgen. Beides kann wegenpräjudizierender Wirkungen auf anhängige oder künf-tige Rechtsstreitigkeiten nicht in Betracht kommen. AuchGrundsätze der sparsamen Haushaltsführung stehendem entgegen.Der Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen geht damitweit über die Vorgaben des BVerfG hinaus und ist abzu-lehnen.
In diesem Sommer ereignete sich in Karlsruhe einbisher leider altbekanntes Schauspiel – das Bundesver-fassungsgericht erklärte einen Teil der Gesetzgebungder Bundesregierung für verfassungswidrig. In diesemFall hatte das Gericht am 19. Juni dieses Jahres ent-schieden, dass die Ungleichbehandlung von eingetragenerLebenspartnerschaft und Ehe beim beamtenrechtlichenFamilienzuschlag nach § 40 Abs. 1 Nr. 1 Bundesbesol-dungsgesetz seit dem 1. August 2001 unvereinbar mitdem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1Grundgesetz ist.Der Gesetzgeber wird mit dem Beschluss des Bun-desverfassungsgerichts verpflichtet, den festgestelltenVerfassungsverstoß rückwirkend zum Zeitpunkt der Ein-führung des Instituts der eingetragenen Lebenspartner-schaft mit Wirkung zum 1. August 2001 zu beseitigen.Wieder einmal zeigte das Bundesverfassungsgerichtmehr Lebenswirklichkeit als die amtierende schwarz-gelbe Bundesregierung. Die Gleichstellung von Schwu-len und Lesben ist endlich umfassend in allen Bereichendurchzusetzen.Es war ein wichtiges Projekt der rot-grünen Bundes-regierung, mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz 2001gleichgeschlechtlichen Paaren die Verpartnerung zu er-möglichen. Das Gesetz war ein Meilenstein der Gleich-stellung homosexueller Paare und sorgte für mehr Akzep-tanz gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.Es hat vielen homosexuellen Menschen ermöglicht, ihreLiebe offen und vom Gesetz gewürdigt und geschützt zuleben.Mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz sollten nochweit mehr gleichstellende Regelungen umgesetzt wer-den, unter anderem auch im Beamtenrecht. Diese schei-terten aber an der fehlenden Zustimmung der CDU/CSU-FDP-regierten Länder im Bundesrat.Knapp zehn Jahre nach dem Lebenspartnerschafts-gesetz legte auch die schwarz-gelbe Bundesregierungendlich einen Gesetzentwurf vor, der ehebezogene Rege-lungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartner-schaften übertragen soll. Dieser Gesetzentwurf hat je-doch den Makel, dass die Regelungen nicht rückwirkendzum 1. August 2001, also dem Tag des Inkrafttretens desrot-grünen Lebenspartnerschaftsgesetzes, gelten.Im federführenden Innenausschuss des DeutschenBundestages stellte die SPD-Fraktion in der abschließen-den Beratung am 29. Juni 2011 den Änderungsantrag,das Gesetz rückwirkend zum 1. August 2001 in Kraft zuZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23557
Wolfgang Gunkel
(C)
(B)
setzen. Der Änderungsantrag wurde mit den Stimmender CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion gegendie Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linkeund der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.Der uns heute vorliegende Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen stellt ebenfalls die Forderung auf, diegleichstellenden Regelungen rückwirkend zum 1. August2001 in Kraft treten zu lassen. Dies begrüßen wir alsSPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich, entspricht esdoch unserer Forderung vom vorvergangenen Sommer.Es ist wirklich beschämend, wie die Bundesregierungbei der Gleichstellung von homosexuellen Paaren zögert.Obwohl im Koalitionsvertrag angekündigt wurde, die ein-getragenen Lebenspartnerschaften der Ehe gleichzu-setzen, hat das Kabinett Anfang des Monats entschieden,dass es in dieser Legislatur keine steuerliche Gleichstel-lung beider Formen des Zusammenlebens geben werde.Vorangegangen war ein Papier von 13 Abgeordnetender CDU, in dem sie sich dafür aussprechen, eingetra-gene Lebenspartnerschaften im Steuerrecht der Ehegleichzustellen. Das kommt bei der CDU offenbar einemTabubruch gleich. Vor allem die CSU will an ihrem anti-quierten Weltbild festhalten und lehnt eine Gleichbe-handlung ab, auch der Bundesfinanzminister bremst.Das Ergebnis ist die bereits erwähnte Kabinettsentschei-dung.Die SPD-Bundestagsfraktion wird schnellstmöglicheine Initiative für einen interfraktionellen Antrag zursteuerlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Part-ner mit Eheleuten in den Bundestag einbringen. Es darfkeine weiteren zehn Jahre dauern, bis auch in Deutsch-land die absolute Gleichstellung von HomosexuellenWirklichkeit ist.
Mit dem Gesetz zur Übertragung ehebezogener Re-
gelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspart-
nerschaften hat die christlich-liberale Koalition die
Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnern mit
Ehegatten im Beamtenrecht vor zwei Jahren erfolgreich
umgesetzt. Neben anderen Anpassungen wie der Beihilfe
im Krankheitsfall haben verpartnerte Beamtinnen und
Beamte seitdem ein Anrecht auf Familienzuschlag nach
dem Bundesbesoldungsgesetz von etwa 108 bis 113 Euro
monatlich. Bis zum damaligen Zeitpunkt war der Zu-
schlag noch verheirateten Beamten vorbehalten.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Ent-
scheidung vom 12. Juni 2012 weiteren Handlungsbedarf
in Bezug auf den Familienzuschlag aufgezeigt. Die
Gleichstellung im Beamtenrecht wurde 2011 mit Rück-
wirkung auf das Jahr 2009 von der Koalition beschlos-
sen. Da gleichgeschlechtliche Paare aber schon seit
2001 eingetragene Lebenspartnerschaften eingehen
können, soll nun auch die Rückwirkung auf 2001 ausge-
weitet werden. Die zwischenzeitliche Ungleichbehand-
lung mit der Ehe ist verfassungswidrig. Gerne wäre das
Bundesjustizministerium bei der Rückwirkung einen
Schritt weiter gegangen. Am Ende steht in Koalitionen
aber nun einmal ein Kompromiss.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen nimmt das Urteil zum Anlass zu ei-
nem unüberlegten Schnellschuss, den die Koalition nicht
mittragen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat in
seinem Urteil ganz klar bestätigt, dass die Rückwirkung
für diejenigen Beamten gelten soll, die einen zeitnahen
Antrag gestellt hatten. Demgegenüber bezieht der Ge-
setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die
Rückwirkung auch auf diejenigen Beamten, die den Fa-
milienzuschlag nicht beantragt hatten. Zudem weitet der
Gesetzentwurf die Rückwirkung auf alle die Ehe betref-
fenden Regelungen im Beamtenrecht aus, während sich
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur auf den
Familienzuschlag beschränkt.
Die Koalitionsfraktionen prüfen derzeit weitere
Verbesserungen bei der Gleichstellung eingetragener
Lebenspartnerschaften, die im von der rot-grünen Bun-
desregierung auf den Weg gebrachten Lebenspartner-
schaftsgesetz unter den Tisch gefallen sind. Mit dem
Gesetzentwurf aus dem Bundesjustizministerium zur Be-
reinigung des Rechts der Lebenspartner sind zahlreiche
Angleichungen im Zivil- und Strafrecht geplant. In die-
ser Legislaturperiode haben wir bereits bei Erbschaft-
und Grunderwerbsteuer, BAföG und im öffentlichen
Dienstrecht gleichgestellt und wollen verbleibende He-
rausforderungen mit der gleichen Sorgfalt behandeln.
Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wird der Herausforderung eines verantwortungsvollen
Umgangs mit den komplexen Fragestellungen nicht ge-
recht.
Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen istgut und richtig. Er erhält unsere volle Unterstützung.Gleichzeitig ist er eine Ohrfeige für die Bundesregie-rung und die Arbeit der Regierungskoalition. Die Koali-tion ist in einem sehr desolaten Zustand, sodass sieselbst dann nicht reagieren kann, wenn es ihr dasBundesverfassungsgericht vorschreibt.Zur Klarstellung: Nachdem die eingetrageneLebenspartnerschaft 2001 wegen des Widerstands derschwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat nur als Ehezweiter Klasse eingeführt werden konnte, gab es eineReihe von Klagen bis hinauf zum Bundesverfassungsge-richt. Nun haben wir seit 2009 die Situation, dass dasBundesverfassungsgericht die Gleichbehandlung dereingetragenen Lebenspartnerschaft gegenüber der Ehedem Gesetzgeber ins Stammbuch schreibt. Zunächsturteilte das Bundesverfassungsgericht zur Hinterbliebe-nenversorgung, später in weiteren Fällen der Ungleich-behandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft.Seitdem hält das Bundesverfassungsgericht in ständigerRechtsprechung fest, dass der grundgesetzliche Schutzvon Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz nichtdem Gleichheitsgrundsatz nach in Art. 3 Abs. 1 Grund-gesetz entgegensteht. Im Gegenteil, aus dem Gleich-heitsgrundsatz folgt, dass die eingetragene Lebenspart-nerschaft in allen Bereichen der Ehe gleichzustellen ist.Dies gilt rückwirkend seit Einführung des Lebenspart-nerschaftsgesetzes zum 1. August 2001, wie es das Bun-desverfassungsgericht zuletzt am 19. Juni 2012 in sei-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Barbara Höll
(C)
(B)
nem Urteil zum Familienzuschlag im öffentlichenDienstrecht bekräftigte.Die Koalition reagierte auf die Rechtsprechung desBundesverfassungsgerichts, aber eben nur unzurei-chend. Sie brachte 2010 einen Gesetzentwurf zum öf-fentlichen Dienstrecht ein, mit Rückwirkung ab dem1. September 2009. Die Linke ebenso wie Bündnis 90/Die Grünen und die SPD machten bereits damals im lau-fenden parlamentarischen Verfahren darauf aufmerk-sam, dass eine Rückwirkung ab 2001 notwendig ist, alsoab dem Jahr der Einführung des Lebenspartnerschafts-gesetzes. Die jetzige Situation ist beschämend für Regie-rung und Koalition.Wenn sie nicht in der Lage sind, eigenständig zu han-deln, sollten sie die Gelegenheit nutzen und wenigstensdem Gesetzentwurf der Grünen zustimmen, um ein ver-fassungsgemäßes Dienstrecht zu haben, so wie es dasBundesverfassungsgericht in Auftrag gegeben hat. Ichwünsche mir endlich eine Regierung, die agiert undnicht reagiert, wenn sie dies denn überhaupt tut. DieGleichbehandlung ist verfassungsmäßig geboten undnotwendig, und sie sollte eine Selbstverständlichkeitsein.Dies betrifft auch die Frage der Gleichbehandlung imSteuerrecht und beim Adoptionsrecht. Dass die Bundes-regierung auch beim Steuerrecht wieder nur das nächsteBundesverfassungsgerichtsurteil abwartet, ist ange-sichts des absehbaren Urteils und der jüngsten Auffor-derung des Bundesrats, endlich die Gleichbehandlungim Steuerrecht umzusetzen, ein Skandal. Handeln sieendlich.Auch wenn es offenkundig noch homophobes Denkenin den Reihen der Koalition gibt, so wie es die Staats-sekretärin im Bundesumweltministerium und Bundes-tagsabgeordnete Katherina Reiche am 17. August gegen-über der „Bild“-Zeitung zum Ausdruck brachte– „Unsere Zukunft liegt in der Hand der Familien, nichtin gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften“ – undsogleich vom CSU-Abgeordneten Thomas Goppel aufseiner Facebook-Seite unterstützt wurde, so kann diesnicht die Verhinderung der Gleichbehandlung rechtferti-gen. Wir als Gesetzgeber sind in der Pflicht, das Grund-gesetz einzuhalten und die Gleichbehandlung sicher-zustellen.Am schnellsten und effektivsten wäre es, die Ehe fürLesben und Schwule zu öffnen. Dies fordern alle dreiOppositionsparteien. Dies sieht sogar das Programmder FDP vor, und auch die Lesben und Schwulen in derUnion fordern dies. Es wäre ein notwendiger und richti-ger Schritt, der der Wirklichkeit Rechnung tragenwürde.
Im Sommer dieses Jahres hat das Bundesverfassungs-gericht Ihnen von der Koalition zweimal schwarz aufweiß mitgeteilt, dass Ihre fortgesetzte Diskriminierungvon eingetragenen Lebenspartnerschaften ein Ende ha-ben muss. Für den Bereich des öffentlichen Dienstrechtslegen wir Ihnen nun einen Gesetzentwurf vor, der dieVorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzt undallen Betroffenen die ihnen zustehenden Zuschlägenachträglich gewährt.Die Ende 2010 beschlossene Übertragung ehebezo-gener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Le-benspartnerschaften erfolgte rückwirkend ab dem 1. Ja-nuar 2009. Diese Begrenzung der Rückwirkung wurdenun mit der Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts vom 19. Juni 2012 für verfassungswidrig erklärt.Demnach ist der Gesetzgeber verpflichtet, rückwirkendzum Zeitpunkt der Einführung des Instituts der Le-benspartnerschaft mit Wirkung zum 1. August 2001 einegesetzliche Grundlage zu schaffen, die allen Beamtinnenund Beamten, die ihre Ansprüche auf Familienzuschlagzeitnah geltend gemacht haben, einen Anspruch aufNachzahlung des Familienzuschlags ab dem Zeitpunktseiner erstmaligen Beanspruchung einräumt. Diese Ver-pflichtung ist analog auf alle ehebezogenen Regelungenim öffentlichen Dienstrecht zu übertragen. Unser Ge-setzentwurf räumt den Familienzuschlag und andereehebezogene Regelungen allen Beamtinnen und Beam-ten rückwirkend ein.Ich erwarte, dass wir diese Änderungen schnell imKonsens dieses Hauses verabschieden können. Schließ-lich werden insbesondere die Kolleginnen und Kollegenvon CDU und CSU nicht müde, immer wieder zu beto-nen, dass sie die Urteile des Bundesverfassungsgerichtsachten und umsetzen wollen. Hier haben Sie Gelegen-heit, Ihren Worten Taten folgen zu lassen.Meine Damen und Herren von der Koalition: Sie ha-ben im August ein kleines Sommertheater aufgeführt.Zunächst sah es so aus, als könnten sich auch in IhrenReihen Stimmen durchsetzen, die die Diskriminierungvon schwulen und lesbischen Paaren in diesem Landendlich beenden wollen. Doch leider wurden wir einesBesseren belehrt. Frau Reiche meinte, zu Protokoll ge-ben zu müssen, dass „die Zukunft Deutschlands nicht beigleichgeschlechtlichen Paaren“ liege. Neben der Euro-Krise sei die demografische Entwicklung die größte Be-drohung unseres Wohlstandes. Frau Reiche, selbst wenndas richtig wäre, warum sollte dieser Befund etwas ander verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer Gleich-stellung ändern? Sie haben es immer noch nicht verstan-den: Schwul und lesbisch wird man nicht gemacht – manist es! Nicht Schwule und Lesben gefährden die demo-grafische Entwicklung, sondern die schlechte Familien-politik Ihrer Regierung, die lieber eine Herdprämie ein-führt, statt endlich die notwendigen Investitionen in dieKinderbetreuung zu gewährleisten.Und das Verfassungsgericht hat Ihnen mehrfach insStammbuch geschrieben, dass die Ehe eben nicht geför-dert wird, weil sie so viele Kinder hervorbrächte. Nein:Es ist die gegenseitige dauerhafte, auch rechtlich ver-bindliche Verantwortung, die zwei Menschen füreinan-der übernehmen, die der Staat fördert. Und darin unter-scheiden sich Ehe und Lebenspartnerschaft eben nicht.Im Übrigen hat Ihnen das Gericht auch gesagt, dassselbstverständlich auch in Lebenspartnerschaften Kin-der aufwachsen, und zwar gut und gesund, wie Studienunter anderem aus dem Justizministerium zeigen. DasZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23559
Volker Beck
(C)
(B)
mag zwar Ihr enggefasstes biologisches Verständnisübersteigen, ist aber Realität in Deutschland.Die Gleichstellung von schwulen und lesbischen Paa-ren ist verfassungsrechtlich erforderlich und politischlaut Umfragen von der Mehrheit der Bevölkerung ge-wünscht. Die richtige Konsequenz wäre die Öffnung derEhe für lesbische und schwule Paare. Nachdem der Bun-destag mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP dies imSommer abgelehnt hat, müssen wir nun bis auf Weiteresden mühsamen Weg der schrittweisen Angleichung wei-ter gehen. Unser heutiger Antrag ist ein weiterer, kleinerSchritt.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10769 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall.
Dann haben wir die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim
Pfeiffer, Andreas G. Lämmel, Thomas Bareiß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner
, Claudia Bögel, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Neue Herausforderungen der regionalen
Wirtschaftsstruktur meistern – GRW fort-
führen und EU-Kohäsionspolitik zukunfts-
orientiert gestalten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Doris
Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Ver-
besserung der regionalen Wirtschaftsstruk-
tur“ – Finanzierung langfristig sichern
– Drucksachen 17/9938, 17/5185, 17/10848 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Tobias Lindner
Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Re-
den zu Protokoll genommen.
Wenn momentan über Wirtschaftspolitik diskutiertund auch gestritten wird, dann geht es oft um die „gro-ßen Themen“ wie Energiewende oder die Euro-Stabili-tät.Das Thema der regionalen Wirtschaftspolitik wirdmanchmal vergessen. Ein Grund dafür konnte sein, dassdabei weniger gestritten wird. An der Bedeutung desThemas kann die mitunter mangelnde Aufmerksamkeitkaum liegen. Denn Deutschland ist ein vielfältiges Landmit starken Regionen. Die Mehrheit der Deutschen lebtin ländlichen Regionen oder mittleren Städten. Das wirt-schaftliche Geschehen in Deutschland konzentriert sichnicht auf die eine Metropolregion. Die Vielfalt von Stadtund Land spiegelt sich auch in der unterschiedlichenwirtschaftlichen Entwicklung der Regionen wider. VieleRegionen sind von den Großtrends wie Strukturwandel,Globalisierung oder der deutschen Einheit höchst unter-schiedlich betroffen. Die regionale Wirtschaftspolitikbetrifft den Alltag vieler Bürger unseres Landes.Das Grundgesetz verlangt die Herstellung gleichwer-tiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Das zentraleund bewährte Instrument dafür ist seit 1969 die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der re-gionalen Wirtschaftsstruktur“ – GRW. Bund und Länderunterstützen gemeinsam strukturschwache Regionen.Das Hauptziel ist die Schaffung und Sicherung dauer-haft wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze durch die Förde-rung von gewerblichen Investitionen, Investitionen indie wirtschaftsnahe Infrastruktur und gezielten Maß-nahmen zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit kleinerund mittlerer Unternehmen. Die GRW zielt also auf dieAktivierung der regionalen Wirtschaftskraft als Hilfe zurSelbsthilfe ab.Im Rahmen der regelmäßigen Evaluation der GRWwird ihre positive Wirkung ständig bestätigt. Schwer-punkte der Förderung liegen eindeutig bei kleinen undmittleren Unternehmen und bei Innovationen. Zwischen2009 und 2011, also während des heftigsten Einbruchsder Konjunktur in der Geschichte der Bundesrepublik,führten 4,4 Milliarden Euro an GRW-Mitteln von Bundund Ländern zu 22,6 Milliarden Euro Investitionen vonUnternehmen, in der gewerblichen Wirtschaft wurdenüber 65 400 neue Dauerarbeitsplätze geschaffen undcirca 280 200 Dauerarbeitsplätze erhalten. Hohe Mit-telabflüsse von über 90 Prozent belegen das hohe Inte-resse seitens der Bundesländer und der Unternehmenvor Ort.Die Herausforderungen für die regionale Wirt-schaftspolitik sind groß:Der demografische Wandel wirkt zuerst in ländlichenund strukturschwachen Räumen, also in jenen Gebieten,auf die sich die GRW-Mittel konzentrieren.Die beihilferechtlichen Rahmenbedingungen für dienationale Regionalpolitik werden von der EuropäischenKommission für die neue Förderperiode ab dem Jahr2014 neu ausgerichtet. Diese Regeln werden festlegen,wo und was zukünftig in Deutschland regionalpolitischgefördert werden darf.GRW-Mittel stehen auch für die gewerbliche Umwid-mung ehemaliger Bundeswehrstandorte zur Verfügung –„Konversion“. Die angelaufene Reform der Bundes-wehr stellt eine neue Aufgabe für die GRW dar.Die Investitionszulage – I-Zulage – für Unternehmenin Ostdeutschland wird Ende des Jahres 2013 auslaufen.Der Solidarpakt II zur Unterstützung der ostdeutschenBundesländer ist bis zum Jahr 2019 befristet. Die Mittelaus den europäischen Strukturfonds werden in Deutsch-land ab dem Jahr 2014 vermutlich ebenfalls erkennbar
Metadaten/Kopzeile:
23560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Andreas G. Lämmel
(C)
(B)
zurückgehen, sodass der GRW eine höhere regionalpoli-tische Verantwortung zukommt.Die europäischen Strukturfonds werden ab 2014 neufokussiert.Momentan werden die Weichen dafür gestellt, dassdie GRW effektiv und flexibel zur Stärkung der Regionenim Standortwettbewerb beitragen kann und auch diestrukturschwachen Regionen ihren Anteil am gesamt-deutschen Wirtschaftswachstum leisten können.Die christlich-liberale Koalition steht zur GRW alszentrales Instrument der regionalen Wirtschaftspolitik.Wir stehen aber auch zur Schuldenbremse; daher mussteauch die GRW ihren Beitrag zur Haushaltskonsolidie-rung leisten. Im Gegensatz zu mancher Vorgängerregie-rung haben wir die GRW aber nicht als haushälteri-schen Steinbruch genutzt. Außerdem haben wir in denparlamentarischen Haushaltsberatungen dieser Legis-laturperiode den Regierungsvorschlag stets ein wenigzugunsten der GRW verschoben. Diese Notwendigkeitsehe ich auch in den aktuellen Beratungen für den Haus-halt 2013. Hier werde ich mich mit vielen Kollegen füreine bessere Mittelausstattung der GRW einsetzen.Im Rahmen der Haushaltsmittel und der Schulden-bremse steht diese Koalition zur Fortführung des Haus-haltstitels der GRW auf bestehendem, hohem Niveauund zu einer finanziellen Ausstattung, dass sie struktu-rell wirksam bleibt und die neue Aufgabe der Konver-sion ehemaliger Bundeswehrliegenschaften entspre-chend gewürdigt wird. Weiterhin erwarten wir von denBundesländern, dass sie die paritätische Kofinanzierungdurch Landesmittel sicherstellen. Die GRW ist eine Ge-meinschaftsaufgabe.Tiefgreifende Entscheidungen für die regionale Wirt-schaftspolitik in Deutschland werden momentan aufEU-Ebene vorbereitet. Innerhalb des EuropäischenParlamentes ist das Verhandlungsmandat für weitereGespräche zur Fortsetzung der Kohäsionspolitik abge-stimmt. Der Trilog aus Parlament, Europäischer Kom-mission und dem Europäischen Rat hat nun begonnen.In diesen Verhandlungen unterstützen wir die Bun-desregierung bei den Verhandlungen zur Weiterentwick-lung der Regionalleitlinien der Europäischen Union. Esmuss faire und wirksame Übergangsregelungen für Re-gionen geben, die ihren Status als A-Fördergebiet verlie-ren. In Deutschland betrifft dies konkret die Unterstüt-zung des Angleichungsprozesses der ostdeutschenBundesländer. Entsprechend dem Grundsatz der Subsi-diarität müssen auch künftig nationale Spielräume zurwirkungsvollen Förderung strukturschwacher Regionenin den Mitgliedstaaten der Europäischen Union beste-hen. Dies betrifft auch die Förderung strukturschwacherRegionen in Westdeutschland.Wir bestärken daher die Bundesregierung in den Ver-handlungen zur Weiterentwicklung der Leitlinien derRegionalpolitik der Europäischen Union im ihrem Ein-satz unter anderem für die Verlängerung der Über-gangsperiode für Ex-A-Gebiete bis 2020, die Begren-zung des Fördergefälles zu Höchstfördergebieten auf15 Prozentpunkte und die Fördermöglichkeit von Groß-unternehmen auch in Ex-A- und C-Gebieten.Auch bei den Verhandlungen über die zukünftige Ko-häsionspolitik unterstützen wir die Bundesregierung.Insbesondere begrüßen wir, dass die Strukturfonds ver-stärkt auf die Ziele der Strategie Europa 2020 ausge-richtet werden und damit Wettbewerbsfähigkeit undnachhaltiges Wachstum vorantreiben. Dabei muss dieKohäsionspolitik weiter auf das Vertragsziel, den Abbauregionaler Entwicklungsunterschiede, ausgerichtet blei-ben. Wir brauchen einen effizienten und zweckmäßigenEinsatz der EU-Mittel in allen Staaten. Daran hat es inden letzten Jahren oft gefehlt, wie wir heute sehen kön-nen. Von daher ist die von der Europäischen Kommis-sion vorgeschlagene thematische Ausrichtung und Kon-zentration der künftigen Kohäsionspolitik in weitenTeilen sinnvoll. Allerdings müssen den Regionen dabeiSpielräume verbleiben, um den spezifischen regionalenBedürfnissen und Erfordernissen Rechnung tragen zukönnen.Ich werbe um die Zustimmung aller Fraktionen desBundestages. Die regionale Wirtschaftspolitik verdientunser aller Unterstützung, gerade bei den Verhandlun-gen in Brüssel.
Viele Abgeordneten hier im Haus wollen das Gleiche,nämlich über die im Jahre 1969 eingeführte Bund-Län-der-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regiona-len Wirtschaftsstruktur“, GRW, gleichwertige Lebens-verhältnisse auch in unserem seit 1990 größergewordenen Land herbeizuführen. Aber leider konntensich die Koalitionsfraktionen nicht überwinden, zusam-men mit uns gemeinsam einen Antrag zu formulieren,der dieses Ziel auf hohem Niveau auch weiterhin ver-folgt. 15 Monate dauerte es, bis die Koalitionsfraktionenschließlich ihren eigenen Antrag vorlegten. Ärgerlichfür die Koalition war nur, dass inzwischen der Finanz-plan 2013 von der Bundesregierung vorgelegt wurde,der vorsah, die Mittel für die GRW um 60 MillionenEuro zu kürzen.Aber dann kam der Antrag der Koalition. Und plötz-lich hatte man entdeckt, dass durch die Bundeswehrre-form ehemalige Bundeswehrstandorte umgewidmet wer-den müssen und solche Vorhaben auch erheblicheKosten verursachen. Um diese für die betroffenen Ge-meinden verträglich, vor allem bezahlbar zu gestaltenund auch die Länderhaushalte nicht zu stark zu belasten,können jetzt Kosten der Konversion in den Fördergebie-ten über die Mittel der GRW finanziert werden. Das istzwar nicht ganz fair gegenüber den Ländern, die schonseit Jahren erheblich Mittel in Konversionsstandorte ha-ben fließen lassen. Rheinland-Pfalz hat über 600 Kon-versionsgebiete finanziert und dabei eine große Kompe-tenz erlangt, und das alles ganz ohne anteiligeUnterstützung durch die GRW.Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich finde es gut, dassjetzt Mittel der GRW auch für die Umwidmung von ehe-maligen Bundeswehrstandorten zur Verfügung stehen.Für diese neue Aufgabe haben Sie die Mittel der GRWZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23561
Doris Barnett
(C)
(B)
dann doch nicht um 60 Millionen Euro, sondern „nur“um 27 Millionen Euro gekürzt. Und uns wollen Sie vor-rechnen, dass Sie die Mittel für die GRW sogar aufge-stockt haben! Das nenne ich die fünfte Grundrechenart:zuerst kräftig kürzen, dann wieder etwas drauflegen unddann sich feiern lassen für die angebliche Mittelerhö-hung des Titels. Genauso hat es schon der Städtebaumi-nister Ramsauer mit den Geldern für das Projekt „So-ziale Stadt“ gemacht.Wenn Sie so weitermachen, erklären Sie noch denLeichtgläubigen unter den Kollegen, dass 569 MillionenEuro mehr sind als 596 Millionen Euro, weil ja auf dieursprünglich geplanten Mittel von 539 Millionen Euro27 Millionen Euro draufgelegt wurden, also der jetzigeAnsatz höher ist.Dabei wäre doch Geld da gewesen, die GRW-Mittelzumindest auf der Höhe des Ansatzes von 2012 zu hal-ten. Denn im kommenden Jahr läuft die Investitionszu-lage aus. Die GRW stellt dann das einzige Instrumentdes Bundes für die regionale Wirtschaftsförderung dar.Nach wie vor haben die neuen Bundesländer und auchdie strukturschwachen Gebiete in Westdeutschland eingroßes Interesse, Wettbewerbsnachteile gegenüber denBallungszentren und Metropolregionen auszugleichen,wozu die zusätzlichen Mittel aus der I-Zulage hätten die-nen können.Aber jetzt ist die I-Zulage weg, und die GRW-Mittelsind um 27 Millionen Euro gekürzt. Hinzu kommt, dassSie Großunternehmen fördern wollen. Wollen Sie wirk-lich damit riskieren, dass Ansiedlungen nach Förderhöhevorgenommen werden? Sollen andernorts Arbeitsplätzeabgebaut werden – so wie wir es von Standortverlage-rungen auch renommierter Firmen kennen? Sollen danndie vielen erfolgreichen Investitionen und Unterneh-mensgründungen zukünftig nicht mehr erfolgen können,weil es die bisherige finanzielle Unterstützung wegen derGroßprojekte nicht mehr gibt? Können Sie das wirklichverantworten?Gleichzeitig hört man Gerüchte, wonach bei dernächsten Förderperiode einige Bundesländer, und zwarauch Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, nichtmehr in die GRW-Förderung gelangen. Was ist hier IhreGegenstrategie, wenn Ihre Kanzlerin demnächst mitKommissar Almunia zum Gespräch zusammentrifft?Wahrscheinlich gibt es keine, und darüber hinaus ge-hen Sie ja davon aus, dass die Mittel aus den europäi-schen Strukturfonds für Deutschland ab 2014 erkennbarzurückgehen. Da dürfen wir gespannt sein, wie Sie dieWeichen stellen und mit gekürzten GRW-Mitteln „effek-tiv und flexibel zur Stärkung der Regionen“ beitragenwollen.In einigen Tagen wird der Unterausschuss für regio-nale Wirtschaftspolitik eine Delegationsreise zu Förder-schwerpunkten in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen durchführen. Sicherlich werden wir dort guteBeispiele vorfinden, wie die Mittel aus der GRW einge-setzt wurden und werden, um für Wachstum und Arbeits-plätze zu sorgen.Wenn wir Sozialdemokraten in Zeiten von Schulden-bremse und Einsparungen trotzdem darauf bestehen,dass die Mittel für die GRW nicht angetastet werden,dann deshalb, weil wir genau wissen, wie zielsicherdiese Mittel wirken. Ich will an dieser Stelle nochmalsdarauf hinweisen: Die zur Verfügung gestellten GRW-Mittel lösen im Durchschnitt mehr als das Sechsfache anInvestitionen aus, es gibt einen Beschäftigungszuwachsvon knapp 5 Prozent, und auch die Löhne steigen be-achtlich, nämlich um 6 Prozent – und das alles in einemZeitraum von gerade einmal drei Jahren.Das ist eine Erfolgsmeldung, auf die wir alle stolzsein können. Deshalb verstehen wir nicht, wieso Sie wi-der besseres Wissen dann doch einer so dramatischenKürzung von 27 Millionen Euro zustimmen konnten undgleichzeitig diesen Bundestagsantrag vorlegen.
Wir alle wissen, wie wichtig es ist, die regionale Wirt-schaftsstruktur zu erhalten und zu verbessern. Mit Blickdarauf, ist die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ einäußerst erfolgreiches Mittel, um strukturschwacheRegionen bei der Bewältigung der Herausforderungenim Zuge des Strukturwandels zu unterstützen.Als zentrales Element der deutschen Regionalpolitikkommt der GRW eine besondere Bedeutung für dasWachstum in strukturschwachen Regionen in Deutsch-land zu.Und offenbar wird dieses Instrument gerne und regeangenommen – die hohen Mittelabflüsse von über90 Prozent belegen das große Interesse der Bundes-länder und Unternehmen.Zukünftig steht die Regionalpolitik in Deutschlandvor großen Herausforderungen: Der demografischeWandel, der sich vornehmlich in ländlichen und struk-turschwachen Regionen auswirkt, das Auslaufen der In-vestitionszulage für Unternehmen in Ostdeutschlandoder auch die Neuausrichtung der beihilferechtlichenRahmenbedingungen für die nationale Regionalpolitikdurch die Europäische Kommission für die neue Förder-periode ab 2014 – alles dies erfordert eine weitereStärkung der GRW, damit diese effektiv und flexibel zurStärkung strukturschwacher Regionen beitragen kann.Die Bedeutung der GRW und ihre erfolgreiche Bilanzsprechen für sich. Und genau aus diesem Grund wird siebeständig weiterentwickelt und aktuellen Entwicklungenund Herausforderungen angepasst.Eine dieser neuen Herausforderungen der ländlichenRäume ist sicherlich auch die angelaufene Reform derBundeswehr. Die gewerbliche Umwidmung ehemaligerBundeswehrstandorte wird zu einer neuen Aufgabe fürdie GRW werden.In meinem Wahlkreis befindet sich zum Beispiel einBundeswehrstandort, der im Zuge der Reform geschlos-sen wird. Dies stellt die Region – vor allem aus wirt-schaftlicher Sicht – vor große Herausforderungen. DerEinsatz von GRW-Mitteln wäre dort deshalb sicherlichZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23562 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Claudia Bögel
(C)
(B)
sinnvoll. Mit dem Antrag möchten wir daher unter ande-rem auch signalisieren, dass die Grundvoraussetzungenfür den Einsatz bzw. Abruf der Mittel von unserer Seiteaus klar sind.Die Zuteilung der GRW-Mittel für die Konversion derBundeswehrstandorte fällt jedoch in den Zuständigkeits-bereich der Länder. Daher liegt es nun an ihnen, dieseMittel abzurufen und zu prüfen, ob sie in ein Infrastruk-turprojekt wie die Umwidmung ehemaliger Bundes-wehrstandorte investiert werden sollen.Wir können und möchten an dieser Stelle an dieLänder appellieren, dies zu tun; denn die zivile Nutzungbisheriger Militärstandorte stellt einen nicht zu unter-schätzenden Wirtschaftsfaktor dar. Dies wird zumBeispiel mit Blick auf die Umwidmung des ehemaligenBundeswehrstandorts Mönchengladbach deutlich, aufdessen Terrain eine erfolgreich arbeitende Schienentest-strecke angesiedelt wurde.Die GRW ist eine äußerst wirkungsvolle Maßnahme,um die wirtschaftliche Basis in den strukturschwachenRegionen Deutschlands zu stützen. Wir freuen uns dahersehr, dass die Bundesregierung dem Erfolg und derWichtigkeit der GRW Rechnung trägt und in ihrem Eck-wertebeschluss eine Erhöhung des Mittelansatzes für2013 angekündigt hat.Mit unserem Antrag wollen wir die hohe regional-politische Verantwortung der Bund-Länder-Gemein-schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt-schaftsstruktur“ betonen und begrüßen, dass sie aufdem bestehend hohen Niveau fortgeführt und finanziellso ausgestattet werden soll, dass sie strukturell weiter-hin so wirksam und erfolgreich bleibt, wie sie ist.
Strukturschwachen Regionen muss durch gezielte Re-gionalpolitik geholfen werden. Ziel ist die Herstellunggleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Da-für steht die Linke wie keine andere Partei – nicht zuletztmit ihren Forderungen nach der Angleichung des niedri-geren Rentenwerts in Ostdeutschland an den RentenwertWest sowie nach der Anhebung der ostdeutschen Löhneund Gehälter bei gleicher Arbeitszeit an das westdeut-sche Niveau.Zu den wichtigen Instrumenten der Regionalpolitik inDeutschland gehört neben den europäischen Struktur-fonds EFRE und ESF die Bund-Länder-Gemeinschafts-aufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschafts-struktur“, GRW. Verfassungsrechtlich geregelt ist das imGrundgesetz in Art. 91 a.Nun enden nächstes Jahr die Investitionszulage fürUnternehmen in Ostdeutschland und die aktuelle För-derperiode. Ab 2014 gibt es neue EU-Vorgaben. Des-halb will die Bundesregierung „GRW fortführen undEU-Kohäsionspolitik zukunftsorientiert gestalten“, wieder Titel des Koalitionsantrages so schön lautet. Eskommt aber auf die Inhalte an! Da sagen wir: Der soli-darischen Grundidee der Kohäsions- und Regionalpoli-tik treu bleiben, nicht wie die Regierung die Kohäsions-und Regionalpolitik zum bloßen Umsetzungsinstrumentfür neoliberale Ambitionen machen!Leider wurde diese ursprüngliche Förderphilosophievielfach schon ins Gegenteil verkehrt: Statt die Schwä-chen der Regionen anzugehen, werden sogenannteLeuchtturmprojekte vorangetrieben. Die ländlichen Re-gionen in der Fläche bleiben auf der Strecke.Wir sind der Meinung, dass es auf den gezielten Aus-bau der Eigenarten und Entwicklungspotenziale derRegionen ankommt. Die Bundesregierung hat nur Wett-bewerbsfähigkeit im Blick: Für Unternehmen mit über-regionalem Absatz sollen die Investitionskostenzu-schüsse der GRW ein Ausgleich für Standortnachteilebei Investitionen in den GRW-Fördergebieten sein.Doch gerade auch in der Stärkung regionaler Wirt-schaftskreisläufe steckt eine Chance. So kann Lebens-qualität auch dort gesichert werden, wo unter aktuellenBedingungen kein „Anschluss an die allgemeine Wirt-schaftsentwicklung“, wie es die Koalition in ihrem An-trag nennt, möglich ist.Will man die regionale Kaufkraft stärken und Maß-stäbe setzen, ist es wichtig, dass nur solche Unterneh-men oder Projekte gefördert werden, die Tarifverträgeeinhalten, Mindestlöhne zahlen und ökologische Stan-dards sicherstellen. Das allein wird nicht reichen. Esmuss weiter gedacht werden! Mit den Geldern muss dersozialökologische Umbau vorangetrieben werden. Au-ßerdem sollen die ohnehin nicht allzu üppig bemessenenGelder neben dem Ausbau einer leistungsfähigen kom-munalen Infrastruktur und der sogenannten nichtinves-tiven Fördertatbestände auf die Förderung von kleinenund mittleren Unternehmen konzentriert werden. DieRegierungskoalition hingegen spricht in ihrem Antragvon der „Förderfähigkeit von Unternehmensinvestitio-nen auch außerhalb der KMU“ und meint damit dieFörderung von Großunternehmen. Wir meinen, dass wirsolche Abhängigkeiten nicht schaffen sollten, siehe No-kia.Auf EU-Ebene fordern wir, dass sich die Bundesregie-rung für folgende drei Punkte einsetzt:Erstens darf die Kohäsionspolitik nicht zu einem blo-ßen Umsetzungsinstrument der Europa-2020-Strategieverkommen. Sie ist ein eigenständiger Politikbereich miteigenen Zielsetzungen, und das muss sie auch bleiben.Zweitens muss die Weiterentwicklung der EU-Struk-turförderung den Erfordernissen des Klimaschutzes undder Energiewende gerecht werden, sie muss den ökologi-schen Umbau und den Ausbau der öffentlichen Daseins-vorsorge stimulieren, sie muss eine nachhaltige Wirt-schaftsentwicklung, Bildung, gute und nachhaltigeArbeit und die Gleichstellung der Geschlechter fördernsowie den demografischen Wandel bewältigen helfen.Außerdem muss das Bruttoinlandprodukt als Hauptkri-terium für die Bestimmung der Förderungswürdigkeitvon Regionen um soziale und ökologische Indikatorenergänzt werden.Die EU-Kommission plant, Mitgliedstaaten mit einemteilweisen Entzug von Mitteln aus den Strukturfonds zubestrafen, wenn sie sich einem Defizitverfahren auf-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23563
Johanna Voß
(C)
(B)
grund der Verletzung der Maastricht-Kriterien unterzie-hen müssen. Diese Idee ist sofort zu verwerfen. Denn sowürden Regionen für die Haushaltspolitik der National-staaten bestraft, für die sie keine Verantwortung tragen.Hinzu kommt, dass durch den Entzug von Fördergelderndie haushalts- und fiskalpolitischen Schwierigkeiten desjeweiligen Staates verschlimmert werden.Die Linke will Angleichung wirtschaftlicher und so-zialer Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten undRegionen in der EU. Die Linke will gleichwertige Le-bensbedingungen in Deutschland. Wir fordern ausrei-chend Mittel für die Kohäsionspolitik der EU und dieGRW auf nationaler Ebene. Außerdem fordern wir dieWeiterentwicklung der regional- und strukturpolitischenInstrumente Richtung sozial-ökologischer Umbau.Schließlich fordern wir, dass Wirtschafts- und Sozial-partner, Nichtregierungsorganisationen sowie regionaleund lokale Akteure die Regionalplanung mitgestalten.
Viele Regionen in Deutschland stehen gut da, manchemüssen jedoch auch kämpfen. Dort, wo die Wirtschafts-kraft fehlt, müssen wir Hilfestellung leisten, um denMenschen ein gutes Auskommen zu sichern. Der Ansatzvon uns Grünen liegt darin, die Struktur einer Region sozu verbessern, dass die Wertschöpfung gesteigert wirdund durch eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklungneue Arbeitsplätze geschaffen werden.Durch die Reform der europäischen Strukturfondswerden für Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nachweniger Mittel zur Verfügung stehen. Dadurch wird dieGemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“ für unsere ländlichen Regionenumso wichtiger werden. Wir brauchen eine starke GRWmit einer guten finanziellen Ausstattung. Der Haushalts-entwurf der Bundesregierung sieht für 2013 eine Aus-stattung der GRW von knapp 570 Millionen Euro vor.Die brauchen wir auch, um zukunftsfähige Unternehmenbeim Auf- und Ausbau zu unterstützen, damit sie Werteschaffen und langfristig zum Wohlstand einer Regionbeitragen können; gerade wenn man bedenkt, dass nachdem Auslaufen der Investitionszulage, die ja nur auf dieostdeutschen Bundesländer zugeschnitten ist, ab 2014die GRW das einzige Instrument des Bundes für regio-nale Wirtschaftsförderung ist. Insbesondere kleine undmittlere Unternehmen bedürfen dieser Unterstützung.In seinem Bericht zur Deutschen Einheit im Rahmender gestrigen Regierungsbefragung wies Bundesinnen-minister Friedrich darauf hin, dass es in Ostdeutschlandeine Herausforderung besonderer Art gäbe, nämlicheine nach wie vor unterentwickelte Innovationsfähigkeitim Bereich der Wirtschaft. Diese sei im Wesentlichen da-rauf zurückzuführen, dass wir es dort mit einer sehrkleinteiligen Wirtschaftsstruktur und mit zum Teil nichtnur mittelständischen, sondern auch sehr kleinen Unter-nehmen zu tun hätten. Diese kleinen und Kleinstunter-nehmen bräuchten, was ihre Innovationskraft anginge,Unterstützung und bekämen diese natürlich auch durchstaatliche Hilfen. Weiterhin stellte er fest, dass es sehrunterschiedliche Entwicklungen in den verschiedenenRegionen und auch in den einzelnen Wirtschaftszentrengäbe. Es gäbe zwar auch Boomregionen, aber, und dasollten wir uns nichts vormachen, es gäbe auch sehrviele strukturschwache Gebiete.Wenn die Bundesregierung diese Einschätzung hat,dann ist sie meines Erachtens auch gut beraten, mit denzur Verfügung stehenden Instrumenten dort anzusetzen.Angesichts des Verfassungsauftrages, dem wir uns alleverpflichtet fühlen sollten, gleichwertige Lebensverhält-nisse in allen Regionen Deutschlands anzustreben, mussdiesen strukturschwachen, meist ländlich geprägten Ge-bieten die besondere Aufmerksamkeit der Wirtschafts-förderung gelten.Bei der Entwicklung strukturschwacher ländlicherRegionen setzen wir Grüne besonders auf den Dreiklangder Akteure aus dem Mittelstand, dem Handwerk undder bäuerlichen Landwirtschaft; denn dort, wo qualifi-zierte Arbeits- und Ausbildungsplätze entstehen, wo lo-kale Initiativen unterstützt und aktiviert werden, dortentstehen Wertschöpfung und Lebensqualität. Den klei-nen und mittelständischen Unternehmen kommt in länd-lichen Strukturen eine besondere Bedeutung als Arbeit-geber, Ausbilder und im besten Fall als Identitätsstifterzu. Deshalb setzten wir uns auch für eine ausschließli-che Förderung der Unternehmensinvestitionen vonKMUen ein. Die Förderung von Großunternehmen leh-nen wir ab.Ein verantwortungsvoller und effizienter Umgang mitFördergeldern muss eine Selbstverständlichkeit sein.Deshalb muss die strukturelle Wirksamkeit von Maßnah-men sichergestellt werden. Zwei Voraussetzungen sinddabei von großer Wichtigkeit: Erstens muss ein Mindest-maß an Verwaltungs- und Finanzmanagement in der Re-gion vorhanden sein. Deshalb unterstützen wir, entgegender Koalitionsparteien, die Ex-ante-Konditionalität.Zweitens müssen die bürokratischen Hürden und Kostenverringert werden.Was die Koalition uns als „better spending“ verkau-fen will, klingt auf den ersten Blick nicht schlecht: ver-besserte Ausgabebedingungen, um die gleichen Zielemit weniger Mitteln erreichen zu können. In Wahrheitverbirgt sich dahinter einfach nur eines: weniger Geldfür die deutschen Regionen, insbesondere für die ehema-ligen Konvergenzregionen. Dass wir eine solche Mogel-packung nicht unterstützen, versteht sich ja wohl vonselbst.In der Vergangenheit konnten wir mit der GRW vielbewegen. So wurden in der Förderperiode 2007 bis2009 mit den 4,1 Milliarden Euro an GRW-Mitteln vonBund und Ländern 26,2 Milliarden Euro Investitionengeneriert bei einem Beschäftigungszuwachs von4,6 Prozent. Ich denke, wir alle teilen ein Ziel: Wir wol-len, dass starke Regionen ihren Wohlstand erhalten undfestigen, und wir wollen, dass schwache Regionen sichweiterentwickeln können. Dafür müssen die Mittel derGemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“ verstetigt und verantwortungsvolleingesetzt werden.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23564 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(C)
(B)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie auf Drucksache 17/10848. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP auf Drucksache 17/9938. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenom-
men.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der SPD
auf Drucksache 17/5185. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 31:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Markus Kurth, Viola von Cramon-Taubadel,
Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neuen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorge-
abkommen zurücknehmen
– Drucksachen 17/9036, 17/9474 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Johann Wadephul
Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Re-
den zu Protokoll genommen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert im vor-liegenden Antrag, den Vorbehalt der Bundesregierunggegen die Anwendung des Europäischen Fürsorgeab-kommens auf die Grundsicherung für Arbeitsuchendenach dem SGB II zurückzunehmen. Sie sind der Ansicht,dass mit diesem Vorbehalt ein Angriff auf die europäi-sche Solidarität erfolge. Zudem stelle man sich damitgegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Sie sindder Meinung, dass alle Personen, die sich zum Zweckeder Arbeitssuche nach Deutschland begeben, dieselbenLeistungen erhalten müssen wie deutsche Arbeitsu-chende bzw. sogenannte Aufstocker. Diese Grundsiche-rung nach dem SGB II, also das Arbeitslosengeld II, er-halten übrigens tatsächlich alle ausländischen Staats-bürger, die in Deutschland erwerbstätig sind, sobaldihre Einkünfte für den Lebensunterhalt nicht mehr aus-reichend sind. Dass man aber durchaus differenzierenkann und muss, verlieren Sie dabei aus den Augen.Nun verhält es sich so, dass Zuwanderung nachDeutschland schon eine längere Tradition hat. Sie wirdvon der Unionsfraktion gerade mit Blick darauf sehr be-grüßt und gefördert, unseren enormen Fachkräftebedarfzu sichern. In diesem Zusammenhang darf ich auf diezum 1. Juli dieses Jahres erfolgte Einführung der soge-nannten Bluecard hinweisen. Mit der Umsetzung derEU-Hochqualifiziertenrichtlinie, also der Blauen KarteDeutschland, haben wir in unserem Aufenthaltsrecht einInstrument geschaffen, mit dem wir qualifizierte Fach-kräfte gezielt ansprechen. Wir ermöglichen ihnen einenschnellen und unkomplizierten Einstieg in unseren Ar-beitsmarkt. Der Adressatenkreis ist klar definiert. DieAnforderungen sind transparent und unbürokratisch.Neben dem Nachweis eines Hochschulabschlusses istdie Einhaltung von Mindestgehaltsgrenzen notwendig.Dies lässt Spielraum für Berufseinsteiger und Arbeitge-ber, ohne jedoch Dumpinglöhne zuzulassen.Daneben hat die Bundesregierung zu ihrem Meseber-ger Fachkräftegipfel im vergangenen Jahr ein umfassen-des Fachkräftekonzept vorgestellt. Dieses Konzept habenWirtschaft und Gewerkschaften zusammen mit der Bundes-regierung in einer „Gemeinsamen Erklärung zur Siche-rung der Fachkräftebasis“ bekräftigt. Sie sehen also: Nichtnur die Union, sondern auch unsere Regierung steht Seitan Seit mit unseren Sozialpartnern, wenn es um den Er-halt und den Ausbau unseres hervorragenden Arbeits-kräftepotenzials in Deutschland geht.Mit der zeitgleich gestarteten Fachkräfteoffensivewendet sich die Bundesregierung auch an Fachkräfte imAusland. Über das Internetportal „Make-it-in-Ger-many.com“ können sich interessierte ausländische Ar-beitnehmer aus EU- und Drittstaaten über Arbeitsmög-lichkeiten in Deutschland informieren. Darüber hinausenthält das Portal zahlreiche Informationen über Leben,Wohnen und Zukunftsperspektiven in Deutschland. Esbietet in Zusammenarbeit mit der zentralen Auslands-vermittlung der Bundesagentur für Arbeit und dem euro-päischen Portal zur beruflichen Mobilität, EURES, dieMöglichkeit, nach spezifischen Jobangeboten inDeutschland zu suchen.Das EURES-Netzwerk, also die grenzüberschreitendeArbeitsvermittlung, wird übrigens auch verstärkt zumZiel der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit einge-setzt. Hierzu sind gemeinsame Konferenzen, Seminareund ähnliche Kooperationen mit anderen EU-Länderngeplant.Ihr Vorwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen von denGrünen, die Bundesregierung würde mit ihrem Vorbe-halt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen keineWillkommenskultur für ausländische Arbeitnehmerschaffen, läuft also völlig ins Leere. Er ist angesichts dereben von mir dargestellten vielfältigen Programme undVernetzungen unserer Regierung mit unseren europäi-schen Nachbarländern sogar als absurd zu bezeichnen.Im Übrigen leistet die CDU/CSU-Bundestagsfraktioneinen weiteren Beitrag dazu, den Zuzug von qualifizier-ten Arbeitskräften nach Deutschland zu erleichtern.Denn gerade vor zwei Tagen hat unsere Fraktion einenAntrag zu der EU-Richtlinie zur Anerkennung von Be-rufsqualifikationen beschlossen. Mit diesem Antrag wol-len wir für unseren Arbeitsmarkt sowohl die erforderli-che Mobilität erleichtern, als auch die bestehendeQualität sichern. Wir verbessern damit die Freizügigkeit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23565
Dr. Johann Wadephul
(C)
(B)
in Europa, ohne dabei den Schutz unseres heimischenArbeitsmarktes aus den Augen zu verlieren.Wir müssen aber auch den länderübergreifendenKonsens berücksichtigen, wonach die EU-Mitgliedstaa-ten ebenso wie die Vertragsstaaten des EuropäischenFürsorgeabkommens berechtigt sind, Vorkehrungen ge-gen einen ungeregelten Zugang in ihre jeweiligen natio-nalen Sozialleistungssysteme zu treffen. Die Steuerungund rechtliche Zuordnung innerhalb dieser nationalenHilfssysteme gehört zu diesen Vorkehrungen. Im Euro-päischen Fürsorgeabkommen wird eben dieser Möglich-keit Rechnung getragen. Warum die Bundesregierungdas Einlegen dieses Vorbehalts für notwendig erachtete,kann ich Ihnen gerne erklären. Sie wollte einfach errei-chen, dass die nach Deutschland zugewanderten Bürge-rinnen und Bürger aus den EU-Mitgliedstaaten nichtschlechter gestellt sind als die Angehörigen der Staaten,die das Europäische Fürsorgeabkommen unterzeichnethaben. Genau dies würde nämlich denjenigen Unions-bürgern widerfahren, deren Staaten dieses Abkommennicht unterzeichnet haben. Das wollen wir nicht, unddeshalb ist der Vorbehalt gegen das Abkommen auch be-rechtigt. Uns ist die Gleichbehandlung aller EU-Bürge-rinnen und -Bürger bei der Anwendung deutschenRechts ein wichtiges Anliegen.Der Vorbehalt ist außerdem auch völkerrechtlich zu-lässig, was die Kollegen von den Grünen irrigerweisebestreiten. Nach der Wiener Vertragsrechtskonventionsind Vorbehalte Erklärungen von Staaten bei der Unter-zeichnung, Ratifizierung, Annahme oder Genehmigungeines Vertrages, die die Rechtswirkungen einzelner Ver-tragsbestandteile in Bezug auf eben diesen Staat aus-schließen oder ändern. Der hier in Rede stehende Vorbe-halt Deutschlands gegen das Europäische Fürsorge-abkommen folgt zum einen einer eigenen völkerrechtli-chen Ermächtigung, und zwar aus Art. 16 des Europäi-schen Fürsorgeabkommens. Zum anderen richtet er sichnicht gegen die Anwendung des Abkommens als sol-chem, sondern umgekehrt gegen die Anwendung deut-schen Rechts auf das Fürsorgeabkommen. Im Verständ-nis der Wiener Vertragsrechtskonvention ist der Vor-behalt also vielmehr eine Erklärung Deutschlands zurAnwendung des Vertrages im nationalen Recht.Im Übrigen müssen Sie sich auch fragen lassen, liebeKolleginnen und Kollegen der Grünen-Fraktion, woraufes Ihnen denn eigentlich ankommt. Geht es Ihnen wirk-lich darum, dass mit Einlegen des Vorbehalts eine Kos-tenverschiebung der Aufwendungen zu den Kommunenstattfindet? Oder geht es nicht doch darum, dass wirdenjenigen Menschen, die in unserem Land leben undarbeiten möchten, die dafür nötige Unterstützung bietenkönnen? Die Staatsangehörigen der Vertragsstaaten desEuropäischen Fürsorgeabkommens erhalten zwar keineLeistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchendenach dem SGB II. Stattdessen können sie im Bedarfsfalleinen Antrag auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach demSGB XII stellen. Dieser Anspruch wird auch nicht durch§ 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII wieder beseitigt. Danach be-kommt derjenige keine Sozialhilfe zugesprochen, der al-lein zum Zweck des Aufenthaltsrechts oder der Arbeits-suche wegen nach Deutschland eingereist ist. Danämlich der Vorbehalt Deutschlands gegen das Fürsor-geabkommen nur zum SGB II erklärt wurde und nichtzum SGB XII, besteht der Sozialhilfeanspruch für Ange-hörige eines Unterzeichnerstaates des Abkommens wei-ter.Was Sie außerdem ganz verschweigen, ist die Tatsa-che der Mitnahmemöglichkeit von Arbeitslosengeldan-sprüchen. Nach dem EU-Recht zur Koordinierung dersozialen Sicherheit haben alle Unionsbürger das Recht,in ihrem Heimatland erworbene Ansprüche auf Zahlungvon Arbeitslosengeld für die Dauer von bis zu sechs Mo-naten mit nach Deutschland zu exportieren. Diese Men-schen sind also zu einem guten Teil überhaupt nicht aufHilfen aus unserem Sozialleistungssystem angewiesen.Ich bin sehr dafür, arbeitswilligen Immigranten best-mögliche Unterstützung in unserem Land anzubieten.Aber wieso sollten manche doppelt abgesichert sein?Eine Schlechterstellung gegenüber deutschen Bürgerin-nen und Bürgern ist jedenfalls nicht zu erkennen.Deshalb komme ich zu dem Schluss, dass nicht nur inrechtlicher Hinsicht, sondern auch mit Blick auf Gerech-tigkeits- und Gleichbehandlungsempfinden die jetzigeSituation für alle Beteiligten ausgewogen und gut be-gründet ist.Deutschland kann sich ob seiner guten wirtschaftli-chen und sozialen Situation glücklich schätzen, nichtnur im europäischen, sondern auch im internationalenVergleich. Dazu haben viele beigetragen: Arbeitnehmer,Arbeitgeber, aber auch die Bundesregierung, die letzt-lich die Rahmenbedingungen schafft. Unser Erfolgs-modell wollen wir weiter fortsetzen, aber auch andereLänder mitziehen. Wir sind auf einem sehr guten Weg,dass uns dies gelingen kann. Einige Beispiele hierfürhabe ich Ihnen vorhin genannt. Es gibt aber noch vielmehr, was die Union und die Bundesregierung dabei un-ternehmen. Lassen Sie uns so weitermachen, und Siewerden sehen, dass wir am Ende die Früchte unserer gu-ten Arbeit ernten werden.
Das Thema Vorbehalt zum Europäischen Fürsorge-abkommen ist ein Trauerspiel. Es fing damit an, dass derBundestag gar nicht darüber informiert wurde, dass dieBundesregierung einen solchen Vorbehalt eingelegt hat.Nur durch findige Journalisten kam ans Tageslicht, dassdie Bundesregierung Zuwanderinnen und Zuwanderernaus den Unterzeichnerstaaten des Europäischen Fürsor-geabkommens keine Leistungen nach dem SGB II mehrgewährt, wenn sie ausschließlich zur Arbeitsuche nachDeutschland kommen. Es ist ein Unding, dass ein so weitreichender sozial- und europapolitischer Eingriff nurmehr oder weniger durch Zufall überhaupt bekanntwird. Ich fordere das Bundesministerium für Arbeit undSoziales auf, bei solchen Fällen in Zukunft den Bundes-tag vorab zu informieren. Denn schließlich ist der Etatdes BMAS für die Öffentlichkeitsarbeit eigentlich ganzgut ausgestattet, sodass solche Vorgänge nicht verheim-licht werden müssten.Die Reaktion in der Presse war zum Glück einhellig.Selbst die Bundesagentur für Arbeit hat bestätigt, dassZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23566 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Josip Juratovic
(C)
(B)
eigentlich in diesem Bereich kein Handlungsbedarf be-stehe und Zuwanderung aus europäischen Ländern indas deutsche Sozialsystem nur im Einzelfall auftrete. Ichfinde, es ist bezeichnend, wenn das Ministerium klamm-heimlich einen solchen Vorbehalt einlegt und noch nichteinmal diejenigen, die in der Praxis damit zu tun haben,fachlich nachvollziehen können, was eigentlich der Sinnund Zweck des Vorbehaltes sein soll.Ich freue mich daher darüber, dass der Vorbehaltmittlerweile bereits in mehreren Urteilen und Beschlüs-sen von Sozialgerichten für nicht mit dem Europarechtvereinbar bezeichnet wurde. Zudem sei der Vorbehaltnicht auf Staatsangehörige der Unterzeichnerstaatendes Europäischen Fürsorgeabkommens anwendbar. Ins-besondere vor dem Sozialgericht Berlin und dem Sozial-gericht Düsseldorf fielen hier mehrere Urteile. Aufmeine schriftliche Frage an das Bundesministerium fürArbeit und Soziales, wie die Bundesregierung diese Ur-teile bewertet, bekam ich als Antwort: „Die Bundesre-gierung geht davon aus, dass der Vorbehalt einerhöchstrichterlichen Nachprüfung standhält.“ Nun habeich großes Vertrauen in unsere juristischen Beamtinnenund Beamten in den Ministerien. Ich als Nichtjuristmöchte mir hier auch gar kein abschließendes Votum er-lauben, aber ich finde es durchaus bezeichnend, dassnoch kein einziges Verfahren zugunsten der Rechtsauf-fassung der Bundesregierung ausgegangen ist. Alle Ge-richte haben den Vorbehalt für nichtig erklärt; die Klä-ger erhalten wieder – wie zuvor – ihre Sozialleistungen.Ich begrüße diese juristischen Entscheidungen aus eu-ropa- und aus sozialpolitischer Sicht ausdrücklich.Mehrfach habe ich zudem das Bundesministerium fürArbeit und Soziales gefragt, wie viele Menschen eigent-lich von diesem Vorbehalt betroffen seien. Noch in derAusschussdrucksache 17(11)881 vom April wird erklärt,dazu lägen keine Daten vor. In der Antwort vom Septem-ber auf meine schriftliche Frage vom August wird dannangegeben, dass im Durchschnitt des Jahres 2011 rund529 000 Personen aus EFA-Staaten in Bedarfsgemein-schaften der Grundsicherung für Arbeitsuchende regis-triert gewesen seien. Darunter fallen jedoch auch vielePersonen, die aufgrund eines anderen Aufenthaltsstatusnicht vom EFA betroffen sind. Ich freue mich, dass esnun doch Zahlen aus dem Ministerium gibt, nachdemdies ja im April noch verneint wurde.Für mich als jemanden, der sich viel mit Migrationinnerhalb Europas beschäftigt, ist der Vorbehalt eintrauriges Beispiel dafür, wie die EU zurück in national-staatliche Regelungen fällt. In sehr vielen Drucksachender Europäischen Union, die ja auch im EuropäischenRat von der Bundesregierung mit beschlossen werden,wird immer wieder die Bedeutung von Mobilität inner-halb der EU hervorgehoben. Es wird betont, wie wichtigberufliche Erfahrungen im europäischen Ausland sind.Zudem wird Mobilität als ein Weg aus der Wirtschafts-krise gesehen. Man darf Mobilität meiner Meinung nachnicht überbewerten, denn wir werden wohl kaum nur mitmehr Mobilität alle Menschen in der EU in Arbeit brin-gen. Wir dürfen jedoch nicht national durch solche Vor-behalte die Mobilität behindern und den Menschen denEindruck vermitteln, sie seien bei uns nicht willkommen.Europaweit wird zudem immer wieder betont, wiewichtig das Zusammenwachsen auch in der Sozialpolitiksei. Es geht gar nicht darum, dass wir europaweit diegleiche Sozialpolitik machen. Aber es geht darum, dassunsere europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürgerwissen, dass sie sich in jedem Land auf das soziale Netzverlassen können. Die Bundesregierung konterkariertdiese Bestrebungen durch den Vorbehalt.Ich möchte noch auf eine weitere politische Debatteaufmerksam machen – die Diskussion über die Fach-kräfteentwicklung. Ich führe diese Debatte schon seitlangem, und ich gehöre gewiss nicht zu denen, die sofortnach Zuwanderung rufen. Es geht immer erst um Ausbil-dung derjenigen Menschen, die schon in Deutschland le-ben. Aber wir dürfen in Zeiten, in denen wir auch aufZuwanderung angewiesen sind, nicht mit solchen Signa-len das Gegenteil dessen bewirken, was mit der vielzi-tierten Willkommenskultur angestrebt wird. In Sonntags-reden wird betont, dass wir ein offener Staat mit einersolchen Willkommenskultur sein wollen – und unter derWoche wird dann ein Vorbehalt gegen das EuropäischeFürsorgeabkommen eingelegt. Das ermuntert sicherlichniemanden, unbedingt nach Deutschland kommen zuwollen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen undHerren von der Bundesregierung, die SPD-Fraktion un-terstützt aus sozial- und europapolitischer Sicht den An-trag der Grünen. Für den weiteren Gang vor den deut-schen Gerichten hoffe ich, dass der Vorbehalt weiterhinfür nichtig erklärt und dann vom BMAS aus Einsicht indie Gerichtsurteile abgeschafft wird.
Die Bundesregierung hat mit Wirkung zum 19. De-zember 2011 einen Vorbehalt zum Europäischen Fürsor-geabkommen erklärt.Damit macht die Bundesregierung von einer Mög-lichkeit Gebrauch, die ihr ausdrücklich zugestandenworden ist. Schon im Europäischen Fürsorgeabkommenist ja die Möglichkeit der Äußerung eines Vorbehalts inArt. 16 Buchstabe b gegeben. Daher macht der vonBündnis 90/Die Grünen vorgelegte Antrag aus diesemVorbehalt eine unnötig große Sache.Die positiven Möglichkeiten des europäischen Inte-grationsprozesses, nicht zuletzt die volle Arbeitnehmer-freizügigkeit für Menschen aus 25 Ländern der Europäi-schen Union, haben sich in den vergangenen Jahren inihrer Wirkung entfaltet. Für diejenigen Personen ausEU-Staaten, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit nutzenund sich in Deutschland aufhalten und arbeiten, beste-hen im Sozialgesetzbuch II seit Erklärung des Vorbe-halts wieder einheitliche Regelungen.Das Problem ist doch, dass das Europäische Fürsor-geabkommen, das lediglich 18 Staaten des Europaratsratifiziert haben, diesen Regelungen entgegensteht. Da-durch ergibt sich zwangsläufig eine Ungleichbehand-lung der in Deutschland lebenden EU-Bürger, derenLänder das Europäische Fürsorgeabkommen ratifiziertZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23567
Pascal Kober
(C)
(B)
haben und den EU-Bürgern aus Ländern, die es nichtratifiziert haben.Der Punkt ist doch der, dass das Europäische Fürsor-geabkommen, wenn es ohne Vorbehalt Geltung hätte, zueiner Privilegierung von EU-Bürgern gegenüber ande-ren EU-Bürgern aus Ländern, die das Europäische Für-sorgeabkommen nicht ratifiziert haben, führen würde.Diese Ungleichbehandlung entspricht jedoch nicht demVerständnis der christlich-liberalen Regierungskoali-tion vom europäischen Integrationsprozess.Während das Europäische Fürsorgeabkommen fürFranzosen, Italiener und Spanier Anwendung findensollte, hätte es für Polen und Tschechen nicht gegolten.Daher finde ich die Entscheidung der Bundesregierung,einen Vorbehalt einzulegen, nachvollziehbar und rich-tig.Mit dem erklärten Vorbehalt werden alle EU-Auslän-der wieder gleich behandelt, ganz egal ob er oder sieaus einem Unterzeichnerstaat des Europäischen Fürsor-geabkommens stammt oder nicht.Für alle gilt nun wieder: In den ersten drei Monatendes Aufenthalts besteht grundsätzlich kein Anspruch aufArbeitslosengeld II und, soweit der Aufenthalt alleindem Zwecke der Arbeitssuche dient, besteht auch überdiese Frist hinaus kein Anspruch auf Arbeitslosen-geld II. Dies halte ich für eine sinnvolle Regelung. Ichglaube auch nicht, dass die Erklärung des Vorbehaltsdie Anwerbung qualifizierter Fachkräfte unterläuft, wieSie dies in Ihrem Antrag schreiben.Ich finde es schon sehr bemerkenswert, dass Sie sichfür eine Regelung einsetzen, die Polen und Tschechendiskriminiert. Mit solchen Regelungen der Ungleichbe-handlung macht man keine Werbung für den Arbeits-markt in Deutschland.Sodann glaube ich nicht, dass wir mit der Vorbehalt-erklärung Fachkräfte fernhalten. Das wäre ja nur dannder Fall, wenn wir ihnen unterstellten, dass sie vonvornherein nach Deutschland kommen, um direktALG II zu erhalten. Das halte ich für lebensfremd. Ichgehe hingegen davon aus, dass Menschen, die als Fach-kräfte zu uns kommen, bereits einen Arbeitsvertrag ha-ben und nicht auf Sozialleistungen aus sind.Im Übrigen hat diese Bundesregierung eine Mengefür die Erleichterung der Zuwanderung nach Deutsch-land getan. Ich möchte an dieser Stelle nur an die Ein-führung der Bluecard für Hochqualifizierte erinnern.Die Bluecard können Hochschulabsolventen ausNicht-EU-Staaten erhalten, wenn sie einen Arbeitsver-trag mit einem Arbeitgeber in Deutschland vorlegen undein Gehalt von mehr als 44 800 Euro pro Jahr beziehen.In Berufen, in denen bereits jetzt Fachkräftemangelherrscht, beispielsweise bei Ärzten und Ingenieuren, be-trägt die Gehaltsschwelle knapp 35 000 Euro. Bei ent-sprechenden Deutschkenntnissen erhalten Inhaber derBluecard bereits nach 21 Beschäftigungsmonaten einedauerhafte Niederlassungserlaubnis in Deutschland.Das Gesetz erleichtert zudem die Beschäftigung aus-ländischer Studenten und ausländischer Absolventendeutscher Hochschulen. Die Suchphase, in der sie sichum eine adäquate Beschäftigung in Deutschland bemü-hen können, wird auf 18 Monate erweitert.Außerdem bietet das neu geschaffene sechsmonatigeAufenthaltsrecht zur Arbeitssuche gut ausgebildetenAkademikern aus dem Ausland einen stärkeren Anreiz,Karrierechancen in Deutschland zu suchen.Die Erklärung des Vorbehalts läuft daher gewissnicht den Maßnahmen der Bundesregierung zur Anwer-bung von Fachkräften und für eine Willkommenskulturin Deutschland entgegen.
Bereits im Jahr 1953 haben die Mitglieder des Euro-parates, der nicht identisch mit der heutigen Europäi-schen Union ist, das sogenannte Europäische Fürsorge-abkommen unterzeichnet. Ziel dieser Übereinkunft wardie Festlegung einer Gleichbehandlung der Staatsange-hörigen der beteiligten Länder; diese Menschen solltenin allen beteiligten Ländern dieselben Leistungen derFürsorge erhalten wie die jeweils einheimischen Ein-wohner und Einwohnerinnen.Bei Hartz IV regelt dagegen § 7 Abs. 1 Satz 2 desSozialgesetzbuches II einen Ausschluss von Leistungenfür Ausländerinnen und Ausländer sowie deren Fami-lienangehörige, da deren „Aufenthaltsrecht sich alleinaus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“. Das Bundes-sozialgericht hat im Oktober 2010 geurteilt, dass dieseEinschränkung gegenüber Personen, die unter denSchutz des Fürsorgeabkommens fallen, nicht greift. InReaktion auf diese BSG-Entscheidung hat die Bundesre-gierung im Dezember 2011 einen sogenannten Vorbehaltbeim Europarat angemeldet – mit der Absicht, dass Leis-tungen nach dem SGB II sowie Leistungen zur Überwin-dung besonderer Schwierigkeiten nach dem SGB XII– Sozialhilfe – von der Anwendung des Fürsorgeabkom-mens ausgenommen werden sollen.Wir als Linke kritisieren den durch die Bundesregie-rung ausgesprochenen Vorbehalt ausdrücklich. Die For-
Metadaten/Kopzeile:
23568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(C)
(B)
Das vorgebliche Anliegen der Bundesregierung, eineUngleichbehandlung von EU-Bürgerinnen und -Bürgerzu vermeiden – je nachdem, ob das jeweilige Land dasEFA unterzeichnet hat oder nicht –, ist lediglich vorge-schoben. Denn bereits aus dem bestehenden Unions-recht ergibt sich ein Leistungsanspruch auf Grundsiche-rungsleistungen für EU-Bürger. Ein Anspruch für alleEU-Bürger ist ebenfalls nach Ansicht vieler Sachkundi-ger seit dem 1. Mai 2010 unabhängig von dem EFAdirekt aus der EG Verordnung 883/2004 ableitbar. Auf-grund dieser Verordnung sprechen die Sozialgerichte zu-nehmend auch „nur arbeitsuchenden“ Unionsbürgerin-nen uneingeschränkte Alg-II-Ansprüche zu – damitentfällt eine wesentliche Begründung der Bundesregie-rung für ihren Vorbehalt. Selbst wenn die entsprechendeRechtsprechung hier noch uneinheitlich agiert, so folgtdaraus höchstens die die Forderung nach einer Klarstel-lung der Anspruchsberechtigung für alle EU-Bürgerin-nen und -Bürger.Am letzten Freitag wurde bekanntlich im Bundesratüber die Initiative von drei Bundesländern zur Rück-nahme des EFA-Vorbehalts abgestimmt. Leider fand sichhierfür im Plenum keine Mehrheit, aber bezeichnend istdoch, dass der Arbeits- und Sozialausschuss eine Zu-stimmung zu diesem Antrag empfohlen hatte, währendder Innenausschuss auf Ablehnung plädierte. DieseDominanz der innenpolitischen Hardliner in allen Fra-gen der Migration und Binnenwanderung muss endlichaufhören.Die Linke fordert daher: Ziehen Sie den Vorbehaltzum Europäischen Fürsorgeabkommen zurück! HandelnSie endlich europäisch und solidarisch!
Die schwarz-gelbe Bundesregierung legte im Dezem-ber 2011 einen Vorbehalt gegen das Europäische Für-sorgeabkommen, EFA, ein. Hiernach soll Zuwanderin-nen und Zuwanderern aus 14 EU-Ländern sowieNorwegen, Island und der Türkei, die ausschließlich zurArbeitsuche nach Deutschland kommen, fortan kein An-spruch mehr auf Leistungen der Grundsicherung für Ar-beitsuchende sowie Hilfen zur Überwindungbesonderer sozialer Schwierigkeiten
zustehen. Die Bundesagentur für Arbeit hat in der Folgeam 23. Februar 2012 eine Geschäftsanweisung erlas-sen, die den EFA-Angehörigen mit sofortiger WirkungSGB-II-Leistungen untersagt.
die Bundesregierung die Einlegung des Vorbehaltsmit der Ungleichbehandlung von Unionsbürgerinnenund -bürgern gegenüber Angehörigen der EFA-Staaten.So hätten arbeitsuchende Angehörige aus Ländern derEuropäischen Union im Gegensatz zu Angehörigen ausEFA-Staaten keinen Anspruch auf SGB-II-Leistungen.Künftig sollten daher ausnahmslos alle Staatsangehö-rige, die sich allein zum Zweck der Arbeitsuche inDeutschland aufhalten, vom Leistungsausschluss betrof-fen sein. In der Praxis ist es nun unterschiedlich, wie mitden betroffenen Menschen verfahren wird. WährendBerlin den Personen einen grundsätzlichen Anspruchauf Sozialhilfeleistungen gewährt, soll der DeutscheStädtetag nach Informationen der Diakonie Freiburgder Bundesregierung bereits signalisiert haben, dasshier keine Zuständigkeit gesehen wird.Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierungauf, den Vorbehalt zurückzunehmen. Dies ist aus mehre-ren Gründen geboten: Zuerst einmal verstößt die Notifi-kation des Vorbehalts gegen das Völkerrecht. Ein Sach-standsbericht des Wissenschaftlichen Dienstes desDeutschen Bundestages verdeutlicht, dass Vorbehaltenur dann im Einklang mit der Wiener Vertragsstaaten-konvention sowie dem EFA sind, sofern es sich um„neue“ Gesetze handelt, die von den Vertragsstaatenangezeigt werden müssen. Da es sich im aktuellen Fallaber weder um ein neues Gesetz noch um eine Recht-sprechung handelt, die die gerichtlich festgestellteRechtslage verändert, hätte die Einlegung des Vorbe-halts unserer Überzeugung nach nicht stattfinden dür-fen.Hinzuweisen ist zudem darauf, dass die Bundesregie-rung weder Bundestag noch dem Bundesrat über dieEinlegung des Vorbehalts informiert hat. Schon aus demGrundsatz der Organtreue wird man daher in derartigenKonstellationen eine Pflicht der Bundesregierung ablei-ten müssen, die Gesetzgebungsorgane rechtzeitig vorEinlegung des Vorbehaltes zu informieren, damit diesegegebenenfalls entsprechende Gegenmaßnahmen einlei-ten können.Insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass der Vor-behalt zu einer Verschiebung von Kosten zwischen Bundund Ländern bzw. Kommunen führt, ist die Nichtbeteili-gung der Länderkammer zu kritisieren. Soweit SGB-II-Leistungen versagt werden, geht dies zulasten der Län-der und insbesondere der Kommunen, da der Aufenthaltder betroffenen Unionsbürgerinnen und -bürger regel-mäßig nicht beendet werden kann und Länder und ins-besondere die Kommunen die Finanzierungslast der an-deren infrage kommenden Leistungen trifft.Auch das Bayerische Landessozialgericht hält denvon der Bundesregierung erklärten Vorbehalt zum Euro-päischen Fürsorgeabkommen für nicht wirksam
neue Rechtsvorschrift im Sinne von Art. 16 Buchstabe bEFA handelt. Außerdem hätte an der entsprechendenEntscheidung der Bundestag gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1Grundgesetz beteiligt werden müssen.Das Sozialgericht Berlin kommt in seinem Beschluss
zu der Auffassung,
dass der Vorbehalt in innerstaatliches Recht transfor-miert werden müsste. Mangels gesetzlicher Grundlagedes erklärten Vorbehalts bestehe für das Gericht keineBindung an diesen Vorbehalt. So heißt es: „Er ist auchnicht durch bundesdeutsches Parlamentsgesetz inner-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23569
Markus Kurth
(C)
(B)
staatlich wirksam gemacht worden. Zur Überzeugungder Kammer ist zur Wirksamkeit dieses Vorbehaltesjedoch ein bundesdeutsches Parlamentsgesetz erforder-lich, zumindest im Sinne einer Ermächtigung für dieErklärung eines entsprechenden Vorbehalts.“Der Deutsche Anwaltverein appelliert in seiner Stel-lungnahme des Ausschusses Ausländer- und Asylrechtan die Bundesregierung, den am 15. Dezember 2011 er-klärten Vorbehalt zur Anwendung des SGB II auf dieStaatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten des EFAzurückzunehmen. Dies sei insbesondere vor dem Hinter-grund des Grundsatzes der gegenseitigen finanziellenSolidarität der Mitgliedstaaten geboten.Die Bundesregierung hat mit der Einlegung des Vor-behalts außerdem einen zentralen und wichtigen Grund-satz – die gegenseitige europäische Solidarität – ange-griffen. Anstatt, wie überwiegend in der Literaturvertreten, die hiesige Sozialgesetzgebung europarechts-konform auszugestalten, um allen ernsthaft und nach-weislich arbeitsuchenden Unionsbürgerinnen und -bür-gern entsprechende SGB-II-Leistungen zukommen zulassen, nimmt die Bundesregierung mit der Einlegungdes Vorbehalts eine Anpassung nach unten vor. DieserSchritt ist das Gegenteil einer allgemein angestrebtenWillkommenskultur zur Anwerbung qualifizierter Fach-kräfte.Es entbehrt dabei jeglicher Grundlage, den grund-sätzlichen SGB-II-Anspruch für alle arbeitsuchendenUnionsbürgerinnen und -bürger mit einer Einladung zurEinwanderung in die Sozialsysteme gleichzusetzen.So hat sich nach Angaben der Bundesagentur fürArbeit, BA, die Zahl der arbeitsuchenden Ausländerin-nen und Ausländer trotz des Urteils des Bundesozial-gerichts aus dem Jahr 2010 und der seit Mai 2011 gel-tenden Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht verändert. Rund10 000 Personen einschließlich Familienangehörigekommen monatlich zur Arbeitsuche nach Deutschland.Aktuelle Ergebnisse einer Untersuchung des Institutszur Zukunft der Arbeit ergeben, dass öffentliche Hilfen
die Migrationsentschei-
dung potenzieller Zuwanderer nicht beeinflussen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/9474, den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9036
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Tagesordnungspunkt 32:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher
Vorschriften
– Drucksache 17/10754 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Mit dem Beschluss des Kabinetts vom 29. August2012 zur Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes wurdeein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Energiewendegegangen. Es ist nicht nur ein klares Bekenntnis für dieWindenergie auf See, sondern verdeutlicht auch unserumfassendes energiepolitisches Handeln.Zu oft hört man in den Debatten der letzten Monate,dass man am besten auf die Offshorewindenergie ver-zichten sollte, da diese Technologie zu teuer und risiko-reich sei. Das ist falsch. Wir brauchen für die Energie-wende alle erneuerbaren Energieträger: von der Photo-voltaik bis zur Windenergie auf der See.Es ist richtig, die Offshorewindenergie auszubauen,da die See mit ihren beständigen Winden ein Topstandortfür unsere künftige Stromversorgung ist. Denn mit4 000 Volllaststunden ist die Offshorewindenergie dop-
Die See ermöglicht auch den Einsatz großer Windkraft-anlagen mit einer Leistung von bis zu 5 Megawatt .Dieses hohe Potenzial macht die Offshorewindenergiezu einer starken Säule der Energiewende.Das haben nicht nur wir erkannt, sondern auch eineVielzahl von Unternehmen, von den Stadtwerken überHedgefonds bis hin zu den großen Energieversorgern,die sich am Aufbau der Offshorewindenergie beteiligen.Ohne dieses Engagement sowie die richtigen Rahmen-bedingungen werden wir unsere gemeinsam beschlosse-nen Ausbauziele von 25 000 MW Offshorewindenergie imJahre 2030 nicht erreichen. Diese ambitionierten Zielset-zungen bieten sowohl dem Wirtschafts- als auch demEnergiewendestandort Deutschland ein hohes Potenzial.Deutschland kann in dieser Technologie führend werden.Beim Umsetzen der ambitionierten Ausbaupläne andererStaaten sind schon heute viele deutsche Unternehmen anProjekten beteiligt. Diese Erfolgsgeschichte möchtenwir fortsetzen.Wir sind noch am Anfang der technologischen Ent-wicklung der Offshorewindenergie. Mangelnde Erfah-rungswerte erhöhen das Investitionsrisiko. Deshalb wares uns als Regierungskoalition wichtig, stärkere Anreizezu setzen, um mehr Investitionen auszulösen.So haben wir schon im vergangenen Jahr im Rahmender EEG-Novelle die Finanzierung der Offshorewind-energie verbessert. Um Investitionen zu erleichtern,wurde das sogenannte Stauchungsmodell eingeführt,das alternativ zur bisherigen Regelung gewählt werdenkann. Nach diesem Modell wird für einen kürzeren Zeit-raum eine höhere Anfangsvergütung gewährt.Auch haben wird das Kreditprogramm „Offshore-Windenergie“ der Kreditanstalt für Wiederaufbau, KfW,Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Thomas Bareiß
(C)
(B)
auf den Weg gebracht. Dort werden insgesamt 5 Milliar-den Euro Kreditvolumen für die Finanzierung von bis zuzehn Offshorewindparks bereitgestellt. Dadurch wird In-vestoren ermöglicht, die hohen Finanzierungsvoluminaam Kapitalmarkt aufzubringen.Neben diesen Maßnahmen ist das jetzige Gesetzes-vorhaben ein weiterer wichtiger Baustein für mehrWindenergie. Mit dem im Gesetzentwurf vorgesehenenSystemwechsel möchten wir verhindern, dass hochmo-derne Windanlagen betriebsbereit im Meer stehen, aberder passende Anschluss für die Stromweiterleitung fehlt.Oder dass die Seekabel gelegt sind, aber die Windrädernicht stehen. Dies verursacht bei allen Beteiligten unnö-tige Zusatzkosten und bremst den Ausbau der Off-shorewindenergie.Durch die Einführung eines verbindlichen Offshore-netzentwicklungsplans möchten wir erstmals einen Netz-ausbauplan einführen. Dieser wird Netzanbindungenund Offshorewindparks zukünftig besser koordinieren.Er soll den Realisierungszeitpunkt sowie Ort und Größezukünftiger Netzanschlüsse verbindlich festgelegen, umeine bessere Abstimmung mit dem Onshorenetzausbauzu erreichen.Darüber hinaus wird mit der EnWG-Novelle eineHaftungsregelung für Verzögerungen bei der Errichtungund Störungen beim Betrieb von Offshorenetzanbin-dungsleitungen eingeführt. Dies ist eine dringend not-wendige Regelung, da anderenfalls das Investitionsri-siko so hoch wäre, dass der Ausbau der Offshore-windenergie zum Erliegen kommt. Die Schadenssummensollen deswegen bis auf einen Eigenanteil von 100 Mil-lionen Euro zum Großteil über eine Umlage gewälztwerden, die die Stromverbraucher zahlen.Im Gegensatz zu der EEG-Umlage, für die die Ver-braucher 3,59 Cent pro Kilowattstunde zahlen, sindaber die Mehrkosten für diese Haftung gedeckelt und so-mit überschaubar. Auf die Stromkunden sollen maximal0,25 Cent je Kilowattstunde umgelegt werden, auf großeStromverbraucher – mit mehr als 100 000 Kilowattstun-den pro Jahr – nur maximal 0,05 Cent.Mit diesen Regelungen schaffen wir also, sowohl denAusbau der Offshorewindenergie zu beschleunigen, alsauch die Kosten für den Verbraucher zu begrenzen.Der Ausbau der Offshorewindenergie lohnt sich. Es isteine Energietechnologie mit Zukunft. So kann sie zur ver-lässlichen Säule unserer Energieversorgung werden wieauch zum Exportschlager für die heimische Offshore-industrie.Wo andere schon mit Wahlkampfgetöse beginnen, ge-hen wir Schritt für Schritt voran in Richtung Energie-wende.
Windenergie ist eine wichtige Säule beim Umbau derEnergieversorgung in Deutschland. Onshore und off-shore produzierte Windenergie wird künftig einen wichti-gen Teil der Stromversorgung ausmachen. Wir brauchendie Windenergie, um die Energiewende zu schaffen.Bisher ist der Ausbau der Offshorewindenergie abernicht wie geplant vorangekommen. Es besteht die Ge-fahr, dass er auch weiterhin stocken wird. Wie die Ver-gangenheit gezeigt hat, haben Übertragungsnetzbetrei-ber häufig Probleme damit, eine rechtzeitige Anbindungvon OWPs an das Netz sicherzustellen. Das kann sowohlauf Seite eines Offshorewindparkbetreibers als auch ei-nes Übertragungsnetzbetreibers hohe Risiken bergen:Offshorewindparkbetreibern entgeht zum Beispiel dieEEG-Vergütung, die sie bei rechtzeitiger Anbindung fürden eingespeisten Strom bekommen würden, sie erleidenZinsverluste oder zahlen Instandhaltungskosten für denfertigen Windpark auf See. Übertragungsnetzbetreibersehen sich einem großen Haftungsrisiko ausgesetzt,wenn sie gegen ihre gesetzliche Anbindungsverpflich-tung verstoßen und den Windparkbetreiber eigentlichentschädigen müssten. Das könnte nicht nur zu Liquidi-tätsengpässen, sondern auch zu einer Zurückhaltung beineuen Investitionsentscheidungen führen.Es ist daher gut, dass der vorliegende Gesetzentwurfjetzt verlässliche Rahmenbedingungen schafft. Bei derNetzplanung für die Anbindung von Offshorewindparksvollziehen wir einen Systemwechsel, der angesichts derAkteure im Offshorebereich unproblematisch, ja gebotenist. Wir gehen weg von einem individuellen Anbindungs-anspruch hin zu einem Offshorenetzentwicklungsplan.Dieser jährlich von den Übertragungsnetzbetreibernvorzulegende Plan soll künftig alle Maßnahmen zumbedarfsgerechten Ausbau der Offshoreanbindungslei-tungen aufzeigen. Zudem soll er die Zeitpunkte für denBaubeginn und die Fertigstellung durch den Übertra-gungsnetzbetreiber festschreiben. Das verschafft ihnenund den Offshorewindparkbetreibern größere Planungs-sicherheit, denn beide können sich künftig besser zeitlichaufeinander einstellen.Mit diesem Systemwechsel wollen wir erreichen, dasseine Haftungssituation gar nicht erst entsteht, da diebisherigen zeitlichen Diskrepanzen zwischen Fertigstel-lung des Windparks und des Netzes vermindert oder garvermieden werden können. Trotzdem ist es wichtig, dienach bisheriger Rechtslage noch offenen Haftungsfragenbei Verzögerung oder Störung der Anbindung eines Off-shorewindparks an das Übertragungsnetz zu klären.Der vorliegende Entwurf sieht vor, dass der Übertra-gungsnetzbetreiber für Verspätungen oder Störungennun grundsätzlich entschädigungspflichtig ist. Es stimmtnatürlich: Die Kosten der Entschädigung kann er ab-hängig von seinem Verschuldensgrad über eine Entschä-digungsumlage auf die Verbraucher abwälzen. Diesemüssen dann höhere Netzentgelte zahlen. Allerdings istdiese Wälzungsmöglichkeit eben vom Verschuldensgradabhängig, was verhindert, dass der Übertragungsnetz-betreiber sich aus der Affäre ziehen kann. Um aber auchwirtschaftliches Risiko bei den Offshorewindparkbetrei-bern zu belassen, haben diese einen bestimmten Selbst-behalt bei den entstandenen Schäden zu tragen. Das er-höht den Abstimmungsdruck.Mit diesen Regelungen geben wir Windparkinvesto-ren und Übertragungsnetzbetreibern die notwendige Si-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23571
Dr. Georg Nüßlein
(C)
(B)
cherheit für den weiteren Ausbau der Offshorewindener-gie.Insgesamt: Vor dem Hintergrund der ohnehin bereitshohen Belastungen der Verbraucher durch die Energie-wende müssen wir die Kosten für sie bei jedem Gesetzes-vorhaben im Auge behalten, so auch bei dem vorliegen-den Entwurf. Unsere privaten und gewerblichenVerbraucher dürfen durch die Haftungsregelungen nichtüber Gebühr belastet werden. Vor allem müssen wir da-rauf achten, dass es nicht zu einem Missverhältnis vonKompetenzen und Verantwortlichkeiten kommt.Vielerorts stellt sich – zu Recht – die grundsätzlicheFrage, warum der Verbraucher überhaupt dafür be-langt werden soll, wenn ein Netzbetreiber seine Anbin-dungspflicht nicht erfüllt. Die Netzbetreiber führen hierimmer wieder gerne das Argument ins Feld, dass Ver-spätungen häufig dadurch zustande kommen, dass ihreZulieferer sie nicht rechtzeitig beliefern. Das mag jasein. Richtig ist es aber eigentlich nicht, dass der Ver-braucher dafür geradestehen muss. Denn er kann ersteinmal nichts dafür, wenn der Netzbetreiber – aus wel-chen Gründen auch immer – seine Anbindung nichtrechtzeitig bewerkstelligt.Die in dem Entwurf vorgesehenen Haftungsregelun-gen müssen wir deshalb intensiv auf die Frage der Ver-antwortlichkeiten der Übertragungsnetz- und Off-shorewindparkbetreiber prüfen und sie mit den darausresultierenden Belastungen für die Verbraucher genauaustarieren. Der vorgesehene Ansatz, die aus den Haf-tungsregeln entstehenden Belastungen in ihrer Höhe zubegrenzen und zu verteilen, geht sicherlich in die rich-tige Richtung, schließlich müssen wir Investitionshemm-nisse beseitigen, und dazu gehören auch unproportio-nale Risiken. Gegebenenfalls müssen wir hier abernachbessern.Wichtig ist auch, dass Kostenkontrolle und -transpa-renz sichergestellt werden. Denn nur wenn die Verbrau-cher wissen, was sie wofür bezahlen, werden sie die fürdie Energiewende notwendigen Maßnahmen mittragen.Auch hier zeigt der vorliegende Entwurf vernünftige An-sätze mit einer Pflicht zur Dokumentation und Veröffent-lichung von Schadensfällen und Maßnahmen zur Scha-densminderung. Gut ist auch, dass die resultierendenUmlagen transparent gemacht werden sollen.Wir brauchen die Windenergie auf See und an Land.Der vorliegende Entwurf zeigt erste gute Ansätze auf,wie verlässliche Rahmenbedingungen geschaffen wer-den können, um den Ausbau der Offshorewindenergieweiter voranzubringen. Das ist gut und auch dringendnotwendig, um unsere energiepolitischen Ziele zu errei-chen.Lassen Sie uns den Weg in das Zeitalter der regenera-tiven Energie konsequent weitergehen!
Wieder einmal befasst sich der Deutsche Bundestagmit Reparaturen an der Energiepolitik der schwarz-gel-ben Bundesregierung. Ob drei EEG-Novellen innerhalbvon drei Jahren oder die heute diskutierte Investitions-sicherheit für Betreiber von Offshorewindparks undNetzbetreiber – es fehlt an Plänen, Absprachen und Vor-stellungen. Die aktuelle Debatte über Maßnahmen undderen Finanzierung zur Beschleunigung des Ausbausder Offshorewindenergie zeigt einmal mehr, dass die voreinem Jahr in panischer Eile beschlossenen Gesetze zurEnergiewende nicht nur handwerklich schlecht sind,sondern eine praktische Realisierung der Energiewendebehindern. Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion be-reits im Juni letzten Jahres dafür plädiert, die parlamen-tarischen Beratungen zum Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG, und zum Energiewirtschaftsgesetz, EnWG,mit der gebotenen Sorgfalt zu führen und nicht innerhalbvon sechs Wochen ohne Rücksicht auf Verluste durch denBundestag zu peitschen. Eine stärkere Unterstützung dererprobten Windenergie an Land und genügend Zeit zumAusbau der Offshorewindenergie wären richtig gewe-sen.Auch am heute zu beratenden Gesetzentwurf der Bun-desregierung besteht noch weitreichender Änderungsbe-darf. Auch wir sehen die Notwendigkeit, die aufgeworfe-nen Haftungsfragen derart zu beantworten, dassInvestitionen in Offshorewindparks erfolgen und auchdie Netzbetreiber nicht in den Ruin getrieben werden.Gleichzeitig braucht es in einem solchen Gesetz aberauch Anreize für die betreffenden Akteure, die Risiken soweit wie möglich zu mindern. Gerade wenn möglicheSchadenersatzforderungen der Windparkbetreiber ge-genüber den Netzbetreibern von der Allgemeinheit ab-gefedert werden, müssen auf allen Stufen des Baus derWindparks und des Netzanschlusses sorgfältig Vorkeh-rungen getroffen werden, damit der Schadensfall mög-lichst gar nicht erst eintritt. Hierzu zählen auch Anreizefür ein volkswirtschaftlich sinnvolles Verhalten derÜbertragungsnetzbetreiber bei der Wartung. Dies be-deutet, dass mögliche Störungsfälle genutzt werden, umgleichzeitig nötige Wartungsarbeiten vorzuziehen. Hier-durch würde die potenzielle Ausfallzeit der Stromleitungverringert.Noch ein weiterer Aspekt muss gründlich nachgebes-sert werden: Der vorliegende Gesetzentwurf gewährleis-tet nicht für alle fortentwickelten Windparkprojekte dennotwendigen Vertrauensschutz. Denn der Gesetzentwurfsieht vor, dass nur solche Projekte noch einen Anspruchauf eine unbedingte Netzanbindungszusage haben, diebis 1. September dieses Jahres die Voraussetzungen zurErlangung dieser Zusage nachweisen konnten. Hierbeiwird vergessen, dass diese Frist zur Entlastung des zu-ständigen Netzbetreibers und mit Genehmigung der Bun-desnetzagentur bei einigen Projekten nach hinten ver-schoben wurde. Wenn auch diese Windparks erst eineNetzanbindungszusage auf Grundlage des zu entwi-ckelnden Offshorenetzplans erhalten sollen, stehen In-vestitionsentscheidungen in Milliardenhöhe auf derKippe. Deshalb brauchen wir an dieser Stelle einenStichtag für die Gewährung der Übergangsregelung, derdie nötige Planungs- und Investitionssicherheit wieder-herstellt.Ich möchte noch auf einen weiteren wichtigen Punkthinweisen, der in der schwarz-gelben Kakofonie in derEnergiepolitik untergeht: Der in Offshorewindenergie-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23572 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Rolf Hempelmann
(C)
(B)
anlagen erzeugte Strom kann nur einen Beitrag zur Ver-sorgungssicherheit des Landes leisten, wenn der Ausbauder Übertragungs- und Verteilnetze vorangeht. Regel-mäßig stellt die Bundesnetzagentur fest, dass selbst derAusbau der vor drei Jahren im Energieleitungsausbau-gesetz festgeschriebenen Stromtrassen nicht voran-kommt. Der zur Systemintegration der erneuerbarenEnergien notwendige Ausbau der Verteilnetze findet beider Bundesregierung gar keine Beachtung.Weitere Schwerpunkte der anstehenden EnWG-Novelle betreffen die Vermeidung der endgültigen Still-legung systemrelevanter Kraftwerke sowie die bessereVerzahnung der Strom- und Gasversorgung. Gerade dievorgesehene Verpflichtung zum Weiterbetrieb einesKraftwerks muss rechtssicher ausgestaltet sein, handeltes sich hierbei doch um einen Eingriff in die Eigentums-rechte des Anlagenbetreibers. In diesem Zusammenhangmüssen wir auch mögliche Mitnahmeeffekte vermeiden,damit nicht schon die reine Ankündigung, ein systemre-levantes Kraftwerk stillzulegen, zu einem Geschäft wird.Hierzu sind Regelungen denkbar, dass das betreffendeKraftwerk nach Ablauf der festgelegten zusätzlichen Be-triebszeit wirklich stillzulegen ist oder die geleistetenEntschädigungszahlungen komplett und verzinst zurück-zuzahlen sind. Darüber hinaus müssen wir auch die vor-geschlagenen Regelungen zur Sicherung der Gasversor-gung der Kraftwerke genau auf ihre Umsetzbarkeitüberprüfen.Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich in die anste-henden parlamentarischen Beratungen zur Weiterent-wicklung des Energiewirtschaftsgesetzes konstruktiveinbringen. Die vom Wirtschaftsausschuss beschlosseneAnhörung sollten wir nutzen, um die von mir angespro-chenen Vorhaben und Sachverhalte rechtssicher undwirksam umzusetzen. Denn wir alle hier tragen Verant-wortung dafür, dass Deutschland auch zukünftig unterfür die Betreiber von Erzeugungsanlagen verlässlichenRahmenbedingungen und mit bezahlbaren Preisen fürHaushalte und Unternehmen sicher mit Strom versorgtwerden kann.
Mit dem Energiekonzept der Bundesregierung haben
wir uns zum Umbau der Energieversorgung in Deutsch-
land bekannt. Es ist unser gemeinsames Ziel, den Anteil
von Braunkohle, Steinkohle und Kernenergie an unse-
rem Energiemix zu verringern. Ebenso wollen wir ge-
meinsam den Anteil von Biomasse, Wasserkraft und Wind-
kraft ausbauen, sodass sie gemeinsam mit der Photo-
voltaik und der Geothermie bis zum Jahr 2050 rund
80 Prozent der Stromversorgung in Deutschland überneh-
men.
Aus Gründen der Effizienz kommt der Windenergie in
unserem Energiemix der Zukunft eine zentrale Rolle zu.
Einen großen Teil unseres Stroms aus der Windenergie
wollen wir offshore, das heißt draußen in Nord- und Ost-
see, „ernten“. Die Schwierigkeit an der Sache: Gerade
in der Nordsee, wo der Großteil der Parks geplant ist,
sind die Claims sehr weit draußen, oft über 100 Kilome-
ter, im offenen Meer. Bei einer konventionellen Wechsel-
stromübertragung sind hohe Stromverluste über solch
große Distanzen unvermeidbar.
Als Alternative bleibt uns alleine die Gleichstrom-
übertragung. Die Herausforderung dabei aber ist, dass
uns die notwendigen Erfahrungen im Umgang mit dieser
neuen Technologie fehlen, besonders auf dem Meeresbo-
den: Dort müssen Kabel zum Schutz vor Ankern oder an-
deren Störungen metertief eingespült werden. Ebenso
fehlen uns Erfahrungen knapp über dem Meeresspiegel:
Dorthin müssen neue Umspannstationen erst transpor-
tiert werden, und dann müssen sie dort für die kommen-
den zwei Jahrzehnte Wind, Wetter und Salz trotzen.
Wir haben es mit einer vollkommen neuen Technolo-
gie zu tun: Der Ansatz, möglichst schnell möglichst viel
Offshorewindkraft zu installieren, ging an der Realität
vorbei. Das zeigt uns die Situation heute!
Erstens. Die Unternehmen haben nur sehr enge Zeit-
fenster, während derer an den Anschlüssen gearbeitet
werden kann. Die Auftragnehmer für den Bau solcher
Anlagen stehen unter einem extremen Wettereinfluss.
Zweitens. Einige Offshorewindparks könnten schon
Strom produzieren; allerdings sind Anschlüsse für eine
Einspeisung in das Übertragungsnetz noch nicht fertig-
gestellt.
Drittens. Die schnelle Nachfrage nach Umspannsta-
tionen steht in einem Markt nur zwei Anbietern gegen-
über. Liefervereinbarungen können zeitlich oft nicht
eingehalten werden. Dadurch entstehen Windpark-
betreibern teils große Schäden. Je nach Größe eines
Parks können das bis zu 750 000 Euro pro Tag sein.
Diese Risiken bedrohen den Erfolg der Energie-
wende. Investoren brauchen Planungssicherheit! Sonst
werden wir unsere Offshorewindkraftausbauziele nicht
erreichen.
Für ein Gelingen der Energiewende möchten wir
Windparkbetreiber daher entschädigen. Die uns vorlie-
gende Neuregelung legt fest, wie das geschehen soll, und
sie legt fest, bis zu welcher Höhe des Ausfalls der Netz-
betreiber haften muss, ebenso wie die Summe, ab der es
für einen Netzbetreiber unmöglich wird, weiter zu be-
zahlen, und der Verbraucher für die Ziele der Energie-
wende seinen Beitrag leisten muss. Zusätzlich verpflich-
ten wir die Übertragungsnetzbetreiber, jährlich einen
Offshorenetzentwicklungsplan vorzulegen. Auch damit
schaffen wir mehr Planungssicherheit, insbesondere für
private Investoren, die wir für die Offshorewindkraft und
auch für die Energiewende dringend brauchen.
Die von der Bundesregierung privilegierte Off-shorewindkraft will nicht so richtig in Gang kommenund hinkt den anvisierten Ausbauzielen weit hinterher.Nun meint die Bundesregierung, das Problem in denHaftungsrisiken der Netzbetreiber entdeckt zu haben,weshalb es diesen schwerfalle, Investoren zu gewinnen.Ihre Schlussfolgerung: Die Stromverbraucher sollen dasRisiko tragen.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23573
Johanna Voß
(C)
(B)
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll also Tempogemacht werden für den Ausbau der Offshorewindener-gie. Hierfür sollen die Haftung für nicht rechtzeitigfertiggestellte Anbindungen der Windparks an das Ener-gienetz auf die Verbraucher abgewälzt sowie einOffshorenetzentwicklungsplan erstellt werden. Künftigsollen also die Stromverbraucher dafür zahlen, wenn dieWindparks nicht rechtzeitig angeschlossen werden – diesatte Rendite von über 9 Prozent nach Abschluss der An-bindung kassieren dann aber die Netzbetreiber. Gewinneprivatisieren, Risiken sozialisieren ist also auch hier dasMotto der Bundesregierung. Das ist doch absurd: Fürdie Risiken zahlt der Stromkunde, damit die Konzernesatte Gewinne machen können. Und wie geht das dochso schön: Großkunden werden wieder einmal von derUmlage befreit.Da diese Haftungsabwälzung auch noch rückwirkendfür bereits durch die Netzbetreiber gemachte Anschluss-zusagen gelten soll, ist bereits heute klar, dass dieseRegelung Milliarden Euro an Kosten auf die Verbrau-cher abwälzt.Wenn man auf den massiven Ausbau derOffshorewindenergie setzen will, dann macht der imGesetzentwurf vorgesehene Offshorenetzentwicklungs-plan Sinn. Aber diese Übersubventionierung derOffshorewindenergie muss grundsätzlich hinterfragtwerden. Offshorewindenergie ist teuer im Vergleich zuanderen erneuerbaren Energieträgern. Sie erfordertzusätzlich hohe Netzausbaukosten für Stromleitungenbis zur Küste und von Nord nach Süd, zementiert diezentralisierte Struktur der Stromproduktion in Deutsch-land und dient vor allem den großen Energiekonzernen.Während die Einspeisevergütung für Offshorewind-energie wahlweise 15 oder 19 Cent je Kilowattstundebeträgt, so liegt sie bei Onshorewindenergie bei8,93 Cent. Rechnet man Folgekosten wie die höherenKosten für Stromleitungen mit, dann betragen die Kos-ten für verbrauchernahe Onshorewindenergie nur einViertel der Kosten von Offshoreanlagen. Die dezentraleVersorgung mit erneuerbaren Energien erspart uns nichtnur manche Großinvestition, sie ist nicht nur billigerund mit weniger Risiken verbunden, sie kann auch denMittelstand stärken, mehr Arbeitsplätze bringen und zurDemokratisierung der Energieversorgung beitragen –alles in allem eine wünschenswerte Entwicklung.Stattdessen orientiert sich die Bundesregierung wei-ter an alten, ineffizienten und gesellschaftlich teurenInteressen privater Konzerne, fördert weiterhin vor al-lem zentrale Offshoreparks und andere Großprojekteund erlegt jetzt wieder einmal Kosten der Energiewendeeinseitig den Verbrauchern auf.Die Bundesregierung muss von ihrer Fixierung aufgroße Offshoreparks abrücken, denn Onshorewindparkssind günstiger und können dort gebaut werden, wo derStrom auch gebraucht wird. Die Zukunft der Energie-versorgung ist dezentral.Statt die Verbraucher einseitig für das Unterneh-mensrisiko zahlen zu lassen, muss die Bundesregierungendlich ihre dogmatische Haltung hinsichtlich derStromnetze ablegen. Bei natürlichen Monopolen wie denStromnetzen, bei denen es keinen echten Wettbewerbgeben kann, gehen privatwirtschaftliche Lösungen zu-lasten der Verbraucher. Gerade in einem für die Ener-giewende und damit für die Zukunft so zentralen Bereichdarf man sich nicht auf den guten Willen der Unterneh-men verlassen. Darüber hinaus muss eine Bundesnetz-gesellschaft her, damit die Kosten zwischen Bundeslän-dern gerecht verteilt werden und nicht die Bürger vonBundesländern mit einem hohen Anteil erneuerbarerEnergien stärker belastet werden als andere. Die Netzegehören in die öffentliche Hand!
Heue legt uns die Bundesregierung den Entwurf einerÄnderung des Energiewirtschaftsgesetzes vor, der nichtsanderes ist als der hilflose Versuch einer Notoperation,um den praktisch nicht stattfindenden Offshoreausbauvielleicht doch noch zu retten. Es ist wie auf fast allenFeldern der Energiepolitik: Die Bundesregierung flick-schustert nur noch herum und versucht, ihr eigenes Ver-sagen irgendwie zu korrigieren.Dabei ist das Offshoreproblem sei Jahren bekannt:Netzbetreiber genauso wie die Betreiber der Off-shorewindparks haben immer wieder darauf hingewie-sen, dass es einer Synchronisation und Steuerung desBaus der Windparks und der Netze auf dem Meer bedarf.Doch die zuständigen Minister von Brüderle über Röslerbis Röttgen haben sich schlichtweg nicht darum geküm-mert, weil es ein schwieriges Thema ist, das keine tollenSchlagzeilen produziert. Geschehen ist nichts, als manhätte handeln müssen und können.Jetzt, wo der Karren vor die Wand gefahren ist unddie Probleme nicht mehr weggedrückt werden können,versucht man den Rheinischen Klüngel in Gesetzesformzu gießen: Drei – Bundesregierung, Netzbetreiber undWindparkbetreiber – verständigen sich auf Kosten einesVierten, nämlich der privaten Stromverbraucher. Die In-dustrie soll wie immer aufgenommen werden.Das geht so nicht. Wenn Sie schon die Stromverbrau-cher für Ihre Fehler zahlen lassen – das ist schon ver-werflich genug –, dann verteilen Sie wenigstens die Las-ten fair.Verbraucherschutzministerin Aigner hat sich völligzu Recht über die Mehrbelastungen der Privathaushaltedurch die Regelung beschwert. Das Ergebnis dieses Ko-alitionskrachs ist nun wieder typisch schwarz-gelb: DiePrivatverbraucher werden weiterhin alleine belastet,aber die Haftungsregelung wurde so verändert, dass esüberhaupt nicht hilft, den Netzanschluss der Windparksauf See voranzubringen. Das jedenfalls hören wir imMoment von Beteiligten, und das ist nun Absurdistan imQuadrat: Rheinischer Klüngel zulasten der privatenStromverbraucher, und gar keiner hat etwas davon.Im vorliegenden Gesetzentwurf ist nun unter anderemfestgeschrieben, dass die Übertragungsnetzbetreiberjährlich einen Offshorenetzentwicklungsplan vorlegenmüssen sowie eine verbindliche Mitteilung des Netzan-schlusses für den Betreiber machen müssen, der 30 Mo-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23574 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Oliver Krischer
(C)
(B)
nate vor Fertigstellung nicht mehr geändert werdenkann und somit zu einer größeren Investitionssicherheitfür die Offshorewindparkbetreiber führt. Um dies zu er-reichen, soll es zudem neue Haftungsregeln geben, fürden Fall von Verzögerungen und Pannen beim An-schluss von Offshorewindparks auf hoher See. Bei derEntschädigung ist eine Selbstbeteiligung je nach Scha-denshöhe der Übertragungsnetzbetreiber vorgesehen,wenn es zu fahrlässig verursachten Netzunterbrechun-gen bzw. -verspätungen kommt. Die Selbstbeteiligungliegt zwischen 20 Prozent bei einer Schadenshöhe von0 bis 200 Millionen Euro und 5 Prozent bei einer Scha-denshöhe von 601 bis 800 Millionen Euro Schaden. Dieallgemeine Haftungsbegrenzung für den Übertragungs-netzbetreiber liegt bei 100 Millionen Euro. Schädenoberhalb von 800 Millionen Euro im Jahr werden kom-plett auf die Netzentgelte umgelegt. Entschädigungszah-lungen für Schäden, die nicht vom anbindungsverpflich-teten Übertragungsnetzbetreiber verursacht werden,können komplett umgelegt werden. Durch die Einfüh-rung einer neuen Umlage von maximal 0,25 Cent proKilowattstunde werden die Stromverbraucher mit einemGesamtvolumen von etwa 650 Euro jährlich zusätzlichbelastet. Die Industrie muss ab einem Verbrauch von1 Million Kilowattstunden im Jahr jedoch nur eine Um-lage von 0,05 Cent pro Kilowattstunde bezahlen.Der Großteil der finanziellen Risiken wird auf die pri-vaten Stromkunden abgewälzt und die Großindustriedurch Ausnahmetatbestände weitestgehend von derneuen Umlage befreit. Das wird nicht nur von Verbrau-cherverbänden, sondern auch von Teilen der Energie-wirtschaft selbst zu Recht kritisiert. Dabei sollte allenBeteiligten klar sein, dass der Ausbau der Energiewendenur gelingt, wenn die Kosten fair auf allen Schulternverteilt werden.Wir hätten einen anderen Vorschlag, als die Verbrau-cher in Haftung zu nehmen: Der Bund übernimmt dasHaftungsrisiko für den Netzanschluss, und als Gegen-leistung bekommt er Anteile vom Netzbetreiber, der jabisher offensichtlich der Herausforderung des Netzaus-bau gewachsen war. Das wäre der Einstieg in die deut-sche Netzgesellschaft, die sich ja sogar als politischesZiel im schwarz-gelben Koalitionsvertrag von 2009 fin-det. In anderen Wirtschaftsbereichen ist der Einstieg desBundes in schwieriger Lage durchaus nicht unüblich;man denke nur an die Commerzbank.Die Bundesregierung hat außerdem Formulierungs-hilfen an die Koalitionsfraktionen übersandt, mit der imZuge dieser EnWG-Novelle das Abschalten von Kraft-werken bei Stromknappheit verboten werden soll. Eineweitere Notoperation, denn nach Monaten des Nichts-tuns ist bei Schwarz-Gelb nun Hektik ausgebrochen, umVersorgungsengpässe wie im vergangenen Winter zuvermeiden. Bereits im Mai hatte die Bundesnetzagenturder Bundesregierung in einem Bericht zu den Versor-gungsengpässen im vergangenen Winter einen Stapel anHausaufgaben aufgegeben; die Fakten waren sogarschon zwei Monate vorher klar. Doch passiert war bis-her nichts.Jetzt staunt man, dass eine christlich-liberale Bun-desregierung auf Mittel der Wirtschaftspolitik sowjeti-scher Prägung zurückgreift – die gesetzliche Anordnungzum Betrieb eines Kraftwerks in Planwirtschaft in Rein-kultur. Ich will nicht wissen, was hier und heute loswäre, wenn ein Wirtschaftsminister einer rot-grünenBundesregierung so etwas ernsthaft vorschlagen würde.Das zeigt, wie hilflos Sie in der Energiepolitik agieren,um Ihre eigenen Fehler und Versäumnisse zu korrigie-ren. Statt über planwirtschaftliche Anordnungen undstrategische Reserven zu reden, brauchen wir endlicheine ernsthafte Debatte über Kapazitätsmärkte. Ichfreue mich auf eine konstruktive Debatte in den Aus-schüssen auch darüber.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10754 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 33:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weite-
rer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 17/10746 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Auch hier werden die Reden zu Protokoll genom-
men.
Freizügigkeit ist nicht nur ein hohes Gut, sonderndurch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-hofs im Laufe der letzten Jahrzehnte auch ein Kernele-ment der Unionsbürgerschaft geworden.Sie gehört seit jeher zu den durch die europäischenVerträge gewährleisteten Grundfreiheiten und ist somitmaßgeblich am wirtschaftlichen Erfolg des Binnen-marktes und am Zusammenwachsen der EuropäischenUnion beteiligt.Längst werden unter dem Begriff der Freizügigkeitnicht mehr nur der freie Aufenthalt und die Bewegungs-freiheit der Unionsbürger verstanden. Vielmehr habender Europäische Gerichtshof und das europäische Pri-mär- und Sekundärrecht dazu geführt, dass die Regelun-gen zur Freizügigkeit Bedeutungen für den Arbeits-markt, die politische Teilhabe, die kulturelle undsprachliche Integration sowie für den gesamten Bereichdes innerstaatlichen Migrationsrechts erlangt haben.Von der Freiheit, sich als Unionsbürger in jedemMitgliedstaat Arbeit zu suchen, bis hin zu umfassendenpolitischen Teilhaberechten bei Wahlen könnten eineVielzahl von Veränderungen aufgeführt werden, dieletztlich alle auf den Grundsatz der Freizügigkeit der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23575
Stephan Mayer
(C)
(B)
Unionsbürger nach Art. 21 AEUV zurückgeführt werdenkönnen.So konkretisiert auch die Richtlinie 2004/38/EG desEuropäischen Parlaments und des Rates über das Rechtder Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sichim Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegenund aufzuhalten, die im Vertrag über die Arbeitsweiseder Europäischen Union bereits verankerte Grundfrei-heit auf Freizügigkeit.Die in der Richtlinie hinterlegten Grundsätze sind imdeutschen Recht bereits durch das Freizügigkeitsgesetzim Jahr 2004 umgesetzt worden. Hierbei wurden jedocheinige europarechtliche Vorgaben nicht vollständig be-rücksichtigt, was einen ergänzenden Gesetzentwurf unddie heute zu debattierende Änderung des Freizügigkeits-gesetzes erforderlich gemacht hat.So wird durch das heute zu debattierende Gesetz bei-spielsweise die in der Richtlinie angelegte Regelung zumWiderruf von zuvor erhaltenen Freizügigkeitsrechten beinachträglicher Feststellung einer Scheinehe nunmehr indas deutsche Recht übernommen. Dies ist eine wichtigeErgänzung; denn Abfragen in den Ländern haben erge-ben, dass es sich hierbei nicht um eine unerheblicheAnzahl von Fällen handelt. So hatte eine Erhebung derInnenministerkonferenz vor einigen Jahren festgestellt,dass es sich um deutlich mehr als 1 000 Fälle pro Jahr inDeutschland handeln könnte.Damals waren in die Statistik lediglich von den Aus-länderbehörden gemeldete Fälle aufgenommen worden,sodass zudem von einer deutlich höheren Dunkelzifferausgegangen werden darf.Typische Fallkonstellationen sind das nur formaleEingehen von Ehen sowie Vaterschaftsanerkennungenohne das Ziel, eine familiäre Lebensgemeinschaft zuführen, unterschiedliche Formen des Gebrauchs ge-fälschter Dokumente sowie Täuschung über den Wohn-sitz oder das Arbeitsverhältnis, insbesondere umEinreise- und Aufenthaltsrechte für Angehörige zu er-langen. Aber auch zum Aufsuchen von Universitätenoder Fachhochschulen in Deutschland werden ver-gleichbare Täuschungen vorgenommen.Die Umsetzung der in der Richtlinie vorgesehenenWiderrufsmöglichkeit in nationales Recht ist daher einenotwendige und angemessene Reaktion auf dieses krimi-nelle Verhalten. Mit ihr setzt die christlich-liberaleKoalition ihren Weg gegen das Erschleichen von Aufent-haltstiteln fort.Bereits im vergangenen Jahr haben wir durch dieEinführung des § 237 StGB zur besseren Ahndung vonZwangsehen deutlich gemacht, dass es in diesemBereich keine Toleranz geben darf. Mit der Änderungdes Strafgesetzbuchs ging auch eine Änderung des Auf-enthaltsgesetzes einher. Nachdem die rot-grüne Bundes-regierung im Jahr 2000 die Mindestbestandszeit einerEhe, die für den Fall des Scheiterns ein eigenständigesAufenthaltsrecht begründet, auf zwei Jahre verkürzthatte, haben wir die Anregung aus der Praxis vielerAusländerbehörden in Deutschland umgesetzt und dieMindestbestandszeit auf drei Jahre heraufgesetzt.Ursprünglich gesetzte Anreize für ausschließlich zumZwecke der Erlangung eines Aufenthaltstitels beabsich-tigte Eheschließungen konnten somit nachträglich wie-der beseitigt werden. Die mit dem vorliegenden Gesetz-entwurf beabsichtigte Anpassung stellt somit einenweiteren Schritt im Kampf gegen Scheinehen inDeutschland dar.Der vorliegende Gesetzentwurf enthält darüberhinaus noch eine Vielzahl von kleineren, zumeist techni-schen Anpassungen des Freizügigkeitsgesetzes an dieoben bereits zitierte EU-Richtlinie. Hierbei handelt essich vor allem um Klarstellungen und Bereinigungen,die aufgrund der täglichen Anwendungspraxis desGesetzes erforderlich geworden sind. Diese tragen ins-gesamt zu mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bei.Nachfolgend möchte ich noch eine weitere Änderung,die der Gesetzentwurf beinhaltet, ansprechen. Bereitsvor einiger Zeit haben die Ausländerbehörden die Ertei-lung einer Freizügigkeitsbescheinigung infrage gestellt.Ursache hierfür waren zum einen der erhebliche büro-kratische Aufwand, der mit der Erteilung und Ausstel-lung der entsprechenden Bescheinigung verbunden ist,und zum anderen sah die maßgebliche EU-Richtlinie2004/38/EG das Ausstellen einer solchen Freizügig-keitsbescheinigung gar nicht vor. Vielmehr verlangte dieRichtlinie für den Nachweis eines rechtmäßigen Aufent-halts in einem Mitgliedstaat nur eine aktuelle Meldebe-scheinigung sowie einen gültigen Pass bzw. Passersatz.Dem Anliegen der Ausländerbehörden wird dahernunmehr Rechnung getragen, und die entsprechendenVorschriften im Freizügigkeitsgesetz und der Aufent-haltsverordnung werden dementsprechend angepasst.Zukünftig entfallen die Erteilung einer Freizügigkeits-bescheinigung und die Vorlage einer aktuellen Melde-bescheinigung. Ferner ist die Vorlage eines gültigenPasses bzw. Passersatzes auch in Deutschland ausrei-chend.Auch wenn einige Städte und Gemeinden hierin keineerhebliche Reduzierung von Bürokratie zu erkennen ver-mögen, glaube ich, dass sich die Abschaffung der Frei-zügigkeitsbescheinigung letztlich doch zugunsten derBeschäftigten in den Ausländerbehörden bemerkbarmachen wird. Zwar muss auch in Zukunft in Zweifelsfäl-len eine Prüfung des Freizügigkeitsrechts des Einzelnendurch die Ausländerbehörden vorgenommen werden,aber insgesamt wird durch den Wegfall der Bescheini-gung der Verfahrensprozess weiter beschleunigt, was zueiner Reduzierung der Kosten führen dürfte.Diese „Arbeitserleichterung“ hat auch der DeutscheStädte- und Gemeindebund in seiner Stellungnahme zumGesetzentwurf der Bundesregierung anerkannt. Weiterwird darin ausgeführt, dass durch den Wegfall der Frei-zügigkeitsbescheinigung die Vorgaben der Richtlinie2004/38/EG besser und einfacher in der Verwaltungs-praxis umgesetzt werden können.Teilweise hatte sich bei vielen Behörden die Verwal-tungspraxis eingerichtet, dass Anträge immer mit einerKopie der Freizügigkeitsbescheinigung zu versehenwaren. Da jedoch zwischenzeitlich seit dem 1. Septem-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23576 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Stephan Mayer
(C)
(B)
ber 2011 in Deutschland der elektronische Aufenthaltsti-tel eingeführt worden ist, kann dieser zukünftig als ent-sprechender Nachweis bei der Antragstellung beiVerwaltungs- bzw. Sozialbehörden verwendet werden.Auch insofern bedurfte es einer Fortführung der Freizü-gigkeitsbescheinigung nicht mehr.Es kann somit im Ergebnis sehr wohl von einer nichtgeringfügigen Entlastung der Verwaltung bei derDurchführung entsprechender Verfahren ausgegangenwerden.Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen,dass auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom21. September 2012 keine Einwände gegen den Gesetz-entwurf erhoben hat. Das parlamentarische Gesetz-gebungsverfahren sollte daher zügig durchgeführt undabgeschlossen werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
verfolgt das Ziel, Vorschriften der Richtlinie 2004/38/
EG, die noch nicht „angemessen“ in das deutsche Recht
implementiert wurden, nunmehr in das Freizügigkeits-
gesetz/EU zu übernehmen. Dabei handelt es sich vor al-
lem um die Gleichstellung von Lebenspartnern von
Unionsbürgern mit Ehegatten von Unionsbürgern, das
Recht auf Einreise und den Aufenthalt betreffend, den
Abbau von Bürokratiekosten durch die Abschaffung der
rein deklaratorischen Bescheinigung über das Aufent-
haltsrecht für Unionsbürger sowie die Einfügung einer
Passage in das Freizügigkeitsgesetz/EU, die es ermög-
licht, ein aufgrund des Freizügigkeitsgesetzes/EU ge-
währtes Recht wieder zu entziehen, wenn es nur durch
die Vorspiegelung von falschen Tatsachen oder durch
Täuschung erlangt worden ist.
Die rechtliche Gleichstellung von Lebenspartnern mit
Ehegatten von Unionsbürgern ist nur zu begrüßen und
findet selbstverständlich unser volles Einverständnis.
Auch den Abbau von Bürokratiekosten und die Vereinfa-
chung des Verfahrens können wir nur gutheißen.
Die Ahndung von durch Missbrauch bzw. Täuschung
erschlichener Freizügigkeitsrechte ist in der Richtlinie
2004/38/EG zwar nicht zwingend, sondern als Option
vorgesehen, es spricht jedoch auch nichts gegen die Ein-
fügung eines solchen Instruments in das Freizügigkeits-
gesetz/EU. Wie der Begründung des Gesetzentwurfs zu
entnehmen ist, haben Abfragen unter den Ländern eine
nicht unerhebliche Zahl von Rechtsmissbrauchsfällen
ergeben. Obwohl das sehr unkonkret ist, scheint es doch
in der Praxis ein Bedürfnis für eine solche Regelung zu
geben.
Allerdings haben wir am 7. März 2012 einen Gesetz-
entwurf zur Änderung des aufenthalts- und freizügigkeits-
rechtlichen Ehegattennachzugs, Drucksache 17/8921, in
den Bundestag eingebracht. In diesem schlagen wir
Visaerleichterungen für nachziehende Ehegatten und
weitere Familienangehörige vor. So soll zum Beispiel
ein Familienangehöriger, der nicht Unionsbürger ist,
aber einen Unionsbürger begleitet, an der Grenze ein
Ausnahmevisum erhalten, wenn er seine Beziehung zu
dem Unionsbürger sowie die eigene Identität nachweist.
Ein begleitender Familienangehöriger eines Unionsbür-
gers, der im Besitz einer Aufenthaltskarte eines anderen
Mitgliedstaates ist, soll kein Visum mehr benötigen.
Die letztgenannten Gesichtspunkte kommen in dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht vor. Daher
können wir dem Entwurf nicht zustimmen. Ich empfehle
daher Stimmenthaltung.
Im Jahre 2004 hat die damalige rot-grüne Bundes-regierung die Richtlinie 2004/38/EG weitestgehend indeutsches Recht umgesetzt. Nach einer Prüfung ist diechristlich-liberale Bundesregierung nun zu dem Schlussgekommen, dass an einigen Punkten nachgebessertwerden muss.Dies betrifft zum einen die Gleichstellung vonLebenspartnern mit Ehegatten bei ihrem Recht auf Ein-reise und Aufenthalt. Ein Ziel der Koalition von CDU/CSU und FDP war von Beginn an die weitere Gleich-stellung von Schwulen und Lesben. Ein Punkt hierbei istfür uns die Angleichung der Rechte von eingetragenenLebenspartnerschaften mit der Ehe. Wir haben die volleGleichstellung bei der Erbschaftsteuer, der Grunder-werbsteuer, beim BAföG, beim Beamten-, Richter- undSoldatenrecht erreicht. Wir haben die BundesstiftungMagnus Hirschfeld mit einem Kapital von 10 MillionenEuro gegründet. Wir unterstützen damit unter anderemdie Aufklärungsarbeit an Schulen und die Aufarbeitungnationalsozialistischen Unrechts. Mit dem vorliegendenGesetzentwurf bekommen nun Lebenspartner von EU-Bürgern das gleiche Recht auf Freizügigkeit, das auchEhegatten von EU-Bürgern zusteht.Der zweite Bereich betrifft die Stärkung der Rechtevon illegal Beschäftigten, das heißt Menschen ohneregulären Aufenthaltsstatus, ohne Papiere. Die christ-lich-liberale Koalition hat sich engagiert für die Rechtevon Menschen ohne Papiere stark gemacht. Wir habenSchulen und Kindergärten von den Übermittlungspflich-ten befreit, damit die Kinder von illegalen Zuwanderernangstfrei Bildung erlangen können. Auch im Bereich desKrankenhausbesuchs haben wir die Übermittlungs-pflichten beschränkt, damit das Grundrecht auf gesund-heitliche Versorgung im Notfall auch tatsächlich umge-setzt werden kann. Die Umsetzung der EU-Vorschriftunterstützt Menschen ohne Papiere in einem weiterenPunkt: Arbeitgeber von illegal Beschäftigten werdenkünftig stärker bestraft. Illegal Beschäftigte, die gegenihren Arbeitgeber aussagen, bekommen darüber hinauseinen besonderen Schutz. Damit setzen wir an derWurzel der irregulären Zuwanderung nach Deutschlandan: bei der Nachfrage nach illegaler Beschäftigung undden damit verbundenen Dumpinglöhnen und Ausbeutun-gen. Illegale Beschäftigung muss für die Arbeitgeberunattraktiv werden.Mit dem Gesetz schaffen wir zudem eine Ermächti-gungsgrundlage für das Bundesministerium des Innern,eine Prüfungsverordnung zu den Abschlusstests derIntegrationskurse zu erlassen. Dies ist ein weitererSchritt zur qualitativen Stärkung der Integrationskurse,Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23577
Serkan Tören
(C)
(B)
die die Bundesregierung bereits mit der Überarbeitungder Integrationskursverordnung geleistet hat. Mittler-weile haben über 1 Million Menschen an den Integra-tionskursen teilgenommen und können sich dadurchleichter in Deutschland orientieren und besser aufDeutsch verständigen. Im Gegensatz zur Vorgänger-regierung haben CDU/CSU und FDP die Mittel für dieIntegrationskurse um 50 Millionen Euro auf 224 Millio-nen Euro pro Jahr angehoben. Dies ist ein deutlichesZeichen dafür, wie wichtig wir die Unterstützung vonIntegration nehmen. Inzwischen haben viele Menschenaus den ursprünglichen Zielgruppen der Integrations-kurse an eben diesen teilgenommen. Es ist daher an derZeit zu überlegen, wie die Integrationskurse künftigausgerichtet werden können. Mir scheint es wichtig, dieIntegrationskurse stärker an Zuwanderern aus der EUauszurichten und für sie zu öffnen. Mehr als die Hälftealler Zuwanderer, die heute in unser Land kommen,stammen aus der Europäischen Union. Diese Zuwande-rer können wir besser als bislang bei ihrer Integrationunterstützen. Darüber sollten wir diskutieren.Zuletzt wollen wir die Chance des aktuellen Gesetz-gebungsverfahrens nutzen, um die Entbürokratisierungvoranzubringen. Durch die Abschaffung der deklarato-rischen Freizügigkeitsbescheinigung für Unionsbürgerentlasten wir die Kommunen in Deutschland. Wie eineModellrechnung gezeigt hat, kann allein München50 000 Euro pro Jahr durch diese Maßnahme einsparen.Auf Deutschland hochgerechnet ergibt sich sicherlicheine Summe im oberen sechsstelligen oder gar im sie-benstelligen Bereich.Der vorliegende Gesetzentwurf streift eine ganzeReihe von Themen, die der christlich-liberalen Koalitionam Herzen liegen: die Gleichstellung von Schwulen undLesben, die Stärkung der Rechte von Menschen ohneregulären Aufenthaltsstatus, die Integrationskurse unddie Entbürokratisierung in Deutschland. In all diesenBereichen können wir weitere Verbesserungen errei-chen. Ich freue mich auf die Beratungen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nimmt die Bun-desregierung Änderungen an dem Gesetz vor, das dieFreizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger der Europäi-schen Union und ihrer Familienangehörigen inDeutschland regelt. Dass nun Lebenspartnerinnen undLebenspartner von Unionsangehörigen künftig mit Ehe-gatten gleichgestellt werden, ist gut, auch wenn dieseigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Wirbegrüßen auch, dass es bald nicht mehr erforderlichsein wird, eine sogenannte Freizügigkeitsbescheinigungzu beantragen und vorzuweisen. Diese Bescheinigunghat ohnehin nur deklaratorischen Wert und stellt einenunnötigen bürokratischen Aufwand dar.Aus drei Gründen aber lehnt die Linke diesen Gesetz-entwurf ab:Erstens. Dass die Freizügigkeitsbescheinigung abge-schafft werden soll, ist, wie gesagt, gut und richtig.Dadurch springt aber eine menschenrechtswidrige Pra-xis in Deutschland umso mehr ins Auge, die spätestensbei dieser Gelegenheit beseitigt werden muss. Ich redevon der massiven Beschränkung der Freizügigkeit vonAsylsuchenden und Geduldeten durch die sogenannteResidenzpflicht. Immer mehr Betroffene machen durchProtestaktionen, unter anderem durch einen aktuellenProtestmarsch nach Berlin, den viele Abgeordnete derLinken wie auch andere Aktionen begleitet haben, aufdiesen Skandal aufmerksam. Das Verbot, ein zugewiese-nes Gebiet ohne Begründung bzw. ohne behördliche Er-laubnis zu verlassen, und dies auch noch unter Strafe zustellen, ist diskriminierend und verletzt die Betroffenenin ihrer Menschenwürde und in ihren Persönlichkeits-rechten. Alle vorgeblichen sachlichen Begründungen fürdie Residenzpflicht sind entweder nicht überzeugendoder können jedenfalls nicht diese erhebliche Ein-schränkung der persönlichen Freiheit rechtfertigen.Wenn das Wort Freizügigkeit in einem Gesetzentwurfvorkommt, dann sollte dieser also auch die Freizügigkeitim Land in einem ganz umfassenderen Sinn herstellen.Zweitens ist der Gesetzentwurf unzureichend, weilnicht alle von der EU-Kommission im Rahmen einesVertragsverletzungsverfahrens angemahnten Änderun-gen zur wirksamen Umsetzung der Freizügigkeitsrichtli-nie berücksichtigt wurden. So monierte die Kommissioneine unzureichende Umsetzung der Vorgabe einer Er-leichterung des Familiennachzugs weiterer Familienan-gehöriger, also Geschwister, Onkel, Tanten, Neffen usw.Die Bundesregierung verwies diesbezüglich zwar aufein noch ausstehendes Urteil des EuropäischenGerichtshofs, doch selbst wenn dieses Urteil im Sinneder Bundesregierung entscheiden würde, heißt dasnicht, dass die Bundesregierung nicht über die darin alsabsolut einzuhaltenden Minimalstandards im Sinne derbetroffenen Menschen hinausgehen kann und sollte.Davon abgesehen liegt dieses Urteil des EuGH in derSache „Rahman“ inzwischen seit dem 1. September2012 vor. Nach meiner Einschätzung erfordert dieszwingend eine weitergehende Änderung des Freizügig-keitsgesetzes, wie von der Kommission angemahnt. EinNachzug entfernter Verwandter ist nach geltendemRecht nur im außergewöhnlichen Härtefall und nur nachMaßgabe des § 36 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz möglich.Dies wird den Vorgaben des EuGH nicht gerecht,wonach Unionsangehörige gegenüber Drittstaatsange-hörigen „in gewisser Weise bevorzugt“ behandelt wer-den müssen, wie auch immer man eine solche Ungleich-behandlung politisch bewertet. Weiterhin fordert derEuGH im Urteil, dass die Einreisebedingungen für dieseGruppe im Wortsinne „erleichtert“ werden müssen unddiese Vorgabe in der konkreten Umsetzung nicht ihre„praktische Wirksamkeit“ verlieren darf. Die überaushohen Hürden eines außergewöhnlichen Härtefalls ent-sprechen dem nicht. Das ist keine Erleichterung, son-dern eine Erschwernis. Da hilft im Übrigen auch keinHinweis auf die Verwaltungsvorschriften zum Aufent-haltsgesetz, wo es einen versteckten, aber völlig ungenü-genden und unbestimmten Hinweis auf diese Betroffe-nengruppe in Punkt 36.2.2.9. gibt.Drittens kritisiert die Linke, dass die Bundesregie-rung eine ausdrückliche Missbrauchsregelung zurVerhinderung sogenannter Scheinehen schaffen will.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23578 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Sevim Dağdelen
(C)
(B)
Wir fürchten, dass dies zu einer verschärften Prüfpraxisin den Behörden führen wird und viele binationale Part-nerschaften unzulässig verdächtigt werden. Zwar heißtes in der Gesetzesbegründung, dass „systematische oderanlasslose Prüfungen nicht gestattet“ sind und „be-gründete Zweifel“ vorliegen müssen, doch diese all-gemeinen Vorgaben gelten auch im Bereich des Aufent-haltsgesetzes, und wir wissen ja, in welch breitem undauch willkürlichem Ausmaß binationale Paare dessenungeachtet in der ausländerbehördlichen Praxis unterVerdacht geraten.In der Gesetzesbegründung wird auch nicht nachvoll-ziehbar dargelegt, wieso eine solche Missbrauchsrege-lung auf einmal erforderlich sein soll. Lapidar heißt es:„Abfragen unter den Ländern haben eine nicht unerheb-liche Zahl von Fällen ergeben“. Konkretere Anhalts-punkte oder auch nur ungefähre Zahlenangaben fehlenaber komplett. Solange dies so ist, bestreite ich, dass esden beklagten Missbrauch in bedeutendem Umfang gibt,zumal die Zahlen, die uns vorliegen, für eine gegentei-lige Annahme sprechen.Erst vor kurzem wurde ein Working Paper, Nr. 43, desBundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu „Miss-brauch des Rechts auf Familiennachzug“ vorgestellt.Das Ergebnis auf Seite 5 spricht für sich:Aufgrund der eingeschränkten Aussagekraft derverfügbaren statistischen Informationen lassen sichweder verlässliche Aussagen zum Umfang desMissbrauchs des Familiennachzugs machen, nochzu erforderlichen Gegenmaßnahmen.Auf Seite 26 findet sich auch Interessantes:Den in der PKS registrierten Verdachtsfällen lässtsich entnehmen, dass die Scheinehe offenbar nur ingeringem Umfang zur irregulären Einreise genutztwird. Stattdessen stellt sie in der Regel ein Instru-ment zur Verfestigung eines prekären, aber dennochlegalen Aufenthalts dar.Vor diesem Hintergrund muss es doch heißen: Abrüs-ten! Für die viel beschworene Gefahr angeblich verbrei-teter Scheinehen und Missbräuche gibt es keine Belege.Was hier produziert und praktiziert wird, befördertrechtspopulistische Stimmungsmache. Die Folge diesesstaatlich gesäten Misstrauens ist eine erhebliche Behin-derung des Zusammenkommens und Zusammenlebensvieler binationaler Paare durch vielfach unbegründeteausländerbehördliche Verdächtigungen.Lassen Sie mich deshalb zum Abschluss noch aufeinen Vorgang hinweisen, der schon ein wenig in Verges-senheit geraten ist. Aber fachkundige Abgeordnete wer-den sich sicherlich noch daran erinnern, zu welchenpolitischen Auswirkungen das sogenannte Metock-Urteil des EuGH vom Juli 2008 geführt hat. Es ging da-bei, grob gesagt, um die Nachzugsrechte drittstaatsan-gehöriger Ehepartnerinnen und -partner Unionsange-höriger und welche Regeln gelten sollen. ImInnenausschuss des Bundestages war dieses UrteilThema. Der damalige Innenminister Schäuble persön-lich forderte im EU-Rat mehrfach Konsequenzen ausdem Urteil, sogar eine Änderung der Freizügigkeits-richtlinie wurde ins Spiel gebracht. Er sprach wörtlichvon einem „großen Einfallstor für Rechtsmissbrauch“.Dabei hatte das Urteil Auswirkungen auf eine nur sehrgeringe Personengruppe von vielleicht etwa 3 000Familiennachzugsfällen im Jahr. Auf parlamentarischeNachfragen von mir musste die Bundesregierung ein-räumen, dass es keine Hinweise auf signifikante Ände-rungen infolge des Metock-Urteils gab, siehe Bundes-tagsdrucksache 16/13978, Frage 11 a. Selbst derStaatssekretär sprach ein Jahr später nur noch von einersehr kleinen Personengruppe, und dies meint wohl-gemerkt nicht die vermuteten Missbrauchsfälle, sonderndie Gesamtzahl derer, bei denen es vielleicht einen Miss-brauch geben könnte. Die Zahl der erteilten Aufenthalts-karten für Ehegatten von Unionsangehörigen aus Dritt-staaten – um die ging es bei „Metock“ – ist nach demUrteil in etwa gleich geblieben. Von Missbrauch alsokeine Spur! Die ministerielle Hysterie von damalserwies sich als pure rechtspopulistische Panikmache,genauso wie die vorliegende vorgeschlagene gesetzlicheVerschärfung, die wir Linke deshalb ablehnen.
Meine Fraktion begrüßt, dass die Bundesregierungendlich Lebenspartnerinnen und -partner mit Ehegattenvon Unionsbürgerinnen und -bürgern beim Recht aufEinreise und Aufenthalt gemäß dem Freizügigkeits-gesetz/EU gleichstellt. Diese Änderung ist längst fällig.Natürlich gäbe es einen viel einfacheren und unbürokra-tischeren Weg, Lebenspartnerinnen und -partner gleich-zustellen, nämlich die Öffnung der Ehe.Im Übrigen gibt es wenig Positives über den Gesetz-entwurf zu sagen. Die Bundesregierung hat sich das Zielgesetzt, Vorschriften der Freizügigkeitsrichtlinie, dienoch nicht angemessen umgesetzt worden sind, vollstän-dig in das Freizügigkeitsgesetz/EU zu übernehmen. Vondiesem willkommenen Ziel ist sie jedoch leider weit ent-fernt.Vor über einem Jahr hat die Kommission gegenDeutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegenmangelnder Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie ein-geleitet. In dem laufenden Verfahren ist die fehlendeGleichstellung von Lebenspartnern allerdings nur einKritikpunkt unter vielen. Ich möchte hier nur zwei derweiteren Regelungen hervorheben, die die Bundesregie-rung bei ihrem Gesetzentwurf außer Acht gelassen hat.Erstens rügt die Kommission die Einreisebestimmun-gen für Familienangehörige im Sinne von § 3 Abs. 2ader Freizügigkeitsrichtlinie, die zwar nicht einen An-spruch auf Einreise haben, denen nach der Richtlinieaber die Einreise und der Aufenthalt erleichtert werdensollen. Dazu gehören pflegebedürftige Personen undsolche, denen der Unionsbürger im HerkunftslandUnterhalt gewährt hat oder die mit ihm in häuslicherGemeinschaft gelebt haben. Der EuGH hat in seinerEntscheidung vom 5. September 2012 in der SacheRahman klargestellt, dass die Mitgliedstaaten verpflich-tet sind, diese Personen, die zu einem Unionsbürger ineinem besonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen, ge-genüber anderen Drittstaatsangehörigen bevorzugt zuZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23579
Memet Kilic
(C)
(B)
behandeln. Insbesondere müssen die persönlichenUmstände, wie der Grad der Verwandtschaft und diefinanzielle oder physische Abhängigkeit, eingehenduntersucht werden.Diesen Anforderungen wird das deutsche Recht nichtgerecht. Nach § 36 Abs. 2 AufenthG wird den oben-genannten Familienangehörigen in der Regel der Auf-enthalt verwehrt. Nur wenn es zur Vermeidung eineraußergewöhnlichen Härte erforderlich ist, wird eineAufenthaltserlaubnis erteilt. Jeder weiß, dass es fast un-möglich ist, eine deutsche Behörde von dem Vorliegeneiner außergewöhnlichen Härte zu überzeugen.In diesem Zusammenhang rügt die Kommissionebenso, dass diesen Personen nach der Einreise nichtdie in der Freizügigkeitsrichtlinie vorgesehenen Rechtezugestanden werden, wie etwa die Erteilung einer Auf-enthaltserlaubnis für fünf Jahre, Gleichbehandlung,Ausweisungsschutz und das Recht auf Zugang zur Be-schäftigung.Eine weitere Rüge der Kommission betrifft den Aus-weisungsschutz. Nach deutschem Recht sind Auswei-sungsverfügungen aus Gründen der öffentlichen Ord-nung, Sicherheit oder Gesundheit automatisch miteinem unbefristeten Aufenthaltsverbot verbunden. Dieautomatische lebenslange Wiedereinreisesperre, die nurauf Antrag beschränkt werden kann, widerspricht aberdem europäischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.Wir erwarten, dass die Bundesregierung im Laufe desGesetzgebungsverfahrens den Aufforderungen der Kom-mission entsprechend ihren Gesetzentwurf nachbessert.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10746 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 34:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
rung einer Partnerschaftsgesellschaft mit be-
schränkter Berufshaftung und zur Änderung
des Berufsrechts der Rechtsanwälte, Patentan-
wälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer
– Drucksache 17/10487 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Auch hier werden, wie vorgesehen, die Reden zu
Protokoll genommen.
In den letzten Jahren bemerken wir im Bereich derAnwaltschaft und Steuerberatung eine gesellschafts-rechtliche Flucht nach Großbritannien. Insbesonderebei Rechtsanwälten ist eine Abwanderung größerenAusmaßes in die britische LLP, Limited Liability Part-nership, zu beobachten.Das bisherige Haftungskonzept der deutschen Part-nerschaftsgesellschaft wird von den Angehörigen FreierBerufe zum Teil nicht als befriedigend empfunden. Zwarwird mit der Partnerschaftsgesellschaft schon derzeiteine Rechtsform angeboten, die unter anderem den Vorteileiner transparenten Besteuerung mit einer Haftungskon-zentration verbindet. Praktische Schwierigkeiten erge-ben sich dann, wenn innerhalb der Partnerschaftsgesell-schaft Aufgaben durch Teams bearbeitet werden. Dieaufgrund unterschiedlicher Spezialisierung miteinanderarbeitenden Partnerinnen und Partner können die Ar-beitsbeiträge der anderen mitunter weder inhaltlichnoch dem Umfang nach vollständig überblicken und vorallem verantworten.Vor dem Hintergrund der Initiative „Law Made inGermany“ soll es um eine überzeugende Alternative zurbritischen LLP gehen. Die mit dem Gesetz zur Einfüh-rung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkterBerufshaftung vorgesehene Rechtsformvariante derPartnerschaftsgesellschaft für die Freien Berufe vereintsteuerliche Transparenz mit einer Haftungsbeschrän-kung, wenn es zu beruflichen Fehlern kommt. Damitpasst die neue Gesellschaftsform besonders zu Kanz-leien und anderen freiberuflichen Zusammenschlüssen,in denen die Partner hoch spezialisiert in Teams zusam-menarbeiten. Die Haftung für berufliche Fehler, nichtjedoch für andere Verbindlichkeiten wie Kreditverbind-lichkeiten oder Mietzinsen wird auf das Gesellschafts-vermögen beschränkt.Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf soll Voraus-setzung für die Haftungsbeschränkung sein, dass eineHaftpflichtversicherung abgeschlossen wird. Dabei siehtder Gesetzentwurf eine Differenzierung der Versiche-rungssummen in Abhängigkeit von der Art des FreienBerufs vor. Die Mindestversicherungssumme für Rechts-anwälte soll 2,5 Millionen Euro betragen. Eine Partner-schaftsgesellschaft von Steuerberatern soll „angemessen“versichert sein. Für Wirtschaftsprüfer sieht der Gesetz-entwurf eine Versicherungssumme von 1 Million Eurovor.Die Haftpflichtversicherung soll dem Schutz des Ver-tragspartners dienen.Auf den Briefbögen der Partnerschaftsgesellschaftenmit beschränkter Berufshaftung soll nach Vorstellungdes Entwurfs auf die beschränkte Berufshaftung mit ei-ner Abkürzung aufmerksam gemacht werden. Dies kannbeispielsweise durch das Kürzel „mbB“ geschehen.Der Gesetzentwurf sieht überdies vor, dass auch wei-tere Freie Berufe mit gesetzlichem Berufsrecht jederzeitdurch entsprechende Regelung in ihrem Berufsrecht hin-zutreten und die Partnerschaftsgesellschaft mit be-schränkter Berufshaftung für sich nutzen können.Der Entwurf weist in die richtige Richtung. Hinsicht-lich der Einzelheiten bedarf es jedoch noch weitererDiskussionen im Rahmen des parlamentarischen Ver-fahrens.
Metadaten/Kopzeile:
23580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(C)
(B)
Die deutsche Alternative zur britischen Limited Lia-bility Partnership kommt. – So wirbt das Bundesjustiz-ministerium.Neben der Partnerschaftsgesellschaft, PartG, zu dersich Angehörige freier Berufe zusammenschließen kön-nen, soll eine Partnerschaftsgesellschaft mit beschränk-ter Berufshaftung eingeführt werden. Damit soll verhin-dert werden, dass vor allem Großkanzleien auf dieRechtsform der Limited Liability Partnership auswei-chen. Ich lasse dahingestellt, ob es diesen behauptetenTrend tatsächlich gibt. Mir liegen jedenfalls keine dem-entsprechenden Untersuchungen dazu vor.Größere Kanzleien beklagen, bei großen Teams, diemit einer Vielzahl von Spezialisten an einer Aufgaben-stellung arbeiten, könnten die einzelnen Anwälte, Steu-erberater und Wirtschaftsprüfer die Arbeitsbeiträge derandern oft nicht mehr überblicken und verantworten,müssten in einer PartG auch mit ihrem persönlichenVermögen dafür aber haften.Der Entwurf sieht nun eine Beschränkung der unmit-telbaren persönlichen Haftung für Fehler bei der Be-rufsausübung vor. Bei beruflichen Fehlern soll bei derPartG mbB nur noch das Gesellschaftsvermögen haftenund sollen nicht mehr zusätzlich die Bearbeiter des Auf-trags haften. Bisher haften diese Rechtsanwälte grund-sätzlich persönlich und mit ihrem gesamten Vermögen.Die Haftung für andere Schulden wie Mieten und Löhnebleibt bestehen. Im Gegenzug wird ein angemessenerVersicherungsschutz eingeführt, und die Partnerschaftwird durch die Namenwahl auf die Haftungsbeschrän-kung hinweisen müssen.Für eine aus Anwälten bestehende Partnerschaftsge-sellschaft mit beschränkter Berufshaftung sind als Min-destversicherungssumme 2,5 Millionen Euro vorgese-hen. Eine aus Steuerberatern bestehende PartG mbBmuss „angemessen“ versichert sein. Wirtschaftsprüfermüssen mit 1 Million Euro versichert sein. Gründe fürdiese Differenzierung der Höhe nach sind nicht, jeden-falls nicht überzeugend vorgetragen.Diese haftungsbeschränkende Ausgestaltung kommesowohl den Interessen der Anwaltschaft als auch denender Verbraucher entgegen, wird für den Gesetzentwurfargumentiert.Ziel des Entwurfs sei es, die „transparente Besteue-rung“ der PartG mit einer wirksamen Beschränkung derAußenhaftung zu verbinden.Es drängt sich der Eindruck auf, dass damit im Ge-sellschaftsrecht die eierlegende Wollmilchsau geschaf-fen werden soll. Damit geht aber die klare Linie im Ge-sellschaftsrecht verloren. Das Land Bayern ist imRahmen der Bundesratsberatung nicht zu Unrecht derAuffassung gewesen, dass das Konzept der PartG mbBmit grundlegenden Prinzipien des deutschen Gesell-schaftsrechts nicht zu vereinbaren ist. Im Recht der Ka-pitalgesellschaften ist das Privileg der Haftungsbe-schränkung auf das Gesellschaftsvermögen an dieErfüllung strenger Kapitalvorschriften geknüpft. Dage-gen ist Kernelement der Personalgesellschaften – zu de-nen auch die PartG gehört – die persönliche Haftung zu-mindest eines Gesellschafters, die nicht einseitigbeschränkt werden kann – aus gutem Grund und zumSchutz aller Beteiligten.Auch der Richterbund kritisiert, dass die PartG mbBeinen Bruch im deutschen System der Gesellschaftsfor-men darstelle, da für bestimme Berufsgruppen vermeint-lich vorteilhafte Merkmale der Personenhandels- undder Kapitalgesellschaft vermischt würden.Außerdem bestehen Zweifel, ob die Begrenzung derHaftungsbeschränkung auf bestimmte Berufsgruppenmit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar ist. Denn derGesetzentwurf sieht eine Beschränkung der Haftung nurfür diejenigen freien Berufe vor, die eine gesetzlich be-gründete Haftpflichtversicherung haben. Andere Berufs-gruppen sind von der Gründung einer PartG mbB aus-geschlossen.Abgesehen von diesen abstrakten Bedenken gibt esaber auch offene Fragen zur konkreten Ausgestaltung.Ist die vorgesehene Mindestversicherungssumme von2,5 Millionen Euro ausreichend, um die Haftungsbe-schränkung vollständig auszugleichen? Es gibt aberauch anderslautende Meinungen, die diese Summe wie-derum als zu hoch ansehen. So sei eine wirtschaftlicheVersicherungsabsicherung nicht mehr möglich, und dasgefährde die Zusammenarbeit innerhalb großer Kanz-leien.Fest steht: Der Rechtsverkehr wird mit neuen Rechts-formen wieder ein Stück weit unübersichtlicher. Deshalbmuss geprüft werden, ob nicht bewährte Gesellschafts-formen zur Verfügung stehen, mit denen sich dasselbeZiel erreichen lässt.Wer einen Haftungsausschluss zum Kernziel hat, fürden steht die GmbH als Kapitalgesellschaft zur Verfü-gung. Sie kann auch von Freiberuflern genutzt werden.Als Anwaltsgesellschaft vor einigen Jahren noch um-stritten, haben sich die berufsrechtlichen Zeichen ge-wandelt und die Nutzung dieser Rechtsform ermöglicht.Kann es deshalb nicht sinnvoll sein, die Kapitalgesell-schaften für Freiberufler weiter zu öffnen? Dafür müssteman die Kapitalgesellschaften für Freiberufler steuer-lich und bilanzrechtlich attraktiver gestalten. Die Bilan-zierungspflichten sind für die beratenden Berufen nochnicht angemessen.Als zweite Alternative ist daran zu denken, die GmbH& Co. KG für Anwälte zu öffnen.Damit möchte ich eins verdeutlichen: Der Vorschlagder PartG mbB ist nicht so alternativlos, wie uns diesder Gesetzentwurf verkaufen will. Auch wenn Steuer-und Gesellschaftsrecht nicht die perfekte Lösung bieten,stellt sich die Frage, ob eine weitere Gesellschaftsformzwingend notwendig ist. Gesellschaftsrechtler Noackspricht nicht zu Unrecht vom „Teilchenzoo“ Gesell-schaftsrecht.PartG mbB, ja oder nein? Am Ende läuft die Bewer-tung auf die Frage hinaus, ob wir rechtspraktischenoder rechtssystematischen Erwägungen den Vorzug ge-ben wollen. Ich befürworte deshalb die vom Rechtsaus-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23581
Christoph Strässer
(C)
(B)
schuss beschlossene Anhörung, um diese Fragen undWertungen diskutieren zu können.
Durch die im Gesetzentwurf vorgesehenen Änderun-
gen im Partnerschaftsgesellschaftsrecht soll für die An-
gehörigen freier Berufe eine neue Alternative neben den
bestehenden Rechtsformen geschaffen werden. Die
Partnerschaftsgesellschaft wurde schon vor Jahren in
Deutschland eingeführt. Sie vereint die Vorteile der steu-
erlichen Überschussrechnung mit einer teilweisen Haf-
tungsbeschränkung – ähnlich der im englischen Recht
ansässigen Limited Liability Partnerschip, LLP. Jedoch
ist die Haftungsbeschränkung der LLP weiter ausge-
prägt als die der Partnerschaftsgesellschaften. Deshalb
war es in den vergangenen Jahren immer häufiger zu be-
obachten, dass große Dienstleistungsgesellschaften sich
in die anglo-amerikanische Rechtsform umwandelten.
Damit konnten sie sicherstellen, dass eine persönliche
Haftung aus beruflichem Handeln dem Mandanten bzw.
Klienten gegenüber ausgeschlossen ist, und nutzten den
Vorteil der Rechnungslegung nach den Grundsätzen der
Überschussrechnung und nicht der umständlichen Bi-
lanzierung.
Durch die voranschreitende Globalisierung, in denen
es Lebenssachverhalte über Kontinente hinweg zu beur-
teilen und eine Vielzahl von Rechtsordnungen anzuwen-
den gilt, steigt das Haftungsrisiko für berufliche Fehler.
Jedoch geht die deutsche Partnerschaftsgesellschaft von
einer persönlichen Haftung aller Gesellschafter aus,
egal ob sie selbst mit dem Vorgang befasst waren oder
nicht. Es ist sogar so, dass ein neu in die Partnerschaft
eingestiegener Gesellschafter für die in der Vergangen-
heit von seinen Partnern begangenen Fehler haften
würde.
Im Hinblick auf die steigenden Haftungsrisiken und
Haftungsvolumina kann man es einer natürlichen Per-
son nicht mehr zumuten, persönlich zu haften. Ich be-
grüße es vor diesem Hintergrund ausdrücklich, dass im
Gesellschaftsrecht die Möglichkeit eröffnet werden soll,
die Haftung von Personengesellschaften auf das Ge-
schäftsvermögen bei Vorhandensein einer entsprechen-
den Haftpflichtversicherung und eines Hinweises im Na-
men der Partnerschaft zu beschränken. Auch positiv zu
bewerten ist, dass die bisherige Rechtsform daneben be-
stehen bleibt und damit eine neue Wahlmöglichkeit für
die Gesellschaftsform eröffnet wird. Das zieht natürlich
auch eine Anpassung der Berufsrechte der betroffenen
freien Berufe nach sich, die der vorliegende Gesetzent-
wurf auch folgerichtig aufgreift.
Hier kommt es jedoch auf die Details an: Für Rechts-
anwaltspartnergesellschaften mit beschränkter Haftung
ist eine Mindestversicherungssumme von 2 500 000 Euro
pro Partner vorgesehen. Das klingt auf den ersten Blick
plausibel vor dem Hintergrund, dass eine persönliche
Haftung der Partner mit ihrem Privatvermögen ausge-
schlossen ist und hier allein die Gesellschaft mit ihrem
Vermögen haftet. Mit dem Argument des Schutzes der
Rechtssuchenden und der fehlenden persönlichen Haf-
tung wird die für Rechtsanwälte nach § 51 Bundesrechts-
anwaltsordnung übliche Mindestversicherungssumme
von 250 000 Euro verzehnfacht. Das ist nach meinem
Verständnis nicht sachgerecht und unterstellt, dass jeder
Rechtsanwalt mehrfacher Euro-Millionär sei für den
Fall der persönlichen Haftung gegenüber dem Mandan-
ten.
Viele Rechtsanwälte sind mit der Summe von
250 000 Euro pro Schadensfall versichert. Dies reicht in
der Praxis für die übliche Mandatserledigung aus. Soll-
ten sie Mandate mit höheren Haftungsrisiken überneh-
men, so schließen sie in der Regel eine höhere, mandats-
bezogene Einzelhaftpflichtversicherung ab. Das liegt in
der Verantwortung eines jeden Rechtsanwalts. Nun be-
steht aber die Gefahr, dass die neue Alternative der
Partnerschaftsgesellschaft aufgrund der, mit der hohen
Mindestversicherungssumme verbundenen, entspre-
chend hohen Versicherungsbeiträge nicht angenommen
wird. Das war auch schon bei der Einführung der
Rechtsanwalts-GmbH so. Die hat die gleiche Mindest-
versicherungssumme, und es standen am 1. Januar 2011
453 Rechtsanwalts-GmbH 2 789 herkömmlichen Rechts-
anwaltspartnerschaften gegenüber. Hier muss die Bun-
desregierung noch etwas nachjustieren, um die Attrakti-
vität und Akzeptanz bei der neueren Rechtsform zu
erhöhen.
Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfersollen nach dem Gesetzentwurf der Regierung, über denwir heute beraten, für ihre berufliche Zusammenarbeitkünftig eine neue Organisationsform wählen können:die Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Haf-tung, PartGmbH.Das Auffällige an dieser neuen Gesellschaftsform istdie Kumulation von Vorteilen: Die Partnerschaftsgesell-schaft mit beschränkter Haftung soll die steuerlichenVorteile der Personengesellschaft mit den Vorteilen derbeschränkten Haftung der Kapitalgesellschaft verbin-den.Damit will die Regierung eine deutsche Alternativezur anglo-amerikanischen Limited Liability Partner-ship, LLP, schaffen. Im Gesetzentwurf hat sie dement-sprechend auch dargelegt, dass in Deutschland ein er-heblicher Trend zur Nutzung der Rechtsform der LLP zuverzeichnen sei.Allerdings führt die Bundesregierung im Gesetzent-wurf keine Anzahl der LLPs in Deutschland auf. ExakteZahlen konnte sie auch nicht nennen, als wir sie in unse-rer schriftlichen Frage konkret darum baten. Vielmehrheißt es in der Antwort der Regierung: „Aus Berufskrei-sen der Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und Steuerbe-rater wird berichtet, dass die Zahl der Zusammen-schlüsse in Form der LLP steigend ist.“Schauen wir uns die öffentlich verfügbaren Zahlengenauer an, so stellen wir fest: In den nach jetzigerRechtslage möglichen deutschen Gesellschaftsformensind weit über 2 000 Kanzleien in der Rechtsform derPartnerschaftsgesellschaft
organisiert, über 300 haben die Rechtsform der GmbHZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Ingrid Hönlinger
(C)
(B)
gewählt. Bei den verbleibenden Anwaltszusammen-schlüssen dominiert die Gesellschaft bürgerlichenRechts.Sucht man im Handelsregister nach der Rechtsformder LLP, so stellt man fest: 54 LLPs sind eingetragen.Und das sind nicht nur die Freiberufler, denen das Ge-setz zugutekommen soll. Neben Rechtsanwälten, Steuer-beratern und Wirtschaftsprüfern sind zum Beispiel auchArchitekten bei den 54 LLPs im Handelsregister einge-tragen.Das sind Zahlen, die nicht auf gesetzgeberischenHandlungsbedarf schließen lassen.Und es stellt sich noch ein weiteres Problem:Unterläuft einem Rechtsanwalt, Steuerberater oderWirtschaftsprüfer in seiner Tätigkeit ein Fehler, so hafteter bisher mit seinem Privatvermögen. Dieses Risiko si-chert er mit einer Berufshaftpflichtversicherung ab. DieMindestversicherungssumme liegt für Rechtsanwältederzeit bei 250 000 Euro pro Versicherungsfall.Bei der Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkterHaftung entfällt die persönliche Haftung des Rechtsan-walts, Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers. Eine ver-sicherungsrechtliche Lösung soll den Schutz von Man-danten gewährleisten.Rechtsanwälte müssen dann eine Berufshaftpflicht-versicherung von mindestens 2,5 Millionen Euro proVersicherungsfall unterhalten. Dies ist das Zehnfacheder bisherigen Mindestversicherungssumme. Ein ent-sprechend hoher Versicherungsbeitrag ist die Folge.Wie viele Partnerschaften sich diesen Versicherungs-schutz werden leisten können, ist fraglich. Wenn über-haupt, ist eine solche Versicherungssumme nur für großeKanzleien erschwinglich.Das Gesetz hat also im Kern eine sehr beschränkteZielgruppe: Großkanzleien.Kleine und mittelständische Kanzleien werden vonder Möglichkeit der Gründung einer Partnerschaftsge-sellschaft mit beschränkter Haftung kaum profitieren.Die Folgen eines solchen Gesetzes aber betreffen dasgesamte Gesellschaftsrecht: Die Partnerschaftsgesell-schaft mit beschränkter Haftung bedeutet eine Vermi-schung von Merkmalen der Personengesellschaft mitMerkmalen der Kapitalgesellschaft. Sie bewirkt eineweitere Aufsplitterung der Gesellschaftsformen. Ein Ge-setz mit einem solch begrenzten Anwendungsbereich wiedieses sollte nicht dazu führen, unser gesellschaftsrecht-liches System zu durchbrechen.Gerne können wir die Hinweise auf die Nutzung aus-ländischer Rechtsformen, wie der LLP, dazu nutzen,über eine grundlegende Reform des Gesellschaftsrechtsnachzudenken. Ziel muss es aber sein, dessen Komplexi-tät zu verringern und nicht zu vergrößern.Meine Damen und Herren Rechtspolitikerinnen undRechtspolitiker, wir müssen durchdachte und sinnvolleGesetze anbieten, wenn wir mit „Law Made in Ger-many“ in Konkurrenz zu anderen Rechtsordnungen tre-ten wollen. Diesem Anspruch genügt das vorliegendeGesetz nicht.D
Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf fürein Gesetz zur Einführung einer Partnerschaftsgesell-schaft mit beschränkter Berufshaftung und Änderung desBerufsrechts der Rechtsanwälte, Patentanwälte, Steuer-berater und Wirtschaftsprüfer ist ein wichtiger Beitragzur Förderung des Standorts Deutschland. Mit Einfüh-rung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkterBerufshaftung wird Freiberuflern eine ausgewogenedeutsche Alternative zu Rechtsformen des europäischenAuslands, insbesondere zur Limited Liability Partner-ship nach angelsächsischem Recht, geboten. DieseRechtsformvariante der Partnerschaftsgesellschaft stehtkonzeptionell allen freien Berufen zur Verfügung.Die Gestaltungsmöglichkeit beschränkt sich dabeiauf eine Haftungsbegrenzung für berufliche Fehler. Hin-sichtlich sonstiger Verbindlichkeiten soll es dagegen beider bisherigen Haftung der Gesellschafter verbleiben.Das Konzept der Partnerschaftsgesellschaft mit be-schränkter Berufshaftung ist ausgewogen. Die Interes-sen des Rechtsverkehrs und der Vertragspartner derGesellschaft werden angemessen berücksichtigt: ZumSchutze des Rechtsverkehrs wird die Möglichkeit derHaftungsbegrenzung für berufliche Fehler flankiertdurch die Pflicht der Gesellschaft, im Rechtsverkehr miteinem die Haftungsbegrenzung signalisierenden Na-menszusatz aufzutreten. Außerdem besteht die Pflicht,eine angemessene Berufshaftpflichtversicherung zu un-terhalten.In den Stellungnahmen zum Referentenentwurf wurdedeutlich, dass die Regelung manchen zu weit und man-chen nicht weit genug geht: Ich denke, wir haben hier ei-nen ausgewogenen und vernünftigen Kompromiss ge-funden.Jene, die die Regelung als nicht weitgehend genugansehen, verbinden dies meist mit der Forderung, dieRechtsform der GmbH & Co. KG auch für die freien Be-rufe zu ermöglichen. Eine Öffnung des Handelsgesetz-buches für freie Berufe kann allerdings nicht in kleinenSonderlösungen für einzelne Berufe erfolgen. Erforder-lich wäre eine grundsätzliche Umgestaltung des Kauf-mannsrechts in ein „Unternehmensrecht“. Dies setztejedoch grundsätzliche systematische Überlegungen imHandels-, Gesellschafts- und Steuerrecht voraus. Umden freien Berufen zeitnah ähnliche Gestaltungsmög-lichkeiten anbieten zu können, wie sie in anderen euro-päischen Rechtsordnungen schon bestehen, bietet sichdie Einführung der Partnerschaftsgesellschaft mit be-schränkter Berufshaftung als schlanke und überschau-bare Lösung an. Besser der Spatz in der Hand als dieTaube auf dem Dach!Manchen geht die Regelung allerdings auch schon zuweit: Hier wird gefordert, es bei der althergebrachtengrundsätzlich vollen persönlichen Haftung der Gesell-schafter zu belassen. Dabei wird freilich übersehen, dassZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23583
Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler
(C)
(B)
Haftungsbeschränkungen auch für Freiberufler schonlängst über ausländische Rechtsformen erreichbar sindund dass Vertragspartnern von Freiberuflern wenig da-mit geholfen ist, wenn sie sich zunehmend mit ausländi-schen Rechtsformen auseinandersetzen müssen. Auch istzu bedenken, dass die Höhe der Summe, mit der einePartnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaf-tung hinsichtlich beruflicher Fehler versichert seinmuss, in der Regel über das Privatvermögen von Freibe-ruflern hinausgehen dürfte. Über die Versicherung fürberufliche Fehler dürften Vertragspartner daher weiter-gehend geschützt sein als über einen Zugriff auf das Pri-vatvermögen der Gesellschafter. Hinzu kommt eine sys-tematische Überlegung: Als Personengesellschaft mitHaftungsbeschränkung hat das Gewerbe die GmbH &Co. KG, den freien Berufen fehlt bislang ein Äquivalent.Es ist systemkonform, diese Lücke zu schließen.Ich wünsche mir, dass die Partnerschaftsgesellschaftmit beschränkter Berufshaftung den Freiberuflern mög-lichst bald als deutsche Alternative zur Verfügung steht.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10487 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge dazu? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 35:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Seehandelsrechts
– Drucksache 17/10309 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auch hier sind, wie vorgesehen, die Reden zu Proto-
koll genommen.
Das bisher geltende Seehandelsrecht basiert in wei-
ten Teilen auf überkommenen, aus dem 19. Jahrhundert,
mitunter sogar aus dem Mittelalter stammenden Rechts-
grundlagen. Rechtsinstitute wie Partenreederei oder das
Verklarungsverfahren haben im Laufe der Zeit an Be-
deutung verloren. Sie werden der Praxis der modernen
maritimen Wirtschaft nicht mehr hinreichend gerecht.
Bei der vorgesehenen Reform geht es darum, das
deutsche Recht an die Erfordernisse des internationalen
Wettbewerbs anzupassen. Der Gesetzentwurf soll
maßgeblich die einschlägigen Vorschriften für die
Frachtschifffahrt und die Personenschifffahrt moderni-
sieren. Die Zahl seehandelsrechtlicher Vorschriften soll
auf etwa die Hälfte reduziert werden.
Der Gesetzentwurf trifft zugleich Vorsorge dafür, dass
Entschädigungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes
künftig verschuldensunabhängig gezahlt werden. Die
Haftungshöchstbeträge sollen deutlich angehoben wer-
den, von derzeit 164 000 Euro auf 468 000 Euro. Die
Zahl der Unfälle in der Schifffahrt ist indes sehr gering,
was sich bei der Berechnung von Versicherungsprämien
auswirkt.
Mit den Anpassungen an die digitale Realität leisten
wir einen sehr wichtigen Beitrag zur Stärkung des deut-
schen Seehandels.
Im jetzt beginnenden parlamentarischen Gesetz-
gebungsverfahren und in der vorgesehenen Anhörung
im Rechtsausschuss wird der umfangreiche Gesetzent-
wurf einer ausführlichen Prüfung unterzogen.
Im Übrigen danke ich an dieser Stelle den Mitglie-
dern der vom Bundesministerium der Justiz im Jahre
2004 eingesetzten Sachverständigengruppe zur Reform
des Seehandelsrechts für ihre guten und wichtigen
Vorarbeiten, auf denen der Gesetzentwurf basiert.
Das Seehandelsrecht soll durch die vorgeschlageneReform grundlegend und systematisch überarbeitet undim Hinblick auf den internationalen Wettbewerb moder-nisiert und entbürokratisiert werden. Die Vorarbeiten zudieser Reform begannen 2004 mit der Einsetzung einerSachverständigengruppe , auf deren Vorschlä-gen der vorliegende Entwurf beruht.Das im HGB geregelte Seehandelsrecht ist überholt.Es stammt in den Grundzügen aus dem AllgemeinenDeutschen Handelsgesetzbuch von 1861, als die See-fahrt noch mit Segelschiffen betrieben wurde. Deshalbtreffen viele Regelungen die heutige Wirklichkeit nichtmehr. Das gilt zum Beispiel für die Vorschriften über diePartenreederei, bei der es sich um eine besondere undunbekannte Gesellschaftsform des HGB handelt, diekaum angenommen wird; Reedereien werden heute vonAktiengesellschaften oder anderen Handelsgesellschaf-ten betrieben. Auch die Vorschriften über die Verkla-rung, also die eidesstattliche Erklärung des Kapitänsnach einem Schiffsunfall, oder über die vermögensrecht-liche Abwicklung einer Havarie, die sogenannte Have-rei, sind nicht mehr zeitgemäß. Daher weichen die Un-ternehmen durch Wahl einer ausländischen Rechts-ordnung dem deutschen Recht möglichst aus. Falls deut-sches Recht Anwendung findet, können die Fälle oft nurmit richterlicher Rechtsfortbildung gelöst werden.Neben dem klassischen Seehandel werden auch diePersonenbeförderungsverträge auf See neu geregelt,§§ 536 HGB-E ff. Für Personenschäden wird neu eineverschuldensunabhängige Haftung eingeführt, § 538Abs. 2 HGB-E. Auch für die verschuldensabhängigeHaftung gibt es Haftungshöchstbeträge, § 541 HGB.Nach der Entwurfsbegründung sind diese Beträge höherals bisher.Die Regelungen des Gesetzentwurfs zum „Ausführen-den Verfrachter“, § 509 HGB-E, müssen wir uns genauansehen. Der Entwurf sieht eine neue Rechtsfigur vor,wonach zukünftig neben dem Reeder auch der Seehafen-umschlagbetrieb direkt und AGB-fest dem Befrachteroder Empfänger der Güter so haftet, als wäre er der Ver-frachter. Dies soll bei Güterschäden gelten, die bei einer
Metadaten/Kopzeile:
23584 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Ingo Egloff
(C)
(B)
Tätigkeit entstanden sind, die zur Erfüllung eines Stück-gutfrachtvertrages ausgeführt wurden. Die vorgeschla-gene Haftungsausdehnung auf Umschlagbetriebe würdeangesichts des weiten Feldes der mit der Ladungsbe-treuung tätigen Hafenwirtschaft zu unterschiedlichenHaftungsregimen auf dem Terminalgelände führen, ab-hängig davon, ob die Tätigkeit dem Stückgutfrachtver-
Neben den juristischen Schwierigkeiten kann die Haf-tungsausdehnung auf Umschlagbetriebe auch zusätzli-che wirtschaftliche Belastungen und Wettbewerbsnach-teile zulasten der Umschlagunternehmen zur Folgehaben. Denn für ausländische Umschlagunternehmengelten diese Regelungen der Mithaftung nicht. Hier seheich Probleme.Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt insgesamtden Antrag. Doch ist es wieder einmal ein Armutszeug-nis, dass das BMJ offenbar nicht in der Lage ist, zwi-schen seinen eigenen Abteilungen den vorliegenden Ge-setzentwurf mit den Bestimmungen des Seearbeitsüber-einkommens abzustimmen.Das Seearbeitsübereinkommen von 2006 zielt auf dieSchaffung von weltweit einheitlichen Mindeststandardsfür die Arbeits- und Lebensbedingungen von Seeleutenan Bord von Handelsschiffen ab, um damit vor allemWettbewerbsverzerrungen und Sozialdumping in derweltweiten Schifffahrt zu verhindern. In Art. II Ziffer jdes Seearbeitsübereinkommens wird klargestellt, dassder Reeder für alle Forderungen des Seemannes unein-geschränkt haftbar ist. Diese Regelung greift zum Bei-spiel dann, wenn Seeleute von Bemannungsagenturen imAuftrag des Reeders an Bord geschickt werden, dasSchiff von A nach B bringen, aber dann von der Agenturkein Geld bekommen. In solch einem Fall haben die See-leute das Recht, sich wegen der unterlassenen Heuer-zahlung direkt an den Reeder zu wenden.Über den Gesetzentwurf zur Umsetzung des See-arbeitsübereinkommens, das sogenannte Seearbeitsge-setz, werden wir uns hier noch zu unterhalten haben; erenthält zum Beispiel den Fehler, wonach die Haftung desReeders auf eine „Bürgschaft“ begrenzt ist. Hier müssenwir nur feststellen, dass es im Gesetzentwurf zur Reformdes Seehandelsrechts in den Festlegungen der §§ 476 ff.nicht gelungen ist, die Begriffsbestimmungen mit dem imselben Hause erarbeiteten Seearbeitsgesetzentwurf inEinklang zu bringen. Wir fordern deshalb die Überar-beitung der vorhergehend genannten Artikel.
Das deutsche Seehandelsrecht ist veraltet und schwerverständlich. Diese Feststellung im Gesetzentwurf derBundesregierung trifft zu. Aber das sollte kein Grundsein, acht Jahre dafür zu brauchen, ein aktuelles undverständliches Seehandelsrecht auf den Weg zu bringen.3 666 Schiffe gehören deutschen Eignern, die deut-sche Handelsflotte gehört zu den größten weltweit.Trotzdem tun sich die Bundesregierungen sehr, sehrschwer damit, internationale Übereinkommen in natio-nales Recht zu übertragen.Heute wird uns ein Gesetzentwurf zur Reform desSeehandelsrechts vorgelegt, an dem seit 2004 ge-schraubt wird. Zwischenzeitlich war man internationalschneller und hat bereits Ende 2008 eine „UN-Konven-tion über Verträge über die internationale Beförderungvon Gütern ganz oder teilweise auf See“ verabschiedet,die sogenannten Rotterdam-Regeln. Mit diesen Regelnsollte ein modernes und international einheitliches See-frachtrecht ermöglicht werden.Dieses Abkommen ist jedoch nicht in Kraft, weil dieunterzeichnenden Staaten das Abkommen nicht ratifi-ziert haben. Deutschland aber hat diese Konventionnoch nicht einmal unterzeichnet. Die Deutsche Ver-kehrs-Zeitung kommentiert, mit dem Entwurf desneuen Seehandelsgesetzes gehe Deutschland einen Son-derweg und koppele sich damit von der internationalenRechtsentwicklung ab.Interessant ist die Begründung. Ich zitiere: „Von ei-ner vollständigen Einarbeitung der Rotterdam-Regeln indas Handelsgesetzbuch soll dagegen abgesehen werden.Diese sollte erst dann überhaupt in Erwägung gezogenwerden, wenn die Rotterdam-Regeln von Deutschlandauch ratifiziert werden. Eine Entscheidung über eineRatifikation macht aber erst dann Sinn, wenn absehbarist, dass sie völkerrechtlich in Kraft treten und zu denVertragsparteien wichtige Seehandelsnationen der Weltzählen werden.“ Also hält sich die wichtige Seehandels-nation Deutschland zurück, wie auch andere? Soll damitein internationales Übereinkommen ausgebremst wer-den?Frau Ministerin, Sie legen uns einen 250-seitigen Re-ferentenentwurf zur Reform des Seehandelsrechts vor,der im Vorfeld wegen teils massiver Bedenken der See-frachtrechtsexperten und der interessierten Verbändeüberarbeitet werden musste, nun aber wohl akzeptiertwerden konnte.Kommen wir zu einigen Details: Zukünftig sollenauch Subunternehmer eines Verfrachters für ihren Partdirekt gegenüber dem Eigentümer der Ladung haften,nicht nur auf See, sondern auch beim Umschlag im Ha-fen. Bislang musste ein Betreiber eines Containertermi-nals nicht für Schäden haften, die bei der Entladung ent-standen. Bislang musste der Verfrachter auch weder fürnautische Fehler der Besatzung noch für Feuer an Bordhaften, selbst wenn es durch sie verschuldet war. Dieswird formal abgeschafft, darf aber durch die Hintertürin den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beförde-rer doch wieder ausgeschlossen werden. Damit bleibt esfaktisch beim Alten.Es gibt weitere Regelungen zur Zeitcharter, zur Haf-tung im Falle eines Zusammenstoßes von Schiffen, überdie Bergung, über die Große Haverei, über Schiffsgläu-bigerrechte und vieles mehr. Eine Haftung für die ver-spätete Ablieferung von Gütern oder die Einführung ei-nes elektronischen Seefrachtbriefs sind sicher guteIdeen, Letzteres natürlich unter der Voraussetzung, dassdie datenschutzrechtlichen Vorgaben gewährleistet wer-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23585
Herbert Behrens
(C)
(B)
den können. Das sind notwendige Regelungen für einenrechtssicheren Seehandel.Nachdem Sie, Frau Ministerin, ja nun beide großenArbeitsgebiete wie das Seearbeitsrecht und das Seehan-delsrecht umgestalten und zusammenfassen, hat es unsdann doch sehr gewundert, dass das neue Gesetz zumSeehandelsrecht keinen Verweis auf das Seearbeitsüber-einkommen enthält. Wird da in unterschiedlichen Abtei-lungen aneinander vorbei gearbeitet? In §§ 476 bis 480zu dem Abschnitt „Personen der Schifffahrt“ gehört hierzwingend der Verweis auf die geltenden Vorschriften desSeearbeitsübereinkommens hinein.Abschließen möchte ich mit einem Appell zur Orien-tierung des Seehandelsrechts an den zukünftigen inter-nationalen Regeln. Ihr Zögern bei der Übernahme derRotterdamer Regeln haben Sie, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, im Mai dieses Jahres bei der Vorstel-lung Ihres Kabinettsentwurfes damit begründet, dassDeutschland ja sonst internationale Verpflichtungen ein-gehen würde, die andere erst etwas später träfen, wo-durch unsere Reeder leichte Wettbewerbsnachteile hät-ten, bis sich das Abkommen durchsetzt. Das ist dochkeine inhaltliche Argumentation. Mit dieser Logik könn-ten sich doch nie rechtliche Verbesserungen internatio-nal durchsetzen. Wir erwarten von der deutschen Bun-desregierung bei einer grundlegenden Überarbeitungkeine rückwärtsgewandte Politik, sondern ein Voran-schreiten.
Die Bundesregierung hat einen Entwurf zur Reformdes Seehandelsrechts vorgelegt. Das Seehandelsrechtbildet die Gesetzesgrundlage für die Beförderung vonGütern und Passagieren über den Seeweg. Das Seehan-delsrecht unterscheidet sich insofern vom Seerecht, dassich vor allem auf den Hoheitsbezug von Küstenstaatenbezieht.Viele Teile des bisherigen Seehandelsrechts inDeutschland stammen noch aus der Zeit der Segelschiff-fahrt und sind nicht mehr zeitgemäß. Die Transporte,Lieferketten und die technischen Entwicklungen lassenmittlerweile das bestehende Seehandelsrecht inDeutschland antiquiert erscheinen. Deutliche Änderun-gen und die Aufnahme aktueller Entwicklungen sind da-her notwendig geworden, um das deutsche Seehandels-recht an moderne Zeiten anzupassen.Der vorliegende Gesetzesvorschlag beinhaltet vor al-lem eine Straffung der gegenwärtigen Regelungen, dieüber Handelsgesetzbuch und Bürgerliches Gesetzbuchverstreut zu finden sind. Die Novelle des Seehandels-rechts fasst jetzt die Rechtslage im Fünften Buch desHandelsgesetzbuchs zusammen. Eine Neustrukturierungund Reform der Begrifflichkeiten finden sich hierinwieder.Der vorliegende Gesetzentwurf ist das Ergebnis dernoch durch Bundesministerin Zypries 2004 eingesetztenSachverständigengruppe Seehandelsrecht. 2009 wardiese Gruppe fertig mit ihren Beratungen. Aus welchenGründen, werte Frau Justizministerin, hat es drei Jahregedauert, bis wir den Gesetzentwurf nun vorliegenhaben?Die bisherigen Pflichten des Kapitäns, die bishereiner unternehmerischen Stellung glichen, werden nunso formuliert, dass der Kapitän als Person in arbeitneh-merähnlicher Stellung agiert und haftet. Alle demVerkehrsschutz dienenden Regelungen sollen jedochbeibehalten werden, um den Kapitän weiterhin als Ver-tretungsmacht des Reeders beizubehalten. Diese Ände-rung erscheint uns überfällig und wird von uns mitgetra-gen.Die Angleichung des deutschen Seefrachtrechts andie Haager Regeln scheint aus unserer Sicht sinnvoll.Lobenswert ist, dass an dieser Stelle auch Elemente derRotterdam Rules, wie die Möglichkeit der Verwendungelektronischer Beförderungsdokumente, in den Gesetz-entwurf eingeflossen sind.Erstmals werden die weltweit üblichen Schiffschar-terverträge erwähnt, die sogenannten Schiffsüberlas-sungsverträge: der Bareboat-Vertrag sowie derZeitchartervertrag: Seit Jahrzehnten wird in der inter-nationalen Handelsschifffahrt auf Musterverträge zu-rückgegriffen. Diese sind international geregelt und fürnahezu jeden Schifffahrtsbereich erhältlich – und kön-nen je nach Bedarf individuell angepasst werden. Dassder Gesetzentwurf die Schiffsüberlassungsverträge aus-führlich aufgreift und endlich im deutschen Recht regelt,war überfällig.Die Regelung zur Haftung der Beförderungsunter-nehmen bei Personenschäden hat insbesondere durchdas steigende Fahrgastaufkommen in der Kreuzschiff-fahrt starke Wichtigkeit erlangt. Das zeigt uns geradeder Unfall mit dem Kreuzfahrtschiff MS „Costa Concor-dia“. Dass die Haftungssumme bei Personenschädenjetzt deutlich erhöht wird, scheint folgerichtig.Wir werden die weiteren Beratungen in den Aus-schüssen konstruktiv begleiten. Doch dass die Rotter-dam Rules, als fortschrittliches Rechtsübereinkommen,noch nicht vollständig zur Anwendung kommen sollen,ist bedauernswert, sind sie doch bereits 2009 von denersten Staaten in Rotterdam unterzeichnet worden, umein international einheitliches und aktuelles Rahmen-werk für den Transport von Gütern über den Seeweg zuschaffen. Unter den bisherigen Unterzeichnern sindgroße Seehandelsnationen wie Dänemark, Frankreich,Griechenland, Niederlande, Norwegen, Spanien und dieUSA. Auch wenn es erst durch zwei Staaten ratifiziert ist– Spanien und Togo –, so sollte sich vor allem bei dengroßen Handelsnationen herumsprechen, dass dieRegeln zwar detailliert, aber doch präzise sind – und dieentsprechende Anzahl an Unterzeichner- bzw. ratifizie-renden Staaten benötigt wird, um sie endlich wirksamwerden zu lassen. Deutschland ist also gut beraten undsollte jetzt die Rotterdam Rules sowohl unterzeichnenals auch ratifizieren.Wenn jetzt Deutschland mit der Reform des Seehan-delsrechts voranschreitet, ist das zwar lobenswert. Aberin einigen Jahren, wenn die Rotterdam Rules ratifiziertsind, wird auch wieder eine Reform des Seehandels-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Valerie Wilms
(C)
(B)
rechts anstehen. Dann müsste der Prozess noch einmalwiederholt werden – und unserer Auffassung nach auchdeutlich schneller ablaufen.Interessant wäre in der Begründung der Gesetzes-vorlage ein Vergleich der unterschiedlichen Modelle desSeehandelsrechts in Europa gewesen. Innovativ er-scheint uns das Regelungswerk Rotterdam Rules, daserstmals das Seehandelsrecht zusammenfasst und inter-nationale Maßstäbe setzt. Bisher war es so, dass sichbestimmte Staaten zum Beispiel nach den Haag-VisbyRules richten oder auch nach den Hamburg Rules.Am 24. Oktober werden wir im Rechtsausschuss dieGelegenheit haben, in einer Anhörung über das neueSeehandelsrecht zu sprechen. Ich möchte daher nochnicht zu viele Themen vorwegnehmen – aber insgesamtscheint der Vorschlag durchaus brauchbar. Das ist zueinem seltenen Glück dieser Koalition geworden.Über verschiedene Auswirkungen wird jedoch nochzu reden sein, zum Beispiel, wenn sich aufgrund der neueingerichteten Erhöhung von Haftungs- und Schadensri-siken am Ende wohl die Versicherer freuen dürften –denn es ist anzunehmen, dass die neu entstehenden Risi-ken durch neue Versicherungen abgedeckt werden müs-sen.Wir können also jetzt in hoffentlich konstruktive Be-ratungen in den Ausschüssen einsteigen.Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Mit dem dem Deutschen Bundestag vorliegenden Ent-wurf soll das deutsche Seehandelsrecht vollständig neugeregelt werden.Ziel der Reform ist, das weitgehend noch aus dem19. Jahrhundert stammende deutsche Recht den heuti-gen Bedürfnissen der maritimen Wirtschaft anzupassenund damit den Wirtschafts-, Rechts- und JustizstandortDeutschland zu stärken.Zu diesem Zweck sieht der Gesetzentwurf Folgendesvor: erstens eine Neustrukturierung und Straffung desim Fünften Buch des Handelsgesetzbuchs geregeltenSeehandelsrechts, zweitens eine Abschaffung überholterRechtsinstitute und Regelungen wie etwa die, dass keineGegenstände an die Seiten des Schiffes gehängt werdendürfen, drittens eine Modernisierung des geltenden See-handelsrechts und schließlich viertens eine Anpassungdes allgemeinen Transportrechts und des Binnenschiff-fahrtsrechts an das modernisierte Seehandelsrecht.Eines der wesentlichen Elemente der Reform ist dieNeuregelung des Rechts der Güter- und Personenbeför-derungsverträge.Die im Entwurf vorgesehenen Vorschriften über dasRecht der Güterbeförderungsverträge sind klar struktu-riert: So wird der Raumfrachtvertrag, unter dem derEntwurf ausschließlich den Reisefrachtvertrag versteht,in einem eigenen Titel geregelt. Die Vorschriften überden Stückgutfrachtvertrag gliedern sich in allgemeineVorschriften, in Vorschriften über die Haftung wegenVerlust oder Beschädigung des Gutes sowie in Vorschrif-ten über Beförderungsdokumente.Inhaltlich orientieren sich die Vorschriften in weitenTeilen an dem im Vierten Buch des Handelsgesetzbuchsgeregelten allgemeinen Frachtrecht, berücksichtigenaber zugleich die Besonderheiten der Seebeförderung.Was die Haftung des Verfrachters anbelangt, so sind da-her die Regelungen weiterhin nach dem Vorbild des fürdie maritime Wirtschaft bedeutsamsten Übereinkommens,den sogenannten Visby-Regeln von 1968, ausgestaltet.Die Rotterdam-Regeln, also das Übereinkommen derVereinten Nationen von 2008 über Verträge über die in-ternationale Beförderung von Gütern ganz oder teil-weise auf See, spielen insoweit nur eine untergeordneteRolle.Denn es ist noch unklar, ob und wann die Rotterdam-Regeln völkerrechtlich in Kraft treten werden. Aller-dings wird von dem skizzierten Regelungskonzept, näm-lich der Beibehaltung des geltenden Haftungsregimes, ineinem wichtigen Punkt abgewichen, nämlich der Haftungdes Verfrachters für einen von der Schiffsbesatzung beider Führung oder der sonstigen Bedienung des Schiffesoder durch Feuer an Bord des Schiffes verschuldetenSchaden.Nach den Visby-Regeln und dem heute geltendendeutschen Recht ist in diesen Schadensfällen die Haf-tung des Verfrachters gesetzlich ausgeschlossen. Dieslässt sich jedoch heute, wie die Rotterdam-Regeln zei-gen, kaum noch rechtfertigen. Dementsprechend sollnach dem Gesetzentwurf auf einen gesetzlichen Haf-tungsausschluss verzichtet werden.Mit Blick auf die internationale Rechtslage und dieWettbewerbssituation soll aber den Vertragsparteien ge-stattet werden, einen solchen Haftungsausschluss zu-mindest zu vereinbaren, und zwar auch durch AGB.Soweit der Stückgutfrachtvertrag betroffen ist, möchteich schließlich die Modernisierung der Vorschriftenüber Beförderungsdokumente erwähnen. So regelt derEntwurf erstmalig den in der Praxis weithin verwende-ten Seefrachtbrief und schafft eine gesetzliche Grund-lage für die Verwendung elektronischer Beförderungs-dokumente.Neben den Güterbeförderungsverträgen sollen erst-malig im Handelsgesetzbuch die sogenannten Schiffs-überlassungsverträge, nämlich die Schiffsmiete und dieZeitcharter, geregelt werden. Hierdurch sollen vor allembestehende Rechtsunsicherheiten wegen der rechtlichenEinordnung dieser Verträge und ihrer Abgrenzung vonGüterbeförderungsverträgen beseitigt werden.Soweit das Personenbeförderungsrecht betroffen ist,sieht der Entwurf vor, die Haftung des Beförderers ins-besondere für Personenschäden nach dem Vorbild derab dem 31. Dezember 2012 geltenden EG-Verordnungvon 2009 über die Unfallhaftung von Beförderern vonReisenden auf See deutlich zu verschärfen. Wie wichtigein guter Schutz von Schiffspassagieren ist, hat derSchiffsunfall der „Costa Concordia“ gezeigt. Durch dieReform soll sichergestellt werden, dass das hohe Schutz-niveau, das ab Ende dieses Jahres auf EU-Ebene gilt,Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23587
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(C)
(B)
auch für Schiffsbeförderungen gilt, die nicht unter dieEG-Verordnung fallen. Erfasst ist damit insbesonderedie innerstaatliche Küstenschifffahrt sowie die Binnen-schifffahrt.Die Reform des Seehandelsrechts soll nach dem Ent-wurf am Tag nach der Verkündung des Gesetzes in Krafttreten. Ich hoffe, dies wird noch vor Jahresende der Fallsein. Denn das geltende Recht der Personenbeförderungauf Schiffen sollte mit Inkrafttreten der EG-Verordnungam 31. Dezember 2012 an das europarechtliche Vorbildangepasst sein.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10309 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ander-
weitige Vorschläge gibt es offensichtlich nicht. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 36:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-
kämpfung von Zahlungsverzug im Geschäfts-
verkehr
– Drucksache 17/10491 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auch hier sind, wie vorgesehen, die Reden zu Proto-
koll genommen.
Das Thema Zahlungsverzug hat uns schon Anfang
des Jahres 2010 beschäftigt. Viele Kolleginnen und Kol-
legen werden sich erinnern. Im Frühjahr 2012 hatten
wir mit einer fraktionsübergreifenden Stellungnahme
wesentliche Verbesserungen der Richtlinie erreichen
können.
Zahlungsverzug bringt für viele Akteure und Bran-
chen erhebliche Probleme mit sich. Nicht selten führt
Zahlungsverzug zu Insolvenzen und in der Folge zum
Verlust von Arbeitsplätzen.
Nicht nur die mittelständische Baubranche ist betrof-
fen. Auch andere Unternehmensbereiche wie Dienstleis-
tungs- oder Handwerksbetriebe warten oftmals sehr
lange auf ihr Geld.
Es erweist sich als Problem, wenn Schuldner die Be-
gleichung offener Forderungen über Gebühr hinauszö-
gern oder sich durch überlange vertragliche Zahlungs-
oder Überprüfungsfristen praktisch einen kostenlosen
Kredit einräumen lassen. Nicht selten nutzen gerade
große und marktbeherrschende Teilnehmer oder öffent-
liche Auftraggeber eine solche Möglichkeit, Zahlungs-
aufschübe für lange Zeit zu nutzen. Für einige Unterneh-
men führt dies zu einer wirtschaftlich ernsten, ja gar
existenziellen Gefahr.
Der Gesetzentwurf soll diesem Problem entgegenwir-
ken. Ziel des Gesetzentwurfs zur Bekämpfung von Zah-
lungsverzug im Geschäftsverkehr ist die Verbesserung
der Zahlungsmoral von Unternehmen und öffentlichen
Auftraggebern. Im vorgelegten Gesetzentwurf sehen wir
als CDU/CSU-Bundestagsfraktion allerdings insbeson-
dere im Bereich der geplanten Zahlungs- und Abnahme-
höchstfristen noch Prüfungs- und Erörterungsbedarf.
Insbesondere bedürfen die Fälle weiterer Prüfung, in
denen vor allem große Marktteilnehmer und Auftragge-
ber die nach dem Gesetzentwurf vorgesehenen Überprü-
fungs- und Zahlungsfristen voll ausreizen.
Ich bin zuversichtlich, dass die noch offenen Fragen
im Rahmen der vorgesehenen öffentlichen Anhörung
problematisiert werden. Im Übrigen steht die CDU/
CSU-Fraktion Verbesserungsvorschlägen im jetzt begin-
nenden parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren of-
fen gegenüber.
Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr stellt großeTeile unserer Wirtschaft, vor allem kleine und mittlereUnternehmen, vor Probleme. Wenn sie nicht umgehendfür ihre Dienstleistungen bezahlt werden, fehlt ihnenwichtiges Kapital. Insbesondere in wirtschaftlich so pre-kären Zeiten wie den jetzigen, wo viele kleine und mitt-lere Unternehmen mit den Folgen der Wirtschafts- undFinanzkrise zu kämpfen haben, kann dieser Liquiditäts-mangel fatale Folgen haben: Ihnen fehlt das notwendigeKapital, um Arbeitsplätze zu sichern und Zukunftsinves-titionen zu tätigen. Im schlimmsten Fall führen ausste-hende Rechnungen sogar zur Insolvenz. Zahlungsverzugim Geschäftsverkehr kann somit viele wichtige Arbeits-plätze in Deutschland gefährden.Das Ziel einer EU-Richtlinie von Oktober 2010 ist es,die Zahlungsmoral innerhalb der EU zu verbessern. Ins-besondere kleine und mittlere sowie diejenigen Unter-nehmen, die grenzüberschreitend tätig sind, sollen hier-durch besser geschützt werden.Die Regelungen der Richtlinie sollen sicherstellen,dass Rechnungen umgehend beglichen werden. Hierfürwurden Zahlungsfristen von 30 Tagen festgeschrieben,die höchstens auf 60 Tage ausgeweitet werden dürften.Dies sei aber nur bei ausdrücklicher Vereinbarung undkeiner groben Benachteiligung für einen der Vertrags-partner erlaubt. Bei Verletzung dieser Regelungen wä-ren Verzugszinsen fällig. Diese Bestimmungen würdendie notwendige Liquidität garantieren, um Unternehmenmehr Standfestigkeit, insbesondere in wirtschaftlichschwierigen Phasen, zu verleihen, sie vor einer Insol-venz zu schützen und hierdurch Arbeitsplätze zu sichern.Von Beginn an habe ich mich bei der Formulierungder Richtlinie dafür eingesetzt, dass dabei die Kommu-nen als wichtige Auftraggeber und Wirtschaftspartnernicht durch besonders strenge Sanktionen im Falle desZahlungsverzugs gegenüber privaten Unternehmen be-nachteiligt werden. Es war für mich sehr erfreulich, dasssich diese Ansicht hier im Bundestag fraktionsübergrei-fend durchgesetzt hatte. Durch eine gemeinsame Be-schlussempfehlung im Mai 2010 sprachen wir in dieserSache mit einer starken Stimme. Diese Position habe ichdemnach auch bei einer Anhörung im Europäischen
Metadaten/Kopzeile:
23588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Eva Högl
(C)
(B)
Parlament und in enger Abstimmung mit meinen Kolle-ginnen und Kollegen im EP als zuständige Berichter-statterin der SPD-Fraktion vertreten.Mit dem nun eingebrachten Gesetzentwurf kommt dieBundesregierung ihrer Pflicht nach, diese EU-Richtliniein deutsches Recht umzusetzen. In den nun folgendenparlamentarischen Debatten und Beratungen der nächs-ten Wochen liegt es an uns, die Arbeit der Bundesregie-rung genauestens zu beurteilen. Wir müssen sicherstel-len, dass sie im Sinne der Richtlinie handelt und damitfür einen verbesserten Schutz unserer kleineren undmittleren Unternehmen eintritt.Hierbei ist es zunächst einmal äußerst bedauerlich,dass die Bundesregierung zentrale Forderungen allerFraktionen dieses Hauses nicht berücksichtigt hat. Sohaben wir in unserer fraktionsübergreifenden Be-schlussempfehlung vom Mai 2010 zu den Verhandlungender EU-Richtlinie etwa gefordert, den Begriff der „prüf-fähigen Rechnung“ einzuführen. Hierdurch wollten wirklarstellen, dass nur eine Rechnung, die prüffähig ist,den Zahlungsverzug begründen kann. Dieser Begriff fin-det sich jedoch weder in der Richtlinie noch im Gesetz-entwurf der Bundesregierung wieder.Abgesehen hiervon hat die Bundesregierung die EU-Richtlinie nicht zufriedenstellend umgesetzt: Zum einenmangelt es dem Entwurf an Klarheit und Eindeutigkeit.Struktur und Formulierungen stehen stellenweise nichtim Einklang mit der EU-Richtlinie. Dies stiftet unnötigeUngewissheit und Unsicherheit bei den Unternehmen.Hier besteht also deutlicher Klärungs- und Vereinfa-chungsbedarf. Zum anderen sind zentrale Bestandteileder Richtlinie nicht richtig umsetzt. So fehlt im Gesetz-entwurf etwa die notwendige Verbindung der Zahlungs-frist mit der maximalen Dauer von Abnahme- und Über-prüfungsverfahren, wie sie etwa in der EU-Richtlinieeindeutig hergestellt ist. Darüber hinaus können die Be-stimmungen des Gesetzentwurfs unter Umständen zu ab-surden Situationen führen: Ein Unternehmen muss eineRechnung bezahlen, obwohl es noch gar nicht die ent-sprechende Gegenleistung erhalten hat. Man zahlt füretwas, was man noch nicht bekommen hat – ein kuriosesNovum, das die Bundesregierung in das deutsche Rechteinführt. Hier besteht also erheblicher Verbesserungsbe-darf.Ziel muss es sein, die Situation insbesondere von klei-nen und mittleren Unternehmen zu verbessern. Sie dür-fen nicht länger auf ihr Geld warten als bislang. Wie wirsehen, ist dieses Ziel jedoch durch den Gesetzentwurfder schwarz-gelben Koalition in Gefahr. Statt die Situa-tion zu verbessern, wird sie im schlimmsten Fall gar ver-schlechtert.Wir als SPD-Bundestagsfraktion wollen jedoch, dassUnternehmen nicht weniger, sondern mehr Sicherheitund Schutz genießen, dass sie genügend Liquidität besit-zen, um Arbeitsplätze zu sichern und ihre Angestelltenpünktlich zu bezahlen. Daher werden wir uns in denkommenden Wochen intensiv dafür einsetzen, den Ge-setzentwurf zu vereinfachen und zu verbessern, um denZahlungsverzug im Geschäftsverkehr wirksam und imSinne unserer Wirtschaft, vor allem kleinerer und mittle-rer Unternehmen, zu bekämpfen.
Gegenstand der heutigen Debatte ist die Umsetzungeiner Richtlinie des Europäischen Parlaments und desRates aus dem Februar 2012. Die Bundesrepublik istvölkerrechtlich verpflichtet, diese Richtlinie in inner-staatliches Recht umzusetzen. Ob die Segnungen ausBrüssel immer den Stein der Weisen darstellen, kanndahinstehen. Interessieren soll uns das Ob und das Wieder Umsetzung. Hier ist, vor allem wenn es um Anpas-sungen so alter und umfangreicher Gesetze wie das desBürgerlichen Gesetzbuches geht, sensibles Herangehengefragt. Es kommt darauf an, die Neuerungen bestmög-lich in die bestehende Systematik einzufügen, ohne dieÜbersichtlichkeit zu verlieren.Meines Erachtens ist dem Bundesjustizministeriumeine behutsame Einbettung nicht gelungen – im Gegen-teil: Die in der Richtlinie vorgesehenen Veränderungenwurden einfach nur eins zu eins in das BGB hinein-gedrückt.Größtenteils entspricht das deutsche Zivilrecht be-reits den Anforderungen der Richtlinie, sodass nur nochTeilbereiche neu zu regeln waren. Der Gesetzentwurfsieht die Anhebung der gesetzlichen Verzugszinsen vorund führt einen Anspruch auf Zahlung eines Pauschal-betrages bei Verzug ein. Darüber hinaus sollen Höchst-grenzen für vertraglich vereinbarte Zahlungsfristensowie Höchstgrenzen für die Dauer von Abnahme- undÜberprüfungsverfahren eingeführt werden. Ein pau-schaler Schadenersatz und Höchstgrenzen für Zahlungs-und Annahmefristen sind dem BGB bisher fremd.Alle Bürgerinnen und Bürger, die befürchten, dass dieGesetze noch umständlicher und Kauf- oder Werkver-träge komplizierter werden, kann ich beruhigen: FürVerbraucherinnen und Verbraucher wird sich nichtsändern. Denn die Neuerungen gelten nur für Verträgezwischen Unternehmern und zwischen öffentlichen Auf-traggebern und Unternehmen.In den vergangen Wochen erreichten mich und meineKollegen viele Schreiben von Handwerkern, kleinen undmittelständischen Unternehmern sowie Handwerkskam-mern und anderen Interessenvertretungen. Sie warnendavor, dass sich die ihrer Auffassung nach richtige Ziel-setzung der Richtlinie, Zahlungsfristen zu verkürzen unddamit die Liquidität der Unternehmen zu verbessern,durch die Umsetzung in bundesdeutsches Recht insGegenteil verkehren könnte.Ich sehe aber die Gefahr einer drohenden Rechtsun-sicherheit, die sich erst nach einigen Jahren durchhöchstrichterliche Rechtsprechung abstellen lässt.Ich hatte darauf hingewiesen, dass die neuen Rege-lungen teilweise nicht der deutschen Gesetzgebungs-technik entsprechen. Dies möchte ich mit zwei kurzenBeispielen unterstreichen:Erstens. Der Fristbeginn in § 271 Abs. 1 und Abs. 2BGB-Entwurf ist nicht einheitlich geregelt. Der Lauf derZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23589
Jens Petermann
(C)
(B)
Frist kann mit Zugang der Rechnung oder gleichwerti-gen Zahlungsaufstellung oder Empfang der Gegenleis-tung beginnen. Hier kann es in der Praxis zu erheblichenMissverständnissen kommen. Eine Zahlungsaufstellungist zum Beispiel schon ein Leistungsverzeichnis, welchesbei Bauaufträgen bereits mit dem Angebot abgegebenwird. Hier ist Konkretisierung notwendig.Zweitens. § 288 Abs. 5 Satz 2 BGB-Entwurf besagt,dass eine Vereinbarung, die den Anspruch aus Satz 1ausschließt, vermutlich gegen die guten Sitten verstößt.Das ist wortwörtlich aus der Richtlinie übernommen,entspricht aber mitnichten der deutschen Gesetzesspra-che. Denn im deutschen Recht sind nur Tatsachen ver-mutungsfähig, nicht jedoch Wertungen.Bei diesen beiden Beispielen möchte ich es bewendenlassen. Sie zeigen aber deutlich, dass sich die Erstellerder Vorlage über das Copy-and-Paste-Verfahren hinaushätten bemühen sollen. Es sind also noch einige Unzu-länglichkeiten durch die Beamten im Justizministeriumabzustellen, damit der Gesetzentwurf dann im zweitenDurchgang der Rechtsförmlichkeit entspricht.
Die verspätete Bezahlung von Rechnungen bringt
kleine und mittlere Unternehmen in Europa immer wieder
in ernste Schwierigkeiten. Diese können bis zum finan-
ziellen Ruin der Unternehmen führen. Um kleinere Auf-
tragnehmer in Europa besser zu schützen, hat die Euro-
päische Union Anfang 2011 eine Richtlinie erlassen, die
den Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr besser regle-
mentieren soll.
Heute debattieren wir über das Gesetz, das die Richt-
linie in Deutschland umsetzen soll. Es geht um den
Schutz der Unternehmen, die sich einem übermächtigen
Verhandlungspartner gegenübersehen, der ihnen Zah-
lungsfristen „diktiert“. Die Regelungen gelten für die
öffentliche Hand und private Unternehmen, nicht für
Verbraucherinnen und Verbraucher.
Ein hoher Zahlungsverzug ist auch in Deutschland
keine Seltenheit. Lange Höchstfristen werden in Verträ-
gen festgelegt und bis zum Ende ausgereizt. Das neue
Gesetz sieht vor, die Zahlungsfristen auf 60 Tage, für öf-
fentliche Auftraggeber sogar auf 30 Tage, zu beschrän-
ken.
60 Tage sind eine lange Zeit, insbesondere wenn man
hierzu noch 30 Tage als Höchstgrenze der Abnahmefrist
hinzuzählt. Bleibt die Zahlung für 90 Tage aus, kann dies
in Vorleistung getretene Unternehmen bereits in eine fi-
nanzielle Bredouille führen.
Die neuen Regelungen lösen deshalb im Unterneh-
menskreis die Befürchtung aus, dass das Ziel der Richt-
linie – Bekämpfung des Zahlungsverzugs – nicht erreicht
wird, sondern sich im Gegenteil am Markt Fristen eta-
blieren, die fern von unserem gesetzlichen Leitbild lie-
gen.
Unser gesetzliches Leitbild sieht die für den Gläubi-
ger günstigste Variante vor: Der Gläubiger kann im
Zweifel die Zahlung sofort verlangen. Um das Ziel der
Richtlinie, den Zahlungsverzug zu vermeiden, nicht ins
Gegenteil zu verkehren, müssen wir bei der Umsetzung
darauf achten, dass unser gesetzliches Leitbild in Funk-
tion bleibt. Wir müssen klarstellen, dass die Zahlungs-
frist von maximal 60 Tagen das Äußerste ist, was im Ge-
schäftsverkehr noch tragbar ist. Wir dürfen dem
Ausreizen von Höchstfristen keinen Vorschub leisten.
Abzuwarten bleibt darüber hinaus, ob ein weiteres
Element im Gesetzentwurf zu einer Verbesserung der
Zahlungsmoral führen wird: Die Einführung eines Pau-
schalbetrags von 40 Euro für sogenannte „Beitreibungs-
kosten“. Der Anspruch entsteht, wenn der Gläubiger
Anspruch auf Verzugszinsen hat.
Dies ist ein Novum im deutschen Recht. Mit 40 Euro
ist dieser Anspruch zwar moderat bemessen, dennoch ist
der pauschale Anspruch, der unabhängig davon vor-
liegt, ob ein solcher Schaden beim Gläubiger überhaupt
entstanden ist, dem deutschen Schadenersatzsystem
fremd.
Fraglich ist, ob eine solche Pauschale tatsächlich
Schuldner dazu anhält, rechtzeitig zu zahlen. Schuldner,
die bewusst Zahlungen nach hinten hinausschieben und
auf einen „Kredit“ des Gläubigers setzen, werden sich
von 40 Euro nicht unbedingt abschrecken lassen.
Auch lässt die Pauschale eine gewisse Nähe zum
Strafschadenersatz erkennen. Die 40 Euro sollen zwar
laut EU-Kommission keine strafende Wirkung haben.
Sie sollen dem Gläubiger als Ausgleich für seine Beitrei-
bungskosten dienen. Aber Schadenersatzforderungen
ohne nachgewiesenen Schaden haben einen „Wieder-
gutmachungscharakter“, der auch dem Strafschadens-
ersatz innewohnt.
Und die EU-Kommission treibt die Einrichtung von
Pauschalzahlungen voran: Im Entwurf zum Gemein-
samen Europäischen Kaufrecht findet sich der Anspruch
auf 40 Euro Entschädigung für Beitreibungskosten wie-
der.
Meine Damen und Herren, auf EU-Ebene sollten wir
uns weiterhin Bestrebungen zur Einführung von unange-
messen hohen Pauschalbeträgen oder von Strafschaden-
ersatz im Zivilrecht entgegenstellen. Ein Strafschaden-
ersatz, der weit über einen tatsächlich eingetretenen
Schaden hinausgeht, stellt eine Bereicherung des Gläu-
bigers dar. Er führt zu einer nicht kalkulierbaren Zusatz-
belastung von Schuldnern oder – im Fall von öffent-
lichen Auftraggebern – letztlich von Steuerzahlern. Einer
solchen Zusatzbelastung müssen wir vorbeugen.
D
Mit dem dem Deutschen Bundestag vorliegenden Ent-wurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Zahlungs-verzug im Geschäftsverkehr soll die im Jahre 2011 über-arbeitete europäische Richtlinie zur Bekämpfung vonZahlungsverzug im Geschäftsverkehr umgesetzt werden.Ziel ist es, die Zahlungsmoral von Unternehmen undöffentlichen Auftraggebern zu verbessern. Dies ist vorallem zum Schutz des Mittelstandes erforderlich. Denninsbesondere kleine und mittlere Unternehmen leiden,Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler
(C)
(B)
wenn Schuldner die Begleichung offener Forderungenüber Gebühr hinauszögern oder sich durch vertraglicheZahlungs- oder Überprüfungsfristen praktisch einenkostenlosen Gläubiger- oder Lieferantenkredit einräu-men lassen. Für die Unternehmen kann dies zu einerwirtschaftlich ernsten, wenn nicht gar existenziellenGefahr werden. Mit dem Gesetzentwurf soll diesemUnwesen entgegengewirkt werden.Zu diesem Zweck sieht der Gesetzentwurf im Wesent-lichen Folgendes vor: erstens eine Beschneidung desRechts, durch eine Vereinbarung von Zahlungs-, Ab-nahme- und Überprüfungsfristen die an sich bestehendePflicht zur sofortigen Begleichung einer Forderung überGebühr hinauszuschieben; zweitens eine Erhöhung dergesetzlichen Verzugszinsen; drittens einen Anspruch aufeine zusätzliche Pauschale bei Zahlungsverzug.Der Gesetzentwurf setzt die Richtlinie eins zu einsum. Dies bedeutet insbesondere auch, dass Verbrauchernicht von dem Gesetzentwurf betroffen sind.Die im Entwurf vorgesehenen Regelungen über eineVereinbarung von Zahlungs-, Abnahme- und Überprü-fungsfristen gehen – wie bisher – von dem Leitbild aus,dass eine Leistung sofort zu bewirken ist. Allerdingssetzt das geltende Recht den Vertragsparteien, die vondiesem Leitbild abweichen wollen, nur wenige Grenzen,nämlich das allgemeine Gebot der Wahrung von Treuund Glauben sowie der für Allgemeine Geschäftsbedin-gungen geltende Grundsatz, dass die Vertragspartnerdes AGB-Verwenders nicht entgegen den Geboten vonTreu und Glauben unangemessen benachteiligt werdendürfen. Diese Grenzen sollen nach dem Gesetzentwurfenger gesteckt werden. Insbesondere soll sich der Auf-traggeber künftig nicht mehr darauf berufen können,dass er üblicherweise erst nach Ablauf sehr langer Zah-lungs-, Abnahme- oder Überprüfungsfristen zahle.Dementsprechend sieht der Entwurf für die Verein-barung bestimmter Fristen im Verkehr zwischen Unter-nehmen vor, dass Fristen, die eine bestimmte Längeüberschreiten, nämlich 60 Tage bei Zahlungsfristen und30 Tage bei Überprüfungs- und Abnahmefristen, aus-drücklich vereinbart werden müssen und dass dieseFristen für den Gläubiger der Entgeltforderung nichtgrob nachteilig sein dürfen. Werden diese Anforderun-gen nicht erfüllt, ist die Vereinbarung unwirksam unddie Leistung sofort bzw. bei einem Werkvertrag beiAbnahme zu bewirken. Bei Geschäften mit öffentlichenUnternehmen werden die Anforderungen noch ver-schärft: So gilt das Erfordernis der Ausdrücklichkeitbereits bei der Vereinbarung einer Zahlungsfrist vonmehr als 30 Tagen. Außerdem wird die Vereinbarung vonvornherein als unwirksam angesehen, wenn eine Zah-lungsfrist von mehr als 60 Tagen vereinbart wird.Die im Entwurf vorgeschlagenen Regelungen lassenselbstverständlich das Recht der Allgemeinen Ge-schäftsbedingungen unberührt. Auch dann, wenn in denAGB Fristen vorgesehen sind, die mit denen im Entwurfgenannten übereinstimmen, ist also nicht ausgeschlos-sen, dass die AGB im Streitfall als unwirksam anzusehensind.Die im Entwurf vorgesehenen weiteren Änderungen,insbesondere die Anhebung des Verzugszinssatzes um1 Prozentpunkt und die Einführung eines Anspruchs desGläubigers auf eine Pauschale in Höhe von 40 Euro beiVerzug des Schuldners, dienen ebenfalls der Bekämp-fung von Zahlungsverzug. Die Einführung desAnspruchs auf eine Pauschale trägt außerdem zu einerEntlastung der Gerichte bei. Denn hierdurch werdenStreitigkeiten vor allem über geringe Kosten der Rechts-verfolgung, wie sie etwa durch die Einschaltung einesInkassobüros entstehen, vermieden.Die EU-Richtlinie, die die Vorgaben für den vorlie-genden Gesetzentwurf definiert, muss bis zum 16. März2013 umgesetzt sein. Ich hoffe, dass spätestens zu die-sem Zeitpunkt neue Regelungen gelten werden, die dazubeitragen, dass im Geschäftsverkehr zwischen Unter-nehmen sowie zwischen Unternehmen und der öffent-lichen Hand wieder mehr Fair Play Einzug hält und sichdie Zahlungsmoral bessert.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10491 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ander-
weitige Vorschläge gibt es nicht. Dann haben wir die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 37:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novel-
lierung patentrechtlicher Vorschriften und an-
derer Gesetze des gewerblichen
Rechtsschutzes
– Drucksache 17/10308 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Beim Deutschen Patent- und Markenamt gehen jähr-lich etwa 60 000 Anmeldungen für Patente ein. Deutsch-land ist nach wie vor das Land der Tüftler und Erfinder.Mit dem Gesetzentwurf wollen wir den Erfindergeistder Menschen in Deutschland stärken. Dies umfasstauch Verfahrensabläufe bei der Anmeldung von Paten-ten. Wir wollen zudem die Erfordernisse der Praxis undentsprechende Vorschläge aus der Wirtschaft aufneh-men.Im Einzelnen sieht der Gesetzentwurf vor, den Inhaltdes Rechercheberichts zu erweitern. Dieser soll künftigneben der Feststellung der Neuheit einer Erfindungauch Angaben über die Patentfähigkeit der angemelde-ten Erfindung, wie es bereits der Recherchebericht desEuropäischen Patentamtes vorsieht, enthalten.Das Deutsche Patent- und Markenamt kann, um sichvor ausuferndem Arbeitsaufwand zu schützen, bereits imRechercheverfahren den Mangel der Uneinheitlichkeitder angemeldeten Erfindung feststellen und den Inhalt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23591
Dr. Stephan Harbarth
(C)
(B)
des Rechercheberichts auf eine einheitliche Erfindungbegrenzen.Weitere Erleichterungen soll es bei der Einreichungvon englisch- und französischsprachigen Anmeldeunter-lagen geben. Diese werden künftig erst bis zum Ablaufdes zwölften Monats beim Deutschen Patent- und Mar-kenamt eingereicht werden müssen. Die Verlängerungder Übersetzungsfrist bedeutet für den Anmelder, dassdieser nunmehr länger Bedenkzeit bekommen wird, ober die derzeit hohen Kosten einer Übersetzung der An-meldeunterlagen für die Weiterverfolgung des nationa-len Anmeldeverfahrens aufbringen will.Künftig wird die Erteilung eines Patents ohne Benen-nung des Erfinders nicht mehr möglich sein. Hierdurchwird das Persönlichkeitsrecht des Erfinders gestärkt.Des Weiteren soll es künftig für die Beteiligten undDritte möglich sein, die Akten von über 18 Monate zu-rückliegenden Patentanmeldungen und erteilten Paten-ten auch durch Zugriff über das Internet einzusehen.Mit diesen Änderungen tragen wir als christlich-libe-rale Koalition der Entwicklung im Zeitalter des Inter-nets Rechnung. Patente werden somit zügiger und kos-tengünstiger angemeldet werden können. Die Trans-parenz wird gesteigert.Wir als Unionsfraktion stehen weiteren Verbesse-rungsvorschlägen im parlamentarischen Gesetzge-bungsverfahren offen gegenüber.
Patente sind ein wichtiger Indikator für die Innova-
tionskraft der deutschen Wirtschaft. Die Zahlen sprechen
für sich: Im vergangenen Jahr sind beim Deutschen Pa-
tent- und Markenamt, DPMA, fast 60 000 Patentanmel-
dungen eingegangen. Zusätzlich belegte Deutschland
nach den Vereinigten Staaten und Japan 2011 mit circa
33 000 Patentanmeldungen beim Europäischen Patent-
amt, EPA, den dritten Platz und war damit Spitzenreiter
in Europa. Patentrechtsnovellen müssen daher auch an
ihren Auswirkungen auf den Innovationsstandort
Deutschland gemessen werden.
Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Novellie-
rung patentrechtlicher Vorschriften und anderer Gesetze
des gewerblichen Rechtsschutzes, mit dem die Bundesre-
gierung auf geänderte Erfordernisse der Praxis und ent-
sprechende Vorschläge für Innovationen aus der Wirt-
schaft reagieren will, enthält eine Reihe von Vor-
schlägen zur Optimierung der Effizienz des Verfahrens
vor dem Deutschen Patent- und Markenamt, DPMA. Sie
sollen die Verfahren effizienter und transparenter gestal-
ten, Kosten und Bürokratieaufwand senken und den Stel-
lenwert des deutschen Patents im Vergleich zum euro-
päischen Patent wahren bzw. erhöhen.
Im Einzelnen wird unter anderem vorgeschlagen, den
Inhalt des Rechercheberichts zu erweitern und an ver-
gleichbare Vorgaben des Europäischen Patentamtes,
EPA, anzupassen. Der Anmeldetag soll künftig unabhän-
gig von der Einreichung übersetzter Anmeldeunterlagen
bestimmt werden. Die kostspielige Übersetzung eng-
lisch- und französischsprachiger Anmeldeunterlagen ist
zukünftig erst bis zum Ablauf des zwölften Monats beim
DPMA einzureichen. Ferner soll die derzeit geltende
kurze Einspruchsfrist von drei Monaten auf neun Mo-
nate verlängert werden, um bei komplexen Patenten eine
sorgfältig Prüfung zu ermöglichen. Schließlich ist auf
Antrag des Anmelders im Erteilungsverfahren zwingend
eine Anhörung durchzuführen, und die Erteilung eines
Patents bedarf künftig grundsätzlich der Benennung des
Erfinders.
Diese und andere Änderungen klingen auf den ersten
Blick vernünftig, und wir werden in den weiteren Aus-
schussberatungen klären, ob sie den Anforderungen der
Praxis genügen oder ob darüber hinaus weitere Maß-
nahmen zur Verbesserung der Verfahrensabläufe beim
DPMA notwendig sind.
Aus wirtschaftspolitischer Sicht müssen wir unsere
Aufmerksamkeit aber auch auf den grenzüberschreiten-
den Patentschutz richten – in Europa und weltweit. Un-
ser Ziel muss sein, ein möglichst einheitliches, über-
schaubares und kostengünstiges Schutzrechtssystem zu
schaffen. Vor allem brauchen wir im Interesse der Inte-
gration des Binnenmarktes, der Verringerung der Kos-
ten des Patentschutzes in Europa und der Verbesserung
der Rechtssicherheit einen effektiven und kostengünsti-
gen einheitlichen Patentschutz in der EU. Die Bilanz der
Bundesregierung ist hier leider ernüchternd: Obwohl
Deutschland das patentstärkste Land in Europa ist, ist
es der Bundesregierung nicht gelungen, das Europäi-
sche Patentgericht nach München zu holen.
Mit dem heute zu behandelnden Gesetzentwurf ver-spricht uns die Bundesregierung die nutzerfreundlicheVerbesserung der Verfahren vor dem Deutschen Patent-und Markenamt in Patentsachen. Sowohl für den einzel-nen Anmelder als auch für das Patentamt soll das Ver-fahren effizienter und transparenter gestaltet werden.Versprochen werden Senkung der Kosten und des Büro-kratieaufwands. Wer kann diesen Zielen und Vorhabenwidersprechen, wenn sie auch so umgesetzt werden?Aus den Fachkreisen hört man Zustimmung. Die Pa-tentanwaltskammer signalisiert vollinhaltliche Zustim-mung und findet im Gesetzentwurf viele ihrer Anregun-gen wieder. Zu Recht macht die Patentanwaltskammerauf einige Schwächen aufmerksam, zum Beispiel auf dieneu geschaffene Ermächtigung zur Datenübermittlungan das Europäische Patentamt.In der Tat ermöglicht der Wortlaut der Ermächtigungdie unbegrenzte Übermittlung aller Daten, auch derjeni-gen des Anmelders, die zu den geheimhaltungsbedürfti-gen Daten gehören, wie etwa eingereichte ärztliche At-teste. Während von der vorgesehenen elektronischenAkteneinsicht durch die Öffentlichkeit diese privatenTeile herausgenommen werden können, dürfte das Euro-päische Patentamt den Zugriff auf alle Daten haben.Dies ist weder erforderlich noch zu rechtfertigen. Diessollte im Laufe der anstehenden Beratungen korrigiertund der Standard des Datenschutzes respektiert werden.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Richard Pitterle
(C)
(B)
Während der Gesetzentwurf die Effektivierung derVerfahrensabläufe vorsieht, bleiben Fragen grundsätzli-cher Art außen vor und damit jedoch auf der Tagesord-nung. Ich will aus Zeitgründen nur drei benennen:Erstens. Patente sollen Innovationen schützen unddamit fördern. Werden diese jedoch nur aus markttakti-schem Kalkül angemeldet, ohne dass eine wirtschaftli-che Nutzung plausibel gemacht wird, dann droht die Ge-fahr, dass diese Innovationen verhindern. Es fehlen imbisherigen Patentrecht die Mittel, um den wettbewerbs-widrigen Missbrauch des Patentwesens ordnungspoli-tisch zu unterbinden.Zweitens. Ist es noch vertretbar, dass wir die gleichenPatentlaufzeiten haben, obwohl sich der Zyklus der Pro-dukterneuerung ständig verkürzt?Drittens. Mein Kollege Roland Claus hatte in derletzten Legislaturperiode im Januar 2009 eine deutlichstärkere personelle Ausstattung für das Patentamt ange-mahnt. Auch diese Forderung ist meines Erachtens nochakut, wenn wir dem von vielen beklagten Patentstau ent-gegenwirken wollen.Wenn man sich die Begründung des Gesetzentwurfesansieht, so erwartet die Bundesregierung von der Ein-führung der elektronischen Akteneinsicht und anderenGesetzesänderungen Einsparungen bei den Personal-kosten. Es wäre sinnvoll, hierzu den Personalrat der Be-hörde zu hören; denn es wäre nicht das erste Mal, wenndie Einführung von automatisierten Prozessen zumin-dest in der Anfangsphase nicht mit weniger, sondern mitmehr Aufwand verbunden wäre. Jeder, der in der Praxissolche Umstellungen erlebt hat, weiß, wovon ich rede.Ein Unbekannter hinterließ uns zu dem Thema fol-gende Botschaft: „Für das große Chaos haben wir Com-puter. Die übrigen Fehler machen wir von Hand.“Für die bessere personelle Ausstattung bedarf es ei-nes Gesetzes nicht, sondern entsprechende Beschlüsseim laufenden Haushaltsplanverfahren. Hier ist die Re-gierungskoalition am Zug. Hic Rhodus, hic salta!
Als Apple kürzlich in einem von zahlreichen Patent-streitigkeiten um mögliche Nachahmungen seineriPhone-Technik vor einem US-Gericht einen überwälti-genden Sieg erzielte, da wurde sehr genau reflektiert,welche Folgen der mittlerweile voll eskalierte Patent-krieg zwischen den Großunternehmen, in diesem Fallder Softwarebranche, für die Gesellschaft nach sichziehen könnte. Es erscheint nicht abwegig, dass diespektakulären Verfahren und die mit stattgebendenUrteilen einhergehenden hohen Schadensersatzsummenund Unterlassungsansprüche im Ergebnis massiv inno-vationshindernde Folgen nach sich ziehen können. Wenneben ein Markt und die Neueinführung eines Produktespatentrechtlich einem Minenfeld gleicht, sinkt die Be-geisterung, alle Ressourcen daran zu setzen, Platzhir-sche infrage zu stellen, Marktführer durch Innovationenanzugreifen und dabei ganz nebenbei ein dynamischeswirtschaftliches Umfeld zu erzeugen, auf das die Politikmit Argusaugen schauen müsste.Aber auch die Verbraucherinnnen und Verbraucherkönnten am Ende diejenigen sein, die den Preis diesesPatentkrieges zahlen. Denn in dem Maße, wie dasPatentrecht sich einer weiten Patentierbarkeit öffnet,wie etwa im Fall der Softwarepatente, führen die„Monopole auf Zeit“ zu einer vom Preiskampf im Wett-bewerb temporär abgekoppelten Entwicklung.Natürlich erscheinen diese Thesen angesichts desbereits seit vielen Jahren andauernden Patentkriegesauf den unterschiedlichsten Märkten zugespitzt. Genau-ere Untersuchungen zu den Folgen liegen nicht vor, undes erscheint ebenso realistisch, dass sich so hochinnova-tive und besonders kapitalstarke Branchen wie etwa derIT-Sektor von rechtlichen Rahmenbedingungen wie demPatentrecht allenfalls am Rande, also gewissermaßen alsein Nebenkriegsschauplatz, betroffen sehen. Dank deshohen Wettbewerbes auch in diesem Bereich sorgt derhohe Innovationsdruck auch für laufenden Preisdruck,sodass die Verbraucherinnen und Verbraucher bei denPreisen zumeist nicht das Nachsehen haben.Gleichwohl: Das Diktum vom Patentrecht als bloßemAnreizsystem für die allgemeine technische Fortentwick-lung wirkt vor dem Hintergrund der beschriebenenRealitäten des Patentrechts in den Gerichtssälen etwasaltbacken, und auch der Gesetzgeber muss hier laufendüberprüfen, ob etwas aus dem Ruder läuft.Besonderen Anlass dazu bietet der Streit um Patenteauf Leben ebenso wie die weiter ausufernde Realität derSoftwarepatente, gegen die sich die freie Softwarebewe-gung mit guten Argumenten zur Wehr setzt. Zudem wärees politisch naiv, Wachstum und Erfolg einer Wirtschaftallein am zahlenmäßigen Output von Patenten zu be-messen, wenn nicht sichergestellt ist, dass es sich dabeium ein sorgfältiges und vor allem gerechtes System derErteilung handelt.Die Bundesregierung hat sich in dieser Situationlediglich damit begnügt, im nationalen Rahmen eineReform für einzelne Verfahrensverbesserungen in allenSparten des Immaterialgüterrechts vorzulegen. Siedürfte sich damit weitgehend auf sicherem Grund bewe-gen. Der Entwurf hat denn auch überwiegend Zustim-mung seitens der beteiligten Verbände erfahren. Es gehtum den in der Sache anerkennenswerten Anspruch,Erteilungsverfahren zu vereinfachen, Anmelder zu ent-lasten und Anpassungen an die beim EuropäischenPatentamt vorgegebenen Verfahrensabläufe vorzuneh-men.Einen sachgerechten Fortschritt bedeutet die Mög-lichkeit des Erreichens des Anmeldetages und der damitverbundenen Rechtsfolgen bei fremdsprachigen Paten-ten unabhängig vom tatsächlichen Vorliegen der Über-setzung, ferner auch die Erstreckung der Recherchenach § 43 auf den „Stand der Technik“, weil und soweitdamit eine verbesserte Recherchequalität spätere dys-funktionale Streitigkeiten vermieden werden können.Als grundsätzlich besonders positiv hervorhebenmöchte ich auch sowohl die nutzerfreundliche und derZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23593
Dr. Konstantin von Notz
(C)
(B)
Allgemeinheit dienende Klarstellung hinsichtlich derAkteneinsichtsrechte in die elektronische Schutzrechts-akte, die seit Mitte 2011 beim DPMA geführt wird, alsauch die Möglichkeit der Weitergabe von Patentinfor-mationen über die eigenen Publikationen hinaus. Dabeiwurde zwar die gebotene Abwägung mit möglichengegenläufigen Datenschutzrechten vorgenommen, zwei-felhaft erscheint allerdings die Schwelle des „offensicht-lichen Überwiegens schutzwürdiger Interessen“.Ich teile ferner die meines Erachtens schlüssigeKritik der Patentanwaltskammer vom 2. März 2012 hin-sichtlich Art. 7 des Gesetzentwurfs. Die darin vorgese-hene Übermittlungsbefugnis an das Europäische Patent-amt wurde zwar entsprechend überarbeitet, siehtgleichwohl nach wie vor mit der Schwelle „offensichtli-chen Überwiegens“ eine unnötig hohe Schwelle für dasEingreifen einer sorgfältigen inhaltlichen Prüfung vor.D
Mit dem Ihnen vorgelegten Gesetz zur Novellierungpatentrechtlicher Vorschriften und anderer Gesetze desgewerblichen Rechtsschutzes verfolgt die Bundesregie-rung drei Ziele:Erstens wollen wir die Verfahrensabläufe bei der Er-teilung von Patenten beim Deutschen Patent- und Mar-kenamt nutzerfreundlicher ausgestalten.Zweitens wollen wir den bürokratischen Aufwand so-wie die Kosten bei den Anmeldern und beim Patentamtsenken.Drittens geht es uns darum, angesichts der bevorste-henden Umgestaltung der Patentlandschaft in Europadurch das EU-Patent die Bedeutung des deutschen Pa-tents und des deutschen Patentamtes zu stärken.Dieses Gesetz bildet einen weiteren Baustein auf demWeg zu einem effizienten, anwenderfreundlichen undkonkurrenzfähigen deutschen Patentsystem. Vor dreiJahren ist die letzte größere Novelle in Kraft getreten:Mit dem Patentrechtsmodernisierungsgesetz von 2009ist es gelungen, die Verfahren vor den Patentgerichteneffektiver auszugestalten und eine ausufernde Beru-fungspraxis einzudämmen. Bei dem vorgelegten Entwurfliegt der Fokus auf der Optimierung des Erteilungsver-fahrens.Für die deutsche Wirtschaft ist ein funktionierendesPatentsystem von lebenswichtiger Bedeutung. Die deut-schen Unternehmen haben, was die Zahl der techni-schen Erfindungen angeht, im europäischen Vergleicheine Ausnahmestellung. Dazu nur eine Zahl: Etwa40 Prozent aller vom Europäischen Patentamt an An-melder aus Europa erteilten europäischen Patente ge-hen nach Deutschland.Doch auch das deutsche Patent erfreut sich unverän-dert großer Beliebtheit. Vielen Unternehmen, insbeson-dere Mittelständlern, genügt es, ihre Erfindung nur imInland schützen zu lassen. Im vergangenen Jahr wurdenungefähr 60 000 Patente angemeldet und knapp 14 000erteilt.Die Bundesrepublik ist unangefochten Innovations-standort Nummer eins in Europa. Diese Spitzenpositionwollen wir erhalten. Dazu müssen wir das Patentrechtan veränderte Gegebenheiten anpassen. Dies gilt fürneue technische Entwicklungen ebenso wie für Änderun-gen im Verhalten der Anmelder.Dazu greife ich aus der vorliegenden Novelle dreiKernpunkte heraus:Erstens. Die Einsicht in die Anmeldeunterlagen sollkünftig online über das Internet möglich sein. Bishermusste man für die Akteneinsicht die umständliche Me-thode anwenden, nach München zum Patentamt zu fah-ren oder sich Kopien per Fax oder Post schicken zu las-sen. Patentanwälte und Patentabteilungen von Unter-nehmen haben 18 Monate nach der Anmeldung einenAnspruch darauf, zu erfahren, welche technischen Erfin-dungen sich im Erteilungsverfahren befinden. Dann ken-nen sie den Stand der Technik; dann können sie ihre ei-genen Entwicklungsaktivitäten darauf abstimmen undalternative technische Lösungsansätze suchen. Es istzeitgemäß und entspricht der Arbeitsweise der Nutzerdes Patentsystems, dass der Informationsfluss über dasInternet eröffnet wird.Mit dieser Neuregelung kommen wir dem einhelligenWunsch der Patentpraxis nach unkomplizierter und ak-tueller Bereitstellung von Patentinformationen nach.Gleichzeitig stärken wir damit die Servicequalität desDPMA erheblich. Dass Datenschutzbelange und Urhe-berrechte bei der Onlineakteneinsicht gewährleistet seinmüssen, schreibt der Gesetzentwurf ausdrücklich vor.Zweitens. Das Stichwort Servicequalität gilt auch fürdie Privilegierung von Patentanmeldungen in engli-scher und französischer Sprache. Viele Erfinder meldenzunächst beim DPMA an, um sich dort nach neun oderzehn Monaten einen ersten Bescheid abzuholen. Aus die-sem Recherchebericht erfahren sie nach derzeitigemRecht den relevanten Stand der Technik. Fällt dieser Be-richt ermutigend aus, verfolgen die Antragsteller an-schließend den Erwerb ihres Schutzrechts beim Europäi-schen Patentamt in anderer Sprache, zumeist Englisch,weiter.Derzeit müssen alle Unterlagen schon drei Monatenach der Anmeldung in deutscher Sprache vorliegen.Unsere Novellierung sieht eine Verlängerung dieserFrist für englische und französische Anmeldungen aufzwölf Monate vor. Damit wollen wir erreichen, dass in-ternationale Anmelder ihre für die Nachanmeldungbeim EPA vorgesehenen fremdsprachigen Papiere erstdann ins Deutsche übersetzen müssen, wenn sie sich ent-schließen, ihr Erteilungsverfahren beim deutschen Pa-tentamt fortzusetzen. Damit wird es attraktiver, das An-gebot des DPMA zu nutzen. Und damit wird das DPMAgegenüber dem Europäischen Patentamt konkurrenzfä-higer.Drittens. Verbesserung der Servicequalität ist auchdie Überschrift für die inhaltliche Aufwertung des so-eben angesprochenen Rechercheberichts. Bisher führter nur diejenigen Druckschriften auf, die für die Beurtei-lung der Patentierbarkeit von Bedeutung sein könnten.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler
(C)
(B)
Die Recherche soll künftig der Praxis auf internationa-ler Ebene angeglichen und deshalb erweitert werden umeine erste, vorläufige Einschätzung der Patentierungs-voraussetzungen Neuheit und erfinderische Tätigkeit.Der Anmelder hat dann schon wenige Monate nachder Antragstellung eine vorläufige Bewertung seiner Er-teilungschancen in der Hand. Sind diese gering, kann eraus dem Verfahren aussteigen und weitere Kosten ver-meiden.Die vorliegende Novellierung konzentriert sich aufdie Straffung und Entbürokratisierung von Verfah-rensabläufen bei den Unternehmen ebenso wie beim Pa-tentamt. Als weitere Stichworte nenne ich noch die Ver-einfachung des elektronischen Rechtsverkehrs und dieleichtere Zulassung der Öffentlichkeit bei Einspruchs-verfahren gegen erteilte Patente.Alle diese Rechtsänderungen scheinen aus der Sichtdes Patentlaien nur vergleichsweise geringfügige tech-nische Korrekturen vorzusehen. Doch kann ich Ihnenversichern, dass sie für die Patentpraxis ebenso wie fürdas DPMA und damit für den InnovationsstandortDeutschland von großer Bedeutung sind. Die Novellegreift Anliegen aus der innovativen Wirtschaft auf, die inden letzten Jahren immer nachdrücklicher vorgetragenwurden. Der Gesetzentwurf übernimmt gleichzeitig eineReihe von Verbesserungsvorschlägen aus dem DPMA.Dabei ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht entschei-dend, dass diese Vorschläge erfüllt werden können, ohnedie Qualität der Patentprüfung zu beeinträchtigen oderdie Erteilungsfristen zu verlängern.Ich bitte Sie daher, im weiteren Verfahren dem Patent-novellierungsgesetz Ihre Zustimmung zu geben.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10308 an den Rechtsausschuss
vorgeschlagen. – Anderweitige Vorschläge gibt es offen-
sichtlich nicht. Dann haben wir die Überweisung so be-
schlossen.
Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 c:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-
lung des Assistenzpflegebedarfs in stationären
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen
– Drucksachen 17/10747, 17/10799 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Assistenzpflege bedarfsgerecht sichern
– Drucksache 17/10784 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge,
Matthias W. Birkwald, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Assis-
tenzpflege auf Einrichtungen der stationären
Vorsorge und Rehabilitation
– Drucksache 17/3746 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit
– Drucksache 17/10207 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Hilde Mattheis
Wie vorgesehen, sind die Reden zu Protokoll ge-
nommen.
Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung desAssistenzpflegebedarfs im Krankenhaus im August 2009haben Menschen mit Behinderungen, die nach dem SGBXII ihre Pflege durch besondere Pflegekräfte nach demsogenannten Arbeitgebermodell sicherstellen, einen An-spruch auf Mitnahme dieser Pflegekraft ins Kranken-haus und auf Fortzahlung von Pflegegeld und Hilfe zurPflege während des gesamten Krankenhausaufenthaltes.Damit wurde eine wichtige Verbesserung erreicht.Zuvor gab es weder einen Anspruch auf Mitnahme derPflegekräfte noch auf Weiterzahlung der Leistungenwährend des Krankenhausaufenthaltes. Oftmals sindnur diese Assistenzkräfte in der Lage, entsprechend denspezifischen Bedürfnissen diese Patientinnen und Pa-tienten zu pflegen und das ärztliche und pflegerischePersonal über die individuellen Bedarfe zu informieren.Die Kontinuität in der Begleitung und Assistenz ist fürdas Wohlbefinden und den Genesungsprozess wichtig.Seit nunmehr über drei Jahren ist das Gesetz in Kraft.Die Probleme der ersten Zeit nach seinem Inkrafttretensind dank besserer Aufklärung über die neuen Rechteaufseiten der Krankenhäuser, der Krankenkassen undder Menschen mit Behinderungen größtenteils überwun-den. Auch die Finanzierung funktioniert zwischenzeit-lich geräuschlos und wird sowohl von den Krankenhäu-sern als auch von den Trägern der Grundsicherung alsunproblematisch geschildert. Im Jahr 2009 waren esnach der Sozialhilfestatistik 685 Personen, die dieseHilfe zur Pflege in Anspruch genommen haben. Für dieWeiterzahlung des Pflegegeldes während des Kranken-hausaufenthaltes fielen damit rund 70 000 Euro jährlichan. Das ist ein marginaler Kostenfaktor. Die Leistung istaber eine erhebliche Erleichterung im Alltag der Betrof-fenen.Aus der praktischen Anwendung des Gesetzes zeigtsich in einem Punkt Änderungsbedarf. Es ist notwendigund sinnvoll, die Ausweitung des Anspruchs auf Assis-tenzpflege im Arbeitgebermodell auf Vorsorge- und Re-habilitationseinrichtungen vorzunehmen. Hier steht nichtnur das Patientenwohl im Vordergrund. Es ist auch Fakt,dass die Pflegepersonen während der Zeit des Kranken-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23595
Maria Michalk
(C)
(B)
haus- und Rehabilitationsaufenthaltes keine alternativenBeschäftigungsverhältnisse eingehen können. So entste-hen Lücken in der Erwerbsbiographie und ein erheblicherVerwaltungsaufwand für relativ kurze Zeiträume.Wir haben im letzten Jahr im Ausschuss für Gesund-heit mit Vertretern der Bundesärztekammer, der Bundes-arbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozial-hilfe, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dem Forumselbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen, demGKV-Spitzenverband und dem Deutschen Heilbäderver-band ein Expertengespräch durchgeführt, in dem sichdie Erkenntnis verfestigte, dass es sinnvoll ist, die beste-henden Assistenzpflegeregelungen auf Reha- und Vor-sorgeeinrichtungen auszuweiten.Ich freue mich, dass wir heute in erster Lesung denEntwurf eines entsprechenden Gesetzes vor uns habenund den betroffenen Menschen eine Verbesserung inAussicht stellen können.Menschen mit Behinderungen soll die Nutzung einerVorsorge– oder Rehabilitationsmaßnahme nicht mehrunnötig erschwert werden. Aus Beispielen wissen wir,dass immer wieder auf die stationäre Reha verzichtetwurde. Das wird sich ändern. Es ist nach Beschlussfas-sung über das Gesetz eine echte Wahlfreiheit gegeben.Wir möchten, dass das Pflegegeld aus der Pflegever-sicherung sowie die Hilfe zur Pflege durch die Sozialhilfefür die gesamte Dauer des Vorsorge- und Rehabilita-tionsaufenthaltes weitergezahlt werden, weil wir denspezifischen Bedarf an Assistenz anerkennen. Diese Re-gelungen erstrecken sich auch auf den Bereich der Hilfezur Pflege der Kriegsopferfürsorge. Wir wollen, dassdas zum 1. Januar 2013 gilt.Die Mehrkosten durch die im Gesetzentwurf vorgese-hene Leistungsausweitung sind in der gesetzlichenKrankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung,der Sozialhilfe und der Kriegsopferfürsorge eher gering.Der Vollständigkeit halber möchte ich noch einmaldarauf verweisen, dass darüber hinaus die Mitnahme ei-ner Pflegeperson nach § 11 Abs. 3 SGB V grundsätzlichmöglich ist, wenn es nach dem Erfordernis des Einzel-falls medizinisch geboten und erforderlich ist. Das heißt,dass in begründeten Fällen in der Praxis Menschen mitBehinderungen außerhalb des Arbeitgebermodells ihrevertraute Assistenzperson in die Einrichtung mitnehmenkönnen.Dieser Gesetzentwurf steht ganz im Duktus der UN-Behindertenrechtskonvention. Wir setzen unsere Bestre-bungen fort, eine umfassende Verwirklichung der Rechtefür Menschen mit Behinderungen im praktischen Alltagzu erreichen. Ich denke, dass diese sehr sinnvolle Maß-nahme geeignet ist, dass diesem Gesetzentwurf frak-tionsübergreifend zugestimmt wird.
2009 haben wir unter der Gesundheitsministerin UllaSchmidt mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflege-bedarfs den ersten Schritt getan, um Menschen mit Be-hinderungen die Begleitung einer Assistenzperson wäh-rend eines Krankenhausaufenthalts zu ermöglichen.Zuvor gab es keinen gesetzlich verankerten Anspruchauf die Finanzierung einer Assistenzpflegekraft für pfle-gebedürftige Menschen mit Behinderung während derDauer der Krankenhausbehandlung. Dadurch habenMenschen mit einem hohen Hilfebedarf Krankenhaus-aufenthalte vermieden oder auf aufwendige Untersuchun-gen verzichtet. Ein solcher Zustand war natürlich nichtlänger hinnehmbar.Vor Inkrafttreten unseres Gesetzes war die Finanzie-rung der Assistenzpflegekräfte nicht geklärt, was in deralltäglichen Praxis für pflegebedürftige Menschen mitBehinderungen ein großes Problem darstellte. DiesesProblem ist mit dem Gesetz von 2009 behoben worden.Die Assistenz von pflegebedürftigen Menschen mitBehinderung umfasst die speziell wegen einer Behinde-rung notwendige und individuelle pflegerische Betreu-ung, Hilfestellung und Assistenz. Hiervon ist ein eng be-grenzter Kreis von Personen betroffen, die aufgrundihrer Behinderung für die Verrichtungen im Alltag aufDauer Hilfe bedürfen und dafür auf diese besonderenPflegefachkräfte angewiesen sind.Die stationäre Krankenhausversorgung umfasst nach§ 39 Abs. 1 Satz 3 SGB V alle Leistungen, die „für diemedizinische Versorgung der Versicherten im Kranken-haus notwendig sind“. Hierzu gehört auch die nach ei-ner medizinischen Behandlung erforderliche Kranken-pflege.Die notwendige spezifische pflegerische Versorgungvon Menschen mit Behinderung geht jedoch hinsichtlichihrer Art und des Umfangs über die für die stationäreBehandlung einer Krankheit erforderliche Kranken-pflege hinaus. Deswegen bestand vor unserem Gesetz imJahr 2009 nach § 39 Abs. 1 SGB V keine Leistungs-pflicht der gesetzlichen Krankenversicherung zur Über-nahme der Kosten der persönlichen Assistenz.Mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebe-darfs der Großen Koalition von 2009 wurde deshalb§ 11 Abs. 3 SGB V eingeführt. Mit dieser Ergänzung imSGB V wurde für die stationäre Behandlung von Men-schen mit Behinderung die Mitaufnahme von Pflegekräf-ten ermöglicht.Bereits 2009 haben wir als SPD-Fraktion die Posi-tion vertreten, dass unser Gesetz nur als eine erste Stufezu verstehen ist und dass in der kommenden Wahlpe-riode eine umfassende Lösung gefunden werden müsse.Es ist daher folgerichtig, dass der gesetzliche Anspruch,den wir 2009 für den Bereich der Versorgung im Kran-kenhaus verankert haben, nun auf Einrichtungen derstationären Versorge- und Rehabilitation ausgeweitetwird.Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf erhal-ten dadurch die Möglichkeit, Angebote in Einrichtungender Vorsorge und Rehabilitation wahrzunehmen. Geradefür Menschen mit besonderem Assistenzbedarf ist dieseAusweitung enorm wichtig. Die Versorgung von Men-schen mit Behinderung darf nicht auf stationäre Kran-kenhäuser beschränkt bleiben. Nur durch die Möglich-keit, ihre Assistenzkräfte mitzunehmen, ist es MenschenZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Hilde Mattheis
(C)
(B)
mit Behinderung möglich, Einrichtungen der Rehabili-tation und Vorsorge zu besuchen.Das nun vorliegende Gesetz der Bundesregierung istsomit eine große Erleichterung für pflegebedürftigeMenschen mit Behinderungen. Ihre gesundheitliche Ver-sorgung wird wesentlich verbessert.Unverständlich ist allerdings, warum die Bundesre-gierung hier nicht die Chance ergreift, es allen pflegebe-dürftigen Menschen mit Behinderung zu ermöglichen,Assistentinnen und Assistenten bei Aufenthalten imKrankenhaus oder in Einrichtungen der Vorsorge oderder Rehabilitation mitzunehmen. Das Gesetz in seinerderzeitigen Fassung sieht nur für diejenigen Menschenmit Behinderung eine Finanzierung der Assistenzpflege-kraft vor, die ihre Assistenzkräfte nach dem sogenanntenArbeitgebermodell selbst beschäftigen.Menschen mit Behinderungen, die ihre Assistentinnenoder Assistenten nicht über das „Arbeitgebermodell“,sondern über ambulante Dienste oder andere Einrich-tungen sicherstellen, erhalten mit diesem Gesetz, so wiees jetzt in der Fassung der ersten Lesung vorliegt, kei-nen gesetzlichen Anspruch auf eine Assistenzpflegekraftfür die Dauer des Aufenthalts im Krankenhaus oder ineiner Einrichtung der Rehabilitation und Vorsorge.Diese Einschränkung des Personenkreises ist nichtnachvollziehbar. Alle Menschen mit Behinderung, dieUnterstützung bei einem Aufenthalt im Krankenhausoder in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungbenötigen, sollen diese auch bekommen. Dies ist unab-hängig davon, auf welche Art und Weise ihre Assistenz-kräfte beschäftigt sind.Ohne die Sicherstellung der Betreuung und Pflegedurch Assistenzkräfte kann der Aufenthalt im Kranken-haus oder in einer Vorsorge- oder Rehabilitationsein-richtung für Menschen mit Behinderung nicht bewerk-stelligt werden. Zudem erzeugt diese Beschränkung aufden Personenkreis eine Ungleichbehandlung von Men-schen mit Behinderung. Eine solche Ungleichbehand-lung ist nicht vertretbar.Wenn medizinische Eingriffe bei Menschen mit Be-hinderung in einer fremden Umgebung ohne Unterstüt-zung der vertrauten Assistenzperson durchgeführt wer-den, kann das auf Menschen mit Behinderung extrembeängstigend wirken. Die Kommunikation mit den Ärz-tinnen und Ärzten kann sich schwierig gestalten oderfindet unter Umständen gar nicht erst statt.Die Folge kann sein, dass es bei Menschen mit diesemhohen Unterstützungsbedarf zu Fehldiagnosen kommt,weil Diagnosen aufgrund einer fehlenden oder falschenKommunikation fehlerhaft gestellt werden. Es bestehtauch die Gefahr, dass Therapien nicht korrekt verordnetwerden oder die Verordnung von Therapien sogar aus-bleibt und Versorgungsmängel auftreten.Wir befinden uns erst in der ersten Lesung des Geset-zes über die Assistenzpflege. Der Gesetzentwurf wirdnoch einmal intensiv in den Ausschüssen beraten. Ichglaube, dass wir an dieser Stelle nacharbeiten und dafürsorgen müssen, dass alle Menschen mit Behinderungden gesetzlichen Anspruch auf eine Assistenzkraft erhal-ten.Ich denke, wir sollten diesen Gesetzentwurf noch ver-bessern und allen Menschen mit Behinderung ermög-lichen, ins Krankenhaus und auch in Einrichtungen derVorsorge und Rehabilitation notwendige Assistenzpflege-kräfte mitzunehmen.Wir sollten die Chance hier nicht vertun, wesentlicheVerbesserungen für alle Menschen mit körperlicher odergeistiger Behinderung umzusetzen.
Pflegebedürftige Menschen mit Behinderung haben
oftmals einen Hilfebedarf, der über die reine medizini-
sche Versorgung hinausgeht, und bedürfen einer beson-
deren Unterstützung.
Mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebe-
darfs im Krankenhaus aus dem Jahr 2009 wurde ein ers-
ter Schritt getan, um diesem besonderen Bedarf gerecht
zu werden. Dadurch wurde es pflegebedürftigen Men-
schen mit Behinderung, die ihre Assistenzleistungen
nach dem sogenannten Arbeitgebermodell erhalten, er-
möglicht, bei stationärer Behandlung im Krankenhaus
ihre persönliche Assistenzpflegeperson mitzunehmen.
Damit wurde die kontinuierliche Spezialpflege auch bei
einem Krankenhausaufenthalt gesichert.
Mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebe-
darfs in stationären Vorsorge- und Rehabilitationsein-
richtungen, über das wir hier heute abstimmen, gehen
wir heute den zweiten Schritt, indem diese Regelung in
Zukunft auch in Vorsorge- und Rehabilitationseinrich-
tungen gelten wird. Damit werden wir die Versorgungs-
lücke schließen und das bestehende Recht konsequent
erweitern. Dies ist eine große Verbesserung für behin-
derte Menschen mit Pflegebedarf.
Sie können nun in Zukunft – analog zu der Regelung
für einen Krankenhausaufenthalt – ihre persönliche As-
sistenzpflegeperson in die Pflege-Einrichtung mitneh-
men und erhalten auch weiterhin über die gesamte
Dauer das Krankengeld und die Hilfe zur Pflege durch
die Sozialhilfe. Dadurch stellen wir sicher, dass das Ar-
beitsverhältnis zur vertrauten Pflegeperson nicht unter-
brochen werden muss.
Dieses Gesetz ist eine wichtige Verbesserung für pfle-
gebedürftige Menschen mit Behinderung und ich würde
mich freuen, wenn es in diesem Haus eine breite Mehr-
heit finden würde.
Gestern erhielt Andreas Vega in Berlin den Elke-Bartz-Preis 2012. In einer Feierstunde im Kleisthaus,dem Dienstsitz des Beauftragten der Bundesregierungfür die Belange behinderter Menschen, wurde der Mün-chener Rollstuhlaktivist mit dem vom Forum selbstbe-stimmter Assistenz behinderter Menschen, ForseA, ver-liehenen Preis geehrt. Der Bundesverband hat zumdritten Mal mit dieser Auszeichnung an seine vor vierJahren verstorbene Gründungsvorsitzende erinnert.Auch wenn ich bei der Preisverleihung persönlich dabeiZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23597
Dr. Ilja Seifert
(C)
(B)
war, möchte ich auf diesem Wege dir, lieber Andreas, imNamen der Bundestagsfraktion Die Linke sehr herzlichzu dieser Auszeichnung gratulieren.Was aber hat der Elke-Bartz-Preis mit dem heutigenThema zu tun?Auf der REHACARE in Düsseldorf am 19. Oktober2006 lud ForseA zu einer Podiumsdiskussion ein. Daswar der offizielle Auftakt zu der Kampagne: „Ich mussins Krankenhaus … und nun?“ Zu Beginn stellte Mode-ratorin Elke Bartz die Kampagne und ihre Hintergründesowie die Zielsetzung vor. Dabei betonte sie, dass nichtnur körperbehinderte, Assistenz nehmende Menschenbei Krankenhausaufenthalten wegen ihres behinde-rungsbedingten Hilfebedarfes Probleme haben können.Auch auf die Bedürfnisse von Menschen mit einge-schränkter Alltagskompetenz oder sinnesbehindertenMenschen sind die meisten Krankenhäuser nicht einge-stellt. Zahllose Beispiele von Unterversorgungen beiund teils dramatischen Folgen nach Krankenhausauf-enthalten hätten den Anstoß für die Durchführung derKampagne gegeben.Podiumsgast Ilona Brandt schilderte ein Ereignis,mit dem sie vor einiger Zeit konfrontiert wurde. Einschwerstbehinderte Freundin musste mit einer Atem-wegserkrankung ins Krankenhaus. Ihre Assistentendurfte sie nicht mitnehmen. Im Krankenhaus war mannicht auf ihre Bedürfnisse eingestellt. Sie war zuschwach, um zu rufen, wenn sie abhusten musste. DieKlingel konnte sie ebenfalls nicht bedienen. IlonaBrandt wollte sich am folgenden Tag mit dem Sozialhil-feträger wegen der Kostenübernahme für die Assisten-ten im Krankenhaus in Verbindung setzen. Doch da wares bereits zu spät: Die Freundin verstarb noch in derNacht, erstickt am eigenen Schleim.Helmut Budroni, wissenschaftlicher Mitarbeiter derUniversität Witten-Herdecke bestätigte, dass behinderteMenschen in Krankenhäusern oft unterversorgt sind.Die Infrastruktur allein wird in vielen Krankenhäusernnicht den Bedürfnissen behinderter Menschen gerecht.Hinzu kommen mangelnde Kenntnisse über viele Behin-derungsarten. Diese und weitere Informationen zurKampagne des Behindertenverbandes können Sie übri-gens nachlesen auf der Internetseite www.forsea.de.Es dauerte drei Jahre, bis 2009 das „Gesetz zur Re-gelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus“ imBundestag verabschiedet wurde. Mit dem Gesetz erhiel-ten Menschen, die ihre Assistenz durch von ihnen be-schäftigte besondere Kräfte nach den Vorschriften desZwölften Buches Sozialgesetzbuch, SGB XII, im soge-nannten Arbeitgebermodell sicherstellen, die Möglich-keit, ihre besonderen pflegerischen und persönlichenAssistenzbedarfe bei stationärer Krankenhausbehand-lung zu sichern.Das so mühsam erkämpfte Gesetzchen war aber vonBeginn an mit zwei wesentlichen – allen Fraktionen be-kannten – Mängeln behaftet. Zum einen gilt die Rege-lung nur für das „Arbeitgebermodell“. Zum Zweiten giltsie nicht während eines Aufenthalts in einer stationärenVorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung sowie inHospizen. Ein diesbezüglicher Änderungsantrag derFraktion Die Linke wurde – nachlesbar in der Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit,Bundestagsdrucksache 16/13417 – mit den Stimmen vonCDU/CSU und SPD abgelehnt. Die Fraktion der FDPenthielt sich mit der Begründung, die Beschränkung aufPersonen mit Pflegeassistenz im Arbeitgebermodellführe zu einer Ungleichbehandlung.Ein Jahr danach, am 11. November 2010, schlug dieFraktion Die Linke mit einem Gesetzentwurf – Bundes-tagsdrucksache 17/3746 – vor, zunächst wenigstens denAssistenzanspruch für den leistungsberechtigten Perso-nenkreis auch auf den Bereich der Vorsorge und Rehabi-litation auszuweiten, also einen der bekannten Mängelzu beseitigen. Dass dies notwendig und machbar ist,wurde auch in zahlreichen Petitionen an den DeutschenBundestag sowie bei dem Expertengespräch des Aus-schusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am23. März 2011 deutlich. Was nützt zum Beispiel eineKrebs- oder Herzoperation, wenn die danach obligatori-sche Kur in einer Rehaklinik aufgrund der Behinderung,welche nichts mit der akuten Krankheitsbehandlung zutun hat, wegen der ungeklärten Assistenzfrage oder feh-lender Barrierefreiheit nicht stattfinden kann?Heute, zwei Jahre danach, steht dieser Gesetzentwurfzur Abstimmung. Die CDU/CSU-FDP-Koalition willdiesen Gesetzentwurf ablehnen. Die Begründung ist inder zur Abstimmung stehenden Beschlussempfehlung– Bundestagsdrucksache 17/10207 – nachlesbar: „Auchdie Koalitionsfraktionen hätten das in dem vorliegendenGesetzentwurf thematisierte Problem seit langem er-kannt und daher ein eigenes Gesetzvorhaben auf denWeg gebracht. ... Insofern seien die in dem Gesetzent-wurf der Fraktion Die Linke enthaltenen Regelungsvor-schläge bereits gegenstandslos geworden.“Ja, es gibt inzwischen einen fast wortgleichen Gesetz-entwurf der Bundesregierung. Ihn beraten wir heute inerster Lesung, und es ist nicht geplant, diesen Gesetzent-wurf sofort abzustimmen. Der Gesetzentwurf geht nunzur Beratung in die Ausschüsse, und wann er dann imBundestag abgestimmt wird, ist noch offen. Es kann dau-ern; schließlich geht es hier nicht um milliardenschwereRettungspakete für Banken, sondern nur um einen Be-trag unter 1 Million Euro für ein paar Behinderte, dieseit Jahren nicht zur für die Gesundheit notwendigenKur fahren können, weil das Assistenzproblem nicht ge-löst ist. Bleibt mir also nur die Hoffnung, dass die Zusa-gen aus Kreisen der Koalition, dass das Gesetz noch indiesem Jahr kommt, auch erfüllt werden.Leider enthält der Gesetzentwurf keinen Vorschlag,den zweiten, seit 2009 bestehenden, Mangel und die da-mit verbundene Ungleichbehandlung bei den Assistenz-regelungen zu beseitigen. Natürlich gibt es Beispiele– ähnlich wie beim Aufenthalt von Kindern in stationä-ren Einrichtungen –, dass Assistenzkräfte dabeibleibenkönnen und auch ihre Unterkunft und Versorgung ge-währleistet wird. Es ist aber nicht geregelt.Deswegen fordert die Linke – auch mit Blick aufArt. 25 und 26 der UN-Behindertenrechtskonvention –mit einem weiteren Antrag „Assistenzpflege bedarfsge-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Ilja Seifert
(C)
(B)
recht sichern“ die Bundesregierung auf, einen Gesetz-entwurf vorzulegen, mit dem für pflegebedürftige Men-schen und/oder Menschen mit Behinderungen währendeines stationären Aufenthalts im Krankenhaus und inVorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen der Assis-tenzpflegebedarf auch dann sichergestellt wird, wenndie für sie in der Regel tätigen Pflegekräfte nicht nachdem sogenannten Arbeitgebermodell beschäftigt sind.Vor sechs Jahren begann die Kampagne „Ich mussins Krankenhaus ... und nun?“ Was diesbezüglich heuteim Bundestag dazu geschieht, ist schlechte Realsatire.Wir werden also, auch im Sinne von Elke Bartz, weiter-kämpfen müssen.
Im Juni 2009 hatte der FDP-Kollege Dr. Erwin Lotterin seiner Rede zum Assistenzpflegebedarfsgesetz bereitsvorhergesagt, dass sich die folgende Regierung wohl er-neut mit den noch ungeklärten Fragen des Gesetzes be-fassen müsste. Seine damalige Kritik lautete, dass dieGroße Koalition mit der Gesetzesvorlage weit entferntsei von einer umfassenden und vernünftigen Lösung.Nun sind die FDP und der Abgeordnete Lotter selbstein Teil der Regierung, und es scheint, dass er die da-mals vorgebrachte Kritik gänzlich vergessen hat. Dieuns vorliegende Anspruchserweiterung der Assistenz-pflege auf Reha- und Vorsorgeeinrichtungen nimmt ankeiner Stelle die damals von der FDP monierten Punkteauf. Der Regierungsantritt kostete wohl einen Teil desGedächtnisses der FDP.Menschen mit einer Behinderung, die eine Assistenz-pflegekraft beschäftigen und als Arbeitgeber für diesefungieren, sollen zukünftig einen Anspruch haben, inVorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen darauf zu-rückgreifen zu können und die Refinanzierung gesichertzu wissen. Das ist gut so, zumal das bisherige Gesetz nurfür das Versorgungsgeschehen bei einem Krankenhaus-aufenthalt von auf Assistenz angewiesenen Personengilt.Schwarz-Gelb aber führt einen Geburtsfehler des Assis-tenzpflegebedarfsgesetz, APBG, fort: Die Erweiterung aufden Reha- und Vorsorgebereich ignoriert den Kern desProblems, ist nicht systemkonform und schließt viele aufHilfe angewiesene Menschen aus. Das ist unverständlich inAnbetracht des sich verändernden Versorgungsbedarfs ei-ner älter werdenden Gesellschaft, in der immer mehrMenschen auf Hilfe, Unterstützung und Begleitung an-gewiesen sind.Die Begrenzung im APBG auf diese kleine Gruppevon Menschen mit Behinderung im Arbeitgebermodelldiskriminiert die weitaus größere Gruppe von pflegebe-dürftigen Menschen, die nach dem Elften Buch Sozialge-setzbuch ebenfalls als behindert gelten. Es werden auchall diejenigen ausgeschlossen, die ihre Assistenz über ei-nen Pflegedienst erhalten. Das ist diskriminierend undein Systembruch, da das Anstellungsverhältnis der As-sistenz darüber entscheidet, ob ein gesetzlicher An-spruch besteht oder nicht.Die Begründung des Bundesgesundheitsministe-riums, mit der Gesetzesnovellierung der besonderen Si-tuation behinderter, pflegebedürftiger Menschen Rech-nung zu tragen, verkennt die Realitäten. Wie wir ausStudien und aus Berichten von pflegenden Angehörigen,aber auch Pflegekräften wissen, führt bei Menschen miteiner Demenzerkrankung der Krankenhausaufenthalthäufig zu einer Destabilisierung ihres Allgemeinzu-stands.Sie erleben dort eine ungewohnte Umgebung, habenkeine Person, die ihnen Halt gibt, noch als Ansprech-partner fungiert oder über ihre Biografie, ihre Art derKommunikation, ihre Gewohnheiten Bescheid weiß. Esist nicht nur ihr schlechter Gesundheitszustand, der denKlinikaufenthalt zur Zäsur macht, sondern auch derKrankenhausaufenthalt an sich. So leiden die Erkrank-ten bei einem Krankenhausaufenthalt häufiger an Delir,kehren häufig desorientierter als zuvor in ihre gewohnteUmgebung zurück, sind auch häufiger von freiheitsent-ziehenden Maßnahmen betroffen als andere oder ver-sterben schneller. Hier ist Handlungsbedarf angesagt.Es wäre konsequent gewesen, im bisherigen Assis-tenzpflegebedarfsgesetz all jene Personen einzubezie-hen, die als Menschen mit Behinderung gelten mit Assis-tenz außerhalb des Arbeitgebermodells, und es wäredarüber hinaus notwendig gewesen, die Menschen miteinem auf den Einzelfall feststellbaren Bedarf an Assis-tenz und Begleitung zu berücksichtigen.Wir müssen deshalb, bezogen auf die medizinischeund pflegerische Notwendigkeit, die Begleitung durcheine Pflegeperson als grundsätzlich unterstützenswertsehen und dies auch fördern. Die Neuregelung des Assis-tenzpflegebedarfsgesetz bleibt in dieser Form weit hinterden Erwartungen zurück.Das uns vorliegende Gesetz wird erweitert durch eineEmpfehlung des Bundesrats zur Notwendigkeit der Re-gulierung der Investitionskosten stationärer Einrichtun-gen nach § 82 des Elften Buches Sozialgesetzbuch. Überdie Zeit haben sich die Investitionskosten zu einem„zweiten Heimentgelt“ entwickelt. Über die Jahre sindimmer mehr Beschwerden laut geworden über die In-transparenz der Zusammensetzung der Investitionskos-ten, über nicht nachvollziehbare Erhöhungen und Inves-titionsstau. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sinddemgegenüber aber in einer schwachen Position. DasBundessozialgericht hat dieses Dilemma 2011 zum An-lass genommen, die bisherige Handhabung und Rege-lung zu kritisieren. Aus verbraucherpolitischer Sicht kri-tisiert unserer Meinung nach das BSG zu Recht diemitunter auch trägerabhängige intransparente Vorge-hensweise bei der Umlage der Investitionskosten.Wir Grüne sehen den gesetzgeberischen Handlungs-bedarf und auch die Brisanz des Themas. Es muss auchweiterhin möglich sein, dass die Verbraucherinnen undVerbraucher nicht der ständigen jährlichen Schwankungvon Instandhaltungskosten unterworfen sind. Rückstel-lungen sind in Maßen vernünftig, müssen aber vertret-bar sein und nachweislich für Investitionen verwendetwerden.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23599
Elisabeth Scharfenberg
(C)
(B)
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, hierweitreichende Überlegungen anzustellen, die es nichtnur gewährleisten, dass die Träger Planungssicherheiterlangen, sondern auch die Verbraucherinnen und Ver-braucher vor unangemessenen Investitionskostenpau-schalen und Investitionsrücklagen schützt, die danndoch nicht getätigt werden. Die Zusammensetzung derInvestitionskosten sowie etwaige Erhöhungen und Pla-nungsabsichten des Trägers müssen transparenter fürden Verbraucher gemacht werden. Unserer Meinungnach wäre dabei eine Erweiterung der Informations-pflicht im Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz unum-gänglich.A
Der vorliegende Gesetzentwurf knüpft unmittelbar andas Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs imKrankenhaus vom 30. Juli 2009 an, mit dem für pflege-bedürftige behinderte Menschen, die ihre Pflege bereitsambulant durch von ihnen beschäftigte besondere Pfle-gekräfte nach den Vorschriften des SGB XII im so-genannten Arbeitgebermodell sicherstellen, die Mög-lichkeit einer Assistenzpflege auch bei stationärerKrankenhausbehandlung verankert wurde.Die Praxis nach Inkrafttreten dieses Gesetzes hat ge-zeigt, dass auch in stationären Vorsorge- oder Rehabili-tationseinrichtungen ein Bedarf an Assistenzpflege fürden betroffenen Personenkreis besteht. Dies war auchdas Ergebnis eines Expertengesprächs des Gesundheitsaus-schusses des Deutschen Bundestages vom 23. März 2011.Der Gesetzentwurf greift deshalb die grundlegendeZielrichtung des Gesetzes zur Regelung des Assistenz-pflegebedarfs im Krankenhaus aus dem Jahr 2009 aufund erstreckt die Maßnahmen für den betroffenen Per-sonenkreis nunmehr auf die stationäre Behandlung inVorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen.Der eine oder andere mag sich fragen, warum derGesetzentwurf den Kreis der berechtigten Personen al-lein auf solche Pflegebedürftige beschränkt, die ihrePflege durch von ihnen beschäftigte besondere Pflege-kräfte nach den Vorschriften des SGB XII im Arbeit-gebermodell sicherstellen. Es gebe doch auch andereGruppen pflegebedürftiger Menschen mit und ohne Be-hinderung, die darauf angewiesen seien, während desstationären Aufenthalts im Krankenhaus oder in statio-nären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen diePflegebereitschaft ihrer Pflegeperson aufrechtzuerhal-ten.Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wird wederder betroffene leistungsberechtigte Personenkreises er-weitert noch Anspruchsinhalte leistungsrechtlich neuausgerichtet und justiert.Dazu ist festzustellen, dass sich der Gesetzentwurfsystematisch und inhaltlich „1:1“ an dem Rahmen desMaßnahmenpakets ausrichtet, der bereits durch das Ge-setz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Kran-kenhaus verankert worden ist. Dadurch wurde seinerzeiteine bestehende Regelungslücke im akutstationären Be-reich für die besondere pflegerische Versorgung vonPflegbedürftigen geschlossen, die ihre Pflege bereitsambulant durch von ihnen beschäftigte besondere Pfle-gekräfte nach dem Arbeitgebermodell des SGB XII si-cherstellen.Die Erstreckung dieses Maßnahmenpakets nunmehrauf die stationäre Behandlung in Vorsorge- oder Reha-bilitationseinrichtungen ist jetzt folgerichtig und ge-rechtfertigt, weil die rechtliche und sachliche Situationdes betroffenen Personenkreises in diesen Einrichtun-gen mit der in den Krankenhäusern vergleichbar ist.Auch das Expertengespräch im Gesundheitsausschussdes Deutschen Bundestages hat diese Einschätzung be-stätigt.Anderenfalls hätten die betroffenen Pflegebedürftigenim Gegensatz zum Krankenhausbereich nach derRechtslage weiterhin während der Dauer der stationä-ren Vorsorge- oder Rehabilitationsbehandlung keinenAnspruch gegen die jeweiligen Kostenträger auf Mitauf-nahme ihrer besonderen Pflegekräfte in die stationäreVorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung und auf Wei-terzahlung der bisherigen Leistungen. Eine derartig un-terschiedliche Rechtslage zwischen dem Krankenhaus-und dem stationären Vorsorge- und Rehabilitationsbe-reich ist ohne Zweifel nicht sachgerecht.Aus dieser Zielrichtung des Gesetzentwurfs ergibtsich auch, dass eine Ausweitung des leistungsberechtig-ten Personenkreises über die Reichweite des Gesetzeszur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Kranken-haus hin zu einer umfassenden Sicherstellung von be-sonders aufwendigem Pflege- und Betreuungsaufwandnicht Ziel und Zweck des Gesetzentwurfs sein kann.Eine derartige Erweiterung würde weit über diesenGesetzentwurf hinausgehende komplexe Abgrenzungs-fragen zwischen den Sozialleistungsbereichen der ge-setzlichen Krankenversicherung, der Pflegeversiche-rung und der Sozialhilfe aufwerfen – auch verbundenmit der Klärung der jeweiligen Finanzierungsverant-wortung im Hinblick auf die zu erwartenden erheblichenfinanziellen Auswirkungen.Wer hier A sagt, muss auch B sagen! Insoweit stehtdie Bundesregierung hier auch in Übereinstimmung mitder mehrheitlichen Auffassung der Länder, die dies be-reits in den Anhörungen zum Referentenentwurf und inder Abstimmung so auf den Punkt brachten. Eine solcheumfassende leistungsrechtliche Neuausrichtung ist undkann also nicht Gegenstand dieses Gesetzgebungsver-fahrens sein.Der Gesetzentwurf verankert jetzt vielmehr einekleine, aber schnell umsetzbare Lösung. Nicht mehr,aber auch nicht weniger. Im Ergebnis ist es mithin einkleiner, aber konsequenter und gebotener Schritt hin zurVerbesserung der Situation pflegebedürftiger behinder-ter Menschen, die ihre Pflege durch von ihnen beschäf-tigte besondere Pflegekräfte nach den Vorschriften desSGB XII im Arbeitgebermodell sicherstellen.Die im Übrigen vom Bundesrat in seiner Stellung-nahme zum Gesetzentwurf beschlossene Regelung zurInvestitionsfinanzierung von Pflegeeinrichtungen ist vorZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin
(C)
(B)
dem Hintergrund aktueller Entscheidungen des Bundes-sozialgerichts zu sehen:Der Beschluss sieht eine Gesetzesänderung imSGB XI zur Anerkennung angemessener Pauschalen fürdie Instandhaltung und Instandsetzung im Landesrechtvor.Das Bundessozialgericht hat am 8. September 2011vier Entscheidungen zur gesonderten Berechnung derInvestitionskosten von Pflegeeinrichtungen gefällt. Da-nach ist ab 2013 die bisherige Praxis in den Bundeslän-dern, Pauschalen für künftige Instandhaltungs- und In-standsetzungsmaßnahmen zu genehmigen, nicht mehrzulässig, weil nur tatsächlich entstandene oder sicherentstehende Aufwendungen auf die Pflegebedürftigenumgelegt werden dürfen.Dem verständlichen Wunsch nach einer möglichst un-bürokratischen Lösung steht das gemeinsame Ziel ge-genüber, die Pflegebedürftigen bei der Umlage der In-vestitionskosten vor überhöhten Belastungen zuschützen. Eine entsprechende Änderung wird deshalbderzeit von uns geprüft.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10747, 17/10799 und 17/10784 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann haben wir das so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf ei-
nes Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Ausweitung der
Assistenzpflege auf Einrichtungen der stationären Vor-
sorge und Rehabilitation. Der Ausschuss für Gesundheit
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/10207, den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/3746 abzulehnen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen abgelehnt. Da-
mit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.
Tagesordnungspunkt 39:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Thomas Feist, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Heiner Kamp,
Dr. Martin Neumann , Sylvia Canel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Stärken von Kindern und Jugendlichen durch
kulturelle Bildung sichtbar machen
– Drucksache 17/10122 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Wie vorgesehen, sind die Reden zu Protokoll ge-
nommen.
Angesichts der aktuellen Diskussionen um die ver-meintliche Besteuerung von Musikschulen und der damitverbundenen Frage der Abgrenzung zwischen Bildungund Freizeitaktivität bin ich sehr froh, dass wir heuteden vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen zurkulturellen Bildung in diesem Hohen Hause beraten undich somit die Möglichkeit habe, den herausragendenStellenwert der kulturellen Bildung zu unterstreichen.Lassen sie mich gleich ganz am Anfang meiner Über-zeugung Ausdruck geben: Kulturelle Bildung ist Bil-dung, manchmal auch mehr, aber nie weniger. Sie ist einwesentlicher Teil der ganzheitlichen Bildung von Kin-dern und Jugendlichen und trägt insbesondere zur Per-sönlichkeitsentwicklung bei. Damit leistet kulturelle Bil-dung einen wichtigen gesamtgesellschaftlichen Beitrag,den wir nicht unterschätzen dürfen und dringend weiterunterstützen müssen.Bildung ist ein entscheidender Schlüsselfaktor fürden zukünftigen Wohlstand unserer Gesellschaft. Wennich Bildung sage, meine ich dies in ganzheitlichemSinne. Denn Bildung ist nicht nur rationaler Wissenser-werb, sondern auch Tanz, Theater, Musik und viele an-dere Formen zählen dazu. Der freie Zugang zu Bildungauf allen Ebenen und eine breite Vielfalt individuellerBildungsangebote charakterisiert das Bildungssystem,das wir Bildungspolitiker uns wünschen und bereits zueinem Großteil realisiert haben. So begegnen wir denvielfältigen Herausforderungen unserer Zeit: demogra-fischer Wandel, kulturelle Heterogenität, Integrationund Inklusion. Dafür müssen sich unsere Bildungsange-bote an den aktuellen und zukünftigen Anforderungenausrichten und sich stetig weiterentwickeln. Dabei istdie Vermittlung reinen Wissens, um im stetig anwachsen-den Wettbewerb um die besten Köpfe und dem immerschneller zunehmenden Wissenszuwachs zu bestehen,als auch die Entwicklung von allseitig gebildeten Per-sönlichkeiten kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.Für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Fa-milien oder aus sozialen, finanziellen oder kulturellenRisikolagen kann sich der Übergang ins Erwerbslebenbesonders schwierig gestalten. Ziel muss es daher im-mer wieder sein, gerechte Bildungschancen zu eröffnenund Jugendliche in ihrer Ausbildungsreife – egal ob fürden universitären oder dualen Bildungsweg – zu stär-ken. Schulisches Lernen muss dabei einhergehen mit derStärkung kultureller und sozialer Kompetenzen.In der aktuellen Bildungsdiskussion stehen sich dieBegriffe Wissensvermittlung und Kompetenzerwerb oftnoch als Gegensätze gegenüber. Diese Sichtweise gilt eszu überwinden. Wissensvermittlung und Kompetenzer-werb müssen als Zugänge zu individuell realisierbarenLernerfolgen gesehen werden, die sich wechselseitig er-gänzen. Nur so kann eine Kultur des Lernens etabliertwerden, die den ganzheitlichen Bildungsansatz betontund eine Nachhaltigkeit des Lernprozesses sichert. Nach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23601
Dr. Thomas Feist
(C)
(B)
dem humanistischen Bildungsideal findet der Menschnur durch Bildung zu sich selbst. Bildung ist dabei einWert an sich, der weit über das Ziel, vorwiegend an derpraktischen Nützlichkeit orientiertes Wissen zu vermit-teln, hinausreicht und vielmehr an der Herausbildungder eigenen Identität und der Ermöglichung von Selbst-verwirklichung orientiert ist.Eine bisher weitgehend unbeachtete Einbeziehungder Erfahrungen der kulturellen Bildung kann hier einSchlüssel sein, um Potenziale dieser Bildungsprozessezu nutzen. Eine Implementierung der Methoden kulturel-ler Bildung führt zudem zum Erlernen von Kulturtechni-ken des Lernens, die für junge Menschen umso wichtigersind, als sie die Grundlagen für eine Motivation zu le-benslangem Lernen ebenso legen wie sie durch dieSichtbarmachung individueller Stärken für eine Nach-haltigkeit dieser Motivation von besonderer Bedeutungsind. Um unserem Bildungsideal gerecht zu werden, istes daher entscheidend, der kulturellen Bildung den da-für erforderlichen Stellenwert einzuräumen.Als Parlamentarier, die sich dem christlichen Men-schenbild verpflichtet fühlen, gehen wir von den indivi-duellen Stärken der Kinder und Jugendlichen aus. Diesegilt es gezielt aufzugreifen, sichtbar zu machen und zufördern, um so Potenziale zu erschließen, die im Bil-dungsverlauf zuweilen noch nicht genügend erkanntwerden. Wir können damit unser Ziel erreichen, allenKindern und Jugendlichen – unabhängig von ihrer so-zialen Herkunft – den bestmöglichen Bildungsstand zuermöglichen und damit gesellschaftliche Teilhabe undChancengerechtigkeit zu gewährleisten. Angebote derkulturellen Bildung sind hierfür besonders geeignet, beiKindern und Jugendlichen durch erfahrungsgeleitete re-flektierte Lernprozesse persönliche Schlüssel- und Me-thodenkompetenzen auszubilden.Bereits die Enquete-Kommission „Kultur in Deutsch-land“ betont in ihrem Schlussbericht:Durch kulturelle Bildung werden grundlegende Fä-higkeiten und Fertigkeiten erworben, die für diePersönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen,die emotionale Stabilität, Selbstverwirklichung undIdentitätsfindung von zentraler Bedeutung sind:Entwicklung der Lesekompetenz, Kompetenz imUmgang mit Bildsprache, Körpergefühl, Integra-tions- und Partizipationskompetenz und auch Dis-ziplin, Flexibilität, Teamfähigkeit. Mit kulturellerBildung werden Bewertungs- und Beurteilungskri-terien für das eigene und das Leben anderer sowiefür die Relevanz des erworbenen Wissens gewon-nen. … Kulturelle Bildung erschöpft sich nicht inder Wissensvermittlung, sondern sie ist vor allemauch Selbstbildung in kulturellen Lernprozessen.Sie fördert soziale Handlungskompetenz und Teil-habe und qualifiziert den Menschen für neue ge-sellschaftliche Herausforderungen: Indem kultu-relle Bildung die Möglichkeit bietet, sich inter-kulturelle Kompetenzen anzueignen, fördert sie dieVerständigung zwischen Kulturen im In- und Aus-land, baut Vorbehalte von Kindern und Jugendli-chen vor dem „Fremden“ ab und verbessert die ge-genseitige Akzeptanz in hohem Maße. Da diedemografischen Entwicklungen verlässliche Bedin-gungen für soziale Biografien nicht mehr in glei-chem Maß wie früher formulierbar erscheinen las-sen, kommt der Stärkung individueller Kompetenzfür gelingende Lebensentwürfe erhöhte Bedeutungzu. Kulturelle Bildung liefert einen grundlegendenBeitrag hierzu.Ich habe selbst jahrelange praktische Erfahrungenals Kulturreferent sammeln können und kann die Aussa-gen der Enquete-Kommission nur bestätigen. Die Be-schäftigung mit Kultur kann dabei sowohl Ziel des päda-gogischen Handelns sein, aber ebenso auch als Methodeeingesetzt werden. Kulturelle Bildung befähigt zumschöpferischen Arbeiten und ebenso auch zur aktivenRezeption von Kunst und Kultur. Kulturelle Bildung istsowohl Teil der Persönlichkeitsbildung wie auch derschulischen Aus- und Weiterbildung. Sie verbindet kog-nitive, emotionale und gestalterische Handlungspro-zesse.Ich möchte auch noch einmal die Bedeutung der in-terkulturellen Kompetenz betonen. Interkulturelle Bil-dung ist ein wesentlicher Bestandteil kultureller Bil-dung. Nehmen wir das Ziel ernst, dass Bildung ebensozur sozialen Integration beitragen soll, so gilt es, sozialeIntegration als das Ergebnis gemeinsamer Lernerfah-rung und gemeinschaftlichen Kompetenzerwerbs zu ver-stehen. Nur über die Vermittlung kultureller Kompetenzkann Heterogenität ebenso angemessen berücksichtigtwie gleichermaßen individueller Bildungserfolg reali-siert werden. Beides ist unerlässlich für die Konstruk-tion der Persönlichkeit und somit Voraussetzung für dieChance gelingender sozialer Integration.Durch kulturelle Bildungsangebote wie Kunst undMusik, Theater und Tanz, aber auch bei Sport und Bewe-gung erleben Kinder und Jugendliche, gerade aus bil-dungsfernen Schichten, dass sie mit Teamgeist, Einsatzund Unterstützung etwas erreichen können. Sie erfahren– oft zum ersten Mal –, in welchen Bereichen sie indivi-duelle Potenziale, Talente und Stärken besitzen. Sie ma-chen die Erfahrung, dass sie etwas beherrschen oder gutkönnen. Kulturelle Bildung ermöglicht es also, individu-elle Stärken zu erkennen, schult die Fähigkeit, die Stär-ken anderer anzuerkennen, und stärkt den Willen, die ei-genen Schwächen zu überwinden. Dies ist dieGrundlage für Selbstmotivation, Leistungsbereitschaftund Verantwortungsübernahme junger Menschen undleistet somit einen besonders wertvollen und nachhalti-gen Beitrag zur Bildung und zur Persönlichkeitsentwick-lung. Im Koalitionsvertrag haben sich CDU/CSU undFDP ja gerade deshalb darauf verständigt:Wir betonen die zentrale Bedeutung der kulturellenKinder- und Jugendbildung für die Persönlichkeits-entwicklung der jungen Menschen. Es gilt, dieneuen Möglichkeiten im Schnittfeld Jugend, Kulturund Schule zu nutzen und qualitativ und quantitativauszubauen.Der Bericht „Bildung in Deutschland 2012“ hat sichals Schwerpunkt mit der kulturellen/musisch-ästheti-schen Bildung im Lebenslauf auseinandergesetzt und istZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Thomas Feist
(C)
(B)
zu dem Schluss gekommen, dass das Interesse der Bevöl-kerung an kultureller Bildung in allen Lebensphasengroß ist und dass Kinder und Jugendliche mit Migra-tionshintergrund musikalische Aktivitäten zum Teil nochstärker wahrnehmen als Kinder und Jugendliche ohneMigrationshintergrund.Lassen sich mich in diesem Zusammenhang, und weilder Verband der deutschen Musikschulen gerade den60. Jahrestag seiner Gründung gefeiert hat, einigeWorte zitieren, mit denen unser BundestagspräsidentNorbert Lammert anlässlich des parlamentarischenAbends des VdM treffend die Situation der kulturellenBildung skizziert hat und denen ich mich nur ausdrück-lich anschließen kann:In Deutschland gibt es eine außergewöhnlich großeKultur- und besondere Musiklandschaft. Wenn esaber um die Zukunftsfähigkeit dieser Landschaftgeht, ist die kulturelle Bildung die Achillesferse desdeutschen Kultursystems.Um einer Verletzung oder gar einem Riss dieserAchillesferse vorzubeugen, betonen wir Koalitionspoli-tiker mit dem vorliegenden Antrag ausdrücklich, wel-chen Stellenwert wir der kulturellen Bildung beimessen,und möchten uns ausdrücklich bei allen Aktiven bedan-ken, die sich für die kulturelle Bildung unserer Kindereinsetzen. Wir setzen ein deutliches Signal, dass wir diekulturelle Bildung in unserem Land weiter voranbringenwollen. Dies ist eine große und wichtige Initiative desParlaments. Ich kann daher nicht verstehen, dass derHaushaltsberichterstatter der SPD, Kollege Hagemann,unserem Ansatz vorwirft, wir würden uns verzetteln. Sokann nur jemand reden, der von der Sache keine, abernicht die geringste Ahnung hat. Schade.Damit die Angebote der kulturellen Bildung Kindernund Jugendlichen zugutekommen, bedarf es einer geziel-ten Förderung. Größtmögliche Wirkung lässt sich ledig-lich erreichen, wenn sich alle relevanten zivilgesell-schaftlichen Akteure vor Ort zu Bildungsbündnissenzusammenschließen. Die bisher bestehenden Koopera-tionen zwischen den Akteuren sind zu wenig systemati-siert und zu stark vom Engagement einzelner Personenabhängig und das, obwohl der Bericht „Bildung inDeutschland 2012“ ausdrücklich die Bedeutung derBreitenwirkung von bestehenden pädagogischen Pro-grammen und Kooperationen von Kulturinstitutionenmit Bildungseinrichtungen betont hat.Aus diesem Grund haben CDU/CSU und FDP in ih-rem Koalitionsvertrag ebenfalls die Förderung von Bil-dungsbündnissen als wichtiges Ziel aufgenommen, uminsbesondere Kinder und Jugendliche zu unterstützen,die im Elternhaus nicht die bestmöglichen Startchancenerhalten. Neben der Eröffnung von bisher verschlosse-nen individuellen Bildungsverläufen erhöhen sich damitihre Chancen, einen erfolgreichen Weg in die beruflicheoder akademische Ausbildung und anschließend in dasErwerbsleben zu finden, um damit ihr Leben eigenver-antwortlich gestalten zu können.Dass konkrete Maßnahmen der kulturellen Bildungnicht nur individuell erlebbare Erfolge liefern, sonderngleichzeitig auch formal und objektiv nachvollziehbarsind, sich sogar in schulzeugnisähnlichen Dokumentenbelegen lassen, dafür ist der Kompetenznachweis Kulturein sehr gutes Beispiel. Der Kompetenznachweis Kulturist ein Instrument, welches von der BundesregierungKulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. im Auftragdes Bundesministeriums für Bildung und Forschung ent-wickelt wurde, um gerade eben die Erfolge von kulturel-ler Bildung sichtbar zu machen. Der Kompetenznach-weis Kultur ist ein freiwilliges Angebot an Jugendliche.Als ein Bildungspass entsteht er in einem Dialog zwi-schen den Jugendlichen und extra dafür qualifiziertenFachkräften. Der Kompetenznachweis Kultur hilft glei-chermaßen, individuelle Stärken zu erkennen, als er inseinem dialogisch und transparent angelegten Lernpro-zess die neidlose Anerkennung sowohl der Stärken ande-rer als auch den Willen aktiver Überwindung eigenerSchwächen kultiviert. Diese im Lernprozess vermitteltenSchlüsselkompetenzen verbessern die persönlichen Bil-dungschancen und Bildungserfolge der Jugendlichen,und sie tragen durch das Aufzeigen der bei allen Heran-wachsenden vorhandenen Potenziale, Talente und per-sönlichen Stärken erheblich dazu bei, dass Chancenge-rechtigkeit im Bereich der Bildung kein abstrakterBegriff bleiben muss, sondern sich für die Beteiligten mitLebenswirklichkeit füllt und somit auch bestmöglich ge-nutzt werden kann. Dies ist vor allem dadurch erreich-bar, dass hier, ausgehend von den Stärken der Jugendli-chen, Chancen als konkrete Möglichkeiten eigenenAktivwerdens erkannt werden.Eine Evaluation von Konzepten kultureller Bildunghat festgestellt, dass insbesondere der Kompetenznach-weis Kultur ein geeignetes Instrument zur Profilierungder Bildung und zur Verbesserung beruflicher Orientie-rungsprozesse ist. So heißt es unter anderem in der Pu-blikation „Neue Wege der Anerkennung von Kompeten-zen in der kulturellen Bildung“ der BundesvereinigungKulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V.:Der Kompetenznachweis Kultur kann hilfreich seinfür Jugendliche, für Einrichtungen und für das Ar-beitsfeld. Die Verfahren der Erstellung lenken dieAufmerksamkeit der Fachkraft auch auf die eigenenSchlüsselkompetenzen, so dass alleine diese Sensi-bilisierung für die Kompetenzentwicklung imBereich der Kulturarbeit einen entscheidenden Bei-trag zur Verbesserung der pädagogischen Profes-sionalität leistet.Weiter heißt es:Bildungspolitische Forderungen nach einem höhe-ren Stellenwert der non-formalen Bildung bei derBeurteilung der Kompetenzen von Bewerbern fürfortführende Ausbildung bzw. für Beschäftigungs-verhältnisse erhalten mit dem KompetenznachweisKultur eine konkrete Ausdrucksform.Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“macht einen weiteren Vorteil deutlich: die Anerkennungdurch die Wirtschaft:Unternehmer loben die brauchbaren Zusatzinfor-mationen für die Personalauswahl bei Bewerbun-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23603
Dr. Thomas Feist
(C)
(B)
gen auf Ausbildungsplätze oder andere Stellen, dieim Lebenslauf und in Zeugnissen nicht enthaltensind.Das Programm „Kultur macht stark. Bündnisse fürBildung“ ist daher der absolut richtige Weg, das – ne-benbei gesagt – zur bislang größten Einzelfördermaß-nahme des Bundes im Rahmen der kulturellen Bildunggeworden ist. Die eingegangenen Bewerbungen zeigen,wie groß die Resonanz war. Die ausgewählten Projekteversprechen viel Gutes, vor allem für bildungsbenach-teiligte Kinder und Jugendliche.Abschließend: Wenn die Linke nun in einer kleinenAnfrage zu unserem Antrag allen Ernstes wissen will, obdurch eine gezielte Unterstützung dieser bildungsbe-nachteiligten Kinder und Jugendlichen diese nicht stig-matisiert werden, löst das bei mir nur eines aus: Kopf-schütteln. Wenn man sich auf dieses Niveau begibt, zeigtdies nur eines: dass die christlich-liberale Koalition hiereinen Antrag vorgelegt hat, an dessen Sinnhaftigkeitnicht wirklich jemand – auch nicht die Linke – zweifelnkann.
„Die Gewährleistung guter Bildung für die jungenMenschen in unserem Land ist als Fundament für ein ei-genverantwortliches und selbstbestimmtes Leben einegesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ So lautet der ersteSatz des Koalitionsantrages „Stärken von Kindern undJugendlichen durch kulturelle Bildung sichtbar machen“.Diese einleitende Aussage unterstütze ich voll und ganz.Weiter heißt es richtig im Antrag: „Auch der ausge-prägte Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft undBildungschancen bleibt eine große Herausforderung.“Zwar werden in diesem Antrag zwei wichtige Heraus-forderungen erkannt, doch leider fehlt es gänzlich anden richtigen Konsequenzen. Stattdessen begnügen sichdie Verfasserinnen und Verfasser mit einer Lobhudeleifür die Bundesregierung und vermeintlichen Forderun-gen, aus denen sich für das Bildungsministerium leiderkeine relevanten Handlungsaufträge ergeben.Die gesamte Bildungspolitik der schwarz-gelben Ko-alition, so wie wir sie bisher in diesem Hause kennenler-nen durften, ist massiv darauf ausgelegt, die Bildung derjungen Generation immer stärker vom Geldbeutel derEltern abhängig zu machen. Zahlreiche Studien belegendies immer wieder. Gerade in unionsgeführten Bundes-ländern wie Bayern oder Niedersachsen entscheiden diefinanziellen Ressourcen der Eltern über die Chancen derKinder und eben nicht die Fähigkeiten der Kinder undjungen Menschen.Es wäre also höchste Zeit, dass diese sogenanntechristlich-liberale Koalition den richtigen Erkennt-nissen, die eingangs in diesem Antrag noch formuliertsind, endlich die richtigen Taten folgen lassen würden.Ein Wesensmerkmal des christlichen Glaubens ist, dassden Worten Taten folgen. So heißt es im zweiten Kapiteldes Jakobusbriefs: „Was nützt es, meine Brüder undSchwestern, wenn jemand behauptet, Glauben zu haben,ohne dass er Werke hat? Denn wie der Leib ohneGeist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot.“ Ichhoffe, dass diese Worte aus dem Neuen Testament einImpuls sein mögen, um den Antrag im Laufe des parla-mentarischen Verfahrens deutlich nachzubessern.So ist beispielsweise das im Antrag erwähnte Pro-gramm „Kultur macht stark“ keineswegs die richtigeAntwort auf die drängenden Herausforderungen. Es istleider Gottes nichts anderes als eine „Lotterie“, wie somanch anderes Programm, das von Frau MinisterinSchavan ins Leben gerufen wurde. Zwar sind die in dervergangenen Woche dafür ausgewählten Projekte alle-samt förderungswürdig und werden sich für die teilneh-menden Kinder und Jugendlichen sicher positiv auswir-ken. Allerdings werden die wenigsten überhauptteilnehmen können. An der Mehrheit der Schülerinnenund Schüler bzw. der Zielgruppe in Deutschland wirddiese „Fördertombola“ erneut vorbeigehen. Wir werdengleiches erleben wie beim Nationalen Stipendienpro-gramm, beim Bologna-Mobilitätspaket oder auch beimBildungs- und Teilhabepaket. Ein wirksames Instrumentgegen oder gar die richtige Antwort auf die Bildungs-armut ist das sicher nicht.Dies ist nur ein Beispiel, wo die im Antrag dargestell-ten Maßnahmen zu kurz greifen. Darüber hinaus stelleich die Frage, was sich eigentlich konkret hinter denvielfältigen Aktivitäten der Bundesregierung, die imAntrag gelobt werden, verbirgt. Dort ist die Rede vonbemerkenswerten Anstrengungen, die angeblich unter-nommen worden sind, um kulturelle Bildung als In-vestition in die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesenssichtbar zu machen. Wie spüren die Kinder und Jugend-lichen im Land diese angeblichen Anstrengungen? Waskommt bei ihnen an? Darüber ist im Antrag nichts zu le-sen, und auch darüber hinaus ist die Bilanz der Bundes-regierung nicht gerade rühmlich.Ich kann keinem Antrag zustimmen, in dem mit gro-ßen Floskeln pauschale Aktivitäten gelobt werden, diejedoch nicht klar benannt werden bzw. benannt werdenkönnen. Ähnlich verhält es sich mit den Forderungen andie Bundesregierung. Dahinter verbergen sich nichtsweiter als kosmetische Formulierungen, die für die Kin-der und Jugendlichen im Land kaum etwas ändern wer-den. Ich möchte nur einige Phrasen aufgreifen, die dasAusmaß der Unverbindlichkeit deutlich machen: DieBundesregierung soll eine Zwischenevaluierung durch-führen, um mit den Ergebnissen gegebenenfalls Verbes-serungen anzustoßen. Sie soll an anderer Stelle die Ad-ministration so einfach wie möglich ausgestalten, undsie soll für Initiativen die Möglichkeit zur Vernetzung er-möglichen. Oder sie soll darauf hinwirken, dass die För-derung auch über den veranschlagten Zeitraum hinausweitergeht.All das, verehrte Kolleginnen und Kollegen derschwarz-gelben Koalition, sind doch Selbstverständlich-keiten, für die es keinen eigenen Antrag braucht. GutesRegierungshandeln sollte solche Schritte implizieren.Doch genug der Kritik. Was wären sinnvolle Schritte,wenn man tatsächlich die kulturelle Bildung fördern undden immer noch existenten Zusammenhang zwischen so-zialer Herkunft und sozialer Bildung auflösen möchte?
Metadaten/Kopzeile:
23604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Marianne Schieder
(C)
(B)
Als Erstes: Lassen Sie die wahnwitzige Idee vom Betreu-ungsgeld endgültig fallen, und lassen Sie uns das Geldin den Ausbau von Kindertagesstätten investieren! Einebessere finanzielle Ausstattung würde auch mehr Spiel-raum für musische und kulturelle Bildung zulassen. Vorallem käme eine solche dann viel, viel mehr Kindern zu-gute.Darüber hinaus muss kulturelle Bildung eine Aufgabeder allgemeinbildenden Schulen sein und bleiben. Wirdürfen sie nicht in die Ecke einzelner Projekte und frei-williger Initiativen verbannen, wenn wir Deutschlandzur Bildungsrepublik umgestalten wollen. Wenn Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU undFDP, ernsthaft kulturelle Bildung fördern wollen, brau-chen wir zunächst eine ganz andere Initiative, nämlicheine Aufhebung des Kooperationsverbotes.Der auf Spitzenforschung verkürzte Grundgesetzvor-schlag der Bundesregierung lässt das Kooperationsver-bot stattdessen unbeschadet bestehen. Damit verhindernsie gemeinsame Bund-Länder-Initiativen, um auch diekulturelle Bildung wieder besser im allgemeinbildendenAuftrag der Kitas und Schulen zur Entfaltung zu brin-gen, an der alle Schülerinnen und Schüler partizipieren.Bringen Sie endlich die Kraft auf, den Vorschlägender SPD, zum Beispiel zur Aufhebung des Kooperations-verbots, zu folgen! Dann werden Sie endlich Ihren viel-zitierten christlichen Ansprüchen gerecht, dass zu denWorten Taten gehören. Dann würden Sie nicht nur dierichtigen Forderungen aufstellen, wie zu Beginn des An-trags, sondern daraus auch die richtigen Konsequenzenziehen, nämlich solche, die dann tatsächlich etwas be-wirken könnten.Ich hoffe sehr, dass es in den Beratungen zu wesent-lichen Verbesserungen kommt und damit der Antragnicht nur ein Schaufensterantrag bleibt, sondern wirk-lich etwas bringt für die kulturelle Bildung in unseremLand.
Kultur macht stark. Kultur macht reich. Kultur defi-
niert uns. Kultur schafft Identität. Kultur bzw. kulturelle
Bildung macht sehr vieles. Sie stärkt das Ich, sie trägt
zur Entfaltung der Persönlichkeit bei, sie fördert die
Schaffenskraft, sie verbessert das Urteilsvermögen, sie
befähigt zu strategischem Handeln und Denken, sie hilft,
soziale Kompetenzen zu entwickeln – bei Kindern und
Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen.
Ich würde mir wünschen, dass wir mit kultureller Bil-
dung auch Bildungsarmut bekämpfen könnten. Doch das
ist leider nicht so einfach. Denn dazu brauchen wir ein
gesellschaftliches Umdenken auf breiter Ebene, eine
Veränderung in den Köpfen der Menschen und der Poli-
tikerinnen und Politiker – auf Bundesebene und in den
Ländern. Dahin, dass das Miteinander in einer inklusi-
ven Gesellschaft als selbstverständlich aufgefasst wird.
Es muss als selbstverständlich aufgefasst werden, dass
Kinder und Jugendliche aus bildungsärmeren Familien
und Kinder und Jugendliche aus bildungsreicheren
Familien zusammen eine Schule besuchen – möglichst
viele Jahre lang, wie es in den Ländern üblich ist, die bei
PISA erfolgreich sind.
Die lange gemeinsame Bildung muss möglichst früh
beginnen. Deswegen appelliere ich an die Kolleginnen
und Kollegen von CDU/CSU und FDP, endlich die Re-
gelungen zum Betreuungsgeld dorthin fallen zu lassen,
wo sie hingehören: in den Mülleimer der Geschichte.
Wir brauchen dieses Geld nämlich dringend, um in den
Ausbau von Kindertagesstätten zu investieren.
Ich finde es wichtig und richtig, Projekte der außer-
schulischen kulturellen Bildung zu fördern. Wir brau-
chen aber gezielte Maßnahmen, die nicht bestimmte
Regionen benachteiligen oder bevorteilen. Und wir
müssen – auch das gehört zum Umdenken – Angebote
der kulturellen Bildung oder der Soziokultur wie Biblio-
theken als Teil der Daseinsvorsorge begreifen. Sonst
laufen wir immer wieder Gefahr, dass gerade in Zeiten
mit schwachen Haushaltskassen solche Angebote gestri-
chen werden.
Und wir brauchen eine Bündelung der Maßnahmen
auf Bundesebene und gemeinsame Bund-Länder-Initia-
tiven. Kulturelle Bildung muss an den Schulen verankert
werden. Das Kooperationsverbot muss aufgehoben wer-
den.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU, Ihr
Antrag hat gute Absichten wie die Bekämpfung der
Bildungsarmut. Doch leider können diese durch die ge-
forderten Maßnahmen nicht erreicht werden, auch wenn
einzelne Maßnahmen und Projekte unterstützenswert
sind. Der Antrag verschleiert die wirklichen Probleme
und gaukelt mit sehr hoch gesteckten Zielen vor, zu han-
deln und zu gestalten, wenn letztendlich eine solch
starke Wirksamkeit doch zu bezweifeln ist. Deswegen
lehnen wir den Antrag ab.
Kulturelle Bildung ist ein wesentlicher Bestandteilder Bildungsarbeit, insbesondere da sie eine große Rolleinnerhalb der individuellen Persönlichkeitsentwicklungspielt. Sie gibt den Menschen, vor allem den Kindernund Jugendlichen, Halt und Orientierung. Aus diesemGrund ist es unverzichtbar, dass Kinder und Jugendlichefrühzeitig in Kontakt mit Kunst und Kultur gebrachtwerden.Im Koalitionsvertrag wird bereits deutlich gemacht,dass der Bund gemeinsam mit den Ländern den Zugangzu kulturellen Angeboten unabhängig von finanziellerLage und Herkunft vereinfacht und zugleich die Aktivitä-ten weiter verstärkt. Kulturelle Bildung wird in diesemZusammenhang auch als förderndes Mittel der Integra-tion angesehen.Die Sicherstellung von guter Bildung für die Kinderund Jugendlichen in der Bundesrepublik ist die Kernauf-gabe der gesamten Gesellschaft, da sie als Vorausset-zung für ein eigenverantwortliches und selbstbestimmtesLeben fungiert. Um diese Kernaufgabe adäquat umset-zen zu können, bedarf es starker Bildungspartnerschaf-ten. Diese sind der Garant für ein erfolgreiches und leis-tungsstarkes Bildungssystem. Das Ziel ist, Kindern undZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23605
Sylvia Canel
(C)
(B)
Jugendlichen faire Teilhabe- und Bildungschancen zubieten.In Zeiten der Globalisierung steht die Bundesrepublikvor vielen Herausforderungen. Eine bessere Integrationvon Kindern und Jugendlichen mit Migrationshinter-grund ist zwingend erforderlich. Doch auch Herausfor-derungen wie die Etablierung eines inklusiven Bildungs-systems müssen angenommen und bewältigt werden.Die größte Herausforderung stellt jedoch die Be-kämpfung von Bildungsarmut dar. Vor dem Hintergrunddes Fachkräftemangels ist dies ein ernst zu nehmendesProblem. Um den Wohlstand in der Bundesrepubliknachhaltig zu steigern sowie ihn zu erhalten, benötigenwir ein Bildungssystem, das unseren Kindern und Ju-gendlichen eine gute Bildung ermöglicht.Der Nationale Bildungsbericht legte bereits dar, dassein Viertel aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jah-ren in einer sozialen, kulturellen oder finanziellen Risi-kolage aufwächst. Alarmierend ist auch die Tatsache,dass ein Fünftel aller 15-Jährigen zur sogenanntenPISA-Risikogruppe gehört. Gerade Kinder und Jugend-liche mit Migrationshintergrund sind davon überpro-portional betroffen. Aus diesem Grund benötigen vor al-lem diese Kinder und Jugendlichen eine besondereFörderung, um ihre Persönlichkeit und sozialen Kompe-tenzen zu stärken. Dies geschieht vorrangig durch kultu-relle Bildung. Sie stellt eine Schlüsselfunktion dar.Die Koalition setzt sich dafür ein, dass Programmewie zum Beispiel „Kultur macht stark. Bündnisse fürBildung“ implementiert werden, um den Kindern undJugendlichen als Vermittler von Werten etc. zu dienen.Kulturelle Bildung vermittelt Werte und Maßstäbe.Ferner setzen wir uns dafür ein, außerschulische Ange-bote zu fördern. Ziel ist es, die Kompetenzen und Erfah-rungen der Gesellschaft in den Prozess zu integrierenund ihr Engagement in Vereinen, ehrenamtlichen Tätig-keiten etc. zu unterstützen. Insgesamt birgt die Koopera-tion zwischen Kultur- und Bildungseinrichtungen einenNutzen für den Einzelnen als auch für die Gesamtgesell-schaft.Durch die Bündnisse der Bildung bekommen die Kin-der und Jugendlichen einen Bildungsnachweis vermit-telt. Der Bildungsnachweis macht die Schlüsselkompe-tenzen in den einzelnen Programmen sichtbar. Sowerden erstmalig einheitlich konkrete Kompetenzen be-nannt, die durch Singen, Tanzen, Theaterspielen etc. er-langt werden. Das Herausarbeiten von Kompetenzen istein dialogisches Verfahren und steht somit für einen bei-derseitigen Lernprozess.Begrüßenswert ist es, dass die Allianz für Bildung alsDach für lokale Bildungsbündnisse fungiert, um die Ver-netzung im Bereich der kulturellen Bildung sicherzustel-len und diese auch zu fördern. Die Vernetzung ist einwichtiger Bestandteil des Erfolges und daher essenziell.Die Bündnisse für Bildung werden von der Er-reichung dreier wichtiger Ziele begleitet, nämlich: derMöglichkeit nach neuen Bildungschancen, eine breiteBürgerbewegung für gute Bildung und eine stärkere Ver-netzung verschiedener Bildungsakteure vor Ort – lan-des- und bundesweit.Studien nach zu urteilen, besteht ein enormer Hand-lungsbedarf im Bereich der kulturellen Bildung in derBundesrepublik. Aus diesem Grund fordern wir unteranderem eine weitreichende Unterstützung bei entspre-chenden Projekten, sowie die Unterstützung vondeutschlandweiten Bündnissen für Bildung. Des Weite-ren ist die kulturelle Vermittlung eine Kernaufgabe inden geförderten kulturellen Einrichtungen und ist auchals solche anzuerkennen. Wichtig ist auch, dass die Bil-dungsbündnisse über den Förderzeitraum hinaus beglei-tet und fortgeführt werden. Dabei ist zu beachten, dassdie Zusammenarbeit zwischen schulischen und außer-schulischen Akteuren nachhaltig gestärkt wird und ins-besondere deren Vernetzung angestrebt wird.Die Integration von Kultur- und Bildungseinrichtun-gen in den Alltag ist eine notwendige Voraussetzung fürden sozialen Frieden und Zusammenhalt innerhalb derGesellschaft, da die kulturelle Bildung essenziell für dieEntwicklung der Persönlichkeit des Einzelnen ist. DieVermittlung von Werten, die in einer demokratisch fun-dierten Gesellschaft von Bedeutung sind, erfolgt im We-sentlichen durch Kultur- und Bildungseinrichtungen undim seltensten Fall innerhalb der Familie. Kulturelle Bil-dung stärkt die positiven Eigenschaften, die jeden Ein-zelnen zur Selbstfindung anregen und ferner die sozialenFähigkeiten bekräftigen, die für ein gesellschaftlichesZusammenleben notwendig sind. Aus diesem Grund istes zwingend erforderlich, dass die entsprechenden Vo-raussetzungen für Kooperationen zwischen Kultur- undBildungseinrichtungen geschaffen werden. So wird ge-währleistet, dass Kinder und Jugendliche gefördert wer-den, die von der Bildungsarmut besonders betroffensind. Dies betrifft in erster Linie Kinder und Jugendli-che, die in einer Risikolage heranwachsen. Mittels derKooperationen können sie kulturelle Fertigkeiten erler-nen und in ihrem weiteren Lebensweg anwenden. Somitwird das Ziel der Integration vorangetrieben. Jedochprofitieren nicht nur die Kinder und Jugendlichen vonsolchen Kooperationen, sondern vielmehr die gesamteGesellschaft.Nach den Zielen der UNESCO Seoul Agenda zu urtei-len, wird der Zugang zu künstlerischer und kulturellerBildung als grundlegender und nachhaltiger Bestandteileiner hochwertigen Erneuerung von Bildung angesehen.Ferner muss die Qualität solcher Programme sicherge-stellt werden. Des Weiteren sollen Prinzipien und Prak-tiken künstlerischer und kultureller Bildung angewendetwerden, um zur Bewältigung der heutigen sozialen undkulturellen Herausforderungen beizutragen.Kulturelle Bildung und die dazugehörigen Einrich-tungen sind in der heutigen Zeit von großer Bedeutung.Sie geben Impulse für neue Entwicklungen und tragenzum sozialen Wohlstand bei.
Hinter dem blumigen Titel des Koalitionsantragesverbergen sich über weite Strecken beachtliche Einsich-ten und fast durchgängig richtige Forderungen. ManZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Rosemarie Hein
(C)
(B)
könnte Ihnen zu diesem Antrag eigentlich gratulieren.Er ist gut. Ich frage mich nur, warum Sie ihn stellenmussten. Vor der Sommerpause zog die Bundesregie-rung, genauer das Bundesbildungsministerium, ein Pro-gramm zur Stärkung kultureller Bildung aus der Schub-lade. Um immerhin 30 bis 50 Millionen Euro soll derentsprechende Haushaltstitel in den nächsten Jahrenaufgestockt werden. So viel erhielten Träger der kultu-rellen Kinder- und Jugendbildung noch nie. Sie werdensich zu Recht freuen.Zudem soll dieses Programm gegen Bildungsarmutwirken. Dann hätten wir schon mindestens zwei davon,denn das Bildungs- und Teilhabepaket soll das auch.Wirkt es nicht hinreichend? Oder sind sie erschrockenüber die Ahnungslosigkeit des Staatssekretärs, der vorder Sommerpause im Kulturausschuss das Programm zuerläutern versuchte und damit selbst in den Reihen derKoalition Zweifel hervorrief?Als ich im Sommer auf meiner Tour durch den Wahl-kreis bei Vereinen vor Ort nachfragte, ob ihnen das Pro-gramm bekannt sei, sah ich Erstaunen. Zum Beispiel dasFamilienhaus in Magdeburg, kein ganz kleiner Träger,war über den drohenden Geldsegen noch gar nicht imBilde.Wollten Sie Werbung für die Arbeit der Bundesregie-rung betreiben? Verständlich wäre das ja bei dem Zank,der sonst aus der Koalition zu hören ist, über dasBetreuungsgeld zum Beispiel. Dann hätten Sie es aberweiter vorn in der Tagesordnung platzieren müssen undnicht versteckt, bei den Reden zu Protokoll. Aber viel-leicht haben Sie mit Bedacht den späten Zeitpunktgewählt, denn der Bewerbungszeitraum ist bereits ver-strichen und die Mittel sind auch bereits verteilt, für dienächsten fünf Jahre im Voraus. Was aber soll der Antragdann noch? Haben Sie Angst, dass es ihnen dort soergeht wie bei den Mitteln für Teilhabe aus dem Bil-dungs- und Teilhabepaket, die vor Ort teilweise andereFinanzierungen durch die Kommunen einfach ersetzen?Oder fürchten Sie sich vor einem bürokratischen Mons-trum, das einen Großteil der Mittel auffrisst? DieseSorge teile ich, insbesondere, wenn ich Ihren Antraglese.Wie sollen denn nun aber Initiativen vor Ort an demProgramm teilnehmen können? Wie sollen Schulen pro-fitieren? Wie wollen Sie in die Fläche vordringen, wennvor Ort, wie in der 9 000 Einwohnerinnen und Einwoh-ner zählenden Stadt Calbe in meinem Wahlkreis, geradein diesem Jahr die einzige kulturelle Einrichtung, dieStadtbibliothek – ich habe heute schon darüber geredet –geschlossen wird? Sie brauchen zur Weiterführung derBibliothek etwa 50 000 Euro jährlich, und die haben sienicht. Kultur ist eben eine freiwillige Aufgabe, und dasheißt für manche Verwaltung und manche Kommunal-aufsicht: kann auch wegfallen.Sosehr ich den Verbänden und den kulturellen Akteu-ren bundesweit den warmen Geldregen gönne: Erersetzt nicht eine solide Finanzierung von Kultur undBildung in der Fläche. Darum: Packen Sie Ihren Antragwieder ein, die Knete ist verteilt; er kommt zu spät umnoch etwas zu ändern.
Mit dem Thema kulturelle Bildung diskutieren wirheute ein Thema, auf das Wissenschaftler und Hirnfor-scher schon länger hinweisen. Denn mit der Entwick-lung der künstlerischen Fähigkeiten verbessern sichauch die sogenannten kognitiven Leistungen. Sozialeund emotionale Kompetenzen können gestärkt werden.Besonders für Kinder und Jugendliche aus bildungsfer-nen Familien kann es einen positiven Einfluss auf ihrSelbstbewusstsein und ihre Persönlichkeitsentwicklunghaben, wenn sie in ihrem künstlerischen Ausdruck geför-dert werden, als Mitglied einer Band oder auf der BühneApplaus bekommen und so Bestätigung erfahren. Diegrüne Bundestagsfraktion setzt sich daher mit Nach-druck für die Aufwertung künstlerisch-kreativer Bil-dungsinhalte ein.Die Bundesregierung hat nun das Programm „Kulturmacht stark“ vorgelegt; die ersten Konzepte sind vorkurzem ausgewählt worden. Die Frage ist jedoch, inwie-fern Sie mit diesem Programm den Kindern und Akteu-ren in diesem Bereich wirklich und nachhaltig einenDienst erweisen. Die Zielsetzung des Programms istrichtig und wichtig, denn es zielt darauf ab, das Poten-zial von Kultur und Künsten zur Integration, Entwick-lung und Teilhabe benachteiligter Kinder im außerschu-lischen Bereich zu nutzen. Wir bleiben jedoch skeptisch,weil es sich bei den bereitgestellten Mitteln um zeitlichgebundene Projektmittel handelt und somit für die An-tragsteller zu wenig Planungssicherheit herrscht. Waspassiert, wenn die Mittel auslaufen. Welche Antwort ha-ben Sie auf die Frage der Anschlussfinanzierung? Auchstellt sich uns die Frage, ob das zweistufige Antragsmo-dell über die bundesweiten Verbände möglicherweisekleine Initiativen und Vereine vor Ort bei der Antragstel-lung benachteiligen könnte. Angesichts der Flut an be-reits bestehenden Programmen und Projekten im Bil-dungsbereich ist es kein Verdienst am Bildungswesen,noch ein weiteres Neues zu schaffen. Wichtiger wäre es,diese Art Projekte zu verstetigen und den Verbänden undInitiativen in diesem Bereich eine längerfristige Per-spektive zu bieten.Wir fragen uns auch, weshalb die Bundesregierungnur Projekte mit mindestens drei Kooperationspartnernfördert, während doch mancherorts auch zwei Partnergute Projekte auf die Beine stellen können. Der Förder-richtlinie ist außerdem zu entnehmen, dass primär Pro-jekte mit Ehrenamtlichen oder Honorarkräften gefördertwerden sollen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum nichtauch hauptamtlich Beschäftigte, die gute Projekte dau-erhaft weiterführen könnten, förderungsfähig sein sol-len. Insofern sehen wir viele offene Fragen und fallennicht in den Jubelchor mit ein, ganz zu schweigen vonihrem Antrag, der ein reiner Scheinantrag ist und aus-schließlich der Selbstbeweihräucherung der Bundesre-gierung dient. Inhaltlich setzen sie rein gar nichts neueshinzu. Zwar ist Bildung mehr als Schule und das An-schieben bürgerschaftlicher Netzwerke für kulturelleBildung richtig, dieser Tatsache trägt das ProgrammRechnung. Jedoch soll Bildung und besonders kulturelleBildung eben auch in der Schule stattfinden. Vor diesemHintergrund ist das Mauern der Bundesregierung in Sa-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23607
Ekin Deligöz
(C)
(B)
chen Kooperationsverbot im Bildungsbereich umso un-verständlicher. Eine neue Kooperation zwischen Bundund Ländern könnte ein neues Ganztagsschul-Pro-gramm ermöglichen, wie wir Grüne es schon so langevorschlagen.Von einer ganztägigen, qualitativ hochwertigen Be-treuung würden vor allem bildungsferne Kinder und Ju-gendliche profitieren. Ganztagsschulen sind auch derrichtige Ort, um kulturelle Bildung als Unterrichtsthemazu stärken und um außerschulische Akteure wie Musik-schulen, Theatergruppen, Jugendkulturzentren und Ver-eine einzubeziehen. Stattdessen blockieren CDU, CSUund FDP aber im Bundesrat eine echte Reform und set-zen auf ein weiteres, zeitlich begrenztes Programm, dasdie Beteiligten nach Ablauf der Bundesförderung ohnePerspektive im Regen stehen lässt.Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-desministerin für Bildung und ForschungNoch immer wachsen in Deutschland fast 30 Prozentaller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in we-nigstens einer sozialen, finanziellen oder kulturellen Ri-sikolage auf, die ihre Bildungschancen schmälert. Etwaein Fünftel aller 15-Jährigen gehört zur sogenanntenPISA-Risikogruppe. Diesen Jugendlichen wird derÜbergang ins Erwerbsleben nur mit erheblichen Schwie-rigkeiten gelingen.Die Verwirklichung von mehr Bildungsgerechtigkeitund die Bekämpfung von Bildungsarmut haben deshalboberste Priorität für die Bildungspolitik der Bundesre-gierung.Wir sind dabei auf einem guten Weg. Dies hat auchdie kürzlich vorgestellte OECD-Studie Bildung auf einenBlick gezeigt: Immer mehr Kinder in Deutschland besu-chen Vorschulen und Kindergärten, das Niveau der Bil-dungsabschlüsse steigt weiter, immer mehr junge Men-schen besuchen eine Hochschule: Noch im Jahr 2000haben lediglich 30 Prozent eines Jahrgangs ein Studiumaufgenommen, im vergangenen Jahr waren es über50 Prozent.Um auf diesem Weg weiter erfolgreich voranzuschrei-ten, setzt sich die Bundesregierung dafür ein, mehr Ver-antwortung für die Bildung von Kindern zu übernehmen,die von Bildungsarmut besonders bedroht sind.Mit dem Förderprogramm „Kultur macht stark.Bündnisse für Bildung“ haben wir einen wichtigenSchritt in diese Richtung getan. Ziel des Programms istes, durch außerschulische Bildungsmaßnahmen bil-dungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche von 3 bis18 Jahren zu fördern. Die Angebote sollen ab Anfang2013 vor Ort – das heißt auf lokaler Ebene – von zivilge-sellschaftlich getragenen Bündnissen für Bildung durch-geführt werden. „Kultur macht stark“ fußt auf der Er-kenntnis, dass Bildung nicht allein eine Aufgabe desStaates und der Schule ist, sondern der gesamten Gesell-schaft.Wir brauchen eine breite Bewegung für mehr Bil-dungschancen für alle Kinder und Jugendlichen. Des-halb muss die außerschulische Bildung neben der früh-kindlichen und der schulischen einen höheren Stellen-wert bekommen.Mit dem Programm „Kultur macht stark“ lädt dasBundesministerium für Bildung und Forschung zivilge-sellschaftliche Akteure dazu ein, in lokalen Bündnissenfür Bildung außerschulische Bildungsangebote zu ent-wickeln, die sich an den konkreten Bedarfen und Mög-lichkeiten vor Ort orientieren. Denn dort werden diebesten Möglichkeiten gefunden, um Kindern und Ju-gendlichen mehr Bildungschancen in bildungsarmerUmgebung zu bieten. Dabei können auch Schulen oderKindertagesstätten als Kooperationspartner einbezogenwerden.Die Resonanz auf dieses neue Programm war außer-ordentlich positiv: Über 160 Verbände und Initiativenhaben ihre Konzepte bei „Kultur macht stark“ einge-reicht. Die von Frau Bundesministerin ProfessorDr. Annette Schavan, MdB, berufene Jury hat darausinsgesamt 35 bundesweite Verbände und Initiativen aus-gewählt, die in den kommenden fünf Jahren bis zu230 Millionen Euro erhalten werden, um außerschuli-sche Maßnahmen vor allem der kulturellen Bildung zuentwickeln und umzusetzen.Die konkreten Angebote werden auf lokaler Ebene inBündnissen für Bildung durchgeführt, das heißt von we-nigstens drei lokalen Kooperationspartnern. Dies kön-nen Büchereien sein, Theater und Chöre, Sportvereineund Jugendverbände.Das Bundesministerium für Bildung und Forschunglässt sich dabei von einem weiten Kulturverständnis lei-ten, das alle künstlerischen Sparten bis hin zur Medien-bildung, Bewegungs- und Alltagskultur umfasst.Kulturelle Bildung befähigt zum schöpferischen Ar-beiten und ebenso auch zur aktiven Rezeption von Kunstund Kultur. Kulturelle Bildung ist sowohl Teil der Per-sönlichkeitsbildung wie auch der beruflichen Aus- undWeiterbildung. Sie verbindet kognitive, emotionale undgestalterische Handlungsprozesse. Auch interkulturelleBildung ist ein wesentlicher Bestandteil kultureller Bil-dung.Zu den Verbänden, die durch das BMBF gefördertwerden, gehören der Deutsche Volkshochschulverband,die Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugend-bildung und der Verband deutscher Musikschulen; alledrei werden in den nächsten 5 Jahren mit jeweils bis zu20 Millionen Euro gefördert.Weitere Konzepte, die ebenfalls von der Jury empfoh-len wurden, sind zum Beispiel das zirkuspädagogischeKonzept der bundesweiten Initiative „Zirkus machtstark“ sowie öffentliche, freie und Amateurtheater oderauch der Deutsche Museumsbund, die Sportjugend unddie Bibliotheken. Sie alle stehen für lokale Bündnisse fürBildung, die mit ihren spezifischen thematischen und pä-dagogischen Zugängen Kinder und Jugendliche in ihrerPersönlichkeitsentwicklung stärken können.Mit „Kultur macht stark“ konzentrieren wir uns aufdie kulturelle Bildung, da junge Menschen hier neueAusdrucksformen finden können, die ihnen Freude, Er-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
(C)
(B)
folgserlebnisse und Selbstwertgefühl vermitteln. Geradefür junge Menschen aus bildungsfernen Familien istKultur der Schlüssel zu einer neuen Welt, die ihnen sonstoft verschlossen bleibt.Lokale Bildungsangebote können jedoch nur wahrge-nommen werden, wenn auf der Seite der Nutzer ausrei-chend Informationen darüber vorliegen. Der nationaleBildungsbericht 2012 mit dem Schwerpunktkapitel„Kulturelle Bildung“ weist hier deutlich auf Defizitehin. Es fehlen Informationen über die inhaltlichen Ange-bote im nonformalen und informellen Bereich. Die Nut-zer der Bildungsangebote haben oft Schwierigkeiten,sich über die Einrichtungen vor Ort ausreichend zu in-formieren und sich in der Vielfalt zu orientieren. Selbstdie Akteure in den kulturellen Bildungseinrichtungen be-klagen, dass sie zu wenig über die Arbeit anderer wis-sen, dass die unterschiedlichen Angebote besser abge-stimmt werden könnten und dass „das Rad zu oft neuerfunden“ werde.Das BMBF fördert deshalb ab Sommer 2012 eine Dia-logplattform „Kulturelle Bildung“ beim Deutschen Kul-turrat, der alle großen Verbände unter einen Dach ver-eint.Damit soll die breite Öffentlichkeit durch ein Inter-netportal mit Wegweiserfunktion und eine Veranstal-tungsreihe mit aktuellen Informationen zu Angebotender kulturellen Bildung versorgt werden. Die Dialog-plattform richtet sich auch an die Akteure der kulturel-len Bildung mit dem Ziel des Austauschs und der besse-ren Vernetzung.Insgesamt erhofft sich das BMBF davon mehr Infor-mation und Transparenz sowie eine Verbesserung der öf-fentlichen Wahrnehmung. Ziel aller dieser Aktivitäten istes, möglichst vielen Menschen ein Mehr an Bildungs-chancen und neue Bildungshorizonte durch kulturelleBildung zu bieten und somit die Chance zu einem erfüll-ten, selbstbestimmten Leben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10122 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es keine
anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Neunten Buches Sozialgesetzbuch
– Drucksache 17/10146 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Wie vorgesehen, sind die Reden zu Protokoll ge-
nommen.
Elf Jahre ist es her, als das Rehabilitations- undSchwerbehindertenrecht als Neuntes Buch in das Sozial-gesetzbuch eingefügt worden ist. Am 6. April 2001 hatder Deutsche Bundestag das „SGB IX – Rehabilitationund Teilhabe behinderter Menschen“ mit den Stimmeneiner parlamentarischen Mehrheit von SPD und Grünen,CDU/CSU, FDP beschlossen. Nachdem auch der Bun-desrat dem Gesetz zugestimmt hatte, ist es am 1. Juli2001 in Kraft getreten. Mit dem SGB IX hat die Politik ei-nen wichtigen Meilenstein in der behindertenpolitischenGesetzgebung markiert und einen Paradigmenwechseleingeläutet: Der Mensch steht mit seiner Behinderungund seinen individuellen Bedürfnissen im Mittelpunkt. Essoll nicht mehr allein der Bedarf betrachtet werden, son-dern auch die Fähigkeiten. Die Orientierung liegt aufder Chancengerechtigkeit.Das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes,„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligtwerden“ , ist seitdem fest imSozialrecht verankert. Wir wollen, dass Menschen mitBehinderung oder solche, die von Behinderung bedrohtsind, solidarische Leistungen erhalten, damit sie selbst-bestimmt und gleichberechtigt am Leben in unserer Ge-sellschaft teilhaben können.Das SGB IX hat nicht nur eine breite Zustimmung beiden politischen Kräften erhalten, sondern ist auch beiden Rehabilitationsträgern und Verbänden im Gesund-heits- und Sozialwesen auf positive Resonanz gestoßen.Ihnen wurde sehr viel mehr Spielraum zur eigenverant-wortlichen Gestaltung gesetzlicher Vorgaben einge-räumt. Wir erhofften uns damals, dass diese umfassendgenutzt werden.Jeder Mensch ist ein Individuum und braucht eine in-dividuell zugeschnittene Lösung. Zur besseren prakti-schen Handhabung hat der Gesetzgeber unter Beibehal-tung des gegliederten Systems der sozialen Sicherungdas bis dahin auf alle Sozialgesetzbücher verteilte Rechtder Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschenin einem Buch des Sozialgesetzbuchs zusammengefasst.Auf dieser Basis soll durch Koordination, Kooperationder Rehabilitationsträger und Konvergenz der Leistun-gen ein gemeinsames Recht und eine einheitliche Praxisder Rehabilitation und Behindertenpolitik erreicht wer-den. Die weitgehende Einheitlichkeit des Leistungs-rechts ist ein hohes Gut für die praktische Anwendung.Wir wollen, dass der behinderte, pflegebedürftige undchronisch kranke Mensch losgelöst von der Zuständig-keit des Rehaträgers und der Ursache für den individu-ellen Rehabedarf von jedem zuständigen Träger dienach Art, Umfang sowie Struktur- und Prozessqualitätgleich wirksame und bedarfsgerechte Leistung erhält.Zentrales Ziel des SGB IX ist die Überwindung derSchnittstellenprobleme des gegliederten Sozialleistungs-systems im Bereich des Rehabilitations- und Teilhabe-rechts. Darüber hinaus fördert und stärkt es die Selbst-bestimmung und die Rechte der Menschen mitBehinderung durch die Einführung des Rechts auf einPersönliches Budget, das Wunsch- und Wahlrecht sowiedie Verpflichtung zur Berücksichtigung der besonderenBelange behinderter Frauen, seelisch behinderter Men-schen oder von Eltern und Kindern. Vieles ist erreicht,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23609
Maria Michalk
(C)
(B)
aber mit manchem können wir leider noch nicht zufrie-den sein.Menschen mit Behinderung können nur dann selbst-bestimmt ihrer Arbeit nachgehen oder gleichberechtigtam gesellschaftlichen Leben teilhaben, wenn dafür dienotwendigen Grundvoraussetzungen geschaffen sind.Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist ihre Mobili-tät. Daher regelt das SGB IX in Kapitel 13 auch die un-entgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschenim öffentlichen Personenverkehr. Menschen mit Behin-derung können den ÖPNV sowie Nahverkehrszüge kos-tenfrei nutzen. Dazu müssen sie eine Wertmarke fürihren Schwerbehindertenausweis erwerben. Diese Wert-marke kostete bislang 60 Euro für 12 Monate. Voraus-setzung ist, dass in ihrem Schwerbehindertenausweisdas Merkzeichen „aG“ für außergewöhnlich gehbehin-dert enthalten ist. Zudem haben auch blinde MenschenAnspruch auf die sogenannte Freifahrt.Mit dieser Regelung haben viele Menschen mit Be-hinderung die Möglichkeit, mit wenig finanziellen Mit-teln ein sehr breites Netz an öffentlichen Transportmit-teln zu nutzen. Im vergangenen Jahr hat die DeutscheBahn zudem ihr Nahverkehrsnetz ohne Kilometerbe-schränkung für schwerbehinderte Reisende freigegeben.Dies war ein weiterer lobenswerter Schritt für mehr Mo-bilität.Ein gut ausgebautes und funktionierendes öffentli-ches Nahverkehrssystem mit Bussen, Bahnen und Regio-nalzügen, das sich hinsichtlich der Barrierefreiheit inden vergangenen Jahren deutlich verbessert hat undweiter optimiert werden wird, ist nicht zum Nulltarif zuhaben. Die Kostenaufwendungen sind enorm. Sowohlder Staat als Ganzes als auch alle Nutzerinnen und Nut-zern, die tagtäglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurArbeit, zum Einkaufen, zu Kulturveranstaltungen, zumSport usw. fahren, haben sich an den Kosten zu beteili-gen. Das ist in unserem solidarischen Grundverständnisimmanent.Wohlgemerkt: Seit dem Jahr 1984 hat sich der Eigen-anteil an der Wertmarke zur kostenfreien Nutzung desÖPNV für Schwerbehinderte nicht erhöht, und das beideutlich verbessertem Service der Nahverkehrsbetriebemit mehr Angeboten und längeren Reichweiten der Stre-ckennetze. Das ist beachtlich.Nun aber haben die Bundesländer Niedersachsen,Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz undSachsen-Anhalt im Bundesrat die Initiative ergriffen undeinen Gesetzentwurf zur Änderung des 13. Kapitels desSGB IX vorgelegt. Sie sehen es als gerechtfertigt an, zumjetzigen Zeitpunkt die Kosten zur Beförderung vonschwerbehinderten Menschen stärker an das aktuellePreissystem anzupassen. Zudem soll künftig auch dieMöglichkeit bestehen, die Kosten für die Wertmarke dy-namisch anzuheben, wie es das SGB IX im Übrigen auchetwa für die Ausgleichsabgabe oder Kinderbetreuungs-kosten vorsieht. Der Vorschlag der Länder liegt auf demTisch: Die Eigenbeteiligung an der Wertmarke soll vonderzeit 60 auf 72 Euro angehoben werden. Das bedeutetpro Monat eine Erhöhung von einem Euro. Es stellt sichdie Frage, ob das gerechtfertigt ist.Aus Sicht der Behindertenverbände ist diese Erhö-hung ungerecht. Das jedenfalls geht aus den bisherigenStellungnahmen hervor. Wir müssen aber wissen und be-rücksichtigen, dass diejenigen Schwerbehinderten, diebedürftig sind und etwa Leistungen der Grundsicherungbeziehen, nach wie vor von dem Betrag freigestellt blei-ben. Für sie übernimmt der Steuerzahler den vollen Aus-gleich. Das Solidarprinzip bleibt erhalten.Und festzustellen ist auch, dass von einer realenPreiserhöhung bereits im Vorfeld Abstand genommenwurde. Denn würde die Eigenbeteiligung in Anlehnungan die tatsächliche Verbraucherpreisentwicklung in denBereichen Mobilität und Verkehr angepasst werden,müsste die Jahreswertmarke etwa 100 Euro kosten. In-sofern ist die im Gesetzentwurf vorgesehene Erhöhungauf 72 Euro aus unserer Sicht durchaus angemessen undzumutbar. Außerdem können sich alle auf ein sich stetigverbesserndes Nahverkehrsnetz verlassen.An dieser Stelle möchte ich auf die überfraktionelleInitiative zur Personenbeförderungsgesetz-Novelle hin-weisen, auf die sich die Fraktionen der Union, FDP,SPD und Bündnis 90/Die Grünen geeinigt haben, umden ÖPNV sowie den Fernbuslinienverkehr bis zumJahr 2022 vollständig barrierefrei zu machen. Dies nurals Hinweis darauf, dass sich in vielen Bereichen sehrviel tut, um die Teilhabechancen von Menschen mit Be-hinderung durch ein Mehr an Mobilität zu steigern.Zurück zu den geplanten Änderungen des SGB IX.Der uns vorliegende Entwurf sieht vor, die Regelungüber die Erstattung bei einer Rückgabe der Wertmarkezu optimieren, um den Verwaltungsaufwand zu verrin-gern. Einen Anspruch auf Erstattung sollen Menschenmit Behinderung nur noch für die Jahreswertmarken ha-ben, sofern die Hälfte der Gültigkeit der Wertmarkenoch nicht abgelaufen ist. Für Halbjahreswertmarken,die vor Ablauf zurückzugeben werden, werden die Kos-ten nicht mehr zurückerstattet.Aus wirtschaftlicher Sicht will ich der Vollständigkeithalber darauf hinweisen, das den Verkehrsunternehmendurch die unentgeltliche Beförderung schwerbehinder-ter Menschen zunächst Einnahmeverluste entstehen, dieihnen nach Maßgabe des § 148 ff. SGB IX erstattet wer-den. Sowohl der Bund als auch die Länder sind je nachanspruchsberechtigten Personen und Verkehrsmittelnzum Ausgleich dieser Einbußen verpflichtet. Die dazuaktuell bestehenden gesetzlichen Regelungen zu den Fi-nanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern führen zueinem hohen Verwaltungsaufwand, der mit den Regelun-gen im vorliegenden Gesetzesantrag vereinfacht werdensoll. Auch das ist positiv anzumerken.In Zukunft sollen die Aufwendungen für eine unent-geltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen, dienach dem Bundesversorgungsgesetz anspruchsberech-tigt sind, allein von den Ländern übernommen werden.Zum Ausgleich sollen die Länder ihre Abführungen ausdem Wertmarkenverkauf an den Bund entsprechend re-duzieren. Diese Regelung betrifft ausschließlich die Fi-nanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Die Inte-ressen schwerbehinderter Menschen sind davon nichtberührt. Für sie ändert sich dadurch nichts. Aus diesemZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Maria Michalk
(C)
(B)
Grund tragen wir in der CDU/CSU-Bundestagsfraktiondiesen Vorschlag mit, zumal er den Verwaltungsaufwandreduziert.Mit der vorliegenden Gesetzesinitiative der Länderwird zudem angestrebt, die Lastenverteilung zwischendem Bund und den Ländern zu verändern. Auf derGrundlage des jetzigen Rechts hat der Bund 201132 Prozent der Einnahmen erhalten. Der aktuelle Vor-schlag der Länder basiert auf 20 Prozent. Fakt ist, dasdie Aufwendungen des Bundes in den vergangenen zehnJahren für die Anspruchsberechtigten nach dem Bundes-versorgungsgesetz ständig gesunken sind, und sie wer-den mit Blick auf die demografische Entwicklung weitersinken. Deshalb ist es gerechtfertigt, für die Neufestset-zung der Lastenregelung die Entwicklung der vergange-nen zehn Jahre zugrunde zu legen. Danach ergibt sichein Abführungssatz an den Bund von 27 Prozent, den wirin § 152 SGB IX festschreiben werden.Generell möchte ich noch einmal daran erinnern,dass in Zukunft die Schwerbehindertenausweise nurnoch im Scheckkartenformat ausgehändigt werden. Dassoll ab 1. Januar 2013 gelten.Ich hoffe, dass die Umstellung klappt, weil sie benut-zerfreundlich ist.
Der hier vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates
enthält mehrere Regelungen, die man sich genauer an-
schauen muss. Lassen Sie mich jedoch zunächst generell
auf die Situation persönlicher Mobilität für Menschen
mit Behinderung eingehen.
Der Bundesrat hat in seinem Antrag festgestellt – und
dem kann man sich nur anschließen –, dass die Mobilität
schwerbehinderter Menschen durch die sogenannten
Freifahrtregelungen intensiv gefördert wird. Trotzdem
erfüllen diese Regelungen – erweitert durch den im ver-
gangenen Jahr erfolgten Wegfall der 50-km-Wohnort-
Grenze – nur teilweise die Voraussetzung der UN-Behin-
dertenrechtskonvention.
Ich zitiere aus Art. 20: „Die Vertragsstaaten erleich-
tern ... die persönliche Mobilität von Menschen mit Be-
hinderungen in der Art und Weise und zum Zeitpunkt
ihrer Wahl und zu erschwinglichen Preisen.“ Wir garan-
tieren den Betroffenen bisher nur erschwingliche Preise.
Der mittlere Teil dieser Festlegung der Konvention, die
Art und Weise und der Zeitpunkt ihrer Wahl, muss noch
deutlich verbessert werden.
Als SPD haben wir in unserem Antrag „Barrierefreie
Mobilität und barrierefreies Wohnen – Voraussetzungen
für Teilhabe und Gleichberechtigung“ – 17/6295 – ge-
eignete Vorschläge zur Abstimmung gestellt. Sie wurden
von dieser Koalition aus CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Einige der SPD-Vorschläge möchte ich noch einmal
aufführen. Politik sollte sich dafür einsetzen, die Bar-
rierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr auf die
gesamte Reisekette zu beziehen – es muss der gesamte
Weg – von der Haustür bis zum Ziel – für Mobilitäts-
eingeschränkte zugänglich gemacht werden; Fahrgast-
und Tarifinformationen barrierefrei und in leichter
Sprache zu formulieren und darzustellen; Forschungs-
vorhaben und Modellprojekte zur barrierefreien Gestal-
tung von Fahrplanauskünften oder zur Unterstützung
mobilitätseingeschränkter Menschen bei der Nutzung
öffentlicher Verkehrsmittel zu fördern; den barriere-
freien öffentlichen Personennahverkehr als Teil der Da-
seinsvorsorge in das Regionalisierungsgesetz aufzuneh-
men und gemeinsam mit der Deutschen Bahn AG
ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen,
damit alle Bahnhöfe bis 2020 barrierefrei umgebaut
werden können – die Abschaffung der 1 000er-Regelung
inklusive.
Dieser vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates
will die Eigenbeteiligung von Menschen mit Behinde-
rung an den Kosten der Freifahrten von 5 auf 6 Euro an-
heben. Eine Forderung, die angesichts der beschriebe-
nen Leistungsausweitung und der seit 1984 nicht mehr
angepassten Eigenbeteiligung angemessen erscheint.
Mobilität bleibt so erschwinglich. Auch die Vereinfa-
chungen, die gefordert werden, sind grundsätzlich sinn-
voll.
Problematischer ist für mich eher die sogenannte
Dynamisierung der Eigenbeteiligung, denn mit ihr wird
die künftige Anpassung gesteuert.
Der Gesetzentwurf schlägt vor, das statistische
Durchschnittsentgelt der Versicherten in der gesetz-
lichen Rentenversicherung zum Maßstab der jährlichen
Anpassung der Eigenbeteiligung zu machen. Für das
Jahr 2012 würde dies gegenüber 2011 eine Erhöhung
um 5 Euro bedeuten. Selbst wenn diese Steigerung um
7 Prozent sicher nicht jedes Jahr eintritt, kann man sich
vorstellen, dass Menschen mit Behinderung so sehr
schnell eine nicht gewünschte hohe Eigenbeteiligung zu
leisten haben – und das ohne adäquate Steigerung der
Regelsätze, Entgelte und ohne kurzfristige Steigerung
der Barrierefreiheit im Bahnverkehr. Das birgt die große
Gefahr sozialer Ungerechtigkeit und der finanziellen
Überforderung der Betroffenen.
Schwerbehinderte Menschen bestreiten ihr Einkom-
men überwiegend aus Renten wegen Erwerbsminde-
rung, Grundsicherung im Alter oder, bei Erwerbsminde-
rung, Werkstattlöhnen und niedrigen Einkommen. Die
Erwerbssituation schwerbehinderter Menschen ver-
schlechtert sich mit jeder wirtschaftlichen Krise. An
wirtschaftlichen Aufschwüngen partizipieren die Betrof-
fenen unterdurchschnittlich. „Behinderungen wirken
sich deutlich nachteilig auf die beruflichen Teilhabe-
chancen der Betroffenen aus“, stellt auch der aktuelle
Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts fest. Des-
halb wäre zu beraten, die Anpassung an die jährliche
Entwicklung der Sozialhilferegelsätze vorzunehmen.
Darüber sollten wir im parlamentarischen Verfahren
diskutieren und uns ernsthaft mit der Gerechtigkeits-
frage auseinandersetzen.
Seit mehr als einem Jahr gilt in allen Nahverkehrs-zügen der Deutschen Bahn die neue Regelung für dieBeförderung freifahrtberechtigter schwerbehinderter
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23611
Gabriele Molitor
(C)
(B)
Menschen. Seit dem 1. September 2011 können sie übereinen Radius von 50 Kilometern hinaus kostenlos dieNahverkehrszüge der Deutschen Bahn nutzen. Sie benö-tigen hierfür keine zusätzlichen Tickets, sondern nur ih-ren rot-grünen Schwerbehindertenausweis und ein Bei-blatt mit Wertmarke. Ein umständlicher Ticketkauf fürden Nahverkehr gehört somit der Vergangenheit an.Auch das Mitführen eines Streckenverzeichnisses, indem der 50-Kilometer-Radius eingetragen wird, fälltweg. Schwerbehinderte Menschen können dadurch ohnegroßen Vorbereitungsaufwand bei der TicketbeschaffungZug fahren.Diese verbesserte Regelung der Bahn erweitert dasAngebot für Menschen mit Behinderung enorm und er-leichtert ihnen die Nutzung des Nahverkehrs. Sie schaffteine größere Mobilität für mehr als 1,4 Millionen Men-schen mit Behinderung.Sie erleichtert den Menschen das Erreichen ihres Ar-beitsplatzes oder ihrer Ausbildungsstätte. Sie haben bes-sere Bedingungen für ihre persönliche Mobilität. Ganzim Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention werdenhierdurch Teilhabemöglichkeiten verbessert.Es gilt nun, diese unternehmerische Entscheidung derDeutschen Bahn auch gesetzgeberisch nachzuvollzie-hen. Hierfür sind Änderungen im SGB IX notwendig.Dabei soll das SGB IX auch an weitere Entwicklungenim Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs ange-passt werden. Der vorliegende Gesetzentwurf des Bun-desrates zeigt hier den richtigen Weg. Über die Detailsder Änderungen werden wir in den kommenden Wochengemeinsam beraten müssen.Dabei ist der Ansatz richtig, die seit fast 30 Jahrenunveränderte Eigenbeteiligung der freifahrtberechtigtenPersonen für den Erwerb der für die Fahrt notwendigenWertmarke zu erhöhen. Im Zuge der gestiegenen Nut-zungsangebote für den Nahverkehr ist diese Anpassungnachvollziehbar. In § 145 Abs 1 SGB IX wird der zu zah-lende Beitrag seit 1984 unverändert mit 5 Euro angege-ben.Es liegt auf der Hand, dass dieser Betrag weder demerweiterten Angebot – gerade im Zuge der zuletzt weg-gefallen Begrenzung auf 50 Kilometer – noch den gestie-genen Kosten für die Aufrechterhaltung dieser Angebotegerecht wird. Es ist daher zu verantworten, den monat-lich zu entrichtenden Betrag anzuheben. Ebenfalls rich-tig ist die geplante Dynamisierung des Zuzahlungsbe-trages, da alle Nutzerinnen und Nutzer des öffentlichenNahverkehrs von Anpassungen im Preissystem betroffensind.Zwischen Bundesrat und Bundestag bestehen unter-schiedliche Auffassungen über die Berechnung dieserSumme. Im Zuge der parlamentarischen Beratungenwerden wir einen geeigneten Kompromiss finden. Be-stimmte Personengruppen, insbesondere Einkommens-schwache und Bezieherinnen und Bezieher von Leistun-gen der Grundsicherung, sollen die Wertmarke selbst-verständlich auch weiterhin unentgeltlich erhalten.Weiterhin ist geplant, die komplizierten Ausgleichsre-gelungen zwischen Bund und Ländern auf der einen undden Verkehrsunternehmen auf der anderen Seite zu ver-einfachen. In den §§ 148 bis 153 SGB IX werden dieAusgleichsleistungen für die Verkehrsunternehmen ge-regelt, denen durch die verpflichtende Beförderung vonMenschen mit Behinderung Einnahmeverluste entste-hen. Nach dieser Regelung sind sowohl Bund als auchLänder erstattungspflichtig. In der Praxis führt dieseRegelung zu aufwendigen Verwaltungs- und Finanzbe-ziehungen zwischen Bund und Ländern. Es ist dahersinnvoll, Änderungen am SGB IX vorzunehmen, um denbürokratischen Aufwand so gering wie möglich zu hal-ten. Zusätzliche Belastungen für Menschen mit Behinde-rung müssen dabei ausgeschlossen sein.In diesem Zusammenhang wird auch über die Mög-lichkeiten zur Rückerstattung gezahlter Beiträge bei derRückgabe nichtgenutzter Wertmarken zu reden sein. Bis-lang werden nichteingesetzte Wertmarken erstattet,wenn sie noch mindestens drei Monate gültig sind. DerVorschlag des Bundesrates, den Erstattungszeitraum inZukunft auf ein halbes Jahr festzulegen, scheint einenausgewogenen Ausgleich zwischen den Interessen allerBeteiligten darzustellen.Weiterhin sollen nach dem Gesetzentwurf des Bun-desrates die Aufwendungen für eine unentgeltliche Be-förderung schwerbehinderter Menschen künftig von denLändern übernommen werden. Im Gegenzug wollen dieLänder ihre Abführungen aus dem Wertmarkenverkaufan den Bund entsprechend reduzieren. Diese Vorgehens-weise ist geeignet, um sowohl beim Bund als auch beiden Ländern den Verwaltungsaufwand zu reduzieren.Hierzu würde auch die in Rede stehende pauschalisierteAbführung beitragen. Im Hinblick auf die hierfür vomBundesrat angesetzte Pauschale von 20 Prozent bestehtallerdings noch Beratungsbedarf. Eine Pauschale indieser Höhe drückt nicht die tatsächliche Lastenvertei-lung zwischen Bund und Ländern aus.Insgesamt ist die Gesetzesinitiative des Bundesrateszu begrüßen. Es ist richtig, die Zahl der Tatbestände, fürdie Bund oder Länder kostenerstattungspflichtig sind, zuverringern. Der Ersatz individueller Regelungen durchpauschalisierte Prozentsätze wird die Finanzbeziehun-gen zwischen Bund und Ländern vereinfachen. Der da-durch sinkende Verwaltungsaufwand wird Kosten ein-sparen und Bürokratie abbauen.
Eigentlich sollte dieser Gesetzentwurf still und leise,ohne Debatte im Bundestag an die zuständigen Aus-schüsse verwiesen werden. Auf Forderung der Linkengibt es nun wenigstens zu Protokoll gegebene Redebei-träge der Fraktionen. So kann die Öffentlichkeit erfah-ren, worum es bei dieser Änderung des Neunten Sozial-gesetzbuches, SGB IX, geht.Brauchen wir eigentlich eine Änderung des SGB IX?Ich meine, ja. Wir brauchen mit Blick auf die UN-Behin-dertenrechtskonvention endlich ein Leistungsgesetz,welches zur Ermöglichung von Selbstbestimmung undumfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderungenbedarfsgerechte, einkommens- und vermögensunabhän-gige Teilhabesicherungsleistungen gewährleistet.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
23612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
Dr. Ilja Seifert
(C)
(B)
Das ist aber nicht Ziel des vorliegenden Gesetzent-wurfes. Dazu müsste man eher den Antrag der Linken
dung über diesen Antrag trifft der Bundestag in der kom-menden Sitzungswoche, am 18. Oktober.Worum geht es also in diesem Gesetzentwurf? Alseine Form des Nachteilsausgleiches und zur Verbesse-rung der Mobilität gibt es das Recht auf unentgeltlicheBeförderung für viele schwerbehinderte Kinder, Jugend-liche, Frauen und Männer im öffentlichen Personennah-verkehr. Die zur Beförderung verpflichteten Verkehrs-unternehmen erhalten dafür einen Ausgleich von Bundund Ländern. Ein Ziel des Gesetzes ist, das Verwaltungs-verfahren zwischen Bund, Ländern und Verkehrsträgernzu vereinfachen. Dagegen ist nichts einzuwenden.Weniger bekannt ist, dass die freifahrtberechtigtenPersonen eine Eigenbeteiligung in Form des Erwerbseiner Wertmarke leisten müssen, wobei bestimmte Per-sonengruppen, insbesondere Bezieherinnen und Bezie-her von Leistungen der Grundsicherung, die Wertmarkeunentgeltlich erhalten.Mit der Begründung, „dass sich die Nutzungsmög-lichkeiten und folglich auch der damit verbundene Werterheblich erhöht haben“, soll der Preis der Wertmarkeum 20 Prozent, von 60 auf 72 Euro, erhöht und künftigdynamisiert, also weiter erhöht werden.Ja, es stimmt. Die Behindertenbewegung hat es er-kämpft, dass die Nutzungsmöglichkeiten des öffentlichenNahverkehrs sich in den letzten Jahren verbessertenohne dass der Preis der Wertmarke stieg. Sie sind aberaufgrund zahlreicher Barrieren noch längst nicht imvollen Umfang gewährleistet.Es stimmt aber auch, dass sich die Lebenssituationvon Menschen mit Behinderungen seit März 2009, alsodem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention,mehr verschlechtert als verbessert hat.Es sind die vielen kleinen Beiträge, die gerade auchfür die vielen mit niedrigen Einkommen haushaltendenMenschen mit Behinderungen zu Buche schlagen. Essind die Mehrkosten infolge der Gesundheitsreformen,es sind die überproportional gestiegenen Kosten fürMiete und Mietnebenkosten, die hohen Benzinkosten, esist die Absenkung der Grundsicherungsleistungen durchEinführung der Regelbedarfsstufe 3, um nur einigePunkte zu nennen.Für mehr als 580 000 Menschen mit Behinderungen,die bislang von Rundfunkgebühren befreit waren, wirdder Nachteilsausgleich ab 1. Januar 2013 gestrichen.Und nun steigt der Preis der Wertmarke für die Nutzungdes öffentlichen Nahverkehrs um 20 Prozent.55 Millionen Euro sind die aus dem Wertmarkenver-kauf geplanten Einnahmen für Bund und Länder, rund11 Millionen Euro mehr, weil die Menschen mit Behinde-rungen wieder einmal zur Kasse gebeten werden. Das istnicht der Weg in eine inklusive Gesellschaft und nichtder Weg, um auch diesem Teil der Bevölkerung einegleichberechtigte Teilhabe am Leben der Gesellschaft zuermöglichen.Deswegen ist sich die Linke an dieser Stelle einig mitder Behindertenbewegung: Die Gebührenerhöhung leh-nen wir ab.
Die Änderung des SGB IX, die hier zur Diskussionsteht, sieht eine Erhöhung der Eigenbeteiligung beimErwerb der Wertmarke vor, die schwerbehinderte Men-schen zur Beförderung im öffentlichen Personenverkehrberechtigt. Seit fast 30 Jahren konnte diese Wertmarkefür 60 Euro im Jahr erworben werden, zukünftig soll sie12 Euro mehr kosten.Natürlich ist es nicht schön, wenn Leistungen teurerwerden. Man kann aber mit Recht sagen, dass sich inpuncto Barrierefreiheit in den letzten 30 Jahren etwasverbessert hat.Das bedeutet nicht, dass es nichts mehr zu tun gäbe.In der Debatte um die Novelle des Personenbeförde-rungsgesetzes haben wir erlebt, dass die Bundesregie-rung einen Gesetzentwurf zur Liberalisierung des Fern-busverkehrs vorgelegt hat, ohne darin einen Gedankenauf die Sicherung der Barrierefreiheit zu verwenden.Gemeinsam mit der SPD haben wir Grüne in Bundesratund Bundestag einen alternativen Vorschlag einge-bracht, der klare Fristen zur Sicherung der Barrierefrei-heit im Nahverkehr und bei den Fernbussen setzt. Im Er-gebnis gibt es jetzt eine Einigung zwischen vierFraktionen, in denen die Barrierefreiheit berücksichtigtwird.Ich sage ganz offen, dass ich mir mehr gewünschthätte. Die Übergangsfristen, die ausgehandelt wurden,sind Kompromisse. Hätte interfraktionell Einigkeit be-standen, wäre es sicher möglich gewesen, schon früherflächendeckend barrierefreie Fernbusse einzuführen. Esist außerdem absehbar, dass weiterhin Diskussionenüber die Grenzen entstehender Kosten geführt werden.Die Unternehmen werden jedes Einfallstor nutzen, umKosten zu sparen. Maßstab der Diskussion muss aberdie Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonventionsein. Wir müssen uns weiterhin für den barrierefreienAus- und Umbau einsetzen, nicht nur im Verkehrs-bereich.In diesem spezifischen Fall ist die Verringerung einesNachteilsausgleichs angesichts der Fortschritte, die esbeim Ausbau der Barrierefreiheit im Verkehrsbereichzwischenzeitlich gab, gerechtfertigt. Darüber dürfen wiraber nicht aus den Augen verlieren, dass bei den Nach-teilsausgleichen für Menschen mit Behinderungen ins-gesamt einiges im Argen liegt: Wir haben noch immerkein System, mit dem behinderungsbedingte Nachteileohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen nach-vollziehbar ausgeglichen werden. Stattdessen gibt eseine unübersichtliche Zahl „historisch gewachsener“Nachteilsausgleiche, die sich teilweise von Bundeslandzu Bundesland unterscheiden und in ihrer Höhe willkür-lich erscheinen. Das ist weder gerecht noch gerechtfer-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23613
Markus Kurth
(C)
(B)
tigt. Wenn wir hier das nächste Mal über eine Änderungdes Neunten Buches Sozialgesetzbuch diskutieren, hoffeich auf eine Debatte, in der es um eine konstruktiveWeiterentwicklung dieses Buches hin zu einem Teilhabe-leistungsgesetz geht.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10146 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ander-
weitige Vorschläge gibt es offensichtlich nicht. Dann
haben wir die Überweisung so beschlossen.
Zusatzpunkt 9:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung
der Unternehmensbesteuerung und des steuer-
lichen Reisekostenrechts
– Drucksache 17/10774 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Es wurde vereinbart, die Reden zu Protokoll zu neh-
men.1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10774 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich bedanke mich bei Ihnen, dass Sie mir bis hierher
die Treue gehalten haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 28. September 2012,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine
freundliche Nacht.