Protokoll:
17195

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 195

  • date_rangeDatum: 27. September 2012

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:47 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/195 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 195. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 I n h a l t : Nachruf auf den ehemaligen Abgeordneten und Bundesminister Dr. Friedrich Zimmermann . Glückwünsche zum Geburtstag des Bundes- ministers der Finanzen Dr. Wolfgang Schäuble sowie der Abgeordneten Petra Merkel und Peter Götz . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Ingo Egloff als stell- vertretendes Mitglied in den Beirat der Bun- desnetzagentur für Elektrizität, Gas, Tele- kommunikation, Post und Eisenbahnen . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 4 a, 45 und 47 h . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die energetische Modernisie- rung von vermietetem Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln (Mietrechtsänderungs- gesetz – MietRÄndG) (Drucksache 17/10485) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Halina Wawzyniak, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wohnen muss bezahlbar bleiben (Drucksache 17/10776) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner, Ingrid Hönlinger, Bettina Herlitzius, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mietrechts- novelle nutzen – Klimafreundlich und bezahlbar wohnen (Drucksache 17/10120) . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) . . . . . . Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von den Abgeordneten Lisa Paus, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erhe- bung einer Vermögensabgabe (Drucksache 17/10770) . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit 23333 A 23333 D 23334 B 23334 B 23335 D 23336 A 23336 A 23336 B 23336 B 23336 C 23338 A 23340 C 23342 A 23344 D 23346 A 23347 C 23348 D 23350 D 23352 A 23353 D 23354 D 23356 B 23357 C Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 Tagesordnungspunkt 4: b) Antrag der Abgeordneten Alexander Ulrich, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Reichtum umFAIRteilen – in Deutschland und Europa (Drucksache 17/10778) . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU) . . Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 47: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Umsetzung der Richtlinie über Industrieemissionen (Drucksache 17/10486) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Einführung einer Rechtsbehelfs- belehrung im Zivilprozess (Drucksache 17/10490) . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Altersver- sorgung der Bezirksschornsteinfeger- meister und zur Änderung anderer Ge- setze (Drucksache 17/10749) . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (Drucksache 17/10750) . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 23. April 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg zur Vermeidung der Dop- pelbesteuerung und Verhinderung der Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 17/10751) . . . . . . . . . . . . . . f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 12. April 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Dop- pelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (Drucksache 17/10752) . . . . . . . . . . . . . . g) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 17. Novem- ber 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Liechtenstein zur Vermeidung der Dop- pelbesteuerung und der Steuerverkür- zung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 17/10753) . . . . . . . . . . . . . . i) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die weitere Bereinigung von Übergangsrecht aus dem Einigungsver- trag (Drucksache 17/10755) . . . . . . . . . . . . . . j) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Globalen Treu- handfonds für Nutzpflanzenvielfalt über den Sitz des Globalen Treuhand- fonds für Nutzpflanzenvielfalt (Drucksache 17/10756) . . . . . . . . . . . . . . k) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Rahmenabkommen vom 10. Mai 2010 zwischen der Europäi- schen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea an- dererseits (Drucksache 17/10757) . . . . . . . . . . . . . . 23357 C 23357 D 23359 A 23360 D 23364 A 23366 B 23369 B 23369 C 23369 D 23370 C 23371 D 23373 C 23374 A 23375 B 23375 D 23376 D 23378 B 23379 B 23380 A 23381 A 23382 C 23384 C 23384 C 23384 C 23384 D 23384 D 23384 D 23385 A 23385 A 23385 A 23385 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 III l) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Freihandelsabkommen vom 6. Oktober 2010 zwischen der Europäi- schen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea an- dererseits (Drucksache 17/10758) . . . . . . . . . . . . . . . m) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Erweiterung des Gel- tungsbereichs der Verordnung (EU) Nummer 1214/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über den ge- werbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten des Euro- Raums (Drucksache 17/10759) . . . . . . . . . . . . . . . n) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Flaggenrechtsgesetzes und der Schiffs- registerordnung (Drucksache 17/10772) . . . . . . . . . . . . . . . o) Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Barrierefreies Bauen im Baugesetzbuch verbindlich regeln (Drucksache 17/9426) . . . . . . . . . . . . . . . . p) Antrag der Abgeordneten Harald Koch, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ausbau des Truppenübungsplatzes Alt- mark sofort stoppen – Colbitz-Letzlin- ger Heide zivil nutzen (Drucksache 17/10684) . . . . . . . . . . . . . . . q) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Für ei- nen wirksamen Schutz und die Auf- nahme syrischer Flüchtlinge in der Europäischen Union und in Deutsch- land (Drucksache 17/10786) . . . . . . . . . . . . . . . r) Unterrichtung durch den Bundesrech- nungshof: Bericht nach § 99 der Bundes- haushaltsordnung über den Vollzugs- aufwand bei der Gewährung von Unterhaltsvorschuss und Wohngeld an Kinder mit Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsu- chende (Drucksache 17/10322) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Festlegung eines Mehr- jahresrahmens (2013–2017) für die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (Drucksache 17/10760) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Freiheit und Un- abhängigkeit der Medien sichern – Viel- falt der Medienlandschaft erhalten und Qualität im Journalismus stärken (Drucksache 17/10787) . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Entwicklungspolitische Zu- sammenarbeit fit machen für die Ko- operation mit fragilen Staaten (Drucksache 17/10791) . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Bärbel Bas, Angelika Graf (Rosenheim), Dr. Marlies Volkmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Kinder- und Jugend- gesundheit: Ungleichheiten beseitigen – Versorgungslücken schließen (Drucksache 17/9059) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 48: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset- zes über die Statistik im Produzieren- den Gewerbe (Drucksachen 17/10493, 17/10850) . . . . . b) – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Juli 2009 zwischen der Regierung der Bundes- republik Deutschland und der Regie- rung von Bermuda über den Aus- kunftsaustausch in Steuersachen (Drucksache 17/10043) . . . . . . . . . . . . – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 28. Ok- tober 2011 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Montserrat über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Infor- mationsaustausch (Drucksachen 17/10044, 17/10847) . . 23385 B 23385 B 23385 C 23385 C 23385 D 23385 D 23386 A 23386 A 23386 A 23386 B 23386 B 23386 C 23386 D 23387 A IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu der Verordnung der Bundesregie- rung: Vierundneunzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschafts- verordnung (Drucksachen 17/10542, 17/10707 Nr. 2.1, 17/10851) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d)–m) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 463, 464, 465, 466, 467, 468, 469, 470, 471 und 472 zu Petitionen (Drucksache 17/10671) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn – Unterschiedliche Auffassun- gen innerhalb der CDU/CSU und FDP . . . Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Yvonne Ploetz (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung für das Jahr 2013 (Beitragssatzgesetz 2013) (Drucksache 17/10743) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rentenbeiträge nicht absenken – Spielräume für Leis- tungsverbesserungen nutzen (Drucksache 17/10779) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von den Abgeordneten Anton Schaaf, Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes über die Schaffung eines Demographie-Fonds in der gesetzlichen Rentenversicherung zur Stabilisierung der Beitragssatzentwicklung (Demographie- Fonds-Gesetz) (Drucksache 17/10775) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMAS . . . . . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen för- dern – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Maria Klein-Schmeink, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesundes Aufwachsen für alle Kinder möglich machen – zu der Unterrichtung durch die Bun- desregierung: Bericht über die Le- benssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Ju- gendhilfe in Deutschland – 13. Kin- der- und Jugendbericht – und Stel- lungnahme der Bundesregierung (Drucksachen 17/3178, 17/3863, 16/12860, 17/4754) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 23387 C 23387 C 23388 C 23388 C 23389 D 23390 C 23391 D 23392 D 23394 A 23395 A 23396 B 23397 C 23398 D 23398 D 23399 A 23399 B 23400 D 23402 A 23403 D 23404 C 23405 D 23406 A 23407 B 23408 A 23409 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 V – zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Thomas Jarzombek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian Bernschneider, Nicole Bracht-Bendt, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Eigenständige Jugend- politik – Mehr Chancen für junge Menschen in Deutschland – zu dem Antrag der Abgeordneten Yvonne Ploetz, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die ju- gendfreundlichste Kommune Deutsch- lands (Drucksachen 17/9397, 17/7846, 17/9840) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung (Drucksache 17/10773) . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne- ten Eva Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unberechtigte Privile- gien der energieintensiven Industrie ab- schaffen – Kein Sponsoring der Konzerne durch Stromkunden (Drucksachen 17/8608, 17/9999) . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Beratung der Unterrichtung durch den Wehr- beauftragten: Jahresbericht 2011 (53. Be- richt) (Drucksache 17/8400) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . Wolfgang Hellmich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Kultur und Medien zu dem An- trag der Abgeordneten Ulla Schmidt (Aachen), Doris Barnett, Sören Bartol, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Kultur für alle – Für einen gleichberechtigten Zu- gang von Menschen mit Behinderung zu Kultur, Information und Kommunikation (Drucksachen 17/8485, 17/10030) . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . 23409 C 23409 D 23411 C 23412 D 23414 B 23415 C 23416 B 23417 C 23419 A 23419 B 23420 C 23422 A 23423 A 23424 C 23425 C 23426 C 23428 A 23428 C 23428 D 23430 C 23431 D 23432 D 23433 C 23434 D 23436 A 23437 A 23438 B 23439 A 23439 B 23441 B 23443 A 23444 B 23445 D 23446 D 23447 D 23449 A 23450 C 23450 D 23452 D 23454 B 23454 D 23455 C VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: a) Bericht des Petitionsausschusses: Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag – Die Tätigkeit des Petitions- ausschusses des Deutschen Bundesta- ges im Jahr 2011 (Drucksache 17/9900) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung gem. § 56 a der Geschäftsordnung: Tech- nikfolgenabschätzung (TA) – Elektroni- sche Petitionen und Modernisierung des Petitionswesens in Europa (Drucksache 17/8319) . . . . . . . . . . . . . . . . Kersten Steinke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Bericht des Rechtsausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu dem von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Olaf Scholz, Bärbel Bas, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Geset- zes zur Verlängerung der straf- und zivil- rechtlichen Verjährungsvorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen (Drucksachen 17/3646, 17/10697) . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung der Verordnung (EU) Nr. 236/2012 des Europäischen Parla- ments und des Rates vom 14. März 2012 über Leerverkäufe und bestimmte As- pekte von Credit Default Swaps (EU-Leer- verkaufs-Ausführungsgesetz) (Drucksachen 17/9665, 17/10854) . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter Aumer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der FDP: Ban- kenunion – Subsidiaritätsgrundsatz beach- ten (Drucksache 17/10781) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth, Sevim Dağdelen, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ausbeuterische Kinderarbeit welt- weit bekämpfen (Drucksachen 17/5759, 17/6930) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten Jürgen Klimke, Sibylle Pfeiffer, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Frak- 23456 D 23457 C 23458 B 23458 C 23458 C 23460 C 23462 A 23463 D 23464 A 23464 C 23465 D 23466 C 23467 D 23469 A 23469 D 23471 B 23471 B 23472 B 23473 B 23474 B 23474 C 23475 C 23476 B 23477 C 23478 B 23478 C 23478 D 23479 C 23482 B 23483 D 23484 C 23486 A 23487 A 23488 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 VII tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim Günther (Plauen), Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga Daub, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Entwick- lung durch Wachstum – Der Beitrag der deutschen Wirtschaft zum Erreichen der Millenniumsziele (Drucksachen 17/9423, 17/9892) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: a) Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Die Zwei-Staaten-Perspektive für den israelisch-palästinensischen Kon- flikt erhalten – Entwicklung der C-Ge- biete in der Westbank fördern – Abriss- verfügungen für Solaranlagen stoppen (Drucksache 17/9981) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Die Zwei-Staaten-Perspektive für eine friedliche Regelung des israelisch- palästinensischen Konflikts retten (Drucksache 17/10640) . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Elften Gesetzes zur Ände- rung des Bundes-Immissionsschutzge- setzes (Drucksache 17/10771) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Arnold Vaatz, Daniela Ludwig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- ordneten Patrick Döring, Michael Kauch, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Schienenlärm wirksam reduzieren – Schienengüter- verkehr nachhaltig gestalten (Drucksache 17/10780) . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Ludwig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Bilger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 8: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vor- schriften (Drucksache 17/8233) . . . . . . . . . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung personenbe- förderungs- und mautrechtlicher Vorschriften (Drucksachen 17/7046, 17/10857) . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten Sabine Leidig, Thomas Lutze, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Liberalisierung des Buslinienfernver- kehrs – Für einen Ausbau des Schienen- verkehrs in der Fläche (Drucksachen 17/7487, 17/10857) . . . . . . Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses 23488 D 23489 A 23489 B 23489 C 23490 C 23491 C 23492 D 23493 D 23494 D 23495 D 23496 B 23496 C 23496 C 23497 D 23499 A 23499 C 23500 B 23501 B 23502 B 23504 A 23505 A 23505 A 23505 B 23505 C 23506 A 23506 D 23508 A 23509 B 23510 B 23511 B VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 – zu dem Antrag der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Lothar Binding (Hei- delberg), Klaus Brandner, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Deutschland braucht dringend eine ko- härente Strategie für die zivile Krisen- prävention – zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik rü- cken – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Ressortübergreifende Friedens- und Sicherheitsstrategie ent- wickeln (Drucksachen 17/4532, 17/5910, 17/6351, 17/8711) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset- zes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes (Drucksachen 17/10744, 17/10797) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim), Bärbel Bas, Elke Ferner, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Glücksspiel- sucht bekämpfen (Drucksachen 17/6338, 17/10695) . . . . . . . . . Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Geldwäschegesetzes (GwGErgG) (Drucksachen 17/10745, 17/10798) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Rüstungsforschung an öffentlichen Hoch- schulen und Forschungseinrichtungen – Forschung und Lehre für zivile Zwecke si- cherstellen (Drucksache 17/9979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Postbeam- tenversorgungskasse (PVKNeuG) (Drucksachen 17/10307, 17/10853) . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Norbert Brackmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Sahel-Region stabilisieren – Humani- täre Katastrophe eindämmen (Drucksache 17/10792) . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Nadine Schön (St. Wendel), Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Heinz Lanfermann, weiterer Abge- 23513 A 23513 C 23513 D 23513 D 23516 A 23517 B 23517 D 23518 D 23519 D 23520 A 23520 A 23521 A 23522 A 23523 B 23524 B 23525 C 23525 D 23526 C 23527 C 23528 B 23528 D 23529 C 23529 C 23530 D 23532 B 23533 B 23534 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 IX ordneter und der Fraktion der FDP: Berufs- qualifikation – Mobilität erleichtern, Qua- lität sichern (Drucksache 17/10782) . . . . . . . . . . . . . . . . . Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . . Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Arfst Wagner (Schleswig) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Katrin Kunert, Katja Kipping, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mindeststandards bei der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft und Heizung (Drucksachen 17/7847, 17/10199) . . . . . . . . . Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: zu der Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik der EU – Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Par- laments und des Rates über die Gemein- same Fischereipolitik – KOM(2011) 425 endg.; Ratsdok. 12514/11 – Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Er- zeugnisse der Fischerei und der Aqua- kultur – KOM(2011) 416 endg.; Ratsdok. 12516/11 – Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parla- ments und des Rates über den Europäi- schen Meeres- und Fischereifonds zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 1198/2006 des Rates und (EG) Nr. 861/2006 des Rates sowie der Ver- ordnung (EU) Nr. XXX/2011 des Rates über die integrierte Meerespolitik – KOM(2011) 804 endg.; Ratsdok. 17870/11 – hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes (Drucksache 17/10783) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Dr. Valerie Wilms, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Die Überfischung beenden – Vorschläge zur Reform der EU-Fischereipolitik überarbeiten (Drucksache 17/10790) . . . . . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Holger Ortel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Dr. Konstantin von Notz, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verfassungsrechtlich gebotenen, rückwir- kenden Übertragung ehebezogener Rege- lungen im öffentlichen Dienstrecht auf Le- benspartnerschaften (Drucksache 17/10769) . . . . . . . . . . . . . . . . . Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Andreas G. Lämmel, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Neue Herausforde- rungen der regionalen Wirtschafts- struktur meistern – GRW fortführen und EU-Kohäsionspolitik zukunfts- orientiert gestalten – zu dem Antrag der Abgeordneten Doris Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 23535 C 23535 C 23537 A 23538 C 23539 B 23540 A 23540 D 23541 C 23542 D 23542 D 23543 C 23544 D 23545 C 23546 C 23547 D 23548 A 23548 B 23550 C 23552 A 23553 B 23554 B 23555 B 23555 C 23556 C 23557 B 23557 D 23558 B X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 der SPD: Stärkung der Gemeinschafts- aufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ – Finanzierung langfristig sichern (Drucksachen 17/9938, 17/5185, 17/10848) . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Doris Barnett (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Markus Kurth, Viola von Cramon-Taubadel, Katrin Göring- Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Neuen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeab- kommen zurücknehmen (Drucksachen 17/9036, 17/9474) . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset- zes zur Neuregelung energiewirtschafts- rechtlicher Vorschriften (Drucksache 17/10754) . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vor- schriften (Drucksache 17/10746) . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Partnerschaftsgesell- schaft mit beschränkter Berufshaftung und zur Änderung des Berufsrechts der Rechts- anwälte, Patentanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer (Drucksache 17/10487) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 35: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Seehandelsrechts (Drucksache 17/10309) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 36: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Ge- schäftsverkehr (Drucksache 17/10491) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 23559 A 23559 B 23560 C 23561 C 23562 B 23563 A 23564 A 23564 B 23565 D 23566 D 23567 C 23568 B 23569 B 23569 C 23570 B 23571 B 23572 B 23572 D 23573 C 23574 C 23574 D 23576 A 23576 C 23577 B 23578 C 23579 B 23579 B 23580 A 23581 A 23581 C 23582 C 23583 A 23583 B 23583 C 23584 B 23585 A 23586 A 23587 A 23587 B 23587 C 23588 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 XI Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 37: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novellierung patentrechtlicher Vorschrif- ten und anderer Gesetze des gewerblichen Rechtsschutzes (Drucksache 17/10308) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 38: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Regelung des Assistenzpflegebe- darfs in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen (Drucksachen 17/10747, 17/10799) . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Assistenzpflege bedarfsgerecht sichern (Drucksache 17/10784) . . . . . . . . . . . . . . . c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Ausweitung der Assistenz- pflege auf Einrichtungen der stationä- ren Vorsorge und Rehabilitation (Drucksachen 17/3746, 17/10207) . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Widmann-Mauz, Parl. Staats- sekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 39: Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Thomas Feist, Michael Kretschmer, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Dr. Martin Neumann (Lausitz), Sylvia Canel, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Stärken von Kindern und Ju- gendlichen durch kulturelle Bildung sicht- bar machen (Drucksache 17/10122) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) . . . . . . . . . . . . Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 40: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (Drucksache 17/10146) . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Vereinfa- chung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts (Drucksache 17/10774) . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) zur Abstimmung 23589 A 23589 D 23590 C 23590 D 23591 B 23591 D 23592 B 23593 A 23594 B 23594 B 23594 C 23594 C 23595 B 23596 C 23596 D 23598 A 23599 A 23600 B 23600 C 23603 A 23604 B 23604 D 23605 D 23606 C 23607 A 23608 B 23608 B 23610 A 23610 D 23611 D 23612 C 23613 A 23613 C 23615 A XII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 über den Entwurf eines Gesetzes zur Ände- rung personenbeförderungsrechtlicher Vor- schriften (Zusatztagesordnungspunkt 8) . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Ausbeuterische Kinderarbeit weltweit bekämpfen (Tagesordnungspunkt 14) Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Entwicklung durch Wachstum – Der Beitrag der deutschen Wirtschaft zum Er- reichen der Millenniumsziele (Tagesord- nungspunkt 15) Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: Deutschland braucht dringend eine kohärente Strategie für die zivile Krisenprä- vention; zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik rücken; ressortüber- greifende Friedens- und Sicherheitsstrategie entwickeln (Tagesordnungspunkt 19) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung des Energiesteuer- und des Stromsteu- ergesetzes (Tagesordnungspunkt 20) Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) . . . . . . . Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Geldwäschegesetzes (GwGErgG) (Tages- ordnungspunkt 22) Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts (Zu- satztagesordnungspunkt 9) Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . Holger Krestel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23615 B 23616 A 23619 A 23621 A 23622 A 23622 D 23624 B 23626 B 23627 B 23628 B 23629 B 23630 B 23631 B 23632 A 23633 A 23634 A 23634 C 23635 D 23636 D 23637 C 23638 C 23639 A 23640 B 23641 B 23642 A 23643 B 23644 B 23645 A 23646 A 23647 C 23648 C 23649 B 23650 A 23650 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23333 (A) (C) (D)(B) 195. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 Beginn: 9.00 Uhr
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    1) Anlage 8 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23615 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (Die Linke) zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zur Änderung personenbeförderungsrecht- licher Vorschriften (Zusatztagesordnungs- punkt 8) Das Gesetz zur Änderung personenbeförderungs- rechtlicher Vorschriften ist ein großer Erfolg für die Menschen mit Behinderungen und deren Organisatio- nen. Trotzdem habe ich dem Gesetz nicht zugestimmt, sondern mich – wie auch die Fraktion Die Linke in Gänze – der Stimme enthalten. Warum ich so stimmte, möchte ich hiermit erklären: Nach jahrelangen Verhandlungen haben sich nun so- wohl die schwarz-gelbe Koalition mit der SPD und den Grünen auf die Liberalisierung des Fernbuslinienver- kehrs geeinigt. Nunmehr sollen Fernbuslinien überall in Deutschland möglich sein, angeblich um das Verkehrs- angebot – vor allem in schlecht angebundenen Regio- nen – zu verbessern, ohne bestehende Angebote der Bahn zu gefährden. Ob das gelingt oder nicht eher zu weiteren Verschlechterungen bei der Bahn führen wird, ist meines Erachtens fraglich. Dennoch hat die Änderung des Personenbeförde- rungsgesetzes aus der Sicht von mobilitätseingeschränk- ten Menschen auch ihre erfreuliche Seite, denn gegen den anfänglichen Regierungsentwurf vom August 2011 waren nicht nur Behindertenverbände Sturm gelaufen. Der Grund: Eine Barrierefreiheit bei Fernbussen war zu- nächst nicht vorgesehen, obwohl die UN-Behinderten- rechtskonvention seit März 2009 innerstaatliches Recht ist. Auch die Fraktion Die Linke forderte dies mehrfach – siehe Drucksache 17/7478 – ein, aber Verkehrsminister Ramsauer, CSU, wollte partout nichts ändern. Auf Drängen vieler Behindertenverbände, Selbst- hilfegruppen und Parteien wurde nunmehr nachgebes- sert. Schon angeschaffte nicht barrierefreie Fernbusse dürfen bis 31. Dezember 2019 fahren. Fernbusse, die ab dem 1. Januar 2016 neu angeschafft werden, müssen barrierefrei sein und zwei Plätze für Rollstuhlfahrer an- bieten. Der öffentliche Nahverkehr muss bis 2022 um- fassend barrierefrei sein. Doch es gibt – zu viele – Ausnahmen. Barrierefrei ist mehr als ein rollstuhlgerechter Zugang. Es geht auch um die Toiletten an Bord, um Barrierefreiheit für seh- und hörbehinderte Fahrgäste und Barrierfreiheit an den Hal- tepunkten. Unakzeptabel ist für mich auch, dass die Neu- regelung nicht für Reisebusse im grenzüberschreitenden Verkehr gelten soll. Die UN-Konvention wurde schließ- lich nicht nur in Deutschland, sondern auch durch das Europäische Parlament ratifiziert. Deswegen müssen auch auf europäischer Ebene Regelungen geändert wer- den. Auch fehlen noch gesetzliche Regelungen zur Bar- rierefreiheit bei Reisebussen und Taxis. Es bleibt also noch vieles zu tun, um umfassende Barrierefreiheit im Nah- und Fernverkehr zu schaffen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Ausbeuterische Kin- derarbeit weltweit bekämpfen (Tagesordnungs- punkt 14) Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Aigner, Ilse CDU/CSU 27.09.2012 Altmaier, Peter CDU/CSU 27.09.2012 Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.09.2012 Bär, Dorothee CDU/CSU 27.09.2012 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 27.09.2012 Hahn, Florian CDU/CSU 27.09.2012 Kolbe, Daniela SPD 27.09.2012 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.09.2012 Kurth (Quedlinburg), Undine BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.09.2012 Nahles, Andrea SPD 27.09.2012 Remmers, Ingrid DIE LINKE 27.09.2012 Schaaf, Anton SPD 27.09.2012 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.09.2012 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 27.09.2012 Simmling, Werner FDP 27.09.2012 Thönnes, Franz SPD 27.09.2012 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 27.09.2012 Dr. Westerwelle, Guido FDP 27.09.2012 Dr. Zimmer, Matthias CDU/CSU 27.09.2012 Anlagen 23616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) Frank Heinrich (CDU/CSU): In Deutschland ist es selbstverständlich, dass Kinder zur Schule gehen. In Ent- wicklungsländern haben sie oft keine Möglichkeit dazu, weil sie tagein, tagaus hart arbeiten müssen. Nach Schät- zungen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, müssen weltweit täglich 220 Millionen Kinder arbeiten. In Subsahara-Afrika muss etwa jedes dritte Kind im Alter von 5 bis 14 Jahren arbeiten. Kinderarbeit kann vieles sein: die Hilfe bei der Ernte in der Landwirtschaft, Arbeiten im Haushalt, Reinigungsarbeiten, Betreuung kleiner Kinder, Arbeit in der Produktion von Textilien, Schuhen, Teppichen usw. Im Sinne der Konvention 182 der ILO gehören zu den „schlimmsten Formen der Kinderarbeit“: Versklavung, Schuldknechtschaft, Kinderhandel, Prostitution, Porno- grafie, Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten und an- dere Formen des Einsatzes von Kindern zu unerlaubten Tätigkeiten. Nach der ILO müssen weltweit 100 Millio- nen Kinder unter gefährlichen und ausbeuterischen Bedingungen arbeiten. UNICEF geht davon aus, dass derzeit mehr als 250 000 Kinder und Jugendliche als Soldatinnen und Soldaten missbraucht werden. Sie müs- sen sich an Kampfhandlungen beteiligen, werden als Spione eingesetzt, müssen Boten- und Kochdienste ver- richten, und viele werden sexuell missbraucht. Kinderarbeit ist einer der Hauptgründe dafür, dass Kinder nicht zur Schule gehen. Fast die Hälfte der arbei- tenden Jungen und Mädchen haben keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Das ist ein Kreislauf der Diskriminierung; denn ohne schulische und berufliche Ausbildung bekommen sie später auch keine bessere Ar- beit. Sie bleiben arm und können oft auch ihren Kindern kein besseres Leben ermöglichen. So ist Kinderarbeit ein riesiges Problem. Laut Art. 32 der Konvention über die Rechte der Kinder vom 20. No- vember 1989, die Deutschland und alle VN-Staatenmit- glieder außer den USA und Somalia ratifiziert haben, sollten Kinder vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt werden. Trotzdem bleibt Kinderarbeit eine Alltagsrealität. Ausbeuterische Kinderarbeit müssen wir bekämpfen. Das passiert auch, und zwar nicht nur, indem wir Ar- mut bekämpfen – denn Armut ist zwar die Hauptursache der Kinderarbeit, aber eben nicht die einzige –, sondern auch, indem wir alle anderen Ursachen der Kinderarbeit bekämpfen. Aus diesem Grund lehnen wir diesen Antrag ab. Lassen Sie mich zuerst die Ursachen der Kinderarbeit vorstellen, die wir berücksichtigen müssen. Ausbeuteri- sche Kinderarbeit ist in den meisten Fällen eine Folge der Armut. Ein Fünftel der Weltbevölkerung, circa 1,2 Milliarden Menschen – jeder zweite davon ein Kind –, leben in absoluter Armut. Die Eltern verdienen oft so wenig, dass sie ihre Familien nicht ernähren können und die Kinder mitarbeiten müssen. Viele Kinder verdienen sogar das Geld für die ganze Familie. Armut ist aber nicht der einzige Grund für ausbeuteri- sche Kinderarbeit. Schlechte Schulsysteme spielen eben- falls eine Rolle. Das Bildungssystem wird von vielen Regierungen vernachlässigt, das heißt, es gibt zu wenige Schulen und oft schlecht ausgebildete Lehrer. Nach An- gaben der Vereinten Nationen sind derzeit 72 Millionen Kinder weltweit nicht eingeschult, 32 Millionen davon im südlichen Afrika. Diese Kinder haben keine Möglich- keit, Lesen und Schreiben zu lernen, und somit nur geringe Chancen auf einen „besseren“ Job. Schlechte Gesundheitsversorgung ist eine weitere Ursache für Kinderarbeit. In den meisten Ländern gibt es keine kostenlose Gesundheitsversorgung für arme Fami- lien und auch kein Versicherungssystem. Die armen Familien müssen den Arzt oder das Krankenhaus mit Bargeld bezahlen. Wenn sie nicht genug Geld haben, müssen sie einen Kredit aufnehmen. Diesen können die Eltern meist ohne Mitarbeit ihrer Kinder nicht zurück- zahlen. Um ihre Schulden zu tilgen, vermitteln die Eltern ihre Kinder oft an Firmen. Dazu ist Korruption oft Teil des Problems, denn die Behörden und die Polizei in armen Ländern sind häufig bestechlich, das heißt, sie zeigen Kinderarbeit nicht an, obwohl sie verboten ist. Nicht zuletzt sind Kinder die billigsten Arbeitskräfte der Welt. Wir alle fördern diese Arbeitsbedingungen und damit die Kinderarbeit in den ärmeren Ländern, wenn wir T-Shirts, Fußbälle, Kaffee, Schokolade, Orangensaft und andere Produkte, die von Kindern hergestellt wer- den, möglichst billig kaufen wollen und nicht bereit sind, „faire” Preise dafür zu bezahlen. Die Bekämpfung der ausbeuterischen Arbeit muss al- len diesen Ursachen begegnen. Das genau macht die Regierung. Dazu sagt das deutsche Institut für Men- schenrechte: „Viele Maßnahmen der deutschen staatli- chen Entwicklungsarbeit haben zur Verbesserung der Entwicklungschancen junger Menschen beigetragen. … Vorhaben zur Bekämpfung der Kinderarbeit waren be- sonders erfolgreich, wenn sie das Familieneinkommen steigern und das Bildungsangebot verbessern konnten. Ähnliche Erfahrungen dokumentiert auch das Programm der Internationalen Arbeitsorganisation zur Bekämpfung der Kinderarbeit.“ Erstens unterstützt die Bundesregierung nachdrück- lich das politische Ziel, Kinderarbeit weltweit zu ächten und die in Kinderarbeit hergestellten Produkte nicht zu vertreiben oder zu nutzen. Beim Schutz vor Kinderarbeit handelt es sich um ein unabdingbares Menschenrecht, dem sich die Bundesrepublik Deutschland unter ande- rem durch die Ratifizierung der Übereinkommen der ILO Nummer 138 und Nummer 182 verpflichtet hat. Diese Übereinkommen sind in der Bundesrepublik Deutschland vollständig umgesetzt worden, und die Bundesregierung setzt sich ferner fortlaufend für deren Verankerung im Rahmen der internationalen Zusammen- arbeit ein. Die aktuellen Verhandlungen der EU mit Drittstaaten über den Abschluss von Freihandels- und Assoziierungsabkommen bieten beispielsweise die Mög- lichkeit, die Ächtung von Kinderarbeit zu verankern. Handelspolitische Anreize, die auf die Einfuhr von Pro- dukten aus Entwicklungsländern zielen, bestehen im Allgemeinen Präferenzsystem, APS, der Europäischen Union aus Sonderregelungen für nachhaltige Entwick- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23617 (A) (C) (D)(B) lung und verantwortungsvolle Staatsführung (sogenann- tes APS plus). Diese Regeln eröffnen Herstellern aus Drittstaaten besonders attraktive Zollvergünstigungen, wenn die 27 internationalen Übereinkommen, unter anderem die ILO-Konventionen Nummer 138 und Num- mer 182, in dem entsprechenden Herkunftsland ratifi- ziert und effektiv umgesetzt wurden. Auf internationaler Ebene hat die Bundesrepublik Deutschland zudem maßgeblich dazu beigetragen, dass das ILO-Programm „International Programme on the Elimination of Child Labour“, IPEC, in den 90er-Jahren ins Leben gerufen wurde, das bis heute läuft. Deutschland ist mit rund 55 Millionen Euro einer der wichtigsten Geber und leis- tet, nach den USA und Japan, den drittgrößten Beitrag. Zweitens ist in der Entwicklungspolitik der breite An- satz der Regierung für die Bekämpfung der Kinderarbeit die Armutsbekämpfung. Das Bundesministerium hat letztes Jahr eine Strategie zur Armutsreduzierung festge- legt. Im Konzept „Menschenrechte in der deutschen Ent- wicklungspolitik“ wird Armut ebenfalls thematisiert: „Erfolgreiche Armutsreduzierung erfordert die Verwirk- lichung von bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten. Denn Armut ist das Ergebnis der Verweigerung von Menschenrech- ten: de facto ein Ausschluss vom Zugang zu elementaren Ressourcen und sozialen Diensten wie Wasserver- und Abwasserentsorgung, Gesundheitsdiensten, Energie- dienstleistungen, Grundbildung, Justiz und politischer Teilhabe. Armut führt zu weiteren Beeinträchtigungen der Menschenrechte: Menschen in Armut werden zwangsweise aus informellen Siedlungen oder von ih- rem Land vertrieben, Frauen und Mädchen unter ihnen sind physischer Unsicherheit und Gewalt ausgesetzt, in vielen Fabriken oder auf Plantagen arbeiten Menschen, meist junge Menschen, ohne jegliche soziale Sicherung zu menschenunwürdigen Bedingungen.“ Die Armuts- bekämpfung ist die erste der acht Millenniumsentwick- lungsziele, für die Deutschland sich besonders stark ein- setzt. Das Ziel ist, den Bevölkerungsteil der Menschen, die mit weniger als 1 Euro pro Tag leben, bis 2015 im Vergleich zu 1990 zu halbieren. Drittens fördert die Bundesregierung neben der Armutsbekämpfung die Grund- und Berufsbildung. Laut ILO: „Wir werden die Kinderarbeit ohne universelle Bil- dung nicht beseitigen können, und wir werden umge- kehrt nicht sicherstellen können, dass jedes Kind in die Schule geht, wenn wir die Kinderarbeit nicht beseitigen, vor allem ihre schlimmsten Formen.“ Die Bekämpfung der Kinderarbeit durch entsprechende Bildungsförde- rung der betroffenen Kinder ist in der Bildungsstrategie der Bundesregierung bisher implizit in Ziel 3 – „Qualität und Zugang zu Grundbildung verbessern“ – enthalten. Das Konzept „Menschenrechte in der deutschen Ent- wicklungspolitik“ setzt den Rahmen für die menschen- rechtliche Ausrichtung deutscher Entwicklungspolitik, der durch Positionspapiere zu spezifischen Themen kon- kretisiert wird, etwa das Positionspapier zu Kinderrech- ten, in dem auf gute, inklusive Bildungsangebote als wichtigem Hebel zur Bekämpfung der Kinderarbeit hingewiesen werden wird. Im Strategiepapier zu Jugend- lichen vom Jahr 2011 wird berücksichtigt, dass Kinder- arbeit in einem engen Zusammenhang mit Jugendar- beitslosigkeit steht: Nationale Institutionen werden darin bestärkt, Alternativen zur Kinderarbeit anzubieten, zum Beispiel durch die Förderung von Jugendbeschäftigung und Bildung. Die Förderung der Jugendbeschäftigung ist in der Tat ein Hebel, denn eine hohe Jugendarbeitslosig- keit korreliert oft mit hohen Raten von Kinderarbeit. Viertens ist die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Wirtschaft ein weiterer Schwerpunktbereich bei der Bekämpfung von Kinderarbeit. Das Bundesministe- rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung hat im Jahr 2001 aktiv die Einberufung des Runden Tisches „Verhaltenskodizes“ unterstützt und moderiert diesen. Hier treffen sich Vertreterinnen und Vertreter aus Unternehmen, Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Bundesregierung, um zu verbesserten Sozialstandards in Entwicklungslän- dern beizutragen. Dazu fördert der Runde Tisch die Ein- führung freiwilliger Verhaltenskodizes in deutschen Un- ternehmen mit Produktionsstätten oder Zulieferern in Entwicklungsländern. Derartige Dialogforen gibt es auch auf internationaler Ebene. So unterstützt Deutsch- land die vom ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi An- nan ins Leben gerufene Initiative des Global Compact, in der sich weltweit mehr als 5 300 Unternehmen in 130 Ländern zu der Einhaltung grundlegender Sozial- standards bekennen. In konkreten Projekten im Rahmen des Public-Private-Partnership-Programms, PPP, unter- stützt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit Unter- nehmen bei der Erarbeitung und Umsetzung von Verhal- tenskodizes etwa im Kaffee-, Kakao- und Textilsektor, die neben zahlreichen anderen Aspekten immer auch die Vermeidung ausbeuterischer Kinderarbeit bezwecken. Darüber hinaus hat das BMZ sich auch dafür eingesetzt, dass zwei Richtlinien der Europäischen Union in deut- sches Recht umgesetzt werden, die vorsehen, dass bei der Vergabe von Aufträgen öffentlicher Institutionen so- ziale Kriterien berücksichtigt werden können. So können der Bund, aber auch die Bundesländer und die Gemein- den explizit soziale und ökologische Kriterien, zum Bei- spiel das Verbot ausbeuterischer Kinderarbeit, für die Ausführung öffentlicher Aufträge vorgeben. Fünftens setzt die Bundesregierung sich für die Be- wusstseinsbildung für die Problematik Kinderarbeit in den betroffenen Regionen und bei den Verbrauchern in Deutschland ein. Die Bundesregierung unterstützt frei- willige Nachhaltigkeitsstandardsysteme, die von unab- hängiger Seite überprüft werden und die in der Zuliefer- kette wirken, wie zum Beispiel den Fairen Handel, Rainforest Alliance oder den Common Code for the Coffee Community. Die Standards, deren Einhaltung diese Systeme sicherstellen, basieren auf dem ILO- Übereinkommen zum Verbot und zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Die Bundesregie- rung fördert insbesondere die Verbreitung von Informa- tionen zu den Zertifizierungssystemen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang das Forum Fairer Handel und die Unterstützung der jährlichen Fairen Woche sowie die Förderung von themenspezifischen Internetplattformen: „Aktiv gegen Kinderarbeit“, „Kompass Nachhaltigkeit“. Zur Identifizierung der durch ausbeuterische Kinderar- 23618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) beit hergestellten Produkte verfolgt die Bundesregierung die Entwicklungen, Studien und Berichte im Bereich Kinderarbeit sowohl auf nationaler als auch auf interna- tionaler Ebene. Relevante Arbeit und entsprechende Studien leisten unter anderem Oxfam, Südwind, BAUM e. V. oder die verschiedenen Standardinitiativen im Natursteinsektor, mit denen die Bundesregierung in verschiedenen Kontexten eng zusammenarbeitet. Durch die enge Zusammenarbeit mit der ILO ist die Bundes- regierung auch über die wichtigsten Aktivitäten und Be- richte auf internationaler Ebene informiert. Zuletzt möchte ich einige Projekte der Bundesregie- rung, die konkret die Bekämpfung der Kinderarbeit be- treffen, aufzeigen. In West- und Zentralafrika – Kamerun, Elfenbein- küste, Liberia, Nigeria, Ghana, Kongo – unterstützte die Bundesregierung drei regionale Vorhaben zur Verbesse- rung der Nachhaltigkeit der Kakaoproduktion, wozu ausdrücklich die Überwindung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit gehört, mit einem Gesamtvolumen von circa 10,6 Millionen Euro. Ein wesentliches Element war der aktive Dialog mit den Regierungen, der Zivilge- sellschaft und der Privatwirtschaft der Partnerländer. Best-Practice-Beispiele für den Kakaosektor wurden entwickelt, die von der Elfenbeinküste landesweit umge- setzt werden können. Schulbesuche und berufliche Aus- bildung wurden gefördert, Präventions- und Infrastruk- turmaßnahmen entwickelt und Reintegration von Opfern durchgeführt. Mit einem länderübergreifenden Vorhaben zur Verbesserung des Zugangs von Kleinbauern zu nach- haltiger Zertifizierung im Kakaosektor unterstützte das BMZ von 2010 bis 2012 die Kooperation zwischen Ini- tiativen für Umwelt- und Sozialstandards im Kakaosek- tor – Fairtrade, Rainforest Alliance und UTZ Certified –, Privatunternehmen und Entwicklungsorganisationen. Die Voraussetzungen für den Zugang zu den Märkten für nachhaltig erzeugte Schokolade wurden für die westafri- kanischen Kakaoproduzenten dadurch verbessert. Die Richtlinien der Initiativen sind Mindeststandards für den umweltgerechten Anbau von Kakao, den verantwor- tungsbewussten Umgang mit Agrochemikalien, den Schutz der Biodiversität sowie die Sicherung sozialver- träglicher Bedingungen, wie faire Entlohnung und Über- windung von Kinderarbeit. Ein anderes Beispiel für das Engagement der Bundes- regierung betrifft das Projekt gegen Kinderarbeit und Kinderhandel in Burkina Faso, das die deutsche Bundes- regierung mit einem Beitrag von 5,6 Millionen Euro bis 2015 unterstützt. Es wird eng mit nationalen Program- men und Initiativen anderer Geber zusammengearbeitet, um die Kinderrechte in Burkina Faso durch Aufklärung und Bewusstseinsbildung zu stärken. In der Tat wird in Burkina Faso die Armut von Kinderhändlern in besonde- rem Maße ausgenutzt. Mit der Aussicht auf ein besseres Leben überzeugen sie Eltern davon, ihre Kinder wegzu- geben: Mehr als 160 000 Kinder wurden so zu Opfern von Kinderhandel und schlimmsten Formen der Kinder- arbeit. Rund 5 Prozent aller Kinder im Alter von 6 bis 15 Jahren leben als Arbeitsemigranten getrennt von ih- ren Eltern – ein schwerer Verstoß gegen die Rechte der Kinder. Das deutsche Programm unterstützt die Opfer der Menschenrechtsverletzungen. Gleichzeitig wendet es sich aber auch mit Aufklärungskampagnen an die Ver- antwortlichen, die die Verletzungen der Kinderrechte bisher geduldet haben: an dörfliche Gemeinschaften und an staatliche und zivilgesellschaftliche Institutionen. In den Dörfern, die in das Projekt integriert sind, stieg die Anzahl der Mädchen, die eine Schule besuchen, um rund 50 Prozent. Obwohl die Kampagne sich in erster Linie an Mädchen richtet, nahm auch der Schulbesuch der Jungen in beachtlichem Maße zu. Die strafrechtliche Verfolgung der Kinderhändler verlief ebenfalls erfolg- reich. Die Zahl der Opfer von Kinderhandel, die wieder in ihre Heimatdörfer zurückgebracht und in ihre Fami- lien integriert werden konnten, hat kontinuierlich zuge- nommen und belief sich bis Ende 2009 auf 1 530 Kinder. Knapp 4 000 Opfer von Kinderhandel und Kinderarbeit profitierten von einem sozioökonomischen Unterstüt- zungsangebot, beispielsweise einem Familiendialog zur reproduktiven Gesundheit oder Theaterstücken zur Auf- klärung über Kinderarbeit. Die Arbeit des Projektes wird von der Bevölkerung inzwischen anerkannt und ge- schätzt. Die Medien in Burkina Faso berichten regelmä- ßig über die Aktivitäten; auch das trägt dazu bei, dass sich das Bewusstsein in der Gesellschaft nach und nach ändert. Anhand dieses Beispiels bezüglich ausbeuterischer Kinderarbeit und Kinderhandel in Burkina Faso möchte ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Menschen- und Kinderhandel uns auch hier in Deutschland betref- fen. Deutschland ist Herkunfts-, Durchgangs- und Ziel- land für den Handel von Männern, Frauen und Kindern, insbesondere zum Zwecke von Zwangsprostitution und Zwangsarbeit. 2010 kamen 9 Prozent der von Men- schenhandel zur sexuellen Ausbeutung betroffenen und identifizierten Personen aus Europa, davon 28 Prozent aus Deutschland; fast ein Viertel von ihnen waren Kin- der. Laut Daten der IOM dieses Jahres steigen die Fälle des Kinderhandels und des Labor Trafficking. Ungefähr ein Drittel der Fälle betreffen Kinder unter 18 und zwei Drittel insgesamt Frauen oder Mädchen. Nach Daten der UNODC finden 79 Prozent der Menschenhandelsfälle im Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung statt, und 92 Prozent davon sind Frauen oder Mädchen. In Berlin habe ich einen Runden Tisch mit christlichen Hilfswer- ken, die sich mit dem Thema beschäftigen und die Lage ändern wollen, ins Leben gerufen. Menschen- und Kin- derarbeit verstoßen gegen die Menschenrechte, und das passiert bei uns hier in Deutschland. Dagegen müssen wir etwas tun. Zuletzt möchte ich auf den ersten Mädchenwelttag verweisen, der am 11. Oktober stattfinden wird. Mäd- chen werden noch weit häufiger als Jungen wirtschaft- lich ausgebeutet, denn in Entwicklungsländern sind sie meistens diejenigen, die als Letztes zur Schule geschickt werden. Und wenn sie zur Schule gehen, brechen sie oft vorzeitig ab, weil sie zu Hause helfen müssen, früh ver- heiratet werden oder der Schulweg zu gefährlich ist. Ein anderes Beispiel der Benachteiligung von Mädchen ist Wasser: In Afrika sind Frauen und Mädchen für die Wasserversorgung zuständig. Im Durchschnitt werden 30 Minuten benötigt, um Wasser zu holen. Aber meis- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23619 (A) (C) (D)(B) tens werden mehrere Strecken pro Tag nötig. So bleibt für Mädchen keine Zeit übrig, um die Schule zu besu- chen. Doch ist Grundbildung für Mädchen und Frauen besonders wichtig. Ihre Bildung rettet Leben: Kinder, deren Mütter lesen und schreiben können, sterben we- sentlich seltener vor ihrem fünften Geburtstag als Kin- der, deren Mütter Analphabetinnen sind. Denn Mütter mit Grundschulbildung wissen mehr über Gesundheit und haben mehr Möglichkeiten, sich Rat und Unterstüt- zung zu holen. Mit dem Internationalen Mädchentag der Vereinten Nationen wollen wir, dass Mädchen sichtbarer werden, und das Millenniumsentwicklungsziel zur Gleichberechtigung unterstützen. Die Förderung der Mädchenrechte und die Stärkung der Mädchen wirken sich zugunsten von uns allen aus. Zurück zum Antrag: Die Beseitigung der Kinder- arbeit ist eine Sache, für die es sich tatsächlich zu kämp- fen lohnt. Sicherzustellen, dass kein Kind arbeiten muss und eine gute Schulbildung erhält, ist von entscheiden- der Bedeutung. Die Bekämpfung der Kinderarbeit be- deutet, dass der Zyklus aus vorenthaltener Bildung, unsi- cherer Beschäftigung für Jugendliche und allzu sicherer Armut der Haushalte durchbrochen wird. Dafür enga- giert sich die Bundesregierung. Hier gilt es politisch weiter zu denken, weiter zu arbeiten und, wenn nötig, zu justieren. Zudem ist es aber mindestens genauso wichtig, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher sich gesell- schaftlich engagieren und durch ihr Kaufverhalten Si- gnale aussenden. Christoph Strässer (SPD): Laut UNICEF müssen über 600 000 Kinder und Jugendliche in Ecuador mitar- beiten, um ihre Familien zu unterstützen: Fast 40 Pro- zent der Menschen in dem lateinamerikanischen Land leben in Armut. Sie haben umgerechnet weniger als zwei US-Dollar am Tag zum Leben. Besonders sichtbar sind Armut und Ausbeutung auf den Müllkippen der Städte: Ganze Familien leben hier vom Durchsuchen des stin- kenden Abfalls nach Verwertbarem. Die Kinder gehen oft nicht zur Schule, viele sind krank. Aber auch Kinder, die sich auf der Straße durchschlagen oder auf Baustel- len und Bananenplantagen arbeiten, sind extrem gefähr- det. Im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh arbei- ten rund 200 000 Kinder in der Baumwollindustrie. Be- sonders die Mädchen sind beliebte Arbeitskräfte, weil sie geschickt und fügsam sind. Elf, zwölf Stunden täg- lich verbringen sie auf dem Feld – eine anstrengende und wegen des starken Einsatzes von Pflanzenschutzmit- teln auch gefährliche Tätigkeit. Zur Schule gehen die wenigsten. In Nepal haben fast 600 000 Kinder noch nie eine Schule besucht. Ein Viertel aller Mädchen im Grund- schulalter hat keine Chance, am Unterricht teilzuneh- men. Die meisten müssen Geld verdienen oder im Haus- halt helfen. Zudem fehlt es in abgelegenen Bergdörfern an Lehrern. Die schlechte Qualität des Unterrichts lässt die Kinder frühzeitig die Schule abbrechen. Das sind drei Beispiele von unzähligen, die uns er- schüttern müssen. Nach neuen Schätzungen von UNICEF arbeitet fast jedes sechste Kind zwischen 5 und 14 Jahren; weltweit sind das etwa 150 Millionen. Für einen Hunger- lohn sind sie in der Landwirtschaft, als Straßenverkäufer oder Dienstboten beschäftigt, und das unter Bedingun- gen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung schwer scha- den. Diese Kinder müssen nicht nur ihrer Familie bei der Hausarbeit oder auf dem Feld helfen, viele von ihnen schuften stundenlang in Betrieben und Fabriken. Rund 8,4 Millionen Mädchen und Jungen weltweit haben ein besonders schlimmes Schicksal: Sie werden als Kinder- soldaten, Schuldknechte oder Zwangsarbeiter ausgebeu- tet. Mindestens eine Million Kinder werden allein jedes Jahr in Asien als Prostituierte missbraucht. Die meisten arbeitenden Kinder leben in Afrika südlich der Sahara, 69 Millionen Mädchen und Jungen im Alter zwischen fünf und 14 Jahren. In Süd- und Ostasien gibt es 66 Mil- lionen Kinderarbeiter, in Südamerika 12 Millionen. Kin- derarbeit ist oft kaum sichtbar. Zigtausende Kinder tau- chen in keiner Statistik auf. Sie schuften in Haushalten, als Müllsammler und Schuhputzer und sind nirgendwo registriert. Andere werden als Drogenkuriere miss- braucht. Viele arbeitende Kinder erhalten keine Bezah- lung. Vor allem Hausmädchen bekommen oft nicht mehr als Essen und eine Unterkunft. Die meisten Kinder arbeiten, weil ihre Eltern zu arm sind, die Familie allein zu ernähren. Viele von ihnen ver- dienen sogar das Geld für die ganze Familie. Für die Ar- beitgeber ist dies meist ein gutes Geschäft: Kinder lassen sich viel leichter ausbeuten und geben weniger Wider- worte. Sie bekommen weniger Geld und finden aus die- sem Grund häufiger Arbeit als die Erwachsenen. Kinder- arbeit einfach zu verbieten, ist deshalb keine Lösung. Würden die Kinder ihre Arbeit verlieren, hätten ihre Fa- milien gar kein Geld mehr. Kinder, die nicht arbeiten dürften, müssten betteln oder stehlen. Deshalb schlagen Sie von der Linken vor, über Importverbote auch auf europäischer Ebene nachzudenken. Gleich vorweg sollte man aber wissen, dass nach den bisherigen Erfahrungen Importverbote allein nicht dazu beigetragen haben, Kin- derarbeit zu verringern. Ein Boykott kann eben, wie UNICEF richtigerweise immer wieder betont, auch dazu führen, dass die betroffenen Familien noch ärmer wer- den, die Kinder entweder in der Landwirtschaft oder in Produktionsbereichen, die keine Waren für den Export herstellen, weiter arbeiten müssen. Deshalb sollten Im- portverbote immer durch Sozialprogramme begleitet werden. Das Problem darf nicht nur verlagert werden. Es gibt bereits zahlreiche internationale Vereinbarun- gen zur Eindämmung von Kinderarbeit. Das ist gut. Dazu zählen insbesondere die Konventionen der Internationa- len Arbeitsorganisation, ILO, und deren Konvention 138 zum Verbot der Erwerbstätigkeit unter einem bestimmten Mindestalter und die Konvention 182, die die schlimms- ten Formen der Kinderarbeit unterbinden soll. Daneben hat Deutschland unter anderem die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen unterzeichnet. Sie stellen für multinationale Unternehmen einen Verhaltenskodex dar. Die Leitsätze sind wichtig, leider sind sie zu unver- bindlich, überwiegt das „soft law“ mit zu vielen Sollvor- schriften. Auch die ILO war an der Überarbeitung der Leitsätze beteiligt, um die Kernarbeitsnormen zu imple- 23620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) mentieren, zu denen eben auch der Verzicht auf Kinderar- beit zählt. Zum Kampf gegen Kinderarbeit bedarf es auf allen politischen Ebenen Maßnahmen zur Verwirkli- chung der ILO-Konvention 182. Deshalb ist ein Indivi- dualbeschwerdeverfahren auch so wichtig. Recht haben reicht eben allein nicht aus. Rechte müssen auch durch- setzbar sein. Hier ist der Menschenrechtsrat weiter gefor- dert aber natürlich muss auch die Bundesregierung end- lich aktiver werden, um hier verbindliche Regelungen, wie zum Beispiel im US-amerikanischen Dodd Frank Act, zu bewirken. Insofern geht der Antrag komplett in die richtige Richtung. Die wichtigste Ursache von Kinderarbeit ist, genau wie die Linken in Ihrem Antrag feststellen, Armut. Das wichtigste Instrument ist deshalb die Armutsbekämp- fung in den Entwicklungsländern. Gleichzeitig gehört dazu die Förderung der Schul- und Berufsausbildung. In diesem Zusammenhang gibt es in einigen Ländern, wie zum Beispiel Mexiko und Brasilien, Sozialprogramme, die Familien Sozialleistungen gewähren, wenn Kinder Schulen besuchen. Die Programme sind erfolgreich und sollten auf weitere Länder übertragen werden. Gleichzeitig muss die Bewusstseinsbildung und Ver- antwortung in Wirtschaft und Gesellschaft der Industrie- länder verstärkt werden. Jeder sollte sich informieren, wo man Produkte erhält, die nach ethischen Regeln ge- fertigt worden sind, beispielsweise Produkte aus fairem Handel. Das „Transfair“-Siegel erhalten zum Beispiel nur Produkte, die ohne ausbeuterische Kinderarbeit her- gestellt werden. Jeder von uns kann in den Geschäften nachfragen, wie zum Beispiel Jeans, Teppiche usw. her- gestellt werden. Das mag dem einen oder anderen unan- gemessen erscheinen. Wenn man aber das Leid der Kin- der in Rechnung stellt, sind solche Fragen mehr als gerechtfertigt. Insofern begrüßen wir privatwirtschaftli- che Initiativen fair gehandelter Produkte. Verbraucher sollten in die Lage versetzt werden, be- wusste Kaufentscheidungen treffen zu können. Das er- fordert verstärkt die Kennzeichnung gehandelter Waren durch die Wirtschaft. In einigen Bereichen wie im Kaf- fee-, Kakao- und Textilsektor gibt es bereits einige Ver- haltenskodizes, die sukzessive ausgebaut werden müs- sen. Wir fordern aber, damit diese grundlegende men- schenrechtliche Entscheidung gerade nicht dem guten Willen einiger Unternehmen überlassen bleibt, eine ver- bindliche Kennzeichnungspflicht, und zwar für die ge- samte Produktkette. Dies ist ohne großen bürokrati- schen und materiellen Aufwand möglich; eine solche verbindliche Zertifizierung ist nach meiner festen Über- zeugung eben gerade kein bloßer Kostenfaktor, sondern für jedes Unternehmen, das sich daran hält, ein positiver Standortfaktor! Denn viele Kinder arbeiten gezwungenermaßen in Wirtschaftsbereichen, die Produkte für den Export her- stellen. Trotz ansteigendem Verantwortungsbewusstsein bei den Verbrauchern ist eine Kontrolle bzw. Identifizie- rung von aus Kinderarbeit hergestellten Produkten trotz aller positiven Entwicklungen nur eingeschränkt mög- lich. Vielfach muss man sich an – einigen wenigen – pri- vaten Initiativen orientieren, die entsprechende Informa- tionen oder Zertifizierungen zur Verfügungen stellen. Das ist nicht ausreichend. Deshalb hat der Bundesrat auf Initiative der SPD-geführten Länder Rheinland-Pfalz, Bremen, später hinzutretend auch Berlin und Branden- burg 2010 zu Recht eine Initiative zur Verhinderung des Marktzugangs von Produkten aus ausbeuterischer Kin- derarbeit gestartet, von der der Bundestag im Februar 2011 unterrichtet wurde. Ich habe Sie bereits in unserer letzen Debatte gebeten, wichtige Passagen aus der Ent- schließung des Bundesrates zu übernehmen – was Sie leider nicht gemacht haben. Warum nicht? Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ich find es gut und richtig, dass dieses Thema mit dem An- trag der Linken wieder einmal auf die Agenda kommt. Natürlich bedauern wir, dass sich, wie Sie in Ihrem An- trag schreiben, in den vergangenen Jahren an der beste- henden Situation kaum etwas geändert hat. Natürlich un- terstützen wir die Forderung, Armutsbekämpfung und den Schutz der Menschenrechte und damit auch der Kin- derrechte zu einer Schwerpunktaufgabe der deutschen Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit zu ma- chen, ebenso wie Ihr Anliegen, das Verantwortungs- und Problembewusstsein der bundesdeutschen Verbrauche- rinnen und Verbraucher hinsichtlich einer Ablehnung des Kaufs von Produkten aus ausbeuterischer Kinder- arbeit zu fördern. Aber leider erwecken Sie mit dem Antrag wieder ein- mal den Eindruck, als ob die deutsche Politik diesbezüg- lich bisher so gut wie nichts unternommen habe und wir uns für unser fehlendes Engagement schämen müssten. Nicht, dass man die Hände in den Schoß legen soll – im Gegenteil: Natürlich müssen wir in diesem Bereich im- mer noch mehr leisten. Das erfordert einfach die Situa- tion der Kinder weltweit. Aber so zu tun, als ob Deutsch- land hier komplett schläft, ist nicht akzeptabel. Ich will hierbei die Bundesregierung auch gar nicht in Schutz nehmen. Aber Ihren populistischen Ansatz, die Bemü- hungen, die es ja auch gibt, zu unterschlagen, können wir so nicht mittragen. Das mag für Wahlkampfzwecke eine zu differenzierte Sicht sein. Aber ich finde bei die- sem Thema muss man bei der Abwägung der Argumente auch alle Fakten auf den Tisch legen. So arbeiten die verschiedenen Bundesregierungen seit 1972 mit der ILO im Rahmen der technischen Hilfe zusammen. Das BMZ hat mit 55 Millionen Euro seit Anfang der 90er-Jahre Programme zur Abschaffung der Kinderarbeit unter- stützt und gehört zu den größten Gebern. In informellen Arbeitskreisen zwischen WTO und ILO wird die Mög- lichkeit einer Einbeziehung von Sozialstandards bespro- chen. Aber auch auf kommunaler Ebene gibt es immer häufiger Bestrebungen, Produkte aus Kinderarbeit zu meiden. Mit der Änderung des Gesetzes gegen Wettbe- werbsbeschränkung 2009 können öffentliche Auftrag- geber an Auftragnehmer und bei Ausschreibungen zu- sätzliche Anforderungen stellen, die nicht nur die Wirtschaftlichkeit des Angebots, sondern auch ethische und soziale Aspekte betreffen. Der öffentliche Auftrag- geber kann die Vorgaben der Einhaltung der ILO-Nor- men auf die gesamte Lieferkette bis ins Ursprungsland erstrecken. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23621 (A) (C) (D)(B) Es gibt noch viel zu tun, und deshalb begrüßen wir das Engagement der Linken und unterstützen dies. Ihr konkreter Antrag ist allerdings aus den genannten Grün- den zu undifferenziert, sodass wir uns leider diesmal nur enthalten können. Pascal Kober (FDP): Wir befassen uns heute in zweiter Lesung mit einem Antrag der Kolleginnen und Kollegen der Linken, der das Ziel verfolgt, ausbeuteri- sche Kinderarbeit weltweit zu bekämpfen. Über dieses Ziel sind wir uns einig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken; denn die christlich-liberale Koalition teilt dieses Anliegen uneingeschränkt. Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorgani- sation, ILO, müssen noch immer rund 215 Millionen Kinder im Alter zwischen 5 und 17 Jahren arbeiten, 115 Millionen von ihnen unter ausbeuterischen und oft gesundheitsschädlichen und gefährlichen Bedingungen. Man kann sogar davon ausgehen, dass die tatsächliche Zahl arbeitender Kinder noch deutlich höher ist. Der Großteil von ihnen, rund 60 Prozent, ist in der Landwirtschaft beschäftigt, einem der unfallträchtigsten Wirtschaftssektoren. Andere Kinder müssen Teppiche knüpfen, Steine hauen, als Haussklaven arbeiten, auf Plantagen ernten, Drogen schmuggeln oder sogar als Kindersoldaten in den Krieg ziehen. Für Kinderhändler und diejenigen, die Kinder beschäftigen, ist dieses Ge- schäft äußerst lukrativ. Kinder lassen sich leicht ausbeu- ten, können sich nicht wehren und sind wesentlich billi- ger als erwachsene Arbeiter. Bei den Kindern verursachen die oft viel zu schweren Arbeiten und Misshandlungen bleibende Schäden an Körper und Seele, die zu Traumatisierung, Krankheit und sogar bis zum Tod führen können. Kinderarbeit ist unmenschlich und verletzt die Menschenrechte dieser Kinder auf das Äußerste. Aber auch die Folgen für die gesamte Gesellschaft sind verheerend; denn wir haben es hier mit einem Teu- felskreis aus Armut, Kinderarbeit, mangelnder Schulbil- dung und fehlenden Lebenschancen zu tun. Kinderarbeit ist in den meisten Fällen eine Folge der Armut der Eltern. Viele Familien sind darauf angewie- sen, dass ihre Kinder zum Einkommen beitragen. Statt zu lernen und eine richtige Ausbildung zu bekommen, müssen viele Kinder darum von klein auf arbeiten. Häu- fig geht es auch darum, die Schulden der Eltern abzuar- beiten. Dadurch verlieren sie ihre Chancen auf Schulbil- dung, auf einen höher qualifizierten Arbeitsplatz und bleiben selbst in der Armut gefangen, wie schon ihre El- tern. In der Folge werden ihre eigenen Kinder wieder Gefahr laufen, arbeiten zu müssen; denn wenn die Not der Eltern groß genug ist, ist auch die Not groß, ihre ei- genen Kinder als Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. So wird dieser Teufelskreis an die nachfolgende Genera- tion vererbt. Darum stellt Kinderarbeit über das Leid der davon Betroffenen hinaus ein massives Entwicklungs- hemmnis für die ganze Gesellschaft dar. An dieser Stelle möchte ich meine Rede zu diesem Thema nutzen, um noch einmal auf den Einsatz von Kin- derarbeit bei der Baumwollernte in Usbekistan hinzu- weisen. Zwar hat Usbekistan die ILO-Konventionen zur Abschaffung von Zwangsarbeit und zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit ratifiziert, den- noch ist bisher kaum erkennbar, dass deren Inhalte um- gesetzt werden. Stattdessen weigert sich die usbekische Regierung noch immer, eine unabhängige ILO-Untersuchungskom- mission einreisen zu lassen. Hinzu kommt, dass nun auch einer Delegation von Mitgliedern des Menschen- rechtsausschusses des Bundestags die Erteilung von Visa verwehrt wurde. Dies spricht Bände darüber, wie Usbe- kistan zu Offenheit, Transparenz und Kooperation steht, wenn es um die menschenrechtliche Situation im eige- nen Land geht. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert die usbekische Regierung auf, noch in diesem Jahr eine ILO-Untersu- chungskommission einreisen zu lassen. Ebenso fordern wir, dass unsere Ausschusskolleginnen und -kollegen Visa für die Einreise nach Usbekistan erhalten, um sich vor Ort ein Bild über die Lage machen zu können. Zugleich begrüße ich, dass sich die Bundesregierung gegenüber der usbekischen Regierung bilateral, aber auch im Rahmen der Europäischen Union und in interna- tionalen Gremien regelmäßig und nachdrücklich für die Beseitigung der Kinderarbeit einsetzt und weiterhin da- rauf drängt, eine ILO-Beobachtermission zur Baumwoll- ernte nach Usbekistan zuzulassen. Neben den diplomatischen Möglichkeiten des Aus- wärtigen Amtes ist auch das Entwicklungsministerium von Dirk Niebel aktiv bei der Bekämpfung von Kinder- arbeit. Beispielsweise unterstützt die deutsche Entwick- lungszusammenarbeit Unternehmen bei der Erarbeitung und Umsetzung von Verhaltenskodizes, die neben zahl- reichen anderen Aspekten immer auch die Vermeidung ausbeuterischer Kinderarbeit bezwecken. Derartige Dia- logforen gibt es auch auf internationaler Ebene. So un- terstützt Deutschland die Initiative des Global Compact, in der sich weltweit mehr als 5 300 Unternehmen in 130 Ländern freiwillig zur Einhaltung grundlegender Sozialstandards wie dem Verzicht auf Kinderarbeit be- kennen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wir tei- len Ihr Ziel, Kinderarbeit zu bekämpfen; allerdings tei- len wir nicht Ihre Methoden. Denn Verbote allein führen nicht weiter. Stattdessen müssen wir die Gesamtsituation der von Kinderarbeit betroffenen Familien konkret ver- bessern. Das bedeutet, wir müssen konkret die Ursachen bekämpfen, die zu Kinderarbeit führen. Dabei müssen wir an vielen verschiedenen Punkten ansetzen, zum Beispiel bei der Wasserversorgung. Daher legt Bundesminister Niebel einen Schwerpunkt deut- scher Entwicklungszusammenarbeit auf den Wassersek- tor. Das heißt, Wasser muss nicht nur sauber, sondern auch erreichbar sein, also nicht mehr als 1 Kilometer vom Haus entfernt. Davon profitieren vor allem Kinder und Frauen, die diese lebensnotwendige Tätigkeit des Wasserholens meist ausüben müssen. Indem der tägliche 23622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) Weg zur Wasserstelle verkürzt wird, gewinnen diese Kinder und Frauen täglich etwas Zeit – Zeit für Bildung, für sich selbst und die eigene Entwicklung. Katrin Werner (DIE LINKE): Laut Internationaler Arbeitsorganisation, ILO, müssen aktuell weltweit circa 215 Millionen Kinder arbeiten. Davon werden rund 115 Millionen Kinder unter sklavenähnlichen Bedingun- gen ausgebeutet. Die wichtigste Ursache ist Massen- armut. Kinder arbeiten überall dort, wo die Eltern bitter- arm sind. Die Kinder schuften in Steinbrüchen, auf Plantagen, in der Sexindustrie oder in Privathaushalten. Laut UNICEF bekommen vier von fünf Kindern für ihre Ar- beit keinen Lohn. So hat vor circa zwei Wochen in Usbekistan die dies- jährige Baumwollernte begonnen. Usbekistan ist der fünftgrößte Exporteur von Baumwolle weltweit. Die ILO schätzt, dass während der Erntezeit bis zu 1 Million Jungen und Mädchen gezwungen werden, auf den Baumwollfeldern zu arbeiten. Ein zweites Beispiel: Spiegel Online berichtete am 2. September 2012, dass in chinesischen Fabriken des Elektrokonzerns Samsung systematisch Kinderarbeit stattfände. Zwischen Fabriken und Schulen würden so- gar offizielle „Arbeitsverträge“ abgeschlossen werden. Die Linke sagt: Kinderzwangsarbeit ist moderne Sklaverei und gehört abgeschafft! Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung rei- chen nicht aus. Es handelt sich auch nicht nur um ein Problem von fernen Ländern. So verschleppen zum Bei- spiel skrupellose Menschenfänger im großen Stil min- derjährige Mädchen und junge Frauen aus Moldau in die EU und nach Deutschland, wo sie als Sexsklavinnen in Bordellen arbeiten müssen. Aber auch bei alltäglichen Produkten profitieren wir als Konsumenten von Kinder- zwangsarbeit. So stammen circa zwei Drittel aller Grab- steine auf deutschen Friedhöfen ursprünglich aus Indien. Auch zahlreiche Importprodukte für den Eigenheimbau, wie Natursteine für Terrassen und Fensterplatten aus Marmor, werden nachweislich durch Kinderzwangs- arbeit gewonnen. Diese Produkte finden den Weg in un- sere Geschäfte, weil wir uns daran gewöhnt haben, nach dem Prinzip „Geiz ist geil“ einzukaufen. Das preisgüns- tigste Produkt ist jedoch meist auch dasjenige, das zu den niedrigsten sozialen und ökologischen Standards hergestellt wurde. Das muss sich ändern! So lange können wir aber nicht warten. Im Interesse dieser Kinder muss jetzt gehandelt werden: Wir brau- chen ein gesetzliches, möglichst EU-weites Verbot für die Einfuhr, den Handel und die Verwendung von Pro- dukten aus Kinderzwangsarbeit. Bei der Vergabe öffent- licher Aufträge durch Bund, Länder und Kommunen muss öffentlich werden, ob die ILO-Konventionen ge- gen Kinderarbeit im Herkunftsland und in der Handels- kette lückenlos eingehalten werden. Die sozialen Ursachen für Kinderarbeit müssen in den Herkunftsländern bekämpft werden. Der Großteil dieser Produkte wird für die eigene Binnenwirtschaft herge- stellt. Brasilien und Mexiko haben gezeigt, wie dies ge- lingen kann: durch Armutsbekämpfung und Förderung der Schul- und Berufsausbildung. Arme Familien erhal- ten zusätzliche Sozialleistungen, wenn die Kinder Schu- len besuchen. Das Beispiel sollte Schule machen, und dafür muss sich Deutschland in der Entwicklungszusam- menarbeit einsetzen. Leider hat Deutschland seine internationale Ver- pflichtung, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, bis heute nicht erfüllt. Unter Rot-Grün waren es 0,28 Prozent, und unter Schwarz-Gelb sind es auch nur 0,4 Prozent. Das zeigt: Weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb haben ein Herz für arme Kinder. Die Linke sagt: Dafür müssen sie sich wirklich schä- men! Unser Antrag verfolgt einen doppelten Ansatz: Marktzugangssperren für Produkte aus Kinderzwangsar- beit bei uns und gleichzeitige Bekämpfung der Ursachen von Kinderarbeit in den Herkunftsländern. Beides ist wichtig, um den Profiteuren von Kinderzwangsarbeit das Handwerk zu legen und den betroffenen Familien Auswege aus der Armut aufzuzeigen. Obwohl auch die SPD dies in einem Antrag fordert, will sie sich laut Beschlussempfehlung bei unserem An- trag enthalten. Wenn die SPD in der Sache entscheiden würde, dann müsste sie wie die Grünen unserem Antrag zustimmen. Darum geht es aber nicht: In der Opposition blinken die Sozialdemokraten zwar gern links; wenn es darauf ankommt, biegen sie jedoch rechts ab. Sie wollen sich damit heute schon als Juniorpartner in einer künfti- gen großen Koalition nach der nächsten Bundestagswahl andienen. Das spricht Bände! Der weltweite Schutz der Kinderrechte muss Vorrang haben vor den Profitinteressen von Unternehmen. Da- rüber muss über die Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit bestehen. Im Interesse der Kinder lehnen wir daher die Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses ab und appellieren an Sie, unserem Antrag doch noch zuzustimmen. Kinder sind unsere Zukunft und brauchen unseren Schutz! Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Schlagzeilen über katastrophale Arbeitsbedingungen in der globalen Zulieferkette reißen nicht ab. Mitte Septem- ber starben bei einem Brand im pakistanischen Karatschi über 250 Menschen. Notausgänge? Fehlanzeige! Auch die Handelskette kik ließ dort produzieren. Wenige Wo- chen vor dem Vorfall hatte der Konzern noch beteuert, weltweit Arbeits- und Sozialstandards hochzuhalten. Nicht besser sieht es bei Foxconn aus. In dem Werk, in dem das neue iPhone 5 produziert wird, herrschen de- saströse Arbeitsbedingungen, die am vergangenen Wo- chenende zu Krawallen mit einer Beteiligung von etwa 2 000 Beschäftigten führten. Auslöser soll ein Streit zwi- schen einem Arbeiter und einem Wachmann gewesen sein. Der Arbeiter hatte sich über die Behandlung durch das Management und das Wachpersonal beschwert. Laut Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23623 (A) (C) (D)(B) NGOs gehört Gewalt gegen Arbeiterinnen bei Foxconn geradezu zur Unternehmenskultur. Wie sieht es bei der Kinderarbeit aus? Auch hier man- gelt es nicht an aktuellen Beispielen. Gerade vor einigen Tagen hat die französische Nationale Kontaktstelle, NKS, der OECD ihren Abschlussbericht im Fall Devcot vorgelegt. Das Unternehmen wurde beschuldigt, mit Baumwolle gehandelt zu haben, die in Usbekistan von Kindern geerntet wurde. Auch wenn die NKS ein direk- tes Verschulden von Devcot verneinte, machte sie doch klar, dass der Handel mit Produkten aus Kinderarbeit ein eklatanter Verstoß gegen die OECD-Leitsätze für multi- nationale Unternehmen darstellt. Ein wichtiger Schritt, um klarzustellen, dass transnationale Unternehmen auch für ihre Zulieferketten verantwortlich sind. Ausbeuterische Arbeitsbedingungen sind menschen- verachtend. Ausbeuterische Kinderarbeit ist dies in be- sonderem Maße: Kinder können ihre Situation noch nicht verstehen, sie sind noch leichter auszubeuten, sie werden körperlich und psychisch für ihr gesamtes Leben schwer geschädigt, oftmals werden sie entweder direkt entführt oder aber mit Versprechungen den Not leiden- den Eltern abgekauft. Sie werden zum persönlichen Ei- gentum ihrer Besitzer. Deshalb müssen wir weltweit So- zialstandards für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durchsetzen und Kinderarbeit ächten. Kinder gehören nicht an die Werkbank oder in den Steinbruch, sie gehö- ren in die Schule und haben auch ein Recht auf persönli- che Entwicklung. Weltweit sind etwa 215 Millionen Kinder von Kinder- arbeit betroffen. Aber ich will mich nicht mit Zahlen aufhalten, wichtiger sind Lösungsansätze. Die Vor- schläge der Linken gehen in die richtige Richtung. Aus diesem Grund werden wir dem Antrag zustimmen, ob- wohl er viel an Substanz vermissen lässt: Wir Grüne ha- ben gerade erst im Mai dieses Jahres ein umfassendes Positionspapier verabschiedet, in dem wir viele konkrete Ansatzpunkte aufzeigen, wie die Situation von Arbeite- rinnen und Arbeitern im globalen Netz von Zulieferern verbessert und Kinderarbeit überwunden werden kann. Dazu angesichts der Kürze der Zeit nur drei Stichworte. Erstens. Unsere bayerischen, deutschen und europäi- schen Unternehmen müssen Verantwortung für ihre glo- bale Lieferkette übernehmen. Wir brauchen klare Vorga- ben zu Sorgfalts- und Berichtspflichten für transnationale Unternehmen. Dazu zählt die klare Verankerung der Sorgfaltspflicht für Unternehmen. Die Bundesregierung muss sich darum bemühen, solche Pflichten und Verant- wortlichkeiten auch auf die Lieferketten auszuweiten. Außerdem müssen wir transnationale Unternehmen zur Offenlegung von sozialen Standards auch in ihren Zulie- ferketten verpflichten. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist die sogenannte Nationale Kontaktstelle, NKS, die die Umset- zung der OECD-Richtlinien gewähren soll. Die NKS ist im Bundeswirtschaftsministerium in der Abteilung für Auslandsinvestitionen angesiedelt. Interessenkonflikte sind vorprogrammiert. In anderen Ländern werden Insti- tutionen wie die NKS als eigenständige, unabhängige Einrichtungen betrieben. Das muss auch bei uns möglich sein. Schlussendlich brauchen wir die Möglichkeit, Un- ternehmen, die Kinderarbeit in ihren Zulieferketten dul- den, zu sanktionieren. Keine der bisherigen Vereinbarun- gen ermöglicht Sanktionen. Hierzu müssen zum einen international vereinbarte Richtlinien weiter konkretisiert werden. Zum anderen müssen von Menschenrechtsver- letzungen betroffene Personen in Deutschland und Europa ein Klagerecht erhalten. Zweitens: die öffentliche Beschaffung. Jedes Jahr be- schafft die öffentliche Hand – Kommunen, Länder und Bund – Güter und Dienstleistungen im Wert von 250 und 350 Milliarden Euro. Diese Summen bestätigen die enorme Nachfrageverantwortung Deutschlands. Von den rund 12 000 deutschen Kommunen sind sich bisher le- diglich circa 550 dieser Verantwortung bewusst gewor- den und haben sich deshalb zur „Fairen Kommune“ er- klärt. Einen Beschluss gegen den Kauf von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit haben bereits deutlich mehr Kommunen verabschiedet; allerdings ist die Um- setzung häufig mangelhaft. Erst mit dem Gesetz zur Mo- dernisierung des Vergaberechts von April 2009 hat die Bundesregierung für Rechtssicherheit bei der Berück- sichtigung ökologischer und sozialer Kriterien in der öf- fentlichen Beschaffung gesorgt. Die Bundesregierung benennt in der für alle Bundesministerien geltenden Ver- waltungsvorschrift zur Beschaffung vom Januar 2008 ausschließlich ökologische Kriterien. Menschenrechte und Sozialstandards spielen keine Rolle. Diese Vor- schrift läuft 2013 aus. Eine auf soziale Kriterien ausge- weitete, konkretisierte und verbindlichere Fortschrei- bung dieser Vorschrift ist dringend notwendig. Vor allem müssen wir Kinderarbeit vor Ort bekämpfen. Damit bin ich beim dritten Punkt, den ich ansprechen möchte. Wenn Eltern die Lebensgrundlage entzogen wird, wenn sie krank werden oder selber die Arbeit ver- lieren, dann werden Kinder von der Schule genommen und zur Arbeit geschickt. Unser langfristiges Ziel ist es, allen Menschen Zugang zu sozialem Basisschutz zu er- möglichen. Die Internationale Arbeitsorganisation hat zur Ausweitung der sozialen Sicherung das Konzept des sogenannten Social Protection Floor vorgelegt. Allen Menschen soll ein sozialer Basisschutz garantiert wer- den, der folgende Standards umfasst: eine Mindestge- sundheitsversorgung, Mindesteinkommensgarantien für Kinder, Unterstützung für Arme und Arbeitslose und Mindesteinkommensgarantien im Alter und für Men- schen mit Behinderungen. Jetzt heißt es, sich an die Um- setzung zu machen. Leider wurde die Zielgröße „soziale Sicherung“ je- doch im Dezember 2009 im Bundesministerium für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, BMZ, un- ter Leitung von Minister Niebel abgeschafft. Gleichzeitig wurden Investitionen in private Fonds verstärkt, um pri- vate Versicherer dabei zu unterstützen, neue Märkte in Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländern zu erschließen. Diese Fonds versprechen den Investoren zum Teil hohe Profite. Für die grüne Bundestagsfraktion steht fest, dass die Förderung privatwirtschaftlicher Lö- sungen keine Konkurrenz zu solidarischen Systemen werden darf. Die privaten Versicherungsunternehmen sind auch ohne eine staatliche Förderung dabei, in Ent- wicklungs- und Schwellenländern für sich zu werben. 23624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) Statt die privat getriebene weitere Entsolidarisierung in den Gesellschaften der Entwicklungs- und Schwellenlän- der zu befördern, muss staatliche Entwicklungspolitik ein Gegengewicht dazu darstellen. Wir wollen die Zielgröße soziale Sicherung wieder einführen und die Zusammen- arbeit im Bereich soziale Sicherung verstärken. Soziale Sicherung soll als zentraler Baustein der deutschen Ent- wicklungszusammenarbeit etabliert werden. Dabei wol- len wir zunächst eine Summe von 100 Millionen Euro jährlich für den Bereich zur Verfügung stellen und die personelle Ausstattung für diesen Bereich im BMZ deut- lich erhöhen. Selbstverständlich müssen Sozialstandards auch fes- ter Bestandteil von Handelsverträgen sein. Die Linke macht es sich hier aber zu einfach, wenn sie schlicht for- dert, auf der Ebene der Welthandelsorganisation einen Marktzugang von Produkten aus ausbeuterischer Kin- derarbeit zu verbieten, und konkrete Vorschläge in ande- ren Bereichen vermissen lässt. Ich habe an drei Beispielen aufgezeigt, dass differen- ziertere Ansätze notwendig sind. An dieser Stelle bin ich offen, auch der Linken mit fachpolitischem Rat weiter- zuhelfen. Aber zumindest die Stoßrichtung des Antrags der Linken geht in die richtige Richtung. Darum erhält er unsere Zustimmung. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Entwicklung durch Wachstum – Der Beitrag der deutschen Wirt- schaft zum Erreichen der Millenniumsziele (Ta- gesordnungspunkt 15) Jürgen Klimke (CDU/CSU): Leider muss diese Rede zu Protokoll gegeben werden. Das halte ich für sehr bedauerlich, ist es doch meine Intention sowie jene der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gewesen, mit die- sem Antrag einen neuen Ansatz in der Entwicklungs- politik weg von der Hilfe hin zur wirtschaftlichen Zu- sammenarbeit herbeizuführen. Das ist ein Thema, das die Debatte, und zwar die öffentliche Debatte, lohnt, tre- ten hier doch die Differenzen zwischen Koalition und Opposition besonders deutlich zutage, die auch eine gute Basis für eine Livediskussion gewesen wären. Die deutsche Entwicklungspolitik hat in dieser Legis- laturperiode zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen umfangreichen Paradigmenwechsel erfahren. Die Ko- alitionsfraktionen haben erreicht, dass die westliche Privatwirtschaft und die regionalen wirtschaftlichen Wachstumskräfte in unseren Partnerländern eine enge Kooperation eingehen. Dies, liebe Opposition, ist keine Wirtschaftshilfe für den deutschen Mittelstand, es ist eine moderne Entwicklungszusammenarbeit, die den Staaten Know-how und Wirtschaftsstruktur anbietet, damit da- durch endlich überall unsere Partner vom Tropf der alten Entwicklungshilfe abgekoppelt werden. Sie, liebe Kollegen von der Opposition, haben diese Entwicklung immer bekämpft. Sie haben das letzte UN-Entwicklungsziel – Wachs- tum durch Privatwirtschaft – über Jahrzehnte in den Haushaltsansätzen des BMZ negiert. Dass die Grünen und vor allem die Linke in der Ent- wicklungspolitik wirtschaftsfeindliche Positionen vertre- ten, ist uns allen klar. Doch dass selbst die SPD jegliche Verbindungen zwischen Mittelstand, den Infrastrukturprojekten, den Außen- und Handelskammern und der Entwicklungszu- sammenarbeit immer eher negativ definiert hat, ist be- zeichnend für ihre Ideologie und gleichzeitig erschüt- ternd. Wer bürgerliche Politikerfolge in den drei letzten Jah- ren sucht, kann diese zuhauf in der deutschen Entwick- lungszusammenarbeit finden. Ich möchte daran erinnern, als die Kollegin Roth von der SPD in der Haushaltsdebatte der letzten Woche in ei- ner Kurzintervention die Kollegin Pfeiffer fragte, ob denn nicht auch die SPD PPP-Programme in ihrer Regie- rungszeit gefördert hätte. Wollten Sie uns mit Ihrem Statement wirklich weis- machen, dass die SPD im BMZ wirtschaftsfreundlich agiert hat? Liebe Kollegin Roth, vielleicht wissen Sie es nicht besser, weil Sie damals noch Verkehrspolitik als Staats- sekretärin betrieben haben, aber es waren ihr Kollege Raabe und seine ehemalige Chefin, die jegliche Aufsto- ckung der Budgetmittel für den Titel „Zusammenarbeit mit der Wirtschaft“ und Zugangsverbesserungen und Vernetzung zwischen Privatwirtschaft und den Partner- ländern verhindert haben. Zudem wurde das PPP-Instrument von den SPD-Obe- ren im Ministerium peinlichst verschwiegen. Die One- to-One-Shops, die Messebeteiligungen, Wirtschafts- Know-how der Verbände bei Regierungsverhandlungen oder in den Länderkoordinationskreisen wurden nicht beachtet. Wir haben das geändert, und das ist der wichtige Pa- radigmenwechsel, von dem ich am Anfang meiner Rede gesprochen habe. Diese programmatische Unkreativität ist einer der Hauptgründe, warum die Entwicklungszusammenarbeit unter der jahrzehntelangen Regentschaft der SPD vom DAC ein teils vernichtendes Zeugnis ausgestellt bekom- men hat. Wir stehen für die Entwicklungsrelevanz und deutli- che Wirkungssteigerung der deutschen EZ durch die Zu- sammenarbeit mit der Wirtschaft. Dem Ministeriumsnamen „wirtschaftliche Zusam- menarbeit“ haben wir mit diesem Antrag endgültig ein Gesicht gegeben. Jedem mit Auslandsinvestitionen unerfahrenen deut- schen Unternehmen geben wir die Möglichkeit, gezielte und einfache Informationen und Strategien bei dem Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23625 (A) (C) (D)(B) Ministerium und den Durchführungsorganisationen ab- zurufen. Außenhandelskammern dürfen endlich Gehör bei Re- gierungsverhandlungen und Ministerreisen finden. Die Wirtschaft kann an entscheidenden Qualitätsver- besserungen der Sektorkonzepte mitarbeiten. Der Personalaustausch in den beteiligten Ministerien AA, BMWi und BMZ wird endlich organisatorisch un- termauert und verstetigt. Das PPP-Instrument wird auf alle Sektoren erweitert, finanziell zielführend gestärkt und im Außenauftritt ver- bessert. Die Sequa, die gemeinnützige Gesellschaft der Spit- zenverbände der deutschen Wirtschaft, die Projekte zum Aufbau von Wirtschaftsorganisationen in Entwicklungs- ländern durchführt, wird finanziell gestärkt. Es gibt eine Know-how-Verknüpfung innerhalb aller nach außen tätigen deutschen Organisationen und aller Ministerien, um einen besseren Informationsfluss herzu- stellen. Leitlinie unserer Philosophie ist, dass Wirtschafts- wachstum der einzige nachhaltige Schlüssel ist, der Ar- mutsbekämpfung in Entwicklungs- und Schwellenländer vorantreibt. Das unterscheidet uns von der gesamten Op- position. Der vorliegende Antrag betont unser Anliegen in un- serer entwicklungspolitischen Strategie, mehr Rechts- und Investitionssicherheit zu entwickeln, mehr Infra- struktur zu gewährleisten, mehr Energieentwicklung vo- ranzutreiben und vor allem den Mittelstand stärker zu berücksichtigen. Dabei lautet unser vorrangiges Ziel, Wirtschafts- wachstum in den Entwicklungs- und Schwellenländern so zu gestalten, dass es direkte Effekte auf die Armuts- minderung hat. Wir sehen dieses Vorgehen als das Hauptinstrument an, um zu gewährleisten, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinandergeht. Deshalb fördern wir mit unserem Ansatz der wirtschaftlichen Zusammen- arbeit die Weiterleitung des international anerkannten deutschen Menschenrechtsstandards und die Weitergabe unseres Ansatzes der sozialen Marktwirtschaft, die die deutsche Wirtschaft so konkurrenzfähig gemacht hat. Und wir unterstützen die deutsche mittelständische Wirtschaft bei der Umsetzung von Entwicklungsprojek- ten, um in unseren Partnerländern die regionalen Märkte über mittelständische Strukturen aufzubauen. Ziel ist es, mit unserer EZ wirtschaftliche Kompetenz zu vermitteln, die dann endgültig unsere Partnerländer zu eigener Leistung befähigt. Die deutsche Entwicklungspolitik ist bereits nach drei Jahren Union/FDP-Regierung insbesondere für den deutschen Mittelstand ein Geländer für wirtschaftliche Betätigung in Entwicklungsländern. Wir gewährleisten es, wenn wir innerhalb des Ministeriums die finanzielle und personelle Struktur so verstärken und weiterentwi- ckeln, dass die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft zum Beispiel über privat-öffentliche Partnerschaften hinaus gestärkt wird. Das heißt, zum Beispiel unter Einbezug der deutschen Kammern und anderer privatrechtlicher Organisationen, Grundstrukturen für einen wirtschaftlichen Aufschwung in unseren Partnerländern zu legen. Wichtig ist, dass erstmals auch die EZ-Scouts in die deutschen Kammern entsandt werden. Durch die Entsen- dung von sogenannten Entwicklungsscouts als Verbin- dungsreferenten in die großen Wirtschaftsverbände er- fährt die Wirtschaft weitere Unterstützung. Hier spielt auch die Frage der Bildung und Ausbil- dung, zum Beispiel im Zusammenhang mit dem bei- spielhaften Modell der deutschen beruflichen Bildung, dem dualen System, eine entscheidende Rolle. Dieses Modell ist überall nachgefragt, und deswegen müssen wir es auch verstärkt fördern. Mit diesem Antrag verbinden wir erstmals die Idee des dualen Bildungssystems mit der entwicklungsorien- tierten Wirtschaftspolitik. Für mich besonders wichtig ist, dass wir das Millen- niumsziel 8 – weltweite Partnerschaft entwickeln – kon- sequent umsetzen und die Privatwirtschaft befähigen, in die deutsche Entwicklungspolitik zu investieren. Wir wollen, dass deutsche Unternehmen sozial und umweltfreundlich investieren. Daher haben wir eine Servicestelle EZ & Wirtschaft zur Beratung mittelständi- scher Unternehmen beim BMZ eingesetzt. Darüber hi- naus fördern wir zusätzlich unsere bestehenden Pro- gramme zur Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Positive Beispiele gibt es mittlerweile zuhauf. Ich denke hier zum Beispiel an das biologische Wasserreini- gungsverfahren bei der Lederproduktion in Mexiko durch die Leipziger Firma BioPlanta oder an die erfolg- reiche Einführung der Dialysetechnik in Indonesien durch die Medizintechniker von Fresenius Medical Care. Dies sind Erfolge des Programmes „develoPPP“. Mit diesem Antrag sind wir jedoch nicht blauäugig. Wir wissen, dass entwicklungspolitische Interessen und das Streben von Unternehmen nach Gewinn nicht immer zusammengehen. Daher haben wir Kontrollmechanis- men eingefügt. Wir haben den Ansatz „Win-Win“ für alle beteiligten Seiten gestärkt. Aber ich möchte hier auch auf für mich wichtige Missstände hinweisen: Gerade im Rahmen von Arbeits- rechten und Mindeststandards sind die Großkonzerne, die Bekleidungshersteller, die Rohstoffkooperationen und die Lieferketten nicht frei von Zweifeln. Es ist wichtig, gerade für bürgerliche Politiker, die der Kooperation mit der Wirtschaft positiv gegenüberstehen, die Verfehlungen von Konzernen zu beobachten und bei Bedarf auch zu sanktionieren oder gesetzlich einzu- schränken. 23626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) Gerade wenn es um den Vorwurf von Menschen- rechtsverstößen gegenüber Zulieferern von zum Beispiel Thyssen Krupp, Siemens oder Metro geht, müssen wir wachsam sein. Bei Lieferanten von Rohstoffen wie Ei- sen, Bauxit, Stahl, Aluminium und Kupfer drücken viele deutsche Konzerne die Augen zu. Verseuchung von Landstrichen, Zwangsumsiedlun- gen, Verletzungen der Arbeitsrechte sowie von Mei- nungs- und Versammlungsfreiheit durch Rohstoffkon- zerne in Ländern wie Indien, Brasilien oder Sambia ziehen selten den Abbruch von Geschäftsbeziehungen nach sich. Hier müssen wir noch einiges tun. Denn dieses Ver- halten läuft der erfolgreichen Umsetzung anderer ent- wicklungsrelevanter Sektoren entgegen. Zwar haben deutsche Konzerne erst einmal keine di- rekte Zuständigkeit für die Einhaltung von Menschen- rechten bei Zulieferern – die liegt bei den Regierungen unserer Partnerländer –, aber doch eine Mitverantwor- tung. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Einhaltung von Standards bei Rohstofflieferanten systematisch überprüft wird. Leider ist diese Einhaltung nicht einfach zu regeln und bedarf der Zustimmung vieler Politikfelder. Ich schlage vor, dass wir in einem ersten Schritt bin- dende Richtlinien in der EU einführen sowie die bin- dende Einführung umfassender Menschenrechtsverträg- lichkeitsprüfungen beschließen. Sie sehen: Wir sind nicht auf einem Auge blind, son- dern versuchen, einen angemessenen Interessenaus- gleich zwischen Wirtschaft und Entwicklungsinteressen herzustellen. Dieser Antrag hat einen vermittelnden Grundgedan- ken. Jede Seite muss bei der Umsetzung verantwortlich vorgehen, damit für die Menschen in unseren Partnerlän- dern unser Leitsatz „Hilfe zur Selbsthilfe“ nicht eine leere Phrase bleibt. Dr. Sascha Raabe (SPD): „Entwicklung durch Wachstum“ – bereits der Titel des vorliegenden Antrags belegt erneut die stark wirtschaftszentrierte Auffassung von Entwicklungszusammenarbeit, der die Koalitions- parteien folgen. Die in dem Antrag aufgeführten Punkte bestätigen einmal mehr, dass das Engagement der Frak- tionen der CDU/CSU und FDP rein darauf zielt, Außen- wirtschaft und Investitionen zu fördern, woraus in die- sem Verständnis automatisch Entwicklung resultiert. Der Antrag ignoriert sämtliche sozialen Kernelemente, für die wir uns seit Jahren im Bereich der deutschen und in- ternationalen Entwicklungszusammenarbeit starkge- macht haben. Wir lehnen den Antrag daher entschieden ab; schließlich sind wir doch in der entwicklungspoliti- schen Debatte längst entscheidende Schritte weiter. Meine Kritik darf an dieser Stelle nicht falsch verstan- den werden. Ich erachte es grundsätzlich als richtig, dass die Privatwirtschaft durch ihre Investitionen in Entwick- lungsländern positiv zur Entwicklung beitragen kann. Meine Fraktionskolleginnen und -kollegen sehen das ge- nauso. Doch Wachstum alleine reduziert Armut nicht; dieser Ansatz greift schlicht zu kurz. Die Menschen in den ärmsten Ländern der Welt können nur von einem breitenwirksamen inklusiven Wachstum mit guten Ar- beitsplätzen und fairen Löhnen profitieren. Wir haben während unserer Regierungszeit die soge- nannten Public Private Partnerships eingeführt und stets befürwortet. Wir erkennen die Vorteile, die diese Part- nerschaften in Entwicklungsländern haben können. Hier liegt unsere Position nicht weit von der Koalitionsmei- nung entfernt. Kapital und Investitionen privatwirt- schaftlicher Unternehmen können Arbeitsplätze schaffen und damit die wirtschaftlichen und sozialen Bedingun- gen der Menschen in diesen Ländern verbessern. Aus meiner Sicht ist dieser Punkt unstrittig. Doch ich sage bewusst: Sie können die Situation ver- bessern. Von einem Kausalzusammenhang oder einem Automatismus zu sprechen, ganz nach dem Motto „Eine Investition schafft Arbeitsplätze und bringt damit Ent- wicklung“, missachtet die realen Gegebenheiten. Ich lehne daher diese Linearität entschieden ab. Mit der Er- richtung von Produktionsstandorten alleine ist es längst nicht getan. Nur nachhaltiges und breitenwirksamens in- klusives Wachstum kann zu einer nachhaltigen Etablie- rung von Entwicklungsstandards und -strukturen beitra- gen. In dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP allerdings bleibt der Aspekt der Nachhaltigkeit na- hezu völlig außen vor, worüber ich mich sehr stark wun- dere. Mehr als fraglich ist für mich, warum Aspekte der Unternehmensverantwortung eine derart untergeordnete Rolle spielen beziehungsweise völlig ignoriert werden. Im Feststellungsteil heißt es: Deutschland ist ein erfolgreicher Akteur auf den glo- balen Märkten, der sich weltweit für die Verbesserung von Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards einsetzt. Hier wird also vorausgesetzt, dass jedes deutsche Un- ternehmen, das in Entwicklungsländern unternehmerisch tätig ist, die genannten Standards wahrt. Das ist leider schlichtweg falsch. Zwar gibt es viele deutsche Unter- nehmen, die sich freiwillig etwa den OECD-Leitsätzen zur Unternehmensverantwortung verschrieben haben und durchaus faire Arbeitsbedingungen bieten. Aber lei- der gibt es auch deutsche Unternehmen, die die Arbeiter mit Niedriglöhnen vor Ort ausbeuten und Umwelt- und Gesundheitsstandards nicht einhalten. In vielen Ländern Afrikas sind Investitionen im Rohstoffsektor beispiels- weise nicht Segen, sondern Fluch. Bei privatwirtschaftlichem Engagement in Entwick- lungsländern geht es nicht um das Ob. Darüber besteht schließlich Konsens. Vielmehr geht es um das Wie, und das spart der vorliegende Antrag völlig aus. Die eigentli- che Fragestellung, die wir an Unternehmen herantragen müssen, ist: Orientieren Unternehmen, die in Entwick- lungsländern investieren, ihr Engagement an sozialen Normen? Begleichen sie die Arbeit der Menschen dort mit fairen Löhnen? Tragen sie dazu bei, dass durch die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23627 (A) (C) (D)(B) Zahlung gerechter Steuern Strukturen sozialer Sicherung aufgebaut und etabliert werden können? Bieten sie ihren Angestellten und deren Familien einen Basisschutz? Halten sie sich an Antikorruptionsvereinbarungen, um Geklüngel mit den Landesregierungen zu vermeiden? Verpflichten sie sich auf die Einhaltung menschenrecht- licher Grundsätze? Begünstigen sie damit die Entwick- lung in den ärmsten Ländern der Welt langfristig, sodass auch die nachkommenden Generationen davon profitie- ren? Diese vielen Fragen lässt der Antrag unbeantwortet, was auf dessen Eindimensionalität zurückzuführen ist. Wir brauchen kein reines Wachstum in Entwicklungslän- dern. Wir brauchen ein breitenwirksames, inklusives Wachstum, das die genannten Aspekte einbezieht. An dieser Stelle komme ich wieder auf den Titel des Antrags zurück. „Der Beitrag der deutschen Wirtschaft zum Erreichen der Millenniumsziele“ lautet der Beisatz. Ein Versprechen, das zunächst sehr vielversprechend klingt. Doch weit gefehlt: Über die Nennung hinaus fin- den die Millenniumsziele so gut wie keine Erwähnung mehr im Text. So steht unter Punkt 3 im Feststellungs- teil: Außenhandel und Investitionen deutscher Unterneh- men sind förderlich für das Erreichen der Ziele der deut- schen Entwicklungspolitik, die sich eng an den Millen- niumszielen der Vereinten Nationen orientiert. Die Millenniumsziele müssen bis 2015 erreicht sein, doch noch – das ist keine Neuigkeit – sind wir in vielen Punkten weit davon entfernt, die Maßgaben einzuhalten. Die Betrachtungsweise, dass durch verstärkte Außen- handelsförderung quasi automatisch die Millenniums- ziele erreicht werden können, verfehlt die Realität. Hier brauchen wir konkrete Konzepte und keine Allgemein- plätze. Grundsätzlichster Punkt meiner Kritik ist jedoch ei- ner, der im Grunde allen anderen übergeordnet ist. Folgt man der eingangs beschriebenen kausalen Argumenta- tion, nach der Investitionen zu Wachstum und somit zu Entwicklung führen, wird der Wille deutscher Unterneh- men, in Entwicklungsländern zu investieren, vorausge- setzt: eine Annahme, die sehr stark zu bezweifeln ist. Bereits in der Fragestunde am 28. September 2011 hat uns das Ministerium dargelegt, dass der überwiegende Teil der PPP-Mittel in Schwellenländer und nicht in die am wenigsten entwickelten Länder fließt. Wir bräuchten also Konzepte, wie mehr private Investitionen, die zu ei- nem breitenwirksamen inklusiven Wachstum mit guten Arbeitsplätzen zu fairen Löhnen führen, in den ärmsten Entwicklungsländern getätigt werden. Dazu ist Ihr An- trag unbrauchbar. Deshalb lehnen wir ihn ab. Joachim Günther (Plauen) (FDP): Seit Beginn der Legislaturperiode in 2009 hat sich die Bundesregierung mit Nachdruck dafür eingesetzt, die Privatwirtschaft in die Entwicklungszusammenarbeit einzubeziehen. Denn ohne privatwirtschaftliches Engagement ist keine nach- haltige Entwicklung der Entwicklungsländer möglich! Und ohne die Finanzkraft der Privatwirtschaft ist auch keines der globalen Ziele der Entwicklungspolitik zu er- reichen! Die Zeiten der Scheckheftdiplomatie und der bloßen Budgethilfen liegen endlich hinter uns. Außenhandel und Investitionen deutscher Unterneh- men sind förderlich und notwendig für das Erreichen der Ziele der deutschen Entwicklungspolitik, die sich eng an den Millenniumszielen der Vereinten Nationen orien- tiert. So wird dort im Millenniumziel 8, MDG 8 – Mil- lennium Development Goal 8, ausdrücklich die Notwen- digkeit definiert, die Privatwirtschaft anzuerkennen und zu fördern. Allein im Jahr 2012 wurden zusätzlich 19,8 Millionen Euro für Programme zur Zusammenarbeit mit der Wirt- schaft aufgelegt. Die Bundesregierung hat sich diesen Bereich von Beginn an zum Schwerpunkt gemacht und eine ganze Reihe von Initiativen gestartet. Sie hat zum Beispiel einen Ressortkreis auf Staatssekretärsebene ein- gerichtet, der zwischen Auswärtigem Amt, Bundes- ministerium für Wirtschaft und Technologie und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur stärkeren Koordinierung von Au- ßenwirtschafts- und Entwicklungspolitik beiträgt. Zu- dem wurde eine Servicestelle für die Wirtschaft beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gegründet, die zur zentralen Anlauf- und Beratungsstelle für Unternehmen mit entwicklungs- politischem Fokus geworden ist. Bewährte Instrumente zur entwicklungsorientierten Nutzung privater Wirtschaftstätigkeit sind weiterhin die Förderung grenzüberschreitender Direktinvestitionen und die Verbesserung von Rahmenbedingungen bei- spielsweise in Steuer- und Finanzverwaltung. Im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen wird hierauf aufgebaut und werden Mittel und Wege auf- gezeigt, wie man die Chancen, insbesondere auch für kleine Unternehmen und für den deutschen Mittelstand, in der Entwicklungszusammenarbeit nutzen kann. Im Unterschied zum chinesischen Engagement in Afrika garantieren gerade kleine und mittlere private Unternehmen, dass es nicht um kurzfristige Rendite, sondern um eine kontinuierliche Zusammenarbeit zum beiderseitigen Nutzen geht. Zu den von uns vorgeschlagenen Maßnahmen gehört, die Haushaltsmittel mit dem Titel „Entwicklungspartner- schaft mit der Wirtschaft“ zielgerichtet wirtschaftsnahen Organisationen zur Verfügung zu stellen, die deutschen Auslandshandelskammern bei der Vorbereitung von Re- gierungsverhandlungen einzubeziehen und die Erfahrun- gen der deutschen Wirtschaft bei der Erstellung von ent- wicklungspolitischen Konzepten zu nutzen. Es geht weiter darum, den kontinuierlichen Personal- austausch zwischen den Ressorts Auswärtiges Amt, Wirtschaftsministerium, Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Wirtschaft zu intensivieren. Inzwischen wurden bereits 14 Verbindungsreferenten, sogenannte EZ-Scouts in Kammern und Wirtschaftsver- bände entsandt. Außenhandelskammern werden durch BMZ-finanziertes Personal in Zusammenarbeit mit dem 23628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) DIHK zur engeren Verzahnung von Entwicklungszu- sammenarbeit und Außenwirtschaftsförderung verstärkt. Noch einige Bemerkungen zur Ausgestaltung des Förderinstruments Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft, den PPP, Private-Public-Partnership-Maß- nahmen: Hier müssen sich die Förderkonditionen an für Unternehmen gut nachvollziehbaren Kriterien ausrich- ten. Das betrifft Handel, Investition, Betreiberfunktion und Beratung, Aus- und Weiterbildung sowie die unter- schiedliche Attraktivität in den PPP-Zielländern. Beispiels- weise bei Vorhaben im Gesundheits- oder Infrastrukturbe- reich können zeitlich befristete Unterstützungsmaßnahmen wie die Finanzierung von Machbarkeitsstudien, die Ent- wicklung von vergaberechtlichen Absicherungsinstru- menten förderungswürdig sein. Mittlerweile wurde das Programm für Entwicklungs- partnerschaften mit der Wirtschaft weiter ausgebaut. Ak- tuelle Ideenwettbewerbe suchen gezielt nach Projektvor- schlägen für die Sektoren berufliche Bildung – gerade unser duales Ausbildungssystem ist noch immer welt- weit hochanerkannt –, ländliche Entwicklung, städti- scher Umweltschutz sowie Rohstoffe, Energie, Ressour- cen- und Klimaschutz. Mit ressourcenreichen Entwicklungsländern streben wir weitere Rohstoffpartnerschaften an, die in beidersei- tigem Interesse liegen. Sie versorgen unsere Wirtschaft mit den notwendigen Rohstoffen und wir sorgen dafür, dass durch Transparenz die Erlöse zum Wohle der Men- schen in den Entwicklungsländern eingesetzt werden. Wir betrachten die Kooperationsländer der deutschen Entwicklungszusammenarbeit als Partner auf Augen- höhe. Die Förderung nachhaltiger Wirtschaftsentwick- lung ist der Grundbaustein für Wachstum und Wohl- stand. Sie ist für unsere Partner Voraussetzung, um sich aus Armut und Abhängigkeit zu befreien und aus eigener Kraft eine bessere Zukunft zu gestalten. Deutschland ist im internationalen Vergleich einer der größten Geber im bilateralen Schwerpunkt „nachhaltige Wirtschaftsentwicklung“. Darunter fallen die Maßnah- men im Bereich der lokalen Privatwirtschaftsförderung. Und in diesem Sinne kann ich mich nur den Worten unseres Bundesministers Dirk Niebel anschließen: Es muss Schluss sein mit Hilfe, die Abhängigkeiten ver- stärkt! Heike Hänsel (DIE LINKE): Liest man den Antrag der Regierungskoalition, glaubt man sich zurück in die 1980er-Jahre versetzt, als der unbedingte Glaube herrschte, dass sich die Länder des Südens durch mehr Markt und Auslandsinvestoren automatisch modernisie- ren und entwickeln würden. Allerdings haben diese An- nahmen in der Realität einer praktischen Überprüfung nie standgehalten. Die großen multinationalen Unternehmen und die Eli- ten in den Ländern des Südens wurden reicher, während sich die Armut der Bevölkerung in den Ländern des Sü- dens noch vertiefte. Wachstum heißt eben nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung und dazu noch die marginali- sierten Schichten automatisch davon profitieren. Im Ge- genteil: Viele Auslandsinvestitionen haben durch Um- weltzerstörungen, Landgrabbing Armut verschärft. Ich möchte hier nur ein aktuelles Beispiel erwähnen: Letzte Woche starben bei einem Brand in einer pakis- tanischen Textilfabrik mehr als 250 Menschen. Die Fenster waren vergittert, die Feuerlöscher defekt, und nun stellt sich auch noch heraus, dass die Fabrik für den deutschen Textildiscounter kik produzierte. Grundsätz- lich würde kik alle Lieferanten auf die Erfüllung von Si- cherheitsstandards und elementaren Arbeitsrechten ver- pflichten, erklärte ein Unternehmenssprecher, doch die Einhaltung ist dem Konzern gleichgültig. Arbeitsdruck und unbezahlte Überstunden waren an der Tagesord- nung, die Zuliefererfirma war nicht einmal offiziell re- gistriert. Hier muss es endlich verbindliche gesetzliche Regelungen geben, die dann auch deutsche Unterneh- men in solchen Fällen zur Verantwortung ziehen und auch Entschädigungszahlungen erzwingen. Die Linke fordert deshalb einen verpflichtenden Men- schenrechtsschutz mit konkreten Sanktionsmöglichkei- ten bei den OECD-Leitsätzen für internationale Unter- nehmen. Die Koalition hat unseren Antrag dazu im letzten Jahr aber abgelehnt und besteht weiter auf der freiwilligen Selbstverpflichtung, die sich jedoch als völ- lig unzureichend erwiesen hat – siehe den Fall kik. Es gibt viele weitere Fälle von fehlenden sozialen und ökologischen Standards. Wir haben zum Beispiel eben- falls auf das größte Stahlwerk Lateinamerikas, Thyssen- Krupp in Brasilien, hingewiesen, das brasilianische Um- welt- und Sozialstandards verletzt, Tausende von Fischer arbeitslos gemacht hat und nun durch den Schadstoffaus- stoß für massive gesundheitliche Schädigungen in den umliegenden Gemeinden verantwortlich ist. Es passiert aber nichts! Da geht es nicht um Entwicklung, sondern nur um Profitinteressen! Die Koalition setzt sich für eine Stärkung der öffent- lich-privaten Partnerschaften, PPP, in der Entwicklungs- zusammenarbeit, namentlich im Infrastruktur-, Gesund- heitsbereich und bei Mikrofinanzprogrammen, und insgesamt für eine stärkere Abstimmung mit der deut- schen Wirtschaft ein, so etwa die stärkere Beteiligung von Wirtschaftslobbys an Regierungsverhandlungen und an der Erarbeitung von Sektorpapieren. Das ist nichts anderes als Außenwirtschaftsförderung statt Entwicklungszusammenarbeit, die sich Armuts- überwindung zum Ziel setzt. Einige Länder des Südens, vor allem natürlich Schwellenländer, werden als Markt- und Investitionsplatz betrachtet, die für deutsche Unter- nehmen geöffnet werden sollen. Der Antrag der Koali- tion scheint mir daher auch aus der Feder des BDI, des Bundesverbands der Industrie, zu stammen! Bei den PPPs machten Investitionen in Bereichen wie Bildung, Gesundheit und Wasser nämlich bisher nur 15 Prozent am Gesamtaufkommen aus. Das PPP-Pro- gramm der Bundesregierung schließt auch absurder- weise gerade die lokale Wirtschaft in den Partnerländern aus, obwohl es ja wichtig wäre, eigene wirtschaftliche Strukturen in den Ländern des Südens zu stärken. In Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23629 (A) (C) (D)(B) Deutschland kämpfen Millionen Menschen um die Of- fenlegung von Geheimverträgen und gegen den Verkauf von Krankenhäusern und anderen öffentlichen Einrich- tungen. Das wollen wir nicht noch weiter auf die Länder des Südens ausweiten. Die Beteiligung privater Finanzunternehmen an Mikro- finanzprogrammen ist ein unverantwortliches Risiko, wenn auch Akteure der Finanzwirtschaft hier Profitmög- lichkeiten wittern. Wirtschaftslobbys sollen bei der in- haltlichen Ausrichtung der EZ einbezogen werden? Wirtschaftslobbyisten haben in Ministerien nichts verlo- ren! Entwicklungszusammenarbeit muss Armutsbe- kämpfung, soziale Gerechtigkeit und ein Ende der Um- verteilung von unten nach oben zum Ziel haben und nicht Lobbyinteressen geopfert werden. Im Übrigen haben Sie die wichtigen gesellschaftli- chen Debatten längst verpasst. Nicht nur die Finanzkrise ist an Ihnen vorbeigegangen, auch die Klimakrise. End- loses Wirtschaftswachstum ist auf einem endlichen Pla- neten nicht möglich. Wissenschaftler, zivilgesellschaft- liche Bündnisse und Globalisierungskritiker entwickeln Perspektiven jenseits des zerstörerischen Wachstums. Nur durch eine Abkehr vom diesem Wirtschaftssystem und dem Wachstumswahn im globalen Norden kann glo- bale soziale ökologische Gerechtigkeit möglich werden. Dazu gehören neben dem sozial-ökologischen Umbau, der demokratischen Kontrolle der Finanzmärkte und der Deglobalisierung – die Regionalisierung und Lokalisie- rung von Produktion, Verteilung und Konsum – auch die Umverteilung und Sicherung des Sozialen. Die Linke setzt sich für diese alternativen Visionen einer Entwicklung ein, die zu Umverteilung und zu so- zialer und ökologischer Gerechtigkeit in den Ländern des Nordens und Südens führt. Am kommenden Sams- tag gehen wir zusammen mit vielen anderen gesell- schaftlichen Gruppen zum bundesweiten Aktionstag „umFAIRteilen“ auf die Straße – für die Umverteilung vorhandenen Reichtums, kurz: für die Bekämpfung der Armut weltweit. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei die- ser Überschrift, geschätzte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, müsste ich Ihnen eigentlich ein gerüt- teltes Maß an Naivität unterstellen. Denn so einfach ist es nicht: „Entwicklung durch Wachstum“, das hat sich in der Geschichte wiederholt als ein äußerst problemati- scher Glaubenssatz entlarvt. Die aktuelle Lage beweist doch, wie desaströs eine Entwicklung durch Wachstum pur ist. Ich nenne hier als Beispiel den Bankensektor, der sich unkontrolliert ent- wickelt und die Staaten in entsetzliche Schuldenfallen gelockt hat. Ich verweise auf fossile Brennstoffe, die uns in den Industrieländern einen ungeheuren Wohlstand durch Wachstum ermöglichen und gleichzeitig unsere Atmosphäre aufheizen – mit heute schon tödlichen Folgen in den Entwicklungsländern und mit morgen ein- treffenden Klimaszenarien von wahrscheinlich katastro- phalen Dimensionen. Einige aus der Koalition werden jetzt fragen: Geht es auch eine Nummer kleiner? Bitte schön, auch in der Ent- wicklungspolitik selbst gab es Zeiten, da hat man voll auf Wachstum gesetzt – und sich geirrt. In den 1960ern war man davon überzeugt, dass wirtschaftliches Wachs- tum auf jeden Fall Entwicklung nachziehen würde. Die Idee vom Trickle-down-Effekt hatte Konjunktur, also vom „Durchsickern“ der Mittel „von oben nach unten“ bis hin zu den einzelnen Bedürftigen. In den 1970ern wurde aber klar: So funktioniert das nicht. Wo es zu Wirtschaftswachstum gekommen war, war dieses sehr unterschiedlich verteilt. Robert McNamara, der damalige Weltbankpräsident, konstatierte sogar das Scheitern des Konzepts „Entwicklung durch Wachs- tum“. Ein breitenwirksames Wachstum für eine nachhal- tige Entwicklung einer ganzen Gesellschaft ergibt sich nicht einfach so, nicht ohne eine staatliche Umvertei- lungspolitik. Deswegen wecken Sie mit diesem Antrag Hoffnungen, die trügerisch sind. Hinzu kommt, dass die Koalition eine hohe Anforde- rung stellt; denn die deutsche Wirtschaft soll einen Bei- trag zum Erreichen der Millenniumsentwicklungsziele leisten. So falsch ist das im Grunde nicht; denn natürlich ist die wirtschaftliche Zusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten immer ein Baustein von Entwicklungszu- sammenarbeit gewesen. Wir Grüne wissen, dass privates Engagement dringend benötigt wird. Aber wir setzen uns dafür ein, dass die Beziehungen auf eine faire und nachhaltige wirtschaftliche Basis gestellt werden. Aber Sie ernten von mir auch deshalb scharfe Kritik, weil die Koalition ihren eigenen Beitrag, nämlich die Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels, grandios verfehlt und sogar die Öffentlichkeit täuscht. Minister Dirk Niebel hat in dieser Koalition niemals ernsthaft daran gedacht, das 0,7-Prozent-Ziel wirklich in dieser Legislatur auf den Weg zu bringen. Jetzt diesen Antrag einzubringen, auch nach dem Motto „Die Wirtschaft wird’s schon rich- ten“, ist schlichtweg Augenwischerei. Zum Zweiten tun Sie so, als ob die deutsche Wirt- schaft einen ernsthaften Beitrag zur Erreichung der MDG leisten könnte bzw. als ob das so einfach wäre. Nach allem, was wir von Ihren 30 Wirtschaftsscouts hö- ren oder was uns die Durchführer der wirtschaftlichen Zusammenarbeit berichten, hat es außer viel Lärm bisher wenig substanzielle Änderungen gegeben. Nach wie vor stehen wir vor der Problematik, dass viele Unternehmer sich nicht in dem teilweise riskanten Geschäftsumfeld eines Entwicklungslandes engagieren wollen. Die typi- schen mittelständischen Unternehmerinnen und Unter- nehmer tätigen in ihrem Geschäftsleben vielleicht nur eine solche Investition. Wie Sie diese Unternehmerinnen und Unternehmer dabei unterstützen wollen, in einem Hochrisikoumfeld unter Beachtung sozialer, ökologi- scher und menschenrechtlicher Standards aktiv zu wer- den, diese Antwort bleiben Sie schuldig. Dabei wäre das doch der interessante und entscheidende Punkt. Außerdem blenden Sie vollkommen aus, welche Gefahren auch für die Menschen in den Entwicklungs- ländern durch das Engagement deutscher und europäi- scher Unternehmen da sind. Da passt es auch ins Bild, 23630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) wenn die Bundesregierung ihre Leitlinien für fragile Staaten vorlegt, und die Wirtschaftspolitik Deutschlands und der EU gar nicht darin vorkommen. Die Kriegsfürs- ten in fragilen Staaten leben von Drogen- und Waffen- handel, von Rohstoffexporten und Korruption sowie von internationalen Steueroasen. Doch die Bundesregierung ist nicht willens, die nötigen Maßnahmen in ihrer Wirt- schafts- und Finanzpolitik zu ergreifen, um dieser Schat- tenwirtschaft konsequent einen Riegel vorzuschieben. Ich finde es sehr richtig, von der Wirtschaft mehr Ein- satz zu erwarten. Einige Ihrer Vorschläge zielen auch in die richtige Richtung. Aber Sie müssen sich schon heute fragen lassen, ob hier nicht ein Popanz aufgebaut wird und Sie nicht zu viele Hoffnungen auf dieses Pferd gesetzt haben. An erster Stelle muss doch stehen, wie wir durch wirtschaftliches Engagement den Menschen vor Ort nachhaltig helfen können. Zentrales Ziel aller Maßnahmen, muss sein, den Aufbau der lokalen Privat- wirtschaft zu fördern. Dafür braucht es einen maßnah- men- und instrumentenübergreifenden Ansatz, der eine konfliktsensible Förderung lokaler Wirtschaft bei allen Lieferungen und Leistungen der deutschen EZ, wie etwa bei Infrastrukturmaßnahmen, zum Ziel hat. Vor allem das Konzept des beschäftigungsintensiven Wirtschafts- aufbaus auch und gerade für Frauen muss durch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit weiter ausge- baut und stärker mit Fortbildungen verbunden werden. Von diesen Punkten findet sich in ihrem Antrag jedoch leider fast gar nichts. Zum Abschluss. Das Engagement des Mittelstands ist begrüßenswert. Aber warum muss das Entwicklungs- ministerium so tun, als ob Außenwirtschaftsförderung jetzt zu seinen Kernaufgaben gehört? Warum fällt kein kritisches Wort zu den Ausbeutungssituationen in den Zulieferbetrieben für den deutschen Markt? Erst vor- letzte Woche mussten wir erleben, wie bei einem Brand in einer pakistanischen Textilfabrik 300 Menschen ums Leben gekommen sind. In dieser Textilfabrik wurde Kleidung für die kik hergestellt. Hier war „Geiz ist geil“ tödlich. Sie reden von Wirtschaft. Sind aber stumm, wenn es um die Auswirkungen schädlicher Handels- und Außenwirtschaftspolitik geht. Aus all diesen Gründen lehnen wir diesen Antrag ab. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: Deutschland braucht dringend eine kohärente Strategie für die zivile Krisenprävention; zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik rücken; res- sortübergreifende Friedens- und Sicherheits- strategie entwickeln (Tagesordnungspunkt 19) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Die hier in der dritten Lesung zu diskutierenden Anträge haben wir in den vergangenen Lesungen bereits umfassend kritisiert und bewertet. Lassen Sie mich daher heute abschließend noch einige generelle Punkte zum Thema zivile Krisen- prävention und umfassende Sicherheit machen, die mir besonders wichtig sind. Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes und im Zuge zunehmender globaler Vernetzung aller Lebens- bereiche ist die Zahl zwischenstaatlicher Kriege zwar zurückgegangen, aber Verteilungskonflikte haben erheb- lich zugenommen. Vorrangiges Ziel deutscher Politik ist und bleibt, dem Ausbruch gewaltsamer Konflikte bereits durch ziviles Engagement im Vorfeld entgegenzuwirken und sie wo immer möglich zu verhindern. Deutschland leistet außerdem einen Beitrag zur Bewältigung von Konflikten und zur Konfliktnachsorge. Zivile Krisenprävention genießt nach wie vor hohe Priorität für die Bundesregierung und spielt eine zentrale Rolle in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Vertei- digungspolitik. Dies hat sich in den vergangenen Jahren nicht geändert – die SPD liegt hier falsch in Ihrer Bewer- tung. Zivile Krisenprävention ist deshalb aber noch lange kein Allheilmittel, auch wenn uns die Anträge der Opposition dies glauben machen wollen. Zivile Krisen- prävention alleine bringt uns nicht weiter, sondern sie muss stets ein Element – aber eben nur eines! – in einer umfassenden Sicherheitsstrategie sein. Die vorliegenden Anträge fokussieren zu isoliert den rein zivilen Aspekt, statt das Prinzip umfassender Sicherheit aufzugreifen und auszudeklinieren. Der An- satz vernetzter Sicherheit war im letzen Jahrzehnt gut. Umfassende Sicherheit greift weiter. Enttäuschende Erfahrungen in der Praxis – nicht zu- letzt in Afghanistan – haben den Nutzen umfassender Ansätze in der Vergangenheit infrage gestellt. Vor Ort müssen Akteure kooperieren, die mit unterschiedlichen Aufgaben auf der Einsatzebene betraut sind. Differen- zen in Planung, Rekrutierung und Prioritätensetzung hemmen die Zusammenarbeit zwischen zivilen und mili- tärischen Kräften. In internationalen Einsätzen wie in Afghanistan kann man sehen, wie unterschiedliche nationale Mandatsvorgaben multinationale militärische Einsätze beeinträchtigen können. Dennoch gibt es ange- sichts der komplexen Herausforderungen und Bedrohun- gen unserer Sicherheit keine Alternative zu vernetzten Ansätzen. Umfassende Sicherheit heißt für mich nicht nur Krisenvor- und -nachsorge, sondern schließt sowohl die zivilen Friedensdienste als auch Fragen der Entwick- lungspolitik ein. Wo die militärische Unterstützung der Krisenbewältigung unausweichlich wird, müssen militä- rische Mittel mit Instrumenten ziviler und polizeilicher Konfliktbewältigung zusammenwirken. Deshalb müssen wir unsere außenpolitischen Strate- gien und Prioritäten weiterentwickeln. In diesem Zusam- menhang sollten wir den Blick auf eine übergeordnete und eine untergeordnete Ebene richten. Auf übergeord- neter Ebene hat meine Fraktion bereits 2008 eine natio- nale Sicherheitsstrategie vorgelegt, die sich bedauerli- cherweise nicht durchsetzen konnte. Dieses Thema bleibt weiter auf unserer Agenda und wird intensiv dis- kutiert. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23631 (A) (C) (D)(B) Wir sollten aber unsere Energien auch auf die unter- geordnete Ebene richten und nach machbaren Lösungen suchen, die eine Verbesserung der aktuellen Situation zum Ziel haben. Was wir momentan unter dem Ober- begriff zivile Krisenprävention betreiben, ist weniger Krisenprävention als vielmehr Krisenmanagement. Wie ich schon im letzten Jahr bei der Debatte dieser Anträge ausgeführt habe, möchten wir von der Union die Wirk- samkeit der Mittel ziviler Krisenprävention noch weiter verbessern. Ich möchte das an einer Reihe von Punkten darstellen, die ich bereits in meiner Rede 2011 angespro- chen habe. Erstens kommt es darauf an, für jede Art von Mission – egal ob zivil, polizeilich oder militärisch – bereits vor Entsendung in der Vorbereitung Expertise für kulturelle Befindlichkeiten zu vermitteln. Das ist eine der Haupt- lehren aus Afghanistan. Zweitens sind politische Ziele bereits im Vorfeld auch im VN-Mandat festzulegen. Er- folg und Misserfolg einer Mission müssen evaluierbar sein. Das bedeutet, wir brauchen Benchmarks, die im Vorfeld festgelegt werden müssen. Drittens. Jeder Einsatz sollte jährlich auf unsere nationalen Interessen hin überprüft werden. Darüber sollten wir mindestens einmal jährlich im Parlament diskutieren. Viertens. Zur rechtzeitigen Aufdeckung von Krisen ist ein Frühwarn- system erforderlich, zu dem auch Nichtregierungsorga- nisationen einen wesentlichen Beitrag leisten können. Fünfter Punkt. Unser Land muss die Voraussetzungen für mehr Bewerbungen von geeignetem und gut ausge- bildetem Personal schaffen. Sechstens müssen wir dafür Sorge tragen, vernetztes Denken in den Köpfen von Diplomaten, Soldaten, Referenten der Fachministerien und im Friedensdienst zu verankern. Dazu brauchen wir mehr gemeinsame Schulungen oder Ausbildungen. Die umfassende rechtzeitige Zusammenarbeit aller Akteure, aber auch Kooperation und Absprache der zivilen Part- ner untereinander wie auch mit der lokalen Bevölkerung sind dafür Voraussetzungen. Eine geeignete internatio- nale Plattform sind Regionalkonferenzen; national soll- ten wir unsere Bundesakademie für Sicherheitspolitik aufwerten, wie ich in meiner Rede 2011 bereits ausge- führt habe. Statt also einseitig die zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik zu rücken, sollten wir weiter an einem umfassenden und schlüssigen sicher- heitspolitischen Ansatz arbeiten. Eine sicherheitspoliti- sche Generaldebatte, die durch eine Regierungserklä- rung begleitet würde, wäre hier ein sehr bedeutsamer Schritt in die richtige Richtung. Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Auf dem Gebiet der zivilen Krisenprävention hat sich in den letzten Jah- ren viel getan. Dies ist den Entwicklungen und Anforde- rungen der modernen Außen-, Sicherheits- und Entwick- lungspolitik geschuldet. Krisenprävention als Schnittstelle dieser Politiken basiert heute im Sinne der vernetzten Sicherheit auf einem breit angelegten Konzept, das den komplexen Ursachen von Krisen mit differenzierten Ansätzen begegnet. Ein wesentlicher Schlüssel zu einer erfolg- reichen Krisenprävention ist dabei eine möglichst früh- zeitige, möglichst rasche und möglichst effiziente res- sortübergreifende Zusammenarbeit. In diesem Zusammenhang ist der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedens- konsolidierung“ aus dem Jahr 2004 eine wichtige Grundlage für eine pragmatische, effiziente Krisenprä- vention. Mit ihm wurde der zivilen Krisenprävention und dem zivilen Krisenmanagement eine zentrale Rolle in der Außen-, Sicherheits-, und Entwicklungspolitik Deutschlands zuerkannt. Erstmals wurden das gesamte Spektrum von Ansätzen zur Krisenprävention dargelegt, Handlungsoptionen und konkrete Maßnahmen aufge- zeigt und die Zusammenarbeit aller Ressorts, insbeson- dere durch einen verbesserten Informationsaustausch, intensiviert. Wenn die Kollegen der SPD und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen an diesem Ansatz einen Mangel an einer einheitlichen, übergreifenden Strategie kritisieren, so kann ich dem nur entgegnen: Auf die Umsetzung die- ses Aktionsplans kommt es an. Die Praxis hat gezeigt, dass in den letzten Jahren die engen Abstimmungspro- zesse zwischen den Ressorts wesentlich dazu beigetragen haben, dass das Konzept der vernetzten Sicherheit mehr und mehr zur Normalität und maßgeblich für das Denken und Handeln der Verantwortlichen geworden ist. Auch jenseits der ressortübergreifenden Zusammen- arbeit sind bezüglich der Umsetzung des Aktionsplans wesentliche Erfolge zu verzeichnen, die ich hier nur schlaglichtartig ansprechen kann. So ist mit der Gründung der Deutschen Stiftung für Friedensforschung, DSF, im Jahr 2000 ein wichtiger Beitrag zur internationalen Friedensforschung geglückt. Hervorzuheben ist insbesondere das jährliche Friedens- gutachten, ein Kooperationsprojekt deutscher Friedens- forschungsinstitute, das Analysen über aktuelle inter- nationale Konfliktdynamiken und friedenspolitische Entwicklungen sowie Handlungsoptionen für die deut- sche und europäische Friedenspolitik aufzeigt. Ferner haben wir erst vor Kurzem das zehnjährige Bestehen des Zentrums für Internationale Friedensein- sätze, ZIF, feiern können. Das ZIF ist heute ein solider Pfeiler deutscher ziviler Krisenprävention. Derzeit ste- hen im ZIF-Expertenpool über 1 200 Expertinnen und Experten mit einem weiten Spektrum an Fähigkeiten und Erfahrungen für Wahlbeobachtungen oder Friedensein- sätze zur Verfügung. Rund 200 von ihnen arbeiten ge- rade für die UN, die EU oder die OSZE. Insgesamt kamen in den letzten zehn Jahren in über 140 Wahlbeob- achtermissionen der EU und der OSZE bereits insgesamt mehr als 3 100 Expertinnen und Experten zum Einsatz. Auch der Kritik der Opposition, die Mittel für zivile Krisenpolitik würden gekürzt, muss ich widersprechen. Allein im Bereich der Entwicklungspolitik als einem wichtigen Eckpfeiler der zivilen Krisenprävention sind dieses Jahr über 100 Millionen Euro zusätzlich einge- stellt worden. Hinzu kommen beispielsweise weitere 50 Millionen Euro aus den Mitteln des Auswärtigen 23632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) Amts für die Förderung der Demokratisierungsprozesse in Nordafrika und im Nahen Osten. Nichtsdestoweniger bleibt noch viel zu tun. In diesem Punkt sind wir uns einig, auch wenn wir einen eher prag- matischen, ergebnisorientierten Ansatz bevorzugen. So haben wir beispielsweise bereits seitens unserer Fraktion vorgeschlagen, die Bundesakademie für Sicher- heitspolitik, BAKS, die seit Jahren wertvolle Arbeit im Bereich der Weiterbildung und Vernetzung aller relevan- ter sicherheitspolitischer Akteure leistet, enger mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, BMZ, zu verbinden, sie weiter auszu- bauen und national noch stärker aufzuwerten. Essenziell ist auch – hier möchte ich den Punkt aus den Anträgen der Opposition aufgreifen –, ein effizien- tes Frühwarnsystem, das alle relevanten Informationen verarbeitet und eine zuverlässige Basis für politische Entscheidungen bietet. Hier herrscht noch Handlungsbe- darf; da sind wir uns fraktionsübergreifend einig. Wie wir sehen, gibt es Ansatzpunkte für eine frak- tionsübergreifende Debatte zur zivilen Krisenprävention, die wir im Sinne einer effizienten zivilen Krisenpräven- tion gemeinsam führen sollten. Edelgard Bulmahn (SPD): In der politischen wie auch der wissenschaftlich-fachlichen Debatte ist immer wieder festzustellen, wie schwierig es ist, die Erfolge ziviler Krisenprävention öffentlich darzustellen. Waren die ergriffenen Instrumente nämlich erfolgreich, kommt es eben nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Konfliktparteien, die dann auch das medi- ale Interesse wecken. Etwas anders verhält es sich da allerdings mit der Darstellung der Erfolge der schwarz- gelben Bundesregierung in diesem Bereich. Diese wer- den nicht öffentlich diskutiert, nicht weil sie nicht sicht- bar sind, sondern weil es sie schlicht und ergreifend nicht gibt. Bis heute ist es von der Regierungskoalition und Au- ßenminister Westerwelle verschlafen worden, das deut- sche Engagement für Friedensförderung und Konflikt- transformation weiterzuentwickeln und damit an die Erfolge rot-grüner Außen- und Friedenspolitik anzu- knüpfen. Die dringende Aufgabe, das deutsche Engage- ment für Friedensförderung und Konflikttransformation auch international zu stärken und weiterzuentwickeln, wird von dieser Bundesregierung sträflich vernachläs- sigt. Statt außenpolitische Fehler zu korrigieren und den eigenen Ankündigungen endlich selbst Folge zu leisten, geschieht genau das Gegenteil. Mit dem Gesamtkonzept und dem Aktionsplan „Zi- vile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskon- solidierung“ wurde in den Jahren 2000 und 2004 die Be- deutung einer primär auf friedliche Mittel und Ressourcen setzenden deutschen Außenpolitik unterstri- chen. Eine Vielzahl wichtiger Maßnahmen wurde entwi- ckelt, und entscheidende Impulse wurden gesetzt. Den- noch gelang es nicht, darauf aufbauend eine weiterführende Strategie zu entwickeln. Wir müssen selbstkritisch feststellen, dass zu sehr vor allem adminis- trative und ressortspezifische Fragen im Vordergrund standen und es eine Bestimmung der eigentlichen Inte- ressen und Ziele einer solchen Politik nicht gegeben hat. Mit ihrem Antrag hat die SPD-Bundestagsfraktion bereits im Januar 2011 auf diesen Missstand aufmerk- sam gemacht und eine ressortübergreifend abgestimmte deutsche Strategie für die zivile Krisenprävention, die Friedensförderung und die Konflikttransformation ein- gefordert. Dabei haben wir unterstrichen, dass vor dem Hintergrund sich verändernder Formen von Konflikten und einer Zunahme der tieferliegenden Konfliktursachen eine solche Strategie nicht nur die strategische Ausrich- tung des Auswärtigen Amtes beschreiben darf, sondern zu einer Strategie der gesamten deutschen Bundesregie- rung weiterentwickelt werden muss. Waren Krieg und militärische Auseinandersetzungen in der Vergangenheit geprägt durch Grenzkonflikte, Hegemonialansprüche, widerstreitende Wirtschaftsinter- essen oder ethnopolitisch und religiös aufgeheizte Kon- flikte, so sind spätestens mit dem Ende des Kalten Krie- ges weitere Ursachen hinzugekommen: Staatszerfall und die Entstaatlichung von Gewalt durch asymmetrische Konflikte, Genozid und Massenvertreibungen, Terroris- mus, organisierte Kriminalität, Hunger, Migration und Verteilungskonflikte um Ressourcen. All diese Ursachen bringen neue Herausforderungen für das nationale wie internationale Handeln mit sich, die nicht alleine mit den traditionellen Mitteln der Diplomatie gelöst werden kön- nen. Wir müssen diesen Herausforderungen zusätzlich auch mit Instrumenten der Entwicklungspolitik, der Um- welt-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik begegnen. Er- folgreiches Handeln setzt deshalb eine übergreifende Strategie voraus, die nicht an den Ressortgrenzen halt- machen darf. Was seit dem Januar 2011 vonseiten der Bundesregie- rung geschehen ist, lässt sich leider in wenigen Worten beschreiben: Der Entwurf für den kommenden Bundes- haushalt zeigt die Orientierungs- und Strategielosigkeit der Bundesregierung. Für das kommende Jahr setzt Außenminister Westerwelle erneut bei den Maßnahmen zur Sicherung von Frieden und Stabilität den Rotstift an. Alleine für den Bereich der zivilen Krisenprävention und der Friedenserhaltung sollen statt 120 Millionen Euro in diesem Jahr 2013 nur noch 94 Millionen Euro zur Verfü- gung stehen. Schon 120 Millionen Euro sind eine lächer- lich geringe Summe im Vergleich zu den Milliarden- beträgen, die aufgebracht werden müssen, wenn Konflikte so eskalieren, dass militärische Interventionen oder umfassende zivile Wiederaufbaumaßnahmen finan- ziert werden müssen. 120 Millionen Euro dann aber noch einmal auf 94 Millionen Euro zusammenzustrei- chen, zeigt, dass die Bundesregierung ziviler Krisen- prävention und Friedenserhaltung keine Bedeutung bei- misst. Das ist die bittere Erkenntnis, die man aus diesen Kürzungen ziehen muss. Zusätzlich werden der Zick- zackkurs und ein Auf und Ab in den Haushaltsansätzen fortgesetzt. Das hat fatale Konsequenzen: Wichtige Chancen zur Friedenssicherung und Konfliktlösung wer- den einfach vertan. Und die Verlässlichkeit gegenüber unseren internationalen Partnern leidet. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23633 (A) (C) (D)(B) In dieser Legislaturperiode haben wir mit dem Unter- ausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Si- cherheit“ erstmals ein parlamentarisches Gremium ein- gerichtet, das die Mitwirkung und Kontrolle in diesem so wichtigen Feld deutscher Außen- und Sicherheitspoli- tik erheblich stärkt. Themen und Problemstellungen können häufig in einem sehr konstruktiven Dialog auch über Fraktionsgrenzen hinweg miteinander besprochen und gemeinsame Initiativen entwickelt werden. Leider laufen entscheidende Weichenstellungen und Initiativen dann aber doch oftmals ins Leere, weil die Unterstüt- zung der Mitglieder der Koalition im Unterausschuss durch ihre Fraktionen fehlt. Vor dem Hintergrund der Untätigkeit der Bundesregierung wäre aber eine noch stärkere parlamentarische Initiative sehr wünschenswert. Mit unserem Antrag haben wir keine fertigen Ant- worten formuliert, aber wir haben Wege aufgezeigt, wie wir zu einer umfassenden außen-, sicherheits- und frie- denspolitischen Strategie Deutschlands kommen kön- nen, die primär auf zivile Mittel setzt. Wir werden diese Wege weiter gehen, auch wenn sie für die derzeitige Bundesregierung offensichtlich zu steinig und mühevoll sind. Joachim Spatz (FDP): Deutsche Außen- und Si- cherheitspolitik ist Friedenspolitik. Daran hat sich auch unter der schwarz-gelben Bundesregierung nichts geän- dert. Im Gegenteil: Ich bin dem Außenminister sehr dankbar, dass er das Profil unseres Landes in diesem Bereich weiter gestärkt hat. Die jüngsten Aktivitäten Deutschlands im Vorsitz des UN-Sicherheitsrats sind dafür beredtes Beispiel. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Deutschland in Sachen neuer außenpoli- tischer Konzepte eine Führungsrolle übernommen hat. Gerade vor dem Hintergrund der Umwälzungen im Nahen Osten und in Nordafrika ist eine differenzierte Herangehensweise an komplexe Fragestellungen mehr als angeraten. Zwei Beispiele: Die in unmittelbarer Reaktion auf den arabischen Frühling eingerichtete Transformations- partnerschaft der Bundesregierung für Bildung, Arbeits- plätze und Wachstum in der MENA-Region verdeutlicht den Willen Deutschlands, einer Region im Umbruch jene Stabilität zu verleihen, um eine Eskalation in der häufig als „Krisenbogen“ bezeichneten Region zu ver- hindern. Zudem zeigt vor allem der unter Vorsitz des deutschen Außenministers erreichte erfolgreiche Ab- schluss einer Präsidentiellen Erklärung des Sicherheits- rats für eine verstärkte Kooperation zwischen den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga, dass die Bundesregierung die entscheidenden Herausforderungen erkannt hat. Nachhaltiger Frieden in der unmittelbaren Nachbarschaft der Europäischen Union ist nur dann zu erreichen, wenn es gelingt, stabile Brücken zwischen den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens zu bauen. Dafür bedarf es stabiler Fundamente, deren Grundsteine auch mit deutscher Hilfe gelegt werden. Dabei geht es nicht darum, einem anderen Kulturkreis unsere Vorstel- lungen von Zusammenleben und unser Weltbild aufzu- oktroyieren. Das Prinzip der Ownership, die Freiheit junger politischer Systeme, ihre eigenen Entwicklungs- wege zu gehen, ist unserer Ansicht nach Bedingung für einen Weg hin zu einem Gesellschaftssystem, das auch von den nach Freiheit und Selbstbestimmung strebenden jungen Menschen akzeptiert wird. Diesen Weg begleiten wir und stehen mit Rat und Tat zur Seite, um die Länder und Völker zu ertüchtigen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Der Unterausschuss Zivile Krisenprävention und ver- netzte Sicherheit hat sich im Laufe der 17. Wahlperiode sehr intensiv mit den verschiedensten Aspekten des Krisen- und Konfliktmanagements auseinandergesetzt. Zur Mitte der Legislaturperiode mündeten die dabei ge- wonnen Erkenntnisse in einen Zwischenbericht, der, mit zahlreichen Empfehlungen versehen, der Bundesregie- rung zugeleitet wurde. Als Vorsitzender des Unteraus- schusses und Vertreter der FDP-Bundestagsfraktion in diesem Gremium erfüllt es mich mit großer Freude, dass die Arbeit von Parlament und Bundesregierung in diesem Bereich nahezu komplementär verläuft. Mit der Vorlage des Konzepts der Bunderegierung zum Umgang mit fragilen Staaten und der deutschen Agenda im VN- Sicherheitsrat werden genau jene Prinzipien und Maß- nahmen angegangen und umgesetzt, die vonseiten der schwarz-gelben Koalition mit erdacht und an zahlrei- chen Stellen proklamiert werden: deutsche Außen- und Sicherheitspolitik klar auf zivile Mittel ausrichten, poli- tische und diplomatische Bemühungen an die erste Stelle setzen, vorrangig zur Lösung von Konflikten nichtmili- tärische Mittel einsetzen. Dass sich dahinter nicht nur leere Worte verbergen, hat sich in der deutschen Stand- haftigkeit gegenüber einem Eingreifen in Libyen mani- festiert. Für diese konsequente Haltung – gerade auch in schwieriger Debatte mit der Opposition – möchte ich an dieser Stelle der Bunderegierung und ausdrücklich unse- rem Außenminister nochmals danken. Eine weitere Erkenntnis aus der Arbeit im Unteraus- schuss: Um in komplexen Krisenszenarien eine ausrei- chende Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten, benöti- gen wir den kompletten Instrumentenkasten, um je nach Herausforderung die richtigen Werkzeuge zur Hand zu haben – ganz im Sinne des umfassenden Ansatzes. Dazu gehört auch das Vorhalten ausreichender militärischer Mittel, die im schlimmsten Fall auch zum Einsatz ge- bracht werden. Ich würde mir wünschen, dass dieser Fakt in der Debatte zukünftig den Stellenwert einnähme, den er verdient, damit die circa 7 000 deutschen Solda- tinnen und Soldaten unserer Bundeswehr, die sich der- zeit in Auslandseinsätzen befinden, jene Anerkennung erhalten, die sie aus unserer Sicht zweifelsohne verdie- nen. Gleiches gilt für die zahlreichen zivil engagierten Deutschen in Krisen- und Konfliktregionen der Welt. Auch ihnen gilt mein besonderer Dank für ihren schwie- rigen und leider oft auch gefährlichen Einsatz für Frie- den und Sicherheit in der Welt. Die vorliegenden Anträge der Fraktionen Bündnis 90/ Die Grünen und der SPD sind unserer Ansicht nach ob- solet und werden folgerichtig abgelehnt. Der von Ihnen behaupteten Konzeptionslosigkeit und mangelnden Kohärenz der Bundesregierung halte ich gerne das umfassende Engagement der Bunderegierung entgegen. Dieses beinhaltet neue Instrumente, wie die Transforma- tionspartnerschaft, die erfolgte thematische Schwer- 23634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) punktsetzung, etwa auf das Problem von Kindern in bewaffneten Konflikten, die institutionellen Veränderun- gen, wie zum Beispiel die Schaffung der Länder-Task- Forces, zum Beispiel zu Mali und Syrien, oder die Entwicklung neuer Kooperationsformen, wie die Unter- stützung kontinentaler und regionaler Kooperationen wie die Afrikanische Union oder die bereits eingangs er- wähnte Arabische Liga. Manche Empfehlungen aus dem Zwischenbericht warten freilich noch auf ihre Umsetzung. Allerdings war von Anfang an klar, dass manche Veränderungen schnell vorgenommen werden können, andere wiederum etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen werden. Insgesamt sind wir aber zweifelsohne auf einem guten Weg. Ich bin zu- dem der festen Überzeugung, dass wir, wenn wir uns dem Themenbereich weiterhin mit der gebotenen Inten- sität widmen, den umfassenden Ansatz weiter stärken und der Krisenprävention zu jenem Stellenwert verhel- fen, den sie verdient. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Aus meiner Sicht steht im Fokus der drei hier vorliegenden Anträge die Wiederbelebung und Weiterentwicklung des Aktions- plans „Zivile Krisenprävention“. Trotz einer ganzen Reihe von Details, die ich am Aktionsplan kritisiere, geht das in die richtige Richtung. Aber zivile Konflikt- bearbeitung kann nur zum Maßstab deutscher Außen- politik werden, wenn sie von einer klaren Absage an Krieg begleitet wird. Und davon sind die Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen weit entfernt. Und deswegen können wir Ihren Anträgen so nicht zustim- men. Ich muss hier nicht betonen, dass es einen gravieren- den Unterschied gibt zwischen den Positionen von CDU/ CSU, FDP, SPD und Grünen auf der einen Seite und der Position der Linken. Die Linke lehnt alle Kampfeinsätze der Bundeswehr ab. Mir ist natürlich aufgefallen, dass beide Anträge der Grünen, über die heute beraten wird, betonen, dass „die Versuche der militärischen Krisenbe- wältigung der zurückliegenden Jahre“ gezeigt hätten, „dass deren Potential zur Bearbeitung von Konflikten maßlos überschätzt“ worden ist. Das muss Ihnen wichtig gewesen sein. Ich möchte aber doch einmal nachfragen, wer es denn gewesen ist, der das Potenzial überschätzt hat? Wer hat denn die Bundeswehr in den ersten Kampf- einsatz seit 1945, den Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999, geschickt? Wer hat denn die Bundesrepublik in den Afghanistan-Krieg verstrickt? Es war eine rot-grüne Bundesregierung. Und Sie haben leider nichts dazuge- lernt. Bei Libyen waren es Sozialdemokraten und Grüne, die für eine deutsche Kriegsbeteiligung geworben haben. Wie kann man überhaupt über „do no harm“ schrei- ben, also das Prinzip, dass die eigenen Maßnahmen nicht unbeabsichtigt mehr schaden als nutzen, und dann Mili- täreinsätze nicht kategorisch ausschließen? Militär darf kein Mittel der Außenpolitik sein; denn sonst werden die ganzen zivilen Instrumente im Rahmen einer Strategie, wie Rot-Grün sie hier vorschlägt, mag sie auch Friedens- strategie heißen, zu einer Abfederung der Kriegführung verkommen. Und folgerichtig kann sich der SPD-Antrag noch nicht einmal zu einer konsequenten Absage an die verhängnisvolle Strategie der vernetzten Sicherheit durchringen. So kriegen Sie keine Kohärenz hin. So be- steht immer die Gefahr, dass die zivilen Instrumente dann das Desaster einfangen sollen, das mit den west- lichen Interventionen angerichtet worden ist. Eine wirkliche zivile Außenpolitik setzt den Verzicht auf den Einsatz der Bundeswehr voraus. Und dann sollten Sie vielleicht noch einmal über eine Außenwirtschafts- politik nachdenken, die nicht vor allem darauf gerichtet ist, die ökonomische Schwäche anderer Länder zum Nut- zen der deutschen Industrie auszubeuten. Dadurch wäre das Problem mangelnder Kohärenz der Außenpolitik nur noch halb so groß. Wenn dann noch, wie von Ihnen ge- fordert, die Instrumente der zivilen Konfliktbearbeitung ausgebaut und verlässlich finanziert wären, egal ob sie zivilgesellschaftlich oder staatlich getragen sind, dann wäre die Bundesrepublik auf dem Weg zu einer fried- lichen Außenpolitik ein großes Stück weiter. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wenn Deutschland und die übrigen 192 UNO- Staaten jetzt in der Generalversammlung in New York wieder einmal über Syrien, über die Unterstützung des arabischen Frühlings und über Reformen in der UNO diskutieren, dann stellt sich besonders für Deutschland als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat immer auch die Frage: Was konkret will Deutschland dazu beitragen, um Gewaltkrisen künftig wirksamer vorzubeugen? Das zumindest hat sich die Bundesregierung in ihrem Kon- zept „Globalisierung gestalten“ selbst als Schwerpunkt auf die Fahnen geschrieben. Doch konkrete Antworten bleibt sie weiterhin schuldig, und das, obwohl es im Aktionsplan Zivile Krisenprävention, den wir 2004 unter Rot-Grün auf den Weg gebracht hatten, dafür genug Anknüpfungspunkte gibt. Seit Jahren aber macht Schwarz-Gelb nichts zur Weiterentwicklung des Aktionsplans, hat ihn stattdessen zur Werbebroschüre degradiert. Den Ressortkreis und den Beirat Zivile Krisenprävention hat die Bundesregierung ins Abseits gestellt. Politisch hat er nichts zu melden. Stattdessen verkauft sie altbekannte Ressortrunden als neue Ad-hoc- Taskforces. Der Bundesregierung reicht es offenbar, sich mit dem Etikett „Aktionsplan“ zu schmücken, ihn allein der Form halber zu erwähnen wie jüngst in ihren „Leitlinien für fragile Staaten“. Eine kritische Bewertung der bisherigen Arbeit des Ressortkreises und eine Auseinandersetzung mit den vergangenen Krisenerfahrungen bleiben so auf der Strecke. Die Vorschläge zur Weiterentwicklung des Aktionsplans kommen nicht etwa von der Bundesregie- rung, sondern vom Parlament, vom neuen Unteraus- schuss Zivile Krisenprävention. Dieser Unterausschuss war es, der einen Zwischenbericht vorgelegt hat und ein neues, kritischeres Berichtsverfahren zum Aktionsplan ausgearbeitet hat. Es ist zwar gut, dass so Bewegung in die Sache kommt, aber das kann nicht das Handeln der Regierung ersetzen. Sie haben keinen Kompass für die Krisenprävention. Deshalb irren Sie hier orientierungslos durch die Weltge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23635 (A) (C) (D)(B) schichte. Wozu das führt, hat uns der arabische Frühling gezeigt: Auf die Schnelle mussten Sie mit der Transfor- mationspartnerschaft einen neuen Experimentierkasten zum Friedensaufbau aus dem Boden stampfen, weil man zuvor blind die Gaddafis und Ben Alis gefördert hatte, statt Menschenrechte und demokratische Teilhabe syste- matisch zu stärken. Deutliche Spuren hinterlässt diese falsche Politik je- des Jahr auch im Haushalt. Seit Jahren fahren Titel der Zivilen Krisenprävention Achterbahn. Auch in diesem Jahr sind dafür wieder 26 Millionen Euro weniger im Haushalt des AA eingestellt. Anstatt den Zivilen Frie- densdienst auszubauen, wie es Ihre letzte Evaluierung selbst nahelegt, stecken sie weiterhin lieber viel Geld in fragwürdige Programme wie „weltwärts“, die meist nicht mehr als Werbeträger für das BMZ sind. Gleichzei- tig zerschlagen sie über Nacht bewährte Instrumente wie die ENÜH mit einer Vereinbarung zwischen AA und BMZ. Noch immer ist die Regierung nicht in der Lage, im Haushalt abzubilden, was sie zur Krisenprävention zählt, obwohl dies ODA-relevante Mittel sind, die das BMZ zwar koordinieren soll, es aber offensichtlich nicht richtig macht. Auf dieser Basis können Instrumente nicht systematisch aufgebaut werden und wirken, können Durchführungsorganisationen und NGOs nicht planen. So kann es keine nachhaltige Präventionspolitik geben. Das alles zeigt: Die Bundesregierung hat keine strate- gische Priorität für die zivile Krisenprävention. Das ist besonders bedauerlich, da wir aktuell wieder einmal im Sicherheitsrat sitzen, während die UNO mit ihrem „New Horizon“-Reformprozess besonders die zivile Krisen- prävention stärken will. Das muss sich dringend ändern. Das sehen wir so, das sieht der Unterausschuss so, und da stimmen wir in vielen Punkten mit den Kolleginnen und Kollegen der SPD überein, weshalb wir heute auch ihrem Antrag zustimmen werden. Nur die Bundesregierung sieht das offenbar anders. Deutschland braucht wieder einen Kompass für die Kri- senprävention. Dazu müssen wir den Aktionsplan – ähn- lich wie es bei der EU seit langem der Fall ist – zu einem nationalen zivilen Planziel weiterentwickeln, das regel- mäßig angepasst wird und sich am Bedarf von EU und UNO orientiert. Anders können wir Konfliktländer nicht angemessen beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie unterstützen. Gleichzeitig muss ein solches Planziel aber auch klare Priorität im Rahmen einer neuen ressortübergreifenden Friedens- und Sicherheitsstrate- gie haben. Dafür werben wir heute auch mit unserem zweiten Antrag um Zustimmung. Wir müssen künftig viel stärker auf präventive Frie- densmissionen nach Kapitel VI der UNO-Satzung zu- rückgreifen, mehr auf Diplomatie und Vermittlung durch Sondergesandte und auf Untersuchungsmissionen. Ent- scheidend hierbei wird sein, dass wir schnell und im nöti- gen Umfang auf Konfliktvermittlerinnen und -vermittler, Polizei-, Rechts- und Verwaltungsexpertinnen und -exper- ten zurückgreifen können. Deshalb ist der Ausbau von Personalpools so wichtig. Dabei sollten wir auf die Er- fahrungen des ZIF zurückgreifen. Strategische Priorität heißt auch, dass Krisenpräven- tion eine politische Führung erhält. Für uns heißt das: Der Ressortkreis braucht eine politische Führung. Das heißt, diese müsste im Range eines Staatsministers bzw. einer Staatsministerin sein, und er braucht eigene Finanzmittel für ressortübergreifende Projekte. Deshalb fordern wir auch in den aktuellen Haushaltsverhandlun- gen wieder die Zusammenlegung von mindestens 100 Millionen Euro aus dem AA, BMZ, BMVg und BMI sowie eine generelle Anhebung der Krisenpräven- tionsmittel. Das gebietet schon unsere völkerrechtliche Verpflichtung zur Einhaltung des ODA-Aufholplans. Schließlich sollten wir endlich die besondere Exper- tise aus der Zivilgesellschaft und Wissenschaft besser nutzen. Zivile Akteure sollten frühzeitig bei der Ausar- beitung von Strategien und Zielen eingebunden werden. Hierzu müssen wir vor allem den Beirat aufwerten und eine breite Diskussion über sein Mandat anstoßen. Wir müssen die zivile Krisenprävention wieder ins Zentrum deutscher Außenpolitik rücken. Das ist die Aufgabe, der wir uns stellen müssen, wenn wir Deutsch- land ernsthaft als zivile Friedensmacht in Position brin- gen wollen. Deshalb werbe ich heute um breite Zustim- mung für unsere Anträge. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- setzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 20) Norbert Schindler (CDU/CSU): Wir befassen uns heute erstmalig mit dem Gesetzentwurf der Bundesregie- rung zur Änderung des Energiesteuer- und Stromsteuer- gesetzes, die zwingend notwendig ist, um eine Nachfol- geregelung für die bestehenden Steuerbegünstigungen für Unternehmen des Produzierenden Gewerbes zu generie- ren. Der sogenannte Spitzenausgleich, der im Rahmen der ökologischen Steuerreform über die Parteigrenzen hinweg eingeführt worden ist, ist von der EU-Kommis- sion beihilferechtlich nämlich nur bis 31. Dezember 2012 genehmigt und würde ohne Nachfolgeregelung ersatzlos wegfallen. Der mit dem Gesetzentwurf vorgeschlagene Schritt, eine Nachfolgeregelung für den Spitzenausgleich, der bisher in § 55 des Energiesteuergesetzes und in § 10 des Stromsteuergesetzes verankert ist, einzuführen, soll die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in die Stetigkeit der deutschen Politik bestärken. Auch bei dieser Regelung, wie schon beim bisherigen Spitzenausgleich, der im Zu- sammenhang mit der Klimaschutzvereinbarung der Bun- desregierung mit der deutschen Wirtschaft zur Klima- vorsorge im Jahr 2000 beschlossen wurde, ist die Voraussetzung eine Erhöhung der Energieeffizienz des Produzierenden Gewerbes. Diese soll nach einem in ei- ner neuen Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft vom 1. August 2012 fest- gelegten Verfahren geregelt werden. 23636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) Dafür müssen die circa 25 000 betroffenen Unterneh- men des Produzierenden Gewerbes, wenn sie vom Spit- zenausgleich profitieren möchten, Energie- und Umwelt- managementsysteme einführen und die Verbesserung der Energieeffizienz nachweisen. Um den Aufwand für klei- nere und mittlere Unternehmen nicht ausufern zu lassen, können diese anstelle der Managementsysteme alterna- tive Systeme zur Verbesserung der Energieeffizienz be- treiben, die gewissen Anforderungen nach DIN EN 16247-1 entsprechen. Ein entsprechender Aufwand in den einzelnen Unternehmen, der in den ersten drei Jah- ren auf jährlich 150 bis 250 Millionen Euro geschätzt wird, armortisiert sich sicherlich innerhalb der prognos- tizierten Laufzeit der Vereinbarung dieser Nachfolgere- gelung für den Spitzenausgleich. Nach der Vereinbarung mit der deutschen Wirtschaft sollen für die Gewährung des Spitzenausgleichs die Errei- chung des Zielpfades zur Reduzierung der Energieintensi- tät und ab 2016 die Anwendung eines erfolgreich imple- mentierten Energiemanagementsystems Voraussetzung sein. Die Zielwerte der jährlichen Reduzierung des Ener- gieverbrauchs für die Antragsjahre 2015 bis 2018 belau- fen sich auf jeweils 1,3 Prozent, was sehr niedrig er- scheint, aber durchaus begründbar ist: Niedrig deshalb, weil allein der technische Fortschritt eine solche Reduzie- rung der Energieintensität quasi vorgibt; begründbar, da der spezifische Energieverbrauch eines Produzierenden Gewerbes nicht allein von den getroffenen Maßnahmen im technischen Bereich, sondern auch von anderen Fak- toren wie Auslastungsschwankungen der Produktionska- pazitäten, sektoralen Strukturveränderungen oder auch sonstigen Veränderungen der Rahmenbedingungen ab- hängt. In der zusammenfassenden Betrachtung des Gesetz- entwurfs und der zugrunde liegenden Vereinbarung zwi- schen der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft zur Steigerung der Energieeffizienz erscheinen beide ge- eignet, einerseits die Verlagerung von Produktionen in Drittstaaten mit weniger strengen Klima- und Umwelt- schutzauflagen zu vermeiden oder zumindest nicht zu forcieren. Andererseits stehen die angestrebten Maßnah- men im Einklang mit der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung, indem sie Anreize zu einem schonen- deren Umgang mit Energieressourcen bieten. Damit leis- ten auch sie einen deutlichen Beitrag zur Energiewende. Die Bundesregierung und die sie tragenden Koali- tionsfraktionen setzen mit diesem Gesetzentwurf einen deutlichen Anreiz: Die gesetzlich geforderten indivi- duellen Maßnahmen der Unternehmen haben unmittel- bare Auswirkungen auf den Primärenergieverbrauch in Deutschland und senken somit die Energiekosten für die Unternehmen. Damit bleibt die Bundesregierung ihrer Strategie, die Abhängigkeit von Öl und Gas zu reduzie- ren, treu. Dagegen widerspricht die Kehrtwende der Eu- ropäischen Kommission bei der Bioenergie, insbeson- dere bei den Biokraftstoffen, den eigenen Zielen. Die Folgen, die ein geplanter geringerer Anteil von Bioener- gie bei den Kraftstoffen nach sich zieht, sind überhaupt nicht absehbar! Aber zurück zur Änderung des Energiesteuer- und Stromsteuergesetzes. Ein Wermutstropfen hierbei ist die ungenügende Abschätzung des Erfüllungsaufwandes bei der Implementierung der oben angeführten Überwa- chungssysteme bei kleinen und mittleren Unternehmen. Sie können bei möglicher Inanspruchnahme des Spitzen- ausgleichs erst dann abschätzen, welche zusätzlichen Belastungen auf sie zukommen, wenn die noch zu erlas- sende Rechtsverordnung in Kraft tritt. Aus Sicht des Ge- setzgebers und unter dem Aspekt der Rechtssicherheit müssten die möglichen Maßnahmen auch im Gesetz fi- xiert sein; hier sind lediglich Kann-Regelungen vorgese- hen. Falls dies im Gesetzgebungsverfahren nicht mehr geändert werden sollte, muss klargestellt werden, dass derartige Regelungen keine geringeren Anforderungen an die Energieeffizienz beinhalten dürfen. Auch müssen hohe Anforderungen an Messbarkeit und Vergleichbar- keit in den Energiemanagementsystemen und unter den Systemen gewährleistet werden. Bei den folgenden Beratungen in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages werden wir die Eingaben und Stellungnahmen, insbesondere die des Bundesrates, intensiv beratschlagen. Gerade die Frage nach einer pro- portional anteiligen Steuerentlastung, die derzeit nicht vorgesehen ist, muss sicherlich nochmals diskutiert wer- den. In den Fällen, in denen das vorgegebene Effizienz- ziel von 92 Prozent nicht erreicht wird, gibt es danach gar keine Entlastung. Als Vertreter der deutschen Land- wirtschaft werde ich auch die vom Bundesrat geforderte Gleichstellung der Schäfer mit den Imkern beim soge- nannten Agrardiesel noch einmal thematisieren. Darüber hinaus wird es beim Energiesteuergesetz sicherlich noch einigen anderen kurzfristigen Änderungsbedarf geben, der in die Gesetzgebung einfließen wird. Insgesamt ist es aus meiner Sicht mit diesem Gesetz- entwurf gelungen, eine Regelung einzuführen, die für die Unternehmen, die den Spitzenausgleich in Anspruch nehmen wollen, fordernd, aber nicht überfordernd ist! Ein größerer Beitrag der besagten Unternehmen am Vo- lumen der Energiesteuern kann nicht verlangt werden, da sie beim Haushaltsbegleitgesetz 2011 bereits ihren Beitrag geleistet haben. Gleichzeitig müssen sie sich aber zu deutlich mehr betrieblicher Energieeffizienz, die insgesamt zu Energieeinsparungen des Staates führen, verpflichten, um steuerlich auf dem bisherigen Niveau zu verbleiben. Dies ist eine ausgewogener und gelunge- ner Schritt zum Erhalt der internationalen Wettbewerbs- fähigkeit energieintensiv produzierender Unternehmen in Deutschland. Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD): „Energie“, sprach der Kapitän der „Enterprise“ und das Schiff flog. So einfach wünschen wir uns das, ein Kommando und Energie fließt. Ohne Sorgen um die Herkunft der Ener- gie oder des Stroms und ohne die Befürchtung, dass Energiequellen endlich sein könnten. Die Realität sieht anders aus: Mit Energie müssen wir sparsam umgehen. Mit Strom müssen wir sparsam um- gehen. Deshalb haben wir uns Ziele gesetzt, die wir weltweit, europaweit und bundesweit erreichen wollen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23637 (A) (C) (D)(B) Gut ist, wenn wir solche Ziele auch für uns privat haben. Können wir diese Ziele erreichen? Hat Deutschland seine Hausaufgaben gemacht? Haben wir die notwendi- gen Maßnahmen getroffen? Sind diese Maßnahmen tat- sächlich geeignet oder sind sie nur weiße Salbe? Um dies zu beurteilen, schauen wir auch auf die vor- liegende Drucksache. Ernüchterung macht sich breit. Denn der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und Stromsteuergesetzes ist kein am- bitioniertes Projekt zum Erreichen der Energiesparziele. Das können wir sogar schon vor dem Fachgespräch fest- halten. Ein Vergleich zu dem ursprünglichen Referentenent- wurf des Bundesministeriums der Finanzen zeigt, dass Teile der Bundesregierung zumindest mehr für möglich gehalten hätten, als die Bundesregierung nach dem Wil- len des Wirtschaftsministeriums jetzt vorschlägt. Immerhin enthält der Gesetzentwurf des BMWi die Forderung nach Energiemanagementsystemen, die Un- ternehmen künftig einzurichten haben. Auch die Berück- sichtigung der Interessen der kleinen und mittleren Un- ternehmen durch alternative Systeme ist dabei zu loben. Und die vorgesehene Evaluierung im Jahr 2017 ist si- cherlich auch sinnvoll. Wenn es aber um die Reduzie- rung der Energieintensität geht, kommt mir das Lob nicht mehr über die Lippen. Das Produzierende Gewerbe soll jährlich 1,3 Prozent weniger energieintensiv arbeiten. Der Vergleichsmaß- stab dazu sind die Jahre 2007 bis 2012. Das heißt, schon bei 1,3 Prozent Steigerung der Energieeffizienz bleibt den Unternehmen der Spitzenausgleich erhalten. Es ent- steht bei mir der Eindruck, dass auf jeden Fall eine Si- tuation verhindert werden soll, in der der Spitzenaus- gleich wegfallen würde. Nicht dass Sie mich falsch verstehen: Den Spitzen- ausgleich gibt es, weil Unternehmen Energie brauchen, um ihr Produkt zu erzeugen, und ohne den Ausgleich wären die Produkte sicherlich teurer. Dies würde zwei- felsohne für den Wettbewerb unserer Unternehmen mit den Unternehmen aus anderen Ländern ein Handycap bedeuten. Deshalb ist eines klar: Sie brauchen den Spit- zenausgleich um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies ist weithin anerkannt. Und der Spitzenausgleich ist richtig. Aber dennoch bleibt ein schaler Geschmack im Mund zurück. Ich kann mich des Eindrucks nicht verwehren, dass der Spitzenausgleich für das BMWi so wichtig ist, dass die Energiesparziele dahinter zurücktreten. Bei mir regt sich das Unbehagen, dass sich die Industrie vielleicht gar keine Gedanken über den Spitzenausgleich machen muss, weil sie das Sparziel des Gesetzentwurfes erreicht, ohne dass sie aktiv Maßnahmen zur Effizienzsteigerung ergreifen muss. Ist es vielleicht tatsächlich so, dass das Sparziel des Gesetzentwurfes allein durch den techni- schen Fortschritt und damit ohne eine einzige Sparmaß- nahme erreicht wird? Ein wenig ambitionierter dürfte es von daher schon sein. Alternativen gibt es mehrere: So zum Beispiel eine Rückkehr zu dem ursprünglichen Referentenentwurf und den Einsparzielen für jedes einzelne Unternehmen. Da- bei wäre sicherlich das konkrete Einsparpotenzial des einzelnen Unternehmens zu berücksichtigen. Denkbar wäre es auch, sich auf Branchen innerhalb des Produzierenden Gewerbes zu beziehen und für diese unterschiedliche Sparziele festzulegen. Nach meiner Auffassung müsste die Industrie dies auch beim vorlie- genden Gesetzentwurf tun, wenn sie sein Sparziel tat- sächlich umsetzen will. So muss doch eine gewisse Kon- trolle stattfinden, welches Unternehmen dem Sparziel zuträglich ist und wo noch Nachholbedarf besteht. Die Industrie täte sicherlich gut daran, sich hierüber Gedan- ken zu machen. Denkbar wäre es auch, sofern es bei der Glockenlö- sung, also bei der Einsparung für das gesamte Produzie- rende Gewerbe, bleibt, dass das Sparziel in der Höhe an- gepasst wird. Wären nicht vielleicht auch 1,6 Prozent jährlich durch die Industrie erreichbar, ohne sie in exis- tenzielle Nöte zu stürzen? Für diesen Fall könnte man auch über Warnstufen nachdenken, die vor einem Weg- fall des Spitzenausgleichs zum Tragen kommen. Wird zu wenig gespart, könnte man beispielsweise fürs nächste Jahr ein erhöhtes Ziel festlegen. Unser Fachgespräch wird zu solchen Fragen sicher- lich Aufklärung bringen. Will die Koalition als diejenige in die Geschichte eingehen, die bei den Energiesparzie- len knauserig war und diese dann nicht einmal erreicht hat? Dr. Birgit Reinemund (FDP): Mit dem vorliegen- den Gesetz zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes führen wir exakt die bestehenden steuerlichen Regelungen für die energieintensiven pro- duzierenden Unternehmen wie 1999 beschlossen und 2010 angepasst auch ab 2013 weiter – für den gleichen Kreis der Begünstigten und im gleichen Entlastungs- volumen. Diese Gesetzesänderung beruht keinesfalls auf inhaltlichem Änderungsbedarf, sondern resultiert alleine aus dem Auslaufen der beihilferechtlichen Genehmigun- gen der EU zum Ende des Jahres 2012. Um diese Stär- kung unserer Unternehmen weiterhin beihilferechtlich zu ermöglichen, sind die Entlastungen für die energiein- tensiven produzierenden Betriebe künftig verknüpft mit der verpflichtenden Einführung von Energiemanage- mentsystemen und dem Nachweis der Effizienzsteige- rung über alle produzierenden Unternehmen und deren regelmäßige Evaluation. Eine sinnvolle und notwendige Lösung für unseren Industrie- und Produktionsstandort Deutschland und für die Umwelt! Diese Weiterführung des Spitzenausgleichs gibt es so- mit nicht zum Nulltarif. Dass die Fortsetzung des Spit- zenausgleiches zeitlich mit der Diskussion um steigende Energiepreise zusammenfällt, ist eher Zufall. Der Spitzenausgleich für energieintensive produzie- rende Unternehmen wurde 1999 parallel zur Einführung der Ökosteuer beschlossen – von der damaligen rot-grü- nen Bundesregierung. Natürlich können wir über Sinn und Unsinn dieser Ökosteuer grundsätzlich diskutieren, das steht allerdings – leider – heute nicht zur Debatte. 23638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) Solange wir jedoch die europaweit und international überdurchschnittliche Belastung durch die Ökosteuer ha- ben, so lange brauchen wir die Entlastung durch den Spitzenausgleich, um die Wettbewerbsfähigkeit des Pro- duktionsstandorts Deutschland und damit dessen Ar- beitsplätze nicht zu gefährden. Darin waren sich 1999 bereits fraktionsübergreifend alle einig. Was damals richtig war, gilt heute umso mehr. Die Preise für Industriestrom in Deutschland bewegen sich im internationalen Vergleich am oberen Ende. Das Argu- ment der Opposition, Industriestrom werde günstiger, ist fadenscheinig. Richtig: An der Strombörse zeigen die Preise derzeit eine leicht fallende Tendenz. Doch wel- ches produzierende Unternehmen, welcher Mittelständ- ler kauft schon an der Börse ein? In der Regel schließen Unternehmen längerfristige Abnahmeverträge ab und profitieren nicht direkt von günstigeren Tageskursen. Zusätzlich wird die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen durch die Zusatzbelastung durch EEG- Umlage und Zertifikatehandel geschwächt. Von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland hängen immerhin 600 000 Arbeitsplätze direkt ab und insgesamt 2,5 Mil- lionen Arbeitsplätze in der Wertschöpfungskette. Das heißt im Klartext: Mit der Weiterführung des Spitzenausgleichs handeln wir durchaus im Sinne unse- rer Wirtschaft, genauso allerdings im Sinne der Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer – ein Gebot des sozialen Friedens und der volkswirtschaftlichen Vernunft. Daher ist der Versuch der Opposition, Industrie und private Stromkunden gegeneinander auszuspielen, zum Beispiel mit dem heute Nachmittag behandelten Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Unberechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie abschaffen – Kein Sponsoring der Konzerne durch Stromkunden“, nicht nur Unsinn, sondern unverantwortlicher Populis- mus, gefährdet den Wirtschaftsstandort Deutschland und somit Arbeitsplätze. Die Sorge um Arbeitsplätze treibt die Menschen in diesem Land mindestens ebenso um – bei derzeit unter 3 Millionen Arbeitslosen vielleicht et- was weniger als unter Rot-Grün damals, wie die Sorge um bezahlbare Energiepreise. Als Folge der fraktionsübergreifenden Entscheidung zum Ausstieg aus der Kernkraft, der von einer überwälti- genden Mehrheit der Menschen unseres Landes so gewollt war, stehen wir heute vor dem – damals abseh- baren und angekündigten – Problem steigender Energie- preise für Privathaushalte und für die deutsche Wirt- schaft, ungeachtet der heutigen Debatte um die Fortführung des Spitzenausgleichs. Für uns Liberale gilt nach wie vor: Energie muss ver- sorgungssicher, klimafreundlich und bezahlbar sein und bleiben. Dazu hat die FDP in dieser Woche als erste Partei ein Modell entwickelt, wie wir den Strompreis für die Menschen moderat halten wollen: Wir wollen das heutige EEG in drei Stufen überfüh- ren in ein Mengensystem, um die erneuerbaren Energien marktfähig zu machen und die Kosten durch Einspeise- vergütung und EEG-Umlage zu deckeln. Der Fiskus soll nicht überproportional am Zubau der erneuerbaren Energien mitverdienen, weshalb die Stromsteuer aufkommensneutral abgesenkt werden soll, mit dem Ziel einer Absenkung auf das europäische Min- destniveau. Auch die Länder müssen sich an der Rück- gabe der Mehreinnahmen an den Steuerzahler beteiligen und sich daher im Bundesrat auf die Zustimmung zur steuerlichen Entlastung der Bürger bei der energetischen Sanierung von Gebäuden einigen. Die Förderung der erneuerbaren Energien muss neu geordnet werden. Nur so verhindern wir, dass die Kosten für die Bürgerinnen und Bürger aus dem Ruder laufen. Gleichzeitig garantieren wir den weiteren Ausbau der er- neuerbaren Energien. Sie sind herzlich eingeladen, diesen Weg mit uns ge- meinsam zu gehen. Dorothée Menzner (DIE LINKE): Vor einigen Ta- gen berichtete die Financial Times Deutschland darüber, dass der norwegische Aluminiumhersteller Norsk Hydro Teile seiner Produktion von Australien nach Deutsch- land verlegen will. In dem Artikel heißt es, das Unter- nehmen hoffe darauf, dass Deutschland noch in diesem Jahr eine EU-Richtlinie zur CO2-Kompensation umset- zen werde, durch die der Industrie bestimmte Kosten er- lassen werden können. Nun behandeln wir hier einen Gesetzentwurf, der die fortführende Befreiung der energieintensiven Industrie von der Strom- und Energiesteuer zum Gegenstand hat. Der energieintensiven Industrie werden jährlich mehr als 9 Milliarden Euro an Energiekosten erlassen, von der EEG-Umlage bis zur Energiesteuer. Diese Kosten tragen kleine und mittlere Unternehmen und die privaten Haus- halte. Bislang erhielten die Großen die Befreiung von der Energie- und Stromsteuer für lau. Jetzt will die Bun- desregierung diese Vergünstigungen an Energieeffizi- enzziele knüpfen. Für sich betrachtet klingt das gut, doch sogar die Deutsche Umwelthilfe spricht von einer Mo- gelpackung. Ich möchte ausführen, warum sie recht hat. Seit Inkrafttreten der europäischen Energieeffizienz- richtlinie scheut sich die Bundesregierung, diese mit konkretem Leben zu erfüllen. Sie vermeidet es tunlichst, greifbare und vor allen Dingen verbindliche Vorgaben zur Steigerung der Energieeffizienz zu erlassen. Stattdes- sen setzt sie auf Eigenverantwortung und Marktregulie- rung. Gleichzeitig muss sie aber das bevorstehende Ver- fehlen der nationalen Effizienzziele einräumen, wie etwa im Frühjahr dieses Jahres bei der Novellierung des Ge- setzes zur Kraft-Wärme-Kopplung. 20 Prozent mehr Energieeffizienz bis 2020 – dieses Ziel der Bundesregie- rung ist alles andere als ambitioniert. Doch wie will man es erreichen, wenn man, anstatt der Industrie verbindli- che Vorgaben zu machen, einen Belohnungskatalog ent- wirft, bei dem schon jene in den Genuss von Vergünsti- gungen kommen, die weniger als die Hälfte des absolut Notwendigen tun? Hinzu kommt, dass sich ein Teil der Effizienzmaßnahmen wegen des weiteren Ausbaus der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23639 (A) (C) (D)(B) erneuerbaren Energien ohnehin automatisch einstellen wird. Faktisch will die Bundesregierung hier also 2,3 Milliarden Euro jährliche Steuerbefreiungen für die Industrie beschließen, die im Gegenzug nur eine margi- nale Gegenleistung zu erbringen hätte. Das hat mit Ener- giewende nichts zu tun, sondern ist ein gezieltes Lobby- programm für die Großindustrie. Wir können festhalten: Mittlerweile sind in Deutsch- land die Energie- und Klimakosten für energieintensive Industrien im internationalen Vergleich so gering, dass es lukrativ wird, solche Produktionen nach Deutschland zu verlagern. Die Befreiung der energieintensiven Indus- trie beläuft sich jährlich auf über 9 Milliarden Euro. Diese 9 Milliarden Euro müssen kleine und mittlere Un- ternehmen und die privaten Haushalte stemmen. Das al- les zeigt nicht nur, welchen Rang der Klimaschutz bei der Bundesregierung einnimmt, sondern auch, was sie unter sozialer Umverteilung versteht. Es ist bemerkens- wert, in welchem Maße gerade bei diesen Kosten umver- teilt wird, und zwar gänzlich in die falsche Richtung. Die Linke lehnt den Gesetzentwurf deshalb ab. Stattdessen fordern wir, die Privilegierungen der energieintensiven Industrie auf ein sozialverträgliches Maß herunterzufah- ren und statt fragwürdiger Effizienzmaßnahmen konse- quentes Energiesparen einzufordern. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bun- desregierung hat bei der Reform des Spitzenausgleichs die Chance auf eine gründliche Neuregelung vertan. Während Haushalte und Dienstleistungsunternehmen den vollen Steuersatz auf Strom und Gas bezahlen müs- sen, will die Regierung weiterhin 2,3 Milliarden Euro an Subventionen an die Industrie verschenken – und das of- fenbar, ohne ernst zu nehmende Gegenleistungen von den Unternehmen zu verlangen. Es ist mittlerweile Allgemeingut, dass ein zentraler Baustein der Energiewende darin besteht, Energie einzu- sparen. Auch die Regierung betont das gerne. Doch wenn es konkret wird, lässt die Regierung wirklich jede Gelegenheit aus, für echte Anreize zum Stromsparen zu sorgen. Dieses Gesetz ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Energiewende mit dieser Regierung nichts wird. Dem Umweltminister scheint dies schon zu dämmern. Denn Herr Altmaier hat am Tag der Veröffentlichung dieses Gesetzes öffentlich daran gezweifelt, dass Deutschland seine Stromsparziele erreichen wird. Dies liegt jedoch auch an ihm selbst – er hätte sich im Kabi- nett ja für ein besseres Gesetz stark machen können. Dieses bessere Gesetz gibt es übrigens schon – es liegt in der Schublade des Finanzministers und ist der erste Referentenentwurf dieses Gesetzentwurfs. Im Ge- gensatz zum vorliegenden Gesetzestext basierte die erste Version nämlich auf fundierter wissenschaftlicher Ex- pertise; das Wissen aus ausführlichen Gutachten floss darin ein. Doch dann schalteten sich die Industriever- bände und ihr Cheflobbyist Herr Rösler ein. Nach mona- telangem Stillstand in der Gesetzgebung kam dann die- ses dreiste Geschenk an die Industrie heraus. Kern der vorliegenden Novelle des Energie- und Stromsteuergesetzes ist, dass ungefähr 25 000 Unterneh- men weiterhin Steuerrabatte bekommen, wenn zwei Be- dingungen erfüllt sind: Als erste Bedingung müssen alle Unternehmen des Produzierenden Gewerbes zusammen ein jährliches Energieeffizienzziel erfüllen. Das bedeutet im Detail, dass ungefähr 400 000 überwiegend sehr kleine Un- ternehmen, etwa aus der Baubranche, dafür verant- wortlich sind, 25 000 Unternehmen satte Rabatte auf ihre Energie- und Stromsteuerrechnungen zu ermögli- chen. Hier liegt ohne Zweifel ein Anreiz zum Trittbrett- fahrerverhalten vor. Die 25 000 Unternehmen, die vom Spitzenausgleich profitieren, müssen noch nicht einmal selbst etwas leisten, um Energie zu sparen – es reicht, wenn ihre Kollegen aus anderen Unternehmen das tun, die in der Regel sowieso schon weniger energieintensiv sind. Richtig wäre es gewesen, von jedem Unternehmen, das von Steuersubventionen profitiert, einen individuel- len Energieeinsparnachweis zu verlangen. Dass Unter- nehmen aus jeder Branche fähig sind, ihren individuel- len Energiesparbeitrag zur Energiewende beizutragen, zeigt etwa die Studie, die der Finanzminister selbst zu diesem Thema in Auftrag gegeben hat. Leider konnte die Regierung bisher den Verdacht nicht ausräumen, dass es die Wunschzahlen der Indus- trieverbände waren, die das Finanzministerium unge- prüft ins Gesetz geschrieben hat. Denn bisher hat die Bundesregierung nicht offengelegt, wie sie auf ihre Zah- len gekommen ist. Man muss ernsthaft an der Seriosität der Arbeit des Finanzministeriums zweifeln, wenn es sich auf Anfrage weigert, nachvollziehbar das Ziel zu begründen, warum das Produzierende Gewerbe seine Energieeffizienz zu- nächst um 1,3 Prozent pro Jahr verbessern soll und für das Jahr 2016 eine Steigerung von 1,35 Prozent vorgege- ben ist. Es ist absurd, dass die Bundesregierung in ihren Ge- setzentwürfen Zielvorgaben auf zwei Nachkommastel- len genau festlegt, aber in der Antwort auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion nicht darlegen kann, wie sich die Energieeffizienz des Produzierenden Gewerbes in den letzten Jahren überhaupt entwickelt hat. Dies wäre ein erster Anhaltspunkt, um beurteilen zu können, ob diese Vorgaben nun wirklich so ambitioniert sind, wie es die Regierung vorgibt, oder ob dieses Ziel sich nicht vielmehr wie von selbst erfüllen wird. Dass Letzteres eher der Fall ist, legt jedenfalls eine Statistik der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen nahe, nach der sich die Energieeffizienz der deutschen Indus- trie in den vergangenen 20 Jahren um mindestens 1,4 Prozent pro Jahr verbessert hat. Was wir jetzt schon aus dem Gesetzentwurf lesen können, ist, dass sich die Bundesregierung die Effizienz- verbesserungen der Industrie schönrechnet. Die Bundes- regierung weiß, dass Atom- und Kohlekraftwerke in der Statistik deutlich weniger effizient sind als Wind- und Solaranlagen. Steigt der Anteil der Erneuerbaren, ver- bessert sich so auf dem Papier die Effizienz der deut- schen Industrie, ohne dass diese etwas dafür leisten muss. Diesen Rechentrick nutzt die Regierung dreist aus 23640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) und versucht der Öffentlichkeit vorzugaukeln, dass sie der Industrie ambitionierte Energieeinsparungen abver- langt. Bis die Regierung den Gegenbeweis liefert, können wir also davon ausgehen, dass die Vorgabe, jährlich 1,3 Prozent energieeffizienter zu werden, ein Geschenk an die Industrie ist. Als zweite Bedingung müssen die Unternehmen Energiemanagementsysteme oder sogenannte alternative Systeme einführen, damit sie weiterhin Steuersubventio- nen erhalten. Hier verschenkt die Regierung eine Möglichkeit, Deutschlands Industrie zu einem echten Energiesparvor- bild zu machen. Leider gilt die Einführung von echten Energiemanagementsystemen nur für große Unterneh- men. Dies sind 5 000 der 25 000 Unternehmen im Spit- zenausgleich. Für die 20 000 übrigen mittleren Unterneh- men und kleinen Unternehmen gelten deutlich weniger ambitionierte Anforderungen. Dazu kritisieren wir die langen Übergangsfristen, die den Unternehmen zur Ein- führung von Energiemanagementsystemen gewährt wer- den. Kurz gesagt, ist dieses Gesetz also ein weiterer Beleg für die Klientelpolitik der Bunderegierung. Anstatt einen mutigen Schritt zu machen, um die Energiewende voran- zubringen, kuschen Finanz- und Umweltminister vor der Industrielobby. Richtig wäre es gewesen, die Novellierung des Geset- zes für einen Neuanfang zu nutzen. Dies hätte bedeutet, die in die Jahre gekommene Übergangsregelung des Spit- zenausgleichs abzuschaffen und durch eine gerechte Här- tefallregelung zu ersetzen. Diese könnte so aussehen, dass nur Industrieprozesse, die nachweislich besonders ener- gieintensiv sind, Ausnahmen bekommen, um zu vermei- den, dass Unternehmen in Länder mit weniger strengen Umweltauflagen abwandern. Damit nicht Verschwen- dung und technologischer Stillstand subventioniert wer- den, müsste auch diese Unterstützung an individuelle Ef- fizienznachweise geknüpft werden. Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Finanzen: Das Bundeskabinett hat am 1. August 2012 den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergeset- zes beschlossen, den ich Ihnen im Weiteren gerne vor- stelle. Mit diesem Gesetzesvorhaben verfolgt die Bundesre- gierung das Ziel, auch in der Zukunft die Wettbewerbs- fähigkeit von Unternehmen des Produzierenden Gewer- bes am Wirtschaftsstandort Deutschland zu erhalten. Zugleich sollen diese Unternehmen Anreize erhalten, ih- ren Energieeinsatz noch effizienter zu gestalten. Der Hintergrund der vorgeschlagenen Regelung ist in Grundzügen folgender: Mit der aktuellen sogenannten Spitzenausgleichsregelung bei der Energiesteuer und der Stromsteuer wird Unternehmen des Produzierenden Ge- werbes eine Steuerentlastung in Höhe von bis zu 92,5 Prozent des in diesen Steuern rechnerisch enthalte- nen Ökosteueranteils gewährt. Der Spitzenausgleich wurde im Zuge der ökologischen Steuerreform einge- führt, um energieintensiv produzierende Unternehmen im internationalen Wettbewerb nicht übermäßig zu be- lasten. Der Spitzenausgleich kann nach geltender Rechtslage jedoch nur bis zum Ende dieses Jahres – 2012 – gewährt werden, weil die von der Europäischen Kommission dazu erteilte beihilferechtliche Genehmigung zu diesem Zeitpunkt ausläuft. Die Bundesregierung hat sich mit dem im Herbst des Jahres 2010 beschlossenen Energiekonzept dazu be- kannt, auch über das Jahr 2012 hinaus die Wettbewerbs- fähigkeit der vom Spitzenausgleich betroffenen Unter- nehmen zu unterstützen. Zugleich sollen die Unter- nehmen als Gegenleistung dazu verpflichtet werden, ei- nen Beitrag zu Energieeinsparungen zu leisten. Die Bundesregierung geht dabei davon aus, dass die Energieeffizienz in Zukunft ein noch wichtigerer Maß- stab für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der In- dustrie und auch ihrer Innovationskraft sein wird. Des- halb möchte sie mit der nunmehr vorgeschlagenen Neukonzeption des Spitzenausgleichs die Unternehmen dazu anregen, ihre Effizienzpotenziale eigenständig zu realisieren und umzusetzen. Energiemanagementsysteme sind dabei eine wichtige Möglichkeit, Effizienzpotenziale aufzuzeigen. Diese sind inzwischen durch internationale Normen anerkannt und bedeuten im Kern die regelmäßige Erfassung der Energieströme und der Minderungspotenziale in den Produktionsprozessen. Diese Normen schreiben keine Maßnahmen vor, sondern überlassen es den Unterneh- men, zu entscheiden, welche wirtschaftlichen und Effi- zienz steigernden Maßnahmen sie umsetzen wollen. Schon heute werden Energiemanagementsysteme bzw. Energieaudits in vielen Unternehmen genutzt, um syste- matisch Verbesserungschancen in betrieblichen Energie- versorgungssystemen zu identifizieren und unter Be- rücksichtigung der jeweiligen Kosten zu erschließen. Dabei geht es um ein kostengünstiges Konzept, das ins- besondere kleine und mittlere Unternehmen nicht über- fordert und dennoch systematisch die Verbesserungs- chancen offenlegt. Geleitet von diesen Prämissen hat die Bundesregie- rung den Entwurf für ein Zweites Gesetz zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes für eine Nachfolgeregelung zum Spitzenausgleich ab dem Jahr 2013 beschlossen, dessen Grundzüge sich wie folgt dar- stellen: Das bisherige steuerliche Entlastungsvolumen – rund 2,3 Milliarden Euro jährlich – und der Kreis der Begünstigten sollen unverändert beibehalten werden. Die Nachfolgeregelung soll den Unternehmen mit ei- ner zehnjährigen Laufzeit Planungssicherheit gewähren und für die Jahre 2013 bis 2022 gelten. Dafür sind von allen rund 25 000 Unternehmen, die den Spitzenausgleich zukünftig in Anspruch nehmen wollen, verbindlich Energiemanagement- oder Umwelt- managementsysteme einzuführen. Das Offenlegen noch vorhandener Einsparpotenziale wird – vor allem bei klei- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23641 (A) (C) (D)(B) nen und mittleren Unternehmen – zu Investitionen zur Verbesserung der Energieeffizienz beitragen. Kleinen und mittleren Unternehmen soll außerdem die Möglich- keit eröffnet werden, alternativ weniger kostenintensive Auditverfahren zu betreiben. Darüber hinaus wird die Bundesregierung überprüfen, ob die Unternehmen im Zuge dieser Maßnahmen insge- samt ihre Energieintensität tatsächlich reduzieren. Dafür sieht der Gesetzentwurf konkrete Effizienzziele vor. Zur Überwachung der Zielerreichung soll eine Art „Glocke“ gebildet werden, die sowohl die Unternehmen des Pro- duzierenden Gewerbes als auch der Energiewirtschaft umfasst und unter der die Effizienzverbesserungen die- ser Unternehmen gesammelt erfasst werden. Dazu hat die Bundesregierung am 1. August 2012 die Vereinbarung zur Effizienzsteigerung mit der deutschen Wirtschaft abgeschlossen. In dieser Vereinbarung wird das Monitoringverfahren zur Ermittlung der Effizienz- verbesserungen im Detail geregelt. Damit ist es gelun- gen, ein Verfahren zu entwickeln, das die von den be- günstigten Branchen tatsächlich erzielten Effizienz- steigerungen erfasst und belohnt. Zugleich konnte es aber vermieden werden, ein bürokratisches Monstrum zu erschaffen, das insbesondere kleine und mittlere Unter- nehmen überfordern würde. Aus Sicht der Bundesregierung ist es mit dem Gesetz- entwurf gelungen, eine ausbalancierte Lösung zu entwi- ckeln, die es ermöglicht, den Unternehmen die auch zu- künftig im internationalen Wettbewerb dringend benötigten Entlastungen zu gewähren. Wie wichtig der Erhalt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist, können wir derzeit auf beeindruckende Weise erleben. Zugleich können damit aber Anreize für einen effi- zienteren Energieverbrauch gesetzt werden, um die kli- mapolitischen Ziele der Bundesregierung weiter voran- zubringen, ohne die Unternehmen damit zu überfordern. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Geldwäschegesetzes (GwGErgG) (Tagesordnungspunkt 22) Peter Aumer (CDU/CSU): Die Bekämpfung von Geldwäsche ist eine wichtige Angelegenheit. Vor allem die organisierte Kriminalität versucht, durch die Einbrin- gung illegal erwirtschafteten Geldes zum Beispiel aus Drogen-, Waffen- oder Menschenhandel in den Finanz- und Wirtschaftskreislauf die Herkunft dieser Gelder zu verschleiern. Dies spielt ebenfalls eine große Rolle im Bereich der Finanzierung terroristischer Aktivitäten. Durch die Bekämpfung von Geldwäscheaktivitäten soll unsere Volkwirtschaft von Schaden bewahrt werden und zur nationalen und internationalen Sicherheit beigetra- gen werden. In den vergangenen Jahren haben wir bereits mehrere Gesetze zur Prävention von Geldwäsche auf den Weg gebracht. Unsere Gesetze wurden und werden dabei maßgeblich von europäischen und internationalen Stan- dards geprägt, wie sie zum Beispiel die Financial Action Task Force on Money Laundering, FATF, vorgibt. Zu- letzt sind wir mit dem Gesetz zur Optimierung der Geld- wäscheprävention, welches wir mit fraktionsübergrei- fender Mehrheit im letzten Jahr verabschiedet haben, einen weiteren wichtigen Schritt hin zu einer effektiven Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Ter- rorismus gegangen, indem wir diesem Personenkreis die Möglichkeiten zur Legalisierung ihrer illegal erwirt- schafteten Gelder deutlich erschwert haben. Zur weiteren Fortführung und Verbesserung der Geld- wäschebekämpfung setzen sich die Berichterstatter aller Fraktionen seit der Einführung des Gesetzes im „Forum für Geldwäscheprävention“ beim Bundesministerium der Finanzen ein. Dort konnten wir dieses Jahr mit Ex- perten über einige Probleme diskutieren. Mit der heutigen ersten Lesung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Er- gänzung des Geldwäschegesetzes zeigen wir, dass die Geldwäschebekämpfung weiterhin ein sehr wichtiges Thema der christlich-liberalen Koalition darstellt. Durch das Gesetz soll der Verpflichtetenkreis zukünf- tig auf die Veranstalter und Vermittler von Glücksspielen im Internet ergänzt werden. Der Markt für Onlineglücks- spiel hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt. Die Europäische Kommission schätzt die Einnahmen der Anbieter von Internetglücksspielen auf über 6 Milliarden Euro im Jahr 2008, wobei die Dunkelziffer der illegalen Anbieter dabei noch nicht berücksichtigt wurde. Die Zahlen für 2012 dürften noch deutlich über diesem Wert liegen. Im Rahmen des Gesetzes werden für den Betrof- fenenkreis spezifische Sorgfaltspflichten geschaffen, die das Risiko für Geldwäsche im Zusammenhang mit dem Spielbetrieb von Onlineglücksspielen durch strikte An- forderungen an die Transparenz von Zahlungsströmen minimieren sollen. Der Gesetzentwurf sieht darüber hinaus Sorgfalts- pflichten für Kredit- und Zahlungsinstitute vor, die in die Zahlungskette zwischen dem Spieler sowie dem Ver- pflichteten im Rahmen von Kreditkartenzahlungen ein- gebunden sind. Zur Bekämpfung sowie Verhinderung des illegalen Onlineglücksspiels sollen die zuständigen Länderaufsichtsbehörden zudem mit weiteren Kompe- tenzen und Auskunftsrechten ausgestattet werden. Hier- durch sollen die Aufsichtsbehörden in die Lage versetzt werden, Finanzströme des Glücksspiels von legalen oder illegalen Betreibern wirksam nachzuverfolgen und im Falle der Feststellung eines Verstoßes und Illegalität diese zu unterbinden. Mit vorliegendem Gesetzentwurf verfolgen wir wei- terhin den Präventionsansatz von Geldwäsche. Wir wer- den uns auch im Rahmen der Verhandlungen zur Überar- beitung der dritten EU-Geldwäscherichtlinie für eine Implementierung unseres Ansatz einsetzen. Wie schon beim Gesetz zur Optimierung der Geldwäscheprävention sind wir auch beim vorliegenden Gesetzentwurf auf die Mitarbeit der zuständigen Länderbehörden angewiesen. Ich hoffe, dass dort das Bewusstsein für dieses wichtige 23642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) Thema ebenso vorhanden ist und wir gemeinsam an ei- nem Strang ziehen werden. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein weiterer wich- tiger Schritt zur Bekämpfung von Geldwäsche in Deutschland. Am 22. Oktober werden wir zu dem Ent- wurf eine öffentliche Anhörung durchführen und den Entwurf anschließend im Finanzausschuss beraten und beschließen. Martin Gerster (SPD): „Wer sich an die Vergangen- heit nicht erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wie- derholen“. Die Worte des spanischen Philosophen George de Santayana erinnern mich stark an das zur Beratung anstehende Gesetz und die Art, wie es im par- lamentarischen Verfahren behandelt wird. Es ist erst einige Monate her, dass dieses Parlament massiv in der Kritik stand, weil wir die Debatte über das Meldegesetz mit Reden zu Protokoll abgehandelt haben. Auch wenn die Berichterstattung oft überzogen und in der Sache nicht immer von der notwenigen Kenntnis parlamentarischer Abläufe geprägt war: Wir tun uns kei- nen Gefallen, unliebsame Themen, bei denen es aus Sicht internationaler Beobachter in Deutschland „fünf vor Zwölf“ ist, tatsächlich im Plenum auf solche Uhrzei- ten abzuschieben und letztlich schriftlich abzuhandeln. Ich kann mir aber vorstellen, dass es aufseiten min- destens eines Koalitionspartners nachvollziehbare Gründe gibt, das Thema nicht allzu prominent zu disku- tieren. Insofern bin ich froh, dass wir überhaupt auf die- sem Wege Stellung zum vorliegenden Gesetzentwurf nehmen können. Denn auch hier gilt es zurückzublicken und Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Das Grundanliegen des Gesetzes teilen wir uneinge- schränkt. Onlineglücksspiel stellt ein Einfallstor für Kri- minelle dar, die die Spuren ihrer Gelder aus Drogen, Menschenhandel, Internetbetrug und anderen Straftaten verwischen wollen. Um dem zu begegnen, müssen die am Spiel teilnehmenden Personen identifizierbar bleiben und die entsprechenden Geldströme transparent gemacht werden. Darauf zielt ab, was im jetzt vorliegenden Gesetzent- wurf steht. Das ist sinnvoll und richtig – leider hat die Bundesregierung zu lange gezögert, statt rechtzeitig zu handeln. Schon im vergangenen Jahr, als wir das Gesetz zur – offenbar nur vermeintlichen – „Optimierung“ der Geldwäscheprävention beraten haben, hatte ich darauf hingewiesen, dass mit dem Ausscheren des damals schwarz-gelb regierten Bundeslandes Schleswig-Hol- stein aus dem gemeinsamen Glücksspielstaatsvertrag der Länder ein Deichbruch in Sachen Geldwäscherisiko dro- hen würde. Die Bundesregierung verwies damals auf die angeblich hinreichenden Landesregelungen und sah keine Notwendigkeit, vorbeugend tätig zu werden. Erst jetzt, nachdem in Schleswig-Holstein die ersten Konzes- sionen vergeben wurden, hat diese Regierung den Hand- lungsbedarf erkannt. Man wird abwarten müssen, ob hier nicht bereits die Büchse der Pandora geöffnet wurde. Spannender als das, was der Entwurf fordert, ist jedoch, was nicht mehr in dem Gesetz auftaucht: Seit Jahren gibt es im Bereich der Geldspielhallen massive Vorbehalte hinsichtlich der Manipulationsanfälligkeit der Spielgeräte. Es existieren deutliche Hinweise, dass eine ganze Reihe von Automatencasinos der organisier- ten Kriminalität zuarbeiten. Wagen wir auch hier den Blick zurück: Im Herbst des vergangenen Jahres fragte ich bei der Bundesregierung schriftlich nach, wie sie dieses Gefahrenpotenzial bewer- tet. Am 26. September 2011 antwortete mir der zustän- dige Staatssekretär im FDP-Wirtschaftsministerium: „Im Hinblick auf Geldwäsche geht nach Einschätzung der Bundesregierung von gewerblichen Spielhallen kein spezifisches Gefahrenpotenzial aus.“ Eine Einschätzung, die ich angesichts der Aussagen einer Reihe von Sachverständigen, die an der Überprü- fung von Geldspielgeräten beteiligt sind, nicht teilen kann. Von deren Seite heißt es in einem ebenfalls 2011 veröffentlichten Positionspapier: „Es ist für die Autoren vollkommen unverständlich, warum jede moderne elek- tronische Registrierkasse eine bessere Nachvollziehbar- keit der erfolgten Einnahmen, Ausgaben und Umsätze bietet als Geldspielgeräte. Dies führt direkt dazu, dass Steuerbehörden und Aufstellern ein transparenter Ein- blick verwehrt bleiben muss. … Es ist unverständlich, warum wiederholt ‚Technische Richtlinien‘ erarbeitet und umgesetzt werden, die offensichtlich billigend in Kauf nehmen, dass Manipulationen, Betrug und Geld- wäsche nicht erkannt oder nachgewiesen werden kön- nen, und somit die Steuerhinterziehung im großen Stil ermöglicht wird.“ Bemerkung am Rande: Die für die angesprochenen technischen Richtlinien zuständige Physikalisch-Techni- sche Bundesanstalt, PTB, untersteht dem FDP-geführten Bundeswirtschaftsministerium. Als Berichterstatter meiner Fraktion habe ich diese Problematik wiederholt angesprochen. Umso erfreulicher war es, dass auch dieses Thema im Mai Gegenstand un- serer gemeinsamen Beratungen im Forum Geldwäsche- prävention beim Bundesministerium der Finanzen war. Den dort anwesenden Abgeordneten wurde angekündigt, man werde sich dem Problem näher widmen. Der kurz darauf folgende Referentenentwurf des BMF klang viel- versprechend: Ein eigener Paragraf sollte die „geld- wäscherechtliche Aufsicht über den Betrieb von Spiel- banken“ regeln. Doch in der Ressortabstimmung flog der § 16 a zur Spielhallenregulierung aus dem Regie- rungsentwurf. Augenscheinlich wurde er nach eiliger Intervention der Automatenlobby gestrichen – im Zuge der Rückkopplung mit dem Wirtschaftsministerium. Setzt man dies in Zusammenhang mit den jüngsten Berichten über die fragwürdigen Deals zwischen der Gauselmann-Gruppe und der FDP, wird die Sache – ge- linde gesagt – höchst suspekt. Da hilft auch das im Regierungsentwurf enthaltene Überbleibsel zur Änderung der Gewerbeordnung nichts, mit dem Sie Personen das Aufstellen von Geldspielauto- maten untersagen wollen, wenn diese in den vergange- nen drei Jahren wegen Geldwäsche verurteilt worden sind. Das dürfte die laufenden Wäschereigeschäfte kaum ausbremsen. Schon gar nicht, wenn Sie andere Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23643 (A) (C) (D)(B) Ansätze – wie die Einführung personengebundener Spielerkarten – im Zuge der ebenfalls anstehenden Än- derung der Gewerbeordnung nicht aufgreifen wollen. In seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf hat der Bundesrat darum gebeten, einen Punkt wieder in Angriff zu nehmen, der mir sehr viel dringender erscheint. Be- reits seit geraumer Zeit wird kritisiert, dass besonders im Nichtfinanzsektor bei Unternehmen und Personen, die das GwG zu besonderer Vorsicht im Umgang mit ihren Kunden und deren Geldern verpflichtet, keine effiziente Aufsicht stattfindet. Genau das fordern jedoch die bei der OECD angesiedelte Financial Action Task Force on Money Laundering, FATF, und die EU-Kommission. Die in diesem Bereich beklagten Defizite bringt Rüdiger Zuck in der Europäischen Grundrechte-Zeit- schrift vom August 2011 auf den Punkt: „Die Geld- wäscheprävention im Nicht-Finanz-Sektor macht nach ihrem bisherigen Stand die Bundesrepublik weitgehend zu einem Geldwäscheparadies. Das betrifft zum einen den Online-Sektor bei den Spielbanken. Es betrifft aber vor allem die Inhalte der Aufsicht. Unter dem Druck von Vertragsverletzungsverfahren durch die EU hat die Bun- desrepublik inzwischen zwar nach jahrelangem (unver- ständlichen) Zögern ein lückenloses Kompetenz-Instru- mentarium geschaffen. Niemand weiß aber, wie diese Kompetenzen sachgerecht gehandhabt werden sollen.“ Wenn mit dem vorliegenden Gesetzentwurf den Lan- desbehörden nun auch die Zuständigkeit für die Beauf- sichtigung der Geldwäscheprävention beim Online- glücksspiel übertragen werden soll, stellt sich das angesprochene Problem umso gravierender dar. Bereits 2010 attestierte das Bundesfinanzministerium dem Fi- nanzausschuss in einem Bericht, „die Bundesländer set- zen die geldwäscherechtlichen Vorschriften im Nicht- finanzbereich nicht um.“ Obwohl darin ein zentraler Grund für die Nichtüber- einstimmung mit internationalen Empfehlungen zur Geldwäscheprävention erkannt wurde, ist es bislang nicht gelungen, tragfähige Lösungen zu entwickeln. Nach Aussagen der Bundesregierung lagen ihr noch in der zweiten Augusthälfte 2012 „keine Bewertungen der Länder dahin gehend vor, dass sie mit ihren Kompeten- zen überfordert seien“. Da halte ich Zweifel für ange- bracht. Mit Blick auf die Zukunft muss es unser Ziel sein, die Länder in die Lage zu versetzen, ihren Verpflichtungen effektiv und effizient nachzukommen. Hier sehen wir die Bundesregierung in der Pflicht, im „Bund-Länder-Aus- tausch Geldwäscheprävention“ zeitnah die notwendige Kreativität zu entwickeln und mit Vorschlägen aufzu- warten, die Deutschland international aus dem Faden- kreuz von Geldwäschern und Präventionsexperten brin- gen. Björn Sänger (FDP): Wir sind noch nicht am Ziel – bei weitem nicht! Geldwäsche ist weiterhin ein großes Problem, vor allem weil die illegalen Geschäfte und Ma- chenschaften auf einem großen Feld stattfinden, auf dem sich in großen Teilen immer noch viele undurchsichtige und unbekannte Stellen auftun. Und das sind unglaubliche Summen, um die es da geht: Allein in Deutschland werden jährlich circa 30 bis 100 Milliarden Euro an kriminellen Geldern gewaschen. Weltweit geht es nach Schätzungen des IWF sogar um jährlich circa 590 bis 1 500 Milliarden Euro. Wenn man ehrlich ist, ist Geldwäsche das Folgepro- blem einer noch größeren Unbekannten – der organisier- ten Kriminalität. Aber wo sich Probleme auftun, sollte man nach Lösungen suchen, und so soll die Ergänzung des Geldwäschegesetzes als solche auch dazu dienen. Das Problemfeld Internet ist groß und vor allem gren- zenlos, aber eines darf das Internet nicht: Schlupflöcher für Geldwäsche bieten. Nicht zu unterschätzen ist nämlich die wirtschaftliche Bedeutung des Onlineglückspielsektor. Es handelt sich um einen bedeutsamen und rasch wachsenden Markt. Schätzungen zufolge lagen die Einnahmen der Online- glücksspielanbieter innerhalb der Europäischen Union im Jahr 2008 bei über 6 Milliarden Euro. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass viele Anbieter bisher illegal operieren und die tatsächlichen Beträge entsprechend höher ausfallen werden. Nach Einschätzung der Euro- päischen Kommission ist der Onlinemarkt das Segment im Glücksspielwesen, das das stärkste Wachstum auf- weist und seinen Umfang in den nächsten fünf Jahren – ausgehend von Schätzungen aus dem Jahr 2008 – ver- doppeln wird. Insofern besteht Handlungsbedarf. Bisher war das Glücksspiel im Internet in Deutsch- land ausnahmslos verboten. Es war also gar nicht erfor- derlich, auf Schlupflöcher zu achten oder diese zu ver- hindern. Mit Auslaufen des Staatsvertrages zum Glücks- spielwesen haben die Länder im Anschluss daran die Möglichkeit für das legale Anbieten von Glücksspielen im Internet durch Staatsvertrag geschaffen. Um effektive Geldwäscheprävention zu betreiben, brauchen wir diese Gesetzesänderung bzw. Ergänzung. Um das illegale Treiben des Geldwäschesektors am Onlinemarkt einzu- dämmen, erscheint es nur logisch, das Geldwäschegesetz nun auch auf die Onlinevarianten des Glücksspiels zu er- strecken und Veranstalter und Vermittler von Glücks- spielen im Internet in den verpflichteten Kreis des Geld- wäschegesetzes einzubeziehen. Die Lösung heißt damit also: Betreiber von Glücksspielen im Internet sollen Sorgfaltspflichten nach dem Geldwäschegesetz erfüllen. Da dies eine Prävention im Onlinesegment nicht aus- reichend gewährleitstet, sollen die bestehende Geldwä- scherisiken zusätzlich durch strikte Anforderungen an die Transparenz der Zahlungsströme minimiert werden. Veranstalter und Vermittler von Glücksspielen im Inter- net sollen künftig erhöhte Sorgfalts- und Organisations- pflichten und Anforderungen an das interne Risikoma- nagement erfüllen sowie interne Sicherungsmaßnahmen treffen müssen. Gleichzeitig werden Vorgaben zur Spie- leridentifizierung sowie Anforderungen an die Errich- tung eines Spielerkontos und zur Herstellung von Trans- parenz der Zahlungsströme zwischen Onlineglücksspiel- anbieter und Spieler eingeführt. Ferner werden die Kom- petenzen und Auskunftsrechte der zuständigen Glücks- 23644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) spielaufsichtsbehörden der Länder zur Verhinderung des illegalen Onlineglücksspiels gestärkt. Wenn man genauer schaut, machen mir als Liberalem erneut datenschutzrechtliche Erhebungen im Zusam- menspiel mit dem Ziel Geldwäscheprävention Bauch- schmerzen. Spielanbietern ist es ausdrücklich erlaubt, personenbezogene Daten von Kunden zur Erfüllung der Verpflichtungen des GWG zu sammeln, wenn dies erfor- derlich ist. Aber personenbezogene Daten müssen fünf Jahre nach dem Ende der Geschäftsbeziehung gelöscht werden. Genauso müssen die lizenzierten Glücksspiel- anbieter den Spieler vor der Registrierung und Erstel- lung eines Spielerkontos als auch vor der Teilnahme an Glücksspielen identifizieren. Die Identifikation eines Spielers erfordert die folgenden Angaben: Name, Ge- burtsort, Geburtsdatum, Adresse, Nationalität, oder im Falle von juristischen Personen: Name, Rechtsform, Re- gisternummer, Sitz und Name der gesetzlichen Vertreter. Während das Vorhandensein eines wirtschaftlich Be- rechtigten möglich ist, muss es ausgeschlossen sein, dass der Spieler im Auftrag eines Dritten handelt. Folglich muss der Anbieter die zuständige Behörde über alle wirt- schaftlich Berechtigten informieren, um jeder Art von Strohmannverhältnissen entgegenzuwirken. Dies wiede- rum kann nur meinen Zuspruch finden. Hier erfolgt ef- fektive Geldwäscheprävention. Sehr streng sind die Anforderungen an den Zahlungs- verkehr. Erlaubt ist pro Spieler nur ein Konto je Anbie- ter. Dieses Spielerkonto muss mit einem Konto des re- gistrierten Spielers bei einer Bank oder einem Finanz- institut verbunden sein. Transaktionen auf ein Spieler- konto dürfen nur zum Zwecke des Spiels erhalten wer- den. Darüber hinaus werden Transaktionen vom Konto eines Spielers zum Anbieter/Spielerkonto und umge- kehrt nur über die Transaktionsmethoden Lastschriftver- fahren, Überweisung, Kreditkarte oder Debitkarte er- laubt. Dies bedeutet, dass alle anderen Methoden für eine Transaktion nicht erlaubt sind. Hier sehe ich noch Handlungsbedarf und präferiere die Einführung von Schwellenwerten. Geldwäsche wird praktisch doch nun mal mit hohen Summen betrieben. Eine harte Beschrän- kung der Zahlungsmethoden erscheint mir hier praxis- fern. Ich sehe mithilfe dieser Maßnahmen jedoch trotzdem eine reelle Chance, die Schlupflöcher im Onlineglücks- spiel schließen zu können, und begrüße den Gesetzent- wurf. Ich denke, wir werden im Verlauf der weiteren Be- ratungen und auch der anstehenden Anhörung noch die eine oder andere Unebenheit in diesem Entwurf glätten und ihn damit handhabbar machen, soweit er es noch nicht ist. Denn Handhabbarkeit ist die entscheidende Vo- raussetzung für Akzeptanz. Und nur akzeptierte Rege- lungen werden uns dazu bringen, dass wir die Verpflich- teten als Verbündete gegen die Geldwäsche bekommen. Richard Pitterle (DIE LINKE): Bei einem Gesetz zur Ergänzung eines bestehenden Gesetzes erwartet man eine Schließung der zahlreichen Lücken, die entweder bei der Verabschiedung des Gesetzes schon bestanden hatten oder die im Laufe der Zeit neu hinzugekommen sind. Doch die Bundesregierung bleibt ihrem Prinzip der kleinen Tippelschritte treu, auch bei dem Gesetz zur Ergänzung des Geldwäschegesetzes: Zwar wird durch die Einbeziehung von Glücksspielen im Internet eine wesentliche Lücke für die Verhinderung von Geldwä- sche geschlossen, doch die zahllosen anderen Baustellen bleiben offen. Insbesondere an das Kernproblem der Geldwäschebe- kämpfung in Deutschland traut sich die Bundesregierung weiterhin nicht: die völlig unzureichende Durchführung der Geldwäscheaufsicht und -kontrollen im Nicht- bankensektor – trotz Kritik von vielen Seiten, zum Bei- spiel von dem Bund Deutscher Kriminalbeamter oder der Financial Action Task Force, FATF, die die interna- tionalen Standards festlegt und zu deren Umsetzung sich die Bundesrepublik verpflichtet hat. Im Nichtfinanzsektor liegt die Zuständigkeit für die Aufsicht bekanntlich bei den Bundesländern. Viele Län- der gaben sie an die Kommunen weiter. Mit der Zustän- digkeit der Länder und Kommunen ging allerdings keine finanzielle Unterstützung einher. Insbesondere die Kom- munen blieben auf sich allein gestellt. Darüber hinaus kommt es zu großen Abstimmungs- und Koordinie- rungsproblemen, wenn in mehreren Bundesländern zu ermitteln ist. Die meisten Mitarbeiter in den Kommunalverwaltun- gen, die zur Bekämpfung der Geldwäsche eingesetzt werden, haben keine einschlägige Ausbildung, erst recht keine Erfahrung. Es wurden sogar beispielsweise Be- schäftigte des Standesamtes eingesetzt. Doch selbst wenn die eingesetzten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bisher in der Gewerbeaufsicht tätig sind, können sie ihre Aufsichtsaufgaben nicht wahrnehmen, weil weiterhin sowohl Ausbildung als auch Kapazitäten fehlen. Geldwäschekontrollen sind etwas völlig anderes als Hygienekontrollen. Da muss Mann oder Frau über umfangreiche, langjährige Kenntnisse und Erfahrungen in der Buchhaltung und im Steuerrecht verfügen, um den Tricks der Geldwäscher auf die Spur zu kommen. Seit der letzten Novelle des Geldwäschegesetzes 2011 sind zusätzlich noch die Versicherungsvertreter und Versicherungsmakler, der Einzelhandel, der Großhandel sowie die Immobilienmakler zu überwachen, ob sie die Vorschriften des Geldwäschegesetzes umgesetzt haben. Wie soll das funktionieren? Bereits vorher war die Gewerbeaufsicht in Deutschland völlig unzureichend ausgestattet. Auch die Zersplitterung auf die örtlichen Ordnungs- behörden erleichtert es den Tätern ungemein, ihr aus kriminellen Geschäften erzieltes Geld in Deutschland risikolos in den legalen Geldkreislauf einzuführen, sofern das nicht über Banken erfolgt. Wie soll da eine Bekämpfung der Geldwäsche gelingen, die auch nur im Ansatz das Wort „Bekämpfung“ rechtfertigen würde? Das sind auch keine Anlaufschwierigkeiten mehr. Es ist nicht die noch fehlende Ausbildung und Schulung der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23645 (A) (C) (D)(B) insbesondere von den jeweiligen Kommunalverwaltun- gen eingesetzten Bediensteten, es sind nicht die noch fehlenden personellen Ressourcen und Kapazitäten aufseiten der Länder und Kommunen, sondern es ist der falsche Ansatz, der den Geldwäschern in Deutschland Tür und Tor geöffnet hat. Wie bei den Banken muss die Kontrolle der Geld- wäschevorschriften eine Bundesaufgabe werden. Das empfehlen nicht nur die Fachleute, sondern auch der Bundesrat. Dem ist nichts hinzuzufügen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vorliegende Gesetzentwurf zur Ergänzung des Geld- wäschegesetzes ist ein weiterer Schritt in einer Serie von kleinen Anpassungen des Geldwäschegesetzes. Das Ge- setz zur Optimierung der Geldwäscheprävention, das Ge- setz zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche und Steuerhinterziehung und das Gesetz zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie wurden allein im Jahr 2011 verabschiedet. Jedes Mal war bei der Gesetzgebung bereits klar, dass eigentlich ein umfassenderer Ansatz nötig wäre, nämlich eine Bestandsaufnahme der Defizite bei der Geld- wäschebekämpfung von der Gesetzgebung bis hin zur Umsetzung vor Ort. Wir hatten deshalb vorgeschlagen, dass wir uns im Finanzausschuss einmal der Gesamtthematik Geld- wäsche widmen. Die Koalition hat das abgelehnt und verzögert. Der Grund ist klar: Eine ehrliche Bestands- aufnahme hätte gezeigt, wie dramatisch groß der Kor- rekturbedarf in Deutschland ist, wie hilflos diese Regie- rung den internationalen Normen und Empfehlungen hinterherläuft, wie eine plausible Gesamtstrategie zur Überwindung der Defizite fehlt. Das zeigt sich auch bei der vorliegenden Novelle. Sie war bereits absehbar, als wir im vergangenen Dezember das letzte Mal das Geldwäschegesetz geändert haben. Zusätzliche Dynamik hat die nun anzugehende Einbezie- hung des Onlineglücksspiels in das Geldwäschegesetz bekommen, weil der Glücksspielstaatsvertrag aufgelau- fen ist und die mittlerweile abgewählte schwarz-gelbe Koalition in Schleswig-Holstein sich intensiv für die schnelle Legalisierung des Onlineglücksspiels vor den letzten Wahlen engagiert hatte. Aber auch das war be- reits bei der letzten Novelle nur eine Frage der Zeit. Leisten wir nun diesmal das Nötige? Nein. Erstens. Es hakt nach wie vor an der Umsetzung. Wir sollten nicht abwarten, bis sich die internationalen Prüf- kriterien für die Geldwäscheprävention und -bekämp- fung weniger an der formalen Erfüllung und mehr an der Effizienz der Umsetzung orientieren. In den Empfehlun- gen der Ausschüsse des Bundesrates findet sich unter der Nummer vier ein grundsätzlicher Kritikpunkt, den ich vor weniger als einem Jahr bereits hier im Bundestag vorgetragen habe. Die Ausschüsse der Länder fordern den Bund auf, zu einer bundeseinheitlichen Aufsicht über den Nichtfinanzsektor – analog zur BaFin für den Finanzsektor – überzugehen. Genau das wäre nötig. Die Aufsicht darf unserer Meinung nach nicht als Kos- tenfaktor wie ein Schwarzer Peter zwischen den Ebenen hin und her geschoben werden. In einem eindrücklichen Monitor-Bericht in der ARD vor wenigen Wochen wurde eine Standesbeamtin einer schleswig-holsteinischen Ge- meinde porträtiert, der kurzerhand die Funktion der Geld- wäscheaufsicht übertragen wurde – ohne Fortbildung und ohne zusätzliche Ressourcen. Das ist kein Einzelfall, sondern nur die Spitze des anhaltenden Missstandes. Geldwäsche steht im Zusammenhang mit transnational organisierter Kriminalität. Eine effektive Aufsicht kann sinnvollerweise nur auf Bundesebene organisiert wer- den – um diese Aussage des Bundesrates kann sich die Bundesregierung nicht drücken. Um die Lücken in der Prävention und Aufsicht zu schließen, ist es unabdingbar, die Umsetzung des Geset- zes zu gewährleisten. In den 20 Jahren seiner Existenz ist das beim Geldwäschegesetz nicht gegeben, und die Einbeziehung des Onlinebereichs reicht bei weitem nicht aus. Wir erwarten von der Bundesregierung – im jetzi- gen Gesetzgebungsverfahren und bei zukünftigen No- vellen –, die effektive Umsetzung stärker in den Fokus zu rücken und die Arbeit des Geldwäschepräventionsfo- rums beim Bundesministerium der Finanzen zu versteti- gen. Bei einem geschätzten Geldwäschevolumen in Deutschland von 50 Milliarden Euro jährlich können wir es uns nicht leisten, kritischen Einwänden an der Praxis der Geldwäscheprävention in Deutschland keine Konse- quenzen folgen zu lassen. Zweitens. Das Thema Spielhallen: Auch hier möchte ich auf eine Empfehlung des Bundesrates verweisen. Der Bundesrat schlägt vor, den die Spielhallen betreffen- den Passus, der im Referentenentwurf des Bundesminis- teriums der Finanzen noch enthalten war, wieder einzu- fügen. Das unterstützen wir Grünen ausdrücklich. Offensichtliche Gründe für die Streichung der Normen für Spielhallen liegen meiner Ansicht nach nicht vor. Der Passus würde mit einem neuen § 16 a im Geld- wäschegesetz Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Auto- matenspielkasinos eröffnen, sofern dort geldwäscherele- vante Vorgänge nachgewiesen werden können. Das theoretische Risiko lässt sich nicht bestreiten, über die Praxis haben wir in den bisherigen Beratungen mindes- tens widersprüchliche Angaben erhalten. Der Entwurf des § 16 a sieht eine spezielle Adressierung der Spielhal- len vor und greift damit die Bedenken auf, die vor einem Jahr gegen die Aufnahme der Spielhallen in den Ver- pflichtetenkatalog sprachen. Im Zusammenhang damit steht ein dritter Punkt, der nicht den vorliegenden Gesetzentwurf, sondern die Spielordnung betrifft. Diese soll ja ebenfalls novelliert werden. Doch das Anliegen der Geldwäscheprävention scheint dabei weniger wichtig zu sein als die Interessen der Automatenlobby. Denn die unabhängigen Kontrollen der Spielgeräte vor Ort sollen abgeschafft werden. Ist es nicht grotesk? Wir passen – in Bezug auf das Onlinespiel – das Geldwäschegesetz an den technischen Fortschritt an, und gleichzeitig sollen in der Spielverord- nung nach dem Willen des Bundeswirtschaftsministe- riums die Kontrollen der Spielgeräte vor Ort abgeschafft 23646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) werden, als handele es sich dabei nicht um manipula- tionsanfällige, softwaregestützte Geräte, sondern um Einarmige Banditen aus dem Technikmuseum. Es ent- steht der Eindruck, dass hier das Wegsehen des Staates bei der Geldwäsche rechtlich verankert werden soll. Eine ernstzunehmende Strategie gegen Geldwäsche sieht anders aus. Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminsiter der Finanzen: Nach den Schätzungen der Europäischen Kommission lagen die Einnahmen der On- lineglücksspielanbieter innerhalb der EU bereits im Jahr 2008 bei über 6 Milliarden Euro. Dabei ist das Dunkel- feld noch nicht berücksichtigt. Viele Anbieter operieren illegal. Deshalb sind die tatsächlichen Volumina weit hö- her. Onlineglücksspiel ist ein Wachstumsmarkt. Die Ein- nahmen aus dem Onlineglücksspiel dürften sich in den nächsten fünf Jahren – ausgehend von den erwähnten Schätzungen aus dem Jahr 2008 – verdoppeln. Bei Onlineglücksspielen sind auch die Risiken für Betrug und Geldwäsche besonders hoch, weil Spieler leichter anonym oder mit gefälschten Identitäten auftau- chen können. Dies geschieht zum Teil im Zusammen- wirken zwischen Spielern sowie dem Betreiber des On- lineglücksspiels und meistens zulasten anderer Spieler. Die illegale Herkunft der in den Spielbetrieb eingebrach- ter Gelder kann durch Transaktionen über mehrere Spie- lerkonten und Konten der Betreiber bestens verschleiert werden. Da der Spieler nicht physisch präsent ist und die Verifizierung der Identität des Spielers in vielen Staaten nur unzureichenden Anforderungen unterliegt, bleibt vielfach die handelnde Person oder der wirtschaftlich Berechtigte im Dunkeln. Illegal erlangte Vermögens- zuwächse können durch Teilnahme am Spiel als Spiel- gewinn deklariert werden. Erleichtert werden Geldwäsche und Betrug zusätzlich dadurch, dass im Spiel eingesetzte Gelder durch neue Zahlungsmethoden, etwa durch die Nutzung von elektronischem Geld, an oder vom Glücks- spielbetreiber transferiert werden, ohne eine Datenspur zu hinterlassen. Deshalb besteht im Bereich des Onlineglücksspiels Handlungsbedarf für den Gesetzgeber. Mit dem Gesetz- entwurf sollen die Betreiber von Glücksspielen im Internet in den Kreis der Verpflichteten des Geldwäsche- gesetzes mit einbezogen werden. Die Glücksspielauf- sichtsbehörden der Länder sollen in die Lage versetzt werden, Finanzströme des von legalen oder illegalen Betreibern angebotenen Onlineglücksspiels wirksam nachzuverfolgen und im Falle der Illegalität auch zu unterbinden. Dieses Ziel lässt sich nur erreichen, wenn die Nach- vollziehbarkeit aller Zahlungsströme zwischen dem Spieler und dem Betreiber gewährleistet ist. Der Herstel- lung von lückenloser Transparenz bei den Zahlungs- strömen gilt deshalb ein besonderes Augenmerk. Neue Zahlungsprodukte wie elektronisches Geld in der Form der anonymen Prepaid-Karte oder Zahlungskarten, die nicht zwingend über ein Referenzkonto – Girokonto – genutzt und von dort gespeist werden, erschweren der verunmöglichen die Verfolgung von Zahlungsströmen und die eindeutige Zuordnung von Zahlungen an be- stimmte Auftraggeber oder Empfänger. Intransparente Zahlungsproduktformen wie auf Prepaid Cards gespei- chertes elektronisches Geld oder Bargeld können des- halb im Onlineglücksspiel nicht verwendet werden. Die Identifizierung und Verifizierung des Spielers wird den strengen Anforderungen unterworfen, die in Deutsch- land bereits für Kreditinstitute bei der Eröffnung eines Kontos gelten und ohnehin im Vollzug höheren Anforde- rungen als in vielen Staaten unterliegen. Gegenüber Betreibern und Spielern soll eine wirk- same Kontrolle und Nachvollziehbarkeit der Finanz- ströme sichergestellt werden. Circa 80 Prozent der Spielereinsätze werden weltweit über Kreditkartenzah- lungen, der Rest weitgehend über nicht nachvollziehbare E-Geld-Zahlungen erbracht. Kreditkartentransaktionen lassen sich vom pflichtigen Institut, das die Kreditkarte emittiert, sowie von den Glücksspielaufsichtsbehörden schwerer als etwa Überweisungen nach Auffälligkeiten kontrollieren. Hier müssen durch technische und organi- satorische Vorgaben für Kreditkartenzahlungen und sonstige Transaktionen Parameter geschaffen werden, die es sowohl den in der Zahlungskette eingeschalteten Kredit- und Zahlungsinstituten als auch den Glücks- spielaufsichtsbehörden, Letzteren durch Auskunfts- und Prüfungsrechten, ermöglichen, einschlägige Transaktio- nen abzuprüfen. Vor diesem Hintergrund sieht der Entwurf unter ande- rem folgende Maßnahmen vor: Einbeziehung von Veranstaltern und Vermittlern von Onlineglücksspielen als Verpflichtete in das Geld- wäschegesetz (§ 2 Absatz 1 GwG-E) Besondere Sorgfalts- und Organisationspflichten un- ter Berücksichtigung der spezifischen Geldwäsche- risiken des Onlineglücksspiels (§§ 9a bis § 9d GwG-E) Interne Sicherungsmaßnahmen und Anforderungen an das interne Risikomanagement für Onlineglücks- spielanbieter (§ 9a GwG-E) Auskunftsrechte der zuständigen Glücksspielauf- sichtsbehörden der Länder gegenüber Finanzinstituten zur Verhinderung des illegalen Onlineglücksspiels (§ 9a GwG-E) Vorgaben zur Spieleridentifizierung, Anforderungen an die Errichtung eines Spielerkontos und Herstellung von Transparenz der Zahlungsströme zwischen Online- glücksspielanbietern und Spielern (§§ 9b, 9c GwG-E) Neue Sorgfaltspflichten für die in die Zahlungswege eingebundenen Kredit- und Zahlungsinstitute bei der Nutzung von Zahlungskarten (§ 9d GwG-E) Anpassung der Bußgeldtatbestände (§17 GwG-E) Bisher war in Deutschland das Glücksspiel über das Internet oder andere elektronische Fernkommunikations- mittel – sogenanntes Onlineglücksspiel – ausnahmslos verboten. Demzufolge war eine Einbeziehung dieser Form des Glücksspiels in den Verpflichtetenkreis des Geldwäschegesetzes obsolet. Mit Auslaufen des Staats- vertrags zum Glücksspielwesen in Deutschland aus dem Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23647 (A) (C) (D)(B) Jahr 2007 und den in die Zuständigkeit der Länder fal- lenden Neuregelungen hat sich hier eine grundlegende Änderung ergeben. Schleswig-Holstein hat mit dem Ge- setz zur Neuordnung des Glücksspiels vom 20. Oktober 2011 Regelungen für legales Glücksspiel im Internet er- lassen. Die übrigen Bundesländer haben mit dem Ersten Staatsvertrag zur Änderung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland vom 15. Dezember 2011 die Möglichkeit zur Erlaubnis des Eigenvertriebs und der Vermittlung von Lotterien sowie die Veranstal- tung und Vermittlung von Sportwetten im Internet ge- schaffen. Deshalb ist es erforderlich geworden, das Geldwä- schegesetz der neuen Situation anzupassen und die Onlinevarianten des Glücksspiels in die präventiv wirkenden Regelungen des Geldwäschegesetzes einzu- beziehen und dem spezifischen Geldwäscherisiko an- gemessene Sicherungsmaßnahmen und Organisations- pflichten für diesen Wirtschaftsbereich zu schaffen. Eine Einbeziehung des Glücksspiels im Internet ist auch aus europarechtlichen Gründen erforderlich: Der Erwägungsgrund 14 der Richtlinie 2005/60/EG besagt, dass diese auch für die über das Internet ausgeübten Tä- tigkeiten der dieser Richtlinie unterliegenden Institute und Personen gelten solle. Nach dem Bericht der Euro- päischen Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Richtlinie 2005/ 60/EG vom 11. April 2012 wird die Aufnahme einer um- fassenderen Definition des Begriffs „Glücksspiel“ unter Ausweitung des Geltungsbereichs über die derzeit Verpflichteten hinaus generell befürwortet. Auch der Deutsche Bundestag hat sich im Bericht des Finanzaus- schusses vom 1. Dezember 2011 zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Optimierung der Geldwäscheprävention für solche regu- latorischen Maßnahmen ausgesprochen. Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass der Ge- setzentwurf aufgrund seiner beschränkten Reichweite nicht alle Probleme beseitigen kann. Deutschland kann den legalen und illegalen Glücksspielmarkt nur regulie- ren, soweit deutsche Konzessionäre, von Deutschland aus agierende Spieler oder über deutsche Institute abge- wickelte Finanzströme betroffen sind. Für legale oder illegale Glücksspiele, die weltweit für das internationale Publikum von einem Betreiber mit Sitz im Ausland online – in Europa insbesondere über die nicht zur EU gehörenden Kanalinseln – angeboten werden, gilt dies nicht. Der Schwarzmarkt bei Onlinesportwetten wird sich deshalb nur wirksam zurückdrängen lassen, wenn rechtsverbindliche internationale Standards über die Genehmigungsanforderungen an die Konzessionäre ge- schaffen und umgesetzt werden. Dies ist auch für eine harmonisierte Strafverfolgung zwingend. Die Umset- zung der harmonisierten geldwäscherechtlichen Anfor- derungen der 3. Geldwäscherichtlinie im europäischen Onlineglücksspielsektor und ihre Erweiterung, die Ge- genstand der Diskussion über die 4. EU-Geldwäsche- richtlinie sein werden, wäre ein wichtiger erster Schritt. Mit dem im Gesetzentwurf verfolgten Präventionsan- satz wird nicht nur der derzeit in der Europäischen Union verbindliche Standard zur Verhinderung der Geld- wäsche eingehalten, sondern dieser qualitativ fort- geschrieben. Die Bundesregierung wird sich im Rahmen der Verhandlungen der kommenden 4. EU-Geldwäsche- richtlinie dafür einsetzen, dass dieser qualitative Ansatz in der neuen Richtlinie für den gesamten Onlineglücks- spielsektor in der Europäischen Union übernommen wird. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung der Unterneh- mensbesteuerung und des steuerlichen Reise- kostenrechts (Zusatztagesordnungspunkt 9) Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Nach dem Steuervereinfachungsgesetz von 2011, das wesentliche Erleichterungen zugunsten der Bürgerinnen und Bürger brachte, sollen nun in einer zweiten „Vereinfachungs- welle“ Neuerungen beschlossen werden, die Vereinfa- chungen für Betriebe und Unternehmen bringen. Wir haben grundsätzlich ein wettbewerbsfähiges Unter- nehmensteuerrecht. Dennoch wollen wir weiter an einem international wettbewerbsfähigen Unternehmensteuerrecht arbeiten. Mit dem vorliegenden Gesetz sollen das steuerli- che Reisekostenrecht und die Besteuerung verbundener Unternehmen vereinfacht werden. Beim Verlustrücktrag soll der internationalen Entwicklung Rechnung getragen werden. Im Einzelnen sind folgende Maßnahmen vorgesehen: Erstens. Im steuerlichen Reisekostenrecht werden viele Abgrenzungsfragen und Probleme bei der Ausle- gung beseitigt, indem wir auf vergleichbare Lebenstatbe- stände – soweit möglich – gleiche Regeln und Berech- nungsmethoden anwenden. Bei den Pauschalen für die Verpflegungsmehraufwen- dungen, die in der Steuererklärung angesetzt werden können, werden die maßgeblichen Mindestabwesen- heitszeiten verringert, und die niedrigste Pauschale ent- fällt. Durch die verbleibende zweistufige Staffelung der Pauschalen (im Inland 12 und 24 Euro) wird die steuerli- che Berücksichtigung der Aufwendungen einfacher. Zu- dem wird auch die Reisekostenabrechnung handhab- barer und der Verwaltungsaufwand für alle Beteiligten reduziert. Im Bereich der Fahrtkosten und bei der Besteuerung von Dienstwagen bei Fahrten zur sogenannten regelmä- ßigen Arbeitsstätte wird es zukünftig in bedeutendem Maß mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit geben. Die wesentlichen Punkte werden nun gesetzlich fixiert. Der Begriff der regelmäßigen Arbeitsstätte wird dabei durch den der ersten Tätigkeitsstätte ersetzt. Ausgefüllt wird dieser zukünftig durch den Arbeitgeber, subsidiär anhand quantitativer Elemente. Das Anknüpfen an ar- beits- und dienstrechtliche Festlegungen oder Weisun- gen bringt deutliche Erleichterungen bei der Anwendung 23648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) und Nachweisführung. Für alle Beteiligten bedeutet dies mehr Planungs- und Rechtssicherheit. Die Ermittlung der Aufwendungen für eine zusätzli- che Unterkunft bei doppelter Haushaltsführung wird ver- einfacht. Statt der bisher komplizierten Ermittlung eines Durchschnittsmietzinses wird zukünftig auf die tatsäch- lich entstandenen Aufwendungen abgestellt. Diese kön- nen bis zu einem Höchstbetrag von 1 000 Euro vom Ar- beitnehmer angesetzt werden. Eine weitere Vereinfachung – wiederum durch Ver- einheitlichung – bringt die Angleichung der reisekosten- rechtlichen Auslandstagegelder und der steuerlichen Pauschalen für Verpflegungsmehraufwendungen. Für Tätigkeiten im Ausland gelten zukünftig ebenfalls nur noch zwei Pauschalen und dies zu den gleichen Voraus- setzungen wie im Inland. Damit werden alle beruflich veranlassten auswärtigen Tätigkeiten den gleichen Re- geln und Berechnungsmethoden unterworfen und damit generell vereinfacht. Zweitens. Steuerpolitik ist immer auch Standortpoli- tik. Unternehmen vergleichen und der Wechsel an einen anderen Standort ist nur allzu leicht. Wir brauchen in Deutschland ein einfaches, gerechtes und zeitgemäßes Unternehmenssteuerrecht, Planungssicherheit durch Rechtssicherheit und gleichzeitig Raum für effektive Weiterentwicklung. Nur so bieten wir Unternehmen die Voraussetzungen für einen in Europa und der Welt wett- bewerbsfähigen Standort. Mit dem vorliegenden Gesetz- entwurf soll die Besteuerung verbundener Unternehmen deshalb weiter vereinfacht und rechtssicherer gemacht werden. Bei der ertragsteuerlichen Organschaft wird die Erfül- lung der Voraussetzungen für die Anerkennung der Or- ganschaft erleichtert. Erforderlich für die Verlustver- rechnung innerhalb eines Konzerns ist ein wirksamer Gewinnabführungsvertrag. Formelle Fehler führten bis- lang zu einem Wegfall der Organschaft. Künftig gibt es die Möglichkeit, fehlerhafte Bilanzansätze, die auf die tatsächliche Durchführung des Gewinnabführungsver- trags durchschlagen, sowie formelle Fehler des Gewinn- abführungsvertrags hinsichtlich der Vereinbarungen zur Verlustübernahme nachträglich zu korrigieren. Für mehr Verfahrensökonomie und Rechtssicherheit im Rahmen der Besteuerung wird ein Feststellungsver- fahren zur gesonderten und einheitlichen Feststellung insbesondere des dem Organträger zuzurechnenden Ein- kommens der Organgesellschaft eingeführt. Abermals mehr Rechtssicherheit schafft auch die An- passung an Vorgaben der Europäischen Kommission und die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs. Der soge- nannte doppelte Inlandsbezug entfällt. Damit können EU/EWR-Gesellschaften mit einem Verwaltungssitz in Deutschland Organgesellschaft sein. Drittens. Einen weiteren Schritt für mehr Wettbe- werbsfähigkeit gehen wir beim Verlustrücktrag. Das deutsche System des den Veranlagungszeitraum über- greifenden Verlustabzugs entspricht internationalen Standards. Wir wollen aber, dass unsere kleineren und mittleren Unternehmen hier in Deutschland genauso gute Bedingungen haben wie anderswo in Europa. Mit der Anhebung des Höchstbetrags beim Verlustrücktrag auf 1 Million Euro bzw. 2 Millionen Euro – Einzel- bzw. Zusammenveranlagung – folgen wir dem Beispiel des französischen Steuerrechts. In Krisenzeiten können die Unternehmen durch den erweiterten Verlustrücktrag kurzfristig erhöhte Liquidität gewinnen und sind da- durch in der Lage, die Krise besser zu überstehen. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Mit der An- kündigung eines Gesetzes der Koalition zur Vereinfa- chung der Unternehmensbesteuerung und des steuer- lichen Reisekostenrechts verbinde ich Erwartungen, nicht meine Erwartungen, aber wenigstens jene im lauthals verkündeten Koalitionsvertrag. Was war das nicht für eine gewaltige Ankündigung – gerade in der Finanzpoli- tik. Wir lesen dort: Wir wollen „das Unternehmensteuer- recht weiter modernisieren und international wettbe- werbsfähig gestalten. Aufkommensneutralität sollte gewahrt bleiben. Unternehmerische Entscheidungen sollten sich – unabhängig von Rechtsform, Organisation und Finanzierung – in erster Linie nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten und nicht nach steuerlichen Aspekten richten. Auch der Holdingstandort Deutschland soll gestärkt werden. Ansatzpunkte für eine Prüfung sind: eine Neu- strukturierung der Regelungen zur Verlustverrechnung, die grenzüberschreitende Besteuerung von Unterneh- menserträgen, die Einführung eines modernen Gruppen- besteuerungssystems anstelle der bisherigen Organ- schaft.“ Und so weiter und so weiter. So liest sich das im Ko- alitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP. Einfach, niedrig und gerecht – seit drei Jahren versucht sich die schwarz-gelbe Regierung mit dem Regieren: Wir erin- nern uns auch an die zweijährige Steuererklärung – die nicht kam –, an die Ergebnisse der „Kommission zur Er- arbeitung von Vorschlägen zur Neuordnung der Ge- meindefinanzierung“ – die es nicht gibt –, an die „noch in dieser Legislaturperiode allen Bürgern auf Wunsch … vorausgefüllte Steuererklärung“ –, auf die manche heute noch warten. Die von der Bundesregierung nun entworfene Mini- Unternehmensteuerreform, die unter anderem Änderun- gen bei der Verlustverrechnung, der Organschaft und dem steuerlichen Reisekostenrecht umfasst, zeigt einmal mehr, dass das von der schwarz-gelben Bundesregierung vollmundig angekündigte System einfacher, niedriger und gerechter Steuern an der Realität scheitert. Ein wenig mehr hätten die Unternehmen selbst unter Schwarz-Gelb verdient, weil starke Unternehmen, Ar- beitsplätze und gute Arbeit auch von politischen Rah- menbedingungen abhängen. Wir werden sehen, wie sich die Politik der vergangenen drei Jahre in der näheren Zu- kunft bewährt, wenn die Zeit noch ein wenig fortge- schritten ist und die schwarz-gelbe Politik zu wirken be- ginnt. Wir hätten wenigstens Verbesserungen im Umwand- lungssteuerrecht erwartet. Auch der grenzüberschrei- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23649 (A) (C) (D)(B) tende Verlustausgleich verdient nach der Rechtsprechung des EuGH zur Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer angepackt zu werden. Oder denken Sie an die Fragen rund um grenzüberschreitende Ge- winnausschüttungen von hybriden Gesellschaftsformen. Es bleibt viel zu tun, und wir konstatieren steuerpolitisch drei verlorene Jahre. Die wenigen Regelungen bei den Verpflegungsmehr- aufwendungen, bei den Fahrtkosten, den Unterkunfts- kosten oder die Verdoppelung des Höchstbeitrages beim Verslustrücktrag rechtfertigen die Überschrift des Geset- zes nicht und strafen die Koalitionsvereinbarung Lügen. Die zu erwartenden Steuermindereinahmen des Ge- setzentwurfs beziffert die Bundesregierung selbst mit jährlich 290 Millionen Euro. Angesichts der schwierigen Haushaltslage von Bund, Ländern und Kommunen über- legen wir, die Rechtsänderungen in der jetzt vorgeschla- genen Form abzulehnen. Unser abschließendes Urteil werden wir nach dem Beratungsgang erarbeiten. Gerade vor dem Hintergrund der in dieser Woche vorab bekannt gewordenen Ergebnisse des vierten Armuts- und Reich- tumsberichts der Bundesregierung ist es nicht verant- wortlich, die öffentlichen Haushalte leichtfertig finan- ziell weiter zu schwächen. Eine besondere Prüfung verdienen die Regelungen zum Gewinnabführungsvertrag. Ich bin gespannt, ob mit dem Gesetz die gravierenden Probleme beim EAV, Er- gebnisabführungsvertrag, hinsichtlich seiner Fallbeilwir- kung für Organschaften bei kleinen Formulierungs- oder Schreibfehlern beseitigt werden. Alles konnten wir noch nicht reflektieren – war die Einbringung dieses Gesetzes doch auch wieder eher ein Überraschungsangriff – nach dreijähriger gespannter Wartezeit auf eine Unternehmensteuerreform. Wir müs- sen morgen früh zwischen sieben und acht Uhr in einer Sondersitzung des Finanzausschusses das Verfahren wieder geradebügeln. Mit solcher Zeitplanung ist eine seriöse Gesetzgebung kaum möglich – dies alles zeigt ein wenig, in welchem Zustand sich Regierung und Ko- alition befinden. Der Parlamentarismus wird zum wie- derholten Male gestresst. Ziel einer vernünftigen Unternehmensteuerpolitik muss es sein, die Zukunft gerade auch der kleinen und mittelständischen Unternehmen – und damit auch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – zu sichern und dabei die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden zu stärken. Von diesem Ziel sind die auf ein Minimum gestutzten Pläne der schwarz-gelben Koalition zur Un- ternehmensbesteuerung weit entfernt. Schade, eine wei- tere Chance wurde vertan. Holger Krestel (FDP): Die Stärke und Stabilität der deutschen Wirtschaft – der Finanzkrise zum Trotz– fun- diert zu einem nicht unerheblichen Maß auf der Export- stärke deutscher Unternehmen. Zahlreiche Joint Ven- tures und Zusammenarbeiten über Landesgrenzen hinweg sorgen zudem für Technologieaustausch, neue Beziehun- gen und Absatzmärkte. Die informationstechnisch weit fortgeschrittene Umwelt, in der wir leben, unterstützt diese Entwicklung. Trotzdem bleibt das persönliche Ge- spräch mit einem Geschäftspartner eine vertrauensbil- dende Basis, auf die in der Praxis nicht verzichtet wer- den kann. Genauso wichtig sind Begutachtungen und Bewertung der Lage vor Ort, um sich gegen böse Über- raschungen zu wappnen und Möglichkeiten frühzeitig zu erkennen. Regelmäßig reisende Mitarbeiter sind daher eine unentbehrliche Säule für Geschäftsbeziehungen und deren Aufbau sowie deren Abwicklung und Koordina- tion im Ausland. Insbesondere für mittelständische Unternehmen ohne große Steuerabteilungen bedeutet die komplexe Abrech- nung der Reisekosten stets einen großen Aufwand. Mit einem ständigen Innovationsprozess bleibt der deutsche Mittelstand international wettbewerbsfähig und bildet so das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Damit auf die- sem Wege weiterhin Wohlstand in Deutschland garan- tiert und Arbeitsplätze gesichert werden können, müssen wir genauso innovativ sein und stets Rahmenbedingun- gen anbieten, welche der globalen Dynamik gerecht werden. Hierzu gehört vor allem ein modernes, gerech- tes und einfaches Steuerrecht, welches einheimischen Unternehmen keine Steine durch zu viele Sonderrege- lungen in den Weg legt und trotzdem zielgenau bleibt. So haben wir in dem Gesetzentwurf die Verfahren zur Abrechnung von Dienstreisen im Bereich von Verpfle- gungsmehraufwendungen, Fahrtkosten, Übernachtungs- kosten sowie der Dienstwagenbesteuerung deutlich ver- einfacht und aktuellen Gegebenheiten angepasst. Dadurch wird Unternehmen als auch den Finanzämtern unnötiger Aufwand in der Verwaltung erspart. Das Gleiche gilt für Mehraufwendungen für berufsbedingte doppelte Haus- haltführung, welche nun pauschal mit bis zu 1 000 Euro berücksichtigt werden und nicht mehr über die Größe der Wohnung mit komplizierten Ermittlungsverfahren für Vergleichsmieten. Auch bei der Vereinfachung der Unternehmensbe- steuerung haben wir der internationalen Entwicklung Rechnung getragen. Hierzu wurde der Höchstbetrag beim Verlustrücktrag von derzeit 511 500 Euro auf 1 Million Euro beziehungsweise auf 2 Millionen Euro bei zusammen veranlagten Ehegatten angehoben, um das deutsche und französische Steuerrecht zu harmoni- sieren. Zudem werden die Regelungen zur steuerlichen Organschaft vereinfacht und an aktuelle Rechtsprechung angepasst. Dies betrifft sowohl die Durchführung als auch die formalen Voraussetzungen bei dem Abschluss eines Gewinnabführungsvertrags, der Voraussetzung ist für eine Verlustverrechnung innerhalb eines Konzerns. Außerdem wird, wie in der Praxis schon längst gehand- habt, die ertragsteuerliche Organschaft nun auch gesetz- lich an die Vorgaben der Europäischen Kommission und die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs angepasst. Wenn sie einen Verwaltungssitz in Deutschland haben, können Gesellschaften aus der EU/EWR nun auch Or- gangesellschaft sein und damit Teil eines Gewinnabfüh- rungsvertrags. Im Großen und Ganzen schaffen wir also eine Moder- nisierung und Entbürokratisierung des Steuerrechts, das deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb 23650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 (A) (C) (D)(B) dabei helfen wird, ihre starke Position zu verteidigen, und Ressourcen in der Verwaltung freisetzt. Wir schaf- fen eine jährliche Entlastung von bis zu 290 Millionen Euro, die den hart arbeitenden Männern und Frauen im deutschen Mittelstand zugutekommen und helfen, ihre Arbeitsplätze zu sichern. Wir schaffen eine internatio- nale Harmonisierung und Umsetzung europäischer Vor- gaben, welche die Barrieren in unserem wichtigsten Ab- satzmarkt weiter schrumpfen lassen. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung für den vorlie- genden Gesetzentwurf. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der vorliegende Ge- setzentwurf zur Reform der Unternehmensbesteuerung sowie des steuerlichen Reisekostenrechts wurde uns erst am 24. September 2012 in den Abendstunden zugeleitet, soll aber bereits heute – drei Tage später – im Plenum in die erste Lesung gehen. Das ist keine hinnehmbare par- lamentarische Verfahrensweise; das möchte ich festhal- ten. Denn in der kurzen Zeit ist es unmöglich, sich mit einem sehr ins Detail gehenden Gesetzentwurf zu befas- sen, übrigens auch vor dem Hintergrund, dass die Bun- desregierung seit Beginn der Legislaturperiode eine sol- che Reform angekündigt hatte. Es ist daher mehr als unverständlich, warum das jetzt alles im Hauruckverfah- ren über die Bühne gehen soll. Auch stelle ich beim Lesen des Gesetzentwurfes fest, dass von den großspurigen Ankündigungen der Bundes- kanzlerin – ich erinnere an den gemeinsamen Brief vom 17. August 2011 von Frau Merkel und Sarkozy an den Präsidenten des Europäischen Rates Hermann Van Rom- puy – zur Reform der Unternehmensbesteuerung nicht viel übrig geblieben ist. Erinnern wir uns: Es gab eine gemeinsame deutsch-französische Initiative von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy für einen Vorschlag einer gemeinsamen Unternehmensteuer in beiden Ländern, ein- schließlich der Harmonisierung der Bemessungsgrund- lage und der Steuersätze. Doch aus der Initiative, den großen Versprechungen und Ankündigungen zu Fragen der Neustrukturierung der Regelungen bei der Verlust- verrechnung, der Einführung eines modernen Gruppen- besteuerungssystems sowie der grenzüberschreitenden Besteuerung von Unternehmenserträgen ist nichts ge- worden. Übrig blieb nur dieser kleine Gesetzentwurf, verbunden mit einer längst überfälligen Vereinfachung des steuerlichen Reisekostenrechts. Woran das liegt, möchte ich von der Bundesregierung wissen, auch ob das jetzt Ihre großangekündigte Unter- nehmensteuerreform war. Die Bundesregierung hatte beim Bundesfinanzminis- terium extra eine Arbeitsgruppe „Verlustverrechnung und Gruppenbesteuerung“ eingerichtet, die diese Fragen klären sollte. Ihr Ergebnis, das sie im Februar 2012 in ei- nem Grünbuch der Deutsch-Französischen Zusammen- arbeit veröffentlichte, zeigte jedoch, dass die Pläne der Koalition nicht aufkommensneutral umgesetzt werden können. Das Ergebnis ist sicherlich mit ursächlich, wa- rum hier seitens der Bundesregierung weiter nichts pas- sierte. Zum ersten Punkt im Gesetzentwurf. Sie schlagen Vereinfachungen im steuerlichen Reisekostenrecht bei Regelungen zu Verpflegungsmehraufwendungen und Fahrtkosten vor. Die Linke fordert hier bereits seit lan- gem eine Vereinfachung, für die Steuerverwaltung und die Unternehmen. Daher begrüßen wir, dass die Bundes- regierung das Thema endlich anpackt. Ein zweiter Punkt im Gesetzentwurf ist die Vereinfa- chung bei der Unternehmensbesteuerung, schwerpunkt- mäßig der Bereich Verlustrücktrag sowie Regelungen zur steuerlichen und ertragsteuerlichen Organschaft. Das Thema Verlustverrechnung sollte für die Bundesregie- rung oberste Priorität haben, denn diese bergen für die öffentlichen Haushalte ein enormes steuerliches Ausfall- risiko. Wir reden hier von körperschaftsteuerlichen Ver- lusten in Höhe von 605 Milliarden Euro im Jahr 2006 (bis zum Jahr 2004 bei der Gewerbesteuer angehäufte Verlustvorträge in Höhe von 569 Milliarden Euro). Diese Verlustvorträge sind übrigens stark konzentriert, was wiederum das Risiko eines plötzlichen Ausfalles in einem Jahr erhöht; denn die potenziellen Steuerausfälle übersteigen das jährliche Aufkommen aus diesen Steuer- arten um ein Vielfaches. Ich machte Sie bereits im Fe- bruar 2011 mit einer Kleinen Anfrage auf der Drucksa- che 17/4279 auf diese Problematik aufmerksam. Daher hätte ich mir hier von der Bundesregierung endlich eine Lösung gewünscht. Doch nichts dergleichen. Stattdessen wollen Sie den Höchstbetrag für Verlustrückträge noch erhöhen. Sie können nicht die Augen schließen und den- ken, die Probleme seien dann weg. Das Thema Verlust- verrechnung wird uns irgendwann einholen. Wir fordern Sie daher noch einmal auf: Schränken Sie die Verlustverrechnung ein, und sichern Sie somit Steuer- einnahmen und machen Sie Vorschläge, wie mit den massiven angehäuften Verlusten umgegangen werden kann. Wir fordern von Ihnen: Legen Sie einen Gesetz- entwurf vor, der die Möglichkeit des interperiodischen steuerlichen Abzugs von Verlusten vom Gesamtbetrag der Einkünfte nach § 10 d des Einkommensteuergesetzes und § 8 des Körperschaftsteuergesetzes sowie vom maß- gebenden Gewerbeertrag nach § 10 a des Gewerbesteu- ergesetzes auf die fünf folgenden Veranlagungszeit- räume beschränkt. Außerdem ist der steuerliche Abzug so zu regeln, dass er vorhandene Verlustvorträge in der zeitlichen Reihenfolge ihres Anfalls mindert. Eine ange- messene Übergangsregelung ist natürlich zu berücksich- tigen. Wir haben demnächst die Beratungen im Finanzaus- schuss sowie eine Anhörung. Dort bleibt hoffentlich noch genügend Zeit, Änderungen bzw. Ergänzungen vorzunehmen. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wir beraten heute in erster Lesung über ein Ge- setz zur Unternehmensbesteuerung der Koalition. Darin sollen drei durchaus sinnvolle Themen neu geregelt wer- den: Änderung des steuerlichen Reisekostenrechts, Än- derung des Verlustrücktrags und eine Überarbeitung der Regelung der steuerlichen Organschaft. So weit, so gut. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23651 (A) (C) (D)(B) Aber man muss diese Gesetzesinitiative doch verglei- chen mit dem, was die Koalition sich für diese Legislatur vorgenommen hatte: „Wir wollen das Unternehmen- steuerrecht weiter modernisieren und international wett- bewerbsfähig machen“, so im Koalitionsvertrag. Und weiter heißt es: „Aufkommensneutralität sollte gewahrt bleiben.“ Und was ist daraus geworden? Eine Milliar- densubvention für die Hotels, ein zweijähriges Gezerre und Verhandeln hinter verschlossenen Türen über eine Gewerbesteuerreform, die dann sang- und klanglos beer- digt wurde, und ein 12-Punkte-Programm zur Unterneh- mensteuer in diesem Februar, das eingestampft wurde, ehe die Tinte des Papiers trocken war. Jetzt kommt ein dürftiges 3-Punkte-Papierchen, von dem der Obmann der Unionsfraktion meinte, man könne das doch bitte schön in zwei Wochen durchs Parlament winken. Bera- tung überflüssig. Das Gesetz ist noch nicht mal aufkom- mensneutral ausgestaltet, sondern verursacht knapp 300 Millionen Euro Steuerausfälle im Jahr. Wer so mit den durchaus vorhandenen Baustellen im Bereich des Unternehmensteuerrechtes umgeht, hat nur eines bewie- sen: Er kann es nicht. Wir Grüne wollen, dass Reformen im Bereich der Un- ternehmensbesteuerung drei Zielen genügen – nachhal- tig, gerecht und europäisch. Deutschland ist aktuell ein attraktiver Wirtschaftsstandort. Es fließt mehr Kapital nach Deutschland rein, als aus Deutschland raus. Die Besteuerung von Unternehmen ist mit rund 30 Prozent im weltweiten Vergleich wettbewerbsfähig. Das sieht ja wohl die Koalition genauso. In Hinblick auf die Haus- haltskonsolidierung muss deshalb das Ziel bei allen Maßnahmen zur Veränderung der Steuerstruktur die Aufkommensneutralität sein. Wir sehen keinen Spiel- raum für Reformen im Unternehmensteuerbereich, der zu Einnahmeminderungen führt. Mit der Finanzkrise sind die Schulden in Deutschland nochmals dramatisch angewachsen, und das vor dem Hintergrund strukturell unterfinanzierter Haushalte der öffentlichen Hand. Das hatte Schwarz-Gelb offensichtlich erkannt; denn im so- genannten 12-Punkte-Plan zur Unternehmensbesteue- rung der Koalition von Februar dieses Jahres gab es Vor- schläge mit dem Schließen von Steuerschlupflöchern zum Beispiel bei der Problematik von „weißen Einkünf- ten“ bei der Dividendenbesteuerung, die zu Einnahme- verbesserungen geführt hätten. Diese sinnvollen Maß- nahmen sind jedoch einfach im Nirwana verschwunden. Bei der Reform der Organschaft bin ich froh, dass die Koalition hier nun auf einen Kurs eingeschwenkt ist, den wir Grüne schon am Anfang der Diskussion gefordert haben, nämlich eine Nachbesserung des Gewinnabführ- vertrages und keine großen Reformen. Diese sind nicht machbar, solange sie nicht aufkommensneutral umge- setzt werden können, und auch dann grundsätzlich nur, wenn sie einer europäischen Harmonisierung der Unter- nehmensbesteuerung dienen. Ob die Vorschläge zur Ver- besserung der Rechtssicherheit so weit sinnvoll ausge- staltet sind, wird sich in der Anhörung im Finanz- ausschuss zeigen. Gerade in diesem Punkt dürfen wir nicht mit einer unausgegorenen Regelung möglicher- weise den Zustand der Rechtsunsicherheit verlängern oder verlagern. Die Koalition hat drei Jahre Zeit gehabt, und jetzt kommen Sie mit einer entsprechenden Geset- zesvorlage und wollten das in zwei Wochen abhaken. Wie heißt es so schön in jeder zweiten Ihrer Verlautba- rungen in diesen Tagen bezüglich der Bankenunion in Europa: „Sorgfalt vor Geschwindigkeit“. Richtig, und genau das fordern wir hier ein. Noch kurz zu den beiden weiteren Punkten des Ge- setzentwurfes: Mit der Verdoppelung des Verlustrück- trags auf 1 Million Euro greifen Sie ein Element zur europäischen Harmonisierung der Unternehmensbesteu- erung auf. Genau dies hatten wir Grüne gefordert. Diese Regelung ist so gut wie aufkommensneutral und bringt Liquidität für kleinere und mittlere Unternehmen in Kri- senzeiten. Das hätte man schon früher entscheiden kön- nen. Die Reform des steuerlichen Reisekostenrechts ist von der Zielrichtung der Vereinfachung, Entbürokrati- sierung und Rechtssicherheit insbesondere für kleinste, kleine und mittlere Unternehmen grundsätzlich zu be- grüßen. Hier müssen wir aber die Aufkommenswirkung berücksichtigen: Die Maßnahme wird 220 Millionen Euro im Jahr kosten. Die Kritik bleibt deshalb bezüglich der damit verbundenen Steuerausfälle. Hier hätte die Koalition entweder auf eine aufkommensneutrale Aus- gestaltung achten oder – vielleicht noch sinnvoller – an anderer Stelle im Unternehmensteuerbereich gegen- finanzieren müssen. Sie hatten doch wichtige Elemente noch im Frühjahr aufgeführt, die nicht nur mehr Steuer- gerechtigkeit, sondern auch eine Einnahmeverbesserung gebracht hätten. Es ist absolut unerträglich, wenn Sie heute hier einen Gesetzentwurf vorlegen, der 300 Millio- nen Euro kostet und sich mit dem Thema Aufkommens- neutralität – Ihrem eigenen im Koalitionsvertrag formu- lierten Anspruch! – überhaupt nicht beschäftigt. Eigentlich ist fast wichtiger festzustellen, was nicht in diesem Gesetz steht. Es gibt aktuell noch so viele ent- scheidende Baustellen bei der Unternehmensbesteue- rung, für die die Koalition einfach keine Lösungen vor- legt. Aber wir können definitiv nicht damit rechnen, dass diese Koalition überhaupt noch etwas Vernünftiges zu- stande bringt. Machen wir das Beste draus und versu- chen, mithilfe des Struckschen Gesetzes „Kein Gesetz verlässt das Parlament so, wie es hineingegeben wurde“ wenigstens die drei genannten Punkt so weit zu bringen, dass sie zustimmungsfähig werden. Dann ist wenigstens etwas gewonnen. Das werden wir in den Beratungen und den Anhörungen in den nächsten Wochen versuchen mit dem Ziel, dass wir zumindest bei den vorliegenden drei Themen eine gesetzliche Regelung erarbeiten, die den Unternehmen hilft. In diesem Sinne hoffe ich auf eine fruchtbare Arbeit im Ausschuss. 195. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3Mietrecht ZP 3, TOP 4 bVermögensabgabe TOP 47, ZP 4Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 48Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 5Aktuelle Stunde zu unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Koalition TOP 5, ZP 6Beitrag in der gesetzlichen Rentenversicherung TOP 6Kinder- und Jugendpolitik TOP 7Geringfügige Beschäftigung TOP 8Begünstigung der energieintensiven Industrie TOP 9Jahresbericht 2011 des Wehrbeauftragten TOP 10Barrierefreier Zugang zu Kultur und Medien TOP 11Tätigkeitsbericht 2011 des Petitionsausschusses TOP 12Verjährung bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger TOP 18, ZP 7EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetz TOP 14Ausbeuterische Kinderarbeit TOP 15Entwicklungsorientierte Wirtschaftstätigkeit TOP 16Israelisch-palästinensischer Konflikt TOP 17Bundes-Immissionsschutzgesetz ZP 8Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs TOP 19Zivile Krisenprävention TOP 20Energie- und Stromsteuergesetz TOP 21Glücksspielsucht TOP 22Geldwäschegesetz TOP 23Forschung und Lehre nur für zivile Zwecke TOP 24Neuordnung der Postbeamtenversorgungskasse TOP 25Humanitäre Katastrophe in der Sahel-Region TOP 26Berufsqualifikationen TOP 27Angemessenheit der Kosten für Unterkunft/Heizung TOP 28Gemeinsame europäische Fischereipolitik TOP 29Lebenspartnerschaft im öffentlichen Dienstrecht TOP 30Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur TOP 31Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen TOP 32Energiewirtschaftsrechtliche Vorschriften TOP 33Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU TOP 34Partnerschaftsgesellschaften mit beschränkter Haftung TOP 35Seehandelsrecht TOP 36Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr TOP 37Patentrechtliche Vorschriften TOP 38Regelung des Assistenzpflegebedarfs TOP 39Kulturelle Bildung Kinder und Jugendlicher TOP 40SGB IX (unentgeltliche Beförderung) ZP 9Unternehmensbesteuerung Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719500000

Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in die
Tagesordnung eintreten, darf ich Sie bitten, sich von Ih-
ren Plätzen zu erheben.

Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges
Mitglied Friedrich Zimmermann, der nach längerer
schwerer Krankheit am 16. September gestorben ist. Er
wurde 87 Jahre alt.

Friedrich Zimmermann wurde am 18. Juli 1925 in
München geboren. Er gehörte also der Generation an,
die die Schrecken nationalsozialistischer Diktatur und
den Zweiten Weltkrieg aktiv miterlebt hat.

Der CSU trat er schon 1948 bei und begann, unsere
noch junge Demokratie mitzugestalten. In Bayern setzte
er sich zunächst dafür ein, die damals „neubayerischen“
fränkischen und schwäbischen und überwiegend evange-
lischen Bevölkerungsteile zu integrieren und vor allem
die Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen aufzuneh-
men, die etwa ein Viertel der bayerischen Bevölkerung
umfassten.

In seiner Partei hat Friedrich Zimmermann schon bald
herausgehobene Ämter übernommen. Unter anderem
war er von 1956 bis 1963 Generalsekretär und von 1979
bis 1989 stellvertretender Vorsitzender seiner Partei.

1957, also vor 55 Jahren, wurde Friedrich
Zimmermann zum ersten Mal Mitglied des Deutschen
Bundestages, in den er stets direkt gewählt worden ist.
Er gehörte diesem Parlament nicht weniger als 33 Jahre
an.

Friedrich Zimmermann war unter anderem von 1965
bis 1972 Vorsitzender des Verteidigungsausschusses.
Seit 1961 Vorstandsmitglied der CDU/CSU-Fraktion,
hatte er als CSU-Landesgruppenchef und stellvertreten-
der Fraktionsvorsitzender von 1976 bis 1982 maßgebli-
chen Anteil an der Politik der damaligen Oppositions-
fraktion.

Über die Parteigrenzen hinweg hat sich Friedrich
Zimmermann damals besonders mit seiner besonnenen

und klugen Mitwirkung im Großen Krisenstab, der an-
lässlich der Entführung von Hanns Martin Schleyer von
Bundeskanzler Helmut Schmidt eingerichtet worden
war, großen Respekt und Anerkennung erworben.

1982 berief ihn Bundeskanzler Helmut Kohl als Bun-
desinnenminister in sein Kabinett. Er war auch hier im
besten demokratischen Sinne streitfreudig und scheute
während seiner Amtszeit nicht vor harten Auseinander-
setzungen zurück. Einmal von ihm als richtig und wich-
tig erkannte Positionen vertrat er mit Nachdruck. Breite
Anerkennung fand er für seine Pionierleistungen in der
Umweltpolitik, wo ihm in der Europäischen Gemein-
schaft ein Durchbruch mit der Einführung des Katalysa-
tors und des bleifreien Benzins gelang. 1989 übernahm
er als Bundesminister das Verkehrsministerium.

Nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl
1991 schied Friedrich Zimmermann aus der Regierung
und dem Bundestag aus. In seiner bemerkenswerten Ab-
schiedsrede erklärte er nicht ohne ein Augenzwinkern:

Ich bitte alle um Vergebung, denen ich im Laufe
dieser Jahre auf die Füße getreten bin, aber ich habe
es immer so gemeint.

Friedrich Zimmermann hat über viele Jahre hinweg
die Geschicke unseres Landes mitgestaltet. Er hat sich
innerhalb und außerhalb des Bundestages mit seinem
politischen und parlamentarischen Engagement um un-
ser Land verdient gemacht.

Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Seinen Angehörigen spreche ich im Namen des ganzen
Hauses unsere Anteilnahme aus.

Ich danke Ihnen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 18. September
hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang
Schäuble, seinen 70. Geburtstag gefeiert. Im Namen des
ganzen Hauses möchte ich ihm dazu herzlich gratulieren
und alles Gute wünschen.


(Beifall)






Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Lieber Kollege Schäuble, es gibt kein Mitglied dieses
Parlaments, das dem Deutschen Bundestag so lange an-
gehört wie Sie. Niemand hat über so viele Jahre in so
vielen, so unterschiedlichen und so herausragenden Äm-
tern seinen Dienst für unser Land geleistet. Die große
Wertschätzung, die Sie weit über die eigene Partei und
Fraktion hinaus genießen, kommt auch darin zum Aus-
druck, dass der Deutsche Bundestag gestern, nach einer
Vereinbarung aller Fraktionen, seine Ausschussberatun-
gen vorzeitig beendet bzw. unterbrochen hat, um mög-
lichst vielen Mitgliedern des Hauses die Teilnahme an
dem Festakt zu Ihren Ehren im Deutschen Theater zu er-
möglichen.

Ich weise schon jetzt vorsichtshalber darauf hin, dass
sich aus dieser großzügigen Regelung kein Rechtsan-
spruch für die Gestaltung runder Geburtstage für alle
Mitglieder des Hauses ergibt.


(Heiterkeit)


Lieber Kollege Schäuble, ich freue mich, dass ich Ih-
nen im Namen des ganzen Hauses noch einmal unsere
guten Wünsche in einem anderen, ähnlich bedeutenden
Theater in sehr viel knapperer, aber nicht weniger herzli-
cher Form übermitteln darf. Alle guten Wünsche für die
nächsten Jahre.


(Beifall)


Ebenfalls am 18. September hat die Vorsitzende des
Haushaltsausschusses, unsere Kollegin Petra Merkel,
ihren 65. Geburtstag sowie am 24. September der Kol-
lege Peter Götz seinen entsprechenden Geburtstag ge-
feiert. Auch Ihnen alle guten Wünsche für das neue Le-
bensjahr.


(Beifall)


Wir müssen vor Eintritt in die Tagesordnung noch
eine Wahl durchführen. Für den aus dem Beirat der
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekom-
munikation, Post und Eisenbahnen ausscheidenden
Kollegen Manfred Nink schlägt die Fraktion der SPD
vor, den Kollegen Ingo Egloff als stellvertretendes Mit-
glied zu berufen. Sind Sie mit diesem Vorschlag einver-
standen? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der
Kollege hiermit in den Beirat gewählt.


(Zurufe von der SPD: Vorstellen! – Große Bedenken!)


– Sie wissen, dass die auf diese Weise, wie ernsthaft
auch immer geäußerten Bedenken im Protokoll des
Deutschen Bundestages erscheinen,


(Heiterkeit)


und klären das am besten bilateral mit dem gleichwohl
gewählten Kollegen.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Ratifizierung des Vertrages vom 2. Februar
2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabi-
litätsmechanismus

– Drucksache 17/10767 –

(siehe 194. Sitzung)


ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP:

Besorgnis über die Parlamentswahlen in
Weißrussland

(siehe 194. Sitzung)


ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Lisa
Paus, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögens-
abgabe

– Drucksache 17/10770 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren

Ergänzung zu TOP 47

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor-
schlag für einen Beschluss des Rates zur Fest-
legung eines Mehrjahresrahmens (2013–2017)

für die Agentur der Europäischen Union für
Grundrechte

– Drucksache 17/10760 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Freiheit und Unabhängigkeit der Medien si-
chern – Vielfalt der Medienlandschaft erhal-
ten und Qualität im Journalismus stärken

– Drucksache 17/10787 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Entwicklungspolitische Zusammenarbeit fit
machen für die Kooperation mit fragilen Staa-
ten

– Drucksache 17/10791 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Bas, Angelika Graf (Rosenheim), Dr. Marlies
Volkmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Kinder- und Jugendgesundheit: Ungleichhei-
ten beseitigen – Versorgungslücken schließen

– Drucksache 17/9059 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:

Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn –
Unterschiedliche Auffassungen innerhalb der
CDU/CSU und FDP

ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Anton
Schaaf, Anette Kramme, Petra Ernstberger, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Schaffung eines Demographie-Fonds in der ge-
setzlichen Rentenversicherung zur Stabilisie-

(Demographie-Fonds-Gesetz)


– Drucksache 17/10775 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter
Aumer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Volker Wissing,
Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP

Bankenunion – Subsidiaritätsgrundsatz be-
achten

– Drucksache 17/10781 –

ZP 8a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung personenbeförde-
rungsrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 17/8233 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
Martin Burkert, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD
sowie den Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter,
Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung personenbeförde-
rungs- und mautrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 17/7046 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)

– Drucksache 17/10857 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Sören Bartol

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Thomas Lutze,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Keine Liberalisierung des Buslinienfernver-
kehrs – Für einen Ausbau des Schienenver-
kehrs in der Fläche
– Drucksachen 17/7487, 17/10857 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Sören Bartol

ZP 9 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung und Vereinfachung der
Unternehmensbesteuerung und des steuerli-
chen Reisekostenrechts
– Drucksache 17/10774 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

ZP 10 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:

Konsequenzen aus dem Entwurf des 4. Ar-
muts- und Reichtumsberichts

Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 4 a, 45
und 47 h abgesetzt. Von der Frist für den Beginn der Be-
ratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste
dargestellten Änderungen im Ablauf unserer Tagesord-
nung.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:

Der in der 187. Sitzung überwiesene nachfolgende
Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss

(4. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden:


Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Versicherungsteuergesetzes und des

(Verkehrsteueränderungsgesetz – VerkehrStÄndG)


– Drucksache 17/10039 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Ich darf Sie fragen, ob Sie mit all diesen gerade vor-
getragenen Ergänzungen und Änderungen einverstanden
sind. – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das hier-
mit so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
energetische Modernisierung von vermietetem
Wohnraum und über die vereinfachte Durch-

(Mietrechtsänderungsgesetz – MietRÄndG)


– Drucksache 17/10485 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Halina Wawzyniak, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Wohnen muss bezahlbar bleiben

– Drucksache 17/10776 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Ingrid Hönlinger, Bettina Herlitzius,

weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Mietrechtsnovelle nutzen – Klimafreundlich
und bezahlbar wohnen

– Drucksache 17/10120 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Bundesministerin für Justiz, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Die Energiewende ist eine der zentra-
len gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer
Zeit. Ein großes Potenzial für Energieeffizienz liegt im
Gebäudebestand. Deshalb spielt die Wohnungswirtschaft
für das Umweltkonzept der Bundesregierung und für die
Energiewende eine wichtige Rolle.

Ein modernes, auf Klimaschutz ausgerichtetes Miet-
recht kann einen eigenen Beitrag zur Energiewende leis-
ten, ohne die soziale Ausgewogenheit aus den Augen zu
verlieren. Aber es ersetzt nicht das, was an Fördermaß-
nahmen und Verbesserungen der Rahmenbedingungen
für die Sanierung im Wohnungsbestand notwendig ist.
Die Vorschläge dazu liegen leider seit Monaten im Bun-
desrat. Ich kann nur sagen: Auch dieses Paket gehört
dazu.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Um höhere Energieeffizienz des Gebäudebestandes
tatsächlich zu bekommen, müssen Anreize geschaffen
werden, gerade auch für Vermieter von wenigen Woh-
nungen, damit auch sie diese Möglichkeiten nutzen und
tatsächlich die notwendigen energetischen Modernisie-
rungen durchführen. Da setzt unser Gesetzentwurf an.

Wir wollen, und zwar in sehr ausgewogener Weise,


(Widerspruch der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE] – Ingo Egloff [SPD]: Na!)


damit ermöglichen, dass Sanierungsmaßnahmen, die im
Durchschnitt – wenn es sich um Fassaden, um Fenster,
um anderes handelt – in einer Zeit von drei Monaten
durchgeführt werden, geduldet werden und dass für
diese Zeit, wenn es zumutbar ist, keine Forderungen
nach Mietminderungen erhoben werden.





Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


(A) (C)



(D)(B)



(Widerspruch der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Das ist ein behutsames Vorgehen mit dem Ziel, gerade
die privaten Vermieter dazu zu ermuntern, zu investie-
ren, und zwar in einer Weise, dass es auch dem Mieter
zugutekommt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Behutsam ist anders!)


Es kommt dem Mieter nämlich zugute, wenn es künftig
niedrigere Nebenkosten gibt, weil der Energieverbrauch
verringert wird. Genau dazu dienen die von uns zu be-
fördernden energieeffizienzsteigernden Maßnahmen.

Damit schafft der Gesetzentwurf auch mehr Rechts-
sicherheit. Natürlich gehört es zu den legitimen und
selbstverständlichen Interessen des Mieters, zu wissen,
welche energiesparenden Maßnahmen er akzeptieren
muss und welche Konsequenzen sich für ihn daraus ab-
leiten. Genau das gilt auch für den Vermieter, der inves-
tiert, der Geld in die Hand nimmt, der damit zu mehr
Energieeffizienz beiträgt, aber damit eben auch den Wert
seiner Mietwohnung erhöht.

Wir ändern nichts an der seit vielen Jahren bestehen-
den Regelung, dass von den Modernisierungskosten
– das gilt dann eben auch für Sanierungskosten – in kei-
nem Fall mehr als 11 Prozent jährlich auf die Miete um-
gelegt werden dürfen. Wenn wir uns die Praxis an-
schauen, dann erkennen wir, dass diese Spanne von
11 Prozent von vielen Vermietern gar nicht ausgeschöpft
wird, obwohl sie es nach geltendem Recht tun könnten.

Angesichts der großen Herausforderung der Energie-
wende, der wir uns gegenübersehen, bedeutet dieser Ge-
setzentwurf eine wirklich ausgewogene Anpassung von
Leistung und Gegenleistung im Mietverhältnis.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Das Gegenteil ist richtig!)


Einen weiteren wichtigen Beitrag zu Energieeffizienz
und Klimaschutz kann das sogenannte Contracting leis-
ten. Damit beschäftigt sich der Bundestag schon seit
mehreren Legislaturperioden, und nie ist es in all den
Jahren gelungen, endlich einmal einen Regelungsvor-
schlag zu unterbreiten. Wir wollen aber doch gerade,
dass, wenn ein Vermieter von größeren Wohnungsein-
heiten von der Wärmeversorgung in Eigenregie auf ge-
werbliche Wärmelieferung durch einen Dritten umstellt,
es zu mehr Energieeffizienz kommt, indem dann inves-
tiert wird, zum Beispiel in einen neuen Heizkessel. Eine
andere Möglichkeit ist, dass ein Haus mit Mietwohnun-
gen im Zuge dessen mit Fernwärme versorgt wird. Das
wollen wir befördern, weil so Energie gespart und die
Umwelt geschont wird.

Der Vermieter kann sich darauf verlassen, dass die
Umstellung in einem geordneten Verfahren durchgeführt
wird, und der Mieter weiß, dass die Umstellung nicht nur
umweltfreundlich ist, sondern für ihn auch kostenneutral
bleibt. Genau das wollen wir mit den Regelungen ge-
währleisten, die wir jetzt im Mietrecht vorsehen.

In der Haushaltsdebatte wurde von einigen Rednern
darauf hingewiesen, dass die Vertreibung von Mietern
aus angestammten Vierteln das soziale Wohngefüge ge-
fährde und dass dies insbesondere ein Problem in den
großen Städten sei. Dem kann ich nur zustimmen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dann legt doch etwas vor!)


In München, in Hamburg, in Köln oder in Berlin – wer
regiert dort, teilweise seit Jahren?


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist Bundesrecht! Das wissen Sie doch!)


Wer nutzt die rechtlichen Möglichkeiten zum Kiez- und
Milieuschutz, die gerade auf Länderebene bestehen? Ich
habe davon bisher wenig gehört. Aber wir machen jetzt
etwas mit diesem Gesetzentwurf!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie vertreiben die Mieter! Sie schmeißen sie heraus!)


– Wir schmeißen niemanden raus; im Gegenteil! Viel-
leicht haben Sie bei diesem Gesetzentwurf bemerkt, dass
wir an den Kündigungsfristen nichts ändern, sondern
dass es genau bei den Regelungen bleibt, wie wir sie der-
zeit haben.

Mit unserem Gesetzentwurf werden wir Mieter künf-
tig sogar noch besser vor Eigenbedarfskündigungen
schützen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Die Umgehung des Kündigungsschutzes bei der Um-
wandlung in Eigentumswohnungen nach dem sogenann-
ten Münchener Modell wird es zukünftig nicht mehr ge-
ben. Der Schutz vor Eigenbedarfskündigungen für
mindestens drei Jahre – nach Landesrecht übrigens dann
für bis zu zehn Jahre – wird auch greifen, wenn eine Per-
sonengesellschaft ein Mietshaus erwirbt, um die Woh-
nungen in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Genau
das hat doch dem Vorschub geleistet, was wir in man-
chen Städten erleben, nämlich dass in einer Art und
Weise umgewandelt wird, bei der die derzeitigen rechtli-
chen Regelungen eben nicht greifen. Deshalb ist der Ge-
setzentwurf, den wir hier vorlegen, ausgewogen im Hin-
blick auf Rechte und Pflichten von Mietern und
Vermietern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Etikettenschwindel! – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Unglaublich!)


Das gilt auch – erlauben Sie mir eine letzte Bemer-
kung –, wenn es um missbräuchliches Verhalten von
Mietern geht, und das gibt es; das kann man nicht leug-
nen. Um das festzustellen, braucht man nicht lange sta-
tistische Untersuchungen und tatsächliche Bewertungen;


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


da muss man sich nur einmal mit Vermietern unterhalten,
liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Vermieter stehen





Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


(A) (C)



(D)(B)


teilweise hilflos da, wenn ihre Mietwohnungen beschä-
digt werden oder sich die Mieter den Zahlungsverpflich-
tungen entziehen. Da wissen die Vermieter nicht, wie sie
ihr Eigentum, ihre Mietwohnung, wiederherrichten sol-
len oder entsprechend durchgreifen können. Auf der
Grundlage des Berliner Räumungsmodells – das haben
wir etwas weiterentwickelt – verbessern wir die Möglich-
keiten des Vermieters, hier angemessen vorzugehen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie stellen Mieter rechtlos!)


Von daher bietet der Gesetzentwurf eine gute Grund-
lage für die kommenden, mit Sicherheit sehr engagiert
geführten Beratungen zu einem wichtigen gesellschaftli-
chen Thema.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719500100

Das Wort erhält nun der Kollege Ingo Egloff für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ingo Egloff (SPD):
Rede ID: ID1719500200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Normalerweise heißt es ja: Aller guten Dinge
sind drei. – In diesem Fall, was die Mietrechtsänderung
angeht, diskutieren wir, glaube ich, das vierte oder fünfte
Mal. Trotz der diversen Referentenentwürfe und der Dis-
kussionen, die wir bisher hier im Plenum und auch im
Ausschuss geführt haben, kann man feststellen, dass das
Ding, was hier vorgelegt worden ist, leider nicht gut ge-
worden ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Immerhin haben wir jetzt einen Gesetzentwurf, mit
dem wir arbeiten können. Und ich hatte bis zu Ihrer
Rede, Frau Ministerin, die stille Hoffnung, dass es ge-
lingt, Dinge noch zu verbessern.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Vergessen Sie es!)


Aber nachdem Sie hier erklärt haben, dass wir eigentlich
gar keine soziale Schieflage in diesem Lande haben, was
die Mietensituation angeht, ist diese Hoffnung gestor-
ben. Darauf zu verweisen, dass in Hamburg, in München
und in anderen Ballungszentren Sozialdemokraten regie-
ren, wohl wissend, dass die Gesetzgebungskompetenz
für diese Sachen beim Bund liegt, das ist mehr als billig,
Frau Ministerin.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Jörg van Essen [FDP]: Das ist die Wahrheit, nichts als die reine Wahrheit!)


Der Gesetzentwurf, so wie er hier vorliegt, hat erheb-
liche Mängel:

Er blendet die Frage des sozialen Gleichgewichts völ-
lig aus, sowohl bei der energetischen Gebäudesanierung
als auch bei der Frage der steigenden Mieten insgesamt.

Er will die Gebäudesanierung erleichtern – das ist
hier noch einmal gesagt worden –, indem er den Mietern
das Recht auf Mietminderung für drei Monate abschnei-
det. Aber damit wird das Ziel nicht erreicht, im Gegen-
teil: Der Gesetzentwurf führt an dieser Stelle zu neuen
Rechtsunsicherheiten, weil mit dieser Dreimonatsrege-
lung doch nur neue Spielwiesen für Anwälte eröffnet
werden:


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Richtig!)


Ist es Instandsetzung, ist es normale Modernisierung, ist
es energetische Gebäudesanierung? Bei den ersten bei-
den Sachverhalten hat man Mietminderungsrecht, beim
letzten nicht. Das öffnet doch dem Rechtsstreit Tür und
Tor. Von daher, meine Damen und Herren, haben Sie
hiermit denjenigen, die energetisch sanieren wollen, ei-
nen Bärendienst erwiesen, nicht aber das Problem gelöst.


(Beifall bei der SPD)


Der Gesetzentwurf gibt vor, Probleme zu lösen, wo
keine sind, so bei den Mietnomaden – darauf werde ich
noch zurückkommen –, und insgesamt benachteiligt er
alle Mieter, indem er ihnen Rechte abschneidet.

Mit anderen Worten: Der Entwurf, so wie er hier vor-
liegt, meine Damen und Herren, ist in meinen Augen ein
schlechter Entwurf.

Wenn eine Untersuchung des Pestel Instituts im Auf-
trag der Kampagne „Impulse für den Wohnungsbau“
feststellt, dass der Anteil der Haushalte mit einem Ein-
kommen unter 1 500 Euro im Monat von 2002 bis 2010
von knapp 39 Prozent auf 44 Prozent gestiegen ist, und
wir gleichzeitig wissen, dass es Haushalte gibt, die
40 Prozent ihres Einkommens für Miete ausgeben müs-
sen, dann sollte eigentlich klar sein, dass hier Hand-
lungsbedarf auf der sozialen Seite besteht,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und zwar auf zwei Ebenen:

Angesichts dieser Zahlen kann man doch unschwer
feststellen, dass eine weitere Belastung dieser Haushalte
mit Kosten schwer möglich ist. Das gilt auch für die
energetische Gebäudesanierung. An dieser Stelle haben
wir ein gesellschaftliches Problem.

Angesichts der Mietenentwicklung in vielen Bal-
lungszentren ist auch Handlungsbedarf angesagt, wenn
man die soziale Spaltung der Städte und die Verdrän-
gungswettbewerbe in den Städten nicht weiter fort-
schreiten lassen will.

Die SPD-Fraktion hat hierzu Positionen vorgelegt.
Sie waren hier auch schon Gegenstand der Debatte;
trotzdem möchte ich noch einmal darauf zurückkom-
men:

Dazu zählen die Absenkung der Umlage bei der
Modernisierung von 11 auf 9 Prozent, aber auch, Miet-





Ingo Egloff


(A) (C)



(D)(B)


erhöhungen nach § 558 Abs. 3 BGB in Zukunft nur in
Höhe von 15 Prozent alle vier Jahre statt in Höhe von
20 Prozent alle drei Jahre zu gestatten.

Dazu gehört auch die Forderung – dies ist eine wich-
tige Forderung –, bei der Neuvermietung eine Kap-
pungsgrenze bei einem Betrag von 10 Prozent über der
ortsüblichen Vergleichsmiete einzuführen; denn das ist
es doch: Wenn die Wohnungen frei werden, dann ist der
Vermieter nicht gehalten, irgendwelche Grenzen zu be-
rücksichtigen, sondern kann die Miete nehmen, von der
er meint, dass er sie erzielen kann.


(Zuruf von der FDP: Wie es der Markt hergibt!)


Das führt dazu, dass an dieser Stelle die Verdrängungs-
wettbewerbe einsetzen. Deswegen kommt es auch da-
rauf an, wie die ortsübliche Vergleichsmiete berechnet
wird. So, wie sie bisher berechnet wird, führt das eben
auch dazu, dass Mieterhöhungen nicht verhindert wer-
den.


(Beifall bei der SPD)


Ich freue mich, dass die Grünen in ihrem Antrag eine
ähnliche Überlegung angestellt haben, was diese Frage
angeht. Da gibt es im Detail Unterschiede, man kann
auch darüber streiten, ob man einen Referenzzeitraum
von sechs Jahren oder zehn Jahren nimmt, und darüber
diskutieren, welche Mieten da einfließen. Aber die Rich-
tung ist in Ordnung. Auch Ihr Vorschlag, meine Damen
und Herren von den Grünen, den Landesregierungen
bzw. Kommunen das Recht einzuräumen, bestimmte
Mietobergrenzen in Gebieten einzuführen, finde ich gut
und zielführend. Das setzt an dem Vorschlag an, den das
Land Berlin im Bundesrat eingebracht hat, und das
würde den Kommunen helfen, in bestimmten Stadtbezir-
ken Wildwuchs und schlechte Entwicklungen zu beseiti-
gen.


(Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Berlin hat bei uns abgeschrieben!)


– Ja, wer nun dafür sozusagen das Urheberrecht zu bean-
spruchen hat, das lasse ich jetzt einmal dahingestellt
sein. Auf jeden Fall ist die Richtung richtig.

Die Kollegen von den Linken legen wie üblich eine
Schippe drauf. Ich finde, es schießt deutlich über das
Ziel hinaus,


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wir sind eben auch Opposition!)


wenn festgeschrieben wird: Die Miete darf 30 Prozent
des Nettoeinkommens nicht überschreiten, eine Ober-
grenze von 30 Prozent des bundesdurchschnittlichen
Haushaltseinkommens darf nicht überschritten werden. –
Ich halte das für unpraktikabel, meine Damen und Her-
ren, aber Sie mussten ja irgendetwas machen, was uns
toppt, und so sind Sie zu diesem Vorschlag gekommen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wir waren eher da!)


Das wird in der Praxis nicht funktionieren, genauso wie
es nicht funktionieren wird, die Umlage auf 5 Prozent zu

begrenzen. Dann machte keiner mehr energetische Ge-
bäudesanierung. Ebenso ist Ihre Vorstellung, die nor-
male Mieterhöhung nur bei Wohnwertverbesserung grei-
fen zu lassen, nicht zielführend; das funktioniert in dem
Markt nicht. Das führte letztendlich nur dazu, dass die
Wohnungsbestände dann nicht mehr in dem Zustand wä-
ren, in dem sie sein sollten.

Allerdings haben Sie wenigstens Vorstellungen, wenn
auch falsche, wohin die Entwicklung gehen soll. Solche
Vorstellungen hinsichtlich der sozialen Frage vermisse
ich, wie ich schon gesagt habe, bei der Regierung völlig.
Zwar hatte der Kollege Mayer in der Haushaltsdebatte
darauf hingewiesen, dass nun auch die Regierungsfrak-
tionen das Problem erkannt hätten – vielleicht gilt das
auch nur für den christlichen Teil der Regierung –, aber
anscheinend ist ja nicht daran gedacht – da können sich
die Koalitionspartner wahrscheinlich wieder nicht eini-
gen –, diese soziale Frage zu lösen.


(Zuruf von der SPD: Nichts Neues!)


Kommen wir zum Thema Mietminderung zurück.
Warum eröffnen Sie hier eine neue Spielwiese für An-
wälte, die den Gerichten zusätzliche Arbeit verschafft?
Die dreimonatige Mietminderungssperre bei energeti-
scher Gebäudesanierung wird nicht dazu führen, dass
sich irgendein Eigentümer dazu veranlasst sieht, eine Sa-
nierung durchzuführen, die er sonst nicht gemacht hätte.
Das ist schlicht und ergreifend Unsinn.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie geben hier ohne Not das Äquivalenzprinzip auf.
Die eine Seite erbringt die Leistung nicht, nämlich die
Zurverfügungstellung einer ordnungsgemäßen störungs-
freien Mietsache, aber die andere Seite soll dafür voll
zahlen. Das geht nicht, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Nun noch einmal zum Thema Mietnomaden. Ich habe
schon in der Haushaltsdebatte gesagt: Das ist wie bei
dem Scheinriesen bei Jim Knopf. Je näher man kommt,
desto kleiner wird er. Und genauso ist es hier. Je näher
man dem Thema kommt, desto kleiner wird es. Abgese-
hen von den Fällen, die die Boulevardpresse manchmal
hochjubelt, haben Sie überhaupt kein belastbares Zah-
lenmaterial.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Kollege von der Linken hat in der Haushaltsdebatte
danach gefragt. Vonseiten der Koalition wurde gesagt,
dass man keine Zahlen habe. Man wisse aber, dass dies
ein Problem sei und man irgendjemanden kennen würde,
der ein solches Problem schon einmal gehabt hat. Auf
dieser Basis wollen Sie ein Gesetz zulasten aller Mieter
ändern! Das ist eine Sauerei, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Ingo Egloff GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Sie machen sich zu Helfern von Betrügern!)





(A) (C)


(D)(B)


Wenn Sie es nicht verstanden haben, dann lesen Sie es
im Antrag der Grünen nach. Sie haben sich die Mühe ge-
macht, diese Frage genau zu klären. Sie können sich die
ganzen Positionen auf Seite 2, in der Mitte, noch einmal
durchlesen. Wichtig ist ein Satz, den Sie sich merken soll-
ten: „Dieses ‚Phänomen‘ ist auf Einzelfälle beschränkt.“
Genau das ist es. Es gibt Einzelfälle, bei denen es passiert.
Aber es ist kein gesellschaftliches Problem, das durch
eine Änderung des gesamten Mietrechts gelöst werden
muss.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein weiter Punkt. Ein Räumungsverfahren, bei dem
das Gericht noch keine endgültige Entscheidung in der
Hauptsache getroffen hat, ist rechtsstaatlich meines Er-
achtens nicht in Ordnung.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Überlegen Sie sich einmal, zu wessen Anwalt Sie sich damit machen! Wessen Sache vertreten Sie hier eigentlich?)


Entscheidend ist der Primärrechtsschutz und nicht der
Verweis auf einen Schadenersatzanspruch, der dann hin-
terher eventuell gezahlt werden müsste. Wenn man drau-
ßen ist, ist man draußen. Da nützt auch kein Schadener-
satzanspruch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Darüber haben wir hier schon mehrfach diskutiert, genau
wie über die Frage, ob wegen der Nichtzahlung der Kau-
tion ohne Abmahnung gekündigt werden darf. Es bleibt
die Möglichkeit nach § 543 Abs. 1 BGB. Das ist auch
ausreichend. Das, was Sie hier machen, schießt deutlich
über das Ziel hinaus und ist nicht erforderlich. Es schnei-
det die Rechte aller Mieter ab, und deshalb ist es nicht in
Ordnung.

Insgesamt hat dieser Gesetzentwurf viele Mängel. Po-
sitiv möchte ich vermerken, dass das Münchener Modell
verhindert werden soll. Das ist der einzige wirkliche An-
satz sozialer Mietpolitik, der in diesem Entwurf enthal-
ten ist. Was die soziale Frage angeht, können Sie alles
andere vergessen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Hoffen wir, dass wir zumindest nach der Anhörung
noch einmal in eine neue Debatte eintreten können, die
auf die tatsächlichen Sachverhalte ein Stück weit mehr
abstellt. Wir werden uns in diesem Zusammenhang auch
noch einmal darüber unterhalten müssen, wie der Be-
reich Contracting genau ausgestaltet werden soll. Ich
gebe die Hoffnung nicht auf, dass auch Sie lernfähig
sind, meine Damen und Herren. Lassen Sie uns gemein-
sam im Interesse der Mieter daran arbeiten.


(Zuruf von der FDP: Warum nur für Mieter?)


Aber mit dem Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben,
geht es nicht.

Vielen Dank


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Halina Wawzyniak [DIE LINKE])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719500300

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun die Kollegin

Andrea Voßhoff das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Andrea Astrid Voßhoff (CDU):
Rede ID: ID1719500400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Egloff, ich habe Sie schon häufiger zu dem
Thema gehört. Viel Neues haben Sie heute nicht dazu
beigetragen. Vor allem fehlt mir Ihr Lösungsansatz, was
die Forcierung der energetischen Gebäudesanierung be-
trifft. Dazu haben Sie schlicht gar nichts gesagt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingo Egloff [SPD]: Dazu wird Ihnen mein Kollege etwas sagen! – Florian Pronold [SPD]: Mietrecht!)


Wie kaum ein anderer Bereich ist das Wohnraum-
mietrecht durch das Sozialstaatsgebot und die Sozial-
pflichtigkeit des Eigentums geprägt. Ja, Deutschland ist
ein Land der Mieter. Das soziale Mietrecht haben wir in
besonderer Weise zu schützen. Das ist völlig unstreitig.
Dort sehen wir auch keinen Nachholbedarf.

Wohnraum zur Miete stellt eine elementare Grund-
lage für die private Lebensgestaltung und Lebensentfal-
tung dar. Es gibt 40 Millionen Wohnungen; davon sind
deutlich mehr als die Hälfte, nämlich 24 Millionen,
Mietwohnungen. Die Bedeutung des Mietrechts können
wir daher nicht hoch genug einschätzen.

Aber, meine Damen und Herren von der SPD, auf der
anderen Seite gilt ebenso: Deutschland ist auch ein Land
der Vermieter. Denn der überwiegende Teil des Miet-
wohnangebots – 61 Prozent oder rund 14,5 Millionen
Wohneinheiten – wird von privaten Kleinanbietern zur
Verfügung gestellt. Private Vermieter, Freiberufler,
Handwerker oder andere Gewerbetreibende bauen oder
erwerben nicht selten ein Mietshaus, das ihnen zur Ver-
mögensbildung oder zur eigenen Altersvorsorge dient.

Zu nennen sind auch die Familien, die in ihrem kre-
ditfinanzierten Wohnhaus vielleicht eine Einliegerwoh-
nung unterhalten, um mit den Mieteinnahmen die mo-
natlichen Zinszahlungen abzufedern. Zu nennen sind
ebenfalls verwitwete Rentner, die aus dem zu groß ge-
wordenen Wohnhaus ausziehen und es vermieten.

Vergessen wir dabei nicht: Hauseigentum muss nichts
mit großem Reichtum zu tun haben; es wird auch vererbt
und dann von den Erben vielleicht nicht selbst genutzt,
sondern vermietet. Auch das gilt es zu berücksichtigen.
Deshalb hat das Mietrecht die Interessen der Mieter und
Vermieter immer in Einklang zu bringen. Das tun wir
mit unserem Gesetzentwurf.





Andrea Astrid Voßhoff


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Florian Pronold [SPD]: Das Gegenteil machen Sie!)


Wir sehen in zwei Schwerpunktbereichen Reformbe-
darf; die Ministerin hat es bereits vorgetragen:

Erster Bereich. Der Schutz des Vermieters – Herr
Kollege Egloff, zu Ihren Ausführungen hierzu komme
ich gleich noch – vor Mietbetrügern ist schlicht unzurei-
chend.


(Stephan Thomae [FDP]: So ist es!)


Zweiter Bereich. Wenn wir die Energiewende wollen
und die energetische Gebäudesanierung fordern, dann ist
das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und wir kom-
men um die entsprechende Gestaltung im Mietrecht
nicht herum.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Kommen wir zunächst zum Problem des Mietbetru-
ges. Sie sagen, es gebe nur eine verschwindend geringe
Zahl an Mietnomaden, und diese Zahl würde – das ha-
ben Sie noch einmal wiederholt – von der Boulevard-
presse maßlos aufgebauscht. Ja, das ist Gott sei Dank
kein Massenphänomen. Sie kennen aber sicherlich die
Studie der Uni Bielefeld, die besagt, dass es sich aber
tatsächlich um ein Phänomen handelt.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: 24 Millionen Befragte und 400 Fälle!)


Meine Damen und Herren, lieber Herr Kollege Egloff,
jeder Mietbetrug ist einer zu viel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Schauen Sie sich an – auch das weist die Studie der Uni
Bielefeld aus –, in welcher Größenordnung den oft pri-
vaten Vermietern finanzielle Schäden entstehen.

Herr Kollege Egloff, Sie haben einmal in einer ande-
ren Debatte gesagt: Wenn man mit Wohnungsbaugesell-
schaften redet, stellt man fest, dass diese das Phänomen
nicht groß beeinträchtigt. – Das ist nicht verwunderlich.
Große Wohnungsbaugesellschaften haben eine Vielzahl
von Mitarbeitern, gar Rechtsabteilungen, die sich mit der
Thematik befassen können. Ich frage mich, Herr Kollege
Egloff: Sehen das die privaten Vermieter auch so? Ich
hatte bereits gesagt, dass es sich beim überwiegenden
Teil der Vermieter um private Vermieter und Kleinver-
mieter handelt. Diese Vermieter, nicht die großen Woh-
nungsbaugesellschaften, sind unser Maßstab. Sie haben
einen Anspruch darauf, bei der Bekämpfung des Mietbe-
truges Unterstützung zu erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Ministerin hat die Instrumente, die wir in diesem
Zusammenhang anbieten, genannt. Ich halte sie für aus-
gewogen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ausgewogen?)


Wer die zum Schutz des Mieters eingefügten Normen im
Bereich des Räumungsschutzes in dieser Weise miss-

braucht, wie es Mietbetrüger tun, hat unseren Schutz
nicht verdient.


(Zuruf der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Wir haben Maßnahmen entwickelt, damit diese Schutz-
rechte nicht missbraucht werden können. Eine beschleu-
nigte Zwangsräumung muss möglich sein, und zwar mit
verschiedenen Instrumenten, die heute bereits genannt
wurden. Das ist im Interesse eines ausgewogenen Miet-
verhältnisses sinnvoll und notwendig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Kommen wir nun zum zweiten Schwerpunktbereich.
Die energetische Gebäudesanierung ist bereits angespro-
chen worden. Wer immer davon redet, dass er die ener-
getische Gebäudesanierung will, der muss auch entspre-
chend handeln. Da kommen wir am Mietrecht nicht
vorbei. Ich finde, wir haben die Möglichkeiten, die wir
nutzen konnten, sehr sorgsam und schonend genutzt, und
zwar zugunsten des Mieters.

Natürlich beeinträchtigt der Mietminderungsaus-
schluss für die ersten drei Monate einer Sanierung das
Äquivalenzprinzip; da haben Sie recht, Herr Egloff. Wir
wissen jedoch, auch von vielen Vermietern, dass gerade
die Mietminderungsansprüche der Mieter eine große
Barriere für die Entscheidung zur energetischen Gebäu-
desanierung darstellen.

Darum haben wir eine Begrenzung auf die energeti-
sche Sanierung vorgenommen, die bezogen auf die
Mietsache auch nachhaltige Einspareffekte erbringt; das
heißt, dass der Mieter im Umkehrschluss eine Entlastung
erfährt. Das alles darf man nicht außer Acht lassen. Die
Zahlen beweisen es: Der Gebäudebereich ist für 40 Pro-
zent des deutschen Endenergieverbrauchs und für ein
Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich. Hier müssen
wir handeln; das gilt eben auch für das Mietrecht. Dabei
gilt es, durch behutsames Vorgehen die Interessen der
Mieter zu wahren.

Der Gesetzentwurf enthält hierzu viele gute Ansätze.
Ich denke daher, wir sollten die entsprechenden Beratun-
gen im Rechtsausschuss unter diesem Gesichtspunkt
durchführen.

Sie haben die 11-Prozent-Umlage für die Modernisie-
rungskosten kritisiert. Wir haben sie nicht verändert. Die
Umlage bleibt so, wie sie ist.

Es gibt viele private Vermieter, die wissen, dass sie diese
Modernisierungsumlage nicht auf die Miete schlagen
können, die aber froh wären, wenn einige Barrieren, die
im Mietrecht vorhanden sind, abgebaut würden, damit
sie überhaupt erst sanieren können. Es gibt Vermieter,
die bereit sind, die Modernisierungsumlage gar nicht zu-
grunde zu legen, weil sie wissen, dass Angebot und
Nachfrage die Höhe der Mieten steuern. Das sollten wir
durchaus von der Entwicklung am Markt abhängig ma-
chen; wir sollten uns das anschauen. Ich denke aber, es
ist ein guter Weg, den wir hier gehen, weil gerade private
Vermieter entsprechende Sanierungsmaßnahmen bisher
scheuen. Diese Bremse wollen wir lösen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Andrea Astrid Voßhoff


(A) (C)



(D)(B)


Das Thema Contracting ist erwähnt worden; auch da-
rüber ist viel gesprochen worden. Da gibt es sicherlich
an der einen oder anderen Stelle Beratungsbedarf. Aber
es ist die christlich-liberale Koalition, die jetzt dem Con-
tracting erstmals einen Rechtsrahmen gibt. Wir wollen
die Kostenneutralität für den Mieter erreichen. Da gibt
es im Einzelfall sicherlich noch Diskussionen. So gese-
hen wird die Anhörung, die wir dazu durchführen wer-
den, sicherlich sehr zielführend und sinnvoll sein; viel-
leicht erhalten wir noch die eine oder andere Anregung.

Wenn Sie, meine Damen und Herren von der SPD, es
mit der energetischen Sanierung ernst meinen, dann soll-
ten Sie sich dem Thema auch im Mietrecht nicht ver-
schließen. Eine ausgewogene Reform ist in diesem Ent-
wurf erkennbar. Alle weiteren Details können wir im
Beratungsverfahren sicherlich noch miteinander erör-
tern.

Ich darf mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit be-
danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719500500

Nächste Rednerin ist die Kollegin Halina Wawzyniak

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719500600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! „Mietrechtsänderungsgesetz“ – das hört sich total
neutral an, ist es aber nicht. Der Titel des Gesetzentwurfs
heißt nämlich korrekt: „Entwurf eines Gesetzes über die
energetische Modernisierung von vermietetem Wohn-
raum und“ – darauf kommt es an – „über die verein-
fachte Durchsetzung von Räumungstiteln“. Damit ist
auch klar: Es handelt sich um ein Gesetz zum Abbau von
Mieterinnen- und Mieterrechten zugunsten der Vermie-
terinnen und Vermieter.

Die energetische Modernisierung ist wichtig und rich-
tig. Nur leistet der Gesetzentwurf keinen Beitrag zur
nachhaltigen energetischen Modernisierung; er wendet
sich – der Kollege Egloff hat darauf hingewiesen – den
eigentlichen Problemen der Mieterinnen und Mieter
überhaupt nicht zu.

Was regeln Sie in diesem Gesetz eigentlich wirklich?
Es ist schon gesagt worden: Bei der energetischen Sanie-
rung wird das Recht auf Mietminderung in den ersten
drei Monaten ausgeschlossen. Ein Einwand gegen die
Modernisierung, dass die zu erwartende Mieterhöhung
eine Härte darstellen würde, kann nicht mehr sofort gel-
tend gemacht werden, sondern erst im Mieterhöhungs-
verfahren, und das dann auch nur noch einen Monat
lang. Das heißt, Mieterinnen und Mieter haben keine
Chance mehr, Einspruch zu erheben. Die Anforderungen
an die Begründung der Modernisierung und Sanierung
werden für den Vermieter gesenkt. Die Umlage von jähr-
lich 11 Prozent der Kosten der Modernisierung wird bei-
behalten. So weit, so schlecht.

Dann kommen Sie noch mit der Sicherungsanord-
nung, die die Vermieter unangemessen gegenüber Miete-
rinnen und Mietern schützt, die die Mietzahlungen nicht
mehr leisten können. Sie schaffen Regelungen für ein
vereinfachtes Räumungsverfahren, das heißt, Sie er-
leichtern es, Mieterinnen und Mieter einfach auf die
Straße zu setzen.


(Stephan Thomae [FDP]: Nein! Nein! – Patrick Döring [FDP]: Wenn sie ihre Miete nicht bezahlen, obwohl sie das könnten!)


Ich muss einmal sagen: Ich halte das für eine bodenlose
Frechheit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist ein gnadenloses Ausspielen der Macht des wirt-
schaftlich Stärkeren. Das bringt mich dermaßen auf die
Palme.

Ich will jetzt einmal versuchen, Ihnen zu erklären,
was Sie da eigentlich machen:


(Zuruf von der FDP: Sie haben es nicht verstanden!)


Erstens. Jemand befindet sich legal in einer Wohnung,
beispielsweise durch einen Untermietvertrag. Jetzt gibt
es einen Räumungstitel gegen den Hauptmieter. Und
was machen Sie? Sie stellen fest: Den Untermieter, der
sich legal in der Wohnung befindet, kann man leider
nicht herausklagen. Also ermöglichen Sie eine einstwei-
lige Anordnung, um ihn rauszuschmeißen. Das ist ab-
surd.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Das ist die missbräuchliche Nutzung von Untervermietungsverhältnissen! Sie müssen sich mal überlegen, zu wessen Anwalt Sie sich machen! Die zahlen ihre Miete nicht!)


Zweitens. Eine Mieterin oder ein Mieter wird wegen
Zahlungsverzug verklagt. Es soll nunmehr auf Wunsch
des Vermieters möglich sein, dass der Mieter oder die
Mieterin, der oder die die Miete nicht zahlen kann, einen
Betrag hinterlegen muss, einen sogenannten Sicherungs-
betrag. Wenn man keine Miete zahlen kann, hat man
möglicherweise ein existenzielles Problem, kann also
auch diesen Betrag nicht hinterlegen. Und wofür sorgen
Sie jetzt? Wenn man diesen Sicherungsbetrag nicht hin-
terlegen kann, dann droht Ordnungsgeld oder Ordnungs-
haft. Das heißt, Sie stecken die Leute in den Knast. Das
ist doch absurd.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Die zahlen vorsätzlich keine Miete!)


Dazu fallen mir, ehrlich gesagt, nur noch unparlamenta-
rische Begriffe ein.

Es geht aber noch weiter. Wenn jemand in einer exis-
tenziellen Not seine Miete nicht mehr zahlen kann und
der Sicherungsanordnung keine Folge leisten kann, dann
müsste man sich normalerweise Gedanken machen: Wie
kann man den Menschen helfen, die in einer existenziel-
len Not sind und ihre Miete nicht mehr zahlen können?





Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)


Stattdessen wollen Sie durch eine einstweilige Anord-
nung die Leute aus ihrer Wohnung rausschmeißen. Das
ist so unfassbar, da fehlen mir echt die Worte.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Letzter Punkt. Sie führen einen neuen Kündigungstat-
bestand ein, nämlich Zahlungsverzug bei der Mietkau-
tion. Das heißt, eine fristlose Kündigung kann ohne vor-
herige Absprache oder Abmahnung erfolgen. Damit
stellen Sie die Mieterinnen und Mieter übrigens schlech-
ter als Gewerbetreibende.

Ich will Ihnen einmal sagen, was der Bundesrat zu Ih-
rem ach so tollen Gesetz geäußert hat. Der Bundesrat hat
gesagt: Streichen Sie den Punkt mit der Mietminderung,
streichen Sie den Punkt mit dem neuen Kündigungstat-
bestand „Verzug von Mietkautionszahlung“, und strei-
chen Sie diese wirklich unsinnige Sicherungsanordnung.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Mieterbund spricht von zahlreichen Mietrechtsver-
schlechterungen. Die mit dem Mietrechtsänderungsge-
setz verfolgten Ziele werden im Übrigen nicht erreicht.

Ihr gesamter Gesetzentwurf hinterlässt bei mir den
Eindruck: Die Notwendigkeit der energetischen Moder-
nisierung ist eigentlich nur ein Vorwand. Vielmehr geht
es doch darum, ein nur in geringem Umfang vorhande-
nes Problem, das sogenannte Mietnomadentum, auf
Kosten von Mieterinnen und Mietern zu lösen. Darüber
wurde heute schon viel gesprochen.

Was heißt Mietnomadentum eigentlich? Dabei han-
delt es sich um eine Konstellation, in der von Anfang an,
also mit Unterzeichnung des Mietvertrages, jemand die
Absicht hat, niemals seine Miete zu zahlen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nomaden wohnen in Zelten!)


Das sind die Fälle, über die wir reden. Das ist Mietno-
madentum.

Jetzt muss man feststellen, dass es das Problem in die-
ser Größenordnung überhaupt nicht gibt.


(Widerspruch bei der FDP)


Die FDP hat in der 16. Legislaturperiode im Rahmen ei-
ner Kleinen Anfrage von den „drängendsten wohnungs-
wirtschaftlichen und mietrechtlichen Problemen“ ge-
sprochen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind Parlamentsnomaden, die FDP! – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Antwort der Bundesregierung, damals CDU/CSU
und SPD: „Die der Bundesregierung vorliegenden Zah-
len bestätigen diesen Eindruck nicht“.

Der Bundesverband der deutschen Wohnungs- und
Immobilienunternehmen hat 2008 festgestellt, die Aus-
stände der Mitgliedsunternehmen seien seit 2003 um ein
Viertel gesunken. Im Rahmen einer Studie zum Thema
Mietnomaden der Universität Bielefeld, von der hier
schon die Rede war, wurde Folgendes gemacht: Der

Hausbesitzerverband hat seine Mitglieder – das sind Be-
sitzer von 24 Millionen Mietwohnungen – gebeten, sich
zu melden, wenn es mit dem Mietnomadentum ein Pro-
blem gibt. Rückmeldung: rund 1 400 Mitglieder, davon
gab es 400 Fälle von wirklichem Mietnomadentum. Da-
mit liegt die Zahl im Promillebereich.

Der Abgeordnete Mayer – darauf wurde schon hinge-
wiesen – hat auf eine Nachfrage meines Kollegen
Bockhahn, wie hoch der Anteil der sogenannten Mietno-
maden in Deutschland wirklich sei, gesagt: „Ich bin der
festen Überzeugung, dass es hier kein verlässliches und
auch kein belastbares Zahlenmaterial gibt …“. Er sprach
von „Überzeugung“. Der Kollege Krings hat dazwi-
schengerufen: „Darauf kommt es nicht an!“.


(Patrick Döring [FDP]: So ist es! Damit hat er recht!)


Hallo? Sie haben keine messbaren Zahlen, Sie sagen, es
komme darauf überhaupt nicht an: Aber Sie schränken
die Rechte von Mieterinnen und Mietern ein?


(Patrick Döring [FDP]: Es werden doch keine Rechte eingeschränkt!)


Das ist keine Politik, das ist verrückt. Sie jagen Phan-
tome.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Nehmen Sie Gas raus, da vorne ist eine Wand!)


Reden wir über die tatsächlichen Probleme in Bezug
auf das Mietrecht, reden wir über die tatsächlichen Pro-
bleme von Mieterinnen und Mietern, reden wir einmal
über Mietsteigerungen. Der Mieterbund hat gesagt, dass
ein Drittel der Mieterinnen und Mieter mehr als ein Drit-
tel ihres Haushaltseinkommens für Miete und Energie
bezahlen müssen. Mietsteigerungen bei Neuvermietun-
gen in Großstädten betragen 20 bis 30 Prozent. Eine An-
frage meiner Kollegin Lay hat ergeben, dass 5,6 Millio-
nen Sozialwohnungen benötigt werden, aber nur
1,6 Millionen vorhanden sind.

Die Regelungen zum sogenannten Mietwucher im
Wirtschaftsstrafgesetzbuch, wonach Mieterhöhung bei
Neuvermietung nicht mehr als 20 Prozent der Ver-
gleichsmiete betragen dürfen, laufen leer. Die Regelun-
gen finden nämlich nur Anwendung, wenn eine soge-
nannte angespannte Marktsituation vorliegt. Das sind die
Dinge, um die Sie sich wirklich kümmern müssten, tun
Sie aber nicht.

Wir als Linke haben das Problem gesehen und des-
halb bereits im Februar 2011 einen Antrag eingebracht.
Nach der heutigen Rechtslage ist es so, dass die Miete
innerhalb von drei Jahren um bis zu 20 Prozent erhöht
werden kann. Das ist nicht nur eine nicht hinzuneh-
mende Mietsteigerung für Mieterinnen und Mieter, es ist
auch ein Beitrag zur generellen Mietsteigerung. Der
Bundesrat hat hier einen konkreten Vorschlag gemacht.
Die SPD hat ihn aufgegriffen, nämlich: Mietsteigerun-
gen in Höhe von 15 Prozent binnen vier Jahren. Wir sa-
gen Ihnen: Auch das ist noch zu viel.





Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)


Wir finden, bei bestehenden Mietverhältnissen soll
ohne wohnwertverbessernde Maßnahmen eine Mietstei-
gerung nur im Rahmen des Inflationsausgleichs möglich
sein. Jetzt brüllen Sie wahrscheinlich gleich wieder: In-
vestitionsanreize! Investitionsanreize! – Egal. Investitio-
nen lohnen sich langfristig, weil das Geld durch die
Mieteinnahmen wieder reinkommt. Wir sagen Ihnen
– das ist der zentrale Unterschied zwischen Ihnen und
uns –: Wohnungen sind ein Zuhause für Mieterinnen und
Mieter und kein Anlageobjekt, mit dem man Geld ma-
chen will.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Dann wird es in Deutschland bald keine mehr geben!)


Sie wollen die Umlage bei 11 Prozent belassen. Wir
wollen eine Umlage von 5 Prozent. Auch das rechnet
sich im Übrigen rein betriebswirtschaftlich; denn die
Modernisierungskosten sind im Rahmen der Abschrei-
bungsfristen zu refinanzieren. Bisher sprachen wir übri-
gens noch nicht einmal darüber, dass der Mieter oder die
Mieterin, nachdem die Modernisierungskosten wieder
reingekommen sind, weiterhin die höhere Miete zahlen
muss.

Sie werden unserem Vorschlag vermutlich nicht fol-
gen, und zwar aus absurden Gründen. Sie sollten an die-
ser Stelle aber zumindest dem Bundesrat folgen, der
9 Prozent vorschlägt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wie war das mit der Miete gleich null und dem Zustand des Hauses? Das haben wir in der DDR gesehen! Der sozialistische Plattenbau ist ein Beispiel dafür!)


– Herr Kauder, wenn Sie etwas zu sagen haben, dann
melden Sie sich und krakeelen Sie nicht dazwischen.
Okay?


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Zwischenrufe können Sie im Sozialismus verbieten, aber nicht in einem frei gewählten Parlament! – Holger Krestel [FDP]: Tragen Sie Herrn Kauder doch einmal ins Klassenbuch ein, wenn er dazwischenruft! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Wir Linke sagen: Mieterhaushalte, deren Einkünfte
unterhalb des jährlich festzustellenden bundesdurch-
schnittlichen Haushaltsnettoeinkommens liegen, dürfen
maximal 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für alle an-
fallenden Wohnkosten aufwenden. Das ergibt sich aus
unserer sozialen Verantwortung.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719500700

Darf ich einen Augenblick um Ruhe bitten? – Ich

glaube, wir können uns darauf verständigen, dass Zwi-
schenrufe nach unserer Geschäftsordnung erstens zuläs-
sig und zweitens nachweislich nicht unüblich sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Es soll gelegentlich auch vorkommen, dass sie aus den
Reihen Ihrer eigenen Fraktion kommen, Frau Kollegin.


(Iris Gleicke [SPD]: Sie sollen aber nicht die Rede stören!)


Ferner entspricht es einer guten parlamentarischen
Praxis, das Volumen der Zwischenrufe so zu dosieren,
dass überwiegend der Redner zu Wort kommt, der ge-
rade das Wort erteilt bekommen hat. Können wir bitte so
verfahren? – Bitte schön.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Zwischenrufe müssen aber auch der Rede angepasst werden!)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719500800

Wir fordern Sie auf: Passen Sie das Wohngeld an die

tatsächliche Miet- und Einkommensentwicklung an. Än-
dern Sie das Gesetz so, dass Sanierungen nur dann dul-
dungspflichtig sind, wenn sie keine unzumutbare Härte
bedeuten, und lassen Sie bitte die Finger von den verein-
fachten Räumungen. Wenn Sie wirklich etwas tun wol-
len, dann stellen Sie gesetzlich sicher, dass eine ersatz-
lose Räumung von Wohnungen nach Kündigung
unzulässig ist.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau! Weg mit der Miete!)


Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung kann die
Linke unmöglich zustimmen. Wir fordern Sie auf: Zie-
hen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück, und überarbeiten
Sie ihn grundlegend. Das wäre eine richtig gute Tat.
Dann können wir vielleicht auch miteinander reden, aber
nicht so.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719500900

Ich erteile das Wort nun der Kollegin Daniela

Wagner, Bündnis 90/Die Grünen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt sind wir einmal gespannt, was die Partei der Besserverdienenden zu sagen hat!)



Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719501000

Herr Präsident! Frau Kollegin Wawzyniak, selbstver-

ständlich darf man mit Mietwohnungen Geld verdienen,
aber es muss dabei fair zugehen.

Wir haben eines der besten und ausgewogensten
Mietrechte im europäischen Vergleich. Das sagt der Eu-
ropäische Mieterbund. Das wollen Sie, Frau Ministerin,
nun ändern. Eine Ihrer wesentlichen Begründungen für
eine Mietrechtsnovelle war immer – das gilt auch heute
wieder – die Durchsetzung der Gebäudesanierung und
der Energiewende. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass die Energiewende nicht vorankommt, liegt an sehr
vielem, aber nicht am Mietrecht.


(Zuruf von der FDP: An den Grünen in den Ländern!)






Daniela Wagner


(A) (C)



(D)(B)


In diesem Zusammenhang ist, glaube ich, eher der Kol-
lege Ramsauer gefordert als Frau Schnarrenberger;


(Volker Kauder [CDU/CSU]: LeutheusserSchnarrenberger!)


denn hierbei geht es auch darum, die fehlende Planungs-
sicherheit für Eigentümer zu beenden. Es geht darum,
dass die Eigentümer klare Optionen auf Fördermittel ha-
ben, um eine energetische Gebäudesanierung durchfüh-
ren zu können.

Mit Ihrer Mietrechtsnovelle spielen Sie Mieterinnen
und Mieter unter dem Vorwand der Energiewende ge-
geneinander aus. Wenn Ihre Vorschläge umgesetzt wer-
den, die eins zu eins den Wünschen der Wohnungswirt-
schaft entsprechen, dann verschärft sich dadurch
natürlich die schon heute teilweise dramatische Situation
auf den Wohnungsmärkten in Ballungsgebieten. Wenigs-
tens 30 bis 40 Prozent des Nettoeinkommens für Miete,
das ist eindeutig zu viel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie haben kein Gesamtkonzept für die energetische
Gebäudesanierung und die Energiewende, und Sie haben
Ihre bundespolitische Verantwortung für die steigenden
Mieten in Boomregionen immer noch nicht anerkannt.
Sie haben auch vorhin wieder auf andere verwiesen. So
geht es aber nicht.

Ein Schlüssel liegt natürlich im Mietrecht. Sozialer
Wohnungsbau genügt schon lange nicht mehr. Wir wer-
den in absehbarer Zeit eine Situation haben, in der sich
bis weit in die Mitte der Gesellschaft Menschen ihre
Wohnungen nicht mehr leisten können. Das Mietrecht ist
ein zentrales Instrument, um die Lasten gerecht und fair
zwischen Mietern und Eigentümern zu verteilen, aber es
ist kein Instrument, um die energetische Gebäudesanie-
rung voranzubringen. Allerdings muss es in Planungssi-
cherheit für die Akteure und in ein verlässliches Anreiz-
system mit zielgruppengerechter Förderung eingebettet
sein. Ihr derzeitiges Förderchaos erzeugt nur Stillstand.

Wenn Sie die energetische Sanierung zum Beispiel
dadurch beschleunigen wollen, dass Sie die Duldungsbe-
stimmungen erleichtern, dann müssen Sie gleichzeitig
die Mieterrechte stärken. Stattdessen bauen Sie Mieter-
rechte ab. Sie schränken zum Beispiel das Mietminde-
rungsrecht ein, und Sie verändern die Regelung für Här-
tefallgründe zuungunsten der Mieterinnen und Mieter.
So erreichen Sie bei der Mieterschaft keine Akzeptanz
für die Energiewende, und Sie erreichen auch nicht, dass
Hausbesitzer auch nur einen Cent mehr investieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der richtige Weg ist, das Mietminderungsrecht auf
nicht umgesetzte, allerdings gesetzlich vorgeschriebene
Maßnahmen auszuweiten. Bei den Mieterhöhungsmög-
lichkeiten müssen wir die Refinanzierungszeiträume
verlängern. Das heißt, wir müssen die Modernisierungs-
umlage von 11 auf 9 Prozent senken. Sie sagen ja selbst,
dass sie überhaupt nicht mehr durchsetzbar ist. Wenn uns
Hauseigentümer entgegenhalten, dass dann überhaupt

keine energetische Gebäudesanierung mehr geschehen
wird, dann frage ich mich – wenn das ein so bedeutender
Faktor ist –, wieso bei bestehender Modernisierungsum-
lage in Höhe von 11 Prozent nicht schon längst alle Ge-
bäude energetisch saniert sind.

Die ortsübliche Vergleichsmiete ist ebenfalls eine ent-
scheidende Schraube bei der Mietenentwicklung. Hier
fehlen uns begrenzende Mechanismen. Die Neuvertrags-
mieten von heute sind die Bestandsmieten von morgen.
Deswegen schlagen wir vor, in Kommunen oder in Teil-
gebieten von Kommunen, in denen nachgewiesener
Wohnraummangel herrscht, per Landesermächtigung
Obergrenzen mit dem Ziel einzuführen, dass die Neuver-
tragsmieten dort auf keinen Fall mehr als 10 Prozent
über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen dürfen. Sie
sehen: Es gibt tatsächlich auch ausgewogene Vorschläge,
um die energetische Gebäudesanierung voranzubringen,
ohne dabei die Rechte der Mieterinnen und Mieter ein-
zuschränken.

Die Energiewende im Gebäudebereich muss gelin-
gen. Dazu müssen wir die Menschen mitnehmen. Das
leistet Ihr Gesetzentwurf bei weitem nicht. Man merkt
dem Gesetzentwurf auch an, dass Sie die verlorenen drei
Jahre – etwa so lange kündigen Sie die Novelle bereits
an – einholen müssen. Sie bauen im Hauruckverfahren
einfach nur Mieterrechte ab. Dieses einseitige Vorgehen
wird nicht zum gewünschten Ergebnis führen, und das
wird auch die Energiewende in keiner Weise beflügeln.
Das sage ich Ihnen schon heute voraus.

Die Mietpreisspirale wird auf jeden Fall, auf die eine
oder andere Art und Weise, auszubremsen sein. Das
ganze Gerede von energetischer Gebäudesanierung er-
scheint uns in diesem Fall vor allen Dingen ein Vor-
wand, um die Wünsche aus bestimmten Vermieterkrei-
sen zu erfüllen. Wir wollen, dass es so bleibt, wie es
bisher war. Wir wollen ein faires und ausgewogenes
Mietrecht, das sowohl die Interessen der Mieterinnen
und Mieter als auch der Hauseigentümer in den Blick
nimmt. Das leistet Ihr Gesetzentwurf nicht. Ich wünsche
mir daher noch sehr eingehende Beratungen im Rechts-
ausschuss und im Bauausschuss, und ich wünsche mir,
dass es bei den Anhörungen viele Beiträge gibt, die Ih-
ren Entwurf des Mietrechtsänderungsgesetzes verbes-
sern helfen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719501100

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Jens

Koeppen, der neben seinen sonstigen parlamentarischen
Aufgaben auch die besonders dankbare Aufgabe der Ko-
ordination unserer Schriftführerinnen und Schriftführer
wahrnimmt, feiert heute seinen 50. Geburtstag. Er be-
ginnt die Gestaltung dieses besonderen Tages, wie es
sich gehört, im Präsidium des Deutschen Bundestages.
Das ist ein besonders schöner Platz, um ihm die gesam-
melten Glückwünsche des Deutschen Bundestages zu
übermitteln, was ich hiermit gerne tue.


(Beifall)






Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Ich nutze die eher seltene Gelegenheit, ihm stellver-
tretend für alle Schriftführerinnen und Schriftführer für
die unauffälligen, aber wichtigen Dienstleistungen zu
danken, die er regelmäßig für die Gestaltung unserer
Plenarsitzungen erbringt. Herzlichen Dank!


(Beifall)


Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae für
die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Der wird jetzt richtig Gas geben!)



Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1719501200

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Wenn man die Reden der
Opposition hört, dann kann man nur froh sein, dass Sie
in diesem Land nicht regieren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ingo Egloff [SPD]: Das ändert sich bald! – Burkhard Lischka [SPD]: Sie nicht mehr lange, Herr Thomae! – Dagmar Ziegler [SPD]: Genießen Sie die Zeit noch!)


Die Vorschläge der Opposition sind einfach, grotesk und
schräg. Herr Kollege Egloff, Sie haben es in Ihrem letz-
ten Satz durchblicken lassen. Da haben Sie gesagt: Las-
sen Sie uns an diesem Entwurf im Interesse der Mieter
arbeiten;


(Ingo Egloff [SPD]: Genau!)


das waren Ihre Worte.


(Ingo Egloff [SPD]: Ja!)


Aber da verwechseln Sie Mietrecht und Mieterrechte.


(Burkhard Lischka [SPD]: Die Mieter gehören doch nicht zu Ihrer Klientel! Genau das ist der Punkt!)


Das Mietrecht ist ein Recht, das die Rechtsverhältnisse
zwischen Mieter und Vermieter ausbalanciert regeln soll.


(Ingo Egloff [SPD]: Es schützt den schwächeren Marktteilnehmer, Herr Kollege!)


Genau das gelingt dem Regierungsentwurf.

Schauen wir uns schlaglichtartig ein paar Vorschläge
der Opposition an.


(Florian Pronold [SPD]: Ist Ihnen Ihr eigener Entwurf so peinlich, dass Sie darüber nicht sprechen wollen?)


Führen wir uns Ihre Forderung zu Gemüte, dass die
Höhe der Wohnkosten für angemessenen Wohnraum
höchstens 30 Prozent des Nettoeinkommens eines
Mieterhaushalts betragen darf. Da fragt man sich: Kön-
nen Sie das eigentlich ernst meinen?


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Natürlich! Warum denn nicht?)


Was ist denn in Ihren Augen „angemessener Wohn-
raum“? Die Antwort auf diese Frage ist doch höchst sub-

jektiv. Der eine ist bereit, für seinen Wohnraum viel
Geld zu bezahlen, weil er sagt: Ich will einen schönen,
großen Garten haben. Dafür fahre ich weniger häufig in
Urlaub. – Der andere sagt: Ich verbringe in meiner Woh-
nung den großen Teil meiner Zeit, auch meiner Freizeit.
Sie ist für mich nicht nur eine Schlafstätte. – Noch ein
anderer sagt: Ich bin sowieso kaum zu Hause. In meiner
Freizeit treibe ich Sport und fahre lieber häufiger in Ur-
laub. – Man muss also feststellen: Es gibt völlig unter-
schiedliche Lebensentwürfe. Wir nennen das Freiheit der
Lebensentwürfe. Das hat für uns mit Eigenverantwor-
tung zu tun.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Günter Krings [CDU/ CSU]: Richtig! Das verstehen die aber nicht! – Dagmar Ziegler [SPD]: Das ist doch grotesk!)


Was jemand für angemessen hält, ist eine höchstpersön-
liche Angelegenheit. Sie wollen den Menschen ihren Le-
bensentwurf vorschreiben. Wir wollen Privatautonomie
und Vertragsfreiheit. Das ist der Unterschied.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schauen wir uns einen anderen Vorschlag, den Sie
schon in aller Breite ausgeführt haben, an. Da heißt es,
dass die höchstmögliche Umlage der Modernisierungs-
kosten auf die Miete auf 5 Prozent begrenzt werden soll.
Das feiern Sie als sehr soziale Errungenschaft.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja!)


Aber was wäre die Folge eines solch abstrusen Vor-
schlags? Eine solche Regelung würde dazu führen, dass
die Eigentümer ihre Modernisierungsinvestitionen her-
unterfahren und sie auf das Nötigste beschränken wür-
den.


(Iris Gleicke [SPD]: Da sind Sie aber falsch gewickelt! Bei Ihnen rechnen wohl Milchbuben!)


Würde die höchstmögliche Umlage der Modernisie-
rungskosten auf die Miete auf 5 Prozent beschränkt,
müssten die Eigentümer nämlich bis zu 20 Jahre warten,
bis sich ihre Investition in eine fremdgenutzte Wohnung
refinanziert hat. Also werden Investitionen unterbleiben;
das ist doch völlig logisch.


(Florian Pronold [SPD]: Warum machen Sie dann nichts bei den Abschreibungen? Warum ändern Sie denn da nichts?)


Das heißt, das Handwerk hätte weniger Aufträge, Ar-
beitsplätze im Handwerk und im Baugewerbe gingen
verloren, und der Baubestand der Mietwohnungen
würde an Qualität verlieren, weil Investitionen unterblie-
ben. Somit hätte Ihr Vorschlag zur Folge, dass die Wohn-
und damit die Lebensqualität der Mieter sinken würden.


(Florian Pronold [SPD]: Sie sollten vielleicht etwas mehr in Ihre Redequalität investieren!)


Das kann nicht Ihr Ernst sein. Aber so würde die Zu-
kunft des deutschen Wohnungsmarkts, des deutschen
Handwerks und des Arbeitsmarkts in Deutschland ausse-





Stephan Thomae


(A) (C)



(D)(B)


hen, wenn die Linke eine Chance erhalten würde, ihre
Pläne zu verwirklichen. Das kann doch nicht wahr sein!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Aber: Man muss Ihnen dankbar dafür sein, dass Sie
diesen Antrag eingebracht haben. Denn jetzt können die
Menschen im Lande klar erkennen, was sie erwarten
würde, wenn Sie an der Regierung beteiligt wären. An
dieser Stelle wird der Unterschied zwischen den Vorstel-
lungen der Linken und dem, was eine bürgerliche Regie-
rung auf die Beine stellt, deutlich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Da gibt es aber noch viel mehr!)


Genauso doll ist der Antrag der Grünen. Da steht zum
Beispiel, dass „die Ausweitung des Mietminderungs-
rechts auf nicht umgesetzte, jedoch gesetzlich vorge-
schriebene Energieeffizienzstandards im Gebäudebe-
reich“ festgeschrieben werden soll. Ganz unabhängig
von der Frage, welches Streitpotenzial darin liegt, ob die
Energieeffizienzstandards vom Vermieter eingehalten
werden, verbunden mit allen Fragen der Beweis- und
Darlegungslast und allem Pipapo, heißt das doch nicht
weniger, als dass der Eigentümer mittelbar gesetzlich zu
einer Investition gezwungen wird – ohne Rücksicht auf
seine wirtschaftlichen Möglichkeiten. Ob der Eigen-
tümer genügend liquides Eigenkapital hat, das er einset-
zen kann, ob er überhaupt Fremdkapital aufnehmen
kann, ob ihm die Bank ein Darlehen gibt: Alles egal,
sagen Sie von den Grünen. – Geld regnet ja vom Him-
mel. – Sie sagen: Der Eigentümer muss sanieren bzw.
renovieren, egal ob er es sich leisten kann oder nicht.

Dabei gibt es im Land übrigens eine ganze Menge
von Vermietern, die ganz schön aufs Geld achten müs-
sen, und zwar deswegen, weil eine Immobilie auch eine
enorme Belastung darstellen kann.

Wie wohltuend ausgewogen ist dagegen der Entwurf
der Regierung,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Da müssen Sie ja selber lachen! – Zurufe von der SPD und der LINKEN: Oh!)


der die Rechte der Mieter und der Vermieter wirklich in
ein gutes Verhältnis bringt. Kollege Egloff, ich kann nur
sagen: Wenn Sie einmal einen Einmietbetrüger in Ihrer
Wohnung haben, dann ist der Scheinriese Tur Tur, den
Sie so gerne zitieren, kein Scheinriese mehr, sondern
dann ist das Problem höchst real.


(Florian Pronold [SPD]: Der lässt keine FDPler hinein!)


Frau Kollegin Wawzyniak, Sie sagen, das sei ein
minimales Problem, es gebe ja kaum solche Fälle.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja!)


Na ja, dann betrifft das auch nur ganz wenige Mieter.
Wir schützen den redlichen, den vertragstreuen Mieter,
während Sie sich zum Anwalt der Einmietbetrüger
machen. Das kann doch nicht wahr sein!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch von der LINKEN)


Meine Damen und Herren, man kann es nur immer
und immer wieder sagen: Wir denken an beide Parteien,
an Mieter und Vermieter. Unser Entwurf ist ausgewogen.
Wenn man das mit Ihren Vorschlägen vergleicht, dann
kann jeder vernünftige Mensch im Lande nur sagen: Wie
gut, dass in diesem Land Schwarz-Gelb regiert.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ingo Egloff [SPD]: Aber nicht mehr lange!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719501300

Der Kollege Florian Pronold ist der nächste Redner

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1719501400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Menschen, die in Metropolregionen
leben, wie hier in Berlin, wie in München oder in Ham-
burg, müssen sich bei diesem kabarettistischen Auftritt,
den wir gerade erlebt haben, richtig verarscht vorgekom-
men sein.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719501500

Herr Kollege, so richtig parlamentarisch war die

letzte Formulierung nicht.


Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1719501600

Ja, aber Sie wissen ja: Eine Beleidigung ist umso

schlimmer, je mehr sie der Wahrheit entspricht. Insofern
war die Beleidigung gegenüber dem Kollegen ziemlich
schlimm.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Er redet jetzt von seiner Rede!)


Wir haben folgende Situation: Immer mehr Menschen
in Metropolregionen haben Angst davor, dass sie ihre
Heimat nicht erhalten und in ihrer Wohnung nicht blei-
ben können. Die energetische Sanierung ist für uns alle,
die wir darüber reden, etwas Positives, weil wir wissen,
dass sie notwendig ist und dass wir das tun müssen, um
das Klima zu retten. Für viele Menschen ist dies aber
eine Bedrohung, weil sie Angst davor haben, dass sie
ihre Miete nicht mehr zahlen können. Das trifft die
Krankenschwester genauso wie den Polizeibeamten und
die Reinigungskraft, die alle ein sehr niedriges Einkom-
men haben, aber trotzdem in einer Wohnung in der
Innenstadt leben wollen.

Derzeit kommt es zu einer Verdrängung. Sie unter-
nehmen mit Ihrem Gesetzentwurf nichts dagegen und
schaffen keinen fairen Ausgleich zwischen Vermietern
und Mietern.





Florian Pronold


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE] und Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Anzahl der Haushalte, die 40 Prozent ihres Ein-
kommens für das Wohnen ausgeben müssen, hat sich in
den letzten zehn Jahren verdoppelt. Nicht wenige Men-
schen leben von 1 300 Euro netto. Sie geben 50 Prozent
ihrer Nettoeinnahmen für die Miete aus. Jetzt kommen
Sie, wischen das alles weg und sagen: Na ja, es gibt nur
wenige Fälle, in denen das umgelegt wird und man die
11 Prozent im Rahmen einer Mieterhöhung durchsetzen
kann. Genau in den Metropolregionen findet das aber
statt,


(Stephan Thomae [FDP]: In den SPD-regierten Städten!)


weil es dort, liebe FDP, eben kein freies Spiel der Kräfte
gibt, weil dort der Markt eben nicht funktioniert. Die
Mieterinnen und Mieter sind die Leidtragenden, und Sie
unternehmen nichts dagegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will es einmal auf Deutsch sagen, sodass es jeder
versteht: Wenn eine Wohnung für 25 000 Euro energe-
tisch saniert wird, dann bedeutet das, dass auf den Mieter
jedes Jahr Kosten von 2 750 Euro umgelegt werden kön-
nen, im Monat 230 Euro. Wenn die Sanierungskosten
10 000 Euro ausmachen, sind es immer noch 1 100 Euro
im Jahr, also für viele Menschen oft ein Nettomonats-
gehalt. Das sind fast 100 Euro im Monat. Dass Sie nicht
in diesen Kategorien denken, ist klar. Aber es gibt eine
ganze Menge Menschen – die Krankenschwester, den
Wachmann –, die von einem solchen Gehalt leben müs-
sen. Wenn sie schon in der Stadt arbeiten sollen, dann
sollen sie auch in der Stadt wohnen können und nicht
50 Kilometer hinausgetrieben werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist doch das, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf
vorhaben. Hier versagen Sie, weil Sie nämlich versu-
chen, die energetische Sanierung nur über das Mietrecht
zu machen. Der Kollege hat darauf hingewiesen, welch
große Probleme und welche zusätzliche Rechtsunsicher-
heit dadurch entstehen. Das bekommen wir nicht über
das Mietrecht hin, sondern nur dann, wenn es einen ver-
nünftigen Mix aus staatlicher Förderung – Sie haben die
KfW-Mittel für die energetische Sanierung gekürzt –
und Teilung der Lasten und Nutzen von energetischer
Sanierung zwischen Mietern und Vermietern gibt.

Sie begrenzen die Mieterhöhung auch nicht. Es ist
doch nicht so, dass die Mieterhöhung dann, wenn die
energetische Sanierung abbezahlt ist, wieder zurückge-
nommen wird. Nein, sie läuft unendlich weiter. Das ist
zutiefst ungerecht. Daran ändern Sie nichts.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind dafür, ein faires Modell zu finden, bei dem
Mieter und Vermieter vernünftig an Kosten und Nutzen
beteiligt werden. Wir sind dafür, dass man Mieterhöhun-
gen begrenzt.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wie sieht das Modell aus?)


– Entschuldigen Sie, wir haben hier in diesem Hause
fünfmal über diese Frage debattiert.


(Stephan Thomae [FDP]: Das macht es nicht besser!)


Wir Sozialdemokraten haben vor der Sommerpause zum
Beispiel einen Antrag zur energetischen Sanierung vor-
gelegt, wo wir alles genau ausgeführt haben.

Wissen Sie, Frau Ministerin, was mich besonders är-
gert? Wir haben im Sommer erlebt, um wen Sie sich Sor-
gen machen: um Steuerflüchtlinge, die in der Schweiz
ihr Geld anlegen.


(Klaus Breil [FDP]: Absurd!)


Diese wollen Sie schützen. Aber für die Mieterinnen und
Mieter, für die Krankenschwester, für den Wachmann
haben Sie überhaupt keinen Cent übrig. Das ist der
Skandal Ihres Entwurfes.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Sie sind sozial ungerecht. Das ist typisch FDP. Es ist gut,
wenn Sie nicht mehr regieren.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Flacher geht es nicht!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719501700

Nächster Redner ist der Kollege Jan-Marco Luczak

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Jan-Marco Luczak (CDU):
Rede ID: ID1719501800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir behandeln heute ein Thema mit wirklich
hoher gesellschaftsrechtlicher und gesellschaftspoliti-
scher Relevanz.

Wir haben es gehört: Fast die Hälfte der Menschen in
unserem Land lebt in Mietwohnungen. Das, was uns die
Opposition hier darbietet und was in den Reden und
Anträge zu hören und zu lesen ist, ist schon bemerkens-
wert: Hier wird ein Mietrechtsentwurf pauschal als
schlecht abqualifiziert. Hier wird davon geredet, dass
Mieterrechte geschleift werden.


(Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch so!)


Hier wird sogar davon geredet, dass wir Mieter in den
Knast stecken wollen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das wollt ihr!)






Dr. Jan-Marco Luczak


(A) (C)



(D)(B)


Ich muss wirklich sagen: Ich vermisse bei diesem Thema
den angemessenen Respekt und Ernst bei der Opposi-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Den Menschen in unserem Land, denen es darum
geht, sachgerechte und zielführende Lösungen zu finden,
um bei der energetischen Sanierung weiterzukommen
und beim Contracting voranzukommen,


(Stephan Thomae [FDP]: Genau!)


und darum, dass den Vermietern gegenüber den Mietno-
maden ein vernünftiger Schutz zuteilwird, werden Sie
mit Ihrer Schaufensterpolitik, mit Ihren Plattitüden und
mit Ihrem Populismus in keiner Weise gerecht, liebe
Opposition.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will eines hinzufügen – mich ärgert das wirklich,
das merken Sie vielleicht auch –: Sie tun hier gerade so,
als ob Sie hier das soziale Gewissen wären.


(Caren Marks [SPD]: Sie haben ja keines!)


Meine Damen und Herren von der Opposition, wir als
christlich-liberale Koalition haben sehr darauf geachtet,
dass dieser Gesetzentwurf ausgewogen ist, sowohl für
die Mieter als auch für die Vermieter.


(Widerspruch bei der SPD)


Wir brauchen Sie nicht als soziales Gewissen. Das ist für
uns eine bare Selbstverständlichkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD)


Jetzt komme ich zu dem Punkt der energetischen
Sanierung. Das ist in der Tat ein wirklich wichtiger
Bereich. Deswegen sage ich: Hier müssen alle an einem
Strang ziehen. Das gilt für die Vermieter, das gilt für die
Mieter; aber das gilt selbstverständlich auch dann, wenn
es um staatliche Unterstützung geht. Das ist eine gesamt-
gesellschaftliche Aufgabe, an der sich alle beteiligen
müssen.

Ich erinnere an den Bundesrat. Die Frau Ministerin
hat es schon angesprochen: Man muss darüber reden,
dass das Vorhaben schon seit Monaten im Bundesrat blo-
ckiert wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)


Wir wollen alle gemeinsam etwas für Vermieter, Mieter
und vor allen Dingen für den Klimaschutz tun.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie mal ein Angebot an die Länder!)


Deswegen müssen die Länder endlich aufhören, sich
querzustellen, und ihre Blockade aufgeben, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Florian Pronold [SPD]: Sie haben doch die Verhandlungen platzen lassen! Sie wollen doch gar nichts machen!)


Wenn die Linken sagen: „Mit Vermietungen darf man
eigentlich kein Geld verdienen“,


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Nicht zuerst!)


frage ich Sie, liebe Frau Kollegin Wawzyniak: Bei den
Problemen, die wir in den Metropolen – in Berlin, Ham-
burg, München und anderswo – im Zusammenhang mit
Mietpreissteigerungen haben, geht es doch gerade
darum, dass wir auf den Wohnungsmärkten Knappheit
haben. Wie beseitigen wir die Knappheit? Wie wollen
wir das denn schaffen? Indem wir mehr Angebote schaf-
fen. Aber man kann nicht immer nach dem Staat rufen,
wie es in Ihren Anträgen der Fall ist, mit denen Sie einen
Rechtsanspruch auf staatliche Förderung generieren
wollen. Es geht darum, dass wir für die privaten Vermie-
ter, die an dieser Stelle investieren wollen, Anreize
schaffen. Das kann nicht alles der Staat machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Schon klar, dass Sie die fördern wollen!)


Wenn wir schon von den privaten Kleinvermietern
reden – Sie beziehen sich in Ihrer ganzen Argumenta-
tion, angefangen bei den Mietnomaden bis zur energeti-
schen Modernisierung, immer nur auf die großen Woh-
nungsgesellschaften –, dann muss man aber auch sagen:
Tatsächlich werden 60 Prozent der Wohnungen in unse-
rem Land von privaten Kleinvermietern angeboten. Für
diese ist es in der Tat ein Problem, wenn eine energeti-
sche Sanierung durchgeführt werden soll und die Mieter
daraufhin ihre Miete kürzen wollen.

Deswegen haben wir uns das genau angeschaut. Wir
wollen in unserem Land mehr energetische Modernisie-
rung. Deshalb wollen wir das fördern und gezielt An-
reize setzen. Es gibt viele Vermieter in unserem Land,
die schon etwas älter und vielleicht schon im Ruhestand
sind. Sie können nicht einfach zur Bank gehen und einen
Kredit in der entsprechenden Größenordnung aufneh-
men. Sie werden durch Mietminderungen durchaus wirt-
schaftlich belastet. Gerade diese Vermieter, die für
60 Prozent der Mietwohnungen in unserem Lande ver-
antwortlich sind, müssen wir ermutigen, verstärkt in die
energetische Modernisierung zu investieren und auch
mehr Wohnungsbau zu betreiben. Deswegen wollen wir
sie fördern und ihnen Anreize bieten. Diese Vermieter
müssen wir stärken, und das machen wir mit unserem
Gesetzentwurf.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir stellen die Mieter aber in keiner Weise schutzlos.
Wir haben das sehr genau geprüft. Wir meinen, drei
Monate auf eine Mietminderung zu verzichten, das ist
ein vertretbarer und überschaubarer Zeitraum. Es ist
auch nicht so, dass die Mieter nicht von einer energeti-
schen Sanierung profitieren würden. Es geht vielmehr
darum, die zweite Miete, wie man die Betriebskosten
heute nennt – es geht schließlich nicht nur um die Netto-
mieten; gerade die Betriebskosten sind in den vergange-
nen Jahren angestiegen –, zu senken.


(Zuruf von der SPD: Heizkostenzuschuss beim Wohngeld!)






Dr. Jan-Marco Luczak


(A) (C)



(D)(B)


Das schaffen wir nur über energetische Modernisierung.


(Florian Pronold [SPD]: Dann koppeln Sie es an den Erfolg der Einsparungen, nicht an die Investitionen!)


Deswegen glaube ich, dass es ein vertretbarer und
zumutbarer Aufwand für die Mieter ist, für die ersten
drei Monate zu tolerieren, dass der Wohnwert etwas
beeinträchtigt wird, und auf das Minderungsrecht zu
verzichten.

Jetzt will ich noch darauf eingehen, was verschiedent-
lich angesprochen worden ist, nämlich dass wir Mieter-
rechte schleifen würden und wirtschaftliche Härtefall-
gründe nicht mehr angeführt werden könnten. Das
stimmt einfach nicht. Ich frage mich immer, ob Sie un-
sere Gesetzentwürfe nicht lesen oder ob Sie sie nicht
verstehen. Schauen Sie sich diese einmal genau an! Bei
den persönlichen Härtefallgründen wird überhaupt
nichts geändert; es bleibt bei der bestehenden Rechts-
lage.

Bei den wirtschaftlichen Härten haben wir allerdings
richtig gehandelt. Das ist im Übrigen der weit, weit über-
wiegende Teil, was eingewendet wird, die sagen: Wenn
du jetzt modernisierst, lieber Vermieter, dann können wir
aber hinterher die Miete nicht mehr zahlen. Bisher haben
die Mieter in solchen Fällen Einspruch eingelegt, und
dann ist unterm Strich im Wohnungsbestand gar nichts
passiert. Das wollen wir nicht. Es soll erst einmal moder-
nisiert werden können. Deshalb soll hier eine Duldungs-
pflicht eingeführt werden. Aber hinterher, wenn es um
die essenzielle Frage geht, ob die Miete erhöht werden
kann, dann kann ein Mieter selbstverständlich einen
wirtschaftlichen Härtegrund anführen.

Es werden also in keiner Weise irgendwelche Rechte
beschnitten, sondern diese werden lediglich nach hinten
verlagert. Denn wir wollen, dass die energetische
Modernisierung in unserem Land vorankommt, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Gucken Sie sich mal die ZPO-Regelungen an!)


Jetzt komme ich zum Contracting. Das ist auch ein
wichtiger Baustein für die Energiewende, weil damit
sehr viel an Effizienzsteigerung erreicht werden kann.
Wir sehen sehr wohl, dass es ein Zugeständnis ist, das
wir den Mietern an dieser Stelle abverlangen, wenn wir
das Mietminderungsrecht für drei Monate ausschließen.
Ich finde, wie gesagt, es ist ein vertretbares und zumut-
bares Zugeständnis. Aber wir sehen natürlich, dass es
auch eine Belastung ist. Deswegen haben wir im Zusam-
menhang mit dem Contracting ganz klar gesagt: Es muss
eine kostenneutrale Regelung her. Es soll keine Gewinne
auf Kosten der Mieter geben.


(Florian Pronold [SPD]: Das hätten Sie im ganzen Gesetzgebungsverfahren machen sollen!)


Das ist der eine politische Punkt, der uns wichtig war.
Aber es gibt auch noch einen inhaltlichen Grund, wieso
wir für die Kostenneutralität streiten. Wir wollen näm-

lich einen Anreiz setzen, dass möglichst effizient umge-
stellt wird, indem sich der Gewinn des Contractors aus
den beiden Punkten Kostenneutralität und Einsparung
von Brennkosten ergibt. Ein sehr kluger Bedingungszu-
sammenhang ist: Je effizienter umgestellt wird und je
größer die Spanne der Kostenneutralität ist, desto mehr
Anreiz besteht, überhaupt umzustellen. Das ist gut für
unser Klima und für die Mieter.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Stephan Thomae [FDP])


Deswegen bin ich auch skeptisch – darauf möchte ich
als Letztes hinweisen –, wenn es darum geht, den Con-
tractoren Gewinnzuschläge zuzubilligen. Richtig ist,
dass das Contracting auch in der Praxis funktionieren
muss. Wir müssen uns sehr genau anschauen, wie man
die Kostenneutralität berechnet. Dazu soll jetzt drei
Jahre zurückgeschaut werden. Vielleicht muss man aber
auch die Einsparung von Brennkosten in der Zukunft be-
rücksichtigen. Das diskutieren wir. Wir haben noch viele
Punkte, die wir in den Anhörungen klären müssen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719501900

Die können aber nicht mehr vorgetragen werden.


Dr. Jan-Marco Luczak (CDU):
Rede ID: ID1719502000

Zu Mietnomaden kann ich nichts mehr sagen, weil

der Präsident mich unterbricht.

Zum Schluss: Ich bin Berliner Bundestagsabgeordne-
ter. Ich habe, da ich die Probleme des Mietrechts hier in
Berlin kenne, wirklich sehr darauf geachtet, dass unsere
Vorlage ausgewogen ist. Wir haben hier einen sehr gu-
ten, ausgewogenen Entwurf. Sie sollten sich einen Ruck
geben, von Ihrem Populismus Abstand nehmen und die-
sen Gesetzentwurf mit uns gemeinsam verabschieden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Florian Pronold [SPD]: Hier zieht ein Mietnomade von dannen!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719502100

Das Wort erhält nun die Kollegin Ingrid Hönlinger,

Bündnis 90/Die Grünen.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719502200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn ich mir den Gesetzentwurf dieser Regierung zum
Bereich Mietnomaden anschaue, dann drängt sich mir
der Verdacht auf, dass die damit befassten Regierungs-
mitglieder zu viel Zeit vor dem Fernseher verbracht


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


und sich dabei auch noch die falschen Sendungen ange-
schaut haben.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das wollen Sie jetzt auch noch bestimmen? Jetzt wird noch reglementiert, was wir gucken sollen! Was darf ich denn noch gucken, Frau Kollegin?)






Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


Meine Damen und Herren, nur weil in Spiegel TV
eine reißerische Sendung mit dem Titel „Mietnomaden:
Pöbeleien am Gartenzaun“ lief, müssen Sie noch lange
nicht das Prozessrecht ändern!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Als Mietnomaden werden Menschen bezeichnet, die
ein Mietverhältnis bereits in der betrügerischen Absicht
begründen, keine Miete zu zahlen. Sie ziehen von Woh-
nung zu Wohnung und hinterlassen diese in einem ver-
wahrlosten Zustand; das ist ein Problem. Aber Mieterin-
nen und Mieter, die nach dem Eingehen eines
Mietverhältnisses zahlungsunfähig werden – sei es wegen
Arbeitslosigkeit oder Krankheit –, fallen nicht in diese
Kategorie.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sehr richtig! Aber das begreifen die nicht!)


Sehen wir uns die Fälle echter Mietnomaden an,


(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Es gibt sie also?)


stellen wir fest, dass es sich hierbei um Einzelfälle han-
delt. Von einem Phänomen zu sprechen, ist der Versuch
der Eskalierung, um bestimmte Interessen durchzuset-
zen.


(Beifall der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Sie nennen auch gar keine konkreten Zahlen. Das hat
auch seinen Grund: Das Gutachten, das von Bundesjus-
tizministerium und Bundesverkehrsministerium in Auf-
trag gegeben worden ist, hat in ganz Deutschland
426 Fälle von Mietnomadentum festgestellt. Frau Kolle-
gin Voßhoff von der CDU sagt zu Recht: Deutschland ist
ein Land der Mieter. – Das bestätigt auch das Statistische
Bundesamt, das feststellt: Die Hälfte der Bevölkerung in
Deutschland lebt zur Miete.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die andere Hälfte vermietet!)


Also stellen die Mietnomaden einen Anteil im Promille-
bereich dar. Und damit wollen Sie eine massive Geset-
zesänderung rechtfertigen? Glaubwürdigkeit und argu-
mentative Überzeugungskraft sehen anders aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Dabei sind die Konsequenzen Ihres Gesetzentwurfs
äußerst weitreichend.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Richtig!)


Sie schaffen nämlich Regelungen, die alle Mieterinnen
und Mieter treffen. Sie wollen ein neues Instrument in
die Zivilprozessordnung einführen, die sogenannte Si-
cherungsanordnung. Damit kann ein Gericht schon vor
dem Hauptsacheverfahren anordnen, dass der Mieter ei-
nen Geldbetrag hinterlegen muss, auf den der Vermieter
möglicherweise einen Anspruch hat. Hinterlegt der Mie-
ter das Geld nicht, so kann der Vermieter die Wohnung

räumen lassen. Seinen Räumungsanspruch kann er durch
eine einstweilige Verfügung durchsetzen, mit der bloßen
Begründung, dass der Mieter das Geld nicht hinterlegt
hat. Auf ein Verschulden des Mieters kommt es dabei
gar nicht an.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Absurde Regelung!)


So haben Sie zwei Verfahren, nämlich die Anordnung
der Sicherungsleistung und das Räumungsverfahren,
aber keine Beweiserhebung. Vollendete Tatsachen wer-
den geschaffen, ohne dass jemals ein Hauptsacheverfah-
ren durchgeführt wurde. Der Mieter sitzt auf der Straße.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Richtig!)


Bisher kennt die Zivilprozessordnung nur Sicher-
heitsleistungen im Rahmen der Vollstreckung von End-
urteilen. Wenn wir nun Zahlungspflichten für Mieter
schaffen, die auf nur kursorischer Prüfung und prognos-
tizierten Erfolgsaussichten einer Klage basieren,


(Stephan Thomae [FDP]: Nein, auf Vertrag basieren!)


greifen wir tief in die Systematik des Zivilprozessrechts
ein. Das ist ein systematischer Bruch, den wir Rechts-
politikerinnen und Rechtspolitiker nicht mittragen soll-
ten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Sie wollen das Gesetz aber noch weiter verschärfen.
Die Sicherungsanordnung soll nicht nur für Mieten gel-
ten. Sie wollen auch andere Geldforderungen – das kön-
nen zum Beispiel Werklohnforderungen oder Forderun-
gen aus Versicherungsverträgen sein – einbeziehen. Da
drängt sich die Frage auf: Wieso müssen wir für Geldfor-
derungen neue und systemwidrige Regelungen einführen,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition?
Sie bauen einen Buhmann auf – die Mietnomaden – und
benutzen diesen als Vorwand, um das Prozessrecht für
Schuldner inklusive aller Mieter zu verschlechtern und
für Gläubiger inklusive aller Vermieter zu verbessern.

Wir stellen fest: Diese schwarz-gelbe Koalition wird
getrieben von der Durchsetzung von Vorteilen für die ei-
gene Klientel wie keine andere Regierung zuvor. Mal
sind es die Hotelbesitzer. Jetzt sind es die großen Immo-
bilien- und Vermietungsfirmen, deren Profit gesichert
werden soll. Wir als grüne Parlamentarierinnen und Par-
lamentarier fühlen uns dem Wohl der gesamten Bevölke-
rung verpflichtet. Deswegen lehnen wir diesen Teil des
Gesetzes rundweg ab.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719502300

Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der

Kollege Dirk Fischer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1719502400

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Zur sozialen Absicherung des Wohnens gehören so-
zialer Wohnungsbau, Wohngeld und soziales Miet-
recht.

Das erklärte der Kanzler der deutschen Einheit,
Helmut Kohl, in seiner ersten Regierungserklärung nach
der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 30. Ja-
nuar 1991. Das ist von ihm oft wiederholt worden. Für
uns ist das soziale Mietrecht seit Jahrzehnten ein wichti-
ger Aspekt des gesamten Wohnungswesens in Deutsch-
land.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es war immer unser politisches Bemühen, eine ange-
messene Balance zwischen Vermieter- und Mieterinte-
ressen herzustellen. Der Vermieter muss in der Lage
sein, sein Eigentum ökonomisch angemessen zu nutzen.
Sonst wird in diesen Sektor kein privates Kapital inves-
tiert. Es hat keinen Sinn, heute die Voraussetzungen da-
für zu zerstören und morgen zu beklagen, dass zu wenig
Geld in den Wohnungsbau investiert wird. Man muss
wissen, was man tut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Für die Mieter gelten besondere Schutzvorschriften;
denn die Ware Wohnung ist nicht irgendeine Ware, son-
dern stellt eine existenzielle Voraussetzung für die Men-
schen dar, in Ruhe und Sicherheit zu leben.

Diese bewährte Zielsetzung muss also erhalten wer-
den. Aber natürlich muss das Mietrecht von Zeit zu Zeit
überprüft werden. Wir müssen es an gesellschaftliche
Veränderungen anpassen. Der Kern der von der Bundes-
regierung vorgelegten Mietrechtsnovelle ist die Anpas-
sung an die Herausforderungen der Energiewende. In
puncto Energieeffizienz und Klimaschutz kommt dem
Gebäudebereich eine Schlüsselrolle zu.

Herr Kollege Egloff, Ihre Rede hat bei mir den Ein-
druck erweckt, dass Sie sich von den ökologischen Ziel-
setzungen in Wahrheit völlig verabschiedet haben. Dann
müssen Sie das auch deutlich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wie Sie aufgrund der Statistik wissen, bietet der Gebäu-
desektor mit Abstand das größte Einsparpotenzial. Wenn
wir das nicht nutzen,


(Florian Pronold [SPD]: Da ist das größte Versagen dieser Regierung!)


können wir alle uns gesetzten Ziele aufgeben. Hier muss
also gehandelt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Bundesregierung hat vor diesem Hintergrund ge-
rade für den Gebäudesektor ein ganzes Maßnahmenbün-
del im Energiekonzept verankert, immer streng an das
Wirtschaftlichkeitsgebot gekoppelt und ohne staatlichen

Sanierungszwang. Klar ist aber auch, dass die energeti-
sche Sanierung des Gebäudebestands nicht zum Nulltarif
zu haben ist, weder für die Vermieter noch für die Mieter
noch für den Staat auf allen Ebenen.

Hauseigentümer haben sukzessiv steigende Anforde-
rungen zu erfüllen, wenn sie ein neues Haus errichten
wollen, und haben bereits sehr hohe Anforderungen zu
erfüllen, wenn sie den Bestand energetisch sanieren wol-
len. Derzeit befinden wir uns beim Gebäudebestand
schon an der Grenze des wirtschaftlich Verkraftbaren
und Vertretbaren; das müssen wir wissen. Bei noch hö-
heren Anforderungen besteht die Gefahr, dass viele
Hauseigentümer ihre Sanierungspläne verschieben oder
ganz aufgeben. Das muss verhindert werden.

Ergänzend zu den Anforderungen bedarf es aber auch
der Förderung von Investitionen, nicht nur finanziell,
sondern eben auch durch die mietrechtlichen Rahmenbe-
dingungen. Der größte Gewinner einer energetischen Sa-
nierung eines Gebäudes ist der Nutzer, das heißt in
Deutschland vor allem der Mieter. Das hat die Vorredne-
rin gerade klargemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Denn die Differenz zwischen den Heizkosten eines sa-
nierten und eines unsanierten Gebäudes ist enorm. Ob
das am Ende zu einer finanziellen Einsparung führt, ist
neben dem Verbrauch leider auch von der allgemeinen
Preisentwicklung abhängig, und wir wissen, dass Ener-
gie teurer wird.

Ich sehe drei relevante Problemkreise, auf die sich die
Diskussion über den Änderungsbedarf beim Mietrecht in
Bezug auf die energetische Sanierung konzentriert. Dazu
kommt die Frage, wie wir mit vorsätzlichen Mietschuld-
nern umgehen wollen. Ich komme zunächst zum Miet-
minderungsrecht. Wie bereits ausgeführt, ist der Nutzer
einer Wohnung der Hauptgewinner einer energetischen
Sanierung. Es bedarf bei einem Mietverhältnis schon be-
sonderer Anreize, damit sich ein Hauseigentümer für
eine derartige Sanierung entscheidet, vor allem, wenn
sich sein Haus nicht in den nicht sehr zahlreichen, also
eher überschaubaren Toplagen befindet. Wenn der Ver-
mieter dann auch noch zusätzliche wirtschaftliche Ver-
luste durch Mietminderungen befürchten muss, dann ist
das nicht gerade ein besonderer Anreiz. Es ist doch für
einen Mieter zumutbar, eine in drei Monaten zügig
durchgeführte energetische Sanierung zu ertragen. Dies
darf ihm nicht noch das Recht verschaffen, denjenigen,
der letztlich an ihm eine gute Tat begeht, auch noch
durch eine Mietminderung bestrafen zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diesen Widersinn können wir doch nicht gutheißen.

Liebe Kollegen von den Grünen, welche mietrechtli-
chen Anreize bieten Sie den Sanierungsträgern? Über-
haupt keine. Ihr Antrag geht nämlich an den berechtigten
Interessen der Hauseigentümer vollständig vorbei. So ist
keine Steigerung der Investitionstätigkeit zu erwarten.
Wie können Sie es eigentlich mit Ihrem grünen Gewis-
sen vereinbaren, so viele dringend notwendige Sanie-
rungsprojekte zu behindern, ja in Wahrheit sogar mas-





Dirk Fischer (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)


senhaft ganz zu verhindern? Das kann doch von Ihnen
überhaupt nicht akzeptiert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Florian Pronold [SPD]: Haben Sie ein schwarzes Gewissen oder gar keines?)


So funktioniert die Energiewende nicht, schon gar nicht
mit Ihren Vorstellungen von Sanierungszwängen und
Energiepolizei.


(Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Noch ist Peter Altmaier kein grünes Mitglied!)


Ich komme zur Umlage. Die Koalition hat sich ent-
schieden, an der möglichen Höhe der Modernisierungs-
umlage nicht zu rütteln. Ich halte auch nichts davon, die
Modernisierungsumlage auf ausgewählte Modernisie-
rungsformen zu begrenzen, nur weil jetzt die energeti-
sche Sanierung im Vordergrund steht. Wer weiß, viel-
leicht gerät in fünf Jahren der Wasserverbrauch in die
Schlagzeilen. Für die allgemeine Verbesserung von
Wohnverhältnissen sollte die Modernisierungsumlage
weiterhin möglich bleiben.

Zum Contracting. Der Regierungsvorschlag ist eine
gute Entscheidungsgrundlage. Ob dabei das Optimum
gefunden worden ist, werden wir nach der Anhörung im
Rahmen der Beratungen zu prüfen haben. Aber immer-
hin – das hat die Bundesjustizministerin ausgeführt –:
Diese Bundesregierung ist die erste, die überhaupt ein-
mal einen vernünftigen und diskussionswürdigen Vor-
schlag gemacht hat. Daran muss weiter gearbeitet wer-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Zum Problem der Mietnomaden. Dabei geht es um
vorsätzliche Mietschuldner, also Menschen, die mit Ab-
sicht anderen Menschen wirtschaftlichen Schaden zufü-
gen und oftmals vorsätzlich betrügerisch handeln. Mir
ist egal, wie viele Fälle das sind. Die große Masse der
Mietverhältnisse funktioniert reibungslos. Die sind von
den neuen Regelungen, zum Beispiel der Sicherungsan-
ordnung, überhaupt nicht betroffen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Doch!)


Der Gesetzgeber darf aber prinzipiell nicht akzeptieren,
dass einige die derzeit bestehenden Regelungslücken
und die oftmals viel zu langen Prozesse nutzen, um sich
einen ungerechtfertigten wirtschaftlichen Vorteil zu ver-
schaffen. Große Wohnungsbaugesellschaften haben ei-
nen langen Atem und können das durchstehen, aber für
einen kleinen Vermieter mit ein oder zwei Wohnungen
ist dies oftmals mit dem wirtschaftlichen Ruin verbun-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will am Ende meiner Rede auf Folgendes hinwei-
sen: Für uns alle ist die Energiewende auch im Gebäude-
sektor eine große Herausforderung. Die Bundesregie-
rung hat ihre Hausaufgaben gemacht: Förderung über
die mit Bundesmitteln finanzierten Programme der KfW,
Konzept zur Fortentwicklung der EnEV, Mietrechtsent-

wurf, Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung
der Gebäudesanierung. Der Beitrag, den die von der
SPD oder von den Grünen geführten Bundesländer
hierzu im Bundesrat liefern, ist alles andere als konstruk-
tiv.

Ich frage wiederum: Wie können die Freunde von den
Grünen mit ihrem grünen Gewissen vereinbaren, dass so
jegliche energetische Sanierung vor allem im Eigen-
heimsektor, dem die normalen Häuslebauer, Normalver-
diener, oft ältere Menschen angehören, die darauf ange-
wiesen sind, steuerliche Förderungen zu empfangen,
konterkariert wird?


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719502500

Lieber Kollege.


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1719502600

Ich sage Ihnen voraus: Ohne eine steuerliche Förde-

rung der energetischen Gebäudesanierung werden wir
die anspruchsvollen Ziele nie erreichen. Sie müssen sich
in diesem Fall einen Ruck geben.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719502700

Michael Groß ist der nächste Redner für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Groß (SPD):
Rede ID: ID1719502800

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt unge-
fähr anderthalb Stunden viel über marktliberale Philoso-
phien gehört. Deswegen ist es wichtig, hier einen Gegen-
part zu setzen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Eigentlich nicht!)


Ich will zu Beginn deutlich machen, dass die SPD
zum Thema Klimaschutz steht. Anders ausgedrückt: Wir
müssen das Ziel erreichen, genug CO2 einzusparen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ach, Rhetorik! Lippenbekenntnisse! – Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Wie denn?)


Wir müssen aber auch die Energieeffizienz in den Griff
bekommen. Die Wege sind allerdings unterschiedlich:
Sie wollen die Mieterinnen und Mieter belasten; wir
wollen sie in diesem Rahmen schützen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Miete muss bezahlbar bleiben; das Wohnen muss
bezahlbar bleiben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungs-
koalition, vor kurzem hat der Bundesverband deutscher
Wohnungs- und Immobilienunternehmen veröffentlicht,
dass eine energetische Standardsanierung 3,50 Euro pro
Quadratmeter kostet. Einzusparen sind 38 Cent. Die





Michael Groß


(A) (C)



(D)(B)


Frage an Sie ist: Wie wollen Sie diese Schere schließen?
Die Einkommensentwicklung in Deutschland ist gerade
schon beschrieben worden. Es gibt in Wachstumsregio-
nen Menschen, die 50 Prozent ihres Einkommens für das
Wohnen und 15 Prozent für die Mobilität ausgeben müs-
sen. Wovon sollen diese Menschen dann noch leben? Sie
haben darauf keine Antwort. Ganz im Gegenteil: Sie
sagen, wir müssten die Mieter noch mehr belasten.

Sie spielen auf dem falschen Spielfeld. Sie wollen die
Mietrechtsreform nutzen, um die soziale Funktion des
Mietrechts auszuhöhlen. Das sieht man an dem Titel
Ihres Gesetzentwurfs, in dem es sowohl „energetische
Modernisierung“ als auch „vereinfachte Durchsetzung
von Räumungstiteln“ heißt.

Sie haben gerade nach den Antworten der SPD ge-
fragt. Ich kann Ihnen welche geben. Sie müssen energe-
tische Sanierung als Bestandteil der Stadtentwicklung
begreifen und sich davon lösen, dass es nur um einzelne
Gebäude geht. Sie müssen verstehen, dass wir viele Fra-
gen beantworten müssen. Unsere demografische Ent-
wicklung stellt die Menschen, aber auch die Städte vor
große Probleme. Uns stellt sich die Frage des guten,
bezahlbaren Wohnens in den Städten. Die energetische
Sanierung kann ein Bestandteil dieser Stadtentwicklung
sein. Da man den Euro nur einmal ausgeben kann, müs-
sen wir dafür sorgen, dass Quartierskonzepte entwickelt
werden, durch die die Städte in die Lage versetzt wer-
den, vernünftig zu steuern, zu entscheiden, welche ener-
getischen Maßnahmen richtig sind und welche wir um-
setzen müssen und umsetzen können.

Neben der Gebäudesanierung spielen die Fragen eine
Rolle: Wie gewinnen wir Energie? Wie versorgen wir
die Wohnungen mit Energie? Wie speichern wir Ener-
gie? Die Antworten darauf müssen wir mit einem Ge-
samtkonzept geben.

Wir Sozialdemokraten haben die Vorstellung, dass
wir die Stadt als soziale Stadt wiederbeleben müssen.


(Beifall der Abg. Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dazu gehören eben auch bezahlbare Energie, Energie-
einsparungen und CO2-Reduktion.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben Angst, dass sich zahlreiche Menschen in
bestimmten Stadtteilen demnächst keine energetisch
sanierten Wohnungen mehr leisten können, mit der Kon-
sequenz, dass sie vertrieben werden. Das ist dem ähn-
lich, was im Bereich „soziale Segregation“ festzustellen
ist: Es kommt zu einer Wanderungsbewegung von Men-
schen, die aus ihren Stadtteilen vertrieben werden, weil
das Wohnen dort zu teuer wird. Das müssen wir verhin-
dern. 6 Millionen Menschen in Deutschland verdienen
weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Sie können sich vor-
stellen, was die Umlage der voraussichtlichen Investi-
tionssummen auf die Mieter bedeutet.

In Deutschland gibt es zurzeit 1,5 Millionen gebun-
dene Sozialwohnungen. Das ist ein wichtiges Thema,
das Sie überhaupt nicht angehen.


(Iris Gleicke [SPD]: Richtig!)


Zur Frage der sozialen Wohnraumförderung: Sie sa-
gen nicht, dass Sie die 518 Millionen Euro bis 2019 ver-
längern wollen, sondern Sie halten das Thema völlig
offen. Wenn der Bund überhaupt noch eine Verantwor-
tung in der Steuerung der Wohnungspolitik übernehmen
will, dann müssen Sie dort handeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Abschließend noch ein Satz zur Mietminderung: Ihr
Vorschlag ist ungefähr so, als würden Sie ein Auto kau-
fen und bekämen es ohne Windschutzscheibe und ohne
Heizung. Dann würde Ihnen aber versprochen werden,
in fünf Monaten bekämen Sie es eingebaut, weil man
gerade noch in der Entwicklung und in der Produktion
sei. 100 Prozent Leistung und 100 Prozent bezahlen, das
ist unser Thema, und so muss es auch sein. Dies gilt
auch für die Mietminderung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regie-
rungsfraktionen, das Mietnomadentum wurde heute
schon mehrfach dargestellt. Wir haben 24 Millionen
Mieter. Nach Schätzungen des GdW gibt es vielleicht
15 000 Menschen, die bewusst, zielgerichtet betrügen
wollen; andere sprechen von 1 000. Sie diskriminieren
die 24 Millionen Mieter in diesem Land, wenn Sie
sagen, in Sachen Mietnomadentum müssten wir handeln.
Ich verstehe Sie da wirklich nicht.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719502900

Für die CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner

Norbert Geis.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1719503000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Frau Wagner hat vorhin bei ihrem Eingangs-
statement zu ihrer Rede festgestellt, dass wir in Deutsch-
land ein ausgewogenes Mietrecht und damit wohl auch
das beste Mietrecht in ganz Europa haben. Ich kann
Ihnen nur beipflichten. Es ist auch notwendig; denn das
Mietrecht spielt eine ganz bedeutende Rolle in unserer
Rechtsordnung überhaupt und hat eine wichtige Ord-
nungsfunktion in unserem gesellschaftlichen Zusam-
menleben.

Wir haben es schon oft genug gehört: Es gibt in unse-
rem Lande 24 Millionen Mieter. Von 40 Millionen Woh-
nungen sind 24 Millionen Wohnungen vermietet. Also
ist das ein ganz großer Anteil der Bevölkerung. Es ist
immer schwierig, einen Interessenausgleich zwischen





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)


dem Vermieter und dem Mieter zu finden, weil die Inte-
ressen in bestimmten Situationen ganz weit auseinander-
gehen können.

Hier einen vernünftigen Mittelweg zu finden, das ist
ebenfalls nicht einfach. Ich bin aber der Meinung, dass
dieser Gesetzentwurf einen guten Mittelweg darstellt.
Natürlich kann man da und dort noch eine Änderung
herbeiführen; aber alles in allem gesehen werden wir an
diesem Gesetzentwurf in seinen Grundlinien in jedem
Fall festhalten, weil wir der Meinung sind, dass er ganz
sicher besser nicht gestaltet werden kann, jedenfalls in
seinen Grundlinien nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein zweiter Punkt ist zu beachten. Ich sagte schon,
von den 40 Millionen Wohnungen seien 24 Millionen
Mietwohnungen. Diese 24 Millionen Mietwohnungen
werden nicht in erster Linie von den großen Wohnungs-
baufirmen gestellt, auch nicht vom sozialen Mietwoh-
nungsbau, sondern von den kleinen Anbietern. Die klei-
nen Anbieter wollen mit einem ganz großen Eifer, mit
einem starken Willen zur Selbstbeschränkung Eigentum
durch ein Haus erwerben, das sie bauen; da ist Urlaub
nicht angesagt. In diesem Haus haben sie dann zwei oder
drei Mietwohnungen. Diese Vermieter stellen nicht nur
einfach das Geld zur Verfügung – sie müssen auch zur
Bank; denn sie werden das alles nicht so aus eigener
Tasche finanzieren können –, sondern bringen auch in
höchstem Maße Eigenleistungen. Auch viele Nachbarn
werden helfen. Auf dem Dorf ist es üblich, dass man
sich hilft und eine Wohnung mit der Hilfe vieler anderer
baut. Das muss man bedenken.

Diese kleinen Vermieter bilden den größten Teil der
Vermieter, und all diese kleinen Vermieter haben ein
größtes Interesse daran, dass das, was sie sich abgespart
haben, was sie an Eigenleistung erbracht haben, in ver-
nünftige Hände gerät und sie daraus auch einen Vorteil
haben. Sie wollen einen Vorteil nicht nur für den Augen-
blick, sondern vor allen Dingen für ihre Altersversor-
gung haben. Das ist vernünftig, und dieses Wollen müs-
sen wir auch unterstützen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


weil sie damit einen großen Beitrag leisten, um der
Nachfrage nach Wohnungen gerecht werden zu können.

Deswegen halte ich es schon für richtig, dass wir uns
Gedanken darüber machen, wie wir dieses Mietnoma-
dentum bekämpfen. Das ist keine Bagatelle. Wer ein
bisschen damit zu tun hat – als Anwalt hat man damit zu
tun –, der weiß, wie schwierig die Situation ist. Der Ver-
mieter bekommt keine Miete, während der andere in der
Wohnung sitzt. Ich bin froh darüber, dass wir nicht so
viele Mietnomaden haben.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wie viele zahlen keine Miete? Legen Sie Zahlen vor!)


– Nein, wir müssen es aber gesetzlich regeln. Bei
15 000 Mietnomaden – eine Zahl, die hier genannt wor-
den ist – müssen wir eine gesetzliche Regelung finden.
Wir können doch nicht einfach das Faustrecht gelten
lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Es sind keine 15 000!)


Was will denn ein Vermieter machen, wenn der Mie-
ter partout nicht bezahlen will? Der Vermieter hat zwar
einen vollstreckbaren Titel, aber der Mieter geht zum
Amtsgericht und bringt irgendeine Härte vor, die der
Richter dann wahrscheinlich auch noch anerkennt. Dann
sitzt er über ein halbes Jahr oder ein dreiviertel Jahr in
der Wohnung, ohne einen Mietzins zu zahlen. Das kön-
nen wir so nicht hinnehmen; damit verderben wir es uns
mit den Kleinanbietern. Aber das wollen wir nicht, weil
wir sie brauchen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir alle zusammen wissen, dass die Energieeffizienz
ein wichtiger Bestandteil unserer Energiewende ist.
Ohne die Steigerung der Energieeffizienz werden wir die
Energiewende, so wie wir sie vorhaben, nicht schaffen.
Effizienzsteigerung heißt ja auch Einsparen, heißt, Maß-
nahmen zu treffen, damit man nicht so viel Energie ver-
brauchen muss. Das versuchen wir jetzt natürlich auch
im Mietrecht umzusetzen. Wie wollen wir denn den
Kleinanbieter dazu bringen, noch einmal Geld in die
Hand zu nehmen, um jetzt auch noch diese Maßnahmen
zur Effizienzsteigerung durchzuführen, ohne dass er die
Ausgaben umlegen kann? Das macht doch kein vernünf-
tiger Mensch mehr, vor allen Dingen dann nicht, wenn er
kurz vor der Rente steht und eigentlich mit den Mietein-
nahmen seine Rente aufbessern möchte. Also müssen
wir doch dafür Sorge tragen, dass es für ihn interessant
bleibt, diese Maßnahmen zur Effizienzsteigerung vorzu-
nehmen und zu finanzieren.


(Florian Pronold [SPD]: Dann machen Sie eine degressive Abschreibung!)


Diese Möglichkeit wollen wir schaffen. Herr Fischer
hat es vorhin schon erklärt: Wenn wir dem Mieter nun
anbieten, dass während der Zeit, in der diese Maßnah-
men zur Steigerung der Energieeffizienz durchgezogen
werden, Mietminderungen möglich sind, der Vermieter
also Minderungen hinnehmen muss, dann denkt der
nicht im Traum daran, überhaupt eine solche Maßnahme
durchzuführen.

Ich sehe durchaus ein: Der Mieter muss insoweit
zunächst einmal in Vorleistung treten. Er muss damit
zurechtkommen, wenn im Haus im Zuge dieser Maßnah-
men umgebaut wird. Das stellt zunächst einmal eine Be-
lastung des Mieters dar. Das sehen wir. Aber wie sollen
wir denn den Kleinanbieter dazu bringen, entsprechende
Maßnahmen zur Effizienzsteigerung durchzuführen,
wenn er dann auch noch eine Mietminderung hinnehmen
muss? Wir werden ihn nicht dazu zwingen können. Des-
wegen müssen wir auch innerhalb des Mietrechts eine
Möglichkeit des Ausgleichs schaffen. Das haben wir in
diesem Entwurf so vorgesehen. Ich meine, es ist auch in-
soweit ein gelungener Entwurf.

Lassen Sie mich noch ein Wort zum Contracting
sagen. Das ist natürlich eine Sache, die immer mehr
kommen wird. Im Moment haben wir in den großen





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)


Wohnanlagen die Heizungsanlagen noch irgendwo im
Keller. Sie sind zum Teil sehr ineffizient. Es ist gut, dass
es dieses Contracting in Zukunft geben wird, bei dem
gewerbliche Wärmeanbieter in der Lage und bereit sind,
die Wärme in die verschiedenen Wohnhäuser zu bringen,
und zwar effektiver, als wenn die Wärme im eigenen
Haus hergestellt wird. Deswegen meine ich, dass wir
dies unterstützen sollten. Wir dürfen dies nicht bagatelli-
sieren, sondern sollten Contracting insbesondere für
Kleinanbieter interessant machen, damit diese bereit
sind, das Geld hierfür in die Hand zu nehmen. Am Ende
hat der Mieter insofern Vorteile davon, als die eigenen
Aufwendungen geringer sein werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch kein
Gesetz ist so aus dem Bundestag herausgekommen, wie
es hineingekommen ist. Wir werden darüber beraten,
dazu Anhörungen machen und gute Argumente anhören
und sie umsetzen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingo Egloff [SPD]: Das ist die Hoffnung, die wir haben!)


Dr. Norbert Lammert:
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt er-

hält der Kollege Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1719503100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte noch einmal auf die Dimensionen, insbesondere
die Herausforderungen, die wir uns mit dem Energie-
konzept vorgenommen haben, eingehen. Wir wollen in
Deutschland bis zum Jahr 2050 den Primärenergiebedarf
um 80 Prozent vermindern. Das Zwischenziel ist, dass
wir bis 2020 20 Prozent gegenüber 2008 einsparen.


(Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schaffen Sie nicht mit dem Mietrecht!)


Über das Ziel sind wir uns einig. Alle in diesem Hause
haben diesem zugestimmt. Ich arbeite noch einmal die
Punkte ab, in denen wir uns einig und auch nicht einig
sind. Das Ziel kann nur erreicht werden, wenn wir alle
Potenziale beim Energiesparen und bei der Energieeffi-
zienz nutzen bzw. heben. Auch darüber sind wir uns ei-
nig. Hier spielt der Gebäudesektor – das ist vielfach an-
geklungen – eine zentrale Rolle. 40 Prozent des
Endenergieverbrauches – und damit der größte Sektor –
in Deutschland entfallen auf die Gebäude. Wenn wir dort
nicht ansetzen und nicht die richtigen Instrumente fin-
den, dann wird das Energiekonzept – das weltweit ambi-
tionierteste, das wir uns gemeinsam vorgenommen ha-
ben – so nicht umzusetzen sein.

Beim Thema Neubau sind die Probleme mehr oder
weniger gelöst. Es gibt heute Passivhäuser, Nullenergie-
häuser, Plusenergiehäuser. Hier werden im Bereich mo-

derne Haustechnik und Isolierung mit neuen Baustoffen
nahezu alle Möglichkeiten genutzt. Man verbraucht hier
nur noch wenig Energie. Das Problem ist, dass wir in
Deutschland nur 200 000 Neubauten im Jahr verzeich-
nen. Zum Teil sind es sogar weniger. Das heißt, bei den
bereits erwähnten 40 Millionen Wohnungen in Deutsch-
land würden wir 200 Jahre benötigen, um die gesteckten
Ziele zu erreichen. Dies macht die Dimension der He-
rausforderung noch einmal deutlich.

Wir müssen uns um den Gebäudebestand kümmern
und dort die Potenziale nutzen. Hier gibt es vielfältige
Möglichkeiten. Einige Zahlen möchte ich nennen. Die
Haustechnik: 90 Prozent der Kessel in deutschen Kellern
sind veraltet. Wenn nur diese Kessel durch neue mit ho-
hen Wirkungsgraden ersetzt würden, dann könnten bei-
spielsweise 55 Millionen Tonnen CO2 eingespart wer-
den. Von den Heizkesseln werden im Moment
180 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr emittiert. Es geht
also um rund 30 Prozent.

Auch vermeintlich kleine Dinge können einen Beitrag
leisten. Ich nenne hier die Fenstereinheiten. Es gibt
580 Millionen Fenstereinheiten in Deutschland. Von die-
sen sind 30 Millionen einfachverglast. 250 Millionen
sind technisch und energetisch veraltet. Hier könnten wir
27 Millionen Tonnen CO2 einsparen oder – in Heizöl
ausgedrückt – 8,6 Milliarden Liter Heizöl pro Jahr. Auch
hier sind wir uns einig.

Wenn wir die Ziele erreichen wollen, dann müssen
wir alle Instrumente nutzen. Zwang führt nicht zu den
gewünschten Ergebnissen. In den Bereichen, in denen
man mit Zwang und Verpflichtung gearbeitet hat, ist das
Gegenteil erzielt worden. In der Großen Koalition for-
derte die SPD einen Zwang zur Nutzung erneuerbarer
Energien bei energetischen Sanierungen. Dieses wurde
auf Bundesebene nicht eingeführt, weil wir Technologie-
vorgaben für Solarthermie machen wollten. In Baden-
Württemberg wurde von der damaligen CDU-Regierung
zusammen mit der FDP die Integrationspflicht für erneu-
erbare Energien bei der energetischen Sanierung, tech-
nologieoffen, eingeführt. Hierfür gab es noch zusätzliche
Förderungen. Trotzdem zeigt die erste Bilanz nach zwei
Jahren, ob es einem gefällt oder nicht, dass die Men-
schen in die energetische Sanierung weniger investieren,
also Investitionsattentismus betreiben. Das heißt also,
Zwang führt nicht zum Erfolg.

Deshalb muss mit Anreizen gearbeitet werden. Es
gibt das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, was erfolg-
reich ist, aber nicht ausreichend. Dies betrifft vor allem
selbstgenutztes Eigentum. Die Marktanreizprogramme,
die damit verbunden sind, haben wir ebenfalls. Dann
gibt es die steuerliche Absetzbarkeit. Es ist ein Skandal,
dass dies seit über einem Jahr von den Ländern im Bun-
desrat blockiert wird. Dadurch kommt die energetische
Sanierung nicht so voran, wie es notwendig ist.

Der beste Mieterschutz ist, wenn wir Instrumente fin-
den – das ist angeklungen –, um den Mieter von den
Energiepreissteigerungen abzukoppeln. Der Mieter muss
die Energiepreise selber zahlen, und zwar über die Ne-
benkosten. Es ist das bekannte Dilemma: Der Vermieter
hat kein Interesse daran, zu investieren, wenn er nichts





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)


davon hat, außer vielleicht einer Wertsteigerung. Er wird
aber natürlich nicht investieren, wenn er damit rechnen
muss, dass auch noch eine Mietkürzung auf ihn zu-
kommt. Deshalb muss es einen Ausgleich geben, sodass
beide Seiten etwas davon haben. Der Mieter muss mit-
tel- und langfristig durch Energieeinsparungen bei den
Nebenkosten etwas davon haben, sodass er sich dort ab-
koppeln kann.

Dann werden die Mieter auch nicht aus der Innenstadt
vertrieben. Der Kollege Pronold hat es angesprochen:
Wenn in den Großstädten, in den Altstädten, in den Zen-
tren keine energetisch sanierten Wohnungen und Ge-
bäude vorhanden sind, dann wird nämlich genau das die
Folge sein, weil die Nebenkosten in astronomische Hö-
hen steigen. Das werden sich die Mieter nicht mehr leis-
ten können, und dann werden sie vertrieben. So wird ein
Schuh daraus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir versuchen jetzt, dieses Dilemma aufzulösen. Auf
der einen Seite muss die Investition getätigt werden, auf
der anderen Seite müssen sowohl der Mieter als auch der
Vermieter etwas davon haben.

Ein entscheidender Punkt ist – das ist bereits ange-
klungen –, dass im Bereich des Contracting im weiteren
parlamentarischen Verfahren nachgebessert werden
muss. Hier kann ich nur den Gedanken des Kollegen
Geis unterstützen: Kein Gesetz hat den Bundestag so
verlassen, wie es hineingekommen ist.

Beim Contracting übernimmt der gewerbliche Ener-
giedienstleister im Auftrag des Vermieters beispiels-
weise Wärmelieferungen und Investitionen in die Tech-
nik. Hier muss die Neutralität im Hinblick auf den
Zeitraum gewährleistet sein.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719503200

Herr Kollege.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1719503300

Eine Investition, mit der eine Energieersparnis von

30 oder 40 Prozent erreicht werden soll, kann natürlich
nicht im Laufe eines Jahres erwirtschaftet werden. Hier
muss man sich Überlegungen im Hinblick auf eine intel-
ligente Ausgestaltung machen, sodass sowohl der Mieter
etwas davon hat als auch derjenige, der für das Contrac-
ting zuständig ist.

Insofern freue ich mich auf gute Beratungen in den
Ausschüssen, auf dass wir den bisher schon guten Ge-
setzentwurf noch besser machen und die Ziele, die wir
uns vorgenommen haben, gemeinsam erreichen und
nicht bei der Umsetzung auf der Strecke bleiben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719503400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10485, 17/10776 und 17/10120 an

die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Ich hoffe, dass dies jedenfalls nicht streitig
ist. – Das ist offenkundig so. Dann sind die Überweisun-
gen damit so beschlossen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 sowie den Tagesord-
nungspunkt 4 b auf:

ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Lisa
Paus, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögens-
abgabe

– Drucksache 17/10770 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

4 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Ulrich, Dr. Diether Dehm, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Reichtum umFAIRteilen – in Deutschland und
Europa

– Drucksache 17/10778 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Federführung strittig

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah-
ren.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719503500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer über

Armut spricht, darf über Reichtum nicht schweigen.
Deutschland ist ein reiches Land, aber Deutschland hat
enorme Schulden. Reden wir also über privaten Reich-
tum und öffentliche Armut.

In den letzten vier Jahren ist die gesamtstaatliche Ver-
schuldung Deutschlands von 1,6 Billionen Euro auf über
2 Billionen Euro gestiegen. Das sind 81,2 Prozent des
Bruttosozialprodukts, also schlechter als in Spanien. Wir
verwenden heute 11 Prozent unseres Haushaltes für die
Begleichung von Zinsen. Man kann es auch anders sa-
gen: 32,8 Milliarden Euro – der zweitgrößte Haushaltsti-
tel – fließen cash an Vermögende, und das in Zeiten his-
torisch niedriger Zinssätze.

Im gleichen Zeitraum, über den wir hier sprechen, ist
der private Wohlstand in Deutschland um 1 400 Milliar-
den Euro, also 1,4 Billionen Euro gestiegen. Nach den
Zahlen des neuen Armuts- und Reichtumsberichts der
Bundesregierung beträgt das Privatvermögen heute





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)


10 Billionen Euro, und weit mehr als die Hälfte davon
gehören lediglich 10 Prozent dieser Gesellschaft.

Ziehen wir also eine Bilanz der Kanzlerschaft von
Frau Merkel: 500 Milliarden Euro neue Schulden für
den Staat, 1 400 Milliarden Euro neuer Reichtum für die
Vermögenden. Das ist die Bilanz der selbsternannten
„schwäbischen Hausfrau“. Man könnte auch sagen: Das
ist die Bilanz einer unverschämten schwarz-gelben
Klientelpolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So ein Blödsinn!)


Sie vertreten nicht das bürgerliche Lager; die politische
Rechte in diesem Lande vertritt ausschließlich das be-
sitzbürgerliche Lager.

Sie werden einwenden, das habe etwas mit der Fi-
nanzkrise zu tun. Richtig.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Die Sie verursacht haben! – Gegenrufe des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


– Sie überschätzen mich, Herr Kollege. – Sie organisier-
ten einen Bail-out von Bankschulden, um eine Wirt-
schaftskrise abzuwenden. Das war übrigens notwendig.
Dabei wurden aber die privaten Vermögen der Gläubiger
der Banken massenhaft mit gerettet. Die Folge davon
waren überall in Europa explodierende Staatsschulden.

Die große Mehrheit dieses Hauses hat sich gemein-
sam dazu bekannt, dass man der Neuverschuldung einen
Riegel vorschieben muss. Deswegen haben wir den Fis-
kalpakt auf den Weg gebracht. Wir müssen aber feststel-
len: Neuverschuldung bedeutet nichtsdestotrotz mehr
Schulden; der Prozess wird nicht gestoppt. Was müssen
wir tun? Wir müssen Schulden abbauen, um die Souve-
ränität der Demokratie wiederherzustellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Wie in der rot-grünen Koalition? – Dr. Daniel Volk [FDP]: So wie in NordrheinWestfalen?)


Wir müssen Schulden abbauen, damit wir diese Lasten
nicht unseren Kindern und Enkeln aufhalsen. Das heißt,
es geht überhaupt nicht um die Frage, ob Schulden abge-
baut werden, sondern darum, wer dafür bezahlt. Das ist
die Frage, um die wir streiten.

Nach Ihren Vorstellungen soll all dies über Einsparun-
gen bei öffentlichen Leistungen erreicht werden, über
Kürzungen bei Sozialleistungen, bei Personal usw. Man
kann es auch anders ausdrücken: Sie wollen die Schul-
den durch eine Vergrößerung der öffentlichen Armut ab-
bauen. Sie retten die Privatvermögen über staatliche Ret-
tungspakete und lassen die Mehrheit der Bevölkerung
dafür bezahlen. Sie unternehmen nichts, um die Kosten
der Krise fair zu verteilen.

Aus diesem Grunde legt meine Fraktion heute eine
Alternative vor: die Einführung einer zweckgebundenen
Vermögensabgabe zum Schuldenabbau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir ziehen das Vermögen der deutschen Millionäre he-
ran, um die Schulden abzutragen, die durch die Kosten
der Bankenkrise entstanden sind. Diese Abgabe betrifft
1 Prozent der Bevölkerung. Es gibt einen Freibetrag von
1 Million Euro, 250 000 Euro für Kinder, einen Freibe-
trag für Betriebsvermögen von 5 Millionen Euro.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist doch Schwindel! Da kommt doch nichts raus unterm Strich!)


Wenn wir diese Abgabe zum Lastenausgleich zehn Jahre
lang erheben, dann kommen bei einem Abgabesatz von
jährlich 1,5 Prozent über 100 Milliarden Euro zusam-
men. Damit können wir die Schulden unter anderem des
Soffin gut bewältigen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch eine Milchmädchenrechnung!)


Manche glauben, man würde plötzlich dem Sozialismus
anheimfallen, wenn Millionäre pro Million pro Jahr
15 000 Euro in den Schuldenabbau investieren müssten.
Ich glaube, diese Argumentation ist absurd.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ob man es nun durch Leistung, durch Erbschaft oder
durch einen Rentiersgewinn erreicht hat: Es steht doch
fest – das belegt Ihr Armuts- und Reichtumsbericht –,
dass sich das Leben in Deutschland zumindest für die
oberen 10 Prozent der Bevölkerung lohnt. Wir wollen
nur eine Minderheit davon, nämlich jene 1 Prozent der
Bevölkerung heranziehen, die allein über ein Vermögen
von 2,5 Billionen Euro verfügen.

Meine Damen und Herren, auch Reiche wissen, dass
Wohlstand etwas mit funktionierender staatlicher Infra-
struktur zu tun hat. Es gibt einen oft zitierten Satz: „Nur
Reiche können sich einen armen Staat leisten.“ Ich will
ausdrücklich sagen: Dieser Satz ist falsch. Seit 2008 wis-
sen wir: Auch Reiche können sich einen armen Staat
nicht leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch Reiche brauchen einen handlungsfähigen Staat.
Dafür müssen wir Staatsschulden abbauen, und dazu
müssen die Vermögenden in unserem Lande einen fairen
Anteil aufbringen;


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Machen sie doch!)


dem dient die grüne Vermögensabgabe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719503600

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält das Wort nun der

Kollege Christian von Stetten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Frhr. Christian von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1719503700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Durch die Progression in unserem Einkommensteuerge-
setz erreichen wir genau das, was wir wollen, nämlich
dass starke Schultern mehr tragen als schwache Schul-
tern. Auf der einen Seite gibt es zahlreiche Bürger mit ge-
ringen Einkommen und Personen mit besonderen Lasten,
die überhaupt keine Einkommensteuer zahlen – sie sind
von dieser Steuerart befreit –, auf der anderen Seite gibt
es die Spitzenverdiener – also die kleine Gruppe der
10 Prozent an der Gesamtbevölkerung –, die über 50 Pro-
zent der gesamten Einkommensteuerlast tragen. Das
muss hier erwähnt werden; denn es muss ihnen zugute-
gehalten werden. Unser Steuersystem ist so angelegt:
Wenn jemand erfolgreich ist und ein hohes Einkommen
hat, dann leistet er einen höheren finanziellen Beitrag an
den Staat.

Herr Trittin, was Sie heute für die Grünen zum Thema
Vermögensabgabe in den Bundestag eingebracht haben,
hat nichts mit leistungsabhängiger und gewinnabhängi-
ger Besteuerung zu tun. Sie wollen eine staatliche Um-
verteilung, das wird mittlerweile auch deutlich ausge-
sprochen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Sie können das von Ihnen bejubelte Wort „staatliche
Umverteilung“ auch als „staatliche Teilenteignung“ be-
schreiben,


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Ja! – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


dann ist der Jubel vielleicht gar nicht mehr so groß.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie haben ausgeführt, dass Sie zunächst einen Freibe-
trag festlegen wollen. In den nächsten zehn Jahren wol-
len Sie dann eine Teilenteignung in Höhe von insgesamt
15 Prozent des abgabepflichtigen Vermögens durchset-
zen. Dabei machen Sie überhaupt keinen Unterschied,
ob der betroffene Bürger in dem betreffenden Jahr etwas
verdient hat oder nicht.


(Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Er wird seinen Beitrag auch leisten müssen, wenn er in
jenem Jahr Verluste gemacht hat. Das ist eine Substanz-
steuer, die wir als CDU/CSU-Fraktion für unverantwort-
lich halten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völliger Unsinn! Völlig unverantwortlich, was Sie da machen!)


– Ja, Sie sind da schon einen Schritt weiter.

Die SPD diskutiert derzeit noch. Vielleicht wird Herr
Gabriel heute anschließend seinen Enteignungszinssatz
bekanntgeben. Die Linksfraktion ist hier schon etwas
weiter. Ihr vorliegender Antrag ist zwar etwas weiter ge-
fasst, aber ich stelle wieder einmal fest: Wir beschäftigen
uns in schöner Regelmäßigkeit mit Ihrem Lieb-
lingsthema, der Vermögensteuer.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist auch notwendig!)


Zum wiederholten Male fordern Sie einen Zinssatz von
5 Prozent jährlich auf den Verkehrswert.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Verkehrswert!)


Sie wissen: Bei 5 Prozent auf den Verkehrswert ist nach
20 Jahren – –


(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


– Herr Gysi, nach 20 Jahren ist es weg, und auch das
Haus ist weg: Im ersten Jahr ist es die Diele, im zweiten
Jahr das Bad, im dritten Jahr das Wohnzimmer, und nach
20 Jahren haben Sie aus einem stolzen Hausbesitzer wie-
der einen Mieter gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: Mein Gott!)


Alle drei Oppositionsparteien betonen bei diesem
Thema immer wieder, dass sie nur die Vermögenden,
also die Millionäre treffen wollen. In diesem Zusam-
menhang nennen Sie auch immer die Banken und die
Euro-Krise. Sie mobilisieren gemeinsam gegen „die da
oben“, gegen die Vermögenden, und erklären, dass Ihre
Vorschläge letzten Endes nur 1 Prozent der Bevölkerung
treffen. Aber es stellt sich die Frage: Mindert das den
schädlichen Effekt der Abgabe? Ist es gut und gerecht,
weil es nur wenige trifft?


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lieber alle? Auch die mit unteren und mittleren Einkommen?)


Uns ist völlig klar: Sie spekulieren auf die Wählerstim-
men der übrigen 99 Prozent der Bevölkerung. Ihre Poli-
tik ist volkswirtschaftlich gesehen schädlich und auch
sehr gefährlich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völliger Unsinn! Sie haben überhaupt keine Ahnung! Überhaupt keine Ahnung!)


Mich bedrückt besonders, dass Sie – obwohl Herr
Trittin ausgeführt hat, dass er hiermit die Bankenkrise
bewältigen will – überhaupt nicht ausgeführt haben, wie
hoch das Aufkommen sein wird.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich!)


In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass „ein großes Aufkom-
men realisierbar ist“. Mit solchen Initiativen leisten Sie





Christian Freiherr von Stetten


(A) (C)



(D)(B)


keine große Hilfe zur Bewältigung der jetzigen Finanz-
krise.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völliger Unsinn! Lesen Sie mal weiter!)


Wenn Sie in der Debatte zum Thema Mietrecht zu-
gehört hätten, dann wäre Ihnen jetzt klar, was Sie da be-
schließen wollen. Sie treffen doch in der Summe nur die
Bürger mit kleinen Einkommen und die Mieter.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist doch gaga!)


Das gilt sowohl für den Vorschlag, 1,5 Prozent pro Jahr
zu erheben, als auch für den Vorschlag, 5 Prozent zu er-
heben.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn? Da ist nichts mit Mittelstand!)


– Herr Kollege, nehmen Sie beispielsweise den Besitzer
eines großen Mietshauses. Gehen wir davon aus, dass
mit den Wohnungen eine Verzinsung von 3,5 Prozent
erwirtschaftet wird. Wenn der Hausbesitzer, wie die
Linkspartei es vorschlägt, pro Jahr 5 Prozent auf den
Verkehrswert zahlen muss – wir können auch von den
vorgeschlagenen 1,5 Prozent ausgehen –, dann wird er
dieses Haus verkaufen wollen. Er wird jedoch keinen
Käufer finden, weil das Haus kein Renditeobjekt mehr
ist.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind froh, dass Sie die Linkspartei haben! Dann brauchen Sie sich nicht zur Sache zu äußern!)


Was wird er machen? Er wird diese hohen Abgaben
selbstverständlich auf den Mieter umlegen. Ein Vermö-
gensteuersatz von 5 Prozent würde demnach eine glatte
Verdoppelung der Miete bedeuten. 1,5 Prozent würden
eine Mieterhöhung um 25 Prozent bedeuten. Diese mie-
terfeindliche Politik werden wir von CDU und CSU
nicht mitmachen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zum Abschluss darf ich noch daran erinnern, dass wir
die gleiche Neiddiskussion vor einigen Jahren im
Zusammenhang mit der Reform der Erbschaftsteuer
geführt haben. Damals haben Sie die gleichen Argu-
mente vorgebracht. Gott sei Dank haben wir ein ver-
nünftiges Erbschaftsteuergesetz mit vernünftigen Freibe-
trägen und guten Übergangsmöglichkeiten für die
Unternehmenserben durchgesetzt. Wir haben die Ab-
wanderung der Vermögen und der Unternehmen ins
Ausland gestoppt. Was mich besonders freut, ist, dass
Unternehmen mit zahlreichen Arbeitsplätzen nach
Deutschland zurückgekehrt sind.

Ich empfehle Ihnen, einmal mit Gewerkschaftsmit-
gliedern darüber zu diskutieren. Sprechen Sie einmal mit
den Kollegen. Dann werden sie feststellen, dass sie froh
sind, dass wir ein Erbschaftsteuerrecht auf den Weg
gebracht haben, das es ermöglicht, dass die Familien-
unternehmen in Deutschland bleiben. Die Menschen

arbeiten nämlich lieber in Familienunternehmen. Auch
Gewerkschaftsmitglieder möchten wissen, wo ihr Chef
wohnt, und schätzen den familiären Anschluss, den auch
große Familienunternehmen bieten. Sie schätzen Unter-
nehmen, in denen verantwortungsvoll gearbeitet wird.
Sie wollen keine anonymen Chefs, die irgendwo in Chi-
cago oder sonst wo sitzen; denn das ist problematisch,
wenn sie konsultiert werden müssen, zum Beispiel, weil
ein Unternehmen verkauft werden soll.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es auch noch antiamerikanisch! Ich glaube es nicht! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was war denn in Ihrem Kaffee heute früh?)


Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Das, was Sie
heute vorgelegt haben, ist weit entfernt von einer ver-
nünftigen Regelung. Deswegen sehe ich auch keine
Chance für eine Umsetzung durch den Deutschen Bun-
destag.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719503800

Vielen Dank, Kollege von Stetten. – Nächster Redner

in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozial-
demokraten unser Kollege Sigmar Gabriel. Bitte schön,
Kollege Sigmar Gabriel.


(Beifall bei der SPD)



Sigmar Gabriel (SPD):
Rede ID: ID1719503900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-

lege von Stetten, wenn Sie sagen, dass die Progression in
der Einkommensteuer ausreicht, dann müssen Sie hinzu-
fügen, dass die Einkommensteuer einen immer kleineren
Anteil an der Lastenverteilung in Deutschland hat und
die ganz normalen Menschen inzwischen einen Riesen-
anteil über andere Steuerarten bezahlen und die Spitzen-
verdiener relativ wenig zur Lastenverteilung beitragen
müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Stimmt doch überhaupt gar nicht! Die direkten Steuern sind genauso hoch wie die indirekten Steuern! Zahlen lesen! Finanzberichte lesen!)


Sie haben sich eben versprochen. Sie haben gesagt, Sie
seien von dem Thema betroffen. Ich glaube, da ist etwas
dran.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Vermögenskonzentration in den westlichen In-
dustriegesellschaften führt selbst bei wachsendem Le-
bensstandard und steigender sozialer Absicherung der
Arbeitnehmer zu einer Disparität, die der persönlichen
Freiheit jede Grundlage entzieht. Gehört das Unterneh-
men irgendwelchen Erben, die im sonnigen Süden leben,





Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)


so erhöht sich auch deren Vermögen täglich, ohne dass
diese einen Handschlag tun, wenn das Unternehmen von
fähigen Angestellten gut geleitet wird. Auch das unter-
nehmerische Risiko ist in der Praxis geringer als das
Risiko eines Arbeitnehmers. Der Unternehmer haftet bei
Kapitalgesellschaften nur mit seiner Einlage, der Arbeit-
nehmer aber häufig mit seiner ganzen Existenz, vor
allem wenn er älter ist. Der Staat könnte eine gemein-
wirtschaftliche Entwicklung fördern, ohne einen einzi-
gen Enteignungsakt zu vollziehen. Entscheidender
Hebel ist das Steuerrecht.

Ich wundere mich, warum die FDP dabei nicht ap-
plaudiert. Das stammt nämlich von Ihrem FDP-General-
sekretär, natürlich nicht von Ihrem jetzigen; der käme
auf eine solche Idee nicht. Es gibt ein Buch, das Sie an-
gesichts Ihrer derzeitigen Verfassung einmal lesen soll-
ten. Der ehemalige Generalsekretär der FDP, Karl-
Hermann Flach, hat das in seinem Buch mit der Über-
schrift „Noch eine Chance für die Liberalen“ geschrie-
ben. Wenn Sie das machen würden, hätten Sie eine.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2012! Warum eigentlich?)


Es gab Zeiten, in denen in Deutschland über Partei-
grenzen hinaus klar war – bei der CDU/CSU, bei der
FDP, bei uns –, dass die wachsende Disparität von Ein-
kommen und die ungleiche Verteilung der Lasten gefähr-
lich ist für die Demokratie. Klar ist übrigens auch, dass
es nicht um technische Details einer vernünftigen Ver-
mögensteuer oder -abgabe geht. Wir sind eher für eine
Steuer, die Grünen sind eher für eine Abgabe. Die Grü-
nen machen einen exzellenten Vorschlag, durch den sie
dafür sorgen wollen, dass es nicht zur Substanzsteuer
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist ein guter Vorschlag.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist Einschleimen!)


Insgesamt geht es darum, einmal darüber zu reden,
wozu das eigentlich dient. Deswegen will ich mich aus-
drücklich dafür bedanken, dass es zumindest ein Mit-
glied der Bundesregierung gibt, das den Mut hatte, dafür
zu sorgen, dass wir heute eine Grundlage dafür haben,
über eine Vermögensabgabe oder -steuer zu diskutieren.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht!)


Grundlage ist der Armuts- und Reichtumsbericht, den
die Sozialministerin, Frau von der Leyen, vorgelegt hat.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Steht da nicht drin!)


– Na klar, das lese ich Ihnen gleich vor. Keine Sorge. Im
Gegensatz zu Ihnen habe ich den Bericht gelesen.

Herr von Stetten, es geht doch nicht darum, eine ideo-
logische Debatte über Sozialneid oder darüber, Reiche
zu verfolgen, zu führen, sondern es geht um den Zusam-

menhalt und das Leben in Deutschland und um die
Frage, wer eigentlich welche Lasten trägt. Im Bericht
steht, dass inzwischen mitten in Deutschland 1,5 Millio-
nen Menschen Schlange stehen, um sich an den Tafeln
altes Brot abzuholen, um etwas zu essen zu haben. Im
Bericht steht, dass es nicht nur um Altersarmut geht,
sondern auch um 2,4 Millionen armutsgefährdete Kin-
der. In Deutschland geht es also nicht nur um Alters-
armut, sondern auch um Jugendarmut, Familienarmut,
die Armut der Alleinerziehenden und die Armut der
Menschen, die fleißig arbeiten und trotzdem keinen an-
ständigen Lohn erhalten.


(Zuruf des Abg. Olav Gutting [CDU/CSU])


Wir wollen in einer wohlhabenden Gesellschaft leben,
aber wir wollen auch endlich, dass diejenigen, die diesen
Wohlstand erarbeiten, fair und gerecht daran teilhaben
und die Lasten wieder fairer verteilt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)


– Ich kann ja verstehen, dass es Sie aufregt, dass es eine
CDU-Politikerin ist, die das aufgeschrieben hat. Aber
das ändert doch nichts daran, dass sie sich mit der Wirk-
lichkeit beschäftigt. Sie können die Wirklichkeit nicht
einfach ignorieren, auch dann nicht, wenn sie Ihnen
nicht gefällt.

Bei der ganzen Debatte geht es darum, Deutschland
wieder in ein soziales Gleichgewicht zu bringen. Es geht
nicht um Reichenverfolgung oder irgendwelche Ideolo-
gien, sondern es geht darum, dass wir etwas, das wir
schon einmal hatten, wiederherstellen.


(Lachen bei Abgeordneten der FDP)


– Wenn hier jemand beim Thema Ideologie zurückhal-
tend sein sollte, dann nun wirklich Sie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Dass Sie es nicht sind, ist schon klar! Sie sind Ideologie pur!)


– Herr Kauder, ich weiß, das ärgert Sie,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! Nein!)


aber ich trage nur vor, was Ihr eigenes Regierungsmit-
glied aufgeschrieben hat.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind Ideologie pur!)


Der Armutsbericht deckt schonungslos auf: Jenseits
einer kleinen Oberschicht mit rasant steigenden Einkom-
men und Vermögen hat die große Masse der Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer an der Steigerung des
Wohlstands keinen Anteil. Das ist nicht nur sozial unge-
recht, sondern es gefährdet auch die Grundlage, auf der
Deutschland einmal stark und wirtschaftlich erfolgreich
geworden ist. Die Geschichte unserer Eltern und Groß-
eltern ist nicht die Geschichte der sozialen Auseinander-
entwicklung. Sie wussten, dass das Land und sie selber
nur eine Chance haben, wenn man sich im Land gemein-
sam entwickelt und nicht auseinander. Wir wollen
darüber reden, wie wir das wiederherstellen. Wir haben





Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)


das in Deutschland schon einmal geschafft. Darum geht
es.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


50 Prozent der neuen Beschäftigungsverhältnisse sind
befristet. 5 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten
für 8 Euro die Stunde und weniger. 12 Millionen Men-
schen in Deutschland leben an oder unter der Armuts-
grenze. Das Armutsrisiko liegt bei 15 Prozent. Das sind
keine Erfindungen der SPD, der Grünen oder der Links-
partei, sondern das sind die Daten und Fakten aus dem
Bericht Ihrer eigenen Regierung.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nein! Nein! Nein!)


– Er sagt: Nein! Nein! Nein! Das sei nur Frau von der
Leyen.

Ich finde, das ist eine spannende Debatte. Erst kommt
Herr Rösler, Ihr Vizekanzler, und sagt: Der ganze
Bericht ist Unsinn, wir werden ihn jetzt einmal ressort-
abstimmen und dann verändern. Frau Merkel sagte – ich
zitiere –:

… jetzt wird dieser Bericht … abgestimmt in der
Bundesregierung. Da ist noch nicht mal die erste
Runde gelaufen. Und dann werden wir das im No-
vember im Kabinett beraten. Und ich bin ganz opti-
mistisch, dass wir dann auch einen gemeinsamen
Standpunkt finden.

Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Die Wirklichkeit
lässt sich nicht ressortabstimmen, und sie lässt sich auch
nicht fälschen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es geht auch nicht darum, dass CDU, CSU und FDP zu
einem gemeinsamen Standpunkt kommen, sondern es
geht darum, dass Sie einmal merken, was in Deutschland
los ist, und dass wir gemeinsam hier im Haus versuchen
müssen, das zu verändern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Über Steuerpolitik allein schafft man noch keine bes-
sere Gesellschaft, aber sie soll die Instrumente schaffen,
die es ermöglichen, dass die Lasten fair verteilt werden.
Auch da zeigt der Armuts- und Reichtumsbericht ein
Bild der Wirklichkeit: Die vermögensstärksten 10 Pro-
zent vereinigen mehr als die Hälfte des Nettovermögens
auf sich, die unteren 50 Prozent gerade einmal 1 Prozent.
So geht das weiter. Das DIW – es ist ja nicht gerade eine
linkssozialistische Einrichtung –


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Na ja! Die haben das geschrieben!)


hat unlängst dargestellt, dass genau deswegen die Mittel-
schicht schrumpft und zwischen den Polen zerrieben
wird. Das ist doch nicht ideologisch.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Natürlich
haben Sozialdemokraten und Grüne in ihrer Regierungs-
politik beim Thema Steuerentwicklung auch Fehler ge-
macht; das ist doch gar keine Frage.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Ach so?)


Frau Kramp-Karrenbauer – sie ist übrigens eine CDU-
Ministerpräsidentin – hat recht, wenn sie sagt, ein Spit-
zensteuersatz von 42 Prozent, wie ihn Gerhard Schröder
eingeführt hat, sei zu niedrig. Die Frage ist nur, warum
Sie diese Fehler fortsetzen wollen. Ein Spitzensteuersatz
bei der Einkommensteuer in Höhe von 53 Prozent ab
einem Einkommen von 50 000 Euro gehörte übrigens
einmal zu Ihrer eigenen Steuerpolitik. Das fordern in der
SPD nicht einmal mehr die Jusos, meine Damen und
Herren.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Frank Schäffler [FDP]: Na ja! Das glaube ich nicht!)


Von daher: Ich glaube, es geht wirklich darum, zu mer-
ken, dass sich die Wirklichkeit verändert hat und dass
wir die Lastenverteilung in Deutschland nicht mehr so
unfair belassen dürfen.

Ihre Ministerin ist so mutig, im Reichtums- und Ar-
mutsbericht zu schreiben, wie man das machen muss.
Ich zitiere:

Die Bundesregierung prüft, ob und wie über

– Herr von Stetten, hören Sie genau zu –

die Progression in der Einkommensteuer hinaus
privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung
öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann.

Zitat Ende. Unterschrift: Frau von der Leyen.


(Iris Gleicke [SPD]: Hört! Hört!)


Genau darum geht es.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir dürfen nicht nur über den Anteil der Einkommen-
steuer reden, sondern wir müssen auch über den Beitrag
von hohen Vermögen, Erbschaften und Kapital sprechen.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich finde schon
den Begriff „Reichensteuer“ schlecht.


(Frank Schäffler [FDP]: Das ist schon mal gut!)


Hier geht es auch nicht um Sozialneid.


(Lachen des Abg. Frank Schäffler [FDP])


Wenn Leute wohlhabend und reich geworden sind,
steckt dahinter bei den allermeisten unglaublich viel per-
sönliche Leistung und ganz viel Anstrengung. Aber nie-
mand wird alleine reich. Immer gehören Arbeitnehmer
dazu. Ein Land muss sozial sicher sein, über Infrastruk-
tur verfügen, gute Bildungschancen bieten, und es muss
sozialer Friede herrschen. Das alles und persönliche
Leistung führen zu Wohlstand und Reichtum. Wenn das
Land, das mitgeholfen hat, einige Menschen sehr reich
und wohlhabend werden zu lassen, Schulden abbauen





Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)


und trotzdem in Bildung investieren muss, aber auch
seine Städte und Gemeinden nicht verkommen lassen
darf, dann ist es doch die Aufgabe derjenigen, die auch
mithilfe dieses Landes wohlhabend geworden sind,
etwas mehr mitzuhelfen als die, denen es nicht so gut
geht. Das hat nichts mit Sozialneid zu tun. Das ist Patrio-
tismus für unser Land, den wir einfordern – nichts ande-
res, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich verstehe nicht, warum Sie es sich beim Thema
Vermögensteuer so schwer machen. Das ist doch keine
Erfindung von Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht.
Sie ist die erste Steuer, die in der Verfassung der Bundes-
republik benannt wird. Sie ist übrigens eine reine Län-
dersteuer; schließlich brauchen die Länder das Geld, um
Ganztagsschulen zu bauen. Darum geht es bei der Ver-
mögensteuer.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die CDU feiert ja gerade gerne Jubiläen. Es ist übri-
gens nicht nur Helmut Kohl, der ein Jubiläum hat. Ich
habe einmal nachgeschaut, wann das erste Mal in
Deutschland eine Vermögensteuer erhoben wurde und
wer es gemacht hat. Das war vor exakt 60 Jahren. Im
Jahre 1952 haben der damalige Bundespräsident Heuss,
FDP, Herr Bundeskanzler Adenauer, CDU – auf ihn be-
rufen Sie sich doch gerne –, und der Bundesfinanzminis-
ter Schäffer, CSU, das Gesetz über die Vermögensteuer-
Veranlagung unterschrieben, und sofort danach ist es in
Deutschland erstmalig in Kraft getreten. Es gab also Zei-
ten, in denen CDU, CSU und FDP nicht so ideologisch
dahergequatscht haben wie ihr letzter Redner, sondern in
denen sie wussten, was Verantwortung für dieses Land
bedeutet. Ich hoffe, dass das bei Ihnen wieder ein biss-
chen zunimmt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Weil die FDP und insbesondere Herr Brüderle so
gerne Ludwig Erhard, den Begründer der sozialen
Marktwirtschaft, zitieren – obwohl er ja der CDU ange-
hörte –, sage ich Ihnen Folgendes: Er hat am Gesetz über
die Vermögensteuer-Veranlagung mitgewirkt. Ich frage
mich, was er wohl heute sagen würde, wenn er erleben
müsste, wie Sie soziale Marktwirtschaft definieren, und
wenn er feststellen müsste, dass Sie nicht einmal bereit
und in der Lage sind, den entfesselten Finanzmärkten
Fesseln anzulegen, damit die soziale Marktwirtschaft
nicht immer mehr zerstört wird. Sie haben nichts mit
dem Erbe Ihrer Parteien gemein.


(Beifall bei der SPD)


Meine Damen und Herren, wir wissen, dass es in
unserem Land eine Schieflage gibt. Wir wollen Schulden
abbauen, in Bildung investieren, unsere Städte und Ge-
meinden und unsere Heimat nicht verkommen lassen,
Investitionen in Forschung, Entwicklung und Wachstum
tätigen und die enormen Herausforderungen des demo-
grafischen Wandels bewältigen.

Das alles versprechen alle Parteien fast jeden Tag
unseren Bürgerinnen und Bürgern. In der Summe dieser
Versprechungen unterscheiden wir uns praktisch über-
haupt nicht. Worauf es aber ankommt, ist, auch zu sagen,
wie wir das, was wir den Bürgerinnen und Bürgern stän-
dig versprechen, eigentlich bezahlen wollen. Die Leute
haben doch die Nase voll davon, dass wir ihnen immer
sagen: Keine Sorge, wir senken Schulden, wir senken
Steuern, und wir geben mehr für Bildung und alles mög-
liche andere aus. Die Quadratur des Kreises glaubt uns
doch kein Mensch mehr.


(Zuruf von der CDU/CSU)


– Wenn Sie den Mut haben, zu sagen, was Sie davon al-
les nicht machen wollen, dann kommen wir in der
Debatte ins Geschäft. Es wäre spannend, zu hören, was
Sie nicht tun wollen.

Wir sagen Ihnen: Wir wissen, wie wir eine faire
Finanzierung all dieser Aufgaben hinbekommen wollen,
nämlich durch den Abbau überflüssiger Steuersubven-
tionen – damit haben wir übrigens einmal gemeinsam
angefangen; warum setzen wir das eigentlich nicht
gemeinsam fort? –, durch die Anhebung des Spitzen-
steuersatzes auf 49 Prozent ab einem Einkommen von
100 000 Euro pro Person und auch durch die Wiederein-
führung der Vermögensteuer, die den Ländern bis zu
10 Milliarden Euro mehr für Ganztagsschulen, für
Kindergärten und für Hochschulen verschaffen würde.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Welcher Steuersatz?)


– Bei der Vermögensteuer geht es um 1 Prozent,
genauso, wie wir das in der Vergangenheit debattiert
haben, aber eben in der Art und Weise, dass die Betriebs-
vermögen herausgenommen werden.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wie wollen Sie das denn trennen?)


– Sie haben doch noch nicht einmal den Gesetzentwurf
der Grünen gelesen; denn sonst wüssten Sie die Antwort
darauf: Die Abgabe darf nicht mehr als 35 Prozent des
Jahresertrages des Betriebs betragen. Das ist doch deren
vernünftiger Vorschlag – verbunden mit riesigen Frei-
beträgen!


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Zusätzlich zum Ertrag! – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Das ist doch alles verfassungsrechtlich gar nicht zu halten!)


Wir sollten uns einmal darauf verständigen, über die
Details zu reden. Ich habe gar kein Problem damit, zu
sagen, dass ich manchen von Ihnen bestimmt recht ge-
ben würde. Sie wollen aber die soziale Spaltung des
Landes weiter vergrößern. Sie ignorieren die Wirklich-
keit, wollen den Bericht darüber fälschen und der Öf-
fentlichkeit sagen, man müsste hier nichts tun.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch! Sie wissen doch gar nicht, was soziale Marktwirtschaft ist!)


Das ist doch das, was Sie hier machen!





Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen: Wir sagen, wie wir das bezahlen wol-
len. Sie haben keine Antwort darauf, sondern wollen die
Wirklichkeit ignorieren. Das werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719504000

Vielen Dank, Kollege Gabriel. – Nächster Redner in

unserer Aussprache ist unser Kollege Dr. Volker Wissing
für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Kollege Dr. Volker
Wissing.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1719504100

Ich danke Ihnen. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Lieber Herr Gabriel, ich finde es bedauer-
lich, dass Sie hier ein solches Zerrbild von unserer
Gesellschaft gezeichnet haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat doch nur Frau von der Leyen zitiert!)


Jemand, der sich hinstellt und sagt, er könnte die Repu-
blik besser regieren, während er die Realität dabei aber
völlig ausblendet,


(Sigmar Gabriel [SPD]: Fragen Sie doch einmal Frau von der Leyen!)


kann nicht wirklich besonders ernst genommen werden,
lieber Herr Gabriel.


(Beifall bei der FDP)


Sie haben aber auch etwas Kluges gesagt. Sie haben
nämlich gesagt, dass die Sozialdemokraten Fehler ge-
macht haben. Das ist in der Tat richtig. Sie haben gravie-
rende Fehler gemacht, und Sie machen auch heute noch
gravierende Fehler. Ich will Ihnen zunächst einmal die
Fehler der Vergangenheit vorhalten:

Bevor Sie zuletzt Regierungsverantwortung über-
nommen haben, haben Sie der Öffentlichkeit erklärt,
dass Sie Reiche höher besteuern wollen. Durch die Ein-
führung der Reichensteuer haben Sie von Vermögenden
ein paar Hundert Millionen Euro mehr abkassiert. Aus
der Mitte der Bevölkerung haben Sie aber 25 Milliarden
Euro durch eine Mehrwertsteuererhöhung herausgezo-
gen. Die Binnennachfrage und der kleine Mann wurden
geschwächt, die Empfänger unterer Einkommen und die
Mitte wurden höher belastet. Das war die Realität Ihrer
Politik. Deswegen glaubt Ihnen in Deutschland niemand
mehr, dass es Ihnen um das Geld der Reichen geht. Sie
schielen längst wieder auf die Mitte, auf die Empfänger

unterer und mittlerer Einkommen, weil man da Kasse
machen kann. Darum geht es Ihnen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sigmar Gabriel [SPD]: Bei der CDU klatscht gar keiner!)


Sie wollen Ihre überzogene Ausgabenpolitik auf Kos-
ten der Mitte in Deutschland finanzieren. Das ist genau
die falsche Politik, um aus dieser Krise herauszukom-
men, weil diese Politik wachstumsfeindlich ist.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch einmal zum Thema!)


Ich bin nicht der Einzige in Deutschland, der das so
sieht. Sie tun ja so, als würden Sie mit Ihren Erklärungen
zur Gerechtigkeit die geballte Linke in Deutschland hier
vertreten.

Herr Gabriel, der Spiegel hat sich in dieser Woche
unter dem Titel „Jagd auf Reiche“ mit den Vorschlägen
der SPD auseinandergesetzt.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch einmal über die grüne Vermögensabgabe!)


Er kommt hinsichtlich der Vermögensteuer, wie die SPD
sie vorschlägt, zu dem Ergebnis – ich zitiere:

Vor allem … belastet sie

– die Vermögensteuer der SPD –

gerade jene Bevölkerungsgruppe, deren Besitz
weniger aus Yachten, Wertpapieren oder Gemälden
besteht, sondern vor allem aus Maschinen und Fa-
briken.

Selbstständige mit mindestens zehn Beschäftigten
verfügen über das höchste Durchschnittsvermögen
aller Bundesbürger.

So schreibt der Spiegel. – Das ist genau die Bevölke-
rungsgruppe, die die meisten Arbeitsplätze in Deutsch-
land schafft. Genau da wollen Sie als Arbeitnehmerpar-
tei Hand anlegen. Das ist doch absurd. Was Sie
vorschlagen, würde dazu führen, alles ein bisschen
schlechter zu machen, die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer zu schwächen, das Wachstum in unserem
Land zu schwächen und den Bundeshaushalt zu destabi-
lisieren. Deswegen ist das keine zukunftsgerichtete Poli-
tik. Damit können Sie in Deutschland nichts verbessern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es ist doch keinem geholfen, wenn es allen ein bisschen
schlechter geht.

Dann stellen Sie sich – deswegen haben Sie ein Zerr-
bild gezeichnet – vor die Öffentlichkeit und sagen, wir
hätten ein Problem damit, dass es in Deutschland eine
Gruppe von Menschen gibt, denen es gut geht. – Was ist
denn das für ein Problem, dass es Menschen gut geht? Ist
es nicht unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass man in
Deutschland im Wohlstand leben kann? Das Problem
sind nicht die Menschen, denen es gut geht. Das Problem
sind Menschen, denen es noch nicht gut geht. Zu denen





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


haben Sie, Herr Gabriel, in Ihrer Rede äußerst wenig ge-
sagt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sigmar Gabriel [SPD]: Glauben Sie eigentlich selber daran, was Sie da sagen?)


Es ist niemandem geholfen, wenn man Arbeitgebern
die Substanz wegbesteuert. Es ist niemandem geholfen,
wenn Sie Investitionen in Deutschland verhindern. Ge-
holfen ist den Menschen, wenn man unseren Standort als
Investitionsstandort stärkt.

Was die Grünen vorschlagen, 15 Prozent des Vermö-
gens an den Staat abzuführen, ist nicht nur absurd, son-
dern das ist – das sollten Sie eigentlich wissen, Herr
Trittin – verfassungswidrig.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Der Lastenausgleich war verfassungswidrig? – Gegenruf des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wann war das denn, Herr Trittin?)


– Nein, schauen Sie einmal: Ihr Gesetzentwurf ist des-
wegen verfassungswidrig, weil Sie der Öffentlichkeit et-
was verschwiegen haben. Sie haben nämlich der Öffent-
lichkeit verschwiegen, dass der Staat in Deutschland
Eigentum zu schützen hat.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eigentum verpflichtet! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Wenn Sie zuhören, Frau Roth, werden Sie heute Mor-
gen noch etwas lernen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Ihnen nicht! Da sind wir ganz sicher!)


Es ist nämlich so, dass man in Deutschland, wenn
man in das Eigentum von Bürgerinnen und Bürgern
eingreift, die Notwendigkeit eines solchen Eingriffs
rechtfertigen muss, Herr Trittin. Wir leben immer noch
in einem Rechtsstaat mit einem Grundgesetz für die
Bundesrepublik Deutschland. Das gilt auch für die
Grünen.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie in einer Zeit, in der der Staat Steuereinnah-
men in Rekordhöhe hat, die Öffentlichkeit glauben
machen, dass wir ein Finanzierungsproblem haben, dann
ist das schlicht gelogen. Es gibt überhaupt keine Not-
wendigkeit für den Eingriff in das Privateigentum der
Bürgerinnen und Bürger.


(Zurufe von Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben die höchsten Steuereinnahmen in der Ge-
schichte. Der Staat schafft es, den Haushalt auszuglei-
chen. Wir werden bald einen ausgeglichenen Haushalt
haben. Ihnen geht es darum, Menschen in Deutschland
zu enteignen, weil Sie eine Neidgesellschaft wollen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie glauben, wenn es allen gleich schlecht geht, dann
wäre das Gerechtigkeit. Wir sagen: Wir müssen den
Schwachen helfen und sie stärken, aber wir dürfen nicht
mit Neid auf die blicken, denen es schon gut geht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zugabe!)


Sie sind in der Rechtfertigungspflicht. Sie sagen, der
Staat bräuchte das Privateigentum der Bürgerinnen und
Bürger. Wir beweisen Ihnen das Gegenteil, indem wir
den Bundeshaushalt schrittweise ausgleichen. Wir wer-
den die Regeln der Schuldenbremse vorzeitig einhalten
können.

Sie sollten als Partei, die sich gerne als Bürgerrechts-
partei geriert, Rechtsstaat und Verfassung ernst nehmen.
Was sich die Menschen an zu versteuerndem Vermögen
und Einkommen aufgebaut haben, gehört ihnen. Es ge-
hört nicht den Grünen für neue Ausgabenprogramme.


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was machen Sie denn in den Ländern? In Baden-
Württemberg machen Sie neue Schulden. In Rheinland-
Pfalz bauen Sie mit der SPD Vergnügungsparks und
Freizeitparks. Dabei haben Sie 500 Millionen Euro ver-
senkt. Das ist sozialdemokratische und grüne Politik.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das können sie!)


Sie verschwenden Steuergelder und reden dann den
Menschen ein, man müsste ihnen jetzt das Privateigen-
tum wegnehmen. Absurd ist das!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)


Wir wollen, dass in Deutschland weiterhin privat in-
vestiert wird. Wir glauben nicht, dass Sie mit dem Geld
besser umgehen können als private Investoren und pri-
vate Unternehmerinnen und Unternehmer. Der entschei-
dende Unterschied zwischen Ihnen mit Ihren Ausgaben-
programmen und einem privaten Investor ist folgender:
Sie übernehmen keine Verantwortung, keine Haftung für
Ihre Politik. Die Privatleute haften mit ihrem Privatei-
gentum und fügen jedem Euro, den sie privat investie-
ren, Verantwortung und Haftung hinzu. Das schafft
Arbeitsplätze. Das schafft Wachstum. Das ist die richtige
Politik für die Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn für die Bankschulden gehaftet? Die Banken oder wir?)


Wir werden im nächsten Jahr mit einem soliden Bun-
deshaushalt dastehen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


Die Bundesrepublik Deutschland hat unter dieser Ko-
alition die höchste Beschäftigung seit Jahrzehnten. Wir
haben die höchsten Steuereinnahmen seit Jahrzehnten.
Liebe Bürgerinnen und Bürger, wir werden dafür sorgen,
dass linke Kräfte in diesem Land Sie nicht kalt enteig-
nen.

Wenn Sie wirklich etwas für die Schließung einer Ge-
rechtigkeitslücke tun wollten, dann könnten Sie dem Ab-
bau der kalten Progression für untere und mittlere Ein-
kommen zustimmen. Aber weil es Ihnen genau darum
geht, bei den unteren und mittleren Einkommen abzu-
kassieren, und weil Sie auf das Geld der kleinen Leute
schielen, lehnen Sie das im Bundesrat ab. Sie sind ent-
larvt durch Ihre frühere Politik und Ihre arbeitnehmer-
feindliche Politik im Bundesrat.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Sie werden gleich schnappatmen! – Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind entlarvt durch Ihre jetzige Politik!)


Unter Schwarz-Gelb findet in Deutschland Gerechtig-
keit statt. Sie wollen ein ungerechtes Land schaffen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719504200

Vielen Dank, Kollege Dr. Wissing. – Nächster Redner

in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke un-
ser Kollege Dr. Gregor Gysi. Bitte schön, Kollege
Dr. Gregor Gysi.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719504300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Wissing, so viel ideologischen Irrsinn und juristischen
Blödsinn wie das, was Sie hier verzapft haben, habe ich
selten gehört – wirklich.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es haut mich richtig um. Ich werde versuchen, im Ein-
zelnen darauf einzugehen.

Es geht um eine Vermögensabgabe und eine Vermö-
gensteuer, und Sie machen sich Sorgen um die Reichen.
Das ist überhaupt nicht auszuhalten. Wie sieht denn die
Situation in Europa aus? Sie sagen: Mit der Steuerge-
rechtigkeit ist doch alles geklärt.

Nehmen wir nur die EU: Die Unternehmensteuern
sind um 9 Prozent gesunken und liegen jetzt bei
23,3 Prozent. Die Spitzensteuersätze der Einkommen-
steuer sind EU-weit im Schnitt um 7,3 Prozent gesun-
ken. Die Reichen- und Vermögensteuern liegen EU-weit
bei 2,1 Prozent, übrigens in Großbritannien bei 4,2 Pro-
zent, in Frankreich bei 3,4 Prozent und in Deutschland
nur bei 0,9 Prozent. Das ist die Realität. Selbst in den
USA liegen diese Steuern bei 3,3 Prozent.

Nein, Sie haben die Finanzmärkte völlig dereguliert,
und es ist eine gigantische Umverteilung von unten nach
oben organisiert worden.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das war die SPD! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das waren die SPD und die Grünen!)


Das ist die Hauptursache für die Banken- und Finanz-
krise und damit auch für die hohen Staatsschulden. Das
ist die Wahrheit.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das war die SPD mit der Deregulierung!)


Nein, Sie retten keine Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer. Aber jede Bank und jeden Hedgefonds retten
Sie, und dafür zahlen Sie das ganze Geld. Das ist unver-
antwortlich, was hier geschieht. Damit wahren Sie übri-
gens auch den Reichtum.


(Beifall bei der LINKEN)


Interessant ist auch, wo das viele Geld hinwandert.
Das wird nämlich nicht mehr in die Wirtschaft investiert,
sondern es fließt überwiegend in sogenannte Kapitalver-
nichtungssammelstellen: in Banken, Vermögensfonds,
Hedgefonds und Private Equity Fonds. Ich kann nicht zu
allem Stellung nehmen, aber da fließt das Geld hin.

Schauen wir uns einmal die Größenordnung an. Die
Vermögenswerte von Privatanlegern liegen jetzt bei
100 Billionen Euro weltweit. Die Wirtschaftsleistungen
aller Staaten betragen die Hälfte davon. Das ist die Si-
tuation, mit der wir es zu tun haben. Nichts wollen Sie
daran ändern. Das illusorische Ziel, aus Geld Geld zu
machen, nicht dafür zu arbeiten, sondern mit Spekulatio-
nen Geld zu machen, führt zu diesen Krisen. Nichts än-
dern Sie daran. Das ist das Problem.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben in Deutschland einen Armuts- und Reich-
tumsbericht. Herr Gabriel hat recht: Sie können doch
nicht im Kompromisswege die Wahrheit verschieben.
Das geht nicht.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Darin sind Sie aber Meister! Im Verweigern der Realität sind Sie Meister!)


– Lieber Herr Kauder, zu Ihnen komme ich noch. – Er
sagt die Wahrheit, und deshalb ist es auch öffentlich ge-
worden.

Seit 20 Jahren erleben wir eine Verdoppelung des
Nettovermögens aller Haushalte in Deutschland: von
5 Billionen auf 10 Billionen Euro. Nur, das Problem ist:
0,6 Prozent der Haushalte besitzen 20 Prozent davon,
das heißt 2 Billionen Euro. Die 19-Jährige, die das erbt,
kann nicht so fleißig gewesen sein, wie Sie es hier schil-
dern, ohne dass da etwas passiert.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


Jetzt nehme ich zur Zahl der Euro-Millionäre in
Deutschland Stellung. Wir hatten vor der Krise 799 000,
jetzt sind es 830 000. Auf Dollar bezogen haben wir
922 000 Dollar-Millionäre. Und da, meinen Sie, darf
man nicht einen einzigen zusätzlichen Euro kassieren?
Was ist das für eine alberne Ideologie, die Sie hier ver-
treten!


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Warum denn eigentlich nicht? Das ist doch schon zehnmal versteuert worden! Mit welchem Recht wollen Sie es denn nehmen? Das ist doch versteuertes Geld!)


10 Prozent der Bevölkerung besitzen 50 Prozent des
Vermögens. Das sind 5 Billionen Euro. Die untere Hälfte
der Bevölkerung, auch wieder 50 Prozent, hat nur 1 Pro-
zent des Vermögens. Das ist die Realität in Deutschland.
Übrigens hatte die untere Hälfte früher wenigstens
4,5 Prozent des Vermögens. Jetzt ist es nur noch 1 Pro-
zent.


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Bei Ihnen in der DDR hatten sie gar nichts!)


So sieht die Schere aus, die sich ständig weiter öffnet.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Reallohnsenkung lag bei 4,5 Prozent. Die unteren
10 Prozent, also die, die am wenigsten verdienen, hatten
sogar einen Reallohnverlust von 9 Prozent.

Darf ich Ihnen eine Wahrheit zum Niedriglohnsektor
verraten? In den 80er-Jahren war Deutschland mit einem
Anteil des Niedriglohnsektors von 14 Prozent Schluss-
licht im internationalen Vergleich. Heute sind wir mit
25 Prozent zusammen mit den USA Spitzenreiter beim
Anteil des Niedriglohnsektors.


(Zurufe von der LINKEN: Pfui!)


Das ist ein Skandal, mit dem Sie sich einmal auseinan-
dersetzen müssen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie wollen die Leute in Hartz IV treiben! Das ist alles, was bei Ihnen herauskommt!)


Jetzt hat Frau von der Leyen ihren ganzen Mut zu-
sammengenommen, und dann kommt in ihrem Bericht
ein Satz vor, der besagt, dass man doch prüfen müsse,
welche Rolle das Vermögen finanzpolitisch für die Fi-
nanzierung der Staatsaufgaben spielen kann. Da dreht
die FDP durch. Davon wollen Sie keinen Euro haben.
Mein Gott! Schon eine Prüfung wollen Sie nicht hinneh-
men.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die Sache ist geprüft und hat sich als untauglich erwiesen!)


Das ist doch wohl das Mindeste, was man machen darf,
wenn man regiert.

Aber abgesehen davon – Sie haben es selbstkritisch
gesagt, Herr Gabriel, und es stimmt –: Unter Rot-Grün

hat eine Steuerreform stattgefunden, die natürlich ganz
entscheidend zu dem Desaster beigetragen hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Unternehmensteuern sind von 51,6 Prozent auf
29,8 Prozent nominal gesenkt worden; effektiv – das,
was wirklich gezahlt wird – sind es nur 22 Prozent. Der
Spitzensteuersatz ist von 53 Prozent – unter Kohl übri-
gens – auf 42 Prozent gesenkt und dann bei Merkel und
Steinmeier für die ganz hohen Einkommen noch einmal
auf 45 Prozent erhöht worden.

Was ist denn in Ihrer Regierungszeit erhöht worden,
Herr Lindner? Gar nichts. Nichts haben Sie erhöht. Ganz
im Gegenteil: Die Einnahmeausfälle seit 2001 betragen
schon 380 Milliarden Euro. Das ist eine Steuerungerech-
tigkeit, die als Umverteilung von unten nach oben wirkt.

Herr von Stetten, Sie sagen hier, dass Sie gegen eine
Umverteilung sind – Sie organisieren permanent eine
Umverteilung von unten nach oben!


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Machen Sie doch einmal eine von oben nach unten! Da-
für wird es höchste Zeit in unserer Gesellschaft.

Ich bin es auch leid, dass diejenigen, die die Krise
verursacht haben und an der Krise verdienen,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die SPD und die Grünen, oder was?)


nicht mit einem einzigen zusätzlichen Euro herangezo-
gen werden, sondern Leute, die nichts damit zu tun ha-
ben, das Ganze bezahlen müssen. Genau das ist nicht ge-
rechtfertigt.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Übrigen, Herr Wissing, Sie sagen: Das ist Enteig-
nung. Und: Das Grundgesetz schützt das Eigentum. –
Das ist ein solcher Blödsinn. Denn dann dürften Sie
überhaupt keine Steuern erheben.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre ihm am liebsten! Täusche dich nicht! – Sigmar Gabriel [SPD]: Bring’ ihn nicht auf Ideen! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das wissen Sie besser, Herr Gysi!)


Da greifen Sie immer in Eigentum ein. Außerdem, Herr
Wissing, steht in Art. 14 des Grundgesetzes, Eigentum
soll zugleich dem Allgemeinwohl dienen. Was glauben
Sie, wie schwer es einem Milliardär fällt, seine Milliarde
immer so einzusetzen, dass es dem Allgemeinwohl
dient. Da können wir ihm doch solidarisch helfen, neh-
men ihm was weg und führen es dem Allgemeinwohl zu.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Da klatschen die SPD-Abgeordneten! Bei so etwas!)


Wir fordern eine Vermögensabgabe, die gegebenen-
falls auch in Raten bezahlt werden kann, und zwar nach
dem Vorbild des Lastenausgleichgesetzes von 1952, –





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Dann nennen Sie doch mal einen Grund, warum!)


auf private Vermögen von über 1 Million Euro. Für Be-
triebsvermögen gelten selbstverständlich Ausnahmen,
um die Liquidität nicht zu gefährden. Das ist eine einma-
lige Abgabe.

Jetzt komme ich zur Wiedererhebung der Vermögen-
steuer. Diesbezüglich haben Sie auch Blödsinn über un-
seren Antrag erzählt.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber Sie müssen die Abgabe doch rechtfertigen!)


– Hören Sie zu, Herr Wissing. Es soll eine Steuer von
5 Prozent auf das erhoben werden, was man über
1 Million Euro hinaus besitzt – außer Betriebsvermögen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist doch verfassungsrechtlich gar nicht möglich!)


Deshalb sind auch die Gewerbegrundstücke, die an Mie-
terinnen und Mieter vermietet werden, nicht dabei. Ope-
rieren Sie also nicht mit den Mieterinnen und Mietern.
Ihr Herz gehörte denen noch nie – aber unser Herz! Des-
halb haben wir sie selbstverständlich ausgenommen und
geschont.


(Beifall bei der LINKEN)


Erklären Sie mir einmal Folgendes: Wenn jemand
1 Million Euro im Jahr verdient, dann muss er darauf
über 40 Prozent Steuern bezahlen. Wenn er sein Geld ir-
gendwo anlegt und noch einmal 1 Million Euro Zinsen
bekommt, dann muss er nur 25 Prozent Steuern bezah-
len. Dafür waren Sie immer. Warum kann man das nicht
gleich behandeln und sagen: „Zinseinnahmen sind wie
Einkommen“?


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Alles 25 Prozent!)


Das wäre eine ganz einfache Logik. Aber die FDP sagt:
Um Gottes willen, wir müssen alle Zinsen schützen –
bloß nicht die der Bevölkerung.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt ja gar nicht!)


Dann kommt immer der Einwand der Steuerflucht.
Das bin ich leid. Es gibt zwei Möglichkeiten, Steuer-
flucht zu verhindern.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Eine große Mauer drum herum! – Gegenruf des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wie albern!)


– Da sieht man einmal, wie begrenzt Ihre Fantasie ist.
Ich kann nichts dafür, dass Sie Anhänger der Mauer
sind. Ich bin kein Anhänger der Mauer.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt zwei Wege, Steuerflucht zu verhindern. Der
erste Weg ist: Wir binden die Steuerpflicht an die Staats-
bürgerschaft. Dann kann ein Deutscher etwa in Liechten-
stein oder auf den Seychellen wohnen – wo auch
immer –, muss aber hier angeben, was er verdient, wel-

ches Vermögen er hat und was er dafür an Steuern zu be-
zahlen hat. Wenn er bei uns mehr zu bezahlen hätte, dann
bekommt er hinsichtlich der Differenz einen Steuerbe-
scheid. Es gibt ein Land, das das so macht: die Vereinig-
ten Staaten von Amerika. Die machen damit gute Erfah-
rungen. Und Sie drücken sich davor.

Der zweite Weg, Steuerflucht zu verhindern, wäre,
Banken, die uns Transaktionen dieser Art nicht mittei-
len, die Lizenz in Deutschland zu entziehen. Was glau-
ben Sie, wie das funktioniert?


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt also Wege. Man muss es nur wollen. Sie wollen
es nicht. Das ist das Problem.

Nehmen wir Griechenland als Beispiel. Die Rentner
dort müssen jetzt die Medikamente selbst bezahlen, ob-
wohl sie krankenversichert sind und ihre Beiträge zah-
len. Frauen, die in Griechenland entbinden, müssen die
Entbindung selbst bezahlen. Sonst bekommen sie keine
ärztliche Hilfe und müssen nach Hause gehen. Eine Leh-
rerin in Griechenland hat ein Anfangsgehalt von
575 Euro. 2 000 Familien in Griechenland gehören
80 Prozent des Vermögens. Dann stellen Sie sich hierhin
und sagen: Diese 2 000 Familien sollen nichts bezahlen.
Alle anderen sollen das tragen. – Das ist unerträglich.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben in Europa 3,1 Millionen Dollar-Millionäre.
Diese haben schon 10,2 Billionen Dollar als Vermögen.
Solche Menschen gibt es auch in Griechenland, Italien,
Spanien und Portugal. Ich sage Ihnen: Auch diese müs-
sen herangezogen werden.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Dann kandidieren Sie doch das nächste Mal für das griechische Parlament!)


– Sie sollten sich einmal mit diesen Menschen unterhal-
ten, weil Sie ja Millionäre lieben.

In Hamburg hat sich ein Verein von Millionären ge-
gründet. Dessen Mitglieder möchten endlich eine Ver-
mögensabgabe und Vermögensteuern zahlen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Die können ja freiwillig zahlen!)


Wissen Sie, warum diese klüger sind als Sie? Weil die es
begriffen haben. Erstens werden sie ein bisschen patrio-
tisch sein, und vielleicht wollen sie auch ein bisschen
mehr soziale Gerechtigkeit. Zweitens wissen sie: Wer in
der Not nicht abgibt, gefährdet sich selbst. – Die sind
klüger als Sie. Jetzt müssen Sie eine Vermögensabgabe
und auch eine Vermögensteuer einführen, wenn Sie den
Bestand der Bundesrepublik Deutschland nicht gefähr-
den wollen. Das ist das Entscheidende.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist doch scheinheilig!)


Nun komme ich zum Schluss. Herr Kauder, Sie sind
doch Christ; deshalb versuche ich es jetzt mit der Bibel.
Sie müssen einmal mit den Millionären reden. Passen
Sie auf! Apostel Paulus hat seinem Weggefährten





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


Timotheus einen guten Rat gegeben. Ich zitiere Ihnen
das wörtlich:

Den Reichen musst du unbedingt einschärfen, dass
sie sich nichts auf ihren irdischen Besitz einbilden
oder ihre Hoffnung auf etwas so Unsicheres wie
den Reichtum setzen. … Sage ihnen, dass sie Gutes
tun sollen und gern von ihrem Reichtum abgeben,
um anderen zu helfen. So werden sie wirklich reich
sein und sich ein gutes Fundament für die Zukunft
schaffen, um das wahre und ewige Leben zu gewin-
nen.

Das ist aus dem 1. Brief an Timotheus.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt zitiere ich Ihnen noch Matthäus 19,24 und Lukas
18,25:

Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass
ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ CSU])


– Einen Moment! – Sie müssen den Reichen doch eine
Chance eröffnen, in das Reich Gottes zu kommen. Das
geht nur über eine Vermögensabgabe und eine Vermö-
gensteuer. Glauben Sie es mir!


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719504400

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Abge-

ordnete Volker Kauder.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1719504500

Herr Kollege Gysi, ich glaube, es ist zwingend not-

wendig, eine richtige Bibelauslegung – ich würde mich
auch bereiterklären, das zu machen – vorzunehmen und
Ihre Auslegung zu korrigieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Haben Sie auch noch ein Bibelzitat?)


Im Gegensatz zu dem, was Sie zitiert haben, steht in
Timotheus nicht, dass die Menschen Steuern zahlen sol-
len, sondern, dass sie etwas Gutes tun sollen. Genau das
ist der Unterschied zu dem, was Sie formulieren. Sie
wollen, dass der Staat die Menschen zur Kasse bittet.
Damit provozieren Sie nur Ungerechtigkeiten. Es ist un-
anständig, wie Sie die Heilige Schrift im Deutschen
Bundestag eingesetzt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sie haben kein Monopol auf die Bibelauslegung! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Getroffene Hunde bellen! – Thomas Oppermann [SPD]: Er hat korrekt zitiert!)


Aus der Heiligen Schrift ergibt sich kein politisches Pro-
gramm. Deswegen rate ich dringend dazu, hier etwas
mehr Zurückhaltung zu üben.

Da ich das Wort habe, will ich noch einen Hinweis
geben. Ja, es ist völlig richtig, dass wir uns alle Gedan-
ken machen müssen, wie wir den Menschen, die jeden
Tag zur Arbeit gehen, mehr von ihrem Lohn lassen kön-
nen. Deswegen wundere ich mich sehr, dass die linke
Seite dieses Hauses im Bundesrat einen Abbau der kal-
ten Progression nach wie vor verhindert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie verhindern den Mindestlohn! Das ist die Wahrheit!)


Das ist das glatte Gegenteil von dem, was Sie hier sagen.
Sie können in der nächsten Sitzung des Vermittlungsaus-
schusses dafür sorgen, dass die Menschen mehr von ih-
rem Lohn haben, als Sie ihnen jetzt lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719504600

Das Wort erhält der Kollege Dr. Gysi.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719504700

Ich will zunächst auf Ihre letzte Bemerkung antworten.

Seit Jahren fordern wir, dass der Steuerbauch, unter dem
die Facharbeiterinnen und Facharbeiter, die Meister, üb-
rigens auch Ärzte und andere, zu leiden haben, beseitigt
wird. Das geht aber nur, wenn wir den Spitzensteuersatz
erhöhen, und genau dagegen wehren Sie sich.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Es geht auch anders!)


Wenn wir das nicht machen, kommt es zu einem reinen
Verlust. Es wird höchste Zeit, den Steuerbauch abzu-
schaffen. Darin stimmen wir überein; denn auch ich
finde, dass diese Personen zu viel Einkommensteuer be-
zahlen müssen. Aber die müssen nur deshalb so viel zah-
len, weil wir oben so viel nachgelassen haben. Genau
das ist nicht erträglich.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Unsinn!)


Nur noch eine Bemerkung, Herr Kauder. Die Bibel zu
zitieren, ist jedem erlaubt, auch mir. Ich finde, ich inter-
pretiere sie besser als Sie. Es tut mir leid.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719504800

Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erhält

unser Kollege Sigmar Gabriel.


Sigmar Gabriel (SPD):
Rede ID: ID1719504900

Ich will zunächst meiner Genugtuung Ausdruck ver-

leihen, dass auch Gregor Gysi inzwischen bei der Bibel





Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)


angekommen ist. Ich halte das für einen großen Fort-
schritt.

Zum Kollegen Kauder, weil er uns wegen der kalten
Progression angegriffen hat. Herr Kollege Kauder, als
Sie das erste Mal öffentlich darüber debattiert haben,
habe ich Ihnen das Angebot gemacht, sofort über die
Abschaffung der kalten Progression zu verhandeln,
wenn wir im Gegenzug den Spitzensteuersatz erhöhen;
denn zwischen diesen beiden Dingen besteht ein Zusam-
menhang. Sie müssen erklären, wie Sie trotzdem Schul-
den abbauen und in Bildung investieren wollen. Sie ha-
ben darauf nie reagiert. Es gab Einzelne aus Ihrer
Fraktion, die gesagt haben, darüber könne man reden.
Sie persönlich haben das Angebot nie aufgegriffen. Wir
würden uns freuen, wenn man mit Ihnen ernsthaft über
die Erhöhung des Spitzensteuersatzes reden könnte.
Dann würden wir auch relativ schnell einig bei der von
Ihnen beabsichtigten, Gott sei Dank geringen Einkom-
mensteuersenkung.

Ich will noch eine Bemerkung zu der Behauptung ma-
chen, mit der Senkung der Einkommensteuer könne man
unheimlich viel für normale Beschäftigte tun. 40 Prozent
der deutschen Haushalte zahlen keine Einkommensteuer
mehr, weil wir, anders als Herr Gysi gesagt hat, gemein-
sam – wenn ich mich richtig erinnere, auch gemeinsam
mit Ihnen – hier im Haus dafür gesorgt haben, dass der
Eingangssteuersatz deutlich gesenkt wurde. 40 Prozent
der deutschen Haushalte zahlen keine Einkommensteuer,
und das ist gut so. Aber das bedeutet auch, dass Ihr Ver-
sprechen, durch eine drastische Senkung der Einkom-
mensteuer könne man den mittleren und unteren Ein-
kommensbeziehern helfen, eine glatte Unwahrheit ist;
denn wer keine Steuern zahlt, dem kann man auch keine
senken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen noch einmal ausdrücklich mein Angebot,
Herr Kauder: Wir sind sofort im Gespräch, wenn Sie in
der Lage sind, mit uns darüber zu sprechen, die Abschaf-
fung der kalten Progression mit einer deutlichen Anhe-
bung des Spitzensteuersatzes ab einem Einkommen von
100 000 Euro pro Person zu verbinden. Alles andere ist
eine Milchmädchenrechnung, mit der Sie der Öffentlich-
keit vormachen wollen, dass man Steuersenkungen,
Mehrausgaben und Schuldenreduzierung gleichzeitig er-
reichen könne. Das kann man nur, wenn man die Hoff-
nung hat, das nie realisieren zu müssen.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719505000

Vielen Dank, Kollege Sigmar Gabriel. – Wir fahren in

der Reihenfolge unserer Redner fort. Als nächster hat für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Hans
Michelbach das Wort. Bitte schön, Kollege Hans
Michelbach.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1719505100

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle-

gen! Die CDU/CSU-Fraktion hat ein zielführendes Kon-
zept zur Krisenbekämpfung und zur Sicherung des Wirt-
schaftsstandorts Deutschland und seiner Arbeitsplätze.
Wir sind die Koalition der sozialen Marktwirtschaft. Wir
sind für die Sicherung des Eigentums unserer Bürger.
Wir sind für eine leistungsfähige Gemeinschaft mit allen
Bürgern, und wir wollen Arbeit und Wohlstand für alle
in diesem Land.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir können zweifellos die größeren Erfolge vorwei-
sen. Wir haben weniger Arbeitslosigkeit und eine höhere
Beschäftigung, wir konsolidieren den Haushalt und ha-
ben Wachstumsimpulse durch mehr Kaufkraft und die
höhere Beschäftigung. Wir haben auch höhere Einnah-
men, wie die Steuerschätzung beweist. Wir haben gegen-
wärtig die höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten. Es
gibt überhaupt keinen Grund, eine neue Steuer- und Be-
lastungsorgie, wie sie Rot-Grün hier vorschlägt, vorzu-
nehmen.

Wir wollen nicht immer mehr Staat, weil wir glauben:
Das erwirtschaftete Geld gehört zuerst den Menschen
und den Betrieben. Sie können mit den Erträgen am
meisten anfangen. Durch ihr Handeln entsteht ein Mehr-
wert daraus. Darauf kommt es in einer Volkswirtschaft
an.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nur mit Wachstum können wir unsere Vorbildfunktion
in Europa erhalten. Vorrang hat jetzt die Bekämpfung
der Staatsschuldenkrise. Diese Krise überwinden wir
nicht durch eine Flutung der Haushalte, durch höhere
Steuern. Wir müssen deutlich machen: Der richtige Weg
kann nur sein, auf der einen Seite Haushaltskonsolidie-
rung zu betreiben, die Schuldenbremse einzuhalten und
auf der anderen Seite die Staatsfinanzierung zukunftsfest
zu machen. Das süße Gift der Steuererhöhungen lässt
diese Bemühungen bekanntlich immer wieder erlahmen.
Es ist ganz vernünftig, wenn man mit dem haushalten
muss, was einem die Bürger zur Verfügung stellen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das tun Sie jetzt gerade nicht! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das tun Sie nicht! Sie machen das Gegenteil!)


Ich weiß, meine Damen und Herren, mit Sparen hat
sich Rot-Grün schon immer sehr schwergetan. Das, was
im Antrag steht, ist keine Alternative zum Schuldenab-
bau. Wir haben darauf hinzuwirken, dass die Menschen
heute den Unterschied der Positionen erkennen. Sie sol-
len sehen, dass der vorliegende Antrag einer Opposi-
tionsfraktion ein ideologischer Gegenentwurf ist. Sie
wollen mehr oder minder Staatssozialismus, nach dem
Motto „der Staat als Raupe Nimmersatt“. Das kommt
hier zum Ausdruck. Wir dagegen wollen, dass das er-
wirtschaftete Geld zunächst einmal in die Privatwirt-
schaft hineinfließt und damit letzten Endes für das Ge-
meinwohl arbeitet, den Arbeitsplätzen dient. Daher darf
ich die Betriebe, die Menschen nicht überfordern, son-





Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)


dern ich muss die Marktkräfte wirken lassen. Dann hat
jeder etwas davon, und wir haben Wohlstand und Arbeit
für alle – das ist unser Grundprinzip.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich weiß, dass gegen uns die „Verteilungskeule“ ge-
schwungen wird. Wir sehen bei der Opposition einen
Neidkomplex. Man möchte mit populistischen Themen
Wahlkampf bestreiten. Ich kann nur deutlich machen:
Die unteren 50 Prozent der Steuerzahler bestreiten
5 Prozent, die oberen 50 Prozent bestreiten 95 Prozent
des Einkommensteueraufkommens. Es ist nicht richtig,
dass der Einkommensteueranteil geringer wird. Herr
Gabriel, wenn Sie die Steuerschätzung anschauen, dann
sehen Sie, dass im Moment gerade die Einkommen-
steuer explodiert und so viele Einnahmen für den Staat
wie noch nie generiert werden.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Genau so ist es!)


Das, was Volker Kauder gesagt hat, ist einfach sinn-
voll: Hören Sie mit der Blockade des Abbaus der heimli-
chen Steuererhöhung, der kalten Progression, auf! Das
dient den Menschen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Herr Gabriel, Sie wollen sogar noch eine Hebelung
vornehmen – das verstehe ich überhaupt nicht –: Sie
wollen den normalen Bürgern und Steuerzahlern keine
Entlastung gönnen, sofern nicht auch die Oberen belastet
werden. Das muss man sich erst einmal vor Augen füh-
ren: Sie nehmen die Masse der Steuerzahler in eine Art
Steuerzahlergruppenhaft. Ja, wo sind wir denn? Wir
müssen die Masse entlasten. Den Menschen in Deutsch-
land insgesamt und nicht einigen wenigen muss es gut
gehen. Das ist die Situation.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Oben wollen Sie entlasten!)


Sie erwecken immer wieder den Eindruck, dass die
Leistungswilligen, die Leistungsfähigen in unserem
Land keine Steuern zahlen. Das Gegenteil ist der Fall.
Sie wollen immer wieder nur Politik über Transfer ma-
chen. Wir haben in Deutschland eine hohe Sozialleis-
tungsquote. Darauf dürfen wir stolz sein. Das Geld für
den Transfer muss zunächst einmal erwirtschaftet wer-
den. Wenn man Geld ausgibt, muss es zunächst einmal
eingenommen werden. So ist das in einer Volkswirt-
schaft. Was Sie machen, dazu passen die Stichworte:
Perpetuum mobile, Schneeballsystem, volkswirtschaftli-
che Voodoo-Politik. Das führt nicht zum Ziel. Deswegen
ist es ganz wichtig, dass wir hier dank eines klaren Kon-
zeptes, wie wir es in dieser Koalition vertreten, eindeu-
tige volkswirtschaftliche Erfolge feiern können.

Die Vermögensteuer ist so, wie Sie sie anlegen, be-
triebs- und arbeitsplatzfeindlich. Die Vermögensteuer
für Betriebsvermögen vernichtet eben Arbeitsplätze,


(Zuruf vom Bündnis 90/Die Grünen: Wo denn? – Sigmar Gabriel [SPD]: Deswegen wollen wir sie ja auch nicht!)


weil letzten Endes mit dem Geld, das an den Staat abge-
geben wird, keine neuen Maschinen gekauft, keine neue
Halle gebaut und keine Investitionen bestritten werden
können. Das ist eben der falsche Ansatz, wenn Sie die
Leute überfordern. Wir brauchen die Wertschöpfung für
die Arbeitsplätze, für die Wettbewerbsfähigkeit des
Wirtschaftsstandortes Deutschland.

Die Personengesellschaften lassen sich nun einmal
natürlich nicht zwischen einem Produktiv- und einem
Verwaltungsvermögen aufteilen, wie Sie es in Ihrem An-
trag darstellen. So, wie Sie das Verwaltungsvermögen
darstellen, gibt es das in der Abgrenzung bei einer Perso-
nengesellschaft überhaupt nicht. Deswegen ist das ein
völlig falscher Ansatz. Ich muss Ihnen sagen: Es ist er-
nüchternd, dass Sie letzten Endes die Grundsätze einer
Steuerpolitik in Deutschland gar nicht erkennen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit einem solchen Antrag zeigen Sie, dass Sie von der
Steuerpolitik und dem Steuerrecht in Deutschland null
Ahnung haben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abg. Olav Gutting [CDU/CSU] – Dr. Volker Wissing [FDP]: Genau so ist es!)


Ich darf Ihnen nur sagen: Die Verwaltungskosten las-
sen Sie in diesem Antrag, in dem Sie die Vermögen-
steuer erheben wollen, völlig außen vor. Schon 1997 hat
das Bundesverfassungsgericht gesagt: Das ist letzten En-
des kein Ertrag für den Staat. Vielmehr machen die Ver-
waltungskosten zwei Drittel der Einnahmen aus. – Wenn
Sie daher eine solche Bürokratie entfachen wollen, dann
ist das absolut kontraproduktiv.


(Joachim Poß [SPD]: Dieses Argument ist lange ausgeräumt!)


Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ganz klar, wir müs-
sen für die Menschen arbeiten und nicht gegen die Men-
schen. Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt letzten En-
des mit dieser Koalition in der sozialen Marktwirtschaft
auf dem richtigen Weg weiter vorankommen. Das ist der
Erfolgsweg, den wir beschreiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Zum Thema haben Sie leider überhaupt nichts gesagt!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719505200

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die

Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Lothar
Binding. Bitte schön, Kollege Lothar Binding.


(Beifall bei der SPD)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1719505300

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Wissing





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


hat mich motiviert, erst einmal etwas zu Baden-Würt-
temberg zu sagen. Er hat irgendwie gesagt, die Rot-Grü-
nen machten im Land eine schlechte Haushaltspolitik.
Ich will nur einmal sagen, dass ich einen kleinen Streit
mit Nils Schmid hatte, dem dortigen Finanzminister. Er
hat einen Kassensturz gemacht und dramatische Dinge
festgestellt.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie machen neue Schulden!)


Das wurde dann vergessen und von ihm, höflich und sanft
wie er ist, nicht weiter thematisiert. Ich hatte gesagt: Er
soll ein Bad Budget machen, er soll den Mappus-Deal auf
Kosten der Staatskasse explizit ausweisen und die
2,5 Milliarden Euro als strukturelles Defizit – da geht es
nicht um eine einfache Verschuldung – aufschreiben, da-
mit die Bürger merken, was Schwarz-Gelb dort angerich-
tet hat. Insofern hat, wenn man es ein bisschen ändert,
Hans Michelbach recht: Mit Sparen tut sich Schwarz-
Gelb schwer.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Gysi hat gesagt, was er immer vorbringt, und
über Steuersätze gesprochen. Ich will das hier so erklä-
ren, wie ich es manchmal in Schulklassen mache. Dort
frage ich: Hat jemand einen Garten? Manche sagen
dann: Ja, meine Eltern haben einen Garten. Dann frage
ich: Wie groß ist der? Dann sagen die Schüler meistens:
So etwa 40 Quadratmeter. Dann frage ich: Warum haben
Sie Quadratmeter gesagt, warum haben Sie nicht nur ge-
sagt, 4 Meter? Dann sagen sie: Ich habe da doch eine
Fläche. Darauf sage ich: Ja, der Gysi spricht auch immer
nur vom Spitzensteuersatz. Er muss aber den Spitzen-
steuersatz quasi als Länge mal Bemessungsgrundlage als
Breite anschauen. Wenn man beide zusammennimmt,
sieht die rot-grüne Steuerpolitik, die von 1998 bis 2005
gemacht wurde, ganz anders aus, nämlich sehr gut, weil
sie uns auf ein Niveau brachte, das Deutschland in Eu-
ropa sehr gut dastehen lässt. Das ist ein Erfolg.


(Beifall bei der SPD)


Vielleicht nur als Nebenbemerkung zu dem Stichwort
„kalte Progression“. Heute haben ja Leute der Koalition
uns das erklärt. Ich habe einen Brief vom Bundesfinanz-
ministerium, in dem es heißt: Die kalte Progression hatte
bisher gar keine Wirkung, weil entsprechende Anpas-
sungen immer vorgenommen worden sind. Jeder – das
hat unser Parteivorsitzender Sigmar Gabriel schon er-
klärt –, der sich damit befasst, weiß, dass Ihr Vorschlag
starken Schultern hilft, den Reichen mehr gibt und die
Armen nicht entlastet und die ganz Armen nicht entlas-
ten kann, weil sie nichts bezahlen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber in einem hat Herr Wissing recht. Herr Wissing
hat von Zerrbildern gesprochen. Interessanterweise hat
er auch die Mehrwertsteuer angesprochen. Es ist schon
richtig: Mithilfe der FDP wurde die Mehrwertsteuer
auch in dieser Legislaturperiode angepasst, um alle Feh-
ler, die zuvor gemacht wurden, zu korrigieren. An wel-

che Steuer ich denke, das kann sich jetzt jeder vorstellen.
Ich sage auch nichts zu Hotels. Insofern ist es klar, und
jeder weiß, was gemeint ist.

Er hat aber tatsächlich Recht mit dem Begriff „Zerr-
bild“. Wir haben nämlich ein Zerrbild zwischen Arm
und Reich. Der Reichtumsbericht sagt uns sehr genau,
wie sich private Vermögen entwickeln, wie sie steigen,
wie sie konzentriert werden, und ebenso, wie sich Ein-
kommen entwickeln. Wir sehen, dass die Schere immer
weiter auseinandergeht.

Das Gute ist, dass wir uns sogar freuen, wenn Leute
reicher werden. Das ist in Ordnung; denn viele von den
Reichen sind sich wirklich ihrer Verantwortung bewusst.
Viele wollen sich sogar stärker beteiligen und machen
das auch. Viele haben auch ein Gerechtigkeitsgefühl.
Aber – Joachim Poß hat das einmal in einer Rede
gesagt – wenn die Konzentration des Vermögens explo-
sionsartig zunimmt – das sind Wachstumsfunktionen, die
im Zeitverlauf extrem ansteigen –, dann merkt man, dass
man etwas tun muss; denn man mag sich gar nicht vor-
stellen, was passiert, wenn diese Entwicklung weiter vo-
ranschreitet. Man fragt sich, wie lange eine Gesellschaft
das aushält.

Schauen wir uns in der Welt um: Natürlich gibt es Ge-
sellschaften, in denen mancher noch viel, viel reicher ist
als mancher Deutscher und viele sehr viel ärmer sind.
Die Frage ist aber: Wie lange würde das unsere Gesell-
schaft aushalten? Außerdem merkt derjenige, der die
Wirtschaftsentwicklung dieser Länder mit der unseren
vergleicht, dass ein gewisser Ausgleich zwischen Arm
und Reich für eine prosperierende Wirtschaft sehr klug
ist, alles andere aber wirtschaftsfeindlich und wachs-
tumsgefährdend.


(Beifall bei der SPD)


Diese Auseinanderentwicklung zwischen Arm und
Reich ist aber ein strukturelles Problem; es geht auf viele
gesellschaftliche Voraussetzungen zurück. Hier komme
ich auf die Idee von den Grünen zu sprechen, die wir
sehr gut finden. Die Idee, eine Vermögensabgabe zu
wollen, um Gerechtigkeitslücken zu schließen, um auch
ganz Reiche stärker zu beteiligen, hat den Nachteil
– auch wenn die Zahlung gestreckt wird –, dass sie eine
Einmalabgabe ist, die auf strukturelle Probleme nicht ad-
äquat reagiert. Wir bevorzugen eine strukturelle Lösung
und arbeiten auch an ihr, und das ist eben eine jährlich
wiederkehrende Vermögensabgabe, die auf diese struk-
turellen Verwerfungen konstruktiv reagiert. Deshalb
glauben wir, dass wir, ausgehend von einer Überlegung
der Grünen, weiterentwickelt zu einer Vermögensteuer,
da sehr gut gemeinsame Ideen entwickeln können, um
diese Verwerfungen zu überwinden.

Wir haben aber nicht nur ein Problem zwischen Arm
und Reich im Privaten, im Individuellen, sondern wir ha-
ben auch ein Problem zwischen Arm und Reich im Ver-
hältnis zwischen Öffentlichen und Privaten. Wer da ge-
nauer hinschaut, der merkt, dass wir seit vielen Jahren
eine exorbitante Zunahme privaten Reichtums haben
– einige haben die Zahl genannt: 10 Billionen Euro –,


(Zuruf von der CDU/CSU: Seit Rot-Grün!)






Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


aber auch eine exorbitant zunehmende öffentliche Ar-
mut, die letztendlich alle bezahlen müssen, im Notfall
über Zinsen, aber noch viel schlimmer durch Verwerfun-
gen an den Finanzmärkten, die dann interessanterweise
ja nicht diejenigen bezahlen, die die Risiken eingehen,
sondern die, die Steuern zahlen. Das ist auch ein Trans-
ferkanal von Arm nach Reich, wobei die Armen die Rei-
chen noch dabei unterstützen, dass sie ihre hohen Risi-
ken eingehen können. Auch hier sind die Verhältnisse
aus dem Ruder gelaufen, und ich glaube, dass das auch
deutlich macht, warum Herr Wissing recht hat, wenn er
sagt: Es gibt hier große Verwerfungen und große Pro-
bleme, aber man muss es halt anpacken.

Bezogen auf unser Steuersystem, beobachten wir,
dass man permanent zwischen privatem und Betriebs-
vermögen hin- und herschieben kann und dass Bezieher
hoher Einkommen diese Möglichkeiten auch nutzen. Sie
schieben ihr Einkommen mal in ein unternehmerisches
Vermögen, in das Betriebsvermögen; dann wieder wird
es privat verwaltet, mal international, mal in Deutsch-
land. All diese Verschiebebahnhöfe führen dazu, dass die
Schere, von der ich sprach, immer weiter auseinander-
geht. Deshalb glauben wir, dass das Steuersystem, das
wir haben, ideal durch eine Vermögensteuer ergänzt
wird, bei der genau darauf geachtet wird, den Kanal
dichtzumachen, wenn jemand nur von dieser Verschie-
bung lebt und so sein Vermögen vergrößert. Das ist si-
cherlich eine sehr gute Angelegenheit.

Herr Michelbach, Sie haben gesagt, wir würden damit
Unternehmen ruinieren oder so. Wenn Sie die Angabe
zur Größenordnung sehen, dann merken Sie, dass das
gar nicht sein kann.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Na klar! Was sind denn 5 Millionen für einen Mittelständler?)


Außerdem: Sowohl bei den Grünen als auch bei unseren
Überlegungen wird die Steuer nach oben plafondiert.
Außerdem schonen wir Betriebsvermögen – das ist ja
das Besondere –,


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Von wegen!)


weil wir eine Steuer machen, die Arbeitsplätze sichert.
Es sei noch einmal darauf hingewiesen: Es ist eine Län-
dersteuer, die dann natürlich hilft, in den Ländern Bil-
dung und Familienförderung zu unterstützen und dort all
das zu tun, was es dort zu tun gibt.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie kennen nicht die Erlöse des Mittelstands!)


Insofern ist auch der Satz von Herrn Wissing, Arbeit-
gebern würde die Substanz wegbesteuert, natürlich
falsch. Wer sich jetzt noch einmal ausrechnet – das kann
ich aus Zeitgründen nicht mehr machen –, wie viel Pro-
zent 10 Milliarden von 10 Billionen Euro sind, der muss
erkennen, wie hoch die jetzt angedachte tatsächliche Be-
lastung für die wirklich großen Vermögen ist. Er wird
dann feststellen, wie klein die Belastung ist. Eigentlich
könntet ihr euch das auch überlegen; denn es gibt auch
in der Regierungskoalition Leute, die an Gerechtigkeit

denken und an die öffentlichen Aufgaben, die wir erfül-
len müssen. Deshalb wäre es schön, wenn auch ihr euch
zu einer Vermögensteuer durchringen würdet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719505400

Vielen Dank, Kollege Lothar Binding. – Nächster

Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP unser Kollege Dr. Daniel Volk. Bitte schön, Kol-
lege Dr. Volk.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1719505500

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehr-

ten Damen und Herren! In der heutigen Debatte haben
wir gesehen, dass zumindest die Opposition den Wahl-
kampf eröffnet hat, und zwar einen Wahlkampf, der sehr
stark durch unsachliche Beiträge geprägt sein wird,


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Wissing ist nicht in der Opposition! Er gehört zur Regierungskoalition!)


der sehr stark auf Sozialneid und eine Spaltung der Ge-
sellschaft hinauslaufen wird. Da sind mehr oder weniger
kompetente Finanzpolitiker, die hier Äußerungen tref-
fen, zum Beispiel Jürgen Trittin von den Grünen, der
von den reichen Bürgern und dem armen Staat gespro-
chen hat, allerdings leider Gottes verschwiegen hat, dass
in den Bundesländern, in denen die Grünen regieren, der
Staat noch viel, viel ärmer ist als in anderen Bundeslän-
dern, in denen eine vernünftige Haushalts-, Wirtschafts-
und Steuerpolitik betrieben wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sigmar Gabriel als Vorsitzender der SPD malt das
Bild an die Wand, dass, wenn die Steuerbelastung der
Bürger erhöht würde, mehr Schulen und mehr Kinder-
gärten usw. usf. gebaut würden, verschweigt leider Got-
tes aber, dass im Bundesland Baden-Württemberg nach
der Übernahme durch eine grün-rote Landesregierung
Lehrerstellen abgebaut werden – und das zuzeiten, in de-
nen Steuern in einer solchen Höhe in die Staatskasse
fließen wie noch nie.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Den Mappus muss man erst einmal bezahlen!)


Gregor Gysi von der Linkspartei stellt zwei Zahlen
gegenüber: die Anzahl der Millionäre vor der Krise und
die Anzahl der Millionäre nach der Krise. Für ihn ist es
dann selbstverständlich, dass die zusätzlichen Millionäre
nur deswegen Millionäre werden konnten, weil sie sozu-
sagen an der Krise verdient hätten.


(Zuruf von der LINKEN: Richtig!)


Möglicherweise ist das eher der erfreuliche Beweis da-
für, dass während der Krise eine Regierung in Deutsch-
land die Verantwortung übernommen hat, die mit einer





Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)


vernünftigen Wirtschafts- und Finanzpolitik dafür ge-
sorgt hat, dass die einzelnen Bürger ihr Vermögen, ihren
privaten Anteil steigern konnten. Das ist ein gutes Zei-
chen für die Bürger dieses Landes.


(Lachen bei der LINKEN)


Wir brauchen keine sozialspalterische Debatte, wie sie
hier von der Opposition angezettelt wurde.


(Beifall des Abg. Christian Ahrendt [FDP])



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719505600

Herr Kollege Dr. Volk, gestatten Sie eine Zwischen-

frage unseres Kollegen Dr. Gerhard Schick?


Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1719505700

Ja, sehr gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719505800

Bitte schön, Kollege Dr. Schick.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege, Sie haben auf die Bundesländer und
den Wechsel von Schwarz-Gelb zu Rot-Grün hingewie-
sen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, zu GrünRot in Baden-Württemberg!)


– Grün-Rot. Danke, dass Sie das präzisieren.

Ich möchte zwei Fragen an Sie stellen. Die erste
Frage: Ist Ihnen bekannt, dass die Neuverschuldung in
Baden-Württemberg unter der grün-roten Landesregie-
rung geringer ist als die Zinsausgaben, dass also, wenn
die schwarz-gelbe Landesregierung unter Herrn Mappus
keinen Schuldenberg zurückgelassen hätte, wir heute ein
Plus im Haushalt hätten, sodass die Neuverschuldung al-
lein auf das schwarz-gelbe Konto geht?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sagen Sie, wie in Bayern die Staatsverschuldung ist!)


Die zweite Frage: Ist Ihnen bekannt, dass Baden-
Württemberg beim Zahlenverhältnis „Schüler zu Leh-
rer“ durch die Politik der grün-roten Landesregierung
eine Spitzenposition einnimmt und dass es nicht, wie Sie
sagen, andersherum ist?


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ist ja ein Wunder, innerhalb von einem Jahr! Das ist ja ein Witz!)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1719505900

Zum Zweiten. Dass die neue Landesregierung inner-

halb eines Jahres dieses Verhältnis so entscheidend geän-
dert hat, halte ich für absolut unwahrscheinlich.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben von einem Abbau gesprochen! Die machen es besser!)


Ich glaube, das sind eher die Vorteile, von denen die
neue Landesregierung zehren kann aufgrund der hervor-
ragenden Regierungstätigkeit der schwarz-gelben Regie-
rung in Baden-Württemberg.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das kann nur jemand sagen, der keine Ahnung hat! Runtergewirtschaftet ist BadenWürttemberg von CDU und FDP!)


Wissen Sie, Herr Kollege: Es ist immer sehr erstaun-
lich, mit welcher Kreativität die Staatsverschuldungspo-
litiker, die eher im linken Bereich dieses Hauses anzu-
treffen sind, Argumente aufbringen, warum man jetzt in
weitaus mehr Staatsverschuldung hineingehen kann.

Was mir in diesem Zusammenhang auffällt: Wenn
bürgerliche Regierungen die Regierungsverantwortung
übernehmen,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wenn die mal bürgerlich gewesen wäre! Frage, ob nicht kriminelle Handlungen dabei waren! – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Frage beantworten!)


geht die Staatsverschuldung immer herunter, unabhängig
davon, welcher haushaltspolitische Kurs vorher gefahren
wurde.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gutbürgerlich? Ob kriminelle Handlungen in BadenWürttemberg von CDU und FDP stattgefunden haben, das ist die Frage!)


Sie sehen es in meiner Heimat, in Bayern. Bayern ist
das einzige Bundesland in Deutschland, das nicht nur die
Neuverschuldung herunterfährt, sondern sogar Schul-
den zurückzahlt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sehen es an der christlich-liberalen Bundesregie-
rung,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Neuverschuldung!)


die von einem Finanzminister der SPD, Peer Steinbrück,
eine Neuverschuldungsplanung von 80 Milliarden Euro
übernommen hat, jetzt aber auf dem Weg ist zu einem
ausgeglichenen Haushalt 2013, 2014.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frage!)


Der Beweis in der Praxis ist erbracht. Das sollte Ihnen
zu denken geben. Das gilt vor allem angesichts Ihrer
ewigen Forderung nach stärkerer Belastung der Bürger,
und zwar mit dem wirklich immer sehr wohlklingenden
Argument, dass das, von dem Sie erwarten, dass es zu-
sätzlich eingenommen würde – hier werden Sie wahr-
scheinlich stark enttäuscht werden –, eins zu eins in den
Schuldenabbau fließen würde.

Ein Gegenbeispiel dazu.






(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719506000

Ich gehe davon aus, dass Sie diese Frage beantwortet

haben. Es gibt nämlich noch eine weitere Frage.


Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1719506100

Ich möchte gerne zur Beantwortung der Frage weiter

ausführen. – Ein Gegenbeispiel ist die Anhebung der
Umsatzsteuer von 16 auf 19 Prozent im Jahr 2007. Da-
mals wurde gesagt: Wir müssen die Steuer anheben, weil
wir dadurch die Staatsverschuldung zurückfahren. – Ein
Bruchteil dieser Einnahmen ist in das Zurückfahren der
Staatsverschuldung geflossen. Der Rest ist in allgemeine
Haushaltsausgaben geflossen. Insofern kann ich den ein-
zelnen Bürger nur davor warnen, zu glauben, dass eine
höhere steuerliche Belastung des Bürgers automatisch
zum Abbau der Staatsverschuldung führt. Das Gegenteil
ist in der Vergangenheit bewiesen worden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719506200

Gestatten Sie die Zwischenfrage des Kollegen

Andreas Scheuer?


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Oh!)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1719506300

Ja.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719506400

Bitte schön.


Andreas Scheuer (CSU):
Rede ID: ID1719506500

Herr Kollege Volk, da wir gerade beim Thema Baden-

Württemberg sind,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ja, CDU ist Mappus!)


nutze ich die Gelegenheit, um auf die neue Politik dort
hinzuweisen. Würden Sie auch mit Besorgnis bestä-
tigen –


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


die Antwort könnte mit Ja oder Nein abgehandelt wer-
den –, dass, seitdem Grün-Rot in Baden-Württemberg
regiert, die laufenden Maßnahmen im Bereich der Infra-
struktur so erhebliche Kostensteigerungen erfahren, dass
der Bund zurzeit keine neuen Maßnahmen mehr in An-
griff nehmen kann,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Dann müssen Sie mehr Geld zur Verfügung stellen für Baden-Württemberg!)


weil im Koalitionsvertrag von Grün-Rot steht, dass erst
die laufenden Maßnahmen abgearbeitet werden, was als
wirtschaftspolitische Ausrichtung für die Bauindustrie in
Baden-Württemberg ein fatales Signal bedeutet?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1719506600

Herr Kollege Scheuerle, ich bestätige diese Ansicht

mit größter Besorgnis.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Der hat die Bundesregierung schon verlassen oder ist dabei, sie zu verlassen! Das ist ein Skandal!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719506700

Scheuer. Andreas Scheuer.


Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1719506800

Ich kann nur noch ergänzen, dass die größte Gefahr

für ein Land wie Baden-Württemberg, das über Jahr-
zehnte hervorragend regiert wurde,


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


darin besteht, dass es in der Zukunft erheblich von der
Substanz leben wird. Was das Leben von der Substanz
für ein Land bedeutet, kann man auch in anderen Regio-
nen der Republik beobachten.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es geht aber um Neubau!)


In den nächsten Jahren wird es Baden-Württemberg in-
sofern wahrscheinlich nicht besonders gut gehen. Wir
werden jedoch sehen, ob sich die Landesregierung mög-
licherweise eines Besseren besinnen wird.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719506900

Herr Kollege, es gibt eine weitere Zwischenfrage.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1719507000

Herr Präsident, ich würde jetzt gerne meine Ausfüh-

rungen fortsetzen.


(Zurufe von der LINKEN)


– Herr Gysi wollte eine Zwischenfrage stellen? Herrn
Gysi lasse ich natürlich zu.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719507100

Sehen Sie: Hier wird also differenziert; nicht jeder

darf. Bitte schön, Kollege Dr. Gysi.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719507200

Herr Kollege, ich habe eine Frage. Sie haben gesagt,

dass es das Verdienst der klugen Politik der Bundesre-
gierung ist, dass selbst in der Krise die Zahl der Vermö-
gensmillionäre in Deutschland zugenommen hat.


(Zuruf von der FDP: Das hat er nicht gesagt!)


Ist es dann auch ein Verdienst der klugen Politik der
Bundesregierung, dass in derselben Zeit der Vermögens-
anteil der unteren 50 Prozent der Bevölkerung von
4,5 Prozent auf 1 Prozent zurückgegangen ist?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1719507300

Nein. Wissen Sie, was das ganz große Verdienst die-

ser christlich-liberalen Regierung in der Krise ist? Dass
es uns gelungen ist, die Arbeitslosenzahlen noch einmal
deutlich zu senken, dass es uns gelungen ist, gerade die
unteren Lohngruppen und die Familien mit einer Steuer-
entlastung zum 1. Januar 2010 zu unterstützen!


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Frage!)


Das ist das Verdienst dieser christlich-liberalen Koali-
tion.

Ich weiß, dass Sie gerne mit Statistiken arbeiten. Aber
gehen Sie einmal hinaus und fragen Sie die Leute! Fra-
gen Sie den kleinen Arbeitnehmer, wie froh er über diese
Regierungspolitik ist,


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


wie froh er ist, dass er keine Angst um seinen Arbeits-
platz haben muss, dass er bei Steuern und Sozialversi-
cherungsbeiträgen entlastet wurde! Das ist das Verdienst
dieser christlich-liberalen Koalition.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie haben die Frage nicht beantwortet!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
hier einen weiteren Aspekt anführen. Ich habe mich sehr
über den bereits zitierten Artikel aus dem Spiegel dieser
Woche gefreut, in dem, wie ich finde, sehr kenntnisreich
dargelegt wird, wo denn auf der einen Seite überhaupt
das Missverständnis derjenigen liegt, die glauben, über
eine Vermögensteuer oder eine Vermögensabgabe deut-
lich mehr Einnahmen des Staates erzielen zu können,
und wo auf der anderen Seite die großen Schwierigkei-
ten einer solchen Vermögensteuerbelastung liegen.

Ich möchte darauf hinweisen, dass Sie hier in Ihren
Redebeiträgen immer das Bild an die Wand malen: Na
ja, wir reden doch nur über die oberen 0,5 Prozent oder
1 Prozent der Bevölkerung mit einem Vermögen von
1 Million oder von 2 Millionen Euro – es kommt auf die
Höhe des Grundfreibetrages an –, die durch eine entspre-
chende Steuererhebung belastet werden würden. – Ja,
glaubt denn irgendjemand von Ihnen, dass es für diejeni-
gen, die ein Vermögen von weniger als 1 Million Euro
haben, also unterhalb der Freibeträge liegen, ausreicht,
einfach ein Schreiben an das Finanzamt zu schicken:
„Liebes Finanzamt, vielen Dank, aber ich kann Ihnen
versichern, dass mein Vermögen niedriger ist als das,
was zu versteuern ist“? Das wird nicht passieren. Wenn
man eine Vermögensteuer einführt, gibt es in Deutsch-
land 82 Millionen potenziell Steuerpflichtige, die jeweils
ihre Vermögenssituation darlegen müssen, mit dem ent-
sprechenden Veranlagungsverfahren, mit dem Bewer-
tungsverfahren. Sie nehmen hier einen Bürokratieaufbau
vor und belasten die Bürger mit Bürokratie, obwohl Sie
– das folgt aus Ihrer eigenen Argumentation – vielleicht
nur 0,5 Prozent der Bevölkerung treffen wollen. Ich
glaube, das ist auch vor diesem Hintergrund nicht beson-
ders sinnvoll.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn es die Einnahmen lohnt! – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unter 2 Prozent Bürokratiekosten!)


Ich glaube, dass man in der Zeit der höchsten Steuer-
einnahmen dieses Staates eher darauf achten sollte, sich
mit den Steuermitteln, die in dieser Zeit zur Verfügung
stehen, auf die Aufgaben zu konzentrieren, die für dieses
Land und seine Bürger wirklich wichtig sind.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Wie das Betreuungsgeld!)


Sie sollten in Baden-Württemberg eben nicht Lehrerstel-
len abbauen und im Gegenzug andere Beamtenstellen
aufbauen. Sie sollten in Nordrhein-Westfalen eben nicht
verpassen, ausreichend Kinderbetreuungsstätten zu er-
richten. Sie sollten sich mit dem Geld, das dem Staat
momentan aufgrund einer hervorragenden Finanz-,
Steuer- und Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung
zur Verfügung steht, auf die wesentlichen Punkte kon-
zentrieren: Bildung, steuerliche Entlastung des Mittel-
standes, damit sich Arbeit auch wieder lohnt, Schaffung
von Arbeitsplätzen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wo ist denn die Unternehmensteuerreform? Wo ist denn das Steuersystem „Einfach, niedrig und gerecht“? Da ist nichts!)


Das sind die Herausforderungen für dieses Land. Bitte
kommen Sie uns nicht weiter mit der Chimäre einer Ver-
mögensabgabe oder Vermögensteuer!


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719507400

Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die

Grünen unsere Kollegin Frau Lisa Paus.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719507500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Volk,

Sie sagen, wir sollten Schulden zurückzahlen. Ich sage:
Warum tun Sie es dann nicht?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Warum bringen Sie in diesem Jahr wiederum einen
Haushalt in den Bundestag ein, der eine Nettoneuver-
schuldung vorsieht?


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Bitte bringen Sie nicht wieder Soll und Ist durcheinander, Frau Kollegin! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Reden Sie einmal über NordrheinWestfalen! Rot-Grün!)


Herr Scheuer – Sie sind Staatssekretär im Verkehrs-
ministerium und haben eben eine Zwischenfrage
gestellt –, allein das Verkehrsministerium muss in die-
sem Jahr Mehrausgaben in Höhe von 320 Millionen
Euro gewärtigen, weil der Bund an dem Desaster „Flug-
hafen BER“ in Berlin beteiligt ist. Sie sehen Mehrausga-
ben vor und bauen eben nicht die Verschuldung ab.





Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber die PlanVerschuldung ist doch deutlich höher als die Ist-Verschuldung!)


Wir reden seit über einer Stunde über dieses Thema,
und ich muss feststellen: Bisher hat es noch keiner von
Ihrer Seite gewagt, sich mit unserem Gesetzentwurf kon-
kret auseinanderzusetzen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das machen Sie jetzt! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Haben sie mir gerade nicht zugehört?)


Offenbar ist er so gut, dass Sie sich gar nicht trauen, sich
mit der Sache zu beschäftigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Haben Sie mir gerade nicht zugehört?)


– Doch, habe ich; auch Sie haben zu unserem Gesetzent-
wurf nichts Konkretes gesagt.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Ich habe mich doch mit Ihrem Gesetzentwurf auseinandergesetzt! Was reden Sie denn da? Unverschämtheit!)


Ich werde Ihnen unseren Gesetzentwurf erklären. Wir
legen ihn heute vor, um Schulden tatsächlich abzubauen.
Wir wollen eine einmalige Vermögensabgabe, weil wir
der Überzeugung sind: Dieses Land braucht endlich eine
Antwort auf die Frage: Wer zahlt die Kosten der Krise?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE] – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die Sie angerichtet haben, die Krise!)


Wir werben seit 2009 dafür. Die Vermögensabgabe ist
das richtige Instrument. Wir freuen uns, dass wir inzwi-
schen nicht mehr alleine sind, sondern dass quer durch
die Lager alle – von Attac bis zu Paul Kirchhof, von der
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Boston Consulting bis
hin zur IG Metall – unseren Vorschlag unterstützen, und
das ist gut so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Es ist einfach richtig, dass der Staat, der in der Krise
in Vorleistung gegangen ist, der mit Rettungsschirmen
und Konjunkturpaketen die privaten Vermögen vor Ent-
wertung geschützt hat, das Geld von denjenigen einfor-
dert, die davon am stärksten profitiert haben und die des-
wegen auch einen höheren Beitrag zum Abbau der
Verschuldung leisten können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein Herr Ackermann oder ein Herr Winterkorn von VW
mit einem Jahresgehalt von 17 Millionen Euro leben
nicht auf einem anderen Planeten, sie leben auf dieser
Welt, sie haben einen Wohnsitz in diesem Land, und die-

ser Staat hat unter anderem auch ihr Vermögen gerettet
und sich dafür verschuldet.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sagen Sie einmal, was der zahlt!)


Mit unserem Gesetz wollen wir die Kosten der Krise von
bisher geschätzten mindestens 100 Milliarden Euro fi-
nanzieren und die daraus entstandenen Schulden tilgen,
also Schulden abbauen.

Die grüne Vermögensabgabe belastet nicht die Armen
und auch nicht den Mittelstand, sondern ganze 330 000
Privatpersonen in Deutschland, das heißt – auch wenn
Sie noch so sehr daran herumdeuteln wollen –: 99 Pro-
zent der Menschen in diesem Lande sind nicht betroffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE] – Dr. Daniel Volk [FDP]: Alle die müssen doch eine entsprechende Veranlagung machen! Das wissen Sie doch! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Stimmt doch nicht!)


Die wenigen, die unter die Abgabepflicht fallen, haben
zehn Jahre Zeit, die Abgabe zu zahlen, jährlich 1,5 Pro-
zent. Wir sagen: Das ist nun wirklich leistbar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Trotzdem müssen die 99 Prozent veranlagen! Das wissen Sie doch!)


– Sie müssen aber nicht zahlen, Herr Volk, das wissen
Sie.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Ja, aber die müssen veranlagen! Bürokratie usw. usf.!)


Unser Gesetzentwurf sieht außerdem großzügige Ver-
schonungsregelungen für Betriebsvermögen vor. So
muss zum Beispiel ein Einzelunternehmer einen jährli-
chen Gewinn von über 500 000 Euro haben, um in den
Kreis der Abgabepflichtigen aufgenommen zu werden.
Auch das finden wir hinnehmbar.

Durch die grüne Vermögensabgabe wird auch nie-
mand aus diesem Land vertrieben – auch wenn die
Kanzlerin etwas anderes behauptet –; denn es zählt der
Stichtag 1. Januar 2012. Es gibt also keinen Grund, weg-
zuziehen; denn auch dadurch kann sich niemand der Ab-
gabe nachträglich entziehen. Es ist vielmehr ein Grund,
in diesem Land zu bleiben; denn durch die Schuldentil-
gung bekommen wir wieder einen handlungsfähigen
Staat, der in die Energiewende, in Bildung und in Ge-
rechtigkeit investieren kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Und deswegen werden in BadenWürttemberg die Lehrerstellen abgebaut, um in Bildung zu investieren? Genau!)


Ich komme zum Schluss. Es bleibt noch Ihr Schreck-
gespenst der Substanzbesteuerung. Das trifft unseren
Gesetzentwurf nicht – wenn Sie ihn lesen, werden Sie es
feststellen; Sie wissen es eigentlich –; denn durch unsere





Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)


zusätzliche 35-Prozent-Regelung, die Verschonungsre-
gelung, ist die Substanzbesteuerung von Betriebsvermö-
gen zu 100 Prozent vollständig ausgeschlossen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie reden bloß von Verwaltungsvermögen! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Genau, Sie reden von Verwaltungsvermögen!)


Deswegen können Sie das Gespenst in den Schrank ste-
cken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Ein echter Beitrag zur Steuervereinfachung!)


Nehmen Sie die Ergebnisse Ihres Armuts- und Reich-
tumsberichtes endlich ernst. Unser Gesetz ist mit einfa-
cher Mehrheit in diesem Hause zu beschließen. Schlie-
ßen Sie sich unserem Gesetzesvorschlag an! Wenn Sie es
nicht tun, dann wird es die Bundestagswahl im nächsten
Jahr regeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Oh, das war Wahlkampf!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719507600

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die

Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Frank Steffel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1719507700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gabriel, Sie
haben das dialektisch geschickt gemacht, wie ich fand.
Sie haben manche Zusammenhänge hergestellt, die man
so, glaube ich, nicht herstellen sollte. Aber natürlich
enthielt Ihre Rede vieles, über das wir in diesem Land in
der Tat nachdenken müssen und auch nachdenken soll-
ten. Auch für uns geht es – ich sage das in aller Deutlich-
keit – um eine permanente Überprüfung von Steuerpoli-
tik und Sozialpolitik sowie um eine kontinuierliche
Weiterentwicklung unseres weltweit einmaligen Erfolgs-
modells „soziale Marktwirtschaft“. Das ist die Kern-
frage.

Da müssen wir uns natürlich mit der Frage beschäfti-
gen, wie viel Freiheit wir brauchen, weil das die eine
Seite der Medaille, die eine Seite des Erfolgsmodells
von Ludwig Erhard ist. Die Freiheit des Individuums
fängt bei denen an, die sich die Freiheit herausnehmen,
nie zu arbeiten, die wir trotzdem nicht verhungern las-
sen, die trotzdem eine medizinische Versorgung erhal-
ten, die trotzdem ein Dach über dem Kopf haben. Es
geht um die Freiheit von Menschen, mit ihrem Eigentum
das zu tun, was sie wollen, in Deutschland oder an-
derswo.


(Zuruf der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Frau Roth, natürlich geht es auch darum, dass Eigen-
tum verpflichtet. Meine Damen und Herren, über diesen

Satz muss in diesem Hause doch niemand ernsthaft strei-
ten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Offensichtlich doch!)


Das ist doch selbstverständlich.

Wir ringen also um die Frage, wie wir diese soziale
Marktwirtschaft weiterentwickeln. Für uns als CDU/
CSU ist es eine Selbstverständlichkeit, dass starke
Schultern deutlich mehr tragen als schwache Schultern.
Wer will das angesichts der Fakten in Deutschland denn
infrage stellen? Ich will das sehr deutlich sagen: Eine Fa-
milie, zwei Erwachsene und zwei Kinder, zahlt in die-
sem Land bis zu einem Jahreseinkommen von knapp
40 000 Euro nicht einen Cent Lohn- und Einkommen-
steuer. Weniger als null geht nun mal nicht.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das einmal der FDP! Die haben das noch nicht verstanden!)


10 Prozent der Steuerzahler erbringen 55 Prozent des
Lohn- und Einkommensteueraufkommens. 56 Prozent
des Bundeshaushalts, der von dieser christlich-liberalen
Koalition verantwortet wird, wird für Soziales aufge-
wendet. Das ist doch der Versuch, die Balance zu wah-
ren. Wir brauchen starke Schultern. Wir müssen diese
Menschen, diese Unternehmen motivieren, in Deutsch-
land zu bleiben und zu investieren. Kapital ist leider
– das wissen wir – nicht nur ein schwieriges, sondern
auch ein sehr scheues Reh. Wenn es woanders Rahmen-
bedingungen findet, die deutlich besser sind, macht das
die Sache nicht leichter.

Ich will auch etwas zu dem Spitzensteuersatz sagen.
Über den können wir übrigens miteinander ringen. Na-
türlich müssen wir das immer wieder miteinander tun.
Herr Gabriel, Herr Trittin, ich spare mir den Hinweis,
dass die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder und
Fischer die deutlichste Steuerentlastung der Wohlhaben-
den in diesem Land im Bereich von Spitzensteuern, Ein-
kommensteuern und Körperschaftsteuern vorgenommen
hat. Das war die deutlichste Steuerentlastung für Reiche,
die es jemals in der Geschichte der Republik gab. Auch
das gehört zur Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie haben das damals auch getan, weil Sie der Auffas-
sung waren, dass wir die Rahmenbedingungen anpassen
müssen, um die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland zu
verbessern. Ich will Ihnen gar nichts anderes unterstel-
len.

Wie hoch ist der Spitzensteuersatz? Das sollten wir
gerade den jungen Menschen, die heute zuhören, einmal
kurz vorrechnen: Ein Spitzensteuersatz von 42 Prozent
und 3 Prozent Reichensteuer macht 45 Prozent. Jetzt
kommt der Solidaritätszuschlag dazu. Damit sind wir bei
47,48 Prozent. 55 Millionen Deutsche sind in einer der
großen Kirchen. 61 Prozent der Steuerzahler zahlen Kir-
chensteuer. Inklusive Kirchensteuer zahlen diese Men-
schen einen Spitzensteuersatz von 51 Prozent auf ihr





Dr. Frank Steffel


(A) (C)



(D)(B)


Einkommen. Das ist mehr als die Hälfte! Ich will das gar
nicht verfassungsrechtlich beurteilen. Ich will nur fest-
stellen: Wenn man hier den Eindruck erweckt, diese
Menschen würden wenig oder fast gar nichts zu unser al-
ler Gemeinwohl beitragen, wird man diesen Menschen
nicht gerecht, die in der Regel auch von Montag bis
Freitag oder von Montag bis Samstag oder von Montag
bis Sonntag, wenn ich an manch einen kleinen Mittel-
ständler denke, arbeiten und gerne in diesem Land Steu-
ern zahlen. Auch das gehört zur Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719507800

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage unse-

res Kollegen Dr. Gerhard Schick?


Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1719507900

Bitte. Gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719508000

Bitte schön, Kollege Dr. Schick.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Manchmal muss man für die Öffentlichkeit ein biss-
chen zur Verständlichkeit beitragen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Fragen!)



Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1719508100

Ich bemühe mich darum.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte zwei Fragen stellen.

Erstens. Wenn der Steuertarif gesenkt worden ist und
der Anteil, der von den oberen 10 Prozent gezahlt wird,
steigt, heißt das doch, dass sich die Verteilung von Ein-
kommen immer stärker verändert hat und auf wenige
Personen konzentriert. Würden Sie mir also zustimmen,
dass das Argument, das Sie gebracht haben, zeigt, dass
wir dringend etwas für mehr Verteilungsgerechtigkeit in
Deutschland tun müssen?


(Frank Schäffler [FDP]: Aber wer hat es gemacht? – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ CSU]: 40 Prozent zahlen doch gar nichts!)


Zweitens. Wollen Sie der Bevölkerung vielleicht noch
einmal darlegen, wie die Verhandlungen zur Steuerre-
form verlaufen sind? Die Opposition hatte im Bundesrat
einen Steuersatz von weit unter 40 Prozent gefordert,


(Joachim Poß [SPD]: 36!)


und wir als rot-grüne Koalition sind damals mit der For-
derung von 45 Prozent in die Verhandlungen eingetreten
und haben gesagt: Ein noch niedrigerer Steuersatz wäre
unverantwortlich, weil man dann zu viele Schulden ma-
chen müsste. Man hat sich dann auf einen Kompromiss
von 42 Prozent geeinigt. Die Kritik an der Steuer-

senkung vonseiten der CDU/CSU ist also ziemlich wohl-
feil, weil Sie den Steuersatz damals noch stärker senken
wollten. Wir haben das nicht mitgemacht; denn das wäre
nicht verantwortungsvoll gewesen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1719508200

Herr Schick, ich habe doch eben gesagt: Wir werden

in einem Land, in einer Welt, die sich heute noch schnel-
ler verändert als in den letzten 60 Jahren – auch das ist
eine Lehre der letzten fünf Jahre –, immer darum ringen
müssen, wie wir das Erfolgsmodell soziale Marktwirt-
schaft weiterentwickeln. Das ist, wie ich glaube, eine
sehr komplizierte Frage. Übrigens hat dies auch verfas-
sungsrechtlich sehr enge Grenzen. Ich weiß nicht, ob Ihr
Vorschlag verfassungsfest ist. Er ist durchaus durch-
dacht; das muss man fairerweise sagen. Der Vorschlag
der Grünen ist – das muss man sagen, egal ob man ihn
ablehnt oder gut findet – im Ergebnis relativ durchdacht.
Meine Sorge wäre, dass die Freigrenzen den Eindruck
erwecken: Hier wird eine Lex, ein Gesetz für eine sehr
kleine Minderheit gemacht. Eigentlich ist das nicht im
Einklang mit unserer Verfassung. Ich bin kein Verfas-
sungsjurist; das haben mir jedoch Fachleute dazu gesagt.

Übrigens, die entscheidende Fragestellung, mit der
wir uns beschäftigen müssen, ist: Wählen wir eine Sub-
stanzbesteuerung oder eine Ertragsbesteuerung?


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Genau! So ist es!)


Es ist doch Konsens in diesem Saal, dass jemand, der
Wohnungen hat, diese vermietet und Mieterträge hat, auf
diese Mieterträge natürlich Steuern zahlen muss. Die
Frage ist doch nur: Wie schaffe ich die Anreize, dass im-
mer noch Immobilien gebaut werden, dass Menschen
immer noch in Immobilien investieren? Die gleiche
Frage stellt sich bei Kapitalerträgen. Wir alle wissen,
wie unser Mittelstand, unsere kleinen Unternehmen
ächzen, wenn sie 50 Prozent des Jahresgewinns an das
Finanzamt abführen müssen, obwohl sie dieses Geld
eigentlich gerne im Betrieb investieren würden.


(Martin Gerster [SPD]: Jetzt etwas zur Frage!)


Gleichzeitig sagen wir alle: Natürlich wollen wir,
dass breite Schultern, dass große Vermögen mehr tragen
als kleine. Jetzt sind wir bei einer Verfassungsfrage. Das
fängt übrigens beim Eigenheim an. Der Großteil des
Wohneigentums in Deutschland besteht doch nicht aus
Millionen- oder Milliardenvillen, sondern das sind
kleine Eigenheime. Deren Besitzer haben sie in der
Regel gebaut oder angeschafft, weil sie der staatlichen
Rente nicht mehr hinreichend vertrauen, weil sie glau-
ben, dass sie ihr Eigenheim brauchen, damit sie im Alter
sorgenfrei leben können.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Was hat das mit Vermögensteuer zu tun?)


Nun müssen wir uns mit der Frage beschäftigen: Gehen
wir an die Substanz, oder gehen wir an die Erträge?






(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719508300

Ich gehe davon aus, dass die Beantwortung der Frage

beendet ist.


(Zuruf von der SPD: Er hat die Frage nicht beantwortet!)



Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1719508400

Herr Kollege, bleiben Sie ganz gelassen. – Ich habe

mit dem ersten Satz gesagt: Natürlich müssen wir das
weiterentwickeln. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass ich
der rot-grünen Bundesregierung von damals unterstelle,
dass sie sich bemüht hat, zum Wohle des Wirtschafts-
standortes Deutschland die im historischen Kontext
richtige Entscheidung zu treffen. Es gibt ja nicht wenige
bei Ihnen, die der Meinung sind, dass sie aufgrund der
damaligen Politik der Vater oder die Mutter des jetzigen
Aufschwungs sind.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719508500

Herr Kollege, geben Sie mir die Chance, Sie zu fra-

gen, ob Sie eine weitere Zwischenfrage zulassen.


Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1719508600

Bitte. Gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719508700

Kollege Manfred Grund.


Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1719508800

Vielen Dank. – Es geht in dieser Debatte ja um Ver-

mögen und Einkommen. Es gibt einen Koeffizienten,
mit dem die Einkommensverteilung in Volkswirtschaf-
ten bzw. Staaten gemessen wird, und zwar einen welt-
weit anerkannten Koeffizienten. Dieser Koeffizient zur
Einkommensverteilung bzw. zur Einkommensgerechtig-
keit –


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vermögen!)


– die Frage, um die es eben ging, betraf die Einkommen –
hat einen Wert zwischen 0 – gleiches Einkommen – und 1.
Bis 2005/2006 ist dieser Koeffizient, was die Situation
in Deutschland betrifft, angestiegen. Jetzt meine Frage:
Herr Kollege, können Sie bestätigen, dass dieser Koeffi-
zient im Hinblick auf Deutschland seit 2006 stabil bei
0,29 liegt, was bedeutet, dass sich die Einkommens-
verteilung in Deutschland in den letzten Jahren nicht
dramatisch verändert hat?


Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1719508900

Diese Zahlen und dieser Koeffizient sind in der Tat

zutreffend, Herr Kollege. Ich bin für Ihre Frage und
Ihren Hinweis dankbar.

Ich will diesen Hinweis gern damit verbinden, auf
Folgendes hinzuweisen: Da Sie uns ja tendenziell weni-
ger glauben als anderen – das ist in der Politik manchmal
so –, mache ich Sie auf den Spiegel von dieser Woche
aufmerksam; er wurde schon zitiert. Meine Damen und
Herren, die Überschrift eines Artikels im Spiegel, in dem
es um Ihre Konzepte geht, lautet: „Jagd auf Reiche“. Der

Spiegel kommt zu vielen Ergebnissen, die am Ende übri-
gens alle das Gleiche zum Inhalt haben:

Die geplante Abgabe schröpft nicht nur reiche
Müßiggänger, sondern vor allem investierende
Unternehmer.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch!)


Sie gefährdet Betriebe, die in der Krise stecken.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Nein! Das bleibt falsch, auch wenn es da steht!)


Und sie gilt international als Auslaufmodell. Von
den 27 EU-Ländern hat nur Frankreich eine dauer-
hafte Abgabe …

Die Vermögensteuer hat nämlich einen entschei-
denden Nachteil: Sie ist unter Finanzbeamten als
besonders ineffizient bekannt. Einem geringen
Ertrag steht ein hoher Aufwand gegenüber. Jedes
Jahr müssen die Behörden den Besitz von Millionä-
ren und Firmen bewerten … Maschinen, Häuser,
Hallen, Gemälde oder Schmuck.
… Am Ende könnte die Vermögensteuer vor allen
Dingen ein Beschäftigungsprogramm für Juristen
und Steuerberater werden.
Vor allem aber belastet sie … Maschinen und Fabri-
ken.

Sie belastet die Unternehmerinnen und Unternehmer, die
wir in diesem Land ganz dringend brauchen. Das zeigt
das Dilemma.

Ich rate uns: Lassen Sie uns über die Ertragsteuern
diskutieren! Lassen Sie uns darüber diskutieren, wie wir
sicherstellen können, dass auch in den nächsten zehn
Jahren starke Schultern mehr tragen als schwache Schul-
tern! Lassen Sie uns über den Sozialstaat diskutieren!
Aber wir sollten nicht den komplizierten Versuch unter-
nehmen, die Substanz zu besteuern und jemandem, der
ein Gemälde besitzt, sagen: Du musst jetzt jedes Jahr
10 000 Euro zahlen, weil du ein teures Gemälde besitzt.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wer sagt denn so einen Quatsch?)


Dieser Versuch hört sich schön an, und man kann ihn
rhetorisch wunderbar verpacken. Aber er wird die Pro-
bleme in Deutschland nicht lösen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das sagt doch auch keiner!)


Ich empfehle uns: Wir sollten über den richtigen Weg
diskutieren. Wir dürfen aber keine Neiddebatten oder
Missgunstdebatten führen. Erst recht, lieber Herr Gysi,
sollten wir nicht solche Modelle befördern, die in
Deutschland schon einmal gescheitert sind. Denn eines
ist klar: Wir brauchen auch starke Schultern und Investi-
tionen in Deutschland, insbesondere Unternehmen, die
investieren, und wir brauchen unseren Mittelstand, wenn
wir die Entwicklung, die in den letzten Jahren stattge-
funden hat, in den kommenden Jahren fortsetzen wollen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719509000

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die

Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Norbert
Schindler. Bitte schön, Kollege Norbert Schindler.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1719509100

Einen schönen guten Morgen bzw. guten Tag, auch

den Gästen auf der Tribüne!


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719509200

Es ist 12.38 Uhr.


(Heiterkeit)



Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1719509300

In Ordnung. Dann sage ich: Guten Tag!

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn man sich
vor Augen führt, wie sehr wir 1997 bei der Abschaffung
der Vermögensteuer gerungen haben


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Sie wurde ausgesetzt!)


und wie dankbar uns die Finanzbeamten waren, weil die
Effizienz dieser Steuer – –


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Alle, die dazwischenrufen, haben davon so viel
Ahnung wie eine Kuh vom Eierlegen. Reden Sie mit der
Finanzverwaltung vor Ort! Ich muss das einmal so deut-
lich und treffend sagen. Damals hatten die Bundesländer
Einnahmen in Höhe von 4 Milliarden D-Mark, und die
Verwaltungskosten betrugen über 2 Milliarden D-Mark.
Die Vermögensteuer war die uneffektivste Steuer, die es
in dieser Republik jemals gab.

Wer war davon betroffen? Erfasst wurden Leute, die
ein Vermögen über 120 000 D-Mark hatten. Es war ge-
nau wie beim Lastenausgleich; er ist von den Linken
heute Morgen ja schon als Modell ins Gespräch gebracht
worden. Die Grünen schlagen eine Steuer vor, die, über
zehn Jahre verteilt, mit jährlich 1,5 Prozent die Reichs-
ten der Reichen abschöpfen soll.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber ohne jährliche Erhebung! Das ist ja das Schöne daran: Wir sind nämlich schlank!)


– Wenn es nur so wäre, Herr Trittin. Durch all die Aus-
nahmen, die in Ihrem Gesetzeswerk enthalten sind, wird
das komplizierte Verfahren, das es bis 1997 gab, noch
viel komplizierter.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Wir stellen nur einmal fest und lassen es sein! Der Rest läuft bei der Einkommensteuer! – Gegenruf des Abg. Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ach was! Das stimmt doch nicht!)


Vergleichen Sie das damalige Gesetz mit Ihrem heutigen
Gesetzentwurf!

Auf was zielt man ab? Man zielt darauf ab, 200 000
bis 300 000 Leute zu erfassen, von denen man sagt: Das
sind die Reichsten der Reichen. Wenn Fußballspieler,
bekannte Filmschauspieler oder Industriellenfamilien
irgendwo in den Alpenrepubliken einen Wohnsitz haben,
dann geht in der medialen Landschaft jeder zur Tages-
ordnung über; sie werden trotzdem bejubelt. Wenn
jemand von uns einen Wohnortwechsel und einen Steu-
erstandortwechsel vornehmen würde, dann wäre der
Teufel los. Ich stelle das nur fest; ich beklage das nicht.

Vorhin wurden die Begriffe „Staatsangehörigkeit“
und „Steuerpflicht“ als Argument genannt. Vergessen
Sie bitte nicht: Eben diese genannten Personen sind
durch die Doppelbesteuerungsabkommen geschützt, die
wir mit unseren Nachbarstaaten abgeschlossen haben.

Mit einer gewissen Sorge sehe ich, dass die linke
Seite dieses Hauses mit einer Neidkampagne den Wahl-
kampf beginnen will. Wer Neid sät, wird Hass ernten.


(Zurufe von der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


– Es ist so. Wer Neid sät, wird Hass ernten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es wird kritisch darauf geschaut, welche Steuerein-
nahmen wir in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten.
Wir haben – das ist auch schon einige Male gesagt wor-
den; ich muss das wiederholen – kein Problem der
Staatseinnahmen – sie sind die besten von allen Seiten –,
sondern wir haben ein Problem der Staatsausgaben. Ihre
Vertreter in den Ausschüssen fordern, dass die Regie-
rung noch viel mehr für den Sozialbereich und vieles an-
dere ausgeben soll. Gleichzeitig hören wir hier heute in
der Fensterdebatte andere Töne. Das passt einfach nicht
zusammen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich sage für die Koalitionsparteien: Das, was wir seit
2008 auch mit dem roten Koalitionspartner, vor allem
aber in unserer christlich-liberalen Koalition an kluger
Finanzpolitik geleistet haben – auch hinsichtlich der
Bankensicherung und der Steuerabkommen mit unseren
Nachbarstaaten –, war nicht selbstverständlich.

Warum haben wir die Probleme? Die linke Seite hat
am Anfang der Debatte durch Herrn Gysi behauptet, wir
seien sogar schuld an dem Schlendrian des griechischen
Staates. Bei einer solchen Schuldzuweisung trotz unserer
guten Regierungspolitik frage ich mich: Wer hat denn
hier Fieber in diesem Haus?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Barbara, da kriege ich einen dicken Hals.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ich auch!)






Norbert Schindler


(A) (C)



(D)(B)


Wir sind an allem schuld, auch an der Jugendarbeits-
losigkeit in Spanien, nur weil wir in Deutschland erfolg-
reich und tüchtig waren, weil wir der größte Netto-
einzahler in der Europäischen Union sind, weil wir den
europäischen Gedanken auch bei jeder Nachtsitzung be-
tonen und weil wir den Einspruch des Parlaments zu
Hause zu Recht in harte Sparbeschlüsse umsetzen? Wir
sind auch daran schuld, dass sie da unten aufgrund der
Sünden der Vergangenheit zu Recht demonstrieren? Das
ist doch nicht das Ergebnis unserer Politik.

Wir haben Deutschland stabil gemacht, nicht nur
hinsichtlich der Steuereinnahmen. Wir haben auch die
Fähigkeit, die Europäische Union mitzufinanzieren.
Welcher Staat in Europa könnte derzeit die Kraft auf-
bringen, dies so durchzuhalten?


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer profitiert denn davon?)


Das wird auch durch die große Mehrheit in diesem Par-
lament getragen. Liebe Freunde, Sie fangen pünktlich
zum Wahljahr 2013 mit einer Neiddebatte an. Erinnern
Sie sich einmal an den Ärger, den die Finanzverwaltung
hatte!

Nach dem Gesetzentwurf der Grünen ist abgegebenes
Vermögen an Dritte vermögensteuerpflichtig. Nur
30 Prozent der Flächen, die die Bauern bewirtschaften,
befinden sich noch in ihrem Eigentum. Die restlichen
70 Prozent sind gepachtet. Das heißt aus der Sicht der
ländlichen Regionen: All diese Eigentümer belastet ihr
in Zukunft mit der Vermögensteuer. Sie müssen erfasst
werden, sie werden dann wieder befreit,


(Jürgen Trittin NEN)


und sie werden alle Jahre wieder kontrolliert. So ergeht
es jedem Immobilienbesitzer.

Dadurch wird eine Neiddebatte eröffnet, die Sie gerne
führen wollen. Durch all die Ausnahmen in Ihrem
Antrag, die Sie abwägen, wird er sehr kompliziert. Des-
wegen könnte man sagen: Er ist durchdacht. Aber er ist
in der politischen Richtung verkehrt.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also wird ein Bauer doch besteuert! Guck an!)


Im Zusammenhang mit der kalten Progression in un-
serem Steuersystem – darauf hat Volker Kauder vorhin
mit Recht hingewiesen – verweigern Sie sich, den kräfti-
gen Zugriff des Staates bei Lohnzuwächsen zu beenden.
Das ist die größte Ungerechtigkeit, die wir seit sechs
oder sieben Jahren haben.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist lächerlich!)


Sie sind nicht bereit, hier zu mehr Gerechtigkeit beizu-
tragen. Nein, Sie wollen ablenken und sprechen stattdes-
sen ein anderes Thema an.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist eine lächerliche Diskussion!)


Leute, das werden wir seitens der Koalition mit Erfolg
verhindern.

Deswegen ist das Thema Vermögensteuer in Deutsch-
land erledigt. Es muss auch im Vergleich mit anderen eu-
ropäischen Staaten erledigt bleiben, sonst hätten wir mit
der Einführung einer neuen Steuer für noch mehr Steue-
rungerechtigkeit gesorgt. Diesen Vorschlag werden die
Wählerinnen und Wähler in einem Jahr mit Sicherheit
entsprechend quittieren.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719509400

Vielen Dank, Kollege Norbert Schindler. – Letzte

Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unsere Kollegin Frau Bettina Kudla. Bitte
schön, Frau Kollegin.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Bettina Kudla (CDU):
Rede ID: ID1719509500

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Lassen Sie mich als letzter Redner der
Debatte


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rednerin!)


hier noch einmal die wichtigen Punkte zusammenfassen.

Uns liegen zwei Vorschläge vor: ein Gesetzentwurf
von der Fraktion der Grünen und ein Antrag von der
Fraktion der Linken. Der Gesetzentwurf der Grünen
wird damit begründet, man wolle die hohen Staatsschul-
den tilgen. In dem Gesetzentwurf wird auf den Anstieg
der Staatsschulden in den letzten Jahren verwiesen, auch
aufgrund der Finanzkrise und der Konjunkturpro-
gramme. Wohlgemerkt: Die Einzahlungen in den ESM
werden beispielsweise nicht erwähnt.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sollen wir sie wegen des ESM erhöhen?)


In dem Gesetzentwurf wird auch eine Parallele zum
Lastenausgleich gezogen; das wurde mehrfach ange-
sprochen. Die Grünen wissen hier offenbar recht wenig
von der Geschichte.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn wir den ESM auch noch finanzieren wollen, müssen wir die Beiträge erhöhen!)


Offenbar wollen Sie auch nichts davon wissen. Deswe-
gen sind Sie stets gegen die Stiftung Flucht, Vertreibung,
Versöhnung.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


Der Vergleich mit dem Lastenausgleich ist hier ein-
fach nicht zutreffend. Den damaligen Lastenausgleich
hat die gesamte deutsche Bevölkerung getragen, nicht





Bettina Kudla


(A) (C)



(D)(B)


nur ein kleiner Teil der Menschen, obwohl es der Bevöl-
kerung damals sehr schlecht ging.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Höherer Satz und mehr Steuern! Das ist interessant! Sie übertreffen ja die Linkspartei!)


Schließlich muss man feststellen, dass die Staatsschul-
den seit Jahrzehnten unter Regierungen jeder Couleur
erhöht wurden, allerdings unter den CDU-geführten
Regierungen wesentlich geringer als unter den rot-grün-
geführten Regierungen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Genauso ist es!)


Was den Bundeshaushalt betrifft – das hat Bundes-
finanzminister Schäuble vergangene Sitzungswoche ein-
drucksvoll dargelegt –: Das riesige Finanzloch von Peer
Steinbrück aus dem Jahr 2008 mit 100 Milliarden Euro
ist auf ein sehr kleines Finanzloch geschrumpft.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da saß der Herr Schäuble übrigens auch im Kabinett, und die Kanzlerin hieß Merkel! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das war die Große Koalition!)


– Herr Trittin, zu Ihren Zwischenrufen kann ich jetzt nur
sagen: Als Sie vorher über Finanzen gesprochen haben,
musste ich an Atomkraft denken.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da habe ich auch recht behalten!)


Eigentlich habe ich nicht an Atomkraftwerke gedacht,
sondern an den Super-GAU. Bleiben Sie bei den The-
men, die zu Ihnen passen!


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sollte ein Witz sein! Lachen! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Witz, aber niemand hat ihn verstanden!)


Zum Antrag der Linken. Die Linken nehmen Bezug
auf den Armutsbericht der Bundesregierung und fordern
eine Enteignung vermögender Personen im Rahmen
einer Vermögensabgabe. In beiden Vorschlägen wird die
Einführung einer Vermögensteuer von 1,5 bzw. 5 Pro-
zent gefordert.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abgabe! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Wegnahme!)


Lassen Sie mich auf drei Schwerpunkte eingehen:
Erstens. Löst eine Vermögensabgabe die Probleme der
öffentlichen Haushalte?


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Nein!)


Zweitens. Was sind die Folgen einer Vermögensabgabe
und einer zu hohen Besteuerung? Drittens. Ein paar
Ausführungen zum Armutsbegriff: Wie wird der Ar-
mutsbegriff eigentlich verwendet?

Zum Ersten, der Vermögensabgabe: Kann man die öf-
fentlichen Haushalte sanieren, indem man nur an der
Einnahmenschraube dreht? Antwort: ein klares Nein.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Entschieden! Richtig! Ich stimme Ihnen zu!)


Die Sanierung eines öffentlichen Haushaltes allein über
die Einnahmenseite ist nicht möglich. Sobald es höhere
Einnahmen gibt, steigen die Ausgabenwünsche. Hier
zeigt sich auch die fehlende Logik der Anträge der Frak-
tionen der Grünen und der Linken. Wenn Sie die Mehr-
einnahmen wirklich zur Schuldentilgung verwenden
wollten, dann dürften Sie doch nicht permanent gegen
die Schuldenbremse wettern.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist im Gesetzentwurf rechtlich zwingend festgeschrieben!)


Die Sanierung der öffentlichen Haushalte – auch das ha-
ben die Redner betont – kann nur durch strukturelle
Maßnahmen auf der Ausgabenseite erreicht werden.

Dem Bundeshaushalt geht es auch deswegen besser,
weil der Ausgabenanstieg gestoppt werden konnte.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dank Betreuungsgeld!)


Verbunden mit höheren Einnahmen aufgrund von Wirt-
schaftswachstum wurde durch eine umsichtige Politik
unserer Bundesregierung der Weg der Konsolidierung
gestärkt. Der Bundeshaushalt erfüllt die verfassungs-
mäßigen Vorgaben der Schuldenbremse,


(Manfred Zöllmer [SPD]: 80 Prozent Verschuldung!)


und im Rahmen des Fiskalvertrages sind auch die ande-
ren europäischen Länder gehalten, eine Trendumkehr in
ihrer Haushaltspolitik einzuleiten.

Zum Zweiten. Was wären die Folgen einer übermäßi-
gen Steuerbelastung? Würden die Bürger übermäßig
durch eine Vermögensabgabe belastet,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Nein!)


würde der Schutz des Eigentums, den unser Grundgesetz
garantiert, infrage gestellt. Dann würden die wohlhaben-
den Bürger ihren Wohn- oder Firmensitz eben ins
Ausland verlegen. Das sieht man jetzt schon bei Spitzen-
sportlern, Schauspielern und bedeutenden Unter-
nehmern. Die Leistungen dieser Menschen würden in
unserem Land fehlen. Gerade ihre Beiträge zu Wohl-
stand und sozialer Sicherung wären im Inland gefährdet.
Dies hat auch der Kapitalabfluss, der in den vergangenen
Jahren in Deutschland besonders stark war, gezeigt.

Zum Dritten. Nun noch ein paar Sätze zum Armuts-
begriff: Geld ist für den Bürger immer knapp. Jemand,
der SGB II bezieht, muss sicherlich jeden Euro zweimal
umdrehen, bevor er ihn ausgibt. Das gilt aber für einen
Familienvater, der 2 000 Euro brutto durch seine eigene
Arbeitskraft verdient, vermutlich auch.





Bettina Kudla


(A) (C)



(D)(B)



(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Deshalb zahlt er auch keine Vermögensteuer!)


Aber man muss auch sehen, dass über 50 Prozent des
Bundeshaushaltes für Sozialleistungen ausgegeben
werden. Der Mensch steht in der Politik der Bundes-
regierung im Vordergrund,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


aber das System an sich muss funktionieren. Der Ar-
mutsbegriff wird einfach am verfügbaren Haushaltsein-
kommen festgemacht. Dabei wird keine Unterscheidung
getroffen, ob es sich um ein Arbeitseinkommen oder um
ein Transfereinkommen handelt. Soziale Errungenschaf-
ten, zum Beispiel dass jemand, der – aus welchen Grün-
den auch immer – kein eigenes Arbeitseinkommen hat
und trotzdem sein Leben lang krankenversichert ist,
blenden Sie in Ihren Anträgen völlig aus.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719509600

Wenn Sie bitte zum Schluss kommen, Frau Kollegin.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Bettina Kudla (CDU):
Rede ID: ID1719509700

Das Gleiche gilt beispielsweise für die Grundsiche-

rung, welche die Menschen, die keine eigene Rente
erwirtschaften konnten, ihr Leben lang absichert.

Ziel unserer Politik muss immer sein, die soziale Aus-
gewogenheit weiterhin zu erhalten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719509800

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die

Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10770 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Die Vorlage auf Drucksache 17/10778 soll ebenfalls
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
überwiesen werden. Die Federführung ist jedoch strittig.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen
die Federführung beim Finanzausschuss, die Fraktion
Die Linke wünscht die Federführung beim Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union.

Ich lasse zunächst abstimmen über den Überwei-
sungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Feder-
führung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? – Das ist die Fraktion Die Linke. Wer
stimmt dagegen? – Das sind alle anderen Fraktionen des
Hauses. Enthaltungen? – Keine. Somit ist der Überwei-
sungsvorschlag abgelehnt.

Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, also
Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt dafür? –
Das sind alle anderen Fraktionen des Hauses. Wer
stimmt dagegen? – Die Linksfraktion. Enthaltungen? –
Keine. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 47 a bis 47 g und
47 i bis 47 r sowie Zusatzpunkte 4 a bis 4 d auf:

47 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie über Industrieemissionen
– Drucksache 17/10486 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
rung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivil-
prozess
– Drucksache 17/10490 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
ordnung der Altersversorgung der Bezirks-
schornsteinfegermeister und zur Änderung
anderer Gesetze
– Drucksache 17/10749 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Siebten Buches Sozialgesetz-
buch
– Drucksache 17/10750 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 23. April 2012 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Groß-
herzogtum Luxemburg zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und Verhinderung der
Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steu-
ern vom Einkommen und vom Vermögen
– Drucksache 17/10751 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 12. April 2012 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem König-
reich der Niederlande zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen

– Drucksache 17/10752 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 17. November 2011 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem
Fürstentum Liechtenstein zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen

– Drucksache 17/10753 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
weitere Bereinigung von Übergangsrecht aus
dem Einigungsvertrag

– Drucksache 17/10755 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 29. Juni 2012 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Globa-
len Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt
über den Sitz des Globalen Treuhandfonds für
Nutzpflanzenvielfalt

– Drucksache 17/10756 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss

k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Rahmenabkommen vom 10. Mai 2010 zwi-
schen der Europäischen Union und ihren Mit-
gliedstaaten einerseits und der Republik
Korea andererseits

– Drucksache 17/10757 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss

l) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Freihandelsabkommen vom 6. Oktober 2010
zwischen der Europäischen Union und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und der Republik
Korea andererseits

– Drucksache 17/10758 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss

m) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über
die Erweiterung des Geltungsbereichs der Ver-

ordnung (EU) Nummer 1214/2011 des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über den
gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Stra-
ßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mit-
gliedstaaten des Euroraums

– Drucksache 17/10759 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

n) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Flaggenrechtsgeset-
zes und der Schiffsregisterordnung

– Drucksache 17/10772 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Barrierefreies Bauen im Baugesetzbuch ver-
bindlich regeln

– Drucksache 17/9426 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus

p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Koch, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Ausbau des Truppenübungsplatzes Altmark
sofort stoppen – Colbitz-Letzlinger Heide zivil
nutzen

– Drucksache 17/10684 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

q) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Für einen wirksamen Schutz und die Auf-
nahme syrischer Flüchtlinge in der Europäi-
schen Union und in Deutschland

– Drucksache 17/10786 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


r) Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof

Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsord-
nung über den Vollzugsaufwand bei der Ge-
währung von Unterhaltsvorschuss und Wohn-
geld an Kinder mit Anspruch auf Leistungen
der Grundsicherung für Arbeitsuchende

– Drucksache 17/10322 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

ZP 4a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor-
schlag für einen Beschluss des Rates zur Fest-
legung eines Mehrjahresrahmens (2013–2017)

für die Agentur der Europäischen Union für
Grundrechte

– Drucksache 17/10760 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Freiheit und Unabhängigkeit der Medien si-
chern – Vielfalt der Medienlandschaft erhal-
ten und Qualität im Journalismus stärken

– Drucksache 17/10787 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Entwicklungspolitische Zusammenarbeit fit
machen für die Kooperation mit fragilen Staa-
ten

– Drucksache 17/10791 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Bas, Angelika Graf (Rosenheim), Dr. Marlies

Volkmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Kinder- und Jugendgesundheit: Ungleichhei-
ten beseitigen – Versorgungslücken schließen

– Drucksache 17/9059 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/10322 – Ta-
gesordnungspunkt 47 r – soll federführend beim Haus-
haltsausschuss beraten werden. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 48 a bis 48 m
auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla-
gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 48 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes über die Statistik
im Produzierenden Gewerbe

– Drucksache 17/10493 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/10850 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Martin Lindner (Berlin)


Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/10850, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auf Drucksache 17/10493 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen
und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? –
Keine. Stimmenthaltungen? – Das sind die Fraktionen
der Sozialdemokraten und von Bündnis 90/Die Grünen.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Koalitionsfraktionen und Linksfraktion. Wer stimmt da-
gegen? – Stimmenthaltungen? – Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 48 b:

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Juli
2009 zwischen der Regierung der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Regierung von Ber-
muda über den Auskunftsaustausch in Steuer-
sachen

– Drucksache 17/10043 –

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
28. Oktober 2011 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regie-
rung von Montserrat über die Unterstützung
in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Infor-
mationsaustausch

– Drucksache 17/10044 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/10847 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Lothar Binding (Heidelberg)


Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom
3. Juli 2009 mit der Regierung von Bermuda über den
Auskunftsaustausch in Steuersachen. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/10847, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10043
anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Das ist die
Linksfraktion. Enthaltungen? – Das ist die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist somit an-
genommen.

Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom
28. Oktober 2011 mit der Regierung von Montserrat
über die Unterstützung in Steuer- und Strafsachen durch
Informationsaustausch. Der Finanzausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10847, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 17/10044 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand.
Enthaltungen? – Das sind die Fraktion von Bündnis 90/
Die Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf
ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 48 c:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der
Bundesregierung

Vierundneunzigste Verordnung zur Ände-
rung der Außenwirtschaftsverordnung
– Drucksachen 17/10542, 17/10707 Nr. 2.1,
17/10851 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/10851, die Aufhebung der Ver-
ordnung auf Drucksache 17/10542 nicht zu verlangen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind
alle Fraktionen dieses Hauses. Vorsichtshalber die Ge-
genprobe! – Keine. Stimmenthaltungen? – Keine. Somit
ist die Beschlussempfehlung angenommen.

Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 48 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 463 zu Petitionen
– Drucksache 17/10671 –

Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltun-
gen? – Niemand. Sammelübersicht 463 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 48 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 464 zu Petitionen
– Drucksache 17/10672 –

Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? – Keiner.
Enthaltungen? – Keine. Sammelübersicht 464 ist ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 48 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 465 zu Petitionen
– Drucksache 17/10673 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt
dagegen? – Linksfraktion. Enthaltungen? – Bündnis 90/
Die Grünen. Sammelübersicht 465 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 48 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 466 zu Petitionen
– Drucksache 17/10674 –





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? – Nie-
mand. Enthaltungen? – Niemand. Sammelübersicht 466
ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 48 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 467 zu Petitionen

– Drucksache 17/10675 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Sozial-
demokraten. Wer stimmt dagegen? – Linksfraktion. Ent-
haltungen? – Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht
467 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 48 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 468 zu Petitionen

– Drucksache 17/10676 –

Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen dieses Hauses.
Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? – Niemand. Ent-
haltungen? – Niemand. Sammelübersicht 468 ist ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 48 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 469 zu Petitionen

– Drucksache 17/10677 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Sozialde-
mokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt da-
gegen? – Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Sam-
melübersicht 469 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 48 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 470 zu Petitionen

– Drucksache 17/10678 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Sozial-
demokraten. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. So-
mit ist Sammelübersicht 470 angenommen.

Tagesordnungspunkt 48 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 471 zu Petitionen

– Drucksache 17/10679 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Sozialdemokraten und Bündnis 90/
Die Grünen. Enthaltungen? – Linksfraktion. Sammel-
übersicht 471 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 48 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 472 zu Petitionen

– Drucksache 17/10680 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Alle drei Oppositionsfraktionen. Ent-
haltungen? – Keine. Sammelübersicht 472 ist angenom-
men.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun
zum Zusatzpunkt 5:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD

Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn –
Unterschiedliche Auffassungen innerhalb der
CDU/CSU und FDP

Das Wort als Erster in unserer Aktuellen Stunde hat
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Thomas Oppermann. Bitte schön, Kollege Thomas
Oppermann.


(Beifall bei der SPD)



Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1719509900

Vielen Dank, Herr Präsident. – Vor drei Wochen hat

die Bundesregierung das Euro-Krisenmanagement an
die Europäische Zentralbank abgetreten. Seitdem muss
sich die Bundesregierung wieder mit innenpolitischen
Fragen befassen. Das staunende Publikum stellt fest:
Nichts hat sich verändert. Überall herrscht Streit. Egal
ob Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn oder
Rente,


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Kanzlerkandidatur!)


in keinem Bereich kann diese Regierung sich einigen. In
allen wichtigen innenpolitischen Fragen ist diese Bun-
desregierung handlungsunfähig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das hätten Sie gerne!)


Frau von der Leyen will die Quote. Frau Schröder
lehnt sie ab. Frau Schröder hat einen Gesetzentwurf zum
Betreuungsgeld vorgelegt, den sie selber eigentlich gar
nicht will. Frau von der Leyen hat dagegen eine Renten-
reform vorgelegt, die aber die Kanzlerin verhindern will.
Die Kanzlerin hofft dabei auf die Unterstützung von
Herrn Rösler. Der ist aber damit beschäftigt, gegen die
Energiewende, gegen das Betreuungsgeld und gegen den
Reichtums- und Armutsbericht zu kämpfen. So wird das
nichts, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In dieser Regierung kämpf jeder gegen jeden, und nie-
mand kümmert sich darum, die Probleme in diesem
Lande zu lösen.





Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)


Der vergangene Freitag war ein schwarzer Freitag für
diese Bundesregierung. Mehrere Ministerpräsidenten
haben im Bundesrat den Aufstand gewagt. Sie wollen
sich nicht mehr mit dem Stillstand abfinden. Sie spüren
genau: Die Zeit dieser Regierung läuft ab. Sie haben ge-
merkt, dass die Bevölkerung hinter den Forderungen der
Opposition steht.


(Lachen bei der CDU/CSU)


– Lachen Sie nur, Sie werden dafür noch die Quittung
bekommen.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das Lachen wird Ihnen noch vergehen!)


76 Prozent der Bürger sind für den gesetzlichen Min-
destlohn. 69 Prozent sind gegen das Betreuungsgeld.
56 Prozent der Frauen befürworten eine Quote in den
Aufsichtsräten und Vorständen von Unternehmen. Des-
halb, meine Damen und Herren, haben einige CDU-Mi-
nisterpräsidenten bei Mindestlohn und Frauenquote ge-
gen Frau Merkel gestimmt. Sie handeln nach dem
Motto: Rette sich, wer kann!

Die Kanzlerin muss jetzt die Abtrünnigen zu einem
Krisengipfel einladen. Ich glaube nicht, dass das hilft.
Wer übrigens glaubt, dass es nicht schlimmer als am
letzten Freitag, diesem schwarzen Freitag kommen
konnte, der sieht sich getäuscht. Es kam noch schlimmer.


(Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/ CSU]: Roter Oktober!)


Nach dem schwarzen Freitag folgte der Knall am
Montag. Die FDP sabotiert das Betreuungsgeld.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut so!)


In dieser Koalition funktioniert nichts mehr, weil jeder
nur noch an sich selber denkt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Da ist der Wunsch Vater des Gedankens!)


Obwohl diese Koalitionspartner, diese drei Koali-
tionsparteien eigentlich miteinander fertig sind, haben
Sie noch ein gemeinsames Interesse, das sie verbindet:


(Christine Lambrecht [SPD]: Machterhalt!)


Sie wollen den Machterhalt in den letzten zwölf Mona-
ten dieser Wahlperiode sichern. Deshalb beginnt in die-
sen Tagen ein großer Kuhhandel. Die FDP sagt: Wir hal-
ten das Betreuungsgeld für grundfalsch, wir lehnen es
entschieden ab, aber wir würden zustimmen, wenn wir
dafür eine extra Gegenleistung bekämen.


(Sibylle Laurischk [FDP]: So ein Schmarrn!)


Es wird über die Reduzierung des Soli und über die
Streichung der Praxisgebühr verhandelt. Herr Kauder hat
schon die Währungseinheit dieser Verhandlungen in ein
oder zwei Porsche Cayenne definiert. Ich weiß gar nicht,
was im Augenblick der Kurs bei Ihnen, Herr Kauder, ist.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Kamele!)


– Kamele, genau, das glaube auch ich, aber davon haben
Sie selber in der Fraktion genug. Damit sind Sie reich
gesegnet.


(Heiterkeit bei der SPD und der LINKEN – Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Im Ernst: Die Gegenleistung mag noch so bedeutend
sein,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Oppermann zieht Karneval wieder vor, wie jedes Jahr!)


das falsche Betreuungsgeld wird doch dadurch nicht
richtig, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es bleibt doch dabei, dass das Betreuungsgeld der Rück-
marsch in das Familien- und Frauenbild der 50er-Jahre
ist.

Ich will hier nicht gegen den Kompromiss reden. Der
Kompromiss gehört zur Demokratie. Der Kompromiss
ist eine demokratische Tugend, aber der Kompromiss
muss aus der Sache heraus begründet sein. Was Sie hier
vorhaben, ist ein sachfremder Kuhhandel nach dem
Motto „Schenkst du meiner Tante etwas, kriegt auch
deine Tante etwas“.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Schrecklich!)


So machen Sie Politik. Sie sind jetzt drei Jahre an der
Regierung. Das ist die peinlichste Regierung, die das de-
mokratische Deutschland je hatte.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das hat die Opposition immer behauptet!)


Dazu gibt es eine gute Nachricht: In zwölf Monaten ist
die Zeit dieser Regierung abgelaufen. Und es gibt eine
schlechte Nachricht: Jeder Tag bis dahin ist ein verlore-
ner Tag für Deutschland.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719510000

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege

Michael Kretschmer das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1719510100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Viele von Ihnen erinnern sich sicherlich an das
Buch Momo von Michael Ende und den darin beschrie-
benen Kampf gegen die Zeitdiebe. Die grauen Männer
von heute, die uns die Zeit stehlen wollen,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die sind eigentlich rot!)


kommen gerade von der SPD.





Michael Kretschmer


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Anstatt mit uns darüber zu diskutieren, was die wirk-
lichen Probleme des Landes sind und wie wir sie lösen
können, versuchen Sie, eine Show zu initiieren. Doch für
Show fehlt uns die Zeit. Die Lösung der Probleme, die
dieses Land hat, gerade im internationalen Kontext, ist
zu wichtig.


(Thomas Oppermann [SPD]: Dann machen Sie sich daran! – Weitere Zurufe der SPD)


Deswegen werden wir diese Debatte auch nicht unnötig
verlängern. Ich denke, das ist gut für unser Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir nehmen die Verantwortung wahr, die uns die
Menschen mit der Wahl aufgegeben haben. Wir werden
diese für Deutschland bis zum Ende der Legislaturpe-
riode und gern auch darüber hinaus mit Freude tragen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Caren Marks [SPD]: Augen zu und durch!)


Es gibt zum heutigen Zeitpunkt kaum einen anderen
Ort auf der Welt, an dem die Menschen sicherer und mit
größerer Stabilität leben können, als die Bundesrepublik
Deutschland. Dass das so ist, das hat diese Koalition, das
hat diese Regierung maßgeblich mitzuverantworten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen der Abg. Christine Lambrecht [SPD] – Caren Marks [SPD]: Kretschmer, Begeisterung hört sich anders an!)


Wir werden auch in Zukunft um die Bewältigung der
großen Herausforderungen für dieses Land ringen. Wir
werden auch über Themen wie Betreuungsgeld, Frauen-
quote, Mindestlohn ernsthaft debattieren,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Jetzt endlich ernsthaft?)


und zwar nicht in einer Aktuellen Stunde mit der Dauer
von einer Stunde, sondern in einer breiten Diskussion.
Denn das sind Themen, die die Gesellschaft bewegen,
die in jeder Familie, die bei den Gewerkschaften, die an
den Stammtischen


(Thomas Oppermann [SPD]: Von Stammtischen verstehen Sie etwas, ja!)


und die natürlich auch in den politischen Parteien inten-
siv und auch kontrovers diskutiert werden.

Es wäre schlimm, wenn über solche Themen nicht
diskutiert werden würde, wenn es nur eine Einheitsmei-
nung geben würde; denn das würde bedeuten, dass es
keine Ideen, keinen Diskurs gibt. Aber gerade das macht
die Demokratie aus: dass es einen Streit um die besten
Ideen gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Streit in der Sache ist das eine; das bringt uns voran.
Zerrissenheit in einer Partei in Personalfragen ist das an-
dere. Genau das erleben wir bei der SPD: Sie kann sich

nicht einigen, mit welcher von drei Personen sie bei der
nächsten Bundestagswahl antreten will. Bei den Grünen
sind es sogar 15 Personen, die für eine Spitzenkandida-
tur gegeneinander kämpfen, nach dem Motto: „Wer sind
wir und wenn ja, wie viele?“ Meine Damen und Herren,
so wird es nichts!

Deshalb gehen wir mit Freude in die Diskussion über
die angesprochenen Themen und an die Arbeit im kom-
menden Jahr. Wir freuen uns auf eine Bundestagswahl,
bei der wir darum ringen, unseren Kurs fortzusetzen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719510200

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Yvonne

Ploetz das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Yvonne Ploetz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719510300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Es ist erbärmlich, welches miserable Bild die Bun-
desregierung abgibt.

Das schreibt das Westfalen-Blatt.

Und weiter:

Das einstige Wunschbündnis hat schon jetzt den
Eintrag in die Geschichtsbücher als „schwarz-gelbe
Koalition des Dauerstreits“ sicher.

Sehr treffend, wie ich finde.

Aktuell streiten sie sich wieder um das Betreuungs-
geld. Gerade dieses Thema ist beispielhaft für das, was
ich gleich ausführen werde: Sie schaffen es nämlich nur
noch mit den größten Anstrengungen gegen gesellschaft-
liche Stimmungen, gegen rebellierende Bürgerinnen und
Bürger und jetzt auch gegen den Widerstand des Bun-
desrats zu regieren – auch wenn Sie es immer wieder
versuchen.

Wir kommen nun zum Versagen der Bundesregie-
rung, belegt an vier Beispielen.

Erstens: das Meldegesetz. Der Aufschrei war groß,
als der Bundestag bzw. das, was von ihm noch übrig war,
eine Neufassung des Meldegesetzes beschlossen hatte.
Hier passierte das, was wir von der Koalition schon seit
Monaten oder Jahren geboten bekommen: Sie legt einen
Entwurf vor, streitet, streitet, wartet ein bisschen, streitet
noch einmal, um irgendwann die Änderung des Ent-
wurfs oder die Änderung der Änderung des Entwurfs
durch den Bundestag zu peitschen. So war es auch beim
Meldegesetz. Es gab einen Änderungsantrag, mit dem
Sie den Datenschutz in den Meldeämtern de facto ab-
schaffen wollten. Wie Sie die Daten der Menschen an
den prächtig blühenden Adresshandel zu Werbezwecken
verhökern wollten, ist an Dreistigkeit wirklich nicht zu
überbieten.


(Beifall bei der LINKEN)






Yvonne Ploetz


(A) (C)



(D)(B)


Heute tut CSU-Ministerin Aigner so, als habe sie da-
mit nichts zu tun. Angela Merkel wünscht sich Überar-
beitungen durch den Bundesrat, und die einstige Bürger-
rechtspartei FDP ist ein Totalausfall.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Was ist passiert? Ihr Gesetz traf nach der Verabschie-
dung hier im Haus auf die gesellschaftliche Realität und
auf den weit verbreiteten Wunsch nach Datenschutz,
neuerdings auch auf den Widerstand im Bundesrat und
auf rebellierende Bürgerinnen und Bürger. Sie macht das
nervös; mich macht der Widerstand unglaublich stolz.


(Beifall bei der LINKEN)


Nächstes Thema: Frauenquote. Bis heute sind Männer
ein bisschen gleichberechtigter: mehr Geld, mehr Auf-
stieg, mehr Aufsichtsrat. Nachdem Sie alle von uns hier
im Bundestag gestellten Anträge abgeschmettert haben,
hat nun die Hamburger SPD einen Antrag in den Bun-
desrat eingebracht, in dem es um eine 40-prozentige
Quote für Frauen in Aufsichtsräten geht, und sie hat die
Unterstützung von einem CDU-Ministerpräsidenten und
einer CDU-Ministerpräsidentin bekommen.

Und damit auch gleich zu den Happenings hier in der
Koalition rund um die Quotendebatte: Frauenministerin
Schröder darf mit ihrer Flexi-Quote schon lange nicht
mehr mitspielen, und das ist auch gut so. Volker Kauder
mahnt panisch zur Geschlossenheit, und die Unions-
frauen im Bundestag drängen auf eine Abstimmung
ohne Fraktionszwang, damit die Abgeordneten ihrem
frauenpolitischen Gewissen folgen können. Liebe Uni-
onsfrauen, bei solchen Bitten zucke ich innerlich immer
zusammen. Stehen Sie doch einfach einmal zu Ihrer
Meinung!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Aber was bringt Sie so ins Schleudern? Es ist, dass
immer mehr Menschen der Meinung sind, dass Frauen in
Kontrollgremien wichtig sind, zum einen, weil es ge-
schlechtergerecht ist, und zum anderen, weil sie darüber
vielleicht auch andere Frauen motivieren und fördern
können. Es gibt immer mehr Menschen, die für die
Quote streiten, und der Bundesrat beschließt sie einfach.
Schwarz-Gelb ist verdutzt; mir zaubert es ein Lächeln
auf die Lippen.

Nun eiert die Koalition beim Betreuungsgeld herum,
das bekanntermaßen bis heute wirklich niemand will.
Für eine Zustimmung fordert die FDP Gegenleistungen
von der Union: Dabei könne es zum Beispiel um die Ab-
schaffung der Praxisgebühr gehen. Nichts gegen die Ab-
schaffung der Praxisgebühr; aber es ist unfassbar, wie
tief Ihre Schamgrenze ist. Dieses unwürdige Geschacher
rund um das Betreuungsgeld ist wirklich für niemanden
mehr zu ertragen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der FDP-Haushaltspolitiker Koppelin sagte vor drei
Tagen, das Betreuungsgeld sei nur ein „Steckenpferd

von Herrn Seehofer und ein, zwei anderen“. Ich will
festhalten: Steckenpferde sind tot, so tot wie dieses Pro-
jekt. Also steigen Sie endlich von Ihrem toten Gaul ab
und investieren Sie das Geld in den Ausbau der Kitabe-
treuung!


(Beifall bei der LINKEN)


Abschließend haben wir noch die abstrusen Vorgänge
rund um den Armuts- und Reichtumsbericht: Da legt von
der Leyen einen Entwurf vor, der belegt: Die Reichen
werden reicher, die Armen rutschen immer mehr ab.
Und: Nötig wäre eine höhere Besteuerung von Millio-
närsvermögen. Diese Passage treibt Philipp Rösler auf
die Barrikaden. Er verweigert dem Bericht einfach seine
Zustimmung. Man staunt wirklich nicht schlecht, wie
der Lobbyismus Sie vor sich her treibt.

Dennoch: Wissen Sie, was mich auch hier wieder
freut? Die Rebellion der Bürgerinnen und Bürger steht
bereits in den Startlöchern. Spätestens die Kampagne
„UmFAIRteilen“ wird den Frust über die krassen Unge-
rechtigkeiten, die Sie hier alle mit zu verantworten ha-
ben – SPD, Grüne, Union und FDP –, auf die Straße
bringen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719510400

Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin

Nicole Bracht-Bendt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Rede ID: ID1719510500

Liebe Frau Ploetz, ich gehöre zu den Frauen, die auch

ohne Freigabe des Fraktionszwanges zu ihrer Meinung
stehen. Es wird Ihnen vielleicht nicht so gefallen, wie ich
zur Quote stehe; aber ich habe eine Meinung.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sie alle wissen, dass es bei uns zu wenige
Frauen in Führungspositionen in Unternehmen gibt. Nie-
mand streitet ab, dass in der Vergangenheit viele Spit-
zenjobs in Männerrunden gekungelt wurden. Ich frage
mich aber, warum gerade jetzt der Streit um die Einfüh-
rung einer Frauenquote so eskaliert und diese Quote
schließlich auch im Bundesrat eine Mehrheit findet.


(Christine Lambrecht [SPD]: Weil es Zeit wird! Besser als nie!)


Der Ruf nach dem Gesetzgeber wird ausgerechnet zu
einem Zeitpunkt immer lauter


(Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– hören Sie bitte einmal zu –, an dem endlich Bewegung
in die Sache gekommen ist. Laut der Beratungsgesell-
schaft Egon Zehnder International spiegelt sich das auch
in ganz aktuellen Zahlen wider. Untersucht wurden rund
350 der größten europäischen Unternehmen in 17 Län-
dern. Die dabei befragten 41 deutschen Unternehmen





Nicole Bracht-Bendt


(A) (C)



(D)(B)


hatten zwischen Mai 2011 und Mai 2012 insgesamt
81 Führungsposten neu zu besetzen, von denen 41 Pro-
zent an Frauen gingen. Das ist zwar in der Tat ausbaufä-
hig, aber der Trend ist eindeutig. Im Übrigen liegt
Deutschland damit über dem europäischen Durchschnitt.
Demnach wurden rund 33 Prozent der vakanten Positio-
nen mit Frauen besetzt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sprechen Sie doch
einmal mit Personalberatern. Sie werden Ihnen bestäti-
gen, dass ihre Kunden explizit Kandidatinnen suchen.

Als überzeugte Quotengegnerin kann ich der öffentli-
chen Debatte über eine Frauenquote aber dennoch etwas
Positives abgewinnen:


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Und als Argument nehmen wir die Familienministerin!)


Die Unternehmen sind sensibilisiert. Mittlerweile gilt es
doch als imagefördernd, Frauen im Vorstand zu haben.
Hinzu kommt: Frauen machen heute durchschnittlich
bessere Universitätsabschlüsse.


(Yvonne Ploetz [DIE LINKE]: Das kommt noch erschwerend hinzu!)


Auch das ist den Unternehmen natürlich nicht entgan-
gen. Insofern gibt es aus meiner Sicht keinen Grund für
eine staatliche Reglementierung. Die FDP setzt auf
Selbstverpflichtung der Wirtschaft. Die Telekom hat es
vorgemacht. Mit einer selbst auferlegten Frauenquote für
Führungspositionen kann man wunderbar als attraktiver
Arbeitgeber punkten.

Ich möchte nun auf die mittelständischen Unterneh-
men zu sprechen kommen. Was in DAX-Unternehmen
noch eher die Ausnahme ist, ist in mittelständischen und
familiengeführten Unternehmen heute schon fast selbst-
verständlich: Der Anteil leitender Mitarbeiterinnen und
Geschäftsführerinnen ist dort mit über 20 Prozent we-
sentlich höher als in börsennotierten Unternehmen. Des-
halb bin ich dafür, dass die Frauenpolitik, statt weiter
über eine Quote für die vergleichsweise kleine Zahl an
Vorständen und Aufsichtsratsposten zu streiten,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der FDP vielleicht!)


wieder die wirklich wesentlichen Punkte in den Fokus
nehmen sollte.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Entgeltgleichheit!)


Erstens möchte ich noch einmal klarstellen: Der Staat
hat kein Recht, die Wirtschaft zu dirigieren.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Und Frau Reding hat schon einmal gar kein Recht, sich
in die Belange deutscher Wirtschaft einzumischen.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das möchte ich an dieser Stelle auch einmal sagen. Ich
finde Frau Redings Einmischungen unerträglich.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Richtig, finde ich auch!)


Zweitens ist es Aufgabe des Staates – das ist für mich
als frauenpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion das
Entscheidende –, Chancengerechtigkeit zu schaffen. Das
beginnt schon im Kleinkindalter.

Wir sind uns alle einig: Die gläserne Decke muss
weg. Aber hierbei hat sich der Staat herauszuhalten. Hier
ist, wie gesagt, nicht der Staat, sondern hier sind die
Tarifpartner in der Pflicht.


(Caren Marks [SPD]: Wenn sich der Staat heraushalten soll, warum ist dann die FDP überhaupt im Parlament?)


Die Aufsichtsräte und Vorstände, aber auch die Gewerk-
schaften haben in den letzten Jahren nicht genügend
Frauen im mittleren Management auf Führungsaufgaben
vorbereitet. In anderen Ländern gibt es viel mehr Nach-
wuchsprogramme in den Unternehmen. Kreativität ist
vonnöten – überall. Nächstes Jahr werden viele Auf-
sichtsratsmandate und Vorstandsposten neu zu besetzen
sein. Ich bin optimistisch, dass bis dahin die Unterneh-
men nach vollmundigen Ankündigungen auch Taten fol-
gen lassen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ha! Ha!)


Die FDP-Fraktion sieht jedenfalls keinen Anlass, von
ihrer Position abzurücken. Wir lehnen eine staatliche
Einmischung als unverhältnismäßigen Eingriff in die un-
ternehmerische Freiheit der Wirtschaft ab. Wenn Ergeb-
nisgleichheit wichtiger als Rechtsfreiheit ist, dann ist das
Planwirtschaft, und das werden wir auf jeden Fall ver-
hindern.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Yvonne Ploetz [DIE LINKE]: Überzeugender Applaus bei der CDU/CSU!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719510600

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin

Renate Künast das Wort.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Jetzt kommt ein neuer Sachbeitrag der Grünen!)



Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719510700

Danke, Herr Lindner. – Herr Präsident! Meine Damen

und Herren! Es ist irgendwie schon eine ganz tolle Art
seitens der Koalition, eine solche Debatte ernst zu neh-
men. Herr Kretschmer erzählt hier über die grauen Män-
ner, die uns die Zeit stehlen. Ich sage einmal: Herr
Kretschmer, Sie im dunkelblauen Anzug haben diesem
Land drei Jahre gestohlen. Das ist noch viel schlimmer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Da stellt er sich hier hin und sagt, natürlich würden er
und die anderen ernsthaft über Quoten und über die Si-
tuation von Kindern diskutieren. Gucken Sie doch ein-





Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)


mal auf die Zettel auf Ihren Plätzen, wer in dieser Ak-
tuellen Stunde überhaupt Redezeit angemeldet hat! Drei
mögliche Redebeiträge seitens der CDU/CSU-Fraktion
sind gar nicht angemeldet; Sie nehmen 15 Minuten Re-
dezeit gar nicht wahr. Warum denn? Weil sich bei Ihnen
außer Herrn Kretschmer keiner traut, oder wie?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Oder weil Sie keine Frau finden, die sagt, ich stelle mich
hier oben hin und erkläre die unsinnige schwarz-gelbe
Politik?

Herr Kretschmer, wahr ist: Sie haben es drei Jahre
lang zerredet. Sie haben drei Jahre lang die Sorgen der
Menschen in diesem Land überhaupt nicht wahrgenom-
men, weder die Sorgen im Alltag noch die Situation in
diesem Land.

Frau Bracht-Bendt, ich habe meine Schublade aufge-
zogen und bin fast geneigt, Ihnen von der FDP das
Grundgesetz, mein Grundgesetz, zu geben, nachdem Sie
sagten, der Staat habe kein Recht, sich einzumischen. In
meinem Grundgesetz, Art. 3 – Gleichheit vor dem Ge-
setz – Abs. 2, steht:

Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichbe-
rechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hin.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Erstes Semester bei der Ausbildung von Juristinnen und
Juristen: Sie haben eine Pflicht. Daraus leitet sich eine
staatliche Pflicht ab.

Frau Reding leitet ihre Zuständigkeit aus der Zustän-
digkeit für den Arbeitsmarkt ab. So einfach ist das,
meine Damen und Herren. Sie hat festgestellt, dass quer
durch Europa Frauen und Männer am Arbeitsmarkt nicht
gleichgestellt sind.

Wir blicken auf drei Jahre ganz großes Kino zurück:
Erst kommt Frau Schröder und sagt: Flexi-Quote, so ein
bisschen, die Wirtschaft macht das schon selber. – Wir
gucken und gucken und sehen nichts. Dann kommt Frau
von der Leyen, breitet die Arme weit aus – eine typische
Handbewegung – und


(Caren Marks [SPD]: Dann kommt nichts!)


erzählt uns etwas. Früher hat sie uns erzählt: Jedes Kind
in Deutschland wird eine Chipkarte haben. Mit dieser
Chipkarte wird das Mittagessen, der Sport, der Musikun-
terricht und vieles andere bezahlt. – Fragen Sie doch ein-
mal, wer eine Chipkarte hat. Keiner hat eine Chipkarte.
Die meisten haben aber auch keinen Nachhilfeunterricht.
So machen Sie Politik. Genau so reden Sie über die
Quote. Die eine so, die andere so. Was kommt dabei he-
raus? Gar nichts kommt dabei heraus.

Die Eltern in diesem Land, die wenig Geld haben, fra-
gen sich: Wo ist die gute Ausbildung mit individueller
Förderung für mein Kind? Gerade die Eltern mit wenig

Geld fragen sich: Wird der Nachhilfeunterricht in Mathe
für mein Kind bezahlt, oder wird er in der Schule durch-
geführt? Null. Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer
fragen: Kann ich bei einem Vollzeitjob von meinem
Lohn leben? Die Antwort wäre: Mindestlohn. Sie sagen
gar nichts. Frauen fragen sich: Kann ich erwerbstätig
sein? Wo ist die Betreuung meiner Kinder möglich? Sie
sagen am Ende auch nichts dazu; denn Sie haben mit
Herrn Röttgen voran in der Föderalismuskommission
dem Bund quasi verboten, den Kommunen Geld für die
Bildung zu geben. Das alles ist das Ergebnis Ihrer Poli-
tik. Ob Frauenquote, Bildung, Mindestlohn oder Betreu-
ungsgeld: Es wird immer ein großes Theater gemacht,
aber für die Menschen kommt dabei nichts, gar nichts
heraus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb verstehe ich, dass auch den Ministerpräsi-
dentinnen und Ministerpräsidenten der CDU/CSU so
langsam die Sicherungen durchbrennen und sie sagen:
Das lassen wir nicht mehr zu. Ich verstehe, dass Frau
Merkel die Gefolgschaft von Frau Kramp-Karrenbauer
und von Herrn Haseloff versagt wird, zum Beispiel als
es um die Abstimmung über den Hamburger Antrag auf
Einführung einer Frauenquote ging.

Ich sage Ihnen noch eines ganz klar: Nicht wir Frauen
müssen begründen, warum Frauen, die gut ausgebildet
und eine Berufsqualifikation haben, in die Vorstände und
Aufsichtsräte wollen. Nein, wir leben im Jahr 2012. Vor
dem Hintergrund des genannten Grundgesetzartikels
müssen die Männer erklären, warum die Vorstände und
Aufsichtsräte ein letzter Ort reiner Männerherrlichkeit
sein sollen. Sie können es nicht begründen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


So wird ein Schuh daraus. Ich erwarte, dass sich die-
ser Bundestag damit auseinandersetzt. Wenn Sie sich
nicht trauen dürfen, helfen wir Ihnen, die Abstimmung
vom Bundesrat zu wiederholen, und zwar mit einer na-
mentlichen Abstimmung. Verzeiht mir, liebe CDU-
Frauen: Dann will ich nicht nur Tränen sehen, sondern
Hände, die hochgehen;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


denn nur dann kann man euch glauben.

Ich, meine Damen und Herren, weiß eines: Diese Re-
gierung kreist um sich selbst und kreist nicht um die Pro-
bleme der Menschen. Ich finde es richtig, dass der Bun-
desrat den Vorschlag von Frau Schavan zum Thema
Kooperationsverbot nicht mitmacht. Sie tut ja so, als
gäbe es wieder eine Kooperationsmöglichkeit bei der
Bildung. Dabei lässt die grundgesetzliche Regelung nur
den Zusammenschluss von Eliteeinrichtungen zu. Das
sind aber nicht die Probleme des Landes.

Lassen Sie mich einen letzten Gedanken zu den Be-
reichen anführen, in denen Sie am Land vorbeiregieren:
Das Betreuungsgeld wird spätestens in Karlsruhe ge-
kippt. Warten wir einmal auf die Ministerpräsidenten. Es





Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)


kann nicht sein, dass die Kommunen am Ende kein Geld
haben, um die Betreuung weiter auszubauen, Sie aber für
die Propagierung des altmodischen Gesellschaftsbildes
der 50er-Jahre Geld ausgeben. Dieses Land braucht eine
andere Regierung, und zwar eine, die nicht um sich
selbst kreist, sondern die die Alltagsprobleme der Men-
schen löst. Die wird nächstes Jahr kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719510800

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin

Dagmar Ziegler.


(Beifall bei der SPD)



Dagmar Ziegler (SPD):
Rede ID: ID1719510900

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Wer, Herr Kretschmer, Sie selbster-
nannter Hüter des Zeitmanagements, wer klaut hier ei-
gentlich wem die Zeit?

Das Versagen der Regierung Merkel hat viele Namen,
unter anderem ist da das „Betreuungsgeld“ zu nennen.
Da verwundert es natürlich nicht, wenn sich bei der
CDU/CSU nur einer traut, jetzt hier zu reden. Das Be-
treuungsgeld steht für den Komplettausfall des Politik-
managements im Bundeskanzleramt. Herr Pofalla ist
zwar ausnahmsweise hier;


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Ecki ist da! Der kann das besser!)


aber man denkt, es gäbe ihn gar nicht mehr.

Das Betreuungsgeld steht für eine Koalition, die sich
um die wichtigen Probleme im Lande nicht wirklich
schert, die keine Antwort auf den Armuts- und Reich-
tumsbericht gibt, der nichts einfällt, um die soziale Kluft
in unserem Land zu schließen. Stattdessen reibt sich die
Koalition dabei auf, so etwas Sinnvolles wie die Frauen-
quote zu verhindern, für die es eine Mehrheit gibt, und
mit Brachialgewalt das Betreuungsgeld einzuführen,
wofür aus gutem Grund die Mehrheit fehlt.

Das Betreuungsgeld steht für die schlimmste Alther-
renpolitik, bei der nur entscheidend ist, was Horst
Seehofer in Bayern für seine Stammtischhoheit zu brau-
chen glaubt, und bei der bessere Bildungschancen von
Kindern, eine bessere Integration von Kindern mit Mi-
grationshintergrund und kontinuierliche Erwerbsver-
läufe von Frauen gewissenlos geopfert werden.

Das Betreuungsgeld steht für eine realitätsblinde, ar-
rogante und bürgerfeindliche Bundesregierung, die ge-
gen den Widerstand der Menschen, gegen den Wider-
stand von Kinderverbänden, Bildungsforschern, Arbeit-
gebern und Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und
Kirchen eine Leistung durchdrücken will, die keinem
nützt, aber vielen schadet. Wer, Herr Kretschmer, klaut
hier eigentlich wem die Zeit?


(Beifall bei der SPD)


Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie ha-
ben sich mit dem Betreuungsgeld zum Gespött gemacht.
Den wievielten Anlauf haben Sie jetzt eigentlich unter-
nommen, um das Betreuungsgeld in Ihren eigenen Rei-
hen mehrheitsfähig zu machen? Es ist uns schwergefal-
len, die vielen Versuche noch nachzuvollziehen. Jetzt
sollen die Vorsorgeuntersuchungen von Kindern und die
Riester-Förderung herhalten. Das ist eine völlig sach-
fremde Verknüpfung, die nicht retten kann, was doch
nicht zu retten ist.

Sie verkündeten am vergangenen Freitag schon die
große Einigung beim Betreuungsgeld, hatten dabei aber
leider vergessen, dass Sie noch einen kleinen Koalitions-
partner fragen müssen. Nur wegen Ihres Problembären
in Bayern gibt es im Bundestag jetzt wieder Kauder-
welsch und singt die Union in Richtung FDP „Ihr
Brüderle kommet“, um ihr unsinniges Betreuungsgeld
doch noch durchzusetzen.


(Lachen des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP])


Herr Kretschmer, wer klaut hier eigentlich wem die
Zeit?


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Sie uns!)


Meine verehrten Damen und Herren von der FDP, las-
sen Sie sich nicht kaufen,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nein!)


gehen Sie keinen Kuhhandel ein! In der Causa Betreu-
ungsgeld schaut das ganze Land sehr aufmerksam zu.
Sie haben gesagt, das Betreuungsgeld sei möglicher-
weise verfassungswidrig. Sie haben gesagt, es sei nicht
zu finanzieren. Sie haben ferner gesagt, es setze falsche
Anreize. Sie haben in jedem dieser Punkte recht.

Deshalb lassen wir auch Ihnen keinen Deal in dieser
Frage durchgehen. Denn beispielsweise der Wegfall der
Praxisgebühr macht das Betreuungsgeld in keiner Weise
richtiger. Lassen Sie es sein, geben Sie das Projekt auf!
Der Schaden, den Sie verursacht haben, ist so oder so an-
gerichtet. Gesichtswahrend kommen Sie aus dieser
Nummer nicht mehr heraus.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Die Bundeskanzlerin ruft die Abweichler in Sachen
Frauenquote – eine Ministerpräsidentin und einen Minis-
terpräsidenten – zum Fahnenappell ins Bundeskanzler-
amt. Für die Gesamtheit der Ablehner des Betreuungs-
gelds wird der Platz im Kanzleramt nicht ausreichen. In
diesem Falle braucht die Bundeskanzlerin einfach nur
vor die Tür zu treten; dann steht sie sofort inmitten der
Ablehnung.

Machen Sie endlich das, was zu tun Sie ja immer vor-
gaukeln: Packen Sie es endlich an, und packen Sie den
Gesetzentwurf ein!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719511000

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Dr. Heinrich Kolb.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1719511100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn ich das Thema der Aktuellen Stunde wörtlich
nehme, kann ich mich eigentlich kurzfassen. Das Thema
lautet nämlich: unterschiedliche Auffassungen inner-
halb der CDU/CSU und FDP. Ich kann vermelden: In-
nerhalb der FDP gibt es keine unterschiedlichen Auffas-
sungen


(Lachen bei der SPD)


zu den Themen Frauenquote, Mindestlohn und Betreu-
ungsgeld, ebenso wenig zum Thema Rente,


(Thomas Oppermann [SPD]: Mal so, mal so!)


das Sie, Herr Kollege Oppermann, dankenswerterweise
mit in die Debatte eingeführt haben; ich komme nachher
gerne darauf zurück.


(Beifall bei der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Immer passgenau!)


Wenn Sie allerdings das Miteinander in der Koalition
meinen, dann muss ich Sie warnen. Sie haben versucht,
ein bisschen Endzeitstimmung zu verbreiten, so wie es
der eine oder andere Redner bereits in der Haushaltsde-
batte versucht hat.


(Mechthild Rawert [SPD]: Das brauchen wir gar nicht!)


Ich kann Ihnen nur sagen: Totgesagte leben länger. Ich
verstehe die Debatten in der Koalition eher als ein leben-
diges Miteinander.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Thomas Oppermann [SPD]: „Lebendiges Miteinander“!)


Sie werden sehen, dass wir am Ende mit guten Lösungen
aus dieser Diskussion herauskommen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Damit wäre nach einer Minute eigentlich schon alles
zu diesem Thema gesagt. Aber ich bedanke mich für die
Gelegenheit, Herr Oppermann, den Ball zurückzuspielen
und einmal auf die unterschiedlichen Auffassungen in
der SPD, zum Beispiel beim Thema Rente, einzugehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Ein lebendiges Miteinander!)


Herr Kollege Oppermann, Sie erinnern sich: In der
letzten Sitzungswoche stand hier Herr Steinmeier am
Rednerpult. Er hat der Koalition vorgeworfen, einen
Haushalt mit einem Defizit von 18 Milliarden Euro zu
präsentieren; wohlgemerkt, wir haben ihn mit 70 Mil-
liarden Euro Defizit von Ihnen übernommen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Von der CDU/CSU haben Sie ihn übernommen!)


Er sagte, wir müssten unsere Anstrengungen verstärken
und härter rangehen. Fast zeitgleich präsentierte der
SPD-Bundesvorstand ein Rentenkonzept mit Kosten von
35 Milliarden Euro, darunter 25 Milliarden Euro, die
über Steuern zu finanzieren sind, also mehr, als wir über-
haupt als Defizit für das kommende Jahr vorgesehen ha-
ben. Das ist absolut unseriöse Politik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das ist bei dieser Geschichte aber noch nicht der Gip-
fel. Jetzt geht der Kuhhandel im SPD-Bundesvorstand
erst so richtig los: Damit das Ganze mit den Vorstellun-
gen der Linken kompatibel werden kann, soll jetzt der
Zugang zur Rente für langjährig Versicherte erleichtert
werden. So kommen 6 Milliarden Euro zu den 35 Mil-
liarden Euro hinzu.


(Thomas Oppermann [SPD]: Wo ist denn Ihr Rentenkonzept?)


Die Reaktion der Linken in Richtung von Herrn Gabriel:
Das reicht uns aber nicht, was hier vorgelegt wird. –
Jetzt soll auch noch die Absenkung des Netto-Standard-
rentenniveaus vor Steuern rückgängig gemacht werden.
Damit will sich die SPD vollkommen von der Rente mit
67 verabschieden.


(Thomas Oppermann [SPD]: Aber jetzt sagen Sie mal, was denn Ihr Rentenkonzept ist!)


Da kann ich nur sagen, Herr Oppermann: Wer im Glas-
haus sitzt, muss seine Steine, seine Stones, zusammen-
halten.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das ist genau das Problem, das Sie auch in der aktuellen
Debatte haben.

Dann schauen wir uns einmal die Grünen an. Frau
Kollegin Künast, Sie haben gesagt, es habe die Ansage
gegeben, eine Bildungskarte einzuführen, aber am Ende
sei keine Bildungskarte herausgekommen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Bürokratiemonster Bildungspaket ist herausgekommen!)


Ich kann mich an die Verhandlungen, die wir dazu ge-
führt haben, noch relativ gut erinnern; denn ich war
nächtelang dabei.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich kann mich auch noch gut erinnern!)


In diesen Verhandlungen haben sich die Grünen, wo im-
mer es ging, quergelegt.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil das so ein schlechtes Konzept war! Da sind wir stolz drauf, weil es Mist war!)






Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


Als es am Schluss zum Schwur kam, sind Sie in der al-
lerletzten Verhandlungsrunde ausgestiegen und wollten
mit dem Ganzen überhaupt nichts mehr zu tun haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


So kann man das doch nicht machen, Frau Kollegin
Künast. Es ist doch Wahnsinn, wie Sie dieses Geschäft
betreiben.

Wenn Ihnen dieses Beispiel noch nicht reicht, dann
schauen wir doch einmal nach Baden-Württemberg:
Frauenquote, Parité-Gesetz, wenn Ihnen das etwas sagt.
Da haben sich die Grünen mächtig aufgebockt: Sie woll-
ten ein Gesetz vorlegen, nach dem bei der Kommunal-
wahl nur noch Listen zum Zuge kommen dürfen, auf de-
nen Männer und Frauen gleichberechtigt erscheinen.


(Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] wendet sich dem Abg. Thomas Oppermann [SPD] zu)


– Würden Sie mir bitte einmal Ihre Aufmerksamkeit
schenken, Frau Kollegin Künast? –


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich höre zu! Ich spreche mit unserem künftigen Koalitionspartner!)


Ich höre von diesem Parité-Gesetz gar nichts mehr. Viel-
leicht können Sie nachher noch kurz erklären, wann es
denn kommen wird. Nach meinen Informationen ist
auch dieses Thema abgehakt. Auch bei Ihnen also nichts
als heiße Luft.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich finde, es ist in einer Demokratie normal, dass man
in einer Regierung miteinander streitet. Es gehört zum
Meinungsbildungsprozess dazu, dass man sich über un-
terschiedliche Positionen austauscht. Aber dass es die
Opposition nicht einmal schafft, ihren internen Klä-
rungsprozess einigermaßen reibungsfrei zu gestalten,
das finde ich dann doch bemerkenswert. Insofern hat
sich die Aktuelle Stunde heute doch gelohnt. Ich be-
danke mich, Herr Oppermann, für Ihren entsprechenden
Antrag.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Herr Kolb, Sie sind ein guter Oppositionsredner! Gut, dass Sie das nicht verlernt haben!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719511200

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Hubertus

Heil das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1719511300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Lieber Herr Kolb, wir sollten uns eines nicht wech-
selseitig unterstellen – ich sage das in aller Ernsthaftig-
keit – –


(Zurufe von der FDP: Oh!)


– Hören Sie doch erst einmal zu und seien Sie nicht
gleich so nervös.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Aber wir kennen Sie!)


Herr Kolb, wir kennen uns ein bisschen und schätzen
uns durchaus persönlich, aber eines will ich Ihnen sagen:
Keiner von uns sollte die Tatsache, dass zwischen Res-
sorts, zwischen Koalitionspartnern und innerhalb demo-
kratischer Parteien diskutiert wird, für Diffamierungen
nutzen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)


– Moment! Hören Sie gut zu! – Das tut niemand; das
sollte auch niemand tun, weil dann ein falsches Bild ent-
steht. Hier geht es nicht um Kasernenhöfe, hier geht es
um demokratische Parteien. Aber eines ist auch klar:
Wer regiert, der sollte nicht nur diskutieren, sondern der
muss auch irgendwann auf den Punkt kommen!


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das möchten wir heute ansprechen: Sie kommen in die-
ser Koalition nicht auf den Punkt, Herr Kolb. Da können
Sie uns nichts vormachen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich an einem Beispiel Folgendes ver-
deutlichen: Als wir mit Rot-Grün an der Regierung wa-
ren, haben wir diskutiert, manchmal sogar heftig gestrit-
ten; das will ich gerne einräumen. Beim Thema
Energiepolitik beispielsweise war zwischen Werner
Müller und Jürgen Trittin nicht immer eitel Sonnen-
schein – gar keine Frage. Da gab es unterschiedliche
Ressortlogiken in den Bereichen Umwelt und Wirt-
schaft. Aber es gab einen Unterschied zu Ihrer Regie-
rung: Am Ende des Tages wurden Entscheidungen ge-
fällt, gerade weil man diskutiert und dann entschieden
hat. Vom damaligen Kanzleramt wurde eine koordinie-
rende Funktion wahrgenommen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gab ein Ganztagsschulprogramm und kein Betreuungsgeld!)


Das fehlt dieser Koalition: politische Führung.


(Thomas Oppermann [SPD]: So ist es! – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie machen nichts anderes als Selbstblockade und Klien-
telpolitik. Das ist der Unterschied zu unserer Arbeit,
meine Damen und Herren. In einer Demokratie müssen
Sie es sich gefallen lassen, von der Opposition darauf
angesprochen zu werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Drei Jahre lang herrschte Stillstand. Wenn es einmal
vorangegangen ist, lief das wie beim Basarhandel: Jeder
darf sich einen Keks aus der Schublade nehmen. Die
FDP hat sich die Hotelsteuer gegriffen und die CSU das
Betreuungsgeld. Das ist aber keine ordentliche Regie-





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)


rungsführung, das ist Basarhandel und nicht das, was un-
ser Land braucht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich wiederhole: Kein Mensch diskreditiert das Ringen
um gute Lösungen in Parteien, Koalitionen oder zwi-
schen Ministerien – das gehört zur Demokratie dazu –,
aber es muss Ihnen doch bewusst sein, dass Sie auch
noch nach drei Jahren um dieselben Themen und Be-
griffe kreisen und es trotzdem nicht schaffen, eine an-
ständige Gesetzgebung hinzubekommen.

Herr Kolb, Sie haben die Verhandlungen angespro-
chen, die wir nächtelang geführt haben. Dabei ging es
um drei Themen: Es ging um das Bildungspaket, es ging
um die Regelsätze, und es ging um Recht und Ordnung
auf dem Arbeitsmarkt.

Zum Thema Mindestlohn. Wir haben eine Bundes-
ministerin, nämlich Frau von der Leyen – dass ich diesen
Punkt anspreche, werden Sie sich schon gefallen lassen
müssen –, der es in der Debatte möglicherweise mehr
um den öffentlichen Effekt geht als um die Sache. Dass
dieser Begriff ständig im Mund geführt wird, ohne dass
tatsächlich Fortschritte beim gesetzlichen Mindestlohn
zu verzeichnen sind, das enttäuscht viele Menschen in
unserem Land. Dass es dazu nicht kommt, dafür tragen
Sie von CDU/CSU und FDP die Verantwortung. Ein
Jahr vor der Wahl hören Sie gänzlich auf, Politik zu ma-
chen. In der Koalition geht es Ihnen nur noch um das
Profil von FDP, CDU oder CSU. Thomas Oppermann
hat es vorhin so beschrieben: eine Zeit, die diesem Land
gestohlen wird.

Wir haben Ihnen die Regierung in einer Zeit überge-
ben, in der wir schwierige Aufgaben gelöst hatten, auch
im Streit und durch Konflikte miteinander, und wir ha-
ben einen hohen Preis dafür gezahlt. Aber am Ende sind
wir immer in der Lage gewesen, zu politischen Ergeb-
nissen zu kommen. Sie aber verweigern die politische
Arbeit, weil die einzelnen Koalitionspartner nur noch an
das Überstehen der nächsten Wahl denken, aber nicht
mehr an den Fortschritt in unserem Land.


(Zuruf von der SPD: So ist es!)


Das Thema Frauenquote ist ein Beweis dafür: Die ei-
nen reden so und die anderen reden so, und es kommt
nichts dabei heraus. Das Thema Mindestlohn ist ein wei-
terer Beweis dafür: Die einen reden so und die anderen
reden so. Auch beim Thema Betreuungsgeld gilt: Die ei-
nen reden so und die anderen reden so. – Beim letzten
Punkt ist Ihnen wirklich zu wünschen, dass dabei nichts
herauskommt. In diesem Zusammenhang wäre eine Blo-
ckade einmal eine gute Sache. Aber ob Sie den Mut ha-
ben, die Mehrheit, die es im Volk gegen diesen Unsinn
gibt, zu einer Mehrheit hier im Hause zu machen, ist zu
bezweifeln. Am Ende des Tages wird sich jeder wieder
einen Keks aus der Schublade nehmen.

Am Ende muss die Bundeskanzlerin die Verantwor-
tung dafür tragen, dass das alles nicht zusammengeführt
wurde. Ich sage Ihnen: Eine Bundeskanzlerin, die so tut,
als hätte sie mit ihrer eigenen Regierung nichts zu tun,

hat Deutschland noch nicht gesehen. Frau Merkel trägt
die Verantwortung dafür, dass unser Land drei Jahre lang
durch Führungslosigkeit gelähmt wurde. Wir werden das
nächstes Jahr ändern.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719511400

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat jetzt das Wort die Kollegin Christine Lambrecht von
der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christine Lambrecht (SPD):
Rede ID: ID1719511500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Normalerweise ist der Schluss einer Aktuellen Stunde
ein bevorzugter Rednerplatz, weil man auf die vorgetra-
genen Argumente eingehen und sich ein bisschen daran
reiben kann. Es ist ja auch Sinn einer Aktuellen Stunde,
dass nicht jeder vorgefertigte Reden hält.

Heute fällt das ein bisschen schwer, weil ich nicht so
richtig weiß, auf welche Argumente ich eingehen soll.
Von Ihnen sind heute so gut wie keine Argumente vorge-
tragen worden, weil Sie bei den einzelnen Fragen zer-
stritten sind wie die Kesselflicker. Das Ganze eskaliert
darin, Beschimpfungen auf SPD, Grüne oder Linke zu
lenken. Der Blick auf die Themen, die doch eigentlich so
wichtig sind – Herr Kretschmer, Sie haben es selbst ge-
sagt –, lässt die Zerrissenheit der Koalition deutlich wer-
den. Zu diesen Themen habe ich aber von Ihnen so gut
wie kein einziges Wort gehört.

Das eine oder andere Thema möchte ich jetzt anspre-
chen. Sie haben gesagt, Herr Kretschmer, wir müssten
über Betreuungsgeld und Frauenquote ausführlicher dis-
kutieren. Dazu hätten Sie heute die Gelegenheit gehabt.
Sie hätten drei weitere Redner ins Rennen schicken kön-
nen. Dann hätten wir einmal darüber reden können, wel-
che sachlichen Argumente gegen eine Quote sprechen.
Dann wäre schnell herausgekommen, dass es diese sach-
lichen Argumente nicht gibt. Deswegen stand ja auch
beispielsweise Frau Winkelmeier-Becker heute nicht am
Rednerpult. Sie hätte nämlich etwas ganz anderes ge-
sagt. Hier wurden keine sachlichen Argumente ange-
führt, die tatsächlich begründen, warum wir auf eine
Quote verzichten sollten.

Frau Bracht-Bendt, Sie haben gesagt, dass Sie eine
Selbstverpflichtung der Wirtschaft wollen und dass das
Ihr Kurs ist. Dazu kann ich nur sagen: Damit sind Sie elf
Jahre zu spät dran. Bereits im Jahr 2001, also vor elf Jah-
ren, gab es eine Selbstverpflichtung der Wirtschaft
– man kann beklagen, dass wir das damals so gemacht
haben –, und auch damals wurde gesagt: Führt die Quote
nicht ein, wir regeln das alleine, wir klären das, wir sor-
gen dafür, dass Frauen in entsprechende Führungsposi-
tionen kommen. – Jetzt schauen wir uns doch einmal die
Bilanz an. Wie sieht es heute aus? 85 Prozent der Auf-
sichtsräte und 97 Prozent der Vorstände sind weiterhin





Christine Lambrecht


(A) (C)



(D)(B)


Männer. Jetzt frage ich mich: Was hat diese Selbstver-
pflichtung in den letzten elf Jahren gebracht?


(Caren Marks [SPD]: Leider nichts!)


Nichts! Und darauf wollen Sie weiter setzen. Das kann
doch wohl nicht Ihr Ernst sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kolb, Sie haben gesagt, dass alle in der FDP ei-
ner Meinung sind. Sie sollten einmal Ihre Sitznachbarin
fragen. Frau Laurischk sieht das nämlich ganz anders.
Sie ist eine Unterstützerin der Berliner Erklärung. Sie
unterstützt die Forderung nach einer Quote. Sie ist nicht
irgendwer, sondern Vorsitzende eines der wichtigsten
Ausschüsse, nämlich des Ausschusses für Frauen, Fami-
lie, Jugend und Senioren.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Der heißt „Familie, Senioren, Frauen und Jugend“! So viel Präzision muss schon sein! Aber bei euch ist das nur „Gedöns“, oder?)


Vielleicht klären Sie erst einmal in Ihrer eigenen Frak-
tion, ob man tatsächlich geschlossen gegen die Quote ist.
Selbst in solchen Beiträgen wird deutlich, dass Sie total
zerstritten sind.

Ich möchte noch auf ein Argument von Frau Bracht-
Bendt eingehen. Sie hat gesagt, jetzt werde alles besser
werden, das entwickle sich alles, die Frauen sollten nur
noch ein bisschen Geduld haben. Wir müssen feststellen,
dass Frauen mindestens genauso gut ausgebildet sind
wie Männer, dass Frauen mindestens genauso gute Qua-
lifikationen mitbringen, aber dennoch – ich habe die
Zahlen genannt – 85 bzw. 97 Prozent der Führungsposi-
tionen an Männer gehen. Da stellt man sich doch die
Frage: Wird wirklich nach Qualität entschieden?

Ich zitiere den Personalvorstand der Telekom. Er hat
auf die Frage, ob die Qualität entscheidet, ziemlich frei-
mütig geantwortet – das kann man nachlesen –:

Entscheidungen fallen ebenso durch Seilschaft,
Treuebonus, Netzwerke, strategisches Platzieren
von Vertrauten und Vitamin B wie durch Qualität.

Das wollen Sie weiterhin so haben. Sie wollen akzeptie-
ren, dass Entscheidungen weiterhin so gefällt werden.
Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein.


(Beifall bei der SPD)


Deswegen kann ich sehr gut verstehen, dass den Kol-
leginnen und Kollegen, insbesondere den Kolleginnen,
im Bundesrat die Hutschnur geplatzt ist und dass sie ge-
sagt haben: Uns reicht es jetzt. Es gibt keine Sachargu-
mente gegen eine Quote, und deswegen lassen wir uns
nicht länger an die Leine nehmen. Wir lassen uns nicht
länger verpflichten, gegen ein sinnvolles Instrument zu
stimmen. – Deswegen gab es dieses Abstimmungsver-
halten. Ich bin gespannt, wie die Kolleginnen aus der
CDU/CSU-Fraktion, vielleicht auch Frau Laurischk,
sich im anstehenden Verfahren verhalten.

Frau Winkelmeier-Becker hat in einer Debatte im De-
zember letzten Jahres erklärt:

Wer glaubt, dass wir bis zum Ende dieser Legisla-
turperiode abwarten, ohne dass sich an dieser Stelle
etwas tut, der hat den Schuss nicht gehört.

Damit hat sie recht. Deswegen hätte ich mir gewünscht,
dass sie sich heute hier hingestellt und sich den Kolle-
ginnen und Kollegen aus dem Bundesrat angeschlossen
hätte.

Es wird spannend werden, zu beobachten, wie Sie mit
der Zerrissenheit in Ihren eigenen Reihen – jeder gegen
jeden – umgehen werden: die Bundesländer gegen die
Bundestagsfraktion, und innerhalb der Bundestagsfrak-
tion gibt es auch eine große Gruppe, die anderer Auffas-
sung ist. Dann haben Sie einen Koalitionspartner, der der
Meinung war, dass Sie alle auf Linie sind, wenn es um
die Quote geht. Jetzt muss er aber feststellen, Herr Kolb,
dass einige doch anders denken. Ich bin gespannt, wie
Sie mit dieser Zerrissenheit umgehen werden. Vielleicht
holen Sie ja die Keule „Fraktionsdisziplin“ heraus. Ich
bin gespannt, ob selbstbewusste Abgeordnete sich das
gefallen lassen, ob sie sich in so einer Frage an die Leine
nehmen lassen, ob sie sich einen Maulkorb verpassen
lassen und gegen ihre Überzeugung stimmen. Wir wer-
den diese Abstimmung sehr genau verfolgen.


(Beifall bei der SPD)


Herr Kretschmer, Sie haben gesagt, dass Sie Ihren
Kurs innerhalb der Koalition fortsetzen werden.


(Thomas Oppermann [SPD]: Welchen denn?)


Dazu muss ich zum Schluss sagen: Die Menschen emp-
finden so eine Ansage als Drohung. Dass Sie diesen
Zickzackkurs, diese Geisterfahrt weiter fortsetzen wol-
len, kann in diesem Land nur als Drohung empfunden
werden. Ich freue mich darauf, wenn damit endlich
Schluss ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719511600

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie
Zusatzpunkt 6 auf:

5 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Festset-
zung der Beitragssätze in der gesetzlichen

(Beitragssatzgesetz 2013)


– Drucksache 17/10743 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Rentenbeiträge nicht absenken – Spielräume
für Leistungsverbesserungen nutzen
– Drucksache 17/10779 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Haushaltsausschuss

ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Anton
Schaaf, Anette Kramme, Petra Ernstberger, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Schaffung eines Demographie-Fonds in der ge-
setzlichen Rentenversicherung zur Stabilisie-

(Demographie-Fonds-Gesetz)

– Drucksache 17/10775 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Besteht da-
rüber Einvernehmen? – Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Bundesministerin Dr. Ursula von der
Leyen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir brin-
gen heute den Entwurf des Beitragssatzgesetzes 2013
ein. Die vorgesehene Senkung der Beiträge entspricht
der Rechtslage und ist auch eine Frage von Verlässlich-
keit. In einem solchen Umlagesystem wie dem unseren,
einem System einer solidarischen Rentenfinanzierung,
muss sich die einzahlende Generation darauf verlassen
können, dass sie nur so stark belastet wird, wie es die
Renten der aktuellen Rentnergeneration tatsächlich er-
forderlich machen, und nicht darüber hinaus.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es geht um eine Entlastung um voraussichtlich
5,4 Milliarden Euro. Die Rücklage der Rentenkasse läuft
– untechnisch gesprochen – gewissermaßen über, und
zwar dank der guten Konjunktur. Die aktuelle Debatte
dreht sich aber nicht darum, sondern eher um ein struk-
turelles Problem in der Rentenversicherung, nämlich um
die Frage: Wie können wir die Gerechtigkeitslücke im
Rentensystem, die sich für Geringverdiener immer wei-
ter auftut, schließen? Gerade auch für Geringverdiener,
die jahrzehntelang Vollzeit gearbeitet und eingezahlt ha-
ben, muss die goldene Regel einer solidarischen Renten-
versicherung gelten: Leistung muss sich auch im Ren-
tensystem lohnen, sonst verliert das Rentensystem seine

Legitimation. Ich finde, auch zusätzliche Vorsorge muss
sich zum Schluss auszahlen.

Es ist gut, dass das Problem inzwischen erkannt wor-
den ist; sonst wäre die Debatte nicht so breit. Es geht um
das Problem, dass, wenn wir jetzt nichts tun, bei sinken-
dem Rentenniveau


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist das Problem! Das sinkende Rentenniveau!)


eine Situation eintritt, dass Geringverdiener nach 35, 40
oder 45 Jahren Beitragszahlungen zum Sozialamt gehen
und dort Grundsicherung beantragen müssen, statt eine
auskömmliche Rente aus dem Rentensystem zu bekom-
men.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Heben Sie das Rentenniveau an!)


Wenn es nach langem Arbeitsleben für den Lebensun-
terhalt nicht reicht, werden wir – nur so kann eine Lö-
sung aussehen – durch Steuermittel aufstocken müssen.
Die Frage ist – das ist eine Gretchenfrage –: Wo? Für die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ist es erst einmal ir-
relevant, ob die Steuermittel in die Grundsicherung ge-
hen oder in das Rentensystem. Aber für die Menschen,
die jahrzehntelang eingezahlt haben und die immer un-
abhängig von Leistungen des Staates waren, macht es ei-
nen himmelweiten Unterschied, ob sie am Ende eines
arbeitsreichen Lebens den Gang zum Sozialamt antreten
müssen und Grundsicherung bekommen oder ob sie ihre
eigene Rente aus der Rentenversicherung bekommen.
Das ist auch eine Frage von Würde und Wert von Arbeit.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da klatscht nicht einer aus den Regierungsfraktionen!)


Deshalb steht hier auch die Legitimität des Renten-
systems auf dem Prüfstand. Wenn wir nichts tun und
wenn in den kommenden Jahren Geringverdiener nach
40 oder 45 Jahren Arbeit und Beitragszahlungen zuneh-
mend in der Grundsicherung landen, dann blutet das so-
lidarische Rentensystem langsam, aber sicher von unten
aus. Deshalb finde ich, dass wir hier in einer grundsätzli-
chen Debatte und auch an einer Wegscheide sind.

Es muss einen Unterschied machen, ob man ein Le-
ben lang sozialversicherungspflichtig gearbeitet und
Pflichtbeiträge gezahlt hat und dann im Alter eine eigene
Rente aus der Rentenversicherung bekommt, oder nicht.
Es kann nicht sein, dass man dann im Alter in die Grund-
sicherung fällt wie diejenigen, die keinen Cent einge-
zahlt haben und keinen einzigen Tag gearbeitet haben.


(Elke Ferner [SPD]: Sie haben vergessen: und wenn man privat vorgesorgt hat! Sie haben ein wichtiges Kriterium unterschlagen, Frau von der Leyen!)


Das entwertet nicht nur Arbeit, sondern das entwertet
auch Leistung. Für mich gilt immer noch das Prinzip,
dass sich Lebensleistung und Arbeit auch in der Rente
auszahlen müssen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)






Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)


Jetzt zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD. Was das Prinzip der Solidarrente betrifft, haben
Sie die richtige Entscheidung getroffen, nämlich die Ent-
scheidung, nach einer Lösung im Rahmen der Renten-
versicherung zu suchen; das macht die Solidarrente ja
der Zuschussrente so ähnlich. Aber was für eine Enttäu-
schung sind die letzten 14 Tage gewesen, als Sie ange-
fangen haben, Ihr Rentenkonzept zu präzisieren! Ihnen
ist innerhalb von 14 Tagen plötzlich der Mut abhanden-
gekommen, zu Ihren eigenen Reformvorschlägen zu ste-
hen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ach! Sie haben das doch schon vor ein paar Monaten gemacht!)


Jetzt schlagen Sie vor, man solle nach 45 Versicherungs-
jahren – nicht Beitragsjahren, sondern Versicherungsjah-
ren – abschlagsfrei in Rente gehen können. Das ist die
klare Absage an „Arbeiten bis 67“. Sie machen eine
Rolle rückwärts.


(Frank Heinrich [CDU/CSU]: Ja!)


Dass Sie von Versicherungsjahren sprechen, hat zur
Folge, dass auch Zeiten des Studiums, Zeiten von
Krankheit, die Schulzeit, Zeiten der Kindererziehung
und der Pflege berücksichtigt werden. Für Akademike-
rinnen und Akademiker wie mich – ich habe acht Jahre
studiert – bedeutet dies, dass die Zeit des Studiums als
Versicherungszeit mitgezählt wird.


(Elke Ferner [SPD]: Es ist doch noch gar nicht definiert, was 45 Versicherungsjahre sind!)


Abschlagsfrei nach 45 Jahren in Rente gehen zu können,
ganz egal, wie alt man ist, bedeutet: Dann können sehr
viele frühzeitig in Rente gehen und unbegrenzt hinzuver-
dienen. Ihr System hätte zur Folge, dass man 8 bis
10 Milliarden Euro obendrauf benötigen würde. Wer
muss das zahlen?


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie nicht!)


Die junge Generation.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die ist schlauer, als Sie glauben!)


Diese Rechnung geht nicht auf.

Die Lebenserwartung unserer Generation ist in den
letzten 50 Jahren um durchschnittlich zehn Lebensjahre
gestiegen. Unsere Generation hat allerdings nur relativ
wenige Kinder bekommen. Diese Kinder werden später
unsere Renten zahlen müssen. Es kann doch nicht sein,
dass Sie mitten in dieser Zeit eine Rolle rückwärts ma-
chen und sagen: Ihr könnt früher aus dem Arbeitsleben
ausscheiden.

Ich bin dafür, dass Menschen, die körperlich am Ende
sind, aus dem Arbeitsleben ausscheiden können – für sie
müssen wir einen Übergang organisieren –,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


aber ich bin nicht dafür, dass Leute, die topfit sind, nach
45 Jahren einfach Tschüss sagen können. Das, meine
Damen und Herren, geht nicht.

Wenn man sich Ihr Rentenkonzept anschaut, dann
sieht man, dass Sie bei den Beitragsmitteln auf einen Be-
trag von bis zu 25 Milliarden Euro zusätzlich kommen,
den Sie der jungen Generation mal eben vor die Füße
werfen.


(Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Hinzu kommen Steuermittel in Höhe von 8 bis 10 Mil-
liarden Euro. Deshalb, meine Damen und Herren von der
Opposition: Wer das Rad der Reformen zurückdrehen
will, der schließt keine Gerechtigkeitslücke.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719511700

Frau von der Leyen?

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:

Stellen Sie sich dieser Lücke, ohne eine Rolle rück-
wärts zu machen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Wie sieht denn Ihr Rentenkonzept bzw. das der Koalition aus, Frau von der Leyen?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719511800

Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der

Kollegin Bulling-Schröter.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Ich wollte nur eine Frage stellen!)


– Das Unterbrechen einer Rede ist manchmal nicht so
leicht, wenn keine Pause zum Luftholen gemacht wird.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hätte sowieso nicht Ja gesagt!)


Der nächste Redner ist der Kollege Josip Juratovic
von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1719511900

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau

Ministerin! Nach Ihrem Vortrag habe ich das Gefühl, Sie
haben sich in der Tagesordnung vertan.


(Beifall bei der SPD)


Sie haben gerade zu einem völlig anderen Thema als zu
dem gesprochen, das wir laut Tagesordnung jetzt zu be-
handeln haben.


(Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Dann kommen Sie doch mal zum Thema zurück!)


In der Tagesordnung steht, dass es in dieser Debatte um
die Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen
Rentenversicherung für das Jahr 2013 geht. Aber Sie ha-





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


ben über eine Rentenreform gesprochen und einen
Rundumschlag gemacht.

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, hier
wird ja oft und gerne die schwäbische Hausfrau zitiert,
wenn es um die Haushaltspolitik geht. Für mich als
Schwaben gilt die Weisheit: Man muss in guten Zeiten
sparen, um in schlechten Zeiten etwas zu haben.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist nicht nur in Schwaben so!)


Diese Weisheit muss auch im Hinblick auf die Renten-
versicherung gelten.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Wir müssen in konjunkturell guten Zeiten etwas zurück-
legen, damit wir davon zehren können, wenn die Wirt-
schaft nicht so gut läuft, wenn viele Renten ausgezahlt
werden müssen und es weniger Beitragszahler gibt, sei
es aufgrund höherer Arbeitslosigkeit oder aufgrund des
demografischen Wandels.


(Elke Ferner [SPD]: Ja!)


Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
Sie planen das Gegenteil dessen, was die schwäbische
Hausfrau machen würde.


(Elke Ferner [SPD]: So ist es! – Bettina Hagedorn [SPD]: Ganz genau so ist es!)


Sie wollen jetzt die Ersparnisse der Rentenversicherung
ausbezahlen und die Beitragssätze später schnell und
kräftig erhöhen.


(Katja Mast [SPD]: Mit den Schwaben kennen wir uns aus!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
wenn Sie ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben, dass
Sie sich schon jetzt überlegen müssen, wie Sie den Ar-
beitnehmern und Arbeitgebern im Jahre 2020 erklären
wollen, dass die Beiträge zur Rentenversicherung ziem-
lich abrupt stark steigen werden.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Aber nur, wenn ihr regieren würdet! – Elke Ferner [SPD]: Nach mir die Sintflut!)


– Möglicherweise werdet ihr nicht regieren.


(Elke Ferner [SPD]: „Möglicherweise“? Ganz sicher nicht!)


Wir Sozialdemokraten wollen dagegen einen stabilen
Beitragssatz von 19,6 Prozent, der bis 2025 gesichert ist.
Wir wollen kein Hickhack wie die Bundesregierung, die
die Beiträge jetzt wahrscheinlich aus wahltaktischen
Gründen senken will, um sie später massiv zu erhöhen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Später, wenn wir weiter regieren!)


In unserem SPD-Gesetzentwurf wird zudem das Sparen
erlaubt, indem die Regelung aufgehoben wird, dass die
Rentenversicherung maximal bis zum Eineinhalbfachen
ihrer monatlichen Ausgaben ansparen darf.

Die schwäbische Logik, dass man in guten Zeiten
spart, wird auch von den allermeisten Menschen in unse-
rem Land geteilt.


(Beifall bei der SPD)


Knapp 80 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger sind da-
für, jetzt bei der Rentenversicherung Geld zu belassen,
anstatt später mit einem hohen Anstieg der Beiträge kon-
frontiert zu werden. Ich freue mich, dass auch einige
junge CDU-Abgeordnete dies so sehen.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)


Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
man muss keine Politik nach Umfrageergebnissen ma-
chen, aber wenn eine derart breite Mehrheit gegen die ei-
genen Pläne ist, dann sollte man schon noch einmal da-
rüber nachdenken, ob die Menschen in unserem Land
nicht vernünftiger sind, als es ihnen einige hier zutrauen.


(Beifall bei der SPD – Elke Ferner [SPD]: Nachdenken wäre bei denen auch mal was Neues!)


Herr Kolb, Sie sagen öffentlich: Die Rentenversiche-
rung ist keine Sparkasse, deswegen muss das überschüs-
sige Geld ausbezahlt werden.


(Elke Ferner [SPD]: Was ist mit dem Gesundheitsfonds?)


Gleichzeitig nutzt Ihre Regierung die Rentenversiche-
rung im aktuellen Haushalt aber als Sparkasse, und zwar
zum Abheben.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)


Mit dem sogenannten Konsolidierungsbeitrag und dem
Vorwegabzug bedient sich die Bundesregierung munter
mit über 2 Milliarden Euro jährlich aus der Rentenkasse.


(Beifall bei der SPD – Katja Mast [SPD]: Skandal!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
wenn Sie sagen, dass Sie der Rentenversicherung das
Ansparen von Geld verbieten, weil sie keine Sparkasse
sei, dann dürfen Sie die Rentenversicherung auch nicht
als Sparkasse zum Abheben benutzen.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das sagen Sie mal Ihrem früheren Minister!)


Sie kennen mich hier im Plenum des Bundestages als
einen Verfechter von guten Löhnen für gute Arbeit. Das
ist eines der wichtigsten Elemente, um Altersarmut in
Zukunft zu vermeiden. Nur wer einen guten Lohn hat,
bekommt später auch eine gute Rente.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!)


Frau von der Leyen, ich wäre Ihnen dankbar, wenn
Sie sich endlich auch einmal dafür einsetzen würden,
dass wir einen flächendeckenden Mindestlohn bekom-
men,


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


und Sie nicht immer nur von Armut reden und nicht im-
mer nur die Menschen bemitleiden und der Welt erklären
würden, wie schlimm es mit den Armen aussieht. Man
muss auch etwas dagegen tun.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
lesen Sie unseren Gesetzentwurf sorgfältig, und handeln
Sie mit uns Sozialdemokraten und damit mit 80 Prozent
unserer Gesellschaft, die vernünftigerweise dagegen
sind, den Beitragssatz zu senken.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719512000

Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege

Dr. Heinrich Kolb.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1719512100

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Juratovic,

um mit Ihrer Bemerkung zur Sparkasse anzufangen: Ja,
die Nachhaltigkeitsrücklage hat in der Tat eine Liquidi-
tätsausgleichsfunktion. Das hat man an dem früheren
Namen „Schwankungsreserve“ noch deutlicher erkennen
können, aber auch bei der Nachhaltigkeitsrücklage geht
es schlicht und einfach darum, unterjährige Schwankun-
gen der Liquidität der Rentenversicherung,


(Elke Ferner [SPD]: Warum sitzt denn dann der Herr Bahr auf dem Geld im Gesundheitsfonds?)


aber auch kurzfristigere Schwankungen der Liquidität
im Konjunkturzyklus auszugleichen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)


Ich will zunächst einmal sehr deutlich darauf hinwei-
sen, dass das auch nach der von uns beabsichtigten Bei-
tragssenkung so sein wird.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil Sie keine Leistungsverbesserungen vornehmen!)


Am Ende des Jahres 2013 wird die Nachhaltigkeitsrück-
lage trotz Beitragssenkung 28 Milliarden Euro betragen
und damit den höchsten Stand in der jüngeren Ge-
schichte der Rentenversicherung haben. Das heißt, hier
sind ausreichend Mittel und Reserven vorhanden, um
auch künftig solche Ausgleiche darstellen zu können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie schicken die Jungen durch das spätere Rentenniveau in die Armut!)


Der Gesetzgeber hat 1992 Bandbreiten festgelegt, die
immer wieder einmal variiert wurden. Auch die SPD-
Fraktion hat hieran zu ihrer Regierungszeit kräftig mit-
gewirkt. Aber es bestand immer Konsens darüber, dass
es erstens darum geht – ich könnte Ihnen dazu Zitate lie-
fern, ich habe sie dabei –, mit möglichst niedrigen Ren-

tenbeiträgen dämpfend auf die Lohnnebenkosten einzu-
wirken. Das hat hier Herr Riester betont. Das hat Frau
Mascher, als sie noch Staatssekretärin war, in diesem
Hause erklärt.


(Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD])


– Ich weiß, Frau Kollegin Ferner, das spielt für die SPD
keine entscheidende Rolle mehr.


(Elke Ferner [SPD]: Man kann auch klüger werden!)


Für uns ist das zweitens weiterhin ein Argument, weil
es darum geht, in einer globalen Wirtschaft wettbe-
werbsfähig zu sein und dafür zu sorgen, dass in Deutsch-
land ein möglichst hohes Maß an Beschäftigung erhalten
wird. Dann spielen auch solche Fragen eine Rolle.

Es geht hier drittens schlicht und einfach um die Ent-
lastung der Beitragszahler in einer Größenordnung von
6 Milliarden Euro.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie viel macht das denn im Durchschnitt aus?)


Das ist deren Geld. Es muss den Beitragszahlerinnen
und Beitragszahlern, den Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern und den Unternehmen auch zurückgegeben
werden, weil sie es in die Kasse eingebracht haben.
Wenn es derzeit nicht gebraucht wird, dann ist es gut in-
vestiertes Geld.

Ich will Ihnen das einmal vor Augen führen. Wenn
wir zu der Entlastung von 6 Milliarden Euro das Entlas-
tungsvolumen von 6,5 Milliarden Euro durch die Besei-
tigung der kalten Progression hinzufügen, was Sie der-
zeit im Vermittlungsausschuss blockieren, dann ist das
ein recht schönes, ansehnliches Konjunktur- und Wachs-
tumspaket von 12,5 Milliarden Euro, mit dem man ge-
rade in der jetzigen Situation, in der wir nicht so recht
wissen, wie es mit der Konjunktur weitergeht, einen
nachhaltigen Effekt erzielen könnte.

Sie wollen das nicht. Sie marginalisieren das. Sie sa-
gen: Das sind vielleicht 3,50 Euro oder 4 Euro pro Bei-
tragszahler. Für einen Durchschnittsverdiener, einen Ar-
beitnehmer, ist das immerhin eine Entlastung von
100 Euro.


(Anette Kramme [SPD]: Im Monat?)


– Nein, im Jahr. – Sie sagen vielleicht: Das ist wenig.
Für die betroffenen Menschen ist das aber wirklich Geld.
Ich glaube, sie sind dankbar, wenn sie es zurückbekom-
men.

Aber es ist längst nicht nur das – das vergessen Sie
nämlich in der Debatte immer –: Es werden noch andere
entlastet.


(Anette Kramme [SPD]: Glauben Sie das, was Sie sagen?)


Durch den abgesenkten Beitrag werden zum Beispiel die
Länder und Kommunen entlastet, in denen nicht nur Be-
amte, sondern auch Angestellte tätig sind, für die Ren-
tenbeiträge entrichtet werden müssen. Von der Absen-
kung des Rentenbeitrags profitieren am Ende auch die





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


Rentner, die im folgenden Jahr eine um 0,8 Prozent-
punkte höhere Rentenanpassung bekommen werden,
weil wir zum 1. Januar 2013 den Rentenbeitrag senken.

Diese Mechanismen in der Rentenversicherung sind
nicht immer für jeden durchschaubar. Aber das ist ein
Argument. Ich glaube, die Rentnerinnen und Rentner in
diesem Lande werden uns sehr dankbar dafür sein, dass
wir durch die Ausnutzung von Spielräumen positiv auf
ihre Renten einwirken.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Anette Kramme [SPD]: Alle Probleme in die Zukunft verschieben, nicht wahr?)


Schließlich komme ich auf Ihre Idee zu sprechen:
Man möge doch auf die Beitragssenkung verzichten und
das Geld ansammeln, dann sei genug da, um das Renten-
niveau bis 2030 zu stabilisieren. Die Wahrheit, die da-
hintersteckt, ist folgende: Wer das wirklich will, der
muss den Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenformel ab-
schaffen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sehr gute Idee!)


Da warne ich aber Neugierige. Herr Kollege Juratovic,
Sie erinnern sich noch: Die SPD war schon einmal auf ei-
nem solchen Trip. Die Koalition Kohl/Kinkel hatte einen
demografischen Faktor eingeführt. Schröder hat damit
Wahlkampf gemacht, dass er ihn beseitigen werde. Fünf
Jahre nach seiner ersten Wahl hat er in diesem Haus, an
diesem Podium einräumen müssen: Es war ein Fehler ge-
wesen, dass wir diesen demografischen Faktor abge-
schafft haben. Er hat den Nachhaltigkeitsfaktor – er sollte
mit einem anderen Namen ein bisschen besser aussehen,
ist aber wirkungsgleich – wieder eingeführt.

Nur wenn Sie diesen Nachhaltigkeitsfaktor abschaf-
fen, können Sie die Absenkung des Rentenniveaus ver-
hindern, die im Übrigen nicht im Gesetz steht. Auch da
denken Sie falsch, an dieser Stelle liegen Sie nicht rich-
tig. Es steht nicht im SGB VI: Das Rentenniveau wird
auf 43 Prozent abgesenkt. – Dort ist nur von einer Über-
wachungsmarke die Rede. Sollte das Niveau in diese
Größenordnung absinken, muss der Gesetzgeber tätig
werden. Aber die Entwicklung ist durchaus differenziert
zu sehen. Im letzten Jahr hat der Nachhaltigkeitsfaktor
sogar rentensteigernd gewirkt.


(Anette Kramme [SPD]: Herr Kolb, wie gehen Sie mit den Zahlen der Ministerin um?)


Das ist also kein Automatismus. Wir sind derzeit deut-
lich besser unterwegs, als man es vermuten konnte. Das
Rentenniveau wird nach allem, was wir wissen, auch im
Jahr 2025 noch deutlich über 46 Prozent liegen. Das ist
auch ein Erfolg der guten Beschäftigungspolitik dieser
Bundesregierung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Wenn Sie jetzt wissen wollen: „Was kann man tun?“,
dann empfehle ich Ihnen den Kommentar von Peter
Thelen in der heutigen Ausgabe im Handelsblatt. Er

sagt: Es geht jetzt darum, die Erwerbstätigenquote mög-
lichst hoch zu halten. Es war richtig, das Renteneintritts-
alter auf 67 Jahre zu erhöhen. Er schreibt, wir sollten
versuchen, mehr Teilzeitbeschäftigung in Vollzeitbe-
schäftigung umzuwandeln, weil das – das ist im SGB VI
geregelt und kompliziert – zu mehr Äquivalenzrentnern
und Äquivalenzbeitragszahlern führt, also über den
Nachhaltigkeitsfaktor positiv auf das Rentenniveau
wirkt. Er schreibt, der Effekt wäre auch dann positiv,
wenn es uns gelingt, mehr über 60-Jährige als bisher in
Beschäftigung zu halten. Dafür werben wir seit Jahren
mit flexiblen Übergängen vom Erwerbsleben in den Ru-
hestand.

Schädlich, schreibt er, wären Mindestlöhne. Denn
diese würden wahrscheinlich dazu führen, dass in
Deutschland viele Arbeitsplätze von Beschäftigten verlo-
ren gingen,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und die Erde ist eine Scheibe!)


die heute mit in unsere Sozialkassen einzahlen.

Deswegen: Sie sollten von Ihren Plänen Abstand neh-
men. Das Fairste und Gerechteste wäre es, den Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern jetzt das zurückzuge-
ben, was ihnen zusteht, nämlich das, was zu viel an
Beiträgen in der Rentenkasse vorhanden ist.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719512200

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-

lege Matthias Birkwald.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719512300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Frau Bundesministerin von der Leyen hat gesagt:
„Wir müssen heute handeln, damit uns diese Welle der
Altersarmut nicht eines Tages überrollt.“ Sie hat völlig
recht.

Doch was tut sie? Ihre Zuschussrente gleicht dem
Versuch, eine Flutwelle mit Regenschirmen bekämpfen
zu wollen. Aber die Mehrheit von CDU/CSU und FDP
gönnt den Menschen nicht einmal die Regenschirme.
Das ist bitter, und das ist schäbig. Doch das ist Schwarz-
Gelb, und genau das muss sich ändern.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU/CSU und
FDP wollen nichts Wirksames gegen die Rentenarmut
tun. Das ist schlimm genug. Aber schlimmer noch:
Union und Liberale sind dabei, mit der Beitragssatzsen-
kung weiter Öl ins Feuer zu gießen. Das ist ungeheuer-
lich.

Alle drei Vizekanzlerkandidaten der SPD spielen die-
ses böse Spiel auch noch mit, wenn sie an der Absen-
kung des Rentenniveaus weiterhin festhalten wollen.





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)



(Elke Ferner [SPD]: Da haben Sie etwas missverstanden, Herr Birkwald!)


Das müssen alle wissen, wenn wir heute auch über den
Gesetzentwurf der SPD reden. Denn dieser Gesetzent-
wurf sieht keine Leistungsverbesserungen vor, weder für
die heutigen Rentnerinnen und Rentner noch für die zu-
künftigen.

Ich sagen Ihnen: Wir brauchen keinen Demografie-
fonds. Wir brauchen einen Rentenarmutsverhinderungs-
fonds, um es mal auf Von-der-Leyisch zu sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union, FDP und
SPD, Sie wollen über Rentenarmut reden – gut. Aber
eine zentrale Ursache dafür wollen Sie unangetastet las-
sen, nämlich das Rentenniveau. Es soll weiter bis zum
Jahr 2030 beständig sinken, und zwar – ich formuliere
korrekt, Herr Kollege Kolb – im schlimmsten Fall von
heute knapp 50 Prozent auf magere 45 oder sogar nur
43 Prozent. Wenn sich daran nichts ändert, werden in
Zukunft Millionen von fleißigen Menschen, Frau Minis-
terin, mit Armutsrenten in der Altersarmut landen.

Darum sagen wir Linken Ihnen: Das Rentenniveau
muss wieder angehoben werden, und zwar so, dass der
Lebensstandard wieder gesichert wird,


(Beifall bei der LINKEN)


und so, wie es vor dem Rentenkahlschlag von SPD und
Grünen gewesen war. Das Mindeste ist, das Rentenni-
veau jetzt nicht weiter zu senken. Darum dürfen auch die
Rentenversicherungsbeiträge nicht weiter gesenkt wer-
den.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, der Deutsche Gewerk-
schaftsbund hat recht. Das Vorstandsmitglied Annelie
Buntenbach hat gestern gesagt: „Wer den Rentenbeitrag
senkt, erhöht das Altersarmutsrisiko der jungen Genera-
tionen.“ So ist es. Darum ist es kein Wunder, dass
86 Prozent der 18- bis 29-Jährigen dafür sind, Frau
Ministerin, die Beiträge jetzt nicht zu senken. Das ist der
größte Wert in der gesamten Bevölkerung. Das ist auch
verständlich. Denn wer 2 000 Euro brutto im Monat ver-
dient, würde für den Rentenbeitrag nur 6 Euro weniger
zahlen. Für Beschäftigte mit Durchschnittsverdienst wä-
ren es gerade einmal 8 Euro.

Was aber sind 8 Euro weniger im Vergleich zu den
drastischen Rentenkürzungen, die mit dem sinkenden
Rentenniveau zu erwarten sind? Was ist, Herr
Straubinger, noch nicht einmal eine Maß Bier auf dem
Oktoberfest im Vergleich zu den drastischen Kürzungen
durch die Rente erst ab 67?


(Beifall bei der LINKEN)


Die jungen Beschäftigten haben das verstanden, und ge-
nau deshalb dürfen die Beiträge im Interesse der jungen
Generation, Frau Ministerin, nicht abgesenkt werden.

Wenn Union und FDP heute die Beiträge senken wol-
len, dann müssen sie auch sagen, dass den heute jungen
Beschäftigten morgen, im Rentenalter, die Rechnung da-

für präsentiert wird. Die Rechnung wird für die jungen
Beschäftigten heute heißen: niedrige Renten und mas-
senhaft Armutsrenten. Das darf nicht sein. Ihnen das zu
sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU,
CSU und FDP, dazu sind Sie aber leider zu feige.

Wir brauchen wirklich jeden Cent, um Altersarmut zu
vermeiden. Dazu gehört: Die Rente erst ab 67 abschaf-
fen! Dazu gehört auch, die ungerechten Abschläge für
Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen – oder
weil sie schlicht nicht mehr arbeiten können – vorzeitig
in die Erwerbsminderungsrente gehen müssen, abzu-
schaffen. Dazu gehört, endlich die Rehaleistungen nach
dem tatsächlichen Bedarf und nicht nach der Kassenlage
zu finanzieren.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Steffen-Claudio Lemme [SPD])


Meine Damen und Herren, Sie sehen: Eine andere,
eine bessere Rentenpolitik ist nötig, und sie ist machbar.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719512400

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der

Kollege Wolfgang Strengmann-Kuhn.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, wir haben im Moment ja eine ganze
Reihe von Baustellen in der Rentenversicherung: Dabei
geht es um die Altersarmut und die soeben zu Recht an-
gesprochene Erwerbsminderungsrente. Wir müssen et-
was beim Rehadeckel ändern, und die bessere Absiche-
rung von Selbstständigen sowie die Angleichung der
Renten in Ost und West müssten eigentlich angegangen
werden. Die Liste ließe sich noch weiter verlängern.

In so einer Situation sind zwei Dinge wichtig: Ers-
tens. Man muss all diese Projekte zusammendenken.
Zweitens. Man muss langfristig herangehen. Denn die
Rente braucht vor allen Dingen eines: Verlässlichkeit.

In beiden Punkten versagt diese Bundesregierung,
insbesondere die Ministerin, weil die einzelnen Aspekte
nicht zusammengedacht werden. Es wird alle paar Wo-
chen wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Ges-
tern war es die Riester-Rente, vor ein paar Wochen war
es die Altersarmut und vor ein paar Monaten waren es
die Selbstständigen, die sich zu Recht dagegen gewehrt
haben, was ihnen in diesem Zusammenhang vorgeschla-
gen worden ist. Man muss die Dinge wirklich zusam-
mendenken.


(Elke Ferner [SPD]: Denken muss man erst mal! Das schaffen die ja noch nicht mal!)


Das geschieht aber nicht.

Außerdem muss man langfristig denken. Damit bin
ich bei dem Beitragssatz. Es hat bisher noch niemand
deutlich gesagt, dass die jetzige Beitragssatzsenkung in





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)


bereits wenigen Jahren eine um so stärkere Beitragssatz-
steigerung bedeutet.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Nein!)


Das kann man den Berechnungen der Bundesregierung
entnehmen und im letzten Rentenversicherungsbericht
nachlesen, Herr Straubinger. Spätestens 2019 soll der
Beitragssatz wieder stärker ansteigen. Das ist auch lo-
gisch; denn wir brauchen aufgrund der demografischen
Entwicklung in der Zukunft ja einen höheren Beitrag.
Wenn wir jetzt weiter heruntergehen, muss der Beitrags-
satz später umso stärker ansteigen. Auch von daher wäre
es das Beste, eine möglichst konstante Beitragssatzent-
wicklung zu haben. Das ist insbesondere für die Wirt-
schaft, die Ökonomie, aber auch für die betroffenen Bür-
gerinnen und Bürger besser, weil sie sich darauf verlassen
können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Also, das Ganze ist Stückwerk und sehr kurzfristig
gedacht. Das ist vielleicht verständlich; denn die Regie-
rung plant nur noch bis September nächsten Jahres, weil
es dann eine neue Regierung geben soll.

Jetzt, da so viel grundsätzlich über die Rente disku-
tiert wird, wäre der richtige Zeitpunkt, über diesen An-
passungsmechanismus nachzudenken. Wir haben jetzt
sinkende Renten und sinkende Beitragssätze, und das
kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

In der Haushaltsdebatte gab es zum Beispiel einen
Vorschlag des Kollegen Karl Schiewerling aus Ihrer
Fraktion, über den man nachdenken könnte, nämlich die
Nachhaltigkeitsrücklage auf drei Monatsausgaben zu er-
höhen. Es ist wichtig, die Dinge einmal zusammenzu-
denken und zu schauen: Was brauchen wir, wie soll es fi-
nanziert werden, und wie bekommen wir das mit
stabilen Beitragssätzen hin?

Ich möchte zum Schluss noch auf das Rentenniveau
eingehen. Dazu hatte Herr Kolb tatsächlich etwas Richti-
ges gesagt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Der sagt immer was Richtiges!)


Er hat gesagt, die Senkung des Rentenniveaus stehe in
keinem Gesetz und sei auch von niemandem – auch
nicht von Rot-Grün – beschlossen worden. Wir haben
damals vielmehr gesagt, dass wir die Rente umstellen
und eine konstante Beitragssatzentwicklung wollen. Das
ist eine sehr vernünftige Sache. Das Rentenniveau ent-
wickelt sich dann nach der Rentenformel.

In der Rentenformel gibt es zwei wesentliche Punkte,
nach denen sich das Rentenniveau bestimmt.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die wirtschaftliche Entwicklung!)


Der erste ist die Lohnhöhe, und der zweite sind die Men-
schen, die in die Rentenversicherung einzahlen. Bei bei-
den Punkten gibt es noch sehr viel Luft nach oben.

Punkt eins. Wir brauchen bessere Löhne. Wir brauchen
einen Mindestlohn, branchenspezifische Mindestlöhne

und eine stärkere Tarifbindung. Insgesamt brauchen wir
höhere Löhne. Allein dadurch würde das Rentenniveau
steigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Punkt zwei. Auch bei den sozialversicherungspflich-
tig Beschäftigten ist noch Luft nach oben, und zwar
deutlich. Es wird gerühmt, dass wir zurzeit mit ungefähr
29 Millionen relativ hoch liegen. Aber es gibt insgesamt
40 Millionen Erwerbstätige. Die Lücke zwischen der
Zahl der Erwerbstätigen und der Zahl der sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigten war selten so groß wie
heute. Das heißt, wir müssen dazu kommen, dass dieje-
nigen, die erwerbstätig sind und nicht in die Rentenver-
sicherung einzahlen, wieder rentenversicherungspflich-
tig werden.

Auch das ist eine Möglichkeit, um langfristig das
Rentenniveau zu erhöhen, und zwar bei einer stabilen
Beitragsentwicklung. Aber dafür muss man nachhaltig
agieren und die Dinge zusammendenken.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Elke Ferner [SPD]: Man muss überhaupt denken! Das können die ja nicht!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719512500

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Max Straubinger.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1719512600

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Strengmann-Kuhn, die Lücke zwischen der
Zahl der möglichen Erwerbstätigen – das sind 50 Millio-
nen – und den tatsächlich Erwerbstätigen – das sind
41 Millionen – war noch nie so klein. Früher war das an-
ders. Als noch Rot-Grün regiert hat, gab es nur 26 Mil-
lionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Nun
sind es 29 Millionen. Das ist der große Erfolg der Bun-
desregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieser Erfolg spiegelt sich auch in der Rentenversiche-
rung wider.

Die Koalition steht für Verlässlichkeit in der Renten-
politik. Unter Rot-Grün wurde die Nachhaltigkeitsrück-
lage auf 1,5 Monatsausgaben festgesetzt. Möglicher-
weise hat damals niemand von Rot-Grün daran gedacht,
dass diese Rücklage jemals erreicht werden wird.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das ist nämlich der Punkt!)


Nun haben wir es erreicht. Das führt automatisch dazu,
dass wir die Rentenversicherungsbeiträge zu senken
haben. Das tun wir auch. Unser Ansinnen ist nicht wahl-
kampftaktisch geprägt. Vielmehr kommen wir dem ge-
setzlichen Auftrag nach, die Rentenversicherungsbei-
träge zu senken. Dies ist im Sinne der Arbeitnehmerinnen





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


und Arbeitnehmer, der Betriebe in unserem Land sowie
der Rentnerinnen und Rentner. Aufgrund der Nettolohn-
bezogenheit werden höhere Rentenanwartschaften im
nächsten Jahr erworben. Dies ist die positive Botschaft,
die aus unserer Rentengesetzgebung resultiert.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719512700

Herr Straubinger, erlauben Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Birkwald von der Fraktion Die Linke?


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1719512800

Ja, gerne.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719512900

Vielen Dank, Herr Präsident, und vielen Dank, Herr

Straubinger, dass Sie meine beiden Zwischenfragen zu-
lassen. – Die erste Frage lautet: Sie haben eben gesagt,
es sei gesetzlich festgelegt, dass die Nachhaltigkeits-
rücklage ab einer bestimmten Größenordnung gesenkt
werden müsse. Stimmen Sie mir zu, dass wir als Gesetz-
geber das Gesetz ändern könnten?

Meine zweite Frage lautet: Sie stellen das alles so dar,
als ob Einigkeit in der Union herrschte. Mir liegt ein An-
trag vor, der vom Saarland – dessen Ministerpräsidentin
ist Ihre CDU-Kollegin mit dem schönen, langen Namen
Kramp-Karrenbauer – im Ausschuss für Arbeit und So-
zialpolitik des Bundesrates eingebracht wurde. Sie hat
etwas sehr Vernünftiges eingebracht. Ich zitiere:

Der Bundesrat lehnt die sich aus der aktuellen Ge-
setzeslage voraussichtlich ergebende Senkung des
Beitragssatzes für die gesetzlichen Rentenversiche-
rung ab. Der Bundesrat fordert die Bundesregie-
rung stattdessen auf, dafür Sorge zu tragen, dass in
der gesetzlichen Rentenversicherung mit dem Aus-
bau der Nachhaltigkeitsrücklage zu einer Genera-
tionen-Reserve zügig begonnen wird.

Thüringen und Sachsen-Anhalt finden das auch gut.
Was sagen Sie denn dazu?


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1719513000

Zu Ihrer ersten Frage. Natürlich könnten wir als Ge-

setzgeber das ändern. Aber wir wollen das nicht ändern,


(Zurufe von der SPD und der LINKEN: Aha!)


weil es im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer, der Betriebe sowie der Rentnerinnen und Rentner
ist, wenn der Beitragssatz zum 1. Januar nächsten Jahres
auf 19 Prozent abgesenkt wird. Dann haben die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Geld in der Ta-
sche. Sie werden bei den Beiträgen entlastet. Ich bin
schon verwundert: Die SPD und vor allen Dingen die
Linken sagen immer, die Kaufkraft der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer müsse gestärkt werden. Wir stär-
ken die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer. Aber Sie stellen sich dagegen. Das verstehe ich
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir machen das auch generationengerecht. Das Ren-
tenniveau hängt von der Beschäftigungslage ab. Das Be-
schäftigungsniveau ist zurzeit sehr hoch. Ich bin zuver-
sichtlich, dass wir es auch in Zukunft hoch halten bzw.
sogar ausbauen werden, insbesondere wenn Union und
FDP weiterhin gemeinsam regieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Das wird nicht mehr lange der Fall sein!)


Frau Ferner, da täuschen Sie sich gewaltig.

Zu Ihrer zweiten Frage. Sicherlich gibt es auch Stim-
men in der Union, die für eine höhere Nachhaltigkeits-
rücklage sind. Ich frage mich aber, ob das auch gut ange-
legtes Geld ist. Die gesetzliche Rentenversicherung
verfügt derzeit über eine Rücklage von 28 Milliarden
Euro. Die Anlagemöglichkeiten für die Rentenversiche-
rung sind bekanntermaßen sehr begrenzt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann machen Sie Leistungsverbesserungen!)


Sie beschränken sich auf den Kauf von Staatsanleihen
Deutschlands – das ist in Ordnung und richtig so – und
vielleicht noch anderer Länder, die auch als sicher gel-
ten. Diese erwirtschaften aber in der Regel einen Ertrag,
der so gering ist, dass er durch die Inflation wieder auf-
gezehrt wird und somit eine negative Rendite erwirt-
schaftet wird.


(Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] nimmt wieder Platz)


– Herr Birkwald, bleiben Sie stehen. Sie haben mich ge-
fragt, und so viel Anstand müssen Sie schon aufbringen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das bedeutet: Wenn wir die Nachhaltigkeitsrücklage
noch erhöhen würden,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das hat jetzt aber nichts mit meiner Frage zu tun!)


was Sie in Ihrem Antrag fordern und was auch im Ge-
setzentwurf der SPD beabsichtigt ist, würden die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer Verluste erleiden. Das
können wir diesen nicht zumuten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit unserem Gesetzentwurf schaffen wir die gesetzli-
che Grundlage. Ich bin überzeugt – das habe ich schon
zum Ausdruck gebracht –, dass damit letztendlich den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Betrieben
und den Rentnerinnen und Rentnern gedient ist. Ange-
sichts der Tatsache, dass die konjunkturellen Aussichten
nicht mehr ganz so positiv sind wie in der Vergangen-
heit, setzen wir mit unserer Maßnahme einen konjunktu-
rellen Impuls. Kollege Kolb hat darauf hingewiesen: Es
handelt sich um eine Entlastung von knapp 6 Milliarden
Euro für die Betriebe bzw. die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Sie blockieren zusätzlich im Bundesrat
eine steuerliche Entlastung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer durch die Abschaffung bzw. Abflachung
der kalten Progression. Insgesamt wäre das eine Entlas-
tung von 12 Milliarden Euro. Dies würde wirtschafts-





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


politisch einen kräftigen Impuls darstellen und für mehr
Arbeitsplätze und damit mehr Beitragszahlerinnen und
Beitragszahler in unserem Land sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb sollten Sie von der Opposition sich diesem An-
sinnen der Bundesregierung nicht entziehen. Im Gegen-
teil, Sie sollten den Gesetzentwurf der Bundesregierung
unterstützen. Das wäre meines Erachtens die bessere
Position.

Die SPD hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der
zum Ziel hat, die Begrenzung der Nachhaltigkeitsrück-
lage auf 1,5 Monatsrenten abzuschaffen und von jegli-
cher Begrenzung abzusehen. Sie von der SPD bleiben
natürlich die Antwort schuldig, wie hoch eine Nachhal-
tigkeitsrücklage überhaupt sein soll. Möglicherweise ist
das gar nicht vorgesehen, weil Ihr Rentenkonzept darauf
abzielt – die Kollegen haben schon darauf hingewie-
sen –, die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler stän-
dig zu belasten, damit Sie die Rente mit 67 wieder rück-
gängig machen können – die Frau Bundesministerin hat
darauf hingewiesen –


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gute Idee!)


und um andere rentenpolitische Entscheidungen, die not-
wendig waren, um eine dauerhafte Beitragssatzstabilität
in der gesetzlichen Rentenversicherung in Zukunft zu er-
reichen, zu revidieren.

Möglicherweise wollen Sie weitere Ausgaben damit
finanzieren. Das ist das einzige Ansinnen der SPD – Herr
Kollege Juratovic, Sie schütteln mit dem Kopf –, das in
dem Gesetzentwurf, der in den Deutschen Bundestag ein-
gebracht worden ist, zum Ausdruck kommt. Sie wollen
letztendlich Finanzmittel bei den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern abkassieren, um sich eigene Wünsche zu
erfüllen und sich den Gewerkschaften wieder anzunä-
hern. Das ist das Ansinnen Ihres Gesetzentwurfes und Ih-
rer Politik.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719513100

Herr Straubinger, der Kollege Ernst würde Ihnen auch

gern die Gelegenheit geben, auf eine Zwischenfrage zu
antworten.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1719513200

Dem bin ich so in Herzlichkeit verbunden, da kann

ich nicht ablehnen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719513300

Bitte schön, Herr Ernst.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719513400

Herr Straubinger, danke. – Würden Sie mir zustim-

men, dass die Gelder, die jetzt in der Rentenkasse sind,
den Rentnern dann zugutekommen, wenn sie in irgend-
einer Form ausgezahlt werden? Würden Sie mir auch zu-
stimmen, dass, wenn man dieses Geld jetzt durch eine
Beitragssenkung verbrät, dies den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, die irgendwann Rentnerin und

Rentner werden, nur zur Hälfte zugutekommt, weil die
andere Hälfte ja den Arbeitgebern zugutekommt? Wür-
den Sie unter dieser Bedingung tatsächlich den Satz auf-
rechterhalten, dass das Ansinnen der SPD, die Renten-
beiträge jetzt nicht zu kürzen, ein Griff in die Tasche der
Menschen ist, die diese Beiträge erwirtschaftet haben,
also die abhängig Beschäftigten? Ist es nicht vielmehr ei-
gentlich im Interesse gerade der jungen Generation, jetzt
durch eine vernünftige Verwendung der Rentenbeiträge
zu einer Sicherung des Rentenniveaus beizutragen, da-
mit sie später nicht in Altersarmut geschickt wird?


(Elke Ferner [SPD]: Ganz genau so ist das!)


Meine letzte Frage: Würden Sie unter all diesen Bedin-
gungen den Satz aufrechterhalten, dass das Ansinnen,
den Rentenbeitrag jetzt nicht zu kürzen, darauf abzielt,
in die Tasche der Menschen zu greifen, die in den Betrie-
ben arbeiten?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1719513500

Natürlich ist das Ganze ein Griff in die Taschen der

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch der
Betriebe. Vor allen Dingen, Herr Kollege Ernst, ist Ihr
Ansinnen ja nicht, eine Demografierücklage zu bilden.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! Der Antrag sieht genau das vor!)


Ihr Ansinnen ist, mehr Leistungsversprechen zu erfüllen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Altersarmut zu verhindern!)


Genau das ist nicht im Sinne der jungen Generation.
Herr Kollege Ernst, derzeit sind in Deutschland 50 Mil-
lionen Menschen im erwerbsfähigen Alter. Diese Zahl
wird sich bis zum Jahr 2030 auf 42 Millionen vermin-
dern. Die Prognosen besagen, dass es in Deutschland im
Jahr 2060 nur noch 32 Millionen Menschen im erwerbs-
fähigen Alter geben wird. Angesichts dessen würde man
den künftigen Generationen, gerade denen, die heute
jung sind – Sie glauben, ihnen dadurch helfen zu kön-
nen, dass Sie dafür eintreten, dass der Beitragssatz hoch
bleibt –, eine gewaltige Last aufbürden, eine Last, die sie
nicht mehr tragen könnten.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie viel Produktivitätssteigerung und Wirtschaftswachstum gibt es in der Zeit?)


Das ist es, und das wollen Sie nicht wahrhaben. Sie wol-
len Menschen in irgendeiner Art und Weise zusätzlich
beglücken.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Quatsch!)


Aber wir stehen für eine langfristige Politik, weil wir
auch langfristig Regierungsverantwortung tragen. Das
ist entscheidend.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist die Demografielüge, mehr nicht!)


Wir können das verantworten.





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


Sie in der Opposition denken von heute auf morgen,
und damit ist die Sache für sie erledigt.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das Gegenteil! – Bettina Hagedorn [SPD]: Das tun Sie!)


Wir bringen zielorientierte rentenpolitische Entscheidun-
gen zustande. In diesem Sinne kann ich Ihnen nur emp-
fehlen, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung in
zweiter und dritter Lesung zuzustimmen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Auf gar keinen Fall! – Elke Ferner [SPD]: Darauf können Sie lange warten!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719513600

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat das Wort die Kollegin Bettina Hagedorn von der
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Bettina Hagedorn (SPD):
Rede ID: ID1719513700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Das, was uns die Koalition hier gerade an Redebeiträgen
geboten hat, ist an Heuchelei wirklich nicht zu überbie-
ten.


(Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Was? – Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Starke Worte!)


Da sagt die Ministerin, sie fühle sich der einzahlenden
Generation verpflichtet, und vergisst dabei, zu erwäh-
nen, dass sie das auf dem Rücken der künftig einzahlen-
den Generationen tut, die sie in ihren Sonntagsreden
sonst immer so gerne vor sich herträgt. Herr Kolb dekla-
riert die 5,4 Milliarden Euro, die durch diese Beitrags-
satzsenkung den Arbeitgebern und Arbeitnehmern gege-
ben werden sollen, quasi als eine karitative
Veranstaltung. Er sagt: Die Betroffenen werden uns
dankbar sein.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Rentner werden davon profitieren!)


Genau das ist Ihr Kalkül. Das, was Sie hier machen
– eine Rentenbeitragssatzsenkung –, ist der Kitt, der Ihre
Koalition ein Jahr vor der Bundestagswahl zusammen-
halten soll. Das Ganze ist eigentlich ein Wahlgeschenk.
Es soll ein Wahlkampfschlager werden.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Kein Wahlgeschenk! – Elke Ferner [SPD]: Die Leute wollen das gar nicht!)


– Genau. Die Leute wollen es gar nicht. Sie sind
vernünftiger, als Sie denken. – Wissen Sie was? Dieses
Vorgehen ist unverantwortlich.

Vor allen Dingen versuchen Sie zu kaschieren, dass
die Bundesregierung bei dieser ganzen Nummer, mit
dieser Senkung, den eigenen Haushaltsentwurf frisiert,
und zwar um exakt 2 Milliarden Euro. Das tun Sie auf

dem Rücken der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.
Sie tun so, als könnten Sie im Schlafwagen die Schul-
denbremse einhalten. Diese Frisiernummer machen Sie
nicht nur bei der Rente, die machen Sie auch beim
Gesundheitsfonds, die machen Sie auch bei der Bundes-
agentur für Arbeit und auf dem Rücken der Langzeit-
arbeitslosen, und das im milliardenschweren Bereich.
Das ist einfach unverantwortlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


„Beitrag zur Konsolidierung“ nennt Herr Schäuble
– der Stuhl des Finanzministers ist bei dieser Debatte er-
staunlicherweise leer – seinen „Vorwegabzug“ zulasten
der Rentenkasse. Das sind 1 Milliarde Euro im Jahr 2013
und 1,25 Milliarden Euro jeweils bis 2016, sprich
4,75 Milliarden Euro bis zum Ende des Finanzplan-
raums, die er von der Rentenkasse zugunsten seines
Bundesetats umschaufelt. Ab 2017 soll dann paradoxer-
weise diese Maßnahme wieder umgekehrt werden, 2017,
wenn wir unter einem verschärften Konsolidierungs-
zwang aufgrund der Schuldenbremse stehen werden.
Hinzu kommt, dass wir noch nicht wissen, ob die ganzen
Steuerquellen und Beitragsquellen dann genauso spru-
deln werden, wie es in der jetzigen konjunkturellen Lage
der Fall ist. Aber dann wollen Sie das Rad zurückdrehen.
Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Noch eine zweite Stellschraube nutzen Sie – das ist
genau die, die wir hier jetzt diskutieren –, um Ihren
Haushalt zu frisieren. Das ist diese Beitragssatzsenkung.
Etwas ist ja ganz erstaunlich: dass der Finanzminister die
1 Milliarde Euro, von der hier noch nicht die Rede war,
die der Bund bei dieser Nummer „spart“, schon im Juli
in seinen Haushaltsentwurf eingerechnet hat. Das heißt,
er hat schon im Juli seinen Haushaltsentwurf um 2 Mil-
liarden Euro schöngerechnet.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das ist eine gesetzliche Vorgabe!)


Wissen Sie, was? Das sind insgesamt 9,5 Milliarden
Euro während des Finanzplanraumes, die er hier einkas-
siert hat. Dann will ich noch einmal daran erinnern, dass
diese Regierung ja auch schon 2011 1,8 Milliarden Euro
zulasten der Rentenkasse „konsolidiert“ hat, wie sie es
so schön nennt, nämlich zulasten der Langzeitarbeits-
losen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Daran ist die SPD nicht ganz unschuldig!)


Wenn ich das noch einmal dazurechne, dann sind das
bis 2013 5,4 Milliarden Euro und 10,8 Milliarden Euro
bis zum Ende des Finanzplanraums. Bei diesen Zahlen
wird deutlich, dass Sie Ihre Schuldenbremse bis 2016
nur deshalb angeblich erreichen können, weil Sie einen
schamlosen Griff in die Sozialkassen machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In Europa baut man den Popanz Deutschlands als Su-
persparregierung auf, und in der Realität bedient man
sich vor allem an den Sozialkassen, und das in konjunk-





Bettina Hagedorn


(A) (C)



(D)(B)


tureller Boomphase. Das ist genau das, was mein
Kollege über die schwäbische Hausfrau gesagt hat. Wir
haben jetzt – wir sagen ausdrücklich: glücklicherweise –
eine Zeit, in der die Steuereinnahmen und die Beitrags-
einnahmen sprudeln. Aber was machen Sie? Sie schöp-
fen den konjunkturell entstandenen Rahm auf den
Sozialkassen ab, um so zu tun, als würden Sie sparen.
Aber Sie tun es gar nicht. Sie machen keine Struktur-
veränderung, wie Sie es einmal zugesagt haben, Sie
bauen keine Subventionen und all diese Dinge ab, und
vor allen Dingen machen Sie es wieder nur auf dem Rü-
cken der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und auf
dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Wissen Sie, was? Ich empfehle Ihnen dringend: Stim-
men Sie dem Antrag der SPD zu, einen Demografie-
fonds aufzubauen! Das ist die richtige Antwort in dieser
Zeit, und das ist das, was die Menschen auch von uns
erwarten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719513800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10743, 17/10779 und 17/10775 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene
Rupprecht (Tuchenbach), Dr. Hans-Peter
Bartels, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD

Gesundes Aufwachsen von Kindern und
Jugendlichen fördern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Dörner, Maria Klein-Schmeink, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gesundes Aufwachsen für alle Kinder mög-
lich machen

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung

Bericht über die Lebenssituation junger
Menschen und die Leistungen der Kinder-
und Jugendhilfe in Deutschland
– 13. Kinder- und Jugendbericht –

und

Stellungnahme der Bundesregierung

– Drucksachen 17/3178, 17/3863, 16/12860,
17/4754 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)

Miriam Gruß
Diana Golze
Katja Dörner

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Thomas Jarzombek, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß,
Florian Bernschneider, Nicole Bracht-Bendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP

Eigenständige Jugendpolitik – Mehr Chan-
cen für junge Menschen in Deutschland

– zu dem Antrag der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Die jugendfreundlichste Kommune
Deutschlands

– Drucksachen 17/9397, 17/7846, 17/9840 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Stefan Schwartze
Florian Bernschneider
Diana Golze
Katja Dörner

Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
tem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Peter Tauber
von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1719513900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ganz
gut, dass wir uns wieder einmal Zeit nehmen, über die
Kinder- und Jugendpolitik in diesem Land zu reden, und
dass wir uns bei dieser Gelegenheit mit dem Kinder- und
Jugendbericht und mit den Anträgen aus dem Hause, die
vorliegen, beschäftigen und uns ein bisschen die aktuelle
Situation der Kinder und Jugendlichen in Deutschland
vor Augen führen.

Ich wage die Prognose – auch wenn ich der erste Red-
ner in der Debatte bin –, dass das Bild der Situation der
Kinder und Jugendlichen in diesem Land, das die Vertre-
ter der Opposition zeichnen werden, eines sein wird, bei





Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)


dem man sich fragen muss: Lohnt es sich, in diesem
Land Kind oder Jugendlicher zu sein?

Deshalb möchte ich mit Blick auf die aktuelle Situa-
tion an den Anfang meiner Rede eher die positiven
Aspekte stellen: Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutsch-
land ist so niedrig wie nirgendwo sonst in Europa. Wäh-
rend der Durchschnitt bei mehr als 20 Prozent liegt, sind
in Deutschland nur knapp 8 Prozent der Jugendlichen
ohne Job.

Wir haben fast 200 000 freie Ausbildungsplätze in
diesem Land. Das ist eine Entwicklung, die sensationell
ist, wenn man sich die Situation von vor zehn Jahren vor
Augen führt. Damals war ich noch ehrenamtlicher Stadt-
verordneter in meiner Heimatgemeinde. Seinerzeit sind
alle Stadtverordneten quer durch die Fraktionen zu den
Unternehmen gepilgert, um auf Knien darum zu bitten,
Ausbildungsplätze zu schaffen. Die Unternehmer haben
alle die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und
haben gesagt: Jetzt kommt ihr noch, wir leiden schon un-
ter der rot-grünen Bundesregierung; wir können keine
Ausbildungsplätze bereitstellen. – Die gibt es heute im
Übermaß. Fast jeder junge Mensch, der einen Schul-
abschluss hat, findet den Ausbildungsplatz, den er sich
wünscht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das heißt, in nur einem Jahr ist die Jugendarbeitslosig-
keit um 14 Prozent gesunken, während sie anderswo in
Europa steigt. Das ist eine wirklich gute Nachricht für
die jungen Menschen in diesem Land.

Dasselbe gilt, wenn auch nur eingeschränkt, für die
Zahl der Kinder und Jugendlichen, die auf Hartz IV an-
gewiesen sind. Diese ist immer noch viel zu hoch, aber
auch sie sinkt, und auch das ist eine gute Nachricht.

Man sollte bei dieser Gelegenheit durchaus einmal in
den Blick nehmen, dass in Berlin 33 Prozent der Kinder
und Jugendlichen auf Hartz IV angewiesen sind, in Bay-
ern aber nur 6,2 Prozent.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Rot-rot!)


Jetzt kann man sich durchaus die Frage stellen: Hat das
etwas mit Politik zu tun? Hat das etwas mit Familien-
bildern zu tun, die gelebt werden? Ich glaube, ja.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Wollen Sie jetzt den Berlinern vorwerfen, dass es dort mehr Alleinerziehende gibt, oder was?)


– Nein, ich werfe das niemandem vor, Frau Kollegin. Ich
bin für Ihren Zwischenruf sehr dankbar. Vielleicht klei-
den Sie ihn beim nächsten Mal in eine Frage; ich greife
ihn jetzt trotzdem auf.

Ich werfe das niemandem vor. Aber ich frage mich
schon, welche Familienbilder man vorlebt und vorgibt


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, wir geben keine Familienbilder vor!)


und welche Rahmenbedingungen man setzt, damit Fami-
lie gelebt werden kann. Offensichtlich sind diese in

Bayern nun einmal ein bisschen besser als in Berlin. Das
zeigen zumindest die Zahlen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Diana Golze [DIE LINKE]: Diese Arroganz ist unglaublich!)


Wir haben Weiteres geleistet. Wir haben das Deutsch-
landstipendium auf den Weg gebracht, wir haben in das
BAföG investiert. Erstmals stehen für das BAföG mehr
als 3 Milliarden Euro zur Verfügung. Mehr als 900 000
Menschen profitieren davon. Auch das ist eine gute
Nachricht.

Die weitere gute Nachricht ist, dass die Zahl der
Schulabbrecher deutlich gesunken und die Zahl der
Gymnasiasten deutlich gestiegen ist. Wir machen also
ernst mit der Bildungsrepublik. Das sind gute Nachrich-
ten für die jungen Menschen in diesem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was tun wir darüber hinaus? Wir haben in die Schul-
sozialarbeit investiert, weil wir wissen, dass junge Men-
schen in schwierigen Lebenssituationen Hilfesysteme
brauchen. Der Bund ist hier in die Finanzierung ein-
gestiegen, obwohl das eigentlich Aufgabe der Länder
und der Schulträger ist.

Wir haben das Bildungs- und Teilhabepaket auf den
Weg gebracht. Von den Klassenfahrten über die Schüler-
beförderung über die Nachhilfe bis hin zur Mitglied-
schaft in Vereinen – wir leisten einen Beitrag dazu, dass
junge Menschen in diesem Land Perspektiven haben.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erreicht doch fast keinen!)


Wir haben die Jugendfreiwilligendienste in einem
Maße ausgebaut, von dem Sie zu Beginn der Legislatur-
periode nur geträumt haben. Die Botschaft, die wir damit
den jungen Menschen mit auf den Weg geben, ist eine
ganz klare: Ihr werdet gebraucht. Wir wollen, dass ihr in
dieser Gesellschaft Verantwortung übernehmt, dass ihr
Erfahrungen sammelt. – Mehr als 90 000 Menschen en-
gagieren sich in den verschiedenen Säulen der Freiwilli-
gendienste. Das ist eine Leistung dieser Politik, aber vor
allem der jungen Menschen, die einen solchen Freiwilli-
gendienst leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben die Förderung des Kinder- und Jugend-
plans konstant gehalten, um selbstständige Jugendarbeit
zu ermöglichen. Das ist die Grundlage für die Verbände,
das ist die Grundlage für die ehrenamtliche Betätigung
von jungen Menschen in diesem Land, und das trotz der
Vorgaben der Schuldenbremse. Auch das ist ein klares
Bekenntnis zu einer eigenständigen Kinder- und Jugend-
politik.

Dieses Thema kann man jetzt weiter ausführen. Ich
nenne die Verbesserung der Mobilität. Für Jugendliche
im ländlichen Raum ist der Führerschein ab 17 interes-
sant. Erstmals unterscheiden wir zwischen Kinder- und
Jugendpolitik, weil wir anerkennen, dass Jugendliche
andere Bedürfnisse haben als Kinder. Mit 13 Jahren ist
es nicht mehr sexy, in den Streichelzoo zu gehen. Dann





Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)


hat man andere Wünsche, was die eigene Freizeitgestal-
tung betrifft. Das symbolträchtige Thema Kinderlärm
und die Tatsache, dass man dagegen nicht mehr klagen
kann – es war ein wichtiger Schritt, dass wir das auf den
Weg gebracht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Neben den positiven Beispielen und Zahlen, sollte
man auch das in den Blick nehmen, was schwierig ist. Es
gibt Kinder und Jugendliche in unserem Land, die un-
sere Hilfe brauchen, weil sie sie in ihrer Familie nicht in
ausreichendem Maße bekommen, weil sie es nicht schaf-
fen, ihren Weg zu gehen. Das ist eine zusätzliche Auf-
gabe, die sich für uns stellt. Natürlich müssen wir uns
um diese jungen Menschen kümmern.

Die Probleme sind vielfältig. Mit Blick auf meine Ge-
neration könnte man sagen: Junge Leute sind heute ein
bisschen langweiliger als wir früher. Sie sind zumindest
sehr viel vernünftiger, als es vielleicht meine Generation
war. Die Zahl derer, die exzessiv trinken, die rauchen
und kiffen, geht deutlich zurück. Ob es vor diesem Hin-
tergrund vorbildlich ist, wenn führende grüne Spitzenpo-
litiker darüber räsonieren, welche Farben die Drachen
haben, die sie im Drogenrausch gesehen haben, sei da-
hingestellt.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht würde Ihnen das auch einmal neue Perspektiven schaffen!)


Wir erkennen, dass die Zahl junger Menschen, die
suchtgefährdet sind, deutlich zurückgeht. Wir erkennen
aber auch neue Herausforderungen: Glücksspiel, Online-
abhängigkeit, Internetsucht. Wir haben die Aufgabe, prä-
ventive Angebote zu machen und für Aufklärung zu sor-
gen.

Ich habe einleitend gesagt, dass in diesem Land die
Zahl der Kinder, die auf Hartz IV angewiesen sind, noch
viel zu hoch ist. Das ist eine Aufgabe, die wir angehen
müssen. Wir müssen uns aber auch fragen, ob wir das al-
lein mit staatlichen Hilfesystemen schaffen. Am Ende
müssen wir Eltern ermutigen und in die Lage versetzen,
ihre Erziehungsverantwortung wahrzunehmen. Wir Poli-
tiker können zwar viele Dinge wollen, wir brauchen aber
Menschen, die sich dieser Herausforderung stellen. Dies
sind am Ende des Tages in erster Linie immer die Eltern.

Es bleibt dabei, dass der demografische Wandel eine
große Herausforderung für unser Land ist. Wenn man
auf meine eingangs gestellte Frage zurückkommt und
sich überlegt, ob in diesem Land Kinder und Jugendliche
Chancen haben, groß zu werden, ihre Ideen und Wün-
sche zu verwirklichen, sich ein selbstbestimmtes Leben
aufzubauen, dann kann man zu dem Ergebnis kommen,
dass es wahrscheinlich wenig Länder auf diesem Globus
gibt, in denen junge Menschen solche Chancen haben.
Wenn wir – ohne die Probleme beiseiteschieben zu wol-
len – das nicht stärker in den Mittelpunkt rücken, dann
brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn junge Paare
sagen: Warum soll ich in diesem Land Kinder in die
Welt setzen? Es ist viel zu gefährlich. – Ich bleibe dabei:
Sie zeichnen hier oft ein Bild, das nicht der Lebenswirk-
lichkeit entspricht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Gleich können Sie wieder das Leben von jungen
Menschen in den schwärzesten Farben beschreiben. Die
Lebenswirklichkeit sieht jedoch ein bisschen anders aus.
Deswegen brauchen junge Menschen keine Angst vor ei-
nem Land zu haben, wie Sie es beschreiben. Sie müssten
vielleicht Angst vor einem Land haben, das Sie regieren.
Das ist der entscheidende Unterschied. Ich freue mich
auf die weitere Debatte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie schlecht ist das denn?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719514000

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin

Marlene Rupprecht.


(Beifall bei der SPD)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1719514100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!

Der Anlass unserer heutigen Debatte ist der 20. Septem-
ber, nämlich der Weltkindertag. An diesem Tag lassen
wir in Deutschland – in anderen Ländern geschieht das
an anderen Tagen – Revue passieren, was für Kinder ge-
tan worden ist bzw. getan wird. Hierzu gibt es aus den
unterschiedlichen Fraktionen einige Anträge, die dem
Parlament zum Teil schon länger vorliegen. Man sieht,
dass einiges von dem, was in diesen Anträgen steht, be-
reits abgearbeitet wurde.

Ich ziehe es vor, keine Bierzeltrede zu halten. Ebenso
ziehe ich es vor, keine Konfrontationspolitik zu betrei-
ben, weil Eltern und Kinder davon die Nase voll haben.
Sie wollen nämlich ganz schlicht und ergreifend, dass
ihre Situation wahrgenommen wird und dass wir alles
tun, um die Lebensbedingungen möglichst so zu verän-
dern, dass sie lebenswert sind.

In unserem Antrag, der heute ebenfalls zur Abstim-
mung steht, geht es darum, wie Jugendhilfe, Gesund-
heitshilfe und Behindertenhilfe besser vernetzt und ver-
zahnt werden können, sodass Kinder nicht zwischen den
Rastern der Systeme – die für sich gesehen gut sind –
hindurchfallen.

Das heißt: Die einzelnen Hilfen stehen zwar zur Ver-
fügung, jedoch wird nicht immer optimal zusammenge-
arbeitet. Seit 21 Jahren ist gesetzlich vorgeschrieben – in
§ 81 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes –, dass sich
alle rund um das Kind Beteiligten zusammensetzen und
absprechen sollen. Das wird leider nicht gemacht.

Es geht darum, dass Eltern, wie es in Art. 6 des
Grundgesetzes festgeschrieben ist, ihre Aufgabe gut
wahrnehmen können. Dazu brauchen sie alle diese Sys-
teme. Wenn ein Kind in die Schule geht, braucht es dort
ein entsprechendes Umfeld, in dem es gesund aufwach-
sen kann. Das Gleiche gilt, wenn ein Kind in den Kin-
dergarten geht. Wenn das Kind behindert ist, soll es ohne
Ansehen der Behinderung auch dort unterrichtet oder be-
treut werden. In diesem Bereich gibt es in Deutschland
nach wie vor ein großes Defizit, obwohl internationale





Marlene Rupprecht (Tuchenbach)



(A) (C)



(D)(B)


Konventionen unterzeichnet worden sind. In unserem
Antrag findet sich einiges zu diesem Thema. Inklusion
muss für alle Orte und bei allen Planungen von vornhe-
rein berücksichtigt werden, sodass Kinder – egal aus
welcher sozialen Schicht sie kommen – so angenommen
werden, wie sie sind, und es eben kein Muster gibt, wie
sie sein sollen.

Es ist die große Aufgabe der Politik, darauf hinzuwir-
ken. Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt, weil
wir noch gelernt haben, dass es „normale“ und „nicht
normale“ Kinder gibt, und dass die nicht normalen Kin-
der ausgesondert werden. Dieser Weg ist ein Lernpro-
zess. Wir müssen endlich lernen, dass Kinder eigene
Rechtspersönlichkeiten, eigene Rechtssubjekte sind.

Auch wenn die Eltern die vornehme Pflicht und das
Recht haben, sie zu erziehen, haben sie nicht das Recht,
die Kinder so zu verformen oder zu verändern, dass sie
Schaden nehmen. Ich erinnere hier nur an die derzeitige
Diskussion über die Beschneidung; ich kann es nicht las-
sen. Hierbei zeigt sich ganz klar, wie wichtig es ist, sich
wirklich für die Kinderinteressen einzusetzen und Kin-
der als Rechtssubjekte zu sehen, die von niemandem,
egal welchen Auftrag sie haben, auch nur berührt wer-
den dürfen, um sie dauerhaft zu verändern. Diese Dis-
kussion müssen wir hier führen. In diesem Haus wird sie
leider immer nur aus Erwachsenensicht geführt und
nicht aus Kindersicht.

Uns liegen Anträge vor, bei denen das Kindeswohl
und das Wohlergehen beim Aufwachsen im Mittelpunkt
stehen. Grundlage unserer Anträge war der 13. Kinder-
und Jugendbericht. Hierin ging es um die Verzahnung
von Kinder- und Jugendhilfe sowie Gesundheitsförde-
rung. Der Titel lautete: „Mehr Chancen für gesundes
Aufwachsen – Gesundheitsbezogene Prävention und Ge-
sundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe“.

Lassen Sie mich sagen, wie schwer es uns schon hier
im Hause fällt, zusammenzuarbeiten. Es ist äußerst
schwierig, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend und den Gesundheitsausschuss unter ein
Dach zu bringen. Wenn wir beispielsweise die Mitarbei-
ter des Gesundheitsausschusses bitten, sich etwas für
den präventiven Bereich zu überlegen, dann heißt es:
Was habt ihr uns schon vorzuschreiben?

Dann denke ich: Wenn wir, die wir täglich miteinan-
der umgehen, schon nicht zusammenkommen können,
wie soll das dann erst draußen gelingen? Es ist unsere
Aufgabe, das in Angriff zu nehmen. Das kann man nicht
schlechtreden oder schönreden, sondern man muss
schlicht zugeben, dass wir unsere Hausaufgaben noch
nicht gemacht haben.

Gestern waren zwei Fachleute in der Kinderkommis-
sion, die uns gesagt haben, sie könnten keine Daten über
psychisch kranke Kinder erfassen, weil es eine Richt-
linie gebe, die das verbietet. Keiner jedoch konnte erklä-
ren, warum es diese Richtlinie noch gibt.

Könnt ihr mir mal erklären, warum wir es hier nicht
auf die Reihe bringen, dass wir wirklich alle Dinge für
Kinder so regeln, dass es vom Kind, von der Familie aus
gedacht ist, nicht von der Institution aus?

Wir haben es hier im Deutschen Bundestag immer
noch nicht geschafft, die Kinderrechte ins Grundgesetz
zu bringen, damit eindeutig nachzulesen ist, dass die
Kinder Rechtssubjekte sind. Ich wünsche mir, dass an
drei Stellen des Grundgesetzes Änderungen vorgenom-
men werden: In Art. 2, in dem es um das Individuum
geht, sollte das Recht auf die Entwicklung – das steht
dort nämlich nicht – und die freie Entfaltung aufgenom-
men werden. In Art. 6 sollten die gemeinsamen Rechte
von Eltern und Kindern gestärkt werden, um kindge-
rechte Lebensverhältnisse zu garantieren. Zudem hätte
ich gern eine Änderung an Art. 45. Dort ist geregelt, dass
es für die 180 000 Soldaten – Wehrpflichtige gibt es jetzt
nicht mehr – einen Wehrbeauftragten mit fast 40 Mitar-
beitern gibt. Wenn man das hochrechnet, dann kommt
man für die 12 Millionen Kinder und Jugendlichen auf
ein Amt mit über 2 000 Beschäftigten. Mir würden
40 Mitarbeiter reichen, wenn hier im Bundestag, neben
dem Stuhl, auf dem unser Wehrbeauftragter sitzt, ein
Kinderbeauftragter sitzen und die Interessen der Kinder
wahrnehmen würde. Mit 40 Mitarbeitern wäre ich ganz
zufrieden.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ulrich Schneider [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719514200

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Florian

Bernschneider das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1719514300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir
alle sind froh, dass wir heute zu einer recht prominenten
Tageszeit die Gelegenheit haben, über Jugendpolitik zu
diskutieren. Entsprechend verantwortungsvoll sollten
wir diese Debatte führen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie es besser als Herr Tauber!)


Bevor ich zu den Punkten komme, wo wir uns nicht ei-
nig sind – ich verspreche Ihnen: auch dazu komme ich –,
möchte ich vielleicht erst einmal eine Gemeinsamkeit
herausstellen. Wir sind uns in einem Punkt einig: Die
christlich-liberale Koalition geht mit der Etablierung ei-
ner Eigenständigen Jugendpolitik einen richtigen und
wichtigen Schritt in die Zukunft.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Ich betone diese Gemeinsamkeit auch deswegen, weil
ich der festen Überzeugung bin, dass die eigenständige
Jugendpolitik nur dann gelingen kann, wenn wir alle an
einem Strang ziehen. Denn wir alle wissen: Das ist kein
Projekt für eine oder zwei Legislaturperioden, sondern
eine langfristige Ausrichtung der Jugendpolitik.

Wir alle wissen auch, dass nicht die Politik allein die
Eigenständige Jugendpolitik gestalten wird, sondern es





Florian Bernschneider


(A) (C)



(D)(B)


darauf ankommt, verschiedenste Akteure – Jugendver-
bände, Bildungsträger, Unternehmen, Medien – mitzu-
nehmen. Deswegen ist es so wichtig und richtig, dass das
Ministerium eine Allianz für Jugend etabliert hat, um all
diese Akteure zusammenzubringen.

Das alles, meine Damen und Herren, reicht natürlich
nicht aus. Ich sage auch offen, dass wir uns als christ-
lich-liberale Koalition natürlich daran messen lassen
wollen, was wir mit konkreten politischen Handlungen
für junge Menschen in diesem Land erreichen. Ich
glaube, wir brauchen uns, was unsere Bilanz an dem
Punkt angeht, nicht zu verstecken. Wir alle sind uns ei-
nig, dass es bei der Eigenständigen Jugendpolitik auch
zählt, über die Ressortgrenze des BMFSFJ hinaus zu
denken. Wenn man sich einmal anschaut, was wir da ge-
schafft haben, erkennt man: Das ist keine schlechte Bi-
lanz. Wir haben uns mit der Einführung des Führer-
scheins ab 17 verstärkt dem Aspekt der sicheren
Mobilität Jugendlicher gewidmet. Wir haben mit dem
Deutschlandstipendium und der Sommerferienjobrege-
lung dafür gesorgt, dass sich Leistung eben auch für
junge Menschen lohnt. Wir haben das BAföG erhöht und
mit der Weiterführung des Programms „Schulverweige-
rung – Die 2. Chance“ dafür gesorgt, dass auch diejeni-
gen Jugendlichen mitgenommen werden, die es nicht
immer ganz leicht haben. Das alles sind Punkte – man
könnte das fortführen –, an denen man deutlich machen
kann, dass in dieser Legislaturperiode schon viel passiert
ist und viel auf den Weg gebracht wurde. Wir alle mit-
einander wollen nicht so tun, als ob das in jeder bisheri-
gen Legislaturperiode auch so gut gelaufen wäre.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn ich an jugendrelevante Diskussionen aus bishe-
rigen Legislaturperioden denke, dann fallen mir die Dis-
kussionen über Killerspielverbote, Alkoholverbotszo-
nen, Alkopopsteuer usw. ein. All das hat doch mit dazu
beigetragen, dass in unserem Land ein Bild von der Ju-
gend von heute herrscht –


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind doch nicht von uns geführt worden!)


– da muss Politik auch einmal ganz selbstkritisch sein –
nach dem Motto: Die sitzen zu lange vor dem Computer,
die trinken zu viel Alkohol und überhaupt sind sie nicht
in der Lage, Verantwortung für sich und erst recht nicht
für das Land zu übernehmen.

Ich finde, die Koalition hat mit dem Freiwilligen-
dienstkonzept den besten Gegenbeweis zu diesem fal-
schen Bild ermöglicht – der Kollege Tauber hat es
gesagt –:


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wir hatten im Jahr 2009 im Durchschnitt 68 000 Zivil-
dienstleistende; heute haben wir über 80 000 Freiwillige,
die einen großen Dienst erweisen, und das ohne jeden
Zwang. Das zeigt im Übrigen nicht nur, dass das Kon-
zept Freiwilligendienst funktioniert, es zeigt auch, dass

junge Menschen in unserem Land sehr wohl bereit sind,
Verantwortung zu übernehmen.

Nehmen wir den Bereich Partizipation, der in den An-
trägen eine wesentliche Rolle spielt. Ehrlich gesagt: Von
der Opposition höre ich dazu zu wenig. Ja, die Linken
bringen zwar einen Antrag zum Thema „jugendfreund-
lichste Kommune“ ein – das Thema Kommune spielt in
Bezug auf die Partizipation tatsächlich eine wichtige
Rolle –, aber seien wir ehrlich: Das reicht nicht aus.

Von SPD und Grünen höre ich den Klassiker: Absen-
kung des Wahlrechtalters. Es ist nicht nur so, dass ich
immer noch nicht verstanden habe, wie man den jungen
Menschen erklären soll, dass man zwar mit 16 zur Bun-
deswahl gehen soll, aber keinen Handyvertrag abschlie-
ßen kann, auch allein die Tatsache, dass ich, wenn ich im
falschen Jahrgang geboren wurde, von der Absenkung
des Wahlalters überhaupt nicht profitieren würde, zeigt
doch, dass das kein sinnvoller Schritt zur Partizipation
junger Menschen sein kann. Deswegen ist die Förde-
rung, die wir Ihnen in unserem Antrag vorschlagen,
nämlich der U-18-Wahl – anders als die Kollegin Deligöz
zu Protokoll gegeben hat – kein Feigenblatt, sondern tat-
sächlich ein guter Schritt, um junge Menschen an politi-
schen Prozessen partizipieren zu lassen, egal wie alt sie
sind: ob 14, 15 oder 17 Jahre und 364 Tage.

Aber auch hier bleiben wir nicht bei Sonntagsflos-
keln, die wir alle meiner Meinung nach viel zu lange und
viel zu häufig benutzt haben, wenn es um das Thema
Partizipation ging, sondern wir machen weitere konkrete
Vorschläge, zum Beispiel zum Kinder- und Jugendplan.
Es ist doch schlicht nicht zu erklären, warum es beim
größten monetären Förderinstrument, das wir in der Kin-
der- und Jugendpolitik haben, für die jungen Menschen
kaum Möglichkeiten gibt, dieses in irgendeiner Form be-
einflussen zu können. Es ist so intransparent und in sei-
nem Antragsverfahren so schwierig, dass es junge Men-
schen einfach abhängt. Deswegen ist die Reform, die wir
hier vorschlagen, auch im Sinne von Partizipation wich-
tig.


(Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP])


Ich habe alle Anträge und auch die zu Protokoll gege-
benen Reden sehr aufmerksam gelesen. Der Höhenflug,
den die Grünen an Kreativität beim Thema Partizipation
hatten, war die Forderung nach der Festschreibung von
Beteiligungsinstrumenten in den Kommunalordnungen.
Das ist vielleicht gut gemeint, aber man muss so ehrlich
sein und sagen: Das können wir hier im Bundestag nicht
entscheiden, das müssen die Bundesländer machen. Sie
können gerne dort, wo Sie Regierungsverantwortung tra-
gen, mit gutem Beispiel vorangehen.

Ich will noch kurz auf den 13. Kinder- und Jugendbe-
richt eingehen, besonders unter dem Aspekt der Eigen-
ständigen Jugendpolitik. Unsere Eigenständige Jugend-
politik soll sich dadurch auszeichnen, dass wir zeigen,
dass wir die Probleme und Herausforderungen, vor de-
nen wir stehen, ernst nehmen, dass wir aber auch den
„ganz normalen“ Jugendlichen in unserem Land berück-
sichtigen. Der Kinder- und Jugendbericht zeigt deutlich,
dass der überwiegende Teil junger Menschen und Kinder





Florian Bernschneider


(A) (C)



(D)(B)


in unserem Land gesund und wohlbehütet aufwächst. Das
sollten wir in der Politik betonen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Trotzdem – Frau Rupprecht, Sie haben natürlich recht –
darf man die Augen nicht vor den Herausforderungen
verschließen. Es ist schlicht nicht akzeptabel, dass die
sozialen und finanziellen Verhältnisse des Elternhauses
über die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ent-
scheiden. Wir alle wissen um die Herausforderungen,
die uns der Kinder- und Jugendbericht aufträgt. Wir alle
– zumindest wir Familienpolitiker – sind der festen
Überzeugung, dass eine große Lösung sicherlich die
beste Lösung wäre.


(Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP])


Wir alle wissen auch, wie schwierig diese große Lösung
ist. Deswegen bin ich Frau Rupprecht sehr dankbar, dass
wir nicht anfangen, gegenseitig mit dem Finger aufei-
nander zu zeigen und zu sagen: Warum hast du nichts er-
reicht?, sondern gemeinsam versuchen, weiter konstruk-
tiv an einer großen Lösung zu arbeiten.

Als Koalition haben wir vielleicht nicht die große Lö-
sung, aber in vielen kleinen Bereichen einiges auf den
Weg gebracht haben. Ich will mir keine Tatenlosigkeit
vorwerfen lassen. Wir haben das Teilhabepaket auf den
Weg gebracht, wir haben das Bundeskinderschutzgesetz
– mit deutlichem Akzent auf dem Thema Prävention,
zum Beispiel durch Familienhebammen – und die Offen-
sive „Frühe Chancen“ – bis zu 4 000 Schwerpunktkitas
zum Thema „Sprache und Integration“ – auf den Weg
gebracht. Vieles andere mehr ließe sich noch aufführen.

Sie sehen: Auch in diesem Bereich geht die Koalition
voran. Ich finde, wir können stolz auf die bisherige Bi-
lanz unserer Kinderpolitik und der Eigenständigen Ju-
gendpolitik sein. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich
in Ihren Anträgen statt auf blumige Worte auf konkrete
Forderungen konzentrierten. Lassen Sie uns gemeinsam
konkret an der weiteren Verbesserung der Situation von
Kindern und Jugendlichen arbeiten. Beide Gruppen hät-
ten es verdient.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719514400

Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719514500

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Herr Tauber, ich bin ein Stück weit
verwundert über Ihre Aussage. Sie haben einen Ver-
gleich zwischen Bayern und Berlin angestellt, dabei wis-
sen Sie sehr genau, dass sich die soziale Zusammenset-
zung der Bevölkerung in Berlin deutlich von der in
Bayern unterscheidet. Sie wissen genauso gut wie ich,
dass es Familienkonstellationen gibt, Alleinerziehende
zum Beispiel, die im Durchschnitt deutlich stärker von

Sozialleistungen abhängig und von Armut betroffen
sind. Den Alleinerziehenden das zum Vorwurf zu ma-
chen und an die Berliner Politik zu appellieren, für bes-
sere Vorbilder zu sorgen, finde ich, gelinde gesagt, ziem-
lich arrogant.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das hat mit einem Politikansatz, der danach fragt, wie
man den Betroffenen helfen kann, überhaupt nichts zu
tun.

Schön finde ich aber, dass Sie zumindest zur Kenntnis
nehmen, dass wir in unserem Land ungleiche Lebensbe-
dingungen für Kinder und Jugendliche haben. Wir wis-
sen aus diversen Untersuchungen – das wissen wir nicht
erst seit diesem Kinder- und Jugendbericht, der sich
auch mit der Kindergesundheit beschäftigt –, dass sich
diese ungleichen Lebensbedingungen auf die psychi-
sche, die körperliche und die soziale Entwicklung von
Kindern auswirken. Die Expertenkommission, die die-
sen Kinder- und Jugendbericht erarbeitet hat, hat nicht
ohne Grund gesagt, dass Armut und soziale Benachteili-
gung die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ge-
fährden.

Nun ist die Frage, wie man mit solchen Erkenntnissen
umgeht. Es ist bestimmt nicht sinnvoll, die Debatte über
diesen Bericht immer wieder zu vertagen. Deshalb bin
ich sehr froh darüber, dass aufgrund der Anträge der Op-
position heute endlich über diesen Bericht diskutiert
wird. Sinnvoll war mit Sicherheit auch das nicht, was
diesbezüglich in der Bundespolitik in den letzten Jahren
passiert ist. Ich will das kurz nennen: Die Regelsätze für
Kinder und Jugendliche sind nach wie vor nicht nach ih-
rem Bedarf bemessen. Es tut mir leid, das hier noch ein-
mal feststellen zu müssen, aber der Paritätische Wohl-
fahrtsverband hat schon vor Jahren eine Expertise vor-
gelegt, die belegt, dass diese Regelsätze deutlich unter-
bewertet sind. Allein in der Altersgruppe der 6- bis unter
14-Jährigen liegt der Regelsatz monatlich 86 Euro unter
dem tatsächlichen Bedarf, und das hat eine Unterversor-
gung in den Bereichen Nahrung, Kleidung und Bildung
zur Folge. Die Bundespolitik schaut seit Jahren zu, ob-
wohl sie weiß, dass einige Eltern gar keine Chance ha-
ben, ihre Kinder gesund zu ernähren, sie ausreichend zu
kleiden und zu fördern.

Diesbezüglich ist in den letzten Jahren nichts passiert.
Das Bundesverfassungsgerichtsurteil hatte bezüglich der
Kinderregelsätze keinerlei Konsequenz. Man muss es
sogar als Gunst der christlich-liberalen Koalition verste-
hen, dass die Sätze nicht abgesenkt wurden. Das wurde
uns hier häufig genug erzählt. Das kann nicht sein. Ich
sage immer noch und immer wieder: Kinder sind keine
kleinen Erwerbslosen, und deshalb muss endlich ein
kindgerechter Regelsatz berechnet werden.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Weitere Stichworte möchte ich hier kurz nennen. Das
Stichwort Präventionsprogramme ist in der Debatte schon
gefallen. Von einem Präventionsgesetz sind wir meilen-





Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)


weit entfernt. Was es gibt, sind bunte Broschüren und
Projekte, die in der Realität aber nicht helfen.

Das Bildungs- und Teilhabepaket wurde angespro-
chen. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass das
Geld nicht einmal bei der Hälfte der berechtigten Ju-
gendlichen ankommt. Natürlich kann man den Eltern
vorwerfen, dass sie die Anträge nicht stellen. Wer aber
ein so kompliziertes Konstrukt erfindet, in dem Wissen,
dass das Geld bei den Kindern und Jugendlichen nicht
ankommt, muss sich doch an die eigene Nase fassen und
hier endlich etwas ändern. Das setzt aber voraus – Marlene
Rupprecht hat angesprochen, dass wir gestern in der
Kinderkommission über Beteiligung gesprochen haben –,
dass man Kindern und Jugendlichen gegenüber eine ge-
wisse Haltung hat. Das setzt voraus, dass man Kinder
und Jugendliche endlich als eine eigene Bevölkerungs-
gruppe mit eigenständigen Ansprüchen an die Gesell-
schaft begreift.

Damit bin ich bei dem Antrag der Koalitionsfraktio-
nen zu einer Eigenständigen Jugendpolitik. Ich wusste,
dass Sie das Deutschlandstipendium nennen. Die Ziel-
gruppe dieses Stipendiums ist so klein, dass das für mich
kein Bestandteil einer Eigenständigen Jugendpolitik ist.
Auch aufgrund der unübersehbaren Zahl an Prüfaufträ-
gen habe ich nicht die Hoffnung, dass Sie in dieser Re-
gierungszeit zu einem Ende der Prüfungen, geschweige
denn zu wirklichen Verbesserungen kommen. Dass Sie
in diesem Zusammenhang die Privilegierung des Kin-
derlärms nennen, verstehe ich überhaupt nicht. Ich bitte
Sie! Sie schließen den Jugendlärm damit explizit aus.
Das ist doch kein Beispiel für eine Eigenständige Ju-
gendpolitik. Das ist hier völlig fehl am Platz.

Es bleibt dabei: Die Tatsache, dass man eine Eigen-
ständige Jugendpolitik in den Koalitionsvertrag hinein-
geschrieben hat, bringt noch nichts. Dass Sie die Fach-
gespräche mit den Verbänden aufgenommen haben, ist
löblich, aus meiner Sicht aber selbstverständlich und
kein Bestandteil einer Eigenständigen Jugendpolitik.

Das heißt zusammenfassend: Wenn wir diesen Kin-
der- und Jugendbericht und die Kinder- und Jugendbe-
richte der letzten Jahre ernst nehmen, dann müssen wir
uns den Kindern und Jugendlichen als eigenständige Be-
völkerungsgruppe nähern. Wir müssen den Vorrang des
Kinder- und Jugendhilfegesetzes vor den anderen So-
zialgesetzbüchern – das ist der allererste und wichtigste
Schritt – endlich in der Realität durchsetzen. Wir müssen
ein Aufwachsen in Armut verhindern. Diesbezüglich ist
noch eine ganze Menge zu tun.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719514600

Das Wort hat nun Katja Dörner für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719514700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Wir haben einen sehr aufschlussreichen
Bericht mit durchaus spannenden und bemerkenswerten
Handlungsvorschlägen vorgelegt bekommen. Erstmals
hat sich ein Kinder- und Jugendbericht dezidiert mit der
gesundheitsbezogenen Prävention und der Gesundheits-
förderung von Kindern und Jugendlichen befasst, und
erstmals – auch das finde ich sehr bemerkenswert –
wurde die Situation von Kindern mit Behinderung aus-
drücklich aufgenommen und mit in den Blick genom-
men.

Mich irritiert aber sehr – das muss ich sagen –, dass
die Regierungsfraktionen zum gesamten Bericht wenig
beizutragen und nichts zu sagen haben. Sie haben sich
offensichtlich nicht mit den Handlungsvorschlägen aus-
einandergesetzt, und sie befinden es auch nicht für not-
wendig, der Regierung einen klaren Auftrag im Sinne ei-
nes Forderungskatalogs, beispielsweise in Form eines
Antrags, zum 13. Kinder- und Jugendbericht mitzuge-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])


Diese Geringschätzung eines so wichtigen Themas –
das muss ich sagen – lässt eine gewisse Fassungslosig-
keit bei mir aufkommen. Denn es ist bei weitem nicht so,
als wäre alles in Butter. Der 13. Kinder- und Jugendbe-
richt, aber auch viele Studien belegen, dass die Kinder in
Deutschland sehr unterschiedliche Chancen haben, gut
und gesund aufzuwachsen. Die Gesundheitsrisiken kon-
zentrieren sich bei ungefähr 20 Prozent der Kinder und
Jugendlichen. Betroffen sind insbesondere diejenigen
aus sozial schwächeren Familien und diejenigen mit Mi-
grationshintergrund. Diese Ungerechtigkeit darf uns doch
nicht kalt lassen.

Wir wissen auch, dass es eine Verlagerung innerhalb
des Krankheitsspektrums gegeben hat, und zwar von den
akuten zu den chronischen Erkrankungen, von den so-
matischen zu den psychischen Störungen. Die Ursachen
dafür liegen unter anderem im Bewegungsmangel, in
falscher Ernährung, aber eben auch in einem zunehmen-
den Verlust von Sicherheit und von sozialer Einbindung.
All das zeigt, wie wichtig es ist, heute konsequent zu
handeln. Man darf sich vor diesen Problemen nicht ein-
fach wegducken, wie diese Bundesregierung und die Re-
gierungsfraktionen es tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es wurde nach konkreten Vorstellungen und Forde-
rungen gefragt. Diese möchte ich hier gerne anbringen.
Wir brauchen beispielsweise ein Präventionsgesetz, das
alle Akteure zusammenbringt und in dem verbindlich
geregelt wird, wie die Zusammenarbeit und die Finan-
zierung zu gestalten sind. Wir müssen beispielsweise die
Bundesländer darin unterstützen, in den Schulen gesund-
heitsförderliche Lernbedingungen zu schaffen. Die Ver-
mittlung von Gesundheits- und Ernährungskompeten-
zen, Bewegungsangebote und eine ausgewogene Ernäh-
rung gehören unbedingt dazu.





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)


Wir haben eine Reihe ungelöster Schnittstellenpro-
bleme; sie sind eben schon angesprochen worden. Diese
müssen wir uns auch dringend vorknöpfen. Ich erwähne
als Beispiel die Komplexleistung Frühförderung. Dies
betrifft insbesondere auch die Aufsplitterung der Leis-
tungen für Kinder mit Behinderung zwischen der Ju-
gendhilfe und der Eingliederungshilfe; auch das ist hier
schon angesprochen worden. Ich freue mich, dass hier
offensichtlich ein breiter Konsens besteht, dass wir aus
kinder- und familienpolitischer Perspektive eine große
Lösung anstreben sollten. Ich bin froh, dass dieser Vor-
schlag in der Stellungnahme der Bundesregierung zum
13. Kinder- und Jugendbericht explizit gemacht wird.

Wir brauchen viel mehr Vernetzung zwischen den
Angeboten aus dem Gesundheitsbereich und der Kinder-
und Jugendhilfe. Aber das darf man von der Bundes-
ebene aus nicht immer nur von den anderen einfordern
und erwarten, sondern man muss da selber auch mit gu-
tem Beispiel vorangehen. Doch davon ist leider bei die-
ser Bundesregierung überhaupt nichts zu spüren. Bei
ganz zentralen Aufgaben der letzten Monate und Jahre
war das leider sehr eindeutig. Ich nenne als Beispiel nur
das Programm „Frühe Hilfen“ und die Familienhebam-
men. Es ist sehr offensichtlich, dass der Gesundheitsmi-
nister die Familienministerin ziemlich schnöde hat auf-
laufen lassen. Wir alle haben das Programm unterstützt;
wir alle fanden, dass das ein richtiges Programm ist. An-
gedacht war jedoch eine notwendige Vernetzung von
Gesundheits- und Familienpolitik mit einem gemeinsa-
men Konzept und strukturell verankerter Finanzierung
und nicht ein kleines Progrämmchen im Familienminis-
terium.

Hier hat – auch das muss man einmal sagen – das Ge-
sundheitsministerium offensichtlich die Zeichen der Zeit
und auch die Notwendigkeiten der Zeit nicht erkannt.
Vielleicht hat die Koalition ja auch deshalb keinen eige-
nen Antrag zum 13. Kinder- und Jugendbericht vorge-
legt. Ich finde jedenfalls, dass das ein Armutszeugnis für
die schwarz-gelbe Politik ist.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719514800

Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1719514900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Unser Antrag betont die Eigenständigkeit der
Jugendpolitik. Das setzt voraus, dass die Jugendzeit tat-
sächlich eine eigenständige Zeit ist. Das hat die Politik
nicht immer erkannt. Es gab ja eine Zeit, in der wir die
Jugend- und die Kinderpolitik als einen Politikbereich
angesehen haben. Wir wollen die Selbstständigkeit der
Jugendpolitik. Das haben Sie, Herr Bernschneider, be-

tont, und das kann man nur unterstreichen; denn die Ju-
gendzeit ist eine selbstständige Zeit. Sie hat ihren Sinn in
sich. Sie ist eine Zeit, in der der Jugendliche zwar noch
nicht Erwachsener ist, in der er aber nicht mehr Kind ist.
Die Jugendzeit ist ihre Zeit, genauso wie die Kindheit
ihre Zeit ist. Jeder Abschnitt hat seinen Sinn in sich.
Deswegen ist es richtig, eine Eigenständige Jugendpoli-
tik zu betonen. Wer dies nicht tut, nimmt die Jugend ei-
gentlich nicht ernst genug.

Natürlich wollen wir dabei nicht nur die Problem-
gruppen betrachten; das haben wir früher vielleicht zu
oft getan. Wir haben manchmal nur die Problemgruppen
gesehen, nicht aber die Gesamtheit der Jugendlichen; da-
rauf kommt es uns aber an. Wir wollen die Interessen al-
ler Jugendlichen erkennen und versuchen, sie zu vertre-
ten. Es kommt natürlich entscheidend darauf an, dass wir
den Jugendlichen die Chance geben, sich zu entwickeln.
Wir dürfen sie aber nicht bevormunden. Wir müssen sie
fördern, dürfen ihnen aber keinen Lebensentwurf vor-
schreiben.

Zugleich müssen wir es schaffen, den Jugendlichen
beizubringen – und zwar so, dass sie es in sich aufneh-
men und dafür eintreten –, dass dieser Staat auf gewissen
Voraussetzungen beruht, die man nicht einfach preisge-
ben darf und für die man kämpfen muss, die der Staat
aber, wie Böckenförde gesagt hat, nicht selber garantie-
ren kann. Die Jugendlichen und die anderen Menschen,
die in einem Staat leben, können diese Grundlagen ga-
rantieren. Geben wir diese Grundlagen auf, dann geben
wir unser ganzes Staatsgebilde auf. Dies deutlich zu ma-
chen, ist, wie ich meine, ein wichtiger Auftrag der Ju-
gendpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein Weiteres scheint mir wichtig zu sein: Es kommt
immer wieder vor, dass der Übergang von der Bildungs-
zeit zur Berufszeit schwierig wird. Die Entscheidung für
einen bestimmten Beruf erfordert Mut. Die ganz breite
Perspektive, dass einem Jugendlichen die Welt gewisser-
maßen offensteht, wird in dem Augenblick verengt, in
dem er sich entscheidet, einen bestimmten Beruf zu er-
greifen. Diese Entscheidung ist allerdings eine Zukunfts-
entscheidung, in der die Zukunft zugleich Gestalt
annimmt. Wenn sich nämlich jemand entscheidet,
Schlosser, Schreiner, Arzt oder Anwalt zu werden, dann
ist das eine Verengung, aber zugleich die Gestaltung der
Zukunft.

Wir wissen aus den Informationen, die uns vorliegen,
dass gerade diese Phase für Jugendliche schwierig ist,
weil die Entscheidung für einen bestimmten Beruf Mut
erfordert. Viele bringen diese Entscheidung nicht zu-
stande, und sie tauchen ab. Deswegen gibt es in manchen
Kommunen – nicht in allen; aber eigentlich sollte sie in
allen Kommunen eingeführt werden – eine Stelle, die
sich um die Jugendlichen kümmert, die fragt: „Was ist
eigentlich aus dem und dem, der sein Abitur oder seine
mittlere Reife gemacht hat, geworden?“ und dem nach-
geht. Dafür stellt das Ministerium Geld bereit. Es muss
nur in Anspruch genommen werden.





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)


Ich meine, es ist auch notwendig, dass wir den Ju-
gendlichen einen vernünftigen Umgang mit den Medien
zu vermitteln versuchen. Die Medien sind eine hervorra-
gende Einrichtung. Gerade für Jugendliche aus nicht
sehr wohlhabenden Familien und für Jugendliche mit
Migrationshintergrund ist der Laptop eine Möglichkeit,
an Wissen heranzukommen, an das sie sonst nicht so
schnell kommen würden. Insofern ist das Internet, sind
die Medien eine ganz ausgezeichnete Möglichkeit für
die Jugendlichen. Aber zugleich bergen sie Gefahren;
das darf man nicht übersehen. Wir müssen dafür sorgen
– das scheint mir auch Auftrag der Politik zu sein –, dass
die Jugendlichen Medienkompetenz erlangen, dass sie
nicht einfach alles in sich aufnehmen, sondern auch ler-
nen, Inhalte einzuordnen und Abstand zu nehmen; das
ist wichtig. Hier ist die Kommunalpolitik gefordert.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


Aber noch viel mehr sind an dieser Stelle die Schulen
gefordert. Dafür zu sorgen, ist ein wichtiger Auftrag der
Schule. Wir haben die Verpflichtung, den Schulen dies
mitzuteilen. Es kommt darauf an, dass gerade in den
Schulen die Medienkompetenz gestärkt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich die Jugend
für die Öffentlichkeit engagiert und sich für die Aufga-
ben in der Öffentlichkeit interessiert. Es gibt Politikver-
drossenheit – das stellen wir immer wieder fest –, und
zwar in allen Schichten. Woher kommt sie? Eine Ursa-
che mag sein, dass die Jugend nicht richtig informiert ist
bzw. vielleicht auch gar nicht richtig informiert wird,
weil die Jugendlichen, wenn sie abends den Fernseher
einschalten, zu jedem Thema diese und jene Meinung
hören und oft nur Streit wahrnehmen.

Das alles mag richtig sein, aber das bringt uns ja nicht
weiter und nützt ja nichts. Wir müssen die Jugend trotz-
dem an die Öffentlichkeit heranführen.

Hier scheint es mir wichtig zu sein, sich die Gedanken
zu machen, die Sie, Herr Bernschneider, hier vorgetra-
gen haben. Wir müssen die Frage stellen: Wie können
wir die Jugendlichen stärker teilhaben lassen und die
Partizipation der Jugendlichen an der Öffentlichkeit und
an den Aufgaben der Öffentlichkeit verstärken? Ich weiß
nicht, ob es der richtige Weg ist, dass man jetzt das
Wahlalter senken und Volksentscheide herbeiführen will.
Wenn sie nicht zur Bundestagswahl gehen, dann gehen
sie über kurz oder lang auch nicht zu Volksentscheiden.
Das scheint nicht der richtige Weg zu sein.

Ich glaube auch, dass die plebiszitären Elemente mit
etwas mehr Vorsicht diskutiert werden müssen; denn
durch die plebiszitären Elemente wird in einer Massen-
demokratie die Verantwortung ausgeschaltet. Ich kann
das Volk für eine falsche Entscheidung nicht verantwort-
lich machen, aber ich kann eine Partei oder eine Regie-
rung für eine falsche Entscheidung verantwortlich ma-
chen. Das Prinzip der Verantwortung gehört zu einer
Massendemokratie.

Ich glaube, dass die Jugendpolitik ein sehr wichtiger
Ansatz in der Politik insgesamt ist. Deshalb freue ich
mich über diese Diskussion heute. Sie soll unterstrei-
chen, wie wichtig uns dieses Anliegen ist.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719515000

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich Kollegen Stefan Schwartze für die SPD-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Stefan Schwartze (SPD):
Rede ID: ID1719515100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Die Eckpunkte der Bundesregierung für eine Eigen-
ständige Jugendpolitik liegen uns jetzt seit über einem
Jahr vor, aber erst durch unsere Kleine Anfrage ist das
Parlament darüber informiert worden, was die Bundesre-
gierung eigentlich plant.

Bis zum Ende der Legislaturperiode sollen im Dialog
mit verschiedenen Akteuren Leitlinien für eine Eigen-
ständige Jugendpolitik erarbeitet und dem Kabinett vor-
gelegt werden. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die
Absicht, Jugendpolitik wieder sichtbar zu machen.

Wenn in den letzten Jahren über Jugendpolitik disku-
tiert worden ist, dann sehr oft defizitorientiert: über Ju-
gendkriminalität, über Alkohol oder über Jugendarbeits-
losigkeit. Wer redet aber eigentlich über die große
Mehrheit der Jugendlichen, die ihren Weg geht?


(Florian Bernschneider [FDP]: Wir!)


Wer hat eigentlich über die Probleme der Jugendlichen
in Schule, Ausbildung, Studium oder Beruf diskutiert?
Wer hat darüber diskutiert, dass junge Menschen Zeit zur
Orientierung, Zeit für die eigene Entwicklung und Zeit
für das Meistern von Übergängen brauchen?

Wir brauchen ein Klima der Anerkennung und des
Respekts gegenüber den Jugendlichen, und wir müssen
wieder einen eigenständigen Politikbereich für die Ju-
gend begründen. Ziel muss eine jugendpolitische Ge-
samtstrategie sein, wie sie leider schon lange nicht mehr
sichtbar ist. Das sage ich an dieser Stelle auch ganz
selbstkritisch.

Jede neue politische Maßnahme und jedes neue Ge-
setz müssen im Hinblick auf die Gesamtstrategie über-
prüft werden. Wir brauchen einen Jugendpolitik-TÜV.


(Beifall bei der SPD – Florian Bernschneider [FDP]: Das ist aber konkret!)


Es ist wichtig, dass die Leitlinien einer Eigenständi-
gen Jugendpolitik auch ressortübergreifend diskutiert
werden. Das Jugendministerium muss zumindest eine
Koordinationsfunktion für alle Politikfelder bekommen,
die für die Jugend relevant sind. Dabei darf es keine Res-
sortstreitereien geben. Ich weiß, Ihre Kernkompetenz
von Schwarz-Gelb ist eigentlich der Streit miteinander,





Stefan Schwartze


(A) (C)



(D)(B)


aber den müssen Sie an dieser Stelle einmal unter den
Tisch fallen lassen.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Die Spritzigkeit Ihrer Rede ist beeindruckend!)


Die SPD hat die Jugendpolitik zum Thema ihres ers-
ten Parteikonvents gemacht, und wir haben im Juni einen
Leitantrag zur Eigenständigen Jugendpolitik verabschie-
det. Das war ein wichtiger und gut beachteter Impuls für
die Jugendpolitik.


(Beifall bei der SPD)


Wo bleibt aber eigentlich Ihr Impuls?


(Florian Bernschneider [FDP]: Heute im Antrag!)


Die Koalition schreibt den Antrag der Linken zum
Thema „Jugendfreundlichste Kommune“ ab.


(Florian Bernschneider [FDP]: Das ist ja eine Unverschämtheit!)


Von uns kopieren Sie den Antrag zum Erhalt des Pro-
jekts der U-18-Wahlen. Herzlichen Glückwunsch! Das
hat die SPD schon für den letzten Haushalt gefordert.
Gut, dass Sie diesen Weg jetzt mitgehen.

Gegen die einzelnen hier geforderten Maßnahmen ist
nicht viel zu sagen:


(Florian Bernschneider [FDP]: Es sind auch mehr als zwei!)


ob das die Ausschreibung eines Preises für ein Praxis-
handbuch zur kulturellen Bildung ist oder der Preis für
die jugendfreundlichste Kommune. Aber das kann doch
an dieser Stelle nicht wirklich alles sein.

Jugendpolitik muss die Interessenvertretung für alle
jungen Menschen sein.


(Florian Bernschneider [FDP]: Konkrete Vorschläge!)


Die SPD will weder eine defizit- noch eine elitefixierte
Politik.


(Florian Bernschneider [FDP]: Blumige Worte!)


Wir wollen alle befähigen, ihre Talente zu entdecken und
ihre Persönlichkeit zu entwickeln.


(Florian Bernschneider [FDP]: Sehr blumig!)


Im Bildungssystem brauchen junge Menschen auch
zweite und dritte Chancen. Man muss Fehler machen
dürfen.


(Florian Bernschneider [FDP]: Aha!)


Junge Leute brauchen diese Freiräume.


(Florian Bernschneider [FDP]: Was heißt das für uns?)


Sie brauchen Unterstützung beim Übergang von Schule
in Beruf. Sie brauchen einen Rechtsanspruch auf einen
Schulabschluss und auf eine Berufsausbildung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was tun Sie gegen die prekäre Beschäftigung, die be-
sonders oft die jungen Menschen nach der Ausbildung
trifft? Wir dürfen an dieser Stelle keinen jungen Men-
schen zurücklassen. Wir brauchen eine echte Partizipa-
tion von jungen Menschen. Wir brauchen das Wahlrecht
ab 16 Jahren auch auf der Bundesebene.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Warum nicht ab 14?)


Dazu findet sich in Ihren Anträgen kein Wort.

Eine Eigenständige Jugendpolitik ist eindeutig mehr
als das, was Sie hier auf den Tisch legen. Sie brauchen
eine Gesamtstrategie und das notwendige Geld. Beides
spielt in Ihren Anträgen leider keine Rolle.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719515200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/4754. Der Aus-
schuss empfiehlt, in Kenntnis des 13. Kinder- und Ju-
gendberichts der Bundesregierung auf Drucksache 16/
12860, unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/3178 mit dem Titel „Gesundes Aufwach-
sen von Kindern und Jugendlichen fördern“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der
Grünen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/3863 mit dem Titel „Gesundes
Aufwachsen für alle Kinder möglich machen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die
Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der
SPD angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/
10777. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
von SPD und Grünen abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/9840. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9397 mit dem
Titel „Eigenständige Jugendpolitik – Mehr Chancen für





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


junge Menschen in Deutschland“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/7846 mit dem Titel „Die jugendfreundlichste
Kommune Deutschlands“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen ange-
nommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zu Änderungen im Bereich der ge-
ringfügigen Beschäftigung

– Drucksache 17/10773 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Max
Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1719515300

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die

Fraktionen der CDU/CSU und der FDP bringen heute ei-
nen Gesetzentwurf ein, mit dem die Geringfügigkeits-
grenzen von 400 Euro auf 450 Euro und die Grenze für
das monatliche Gleitzonenentgelt ebenfalls um 50 Euro
auf 850 Euro angehoben werden sollen. Wir sind der
Meinung, dass diese Erhöhung angemessen und notwen-
dig ist, weil wir seit 2003 eine starke Lohnentwicklung
feststellen können, aber die starre Entgeltgrenze bei ge-
ringfügiger Beschäftigung bei 400 Euro geblieben ist.
Dies wollten wir ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte zunächst anmerken, dass eine Geringfü-
gigkeitsgrenze notwendig ist. SPD und Grüne haben in
ihrer Regierungszeit die Möglichkeit der geringfügigen
Beschäftigung stark eingeschränkt, um nicht zu sagen:
letztendlich ad absurdum geführt, und zwar dadurch,
dass sozialversicherungspflichtig Beschäftigte keine zu-
sätzliche geringfügige Beschäftigung als bezahlte Arbeit
aufnehmen konnten. Infolgedessen musste festgestellt
werden, dass es vermehrt Schwarzarbeit gab. Die jüngste
dazu durchgeführte Umfrage zeigt das sehr deutlich.


(Elke Ferner [SPD]: Was ist denn mit den Haushalten? 200 000 Minijobber!)


– Zu den Haushalten wurde angegeben, Frau Kollegin
Ferner, dass 10 Prozent Hausarbeiten grundsätzlich in
Schwarzarbeit verrichten.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist jetzt nicht mehr der Fall?)


– Doch, das ist sogar heute noch der Fall.


(Elke Ferner [SPD]: Ach! Guck mal an!)


18 Prozent haben erklärt, dass sie, wenn sie Arbeit anzu-
bieten hätten, diese ebenfalls in Schwarzarbeit verrich-
ten lassen.

Deshalb ist es meines Erachtens notwendig, dass wir
die Geringfügigkeitsgrenze regeln, weil es um Beschäf-
tigung unsteter Art geht, die freundlich für die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer auszugestalten ist, näm-
lich indem sie brutto für netto ausgezahlt bekommen.
Das ist der Sinn.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Altersarmut ist freundlich? Die daraus resultierende Altersarmut ist freundlich?)


Das bedeutet auch, Frau Kollegin Ferner, dass es damit
mehr Rechtstreue auf dem gesamten Arbeitsmarkt gibt.


(Elke Ferner [SPD]: Geht es Ihnen um Rechtstreue oder um Beschäftigung? Sie sind doch Sozialpolitiker! Das ist skandalös!)


– Natürlich geht es um Rechtstreue. – Darüber hinaus ist
auch mit wesentlich stärkeren Sozialversicherungsbeiträ-
gen für unsere sozialen Sicherungssysteme zu rechnen.
Die Arbeitgeber sind bei einem geringfügigen Beschäfti-
gungsverhältnis verpflichtet, eine pauschale Umlage von
30,88 Prozent abzuführen. Davon erhalten die gesetzli-
che Rentenversicherung 15 Prozent und die gesetzliche
Krankenversicherung 13 Prozent.


(Elke Ferner [SPD]: Aber wenn es regulär wäre, bekämen sie schon mehr!)


2 Prozent fließen in die Arbeitslosenversicherung. Hinzu
kommen die pauschale Lohnsteuer bzw. die Kirchen-
steuer.

Frau Kollegin Ferner, es wird immer wieder unter-
stellt, dass Arbeitgeber in ihrer Gesamtheit ein Interesse
daran haben, Aufgaben zu stückeln und möglichst viele
geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen.
Das kann nicht im Interesse eines Arbeitgebers sein.
Denn die 30,88 Prozent muss der Arbeitgeber alleine tra-
gen,


(Elke Ferner [SPD]: Haben wir 7 Millionen dumme Arbeitgeber, oder wie?)


während er bei einer sozialversicherungspflichtigen Be-
schäftigung nur den hälftigen Satz zu tragen hat, nämlich
rund 19 Prozent.

Sehr deutlich ist auch, dass es ein großes Interesse der
Bürgerinnen und Bürger an diesen Beschäftigungsver-





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


hältnissen gibt. Darüber hinaus können damit unregel-
mäßig vorkommende Arbeitsspitzen bewältigt werden.
Das hilft dem Betriebsinhaber.

Die Tankstelle, an der ich zu tanken pflege, wird vom
Betriebsinhaber und seiner Ehefrau betrieben. Sie sagen:
Wir brauchen ab und zu eine Entlastung beim Kassieren.
– Die Tankstelle ist bis 10 Uhr abends geöffnet. Deshalb
werden Schüler und Studenten eingesetzt, die froh sind,
in einem solchen Beschäftigungsverhältnis arbeiten zu
können und damit eine Zuverdienstmöglichkeit zu ha-
ben,


(Elke Ferner [SPD]: Die brauchen gar keine Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen!)


weil sie als Schüler oder Studenten nicht Vollzeit er-
werbstätig sein können. Geringfügige Beschäftigungs-
verhältnisse bieten diese Möglichkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb schlagen wir die Erhöhung vor.

Zusätzlich schlagen wir vor, dass geringfügige Be-
schäftigungsverhältnisse zukünftig generell rentenversi-
cherungspflichtig sind.


(Elke Ferner [SPD]: Da glauben Sie doch selbst nicht daran, dass das in Anspruch genommen wird!)


Wenn wir zum 1. Januar des nächsten Jahres den Bei-
tragssatz absenken, bedeutet das für den Einzelnen einen
Beitragsaufwand von 4 Prozent. Bei 450 Euro sind das
22 Euro Eigenbeitrag bei voller Leistung aus der Ren-
tenversicherung – ob im Erwerbsunfähigkeitsfall oder
im Alter. Dafür plädieren wir.

Leider ist eine Opt-out-Regelung vereinbart, die es er-
möglicht, dass man sich letztendlich wieder davon ver-
abschiedet.


(Elke Ferner [SPD]: Ja, wer wollte das denn? Wollten Sie das, Herr Kolb?)


Ich bin davon überzeugt, dass Sie das nicht tun werden.
Ich appelliere auch an unseren Koalitionspartner, noch-
mals über eine generelle Rentenversicherungspflicht
nachzudenken, weil das weniger Bürokratie in den Be-
trieben bedeuten würde


(Elke Ferner [SPD]: Da haben Sie ausnahmsweise mal recht!)


und im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die dann versichert sind, ist. Auch die Arbeitgeberver-
bände – der HDE und die Gebäudereinigerverbände –
plädieren für eine generelle Rentenversicherungspflicht
für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse.

Es wird immer insinuiert, geringfügige Beschäftigung
sei prekäre Beschäftigung.


(Elke Ferner [SPD]: Ja, ist es doch!)


Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind aber ganz
reguläre Arbeitsverhältnisse


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


mit Anspruch auf Urlaubsgeld und mit Anspruch auf
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.


(Elke Ferner [SPD]: Wo wird das denn eingehalten? Nirgends wird das eingehalten! Die Realität sieht anders aus! Sie wollen doch Gesetzestreue, haben Sie eben gesagt!)


Das ist alles gesetzlich geregelt, werte Kolleginnen und
Kollegen aus den linken Reihen dieses Hauses. Wir müs-
sen vielleicht daran arbeiten, dass dies noch stärker
durchgesetzt wird.

In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit
und bitte um Ihre Unterstützung unseres Gesetzes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719515400

Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1719515500

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Bei

diesem Gesetzentwurf zeigen Sie, meine Damen und
Herren von den Koalitionsfraktionen, Ihr wahres Ge-
sicht. Sie sind sich selbst für den gröbsten Unfug nicht
mehr zu schade.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)


– Entweder wissen Sie nicht, was Sie beschließen, oder
Sie kennen die Realität nicht. Eines von beidem muss es
sein.

Wer sich nämlich die Zahlen zu den Minijobstruktu-
ren anschaut, kann einen solchen Gesetzentwurf nicht
ernsthaft zur Abstimmung stellen. Denn anstatt prekäre
Beschäftigung abzubauen, vergrößern Sie sie noch. Sie
sollten wissen, Herr Straubinger, was unter prekärer Be-
schäftigung zu verstehen ist. Ich will deshalb die Zahlen
noch einmal ein bisschen deutlicher machen.

Minijobs sind weiblich. Mehr als zwei Drittel der Mi-
nijobs werden von Frauen ausgeübt. Wir wissen aus vie-
len Untersuchungen, dass zwei Drittel gerne mehr arbei-
ten würden, als sie es in einem Minijob oder auch in
Teilzeit tatsächlich tun. Aber insbesondere die Frauen
sind in den Minijobs gefangen. Sie verfestigen mit dieser
Minijobvariante in Verbindung mit der beitragsfreien
Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenversiche-
rung, dem Ehegattensplitting und der Steuerklasse V
auch noch die Rolle der Ehefrauen als Zuverdienerinnen
der Familie. Das kann ja wohl niemand ernsthaft bestrei-
ten, auch bei Ihnen nicht.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sabine Zimmermann [DIE LINKE])


Über 5 Millionen Menschen haben nur einen Minijob,
sonst keinen. Wenn man sich anschaut, welche Renten-
ansprüche daraus entstehen – darauf komme ich noch
zurück – und dass gerade in der Gruppe der 40- bis
55-Jährigen 1,4 Millionen Menschen nur einem Minijob
– keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung –





Elke Ferner


(A) (C)



(D)(B)


nachgehen, dann kann man sagen, dass heute die Grund-
lagen für die Altersarmut von morgen gelegt werden. Sie
verschärfen dieses Problem mit Ihrem Gesetzentwurf
noch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Zimmermann [DIE LINKE])


Sie erhöhen die Einkommensgrenzen, bis zu denen
Menschen ohne eigenständige soziale Absicherung ar-
beiten. Das ist absurd, und das ist vor dem Hintergrund
der Debatte, die Frau von der Leyen eben in Bezug auf
den Rentenversicherungsbeitrag noch einmal geführt
hat, auch scheinheilig. Frau von der Leyen beklagt in
Sonntagsreden die Altersarmut, insbesondere die von
Frauen, und werktags lässt sie ihr Ministerium eine For-
mulierungshilfe für einen Gesetzentwurf schreiben wie
den, den Sie heute einbringen, mit dem die Altersarmut
noch vergrößert wird. Die Wahrheit ist: Sie erhöhen die
ungeschützte Beschäftigung, statt sie zu verringern, und
verringern die geschützte Beschäftigung, statt sie zu er-
höhen. Das ist die Folge dessen, was Sie machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Herr Straubinger, Sie haben zu Recht auf die gesetzli-
chen Regelungen verwiesen. Aber in Wahrheit – das wis-
sen wir alle – sind die ungeschützten Beschäftigungsver-
hältnisse, also Minijobs und geringfügige Beschäftigung
– das suggeriert der Name schon –, in der Realität Ar-
beitsverhältnisse nicht zweiter, sondern dritter Klasse.
Die Beschäftigten wissen häufig nicht um ihre Rechte.
Sie wissen nicht, dass sie einen Anspruch auf Lohnfort-
zahlung im Krankheitsfall haben. Sie wissen in der Regel
nicht um ihr Recht auf bezahlten Urlaub. Und sie wissen
auch nicht um ihr Recht auf gleiche Bezahlung bei glei-
cher Arbeit. Die Arbeitgeber enthalten ihnen diese
Rechte vor; denn nur so lohnt sich das für die Arbeitgeber,
Herr Straubinger. Ich möchte den Arbeitgeber kennenler-
nen, der freiwillig 30 Prozent zahlt, wenn er nur 20 Pro-
zent Sozialversicherungsabgaben zahlen muss. Die Ar-
beitgeber sparen an anderen Stellen. Sie zahlen zwar
28 Prozent Sozialabgaben plus Pauschalsteuer, sparen
das aber ein, indem sie den Minijobberinnen und Mini-
jobbern das vorenthalten, was ihnen gesetzlich zusteht.
Sie, Herr Straubinger, haben eben gesagt, dass Sie Geset-
zestreue einfordern. Da frage ich mich: Wo enthält denn
Ihr Gesetzentwurf Maßnahmen, die dazu dienen, den
Missbrauch, der Tag für Tag bei den Minijobs stattfindet,
zu bekämpfen?


(Beifall bei der SPD)


Die Minijobberinnen werden in der Regel schlechter
bezahlt. Zwei Drittel aller Minijobberinnen arbeiten für
Stundenlöhne in Höhe von weniger als 8,50 Euro. Sie er-
halten häufig weniger Geld als die Teilzeitkollegin oder
der Vollzeitkollege, obwohl sie die gleiche Arbeit ma-
chen. Sie erhalten kein Geld, wenn sie krank werden,
und auch keinen bezahlten Urlaub.

Es gibt auch ganz Schlaue, die die Gesetze formal
einhalten; das hören wir ja immer wieder. Zuerst wird
eine niedrige Stundenzahl vereinbart. Dann gibt es regel-

mäßig Mehrarbeit. Wenn die Menschen dann krank wer-
den oder bezahlten Urlaub machen wollen, dann werden
die Lohnersatzleistung und das Urlaubsgeld auf Basis
der geringen Stundenzahl berechnet. Das hat doch nichts
mit Gesetzestreue zu tun. Das kann auch niemand ernst-
haft wollen. So kann man auf keinen Fall sozialversiche-
rungspflichtige und existenzsichernde Beschäftigung
schaffen. Vor diesem Hintergrund kann ich, ehrlich ge-
sagt, nicht verstehen, warum Sie einen solchen Vor-
schlag machen, der vor allem zulasten der Frauen geht.
Von der FDP erwartet man eigentlich nichts anderes.
Aber dass die Union einen solchen Gesetzentwurf unter-
stützt, ist mir ein Rätsel.

Herr Straubinger, Sie begründen diesen groben Unfug
mit dem Hinweis, dass es nun endlich einen Inflations-
ausgleich geben muss. Das ist schon sehr bemerkens-
wert. Ich finde das, was Sie da machen, ziemlich schräg.
Sie erdreisten sich sogar, das in die Begründung des Ge-
setzentwurfs aufzunehmen. Einen Inflationsausgleich
bekommen die Beschäftigten, um die es hier geht, nicht
dadurch, dass man die Grenzen anhebt. Das bringt noch
keinen Cent mehr in die Taschen. Eigentlich müsste ein
Inflationsausgleich bzw. eine Lohn- oder Gehaltserhö-
hung parallel zur Entwicklung bei den regulär Beschäf-
tigten erfolgen.


(Zuruf des Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU])


Herr Weiß, Sie suggerieren den Menschen: Weil wir
die Grenze auf 450 Euro erhöhen, bekommt ihr ab 1. Ja-
nuar nächsten Jahres statt 400 Euro 450 Euro. – Das
stimmt aber nicht. Wenn die Arbeitszeit gleichbleibt,
gibt es nicht 50 Euro mehr. Was Sie hier machen, ist
mehr als schräg. Das Schlimmste ist, dass Sie mehr
Menschen in ungeschützte Beschäftigung drängen, als
wir heute ohnehin schon haben.

Schauen wir uns einmal an, wie sich das Ganze aus-
wirkt. Wer heute 450 Euro brutto verdient, bekommt
nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträ-
gen in der Steuerklasse V 314 Euro netto; nach der
Gleitzonenvariante sind es ungefähr 350 Euro. Jetzt
brauche ich doch nicht lange zu raten, wie sich Men-
schen, die jeden Cent zweimal umdrehen müssen, ver-
halten werden, damit ihnen 450 Euro netto ausbezahlt
werden können. Denn die Ehefrau ist beim Ehemann
beitragsfrei mitversichert, die hohen Steuern in der Steu-
erklasse V fallen auch nicht an, und der Splittingvorteil
erhöht sich sogar noch, welch Wunder. Man muss schon
sehr willensstark sein, wenn man diesen Verlockungen
widersteht. Es werden viele in dem Einkommensseg-
ment die Minijobvariante wählen und damit aus der So-
zialversicherung ausscheiden; denn diese Option besteht
immer noch. Das scheint Ihrem Kalkül zu entsprechen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich muss sagen: Dieser Gesetzentwurf ist das Papier
nicht wert, auf dem er steht. Ich hoffe, dass er nicht be-
schlossen wird. Am besten würden Sie, Herr Straubinger,
diesen Gesetzentwurf einfach zurückziehen; denn er wird
nicht gebraucht.





Elke Ferner


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD – Christel Humme [SPD]: Verbrennen! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Das werden wir nicht machen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719515600

Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1719515700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mi-

nijobs – das ist der Grund, warum wir als Koalitionsfrak-
tionen diesen Gesetzentwurf hier vorlegen – sind ein Teil
des erfolgreichen deutschen Arbeitsmarkts;


(Zurufe von der SPD: Oh!)


sie werden von den Menschen nicht nur gebraucht, son-
dern sie sind auch beliebt – und das hat Gründe.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie leisten einen positiven Beitrag zur Bekämpfung
der Schwarzarbeit – Kollege Straubinger hat es ausge-
führt –, gerade in den privaten Haushalten. Frau Kolle-
gin Ferner, Sie haben sich eben nicht vorstellen können,
warum auch Unternehmen Interesse an Minijobs haben.
Der Kollege Straubinger hat ein Beispiel aus der Praxis
gebracht, nämlich das des Tankstellenbetreibers; denn
Unternehmen brauchen zum Beispiel Flexibilität.


(Elke Ferner [SPD]: Die können sie auch mit regulärer Beschäftigung haben, wenn die Beschäftigungsverhältnisse gesetzlich geschützt sind!)


Vor allem leisten Minijobs einen positiven Beitrag für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem Ar-
beitsmarkt; denn sie ermöglichen ganz vielen unter-
schiedlichen Menschen in diesem Land, die aus den un-
terschiedlichsten Altersgruppen kommen und sich in den
unterschiedlichsten Lebenssituationen befinden, sich un-
kompliziert etwas dazuzuverdienen, und das ist richtig.
Deshalb ist es auch richtig, dass wir uns zu den Minijobs
bekennen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Op-
position.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


In Minijobs ist die vielfältigste Gruppe beschäftigt,
die wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben. Da ist
die Studentin, die sich neben ihrem Studium mit Kell-
nern etwas dazuverdient; da ist der Feuerwehrmann, der
am Wochenende gerne beim Cateringservice ein paar
Stunden aushilft; da ist die Seniorin, die noch bei einer
Nachbarin ein paar Stunden im Haushalt tätig sein will.
Das sind nur drei Beispiele, die ich aus meinem persönli-
chen Bekanntenkreis nennen will. All diese Menschen
üben Minijobs aus. Sie können die Minijobs nicht auf
wenige Fälle, wo wir möglicherweise Probleme haben,
reduzieren. Das wird diesem Instrument einfach nicht
gerecht. Es gibt 7 Millionen Minijobber in diesem Land,
Frau Kollegin Ferner.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Weil Minijobs ein beliebter Teil des erfolgreichen
deutschen Arbeitsmarkts sind, ist es auch richtig, dass
wir den Minijobbern zum ersten Mal seit zehn Jahren ei-
nen Inflationsausgleich ermöglichen. Immerhin ein Drit-
tel der Minijobber arbeitet an der Grenze zu 400 Euro.


(Elke Ferner [SPD]: Die können auch weniger Stunden machen! Das wäre auch ein Inflationsausgleich!)


Es gibt viele, denen der Arbeitgeber gerne eine Gehalts-
erhöhung geben würde. Früher waren die Minijobs sogar
indexiert. Da ist die Grenze automatisch gestiegen. Es ist
richtig, dass wir jetzt, nach zehn Jahren, eine Erhöhung
vornehmen und die Grenze von 400 auf 450 Euro anhe-
ben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist auch richtig, dass wir im Bereich der Renten-
versicherung ein System von Opt-out einführen;


(Elke Ferner [SPD]: Ach, Sie waren das!)


denn wir reden darüber, bei Menschen mehr Bewusst-
sein zu schaffen, damit sie sich mehr Gedanken über ihre
rentenrechtliche Absicherung machen. Auch wenn Mini-
jobs oft nur für eine kurze Zeit im Leben das Instrument
der Wahl sind, ist es richtig, dass derjenige, der sich
keine Gedanken macht, automatisch die vollen Beiträge
in die Rentenversicherung einzahlt und dadurch Vorteile
erwirbt. Gleichzeitig muss niemand, der das nicht will,
weil er etwa als Student noch nichts einzahlen will, mehr
einzahlen als heute. Deshalb ist Opt-out eine gute Lö-
sung, der auch Sie eigentlich zustimmen könnten.


(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Sie wissen doch genau, dass die Studierenden nicht sozialversicherungspflichtig sind!)


Ich will in der zweiten Hälfte meiner Redezeit,


(Elke Ferner [SPD]: Am besten ist es, Sie hören auf!)


weil die Argumente, warum man das dringend machen
muss, eigentlich auf der Hand liegen, darauf eingehen,
was Sie den Minijobs vorwerfen. Was haben wir eben
wieder gehört? Es würde eine Verdrängung sozialversi-
cherungspflichtiger Beschäftigung durch die Minijobs
stattfinden.


(Elke Ferner [SPD]: Ja! – Caren Marks [SPD]: Natürlich!)


Da hilft es, sich einfach einmal die Fakten anzuschauen.
Ich zitiere jetzt die offiziellen Zahlen der Minijobzen-
trale, also der zuständigen Behörde. Drei Viertel der Ar-
beitgeber, die Minijobber beschäftigen, beschäftigen nur
bis maximal drei Minijobber.


(Elke Ferner [SPD]: Wie viele beschäftigen diese Arbeitgeber denn insgesamt?)


Wenn Sie eine Vollzeitstelle durch Minijobs ersetzen
wollten – und das wird immer wieder behauptet –,





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


bräuchten Sie schon vier. Das kann schon einmal nicht
aufgehen.


(Abg. Sabine Zimmermann [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage!)


– Ich antworte gerne auf eine Zwischenfrage.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719515800

Sie sind schon zu einer Zwischenfrage eingeladen,

Frau Kollegin Zimmermann.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1719515900

Eine Frage von der Kollegin Zimmermann, der Aus-

schussvorsitzenden, immer gern.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Gute Ausschussvorsitzende!)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719516000

Danke, Herr Vogel; danke, Herr Präsident.

Herr Vogel, stimmen Sie mir zu oder ist Ihnen be-
kannt – fragen wir lieber so –, dass es gerade im Handel
durch die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten einen
Verdrängungseffekt bei Vollzeitarbeitsplätzen gibt und
dass dort aus Vollzeitarbeitsplätzen ein, zwei oder drei
Minijobs entstanden sind? Ist Ihnen das bekannt?


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1719516100

Mir sind die Zahlen im Handel sehr gut bekannt, denn

auch sie kann man bei der Minijobzentrale erfragen. Da-
bei kommt Folgendes heraus: Erstens. Für den gesamten
Arbeitsmarkt gilt, was ich eben gesagt habe: Drei Viertel
der Arbeitgeber beschäftigen gar nicht so viele Minijob-
ber, dass sie auch nur eine Vollzeitstelle ersetzen könn-
ten.


(Elke Ferner [SPD]: Wie viele andere beschäftigen die denn?)


– Ich komme gleich zum Handel.

Zweitens. Die Zahl der sozialversicherungspflichti-
gen Beschäftigungen, die ja in diesen Monaten in
Deutschland Rekordwerte erreicht, wächst erheblich
stärker als die Zahl der Minijobber in Deutschland insge-
samt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das heißt, offensichtlich findet hier keine Ersetzung
statt.


(Elke Ferner [SPD]: Das heißt überhaupt nichts!)


Das führt dazu, dass der Anteil von Minijobs im Verhält-
nis zu sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen
seit 2003, seitdem die rot-grüne Regierung die heutige
Regelung eingeführt hat, gar nicht zugenommen hat.


(Elke Ferner [SPD]: Das war der Vermittlungsausschuss, werter Herr Kollege! Sie wissen das wahrscheinlich nicht!)


Es sind also im Verhältnis nicht mehr Minijobs entstan-
den, sondern eine Zunahme erfolgte zugunsten der so-

zialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Das, Frau
Kollegin Zimmermann, gilt genauso für den Handel und
übrigens ebenso für das Gaststättengewerbe. Eine Erset-
zung müsste ja dazu führen, dass der Anteil der Minijob-
ber im Verhältnis zu den sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten zunimmt.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist eine Milchbubenrechnung, die Sie hier vormachen!)


Das Gegenteil ist der Fall, Frau Kollegin Zimmermann.
Ersetzung sieht bei aller Liebe anders aus. Sie ist einfach
nicht festzustellen, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Milchbubenrechnung!)


Kommen wir zu dem zweiten Argument, das ich im-
mer wieder höre, Minijobs würden bedeuten, die Men-
schen in den Niedriglohn abzuschieben.


(Elke Ferner [SPD]: Genau! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 84 Prozent!)


Jetzt muss man berücksichtigen, dass den Minijob aus
Sicht des Arbeitnehmers ja gerade ausmacht, dass er sein
Gehalt brutto für netto bekommen kann. Das heißt, hier
ist es nicht fair, das Bruttogehalt zu vergleichen;


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


vielmehr müssen wir uns das Nettogehalt anschauen.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist ja noch mehr Milchbubenrechnung!)


Dann schauen wir uns einmal das durchschnittliche
Nettogehalt von Minijobbern an. Wir sind uns, glaube
ich, alle einig: Minijobber sind in der Regel nicht Rake-
tenwissenschaftler;


(Elke Ferner [SPD]: Es ist unfassbar, was Sie erzählen!)


vielmehr handelt es sich natürlich eher um einfache Tä-
tigkeiten. Trotzdem liegt das Nettodurchschnittsentgelt


(Elke Ferner [SPD]: Sie sollten sich mal dem Erwerbsleben stellen!)


von Minijobbern über der Niedriglohngrenze, auf netto
bezogen, sogar 2 Euro darüber. Das heißt, im Durch-
schnitt wird bei einem Minijob netto deutlich über dem
Niedriglohnsektor verdient. Dass also die Minijobs per
se Niedriglohn bedeuten würden, kann am Ende, netto
für den Beschäftigten in der Tasche, auch nicht stimmen,
und Sie sollten hier keine Unwahrheiten verbreiten, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Vielleicht sollten Sie sich einmal ein paar Jahre dem richtigen Erwerbsleben stellen, bevor Sie hier so einen Müll erzählen!)


Kommen wir zum letzten Aspekt, einem ernsten As-
pekt, über den wir uns Gedanken machen sollten. Sie ha-
ben nämlich die Frage angesprochen, Frau Kollegin
Ferner: Wie sorgen wir dafür, dass Frauen, die nur einen
Minijob machen und gern mehr arbeiten wollen, aus
dem Minijob herauskommen können? – Ich glaube, das





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


ist ein Ziel, das wir alle teilen. Jetzt muss man natürlich
nur – –


(Elke Ferner [SPD]: Da erhöhen Sie erst mal die Grenzen!)


– Hören Sie doch kurz zu, wenn wir uns ernsthaft da-
rüber unterhalten wollen; vielleicht folgen Sie dann auch
meinem Gedankengang ein wenig.


(Elke Ferner [SPD]: Ich kann gleichzeitig hören und reden! Ich weiß nicht, ob Sie das können!)


Jetzt muss man sich in meinen Augen auch einmal an-
schauen: Liegt das wirklich an den Minijobs, oder hat
das andere Ursachen? In diesem Zusammenhang muss
man sich erst einmal vergegenwärtigen, dass ausweislich
aller Umfragen drei Viertel aller Minijobber gar nichts
anderes als einen Minijob machen wollen. In der Gruppe
derjenigen, die gern mehr arbeiten wollen, sind in der
Tat viele Frauen. Ich glaube, Sie haben die wahren
Gründe dafür auch benannt. Natürlich ist die Steuer-
klasse V hier ein Hindernis; natürlich geht es um die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf und um Betreuung.
Deshalb ist es richtig, dass wir uns dem Ausbau von Be-
treuung widmen. Deshalb würde ich auch sagen: Lassen
Sie uns darüber diskutieren, ob die Steuerklasse V nicht
verzichtbar ist.


(Elke Ferner [SPD]: So wie das Ehegattensplitting!)


Nur hat dies mit dem Minijob an sich überhaupt
nichts zu tun. Der Minijob ist nicht die Ursache dieser
Probleme. Deshalb den Minijob jetzt kaputtmachen zu
wollen oder ihn zu diffamieren, das ist ungefähr so sinn-
voll, wie wenn Sie, falls Sie einen Motorschaden am
Auto haben und sich nicht leisten können, den Motor zu
reparieren, einfach das Getriebe austauschen, weil das
Auto nicht mehr fährt.


(Elke Ferner [SPD]: Sie machen den Motorschaden noch größer! Das ist doch der Punkt!)


Das bringt nichts. Das bringt Ihrem Auto nichts,


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und das löst auch das Problem nicht. Deshalb ist es auch
falsch, hier die Minijobs anzugehen, wenn die Ursachen
der Probleme in Wahrheit woanders liegen. Es ist übri-
gens vor allem auch unfair gegenüber denjenigen, die
eben gar nicht mehr wollen als einen Minijob. Die
größte Alterskohorte derjenigen, die einen Minijob ma-
chen, liegt im Alter zwischen 20 und 25 Jahren. Das gilt
für Männer wie für Frauen; das sind die Studenten. All
denen würden Sie einen Bärendienst erweisen, wenn Sie
hier den Minijob diffamieren.


(Elke Ferner [SPD]: Die brauchen den doch überhaupt nicht, weil sie nicht sozialversicherungspflichtig sind!)


Ich kann nur sagen: Die Kritikpunkte – –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719516200

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1719516300

Ich komme zum Schluss. Der letzte Satz: Die Kritik-

punkte am Minijob halten einer Faktenüberprüfung nicht
stand. Ich freue mich, wenn wir das in der zweiten und
dritten Lesung noch vertiefen können. Auf der bisheri-
gen Grundlage kann ich nur sagen: Dann sollte man den
Minijobs aber auch nicht über die Inflation langsam die
Luft abschnüren, sondern muss eine Anhebung der
Grenze vornehmen, so wie wir das hier machen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, und deshalb ist das auch
richtig für die Minijobber in diesem Land.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Gott sei Dank regieren Sie nicht mehr lange!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719516400

Das Wort hat nun Sabine Zimmermann für die Frak-

tion Die Linke.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sag ihnen mal die Wahrheit!)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719516500

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Ich darf Ihnen von der Koalition erst einmal
ein ganz großes Kompliment aussprechen: Sie schaffen
es immer wieder – Herr Kober lächelt schon –, den Men-
schen im Lande Ihre Arbeitsmarktpolitik unter dem La-
bel „hohe Zuverlässigkeit und hohe Konstanz“ zu ver-
kaufen. Ich will es Ihnen auch erklären. Konstant und
zuverlässig können die Beschäftigten im Niedriglohn-
sektor erwarten, dass sie von Ihrer Arbeitsmarktpolitik
keine Verbesserungen bekommen werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Konstant und zuverlässig dürfen sie damit rechnen, dass
Sie diesen Niedriglohnsektor weiter ausbauen werden.
Das beweisen Sie heute mit Ihrem Gesetzentwurf einmal
mehr.


(Beifall bei der LINKEN)


Durch die Anhebung der Entgeltgrenze bei geringfü-
gig entlohnter Beschäftigung auf 450 Euro bauen Sie
den Niedriglohnsektor weiter aus – das ist heute des Öf-
teren schon gesagt worden – und setzen den Weg fort,
den die SPD unter Kanzler Schröder mit der Deregulie-
rung der Minijobs 2003 begonnen hatte. In der Begrün-
dung zum Gesetzentwurf wird dargelegt, dass noch nie
so viele Menschen in Beschäftigung waren wie heute.
Dies ist heute ja schon öfter von Ihrer Seite gefallen.

Sie verschweigen aber, dass noch nie so viele Men-
schen in prekärer Arbeit wie heute waren. Wir müssen
doch feststellen, dass in den letzten Jahren der Niedrig-
lohnbereich stark angewachsen ist. Dazu geht die sozial-





Sabine Zimmermann


(A) (C)



(D)(B)


versicherungspflichtige Beschäftigung in Vollzeit be-
ständig zurück und wird von Teilzeit und Minijobs
abgelöst. Immer mehr Menschen finden keine existenz-
sichernde Arbeit, und das ist der Skandal, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der LINKEN)


Dies ist ein spezifisch deutsches Problem. In keinem
anderen europäischen Land ist der Niedriglohnbereich
so rasant gewachsen wie bei uns. Deutschland ist in Eu-
ropa zum Motor der Niedriglohnbeschäftigung gewor-
den. Dies wollen Sie jetzt auch noch über den Fiskalpakt
zum Exportschlager für Europa machen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Damit die Menschen mehr Arbeit haben, Frau Zimmermann!)


Das sind die Fakten, meine Damen und Herren. Das soll-
ten Sie zur Kenntnis nehmen, und darüber sollten Sie
vielleicht einmal nachdenken.


(Beifall bei der LINKEN)


Viele Arbeitgeber haben in den letzten Jahren regu-
läre Beschäftigung in Minijobs umgewandelt, um flexi-
bel zu bleiben und Geld einzusparen. In manchen Berei-
chen ist die geringfügige Beschäftigung kurz davor, zur
Regelbeschäftigung zu werden, zum Beispiel in der Gas-
tronomie, Herr Vogel.

Lieber Herr Vogel, sosehr ich Sie als Kollege schätze,
so wenig – das muss ich Ihnen sagen – kann ich Ihre ar-
beitsmarktpolitischen Überlegungen nachvollziehen. In
der vergangenen Woche haben Sie in den Medien da-
rüber gesprochen, dass Minijobs eine beliebte Möglich-
keit seien, sich etwas dazuzuverdienen. Vorhin haben Sie
das ja hier auch gesagt. Ich sage Ihnen: Die Leute wollen
aber keine Minimalbeschäftigung zu Hungerlöhnen.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Drei Viertel der Minijobber schon!)


Sie wollen eine Arbeit, von der sie ihre Familie ernähren
können und von der sie auch noch etwas für ihre Rente
ansparen können.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Elke Ferner [SPD])


Darüber sollten Sie nachdenken.

Hinzu kommt, dass Sie die Anhebung der Entgelt-
grenze der Minijobs als eine Art Lohnerhöhung darstel-
len – Frau Kollegin Ferner ist schon darauf eingegan-
gen –, da Sie anscheinend davon ausgehen, dass die
Arbeitgeber sogleich die 50 Euro mal eben obendrauf
aufschlagen. Hätten Sie sich aber vorher einmal sach-
kundig gemacht, wüssten Sie, dass ein Minijobber im
Schnitt nur 260 Euro verdient, nein, bekommt – er ver-
dient das ja nicht, er bekommt es – und eben nicht die
400 Euro. Somit ist Ihre Argumentation doch ein totaler
Unsinn, oder man muss feststellen, dass Sie die Öffent-
lichkeit bewusst täuschen wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Von einem besonderen Zynismus zeugt die Begrün-
dung des Gesetzentwurfes, dass die nun einzuführende
Rentenversicherungspflicht das Bewusstsein der gering-
fügig Beschäftigten für ihre Alterssicherung stärken
solle. Glauben Sie denn wirklich, dass die Menschen
nicht wissen, dass sie in die Altersarmut reingehen,
wenn sie einen Minijob haben, und dass sie damit auch
gar keine nennenswerten Rentenansprüche erarbeiten?
Da ist doch Altersarmut vorprogrammiert.

Meine Damen und Herren der Regierung, ich sage Ih-
nen: Verlassen Sie endlich diesen Irrweg der Niedrig-
lohnpolitik, tun Sie etwas für gute Arbeit, für einen gu-
ten Lohn, damit die Menschen auch etwas für ihre Rente
ansparen können.

In diesem Sinne: Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719516600

Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719516700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die nega-

tiven Auswirkungen von Minijobs sind allenthalben be-
kannt, außer bei Herrn Vogel natürlich.


(Elke Ferner [SPD]: Der hat auch noch nie richtig gearbeitet!)


Die Stichworte sind genannt worden: Niedriglohnfalle;
84 Prozent aller Minijobberinnen arbeiten im Niedrig-
lohnbereich; berufliche Sackgasse für die Frauen; Ein-
nahmeverluste für die Sozialversicherung; Altersarmut.
Mit anderen Worten: Die Ausweitung der Minijobs ist
eine Politik, die in die völlig falsche Richtung geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Vogel, daran ändert das Feigenblatt der Opt-out-
Regelung wirklich gar nichts, und zwar deshalb nicht,
weil diese Regelung nicht wirkt. Sie ist unwirksam.
Wenn Sie einmal die Begründung in Ihrem eigenen Ge-
setzentwurf lesen, dann stellen Sie das fest. Sie selber
gehen davon aus, dass sich 90 Prozent aller Minijobber
und Minijobberinnen von der Pflicht befreien lassen, in
die Rentenversicherung einzuzahlen. Das heißt, für ei-
nen minimalen Effekt von zehn Prozent erzeugen Sie ei-
nen maximalen bürokratischen Aufwand


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das ist doch Quatsch, Frau Kollegin!)


für die Betroffenen selbst.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Ändert sich nichts!)


Sie selber gehen davon aus, dass ein Antrag auf Opt-
out bei dem Betroffenen 40 Minuten Zeit in Anspruch
nimmt, bei dem Betrieb 15 Minuten. Sie selber gehen
davon aus, dass 3 150 000 Opt-out-Anträge gestellt wer-
den. 3 150 000 Anträge verursachen einen Zeitaufwand
von 787 500 Stunden. Das entspricht 22 Millionen Euro
Lohnkosten in den Betrieben.





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)



(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können ja Minijobber machen!)


Meine Damen und Herren, das ist kafkaesk. Ich fordere
Sie auf: Stoppen Sie diesen Wahnsinn!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich frage mich wirklich, wo in dieser Debatte eigent-
lich die Arbeitsministerin ist.


(Elke Ferner [SPD]: Duckt sich weg!)


Noch vor einem Jahr hat die Arbeitsministerin der Wo-
chenzeitung Die Zeit ins Blatt diktiert – ich zitiere –:

... ich bin eine entschiedene Gegnerin der Auswei-
tung von Minijobs.


(Elke Ferner [SPD]: Die erzählt viel, wenn der Tag lang ist!)


Aus dieser entschiedenen Gegnerin ist jetzt aber eine
Handlangerin geworden. Frau Ferner hat schon darauf
hingewiesen: Dieser Gesetzentwurf ist im Bundes-
arbeitsministerium entstanden.


(Elke Ferner [SPD]: So ist es! – Anette Kramme [SPD]: Paranoid!)


Die Autorin dieses Gesetzentwurfs ist diese Gegnerin
der Ausweitung von Minijobs. Frau Ministerin von der
Leyen warnt intensiv vor Altersarmut und tut so, als
wollte sie die Altersarmut bekämpfen. Die Ausweitung
von Minijobs ist die Ausweitung von Altersarmut, meine
Damen und Herren,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


insbesondere die Ausweitung der Altersarmut von
Frauen.

Nun vergeht zumindest gefühlt kein einziger Tag, an
dem diese Bundesarbeitsministerin nicht den Eindruck
erweckt, als sei sie die Speerspitze der Frauenbewegung.
Ganz besonders groß ist ihr Engagement, wenn es um
den Zuständigkeitsbereich ihrer Kabinettskollegin geht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Zur Frauenquote, zum Betreuungsgeld, zur Altersarmut
von Frauen – Frau von der Leyen hat eine dezidierte
Auffassung, und damit hält sie auch nicht hinterm Berg.
Sie weiß wirklich alles, und im Zweifel weiß sie es auch
besser, zumindest besser als die Frauenministerin. Nun
werden Sie sagen: Das ist keine Kunst.


(Elke Ferner [SPD]: Ist es auch nicht!)


Aber, meine Damen und Herren, wenn es um ihre origi-
näre Zuständigkeit geht, dann lässt diese Speerspitze der
Frauenbewegung die Frauen im Stich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Elke Ferner [SPD]: Nein, das ist keine Speerspitze! Das ist zu viel der Ehre!)


Aus der Vorkämpferin für Frauenrechte wird dann ein
Duckmäuschen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, Sie kennen wahrscheinlich
alle die von breiten Kreisen getragene Kampagne „Nicht
meine Ministerin“. Diese Kampagne richtet sich noch
gegen Frauenministerin Schröder. Frau von der Leyen
muss aufpassen, dass nicht auch sie bald Gegenstand
dieser Kampagne wird.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719516800

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist

Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1719516900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!


(Anette Kramme [SPD]: Jetzt kommt die Speerspitze der Männerbewegung! – Elke Ferner [SPD]: Der Arbeiterbewegung!)


Heute Nachmittag muss man sich ernsthafte Sorgen um
unsere Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion
und aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen machen.


(Elke Ferner [SPD]: Brauchen Sie gar nicht, Herr Weiß! Überhaupt nicht! – Gegenruf von der CDU/CSU: Doch, das tun wir!)


Wenn ich die Debattenbeiträge des heutigen Nachmit-
tags Revue passieren lasse, frage ich mich: Wer hat Re-
gierungsverantwortung getragen, als in das Gesetz ge-
schrieben wurde: „Bei einer Nachhaltigkeitsrücklage
von 1,5 Monatsausgaben muss automatisch der Renten-
versicherungsbeitrag gesenkt werden“?


(Elke Ferner [SPD]: Sind wir bei Minijobs oder bei welcher Debatte? Ist Ihnen Ihr eigener Gesetzentwurf zu peinlich?)


Welcher Partei gehörte jener Finanzminister an, der
schon einmal zur Haushaltskonsolidierung befristet den
allgemeinen Bundeszuschuss zur Rente abgesenkt hat?
Wer hat am 1. April 2003 dieses Land regiert, als das
heute gültige Minijobgesetz in Kraft getreten ist?


(Elke Ferner [SPD]: Wer war im Vermittlungsausschuss und hat das beschlossen?)


– Es war nicht die CDU/CSU. Es war nicht die FDP. Es
waren auch nicht die Linken. Wer hat denn unser Land
in dieser Zeit regiert? Es war Rot-Grün!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD)


Alles, was Rot-Grün in der heutigen Debatte als Konse-
quenz der eigenen Gesetzgebung beklagt, kann sie nicht
bei der heutigen Regierungsbank abladen. Das muss sie
bei sich selber abladen.


(Anette Kramme [SPD]: Waren Sie auf der Schauspielschule?)






Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


Alle Finger, mit denen auf diese Regierungsbank gezeigt
wird, zeigen automatisch auf euch, liebe Kolleginnen
und Kollegen von Rot-Grün, zurück.


(Elke Ferner [SPD]: Ich hätte mir eine andere Schauspielschule ausgesucht als die von Frau von der Leyen!)


Genauso ist es bei der Grenze von 400 Euro bei einem
Minijob.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war Laumann! Ich weiß es noch genau! – Elke Ferner [SPD]: Da war Seehofer im Vermittlungsausschuss!)


Der Kollege Straubinger hat zu Recht vorgetragen:
Wenn heute bei den Minijobs eine Grenze von 450 Euro
vorgeschlagen wird, dann ist das exakt die Nachholung
der Lohnsteigerung, der Inflation, der Preissteigerung, in
den letzten zehn Jahren, nichts anderes.


(Elke Ferner [SPD]: Wie? Haben die Arbeitgeber denen die Löhne vorenthalten?)


Wenn heute 450 Euro falsch sind, dann waren 400 Euro
im Jahr 2003 erst recht falsch. Das ist einfache Mathe-
matik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anette Kramme [SPD]: Er hat den Gesetzentwurf nicht gelesen!)


Deswegen ist alle Kritik, die Sie hier an dem Betrag vor-
tragen, völlig falsch und völlig fehlgeleitet. Es fällt auf
Sie zurück.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Aber genau so schlimm!)


Es gibt einen wichtigen Punkt, den ich herausheben will.
Es ist schon eine entscheidende Frage, ob die Masse der
geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ohne Ansprü-
che an die Sozialversicherung bleibt oder nicht. Deswe-
gen ist es ein entscheidender Schritt, den wir heute vor-
schlagen,


(Zurufe von der SPD: Oh!)


dass künftig auch eine Minijobberin oder ein Minijobber
in die Rentenversicherung einzahlt und damit Renten-
versicherungsansprüche begründet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Sagen Sie noch mal, wie viel Rente es nach 35 Jahren gibt! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie selber gehen davon aus, dass die Leute das nicht machen!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn man Al-
tersarmut verhindern will, dann muss der Grundsatz gel-
ten: Ab dem ersten Euro, der verdient wird, Beiträge in
die Rentenversicherung!


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig, aber das muss man dann machen!)


Den Grundsatz setzen wir heute durch.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Natürlich, aus einem geringfügigen Beschäftigungs-
verhältnis oder einem anderen Beschäftigungsverhältnis,
bei dem man nicht sehr viel verdient, erwachsen nicht
massenhaft Rentenansprüche. Für einen Schüler oder
Studenten zum Beispiel, der einen 400-Euro-Job hat, ist
es aber doch gut, erste Ansprüche in der Rentenversiche-
rung zu erwerben,


(Anette Kramme [SPD]: Oh! Wie viel?)


auf die er später hoffentlich mit einem guten Gehalt auf-
bauen kann. Es ist doch für jemanden, der zusätzlich zu
seinem normalen Job noch einmal 400 oder 450 Euro
verdient, gut, wenn er auch hieraus Rentenansprüche er-
wirbt und nicht nur aus seinem eigentlichen Gehalt.


(Elke Ferner [SPD]: Was ist mit den vielen Frauen, die nur Minijobs haben? Wie sieht die Rente von denen aus?)


Selbst für denjenigen, der zeitweise oder auch für etliche
Jahre nur einen Minijob hat, ist doch diese Ergänzung
für die Rente wichtig.


(Elke Ferner [SPD]: Das kann man doch heute schon machen! Was erzählen Sie denn hier? Das geht auch heute schon!)


Es ist wichtig, dass er auch in dieser Zeit Rentenansprü-
che erwirbt.

Im Übrigen ist nicht nur die Frage wichtig, „Wie viel
Entgeltpunkte habe ich in der Rentenversicherung durch
konkrete Beitragszahlungen angesammelt?“, sondern die
Frage ist auch: „Habe ich die Anwartschaftszeiten in der
Rente erfüllt?“ Dass die Zeit, in der ein Minijob ausge-
übt wird, mitzählt, ist ebenfalls ein wichtiger Gewinn für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem
Land.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann darf man sich aber von der FDP nicht über den Tisch ziehen lassen!)


Heute wird gegenüber dem Gesetz aus rot-grüner Zeit
nichts verschlechtert, sondern etwas Entscheidendes ver-
bessert, indem Rentenbeiträge für Minijobber zur Regel
werden. Das ist der eigentliche große Erfolg, den wir in
dieser Koalition schaffen. Wir verbessern das, was in
rot-grüner Zeit nur schlecht gemacht worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719517000

Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus

den Reihen der Grünen? Ich habe jetzt nicht aufgepasst.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1719517100

Ja, wenn die Debatte verlängert werden soll, bitte.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719517200

Kollegin Pothmer, bitte.






(A) (C)



(D)(B)



Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719517300

Herr Kollege Weiß, ich frage Sie, ob Sie die Begrün-

dung Ihres Gesetzentwurfes gelesen haben


(Elke Ferner [SPD]: Nein!)


und ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass Sie sel-
ber – sozusagen die Autorinnen und Autoren des Gesetz-
entwurfes – davon ausgehen, dass diese Opt-out-Rege-
lung dazu führen wird, dass 90 Prozent aller
Minijobberinnen und Minijobber eben nicht die Renten-
beiträge zahlen, sondern einen Antrag stellen werden,
um sich davon zu befreien?


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir setzen immer gering an und lassen uns positiv überraschen! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Hochspekulativ!)


Sind Sie mit mir einer Meinung, dass es über diesen Weg
unmöglich zu erreichen sein wird, dass alle Minijobbe-
rinnen und Minijobber Beiträge in die Rentenversiche-
rung zahlen?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1719517400

Verehrte Frau Kollegin Pothmer, es gibt einen ent-

scheidenden Unterschied zur heutigen Situation. Wer
heute einen Minijob annimmt, muss von sich aus tätig
werden


(Elke Ferner [SPD]: Jetzt müssen 90 Prozent tätig werden, um wieder rauszukommen! Ein echter Beitrag zum Bürokratieabbau!)


und einen Antrag stellen, dass er gerne einen Beitrag in
die Rentenversicherung zahlen will. Künftig – das ist der
entscheidende Unterschied – ist man automatisch in der
Rentenversicherung versichert, muss seinerseits aktiv
werden


(Elke Ferner [SPD]: Ja, wieder 90 Prozent!)


und eine Erklärung abgeben: Ich möchte keinen Renten-
versicherungsbeitrag zahlen.

Frau Kollegin Pothmer, es wird auch an uns selber
liegen, ob wir als Abgeordnete zum Beispiel in unseren
Wahlkreisen bei den Betroffenen dafür werben, diese ge-
setzliche Regelung zu akzeptieren und zu praktizieren


(Elke Ferner [SPD]: Wenn Sie werben, dann laufen die mit Entsetzen davon!)


und nicht die Ausnahmeregelung für sich in Anspruch zu
nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich gebe ehrlich zu – damit möchte ich zum Ab-
schluss kommen –, dass die Arbeitgeber zu Recht darauf
hinweisen, dass eine solche Opt-out-Regelung zusätzli-
che Bürokratie für sie bedeutet.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 22 Millionen Euro!)


Deswegen bin ich der Auffassung, dass es gut wäre,
wenn wir noch einmal über diese Opt-out-Regelung
nachdächten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber, Frau Kollegin Pothmer, verehrte Kolleginnen
und Kollegen, das, was jetzt im Gesetzentwurf steht, ist
immerhin eine deutliche Verbesserung gegenüber dem,
was heute im Gesetz steht. Wir sind also auf dem richti-
gen Weg: für mehr Sozialversicherung, auch für Mini-
jobber, und damit für mehr Ansprüche in der Rentenver-
sicherung.


(Elke Ferner [SPD]: 90 Prozent erreichen Sie doch nach Ihren eigenen Angaben überhaupt nicht!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719517500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10773 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter,
Dorothée Menzner, Caren Lay, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE

Unberechtigte Privilegien der energieintensi-
ven Industrie abschaffen – Kein Sponsoring
der Konzerne durch Stromkunden

– Drucksachen 17/8608, 17/9999 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Marco Bülow
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Hans-Josef Fell

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1719517600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine

Herren! Wir haben einen Antrag vonseiten der Linken
zum Thema Energieintensive Industrie vor uns liegen.
Ich möchte ganz offen für diesen Antrag danken, weil er
noch einmal deutlich macht, welche Wahlkampfstrategie
Sie schon jetzt für die nächsten Monate einleiten.

Sie möchten im Zuge der Energiedebatte, die für un-
ser Land sehr wichtig ist, im Wahlkampf eine reine Ver-
teilungsdebatte führen. Ihnen geht es nicht mehr darum,





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)


wie wir die Energiewende gemeinsam meistern, wie wir
es schaffen, die Energiewende für jeden bezahlbar zu
machen, sondern Sie fragen nur noch, wer diese Energie-
wende bezahlt.

Ich glaube, dass die Debatte, die Sie anstoßen – übri-
gens auch mit Unterstützung der Grünen und der SPD
oftmals –, uns auf einen Irrweg führt und Sie damit eine
Zündschnur an die Energiewende legen. Sie sind damit
eine große Gefahr für die Energiewende.


(Ulrich Kelber [SPD]: Für Sie ist die Energiewende ein Irrweg! Sie wollten sie nie! Sie versuchen, sie kaputtzumachen! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind der Irrweg!)


Wir sind der Auffassung: Die Energiewende muss für
alle bezahlbar sein. Jeder muss Gewinner der Energie-
wende sein. Deshalb sollten wir andere Debatten führen.
Ich nehme Ihren Antrag jedoch gerne zum Anlass, dass
wir einmal sehr grundsätzlich über die Frage diskutieren,
wie wir die energieintensiven Industrien schützen, weil
wir damit auch Arbeitsplätze schützen. Ich unterstütze
gerne deutsche Arbeitsplätze und innovative Unterneh-
men in unserem Land.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])


Deshalb ist es richtig, sich die energieintensiven Indus-
trien einmal genau anzuschauen.

Wir haben in Deutschland 5,7 Millionen Arbeits-
plätze in der Industrie, die wiederum 45 Prozent des
Stroms verbraucht. Knapp 1 Million Arbeitsplätze gibt
es in den energieintensiven Industrien; 53 Milliarden
Euro werden in diesen Industrien erwirtschaftet. Dazu
gehören die Papierindustrie, die Glasindustrie, die Che-
mieindustrie. Die wichtigen Werkstoffe Aluminium,
Kupfer und Zink werden hier produziert. Diese Werk-
stoffe bilden die Grundlage unserer Energiewende. Bei-
spielsweise braucht man für den Bau einer Offshore-
windanlage allein 30 Tonnen Kupfer. Das zeigt, dass wir
diese Werkstoffe brauchen, dass wir günstige und be-
zahlbare Werkstoffe brauchen, um die Energiewende tat-
sächlich zu meistern.


(Ulrich Kelber [SPD]: Die sind schon seit einigen Jahren befreit! Es sind jetzt ganz andere Unternehmen befreit! Wetterdienst! Brauerei! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Telekommunikationsunternehmen!)


Wir brauchen in Deutschland wettbewerbsfähige Ener-
giepreise.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Braunkohle?)


Wenn man sich die Preise anschaut, dann bereitet das
schon Sorge. Die Stromkunden aus der Industrie zahlen
in Deutschland bereits heute 10 Eurocent je Kilowatt-
stunde. In Frankreich sind es nur 5,6 Cent je Kilowatt-
stunde. In den USA liegen die Preise bei 4 bis 5 Cent je
Kilowattstunde.


(Ulrich Kelber [SPD]: Endkundenpreis?)


Da zeigt sich, dass wir bereits heute einen erheblichen
Wettbewerbsnachteil haben und dafür sorgen müssen,
dass dieser Nachteil nicht noch ausgeweitet wird. Des-
halb müssen wir großes Augenmerk auf diese Preise le-
gen. Eine mittelständische Chemiefirma hat heute schon
500 000 Euro bis 1 Million Euro mehr Energiekosten als
eine vergleichbare Firma in Frankreich.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum ist der Deutsche Wetterdienst befreit?)


Die Zahlen allein zeigen schon, lieber Herr Krischer,
dass das arbeitsplatzgefährdend sein kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es ist deshalb richtig – jetzt ist auch mal ein Lob für
Rot-Grün fällig –, dass Rot-Grün diese damals neuen
Kosten für die energieintensiven Industrien zum Anlass
genommen hat, diese Industrien zu entlasten.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben doch massiv draufgesattelt! Mit der Gießkanne! Das ist doch das Problem! Sie haben es verzerrt!)


Sie haben damals, im Jahr 2000, die EEG-Befreiung auf
den Weg gebracht. Nur war es damals falsch, dass Sie
von Rot-Grün nur die großen Konzerne mit einem Ver-
brauch von mehr als 10 Gigawattstunden entlastet ha-
ben. Wir haben in der jetzigen Koalition dafür gesorgt,
dass auch der industrielle Mittelstand entlastet wird,


(Ulrich Kelber [SPD]: Der Deutsche Wetterdienst! Der Stuttgarter Flughafen! Alles Mittelstand! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Telekommunikation! – Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Flughafen Köln!)


der in einem enormen Wettbewerb steht; er muss stärker
im Fokus stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das haben wir in der jetzigen Koalition entsprechend an-
gepasst.

Wir haben klare Kriterien eingeführt.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Was sind denn da Ihre Kriterien?)


Wir haben gesagt: Internationaler Wettbewerb und Ener-
gieintensität müssen vorliegen, und der Verbrauch muss
mehr als 1 Gigawattstunde betragen. Das sind klare Kri-
terien, die Willkür verhindern und klar regeln, wer Nutz-
nießer ist.


(Ulrich Kelber [SPD]: Nach welchen Kriterien denn?)


Beim Netzentgelt haben wir an das angeknüpft, was
Rot-Grün gemacht hat, und sind sogar noch weiter ge-
gangen, indem wir gesagt haben, dass wir auch die Sys-
temrelevanz als Grundlage sehen müssen, angefangen
beim großen Pumpspeicherkraftwerk, das wir für die
Energiewende brauchen, bis hin zu kleinen Wärmepum-





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)


pen und Nachtspeichern. Ich glaube, das ist der richtige
Weg. Auch das muss der Wahrheit halber gesagt werden.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wenn Sie die Wahrheit mal sagen würden! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Die Wahrheit sage ich Ihnen gleich!)


Auch beim Spitzenausgleich führen wir fort, was Rot-
Grün begonnen hat. Wir gehen sogar noch einen Schritt
weiter als Rot-Grün:


(Ulrich Kelber [SPD]: Ja!)


Wir zahlen den Spitzenausgleich ab 2013 nur noch dann,
wenn in dem Unternehmen wirklich ein Energiemanage-
mentsystem eingeführt wird


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ach, was! – Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Abwarten! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, die Branche insgesamt, nicht das Unternehmen! Sie haben den eigenen Gesetzentwurf nicht gelesen!)


und wenn ganz klar und deutlich eine Energieeffizienz-
steigerung zu erkennen ist. Auch da gehen wir sogar
noch weiter als Rot-Grün.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben den Gesetzentwurf nicht gelesen! Das steht nicht im Gesetzentwurf, was Sie gerade gesagt haben!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Entlas-
tungen sind notwendig. Ich will den Vorwurf ausräumen,
dass die energieintensiven Industrien nichts zahlen. Die
chemische Industrie allein zahlt 720 Millionen Euro
EEG-Umlage. Das sind pro Arbeitsplatz 1 800 Euro
EEG-Umlage.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das kostet einfach Geld!)


Wenn Sie diese Zahl noch nicht überzeugt, dann rate ich
gerade Ihnen von den Linken zu Gesprächen mit den Ge-
werkschaften, die vehement für Entlastungen für die
energieintensiven Industrien kämpfen. Vor wenigen Ta-
gen hat die Kanzlerin, wie man in der Zeitung liest, ein
Schreiben von den Gewerkschaften bekommen. Herr
Vassiliadis schreibt hier:

Eine der wichtigsten Standortbedingungen für die
energieintensive Chemieproduktion ist die Gewäh-
rung von Entlastungsregelungen, beispielsweise bei
EEG, Ökosteuer und Emissionshandel.

In diesem Sinne packen wir die Energiewende an,
entlasten diejenigen, die es brauchen,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und lassen die anderen zahlen!)


und sichern damit Arbeitsplätze. Ich denke, wir machen
dort weiter, wo Rot-Grün aufgehört hat.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719517700

Das Wort hat nun Waltraud Wolff für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1719517800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir wollen hier
doch einmal die Wahrheit auf den Tisch bringen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist nach der Rede von Bareiß auch notwendig! – Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Da sind wir gespannt!)


Heute hat der Herr Kollege Bareiß gesprochen. In der
ersten Lesung am 29. März dieses Jahres hat der CDU-
Kollege Koeppen über den Titel des Antrags der Linken
– ich will ihn noch einmal nennen: „Unberechtigte Privi-
legien der energieintensiven Industrie abschaffen – Kein
Sponsoring der Konzerne durch Stromkunden“ – gespro-
chen. Der Herr Kollege bemühte an dieser Stelle den
Duden. Er hat gesagt:

„Unberechtigt“ heißt rechtswidrig, heißt ungesetz-
lich, heißt illegal oder auch, wenn man es weiter-
treiben würde, kriminell.

Mal ganz abgesehen davon, dass „kriminell“ im Duden
nicht als Synonym für „unberechtigt“ geführt wird, ist
das ja nur eine der Bedeutungen.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sagen Sie etwas zu dem Antrag!)


„Unberechtigt“, so sagt der Duden, kann ebenfalls
„grundlos“ oder „unbegründet“ heißen, aber die Begriffe
„grundlos“ und „unbegründet“ sind weniger spektakulär,
und – was noch viel wichtiger ist – darauf kann man
keine billige Polemik aufbauen.


(Klaus Breil [FDP]: Mal zur Sache!)


Ich persönlich halte diese Art des Umgangs mit dem
Duden für bezeichnend für die Regierungskoalition.


(Klaus Breil [FDP]: Unterstufenniveau!)


Sie sehen immer nur die halbe Wahrheit. Was Ihnen
nicht passt, das blenden Sie einfach aus.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die ganze Wahrheit ist doch, dass wir alle uns in ei-
nem Punkt sehr einig sind, nämlich dass die energiein-
tensiven Unternehmen, die auch im internationalen
Wettbewerb stehen, nicht zusätzlich belastet werden sol-
len. Dazu stehen wir als SPD, und so hatten wir es da-
mals unter Rot-Grün bei der Ökosteuer festgeschrieben.
Ausnahmeregelungen müssen begründet sein; auch dazu
stehen wir. Genau diese Regelung – das gehört ebenfalls
zur Wahrheit – hat Schwarz-Gelb in diesem Jahr ent-
scheidend geändert. Früher galt, dass ein Unternehmen
ab einem Stromverbrauch von 10 Gigawattstunden pro
Jahr als energieintensives Unternehmen geführt wurde.
Heute reicht ein Jahresverbrauch von 1 Gigawattstunde.





Waltraud Wolff (Wolmirstedt)



(A) (C)



(D)(B)


Was – meine Damen und Herren hier oben, Sie wissen es
bestimmt nicht – bedeutet das denn?


(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Frau Wolff, haben Sie schon einmal Prozentrechnen gelernt?)


Das bedeutet, dass heute statt 540 Unternehmen – ich
beziehe mich jetzt auf Zahlen der Bundesregierung –
1 600 oder mehr Unternehmen entlastet werden. Mit an-
deren Worten: Statt 2,1 Milliarden Euro werden künftig
bis zu 3,2 Milliarden Euro an Erneuerbarer-Energien-
Umlage von kleinen Unternehmen und von den Privat-
haushalten bezahlt. Das ist doch wieder eine richtige
Entscheidung à la FDP. Irgendwie hat mich das an die
Steuergeschenke an die Hoteliers erinnert.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das ist eine fixe Idee von euch!)


Da fragt sich natürlich auch der kleine Handwerker,
weshalb er eigentlich für ein großes Kaufhaus die EEG-
Umlage zahlen soll, und auch die Rentnerin fragt sich,
wieso sie eigentlich die Kosten schultern soll, damit ein
Hotel entlastet werden kann. Diese besondere Aus-
gleichsregel ist einzig und allein für die energieintensi-
ven Unternehmen geschaffen worden, weil wir die Ar-
beitsplätze und Deutschland als Industriestandort er-
halten wollen. Es muss die Frage erlaubt sein: Ist die
massive Ausweitung, die diese Koalition jetzt vorge-
nommen hat, überhaupt begründbar?

Die Bundesnetzagentur hat im März dieses Jahres ei-
nen Bericht vorgelegt, in dem sie zu dieser Frage Stel-
lung explizit genommen. Sie hat gefragt, ob das wirklich
noch die richtige Balance ist. Es wird ausgeführt, dass
im Jahr 2012 die begünstigten Unternehmen zwar
18 Prozent des gesamten Stroms verbraucht haben, aber
– das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen –
sage und schreibe nur einen Anteil von 0,3 Prozent an
der Erneuerbaren-Energien-Umlage bezahlt haben. Mit
anderen Worten: Die Umlage, die uns demnächst ins
Haus steht, nämlich 3,59 Cent je Kilowattstunde, läge
ohne dieses Privileg bei genau 3 Cent pro Kilowatt-
stunde.

Ich sage es noch einmal: Wir als SPD stehen zu einer
Ausnahmeregelung. Die Bundesnetzagentur hat doch
völlig recht, wenn sie infrage stellt, ob hier noch die
richtige Balance gewahrt wird und ob kleine Unterneh-
men und Privathaushalte an dieser Stelle in die Bresche
springen sollten für Unternehmen, die neuerdings zu den
intensiven Energieverbrauchern gehören sollen.

Übrigens klagte Schwarz-Gelb die ganze Zeit – auch
das ist sehr bezeichnend – über die hohen Kosten, die
mit der Erneuerbaren-Energien-Umlage für die privaten
Haushalte verbunden sind. Bei dieser Geschenkerunde
jetzt sagt aber niemand von Ihrer Seite, dass die Privat-
haushalte und die kleinen Unternehmen die Zeche dafür
bezahlen. Das ist doch die Wahrheit.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie selber mit Ihrer Gesetzgebung sind die Kostentreiber
bei der Umlage für erneuerbare Energien.

Ich bin Mitglied der Enquete-Kommission „Wachs-
tum, Wohlstand, Lebensqualität“. Wir sind lange der
Frage nachgegangen, wie wir unseren Wohlstand erhal-
ten und trotzdem den unsäglich großen Verbrauch unse-
rer Umwelt begrenzen können. Ist es möglich, diese Pro-
zesse zu entkoppeln und unser Klima zu schützen? Ein
Baustein – das ist über alle Fraktionsgrenzen hinweg un-
strittig – ist der sparsame Umgang mit Energie. Wird der
Strom teurer, sieht jeder zu, dass er Strom sparen kann.
Das machen auch Unternehmen. Diesen Fakt haben be-
sonders die Unionspolitiker und die FDP-Politiker be-
tont. Klar ist aber, dass die Ausweitung dieser Ausnah-
meregelung diesem Ansatz widerspricht. Damit kommt
man nicht zu Einsparungen, und so verbessert man auch
nicht die Energieeffizienz.

Was spräche eigentlich gegen ein verpflichtendes
Energiemanagement als Voraussetzung für die Begünsti-
gung bei der Energiesteuer? Darüber sollte man einmal
nachdenken. Ein Energiemanagement, das nicht nur den
Energieverbrauch und die Einsparpotenziale bewertet,
sondern auch die Umsetzung von empfohlenen Maßnah-
men vorschreibt, wäre eine Möglichkeit, um in der Be-
völkerung mehr Akzeptanz für diese Begünstigung zu
erreichen.

Ein Teil unserer Industrie, an dem Arbeitsplätze und
Wohlstand hängen, ist stromintensiv, keine Frage. Nie-
mand will die Produktion aus Deutschland verbannen.
Fakt ist aber, dass bis 2020 – nach Schätzungen – 20 bis
40 Prozent des Energieverbrauchs in der Industrie durch
einen wirtschaftlicheren Einsatz eingespart werden
könnten. Dieses Potenzial müssen wir heben. Hier muss
man ansetzen und nicht entlasten, wenn mehr verbraucht
wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Entlastungen dürfen nur dort erfolgen, wo sie notwendig
sind.

Zum Schluss: Viele Fragen, die in Ihrem Antrag, im
Antrag der Linken, gestellt werden, sind richtig. Ihr An-
trag enthält aber viele pauschale Äußerungen in Bezug
auf Industrie und Standortfragen, die Arbeitsplätze be-
treffen. Deshalb können wir Ihrem Antrag nicht zustim-
men. Meine Fraktion wird sich der Stimme enthalten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD – Michael Kauch [FDP]: Kraftvoll!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719517900

Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1719518000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau

Wolff, Sie sollten sich vielleicht nicht nur mit Professo-
ren in Enquete-Kommissionen beschäftigen, sondern als





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


Sozialdemokratin auch einmal in die Betriebe in
Deutschland gehen und sich den industriellen Mittel-
stand anschauen.


(Iris Gleicke [SPD]: Oh Gott! – Ulrich Kelber [SPD]: Das war selbst für Sie billig! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Herr Kauch, das können Sie doch eigentlich besser!)


Sie sollten sich anschauen, wie die Arbeitswirklichkeit
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der chemischen
Industrie aussieht. Die meisten Unternehmen in der che-
mischen Industrie sind nämlich nicht so groß wie die
BASF.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ehrlich? – Gegenruf der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU]: Ja, ehrlich!)


Man muss sich einmal genau anschauen, was Sie ge-
rade gesagt haben. Sie haben, wie ich unserem soge-
nannten Parlamentsbuch entnommen habe, einen Ab-
schluss als Unterstufenlehrerin für Mathematik. In der
Unterstufe lernt man ja schon Prozentrechnung.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist mir neu!)


Das scheint bei Ihnen nicht mehr so ganz präsent zu sein,
Frau Wolff.


(Iris Gleicke [SPD]: „Schnösel“, kann man da nur sagen!)


Sie haben uns hier erzählt, das Kriterium für Energiein-
tensität sei der Energieverbrauch. Den Schwellenwert,
den Sie angesprochen haben – 1 Gigawattstunde oder
10 Gigawattstunden –, den gibt es. Das Kriterium dafür,
ob ein Unternehmen zu den energieintensiven Unterneh-
men zählt oder nicht, ist aber ein Prozentsatz: 14 Prozent
der Wertschöpfung. Das ist das Kriterium, das die SPD
eingeführt hat. Diese Koalition hat es nicht geändert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Den Schwellenwert haben wir in der Tat geändert. Sie
haben nur die Großunternehmen befreit, nur die
Thyssens und die BASFs dieser Republik. Es ist an ihrer
Politik unschwer erkennbar. Sie sind die Genossen der
Bosse. Wir sind diejenigen, die für den industriellen
Mittelstand und für die Arbeiter in diesen Unternehmen
stehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Den Grünen ist die Wertschöpfung ja egal. Man fährt im
Porsche Cayenne zum Bioladen, und die Arbeiter in der
Chemieindustrie sind einem egal.


(Ulrich Kelber [SPD]: Haben Sie einmal in Ihrem Leben in der freien Wirtschaft gearbeitet, Herr Kauch? Nach dem Kürschner auch nicht!)


Aber von Sozialdemokraten würde ich einen anderen
Ansatz erwarten und nicht, dass Sie hier so tun, als seien
die Industrieunternehmen im Mittelstand nicht im inter-
nationalen Wettbewerb.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])


Sie wollen das deutsche Volk täuschen, indem Sie sagen:
Alle Kostensteigerungen gibt es nur deswegen, weil wir
hier jetzt irgendwelche Unternehmen begünstigen.


(Ulrich Kelber [SPD]: In keiner anderen Fraktion gibt es so viele wie in der FDP, die noch nie in der freien Wirtschaft gearbeitet haben!)


Nein, die Wahrheit ist, dass wir an dieser Stelle Arbeits-
plätze in Deutschland, die im internationalen Wett-
bewerb stehen, schützen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Den Deutschen Wetterdienst und bei Rolltreppenbetreibern!)


Dazu stehen wir. Wir sind stolz auf die Arbeiterinnen
und Arbeiter in diesem Land.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719518100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kelber?


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1719518200

Ja bitte, er hat wahrscheinlich wieder keine Redezeit

von seiner Fraktion bekommen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)



Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1719518300

Ich werde als stellvertretender Fraktionsvorsitzender

in meiner Fraktion laufend unterdrückt, was die Redezeit
angeht.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich fand es übrigens nicht gut – eine kurze Bemer-
kung dazu möchte ich machen –, über die Berufe anderer
herzuziehen. Vor allem sollte man, wenn man selber
auch noch nie in der freien Wirtschaft gearbeitet hat, das
nicht jemandem anders vorwerfen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Frage: Sie nennen die internationale Wettbe-
werbsfähigkeit von Unternehmen als Kriterium – das ist
eines der drei Kriterien, die auch wir in unseren Anträ-
gen nennen – und benennen dann erst einmal Firmen, die
schon zu Regierungszeiten der SPD diese Ausnahmen
bekommen haben und von denen wir sagen, dass sie
auch beibehalten werden sollen. Ich möchte Sie hinsicht-
lich ein paar Unternehmen, die auch schon in der Öffent-
lichkeit genannt wurden, fragen,


(Peter Hintze, Parl. Staatssekretär: Jetzt kommt der Deutsche Wetterdienst! Pass auf!)






Ulrich Kelber


(A) (C)



(D)(B)


was dort die internationale Wettbewerbsfähigkeit aus-
macht.

Der Deutsche Wetterdienst, eine Behörde, ist jetzt
durch Sie von der EEG-Umlage befreit. Der Flughafen
Stuttgart lagert alles, was mit Energie zu tun hat, in einen
neuen Konzern mit einem Mitarbeiter aus und lässt die-
sen von der EEG-Umlage befreien. Glauben Sie, dass
dieser eine Mitarbeiter gefährdet wäre, wenn der Flug-
hafen Stuttgart weiter EEG-Umlage zahlen müsste? Sie
und auch ich lieben ein gepflegtes Bier. Nordrhein-
Westfalen ist ja das wirkliche Hauptland der Bierbraue-
rei. Glauben Sie, dass sich niemand mehr für unsere
Biere entscheiden würde, wenn Sie die Brauereien in
Deutschland nicht von der EEG-Umlage befreien
würden? Wo sehen Sie da die internationale Wett-
bewerbsfähigkeit? Sie weiten doch im Augenblick die
Ausnahmen mit der Gießkanne zulasten der Verbrauche-
rinnen und Verbraucher aus.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1719518400

Lieber Herr Kelber, ich wiederhole es: Wir haben das

Energieintensitätskriterium nicht geändert. Die Wett-
bewerbsfähigkeit der Deutschen Bahn, die in Ihrer Zeit
bereits als energieintensives Unternehmen eingestuft
wurde, ist im internationalen Wettbewerb zumindest auf
den deutschen Strecken auch nicht gefährdet. Wenn Sie
also das kritisieren, dann gebe ich diese Kritik gerne an
Sie zurück.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist aber keine Antwort!)


Die Frage ist in der Tat, ob wir uns ganz sachlich und
unemotional anschauen müssen, ob man die unterschied-
lichen Kriterien, die wir bei den Bereichen Emissions-
handel, Energiesteuer und EEG für die Ausnahme- und
Reduktionstatbestände anwenden, besser angleichen
könnte. Da können wir gerne zusammenarbeiten, um
solche Beispiele, wie Sie sie – –


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Antworten Sie doch mal auf die Frage! Stuttgarter Flughafen! Wetterdienst!)


– Herr Krischer, Sie kommen noch dran. Das können Sie
dann gleich alles erzählen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Er will mir nur helfen, dass meine Frage beantwortet wird!)


Herr Kelber, wir können gerne seriös darüber spre-
chen, wie man diese Stilblüten, die Sie hier vortragen,
zum Beispiel den Deutschen Wetterdienst, dort wieder
herausbekommt. Aber ich sage noch einmal ganz deut-
lich: Am Energieintensitätskriterium der SPD haben wir
nichts geändert. Wir haben nur die Schwellenwerte ab-
gesenkt, damit Chemieunternehmen in Chemieparks und
Zulieferer, zum Beispiel im Sauerland – Sie haben ge-
rade auf NRW verwiesen –, die auch energieintensiv
sind, genau die gleichen Rechte haben wie Thyssen,
BASF, Lanxess oder andere Großunternehmen in dieser
Republik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Herr Präsident, der Kollege möchte eine Zwischen-
frage stellen. – Ja, gerne.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719518500

Sie haben schon voreilig Ja gesagt. – Also, bitte

schön, Herr Kollege.


(Vereinzelt Heiterkeit – Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Werden jetzt schon Unterstützungsfragen gestellt?)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1719518600

Ich möchte in der Tat eine Nachfrage stellen, ganz im

Sinne von Herrn Kelber.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie stimmen mir doch sicher zu, dass wir keine einzelbe-
triebliche Regelung getroffen, sondern Kriterien festge-
legt haben, nach denen sich die Unternehmen melden
können.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat er schon gesagt!)


Wir haben bei dieser Reform die Unternehmen, die Sie
befreit hatten, die aber, wie wir festgestellt haben, nicht
dem europäischen oder dem weltweiten Wettbewerb
unterliegen, sofern sie identifiziert werden konnten,
herausgenommen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Die Bodenseewasserwerke, die Heldentat!)


Ein Beispiel, von dem ich leider persönlich betroffen
bin – genau –, ist der Zweckverband Bodensee-Wasser-
versorgung. Dieses Unternehmen ist ein energieintensi-
ves. Das führt – im Übrigen nicht zur Freude derjenigen,
die insbesondere in der Region Stuttgart betroffen sind –
zu einer rund 10-prozentigen Wasserpreiserhöhung.
Aber in der Tat: Beim Zweckverband Bodensee-Wasser-
versorgung ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Unter-
nehmen nach Hongkong oder nach Paris auswandert,
relativ gering. Deshalb ist das Unternehmen bei der letz-
ten Reform, als es als energieintensives Unternehmen
erkannt wurde, herausgenommen worden.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch keine Frage!)


Ich gehe davon aus, dass wir uns mit diesem Thema ge-
meinsam mit der FDP und mit Herrn Kauch, sobald die
entsprechenden Erkenntnisse vorliegen, befassen und
die Regelung verändern werden.


(Ulrich Kelber [SPD]: Ist denn schon etwas da? – Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja eine Rede! Das ist doch keine Frage, Herr Präsident!)


Aber wir sollten jetzt nicht versuchen, uns gegenseitig
mit Einzelbeispielen, die die energieintensive Industrie
insgesamt in ein falsches Licht rücken, vorzuführen.





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)



(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frage! Wo ist die Frage?)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1719518700

Herr Kollege Pfeiffer hat völlig recht; er sieht das

richtig. Die FDP wird gerne mit Ihnen darüber diskutie-
ren, wie wir die Ausnahmeregelungen treffsicher gestal-
ten.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie führen Ihre Koalitionsgespräche hier ja nur noch unter Zeugen! Wir passen auf, dass ihr euch nicht prügelt! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind ja Koalitionsverhandlungen! Ihr seid kurz vor dem Ende!)


Unser gemeinsames Anliegen ist, Arbeitsplätze in ener-
gieintensiven Unternehmen, die im internationalen Wett-
bewerb stehen, zu befreien, damit es nicht zu Verzerrun-
gen im internationalen Wettbewerb kommt; da sind wir
ganz einer Meinung.

Meine Damen und Herren, noch einmal: Wir müssen
die unterschiedlichen Reduktions- und Befreiungstatbe-
stände möglichst einheitlich und treffsicher gestalten
und sie zusammenführen. Das ist auch im Interesse der
Unternehmen, für die unterschiedliche Vorgaben gelten,
was den Emissionshandel, die Energiesteuer und das
EEG angeht.

Die Frage, die sich dann stellt, lautet: Wie schaffen
wir es, dafür zu sorgen, dass nicht immer mehr auf im-
mer weniger Schultern lastet? Das ist ja der Ausgangs-
punkt dieser Debatte. Wie können wir verhindern, dass
die Verbraucherinnen und Verbraucher, also die Privat-
haushalte, am Schluss allein die Zeche zahlen?


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber genau das will Ihr Kollege doch!)


An dieser Stelle sage ich ganz klar in Richtung des Bun-
desverbandes der Deutschen Industrie: Es ist keine gute
Lobbyarbeit, kein gutes Vorschlagsmanagement, wenn
vonseiten der Industrie ständig die Forderung nach wei-
teren Befreiungen erhoben wird. Es darf nicht so weit
gehen, dass wir die gesamte deutsche Wirtschaft von
EEG-Umlage, Energiesteuer usw. befreien; das ist völlig
klar.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Aber wer zahlt denn jetzt die Erhöhung?)


Am Schluss muss Energie für alle Bürgerinnen und Bür-
ger bezahlbar sein.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU] – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja mal ein Wort! Das sieht Ihre Arbeitsgruppe aber anders!)


Ihre Strategie, Ihre Ablenkungsstrategie, wird nicht
verfangen. Es ist ja ganz klar, was Sie mit Blick auf den
15. Oktober dieses Jahres machen. Am 15. Oktober wird
die EEG-Umlage um voraussichtlich 50 Prozent steigen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Und aus welchen Gründen? – Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Erklären Sie aber auch mal, warum!)


Ihre Antwort ist ganz einfach:


(Ulrich Kelber [SPD]: Wir schauen genau nach, warum!)


Das liegt nur an der Befreiung der energieintensiven
Unternehmen. – Das ist doch Volksverdummung, was
Sie hier betreiben.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


Zu einem großen Teil liegt diese Steigerung der EEG-
Umlage nämlich am unkoordinierten Ausbau der Photo-
voltaik in der Vergangenheit.


(Ulrich Kelber [SPD]: Was? Ich habe die Zahlen hier!)


Diese Koalition aus FDP und Union hat diesen Miss-
stand beseitigt. Wir als FDP gehen noch weiter: Wir
wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der Ener-
giewende auf Dauer nicht überlastet werden –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719518800

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1719518900

– und dass bei jedem Cent, den wir den Bürgerinnen

und Bürgern hier aufbürden, möglichst viel an erneuer-
baren Energien herauskommt. Deshalb sollten Sie nicht
ablenken, sondern gemeinsam mit uns an einer wirkli-
chen Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes arbei-
ten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719519000

Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719519100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

ist eine interessante Debatte.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Immer dieselbe Debatte!)


Ich habe das Gefühl, wir haben eine empfindliche Stelle
getroffen. Inzwischen haben die Medien ja schon sehr
viel über das Thema berichtet. Sie ist auch deshalb emp-
findlich, weil bei den Kosten der Energiewende bzw. der
Energiepolitik sehr oft die Unwahrheit gesagt und auch
geheuchelt wird.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Dann erhöhen wir den Beitrag!)


Wenn es um die Kostenrechnung geht, dann machen
Sie Stimmung; denn es geht Ihnen darum, regenerative
Energien zurückzudrängen. Das Stichwort von Herrn





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)


Kauch war „unkoordinierter Ausbau“. Stellen Sie sich
vor: Jetzt bauen die einfach unkoordiniert regenerative
Energien aus! Frechheit!

Herr Rösler und Herr Altmaier übersehen geflissent-
lich – das muss man den Wählerinnen und Wählern
sagen –, was die Kosten von Kohle- und Atomstrom
sind. Darüber haben wir heute noch gar nicht gespro-
chen. Wir reden hier über Kosten von 1 Euro pro Kilo-
wattstunde. Die Wählerinnen und Wähler sind nicht so
dumm, wie Sie glauben.

Es geht natürlich um Umverteilung; das ist richtig.
Sie haben richtig erkannt, dass es uns, den Linken, um
Umverteilung geht, nämlich um die Umverteilung der
Energiekosten. Es kann eben nicht sein, dass immer
mehr ausgenommen wird und dass Otto Normalverbrau-
cher und der Mittelstand das alles dann bezahlen müs-
sen. Das wird ihnen übergestülpt, und sie sollen dann
schauen, wie sie damit zurechtkommen.

Es wird dann immer das Argument Wettbewerbs-
probleme genannt. Das haben wir rauf und runter gehört.
Darüber, ob sie tatsächlich existieren oder herbeifanta-
siert werden, reden wir nicht. Wir müssten eine Debatte
darüber führen, aber die Lobby der Firmen – die kennen
wir ja alle –, die viel verbrauchen, schafft es einfach im-
mer wieder, Gesetze zu beeinflussen, sodass sie sauber
dabei herauskommen, manchmal sogar mit einem leis-
tungslosen Gewinn. Die privaten Verbraucherinnen und
Verbraucher bezahlen das dann. Wir halten das für unso-
zial und auch für wirtschaftsfeindlich.

Ich sage Ihnen: Ich war letzten Samstag beim Techni-
schen Hilfswerk, der Helferorganisation, in Bayern. Dort
waren auch drei CSU-Abgeordnete; einer sitzt hier.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Ich bin aber nicht von der CSU!)


Das THW hat sich auch über die Stromkosten be-
schwert, weil es immer mehr bezahlen muss. Sie haben
uns gebeten, den Haushalt für das THW zu erhöhen, weil
sie die Energiekosten nicht mehr bezahlen können. So
läuft eins ins andere.

Jetzt noch einmal zu unserem Antrag. Es geht um die
Privilegien beim EEG, bei der Energie- und bei der
Stromsteuer. Der Spitzenausgleich bei der Ökosteuer
soll bis 2022 verlängert werden. Auch hier werden Un-
ternehmen im zweistelligen Milliardenbereich entlastet.
Das ist jetzt neu und wird demnächst erst beschlossen.
Es geht um Netzentgelte usw. In der Summe macht das
9 Milliarden Euro im Jahr aus. Den größten Teil davon
würden wir anders verwenden, nämlich zur Abfederung
der Kosten der Energiewende, nicht nur im privaten Be-
reich, sondern auch zur Begleitung von Strukturbrüchen,
also für Umschulung, Weiterbildung, Umzugsfinanzie-
rung und einen gut abgesicherten Vorruhestand, worum
es heute bei der Debatte um die Rente auch ging.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich meine, das sind wir den Kohlekumpels und vielen
anderen, um deren Lebensleistung es hier nämlich geht,
auch wirklich schuldig; denn zum Teil werden Arbeits-

plätze vor Ort verloren gehen, ob mit oder ohne Privile-
gierung. Wir müssen in neue Zukunftsbranchen investie-
ren; das ist dringend notwendig.


(Beifall bei der LINKEN)


Noch einmal: Es geht uns nicht darum, energieinten-
sive Unternehmen niederzumachen. Das ist eine Lüge,
die verbreitet wird.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Abenteuerlich, was Sie da erzählen!)


Bei dieser Lüge – die Gewerkschaften wurden angespro-
chen – mischen auch einige Kollegen von den Grünen
und der SPD mit, die mir geschrieben haben. Sie müss-
ten es eigentlich besser wissen; denn Ihre Kollegen hier
wissen es besser.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Worum geht es Ihnen eigentlich?)


Es geht uns darum, zu unterstützen und zu gucken,
wer wirklich im Wettbewerb steht. Ich meine, hier kön-
nen wir gemeinsam mit den kleinen Firmen kämpfen,
die die steigenden Energiepreise zum Teil eben nicht
überleben werden. Wir kämpfen für Menschen mit nied-
rigem Einkommen. Das macht nicht die FDP. Das ma-
chen wir.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Kauch [FDP]: Frau Bulling-Schröter, wie hoch ist Ihr Einkommen? – Lachen bei Abgeordneten der FDP)


Wir wollen eine lebenswerte Zukunft und zukunftsfeste
Arbeitsplätze.

Noch eine Information: Ich bin von Beruf Schlosse-
rin. Das habe ich gelernt. Ich war bis zu meiner Wahl in
den Bundestag als Schlosserin tätig.


(Beifall der Abg. Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Ulrich Kelber [SPD]: So etwas täte der FDP mal gut!)


Ich war acht Jahre im Bundestag und habe dann wieder
drei Jahre an der Basis gearbeitet. Ich kenne die Kolle-
ginnen und Kollegen, ich habe den Job gemacht. Ich be-
suche meine Kolleginnen und Kollegen auch.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Die werden eine Freude haben!)


Im Gegensatz zu Ihnen habe ich schon meine Schaufel in
der Hand gehabt, wie das Polt, der Kabarettist, sagen
würde.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719519200

Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Du musst auch erst einmal sagen, ob du gearbeitet hast!)







(A) (C)



(D)(B)



Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719519300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist völlig klar: Es gibt in Deutschland energieintensive
Branchen, die im internationalen Wettbewerb stehen.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Diese brauchen Ausnahmen bei Umlagen und Steuern,
weil sie sonst im internationalen Wettbewerb keine
Chance haben. Aber es gehört auch zur Wahrheit, dass es
in Deutschland niedrigere Industriestrompreise und vor
allen Dingen fallende Industriestrompreise gibt.

Ich will Ihnen drei Beispiele nennen. Wir waren neu-
lich bei der Firma Bayer MaterialScience. Dort wurde
uns eine schöne Grafik aufgelegt, und es hieß: Ja, in
Deutschland ist das Niveau der Industriestrompreise
günstiger als beispielsweise in Frankreich, günstiger als
in Teilen des osteuropäischen Auslands. – Fragen Sie bei
Bayer MaterialScience nach, nicht unbedingt verdächtig,
eine den Grünen besonders nahestehende Organisation
zu sein.

Ein weiteres Beispiel: Norsk Hydro, ein Alukonzern,
verlagert seine Produktion nach Deutschland, weil hier
die Industriestrompreise niedrig sind, gefallen sind, un-
ter anderem gesenkt durch den Ausbau der erneuerbaren
Energien, den Sie abbremsen wollen. Das ist die Reali-
tät.

Der bekannteste Aluhersteller, der größte private
Stromverbraucher in Deutschland, die Firma Trimet in
Essen – Herr Kauch, Sie kennen sie – meldet einen Ver-
lust, aber – jetzt hören Sie zu! – nicht wegen gestiegener
Strompreise, sondern wegen gefallener Strompreise. Die
Firma hatte darauf gewettet, dass die Strompreise stei-
gen werden, hatte dafür entsprechende Versicherungen
abgeschlossen, und jetzt muss sie zahlen. Das ist Realität
in Deutschland, nicht das Bild, das Sie hier zeichnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Unser Problem – das ist schon eine Reihe von Malen
angesprochen worden – ist: Wir haben überbordende
Ausnahmeregelungen. Das beste Beispiel dafür – ich
meine, Sie haben es eben eine Stilblüte genannt, Herr
Kauch – ist der Deutsche Wetterdienst. Ihr Minister, das
wirtschaftspolitische Schwergewicht Herr Rösler, hat in
der letzten Sitzungswoche hier gestanden und auf meine
Zwischenfrage geantwortet: Der Deutsche Wetterdienst
braucht diese Ausnahmeregelungen, weil er leistungsfä-
hige Computer hat. – Meine Damen und Herren, auf die-
sem Niveau arbeiten Sie.

Erklären Sie mir bitte einmal, warum die Rechenzen-
tren von Telekommunikationsunternehmen in Deutsch-
land von den Netznutzungsentgelten befreit werden.
Keine Erklärung! Es ist niemandem zu erklären, warum
Sie das wollen und warum Sie das machen. Sie können
auch überhaupt niemandem erklären, warum RWE und
Vattenfall bei der Braunkohlenförderung von der EEG-
Umlage befreit sind. Das ist eine Absurdität im Quadrat.
Sie müssen tagtäglich daran arbeiten, das zu ändern.

Es kommt hinzu, dass diese ganzen Regelungen völ-
lig intransparent sind. Bei der EEG-Umlage ist es 1 Gi-
gawatt, beim Netznutzungsentgelt haben Sie 10 Giga-
watt festgelegt. Bei der Haftungsumlage Offshore, die
Sie als Protokolldebatte einbringen, sind es plötzlich
100 000 Kilowattstunden. Dann gibt es noch ein Eigen-
stromprivileg für Unternehmen mit Kraftwerken. Das
führt zu der Absurdität, dass die Bundesregierung selber
nicht mehr sagen kann, welche Industriezweige welche
Befreiungen haben. Das können Sie niemandem erklä-
ren. Das können Sie draußen niemandem mehr verständ-
lich machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese ganzen Subventionen summieren sich inzwi-
schen auf über 10 Milliarden Euro. Über diesen Betrag
reden wir. Diesen müssen am Ende die privaten Verbrau-
cher zahlen. Herr Kauch, wenn Sie hier den BDI kritisie-
ren, dann müssen Sie einmal mit dem Kollegen Pfeiffer
von der Wirtschafts-AG der CDU/CSU – Pfeiffer mit
drei f – in einen Dialog eintreten. Er schickt nämlich ein
Papier herum, in dem steht: Die Befreiungstatbestände
sind noch lange nicht ausreichend. Wir wollen noch viel
mehr. Er sagt offen und ehrlich und deutlich: Die Ver-
braucherinnen und Verbraucher wollen die Energie-
wende, dann sollen sie sie auch bezahlen. – Das ist das
Credo von Herrn Pfeiffer und weiten Teilen Ihrer Koali-
tion.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Nein!)


So kann es ja nun nicht laufen, dass auf der einen
Seite die Industrie durch Aufträge und sinkende Preise
von der Energiewende profitiert und auf der anderen
Seite die privaten Verbraucher nur bezahlen. Das werden
wir nicht hinnehmen. Das muss ordentlich debattiert und
am Ende geändert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Antrag der Kollegen der Linken benennt die Pro-
bleme in der Tat richtig. Aber wenn es an die Lösung
geht, wird es reichlich nebulös.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Was sind denn Sie von Beruf?)


Dazu finde ich keinen guten Vorschlag. Deshalb werden
wir uns an dieser Stelle enthalten.

Ich kann Ihnen ankündigen – das steht schon auf der
Tagesordnung –: Wir werden in der nächsten Woche ei-
nen Antrag einbringen, in dem wir konkrete Vorschläge
machen, wie wir das Problem am Ende regeln werden.
Es kann nur in der Weise sein, dass wir klare Grenzen
ziehen, was Energieintensität und Außenhandelsintensi-
tät von Unternehmen angeht. Ich sage bewusst „und“,
nicht „oder“; denn das sind die Kriterien.

Wir müssen vor allen Dingen die absurden Schwellen
und Stufenwerte abschaffen, die dazu führen, dass ein-
zelne Unternehmen ihren Energieverbrauch künstlich
hochschrauben, damit sie über eine bestimmte Schwelle





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


hinauskommen. Dafür müssen wir Lösungen schaffen.
Dazu sind Debattenbeiträge gefordert.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719519400

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719519500

Wir werden sie liefern. Von Ihnen höre ich leider nur,

dass es immer noch mehr werden soll. Das wird nicht
funktionieren. Das zerstört die Akzeptanz der Energie-
wende.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719519600

Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1719519700

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Lieber Kollege Krischer, wenn das alles überhaupt
kein Problem ist und die Industrie über die Strompreise
so wettbewerbsfähig ist, wie Sie es beschreiben, dann
stellt sich mir die dringende Frage, warum Rot-Grün sei-
nerzeit bei der Einführung des EEG zu genau dem Härte-
fallmechanismus gekommen ist, den wir jetzt ausgewei-
tet haben.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das habe ich Ihnen doch gesagt! Dann hätten Sie nur zuhören müssen! – Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht überall!)


Aber warum denn? Ich möchte das einmal sagen. Wir
lagen damals bei Differenzkosten von 0,2 Cent. Bei
0,2 Cent haben Sie gesagt: Es gibt in Deutschland eine
Industrie, die man von dieser Umlage befreien muss,
weil sie sonst in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gefährdet
ist. Wir sind jetzt – ich ziehe ausdrücklich das ab, was
tatsächlich auf die Umlage entfällt – in etwa bei 3 Cent
Umlage. Das ist das Fünfzehnfache. Deshalb ist es rich-
tig und wichtig, dass man sehr genau fragt, ob man die
Befreiung für die energieintensive Industrie nicht aus-
weiten und auch dafür Sorge tragen muss, dass gerade
der industrielle Mittelstand davon profitiert. Das ist ganz
klar.

Das haben wir getan. Wenn man allgemeine Regelun-
gen schafft, kann man kritisieren, dass das eine oder
andere nicht so trennscharf geschieht. Man kann auch
kritisieren, dass es den einen oder anderen Gestaltungs-
missbrauch gibt. Aber das spricht nicht gegen die Rege-
lung.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Es spricht dagegen, weil die Kriterien nicht eingehalten werden!)


Es spricht vielleicht dafür, dass man im Nachgang noch
einmal darüber nachdenkt, wie man den Gestaltungs-
missbrauch unterbinden kann.

Aber wir haben bewusst gesagt: Wer einen Stromkos-
tenanteil von 14 Prozent an der Bruttowertschöpfung
hat, ist aus unserer Sicht ab einer bestimmten Schwelle
energieintensiv. 14 Prozent der Kosten sind – Sie können
Kaufleute danach fragen – eine ganze Menge. Deshalb
war die Entscheidung richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Dadurch, dass man es wiederholt, wird es nicht richtig!)


Weil man Ihnen das offenbar immer wieder sagen
muss, will ich noch einmal unterstreichen: Wir sind das
letzte verbliebene wirkliche Industrieland in der Euro-
päischen Union. Unsere Industrie hat uns in der Krise
stabilisiert. Gerade der industrielle Mittelstand hat uns
stabilisiert. Deshalb ist es richtig und wichtig, ein beson-
deres Augenmerk darauf zu richten. Wer das kritisiert,
soll – das richte ich bewusst an die Linke – mir bitte
nicht morgen mit Sozialtarifen und anderen Ideen kom-
men, was man noch alles tun sollte, um von der unteren
Seite letztendlich dafür Sorge zu tragen, dass nur die
Mittelschicht die Mehrkosten der Energiewende zahlen
wird. Das wird nicht gehen.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wenn die privaten Haushalte das bezahlen müssen, müssen wir Sozialtarife einführen! Das ist doch logisch!)


Wenn man schon an dieser Stelle über Schuldfragen
diskutiert:


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Es geht nicht um Schuldfragen!)


Letztendlich geht es Ihnen nur darum, ein Ablenkungs-
manöver zu starten. Von was wollen Sie ablenken? Sie
wollen davon ablenken, dass die jetzige Höhe der EEG-
Umlage insbesondere darin begründet liegt, dass Sie mit
der Photovoltaik zu früh und viel zu teuer an den Markt
gegangen sind und sie viel zu früh und zu hoch subven-
tioniert haben


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und dass Sie uns immer wieder gebremst haben, wenn
wir das auf ein normales Niveau zurückführen wollten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben das Prinzip nicht verstanden!)


Das haben Sie getan, und das müssen Sie sich letztend-
lich anrechnen lassen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Herr Nüßlein, Sie haben gut Make-up aufgetragen, dass Sie nicht rot werden!)


– Nein.





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)



(Ulrich Kelber [SPD]: Sie waren im gleichen Raum, als wir das gemacht haben! Sie haben der Frau Reiche widersprochen! Sie wollte das! Sie haben widersprochen!)


– Es liegt mir völlig fern, irgendwelche Schwarzer-
Peter-Spielchen, die Sie hier gerne spielen wollen, mit-
zuspielen. Aber man muss schon einmal sagen, wo wel-
che Kosten herkommen. Es wäre mir persönlich sehr
viel lieber, wenn wir die Energiewende endlich weniger
problem- und stärker lösungsorientiert diskutieren wür-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das wäre toll!)


Wir sollten uns einmal ernsthaft Gedanken darüber
machen, welchen Beitrag wir alle miteinander dazu leis-
ten können, dass dieses schwierige Experiment gelingt.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Was denn für ein Experiment?)


Sie haben seinerzeit nur einen Beitrag zum Aufbau teu-
rer Kapazitäten geleistet. Jetzt geht es darum, wie man
aus den teuer aufgebauten Kapazitäten eine Versorgung
aufbaut.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber jetzt nichts mit dem Thema zu tun! Herr Nüßlein, das ist nicht das Thema!)


Dazu höre ich relativ wenig Konstruktives von Ihrer
Seite. Wenn es um die Netze geht, höre ich von Ihnen
mehr Widerstand als Unterstützung zu dem, was man da
reduzieren kann. Ich sage Ihnen jetzt schon, dass wir bei
der Speicherförderung etwas auf den Weg bringen wer-
den.

Wir müssen schauen, wie wir schneller und mehr
Marktnähe hinbekommen. Auch da sind wir seit der letz-
ten EEG-Novelle auf einem ausgesprochen guten Weg.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719519800

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Lenkert?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1719519900

Bitte.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719520000

Vielen Dank, Herr Kollege Nüßlein. – Ich hätte zwei

kurze Fragen an Sie.

Erstens. Wie erklären Sie sich, dass der Strompreis
zwischen 2002 und 2012 von 14 Cent auf etwa 26 Cent
pro Kilowattstunde gestiegen ist, obwohl die EEG-Um-
lage nur um 3,5 Cent pro Kilowattstunde gestiegen ist?
Wo kommt der restliche Anstieg her?

Zweitens. Wissen Sie, dass die Hauptwiderstandskraft
gegen den Neubau eines Pumpspeicherwerkes, das wir
für die Energiewende dringend brauchen, ein ehemaliger

Landesminister der CDU in Thüringen, Herr Trautvetter,
ist? Was sagen Sie dazu? Wer steht hier der Energie-
wende im Weg?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1719520100

Entschuldigung, Herr Kollege, den letzten Teil habe

ich akustisch nicht verstanden.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719520200

In Thüringen ist ein Pumpspeicherwerk geplant, das

wir für die Energiewende brauchen. Ein ehemaliger Lan-
desminister der CDU, Herr Trautvetter, ist die Speer-
spitze des Widerstandes gegen dieses Pumpspeicher-
werk. Was sagen Sie dazu?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1719520300

Zunächst einmal kann ich nicht für ehemalige Lan-

desminister sprechen und Ihnen auch nicht erklären, was
sie denken. Das ist etwas, was man sie selber fragen
muss. Das ist das eine.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Schwarzen sind immer dagegen!)


Das andere kann ich Ihnen erklären. Die Anstiege der
Strompreise sind auch bedingt durch die Ökosteuer und
die Stromsteuer – ein Werk der linken Seite dieses Hau-
ses –, die dafür gesorgt haben, dass der Strom deutlich
teurer wird. Das muss man in dieser Klarheit einfach
einmal sagen.

Ein Haushalt zahlt momentan, bezogen auf den Preis
einer Kilowattstunde Strom, 8 Prozent Ökosteuer und
16 Prozent Mehrwertsteuer. Das ist eine ganze Menge.
Irgendwann wird man auch darüber diskutieren müssen,
wie genau man da einen Ausgleich hinbekommt. Das
sage ich ganz offen und ehrlich. Ich glaube, dass eine
Haltet-den-Dieb-Diskussion uns nichts bringt. Wir dür-
fen nicht einseitig nur auf die EEG-Thematik schauen,
sondern müssen auch einmal in Augenschein nehmen,
was beispielsweise Ihre Ökosteuer den Verbraucher kos-
tet, und darüber nachdenken, wie man da einen Aus-
gleich hinbekommt. Auch das gehört zur Wahrheit.

Ich weiß aber auch, wie unsere Haushalte aussehen
und wie problematisch es ist, solche Steuern zu kürzen.
Deswegen würde ich mir wünschen, dass wir in dieser
Debatte ein bisschen ehrlicher, konstruktiver und ziel-
orientierter miteinander umgehen und Sie nicht jede Wo-
che mit derselben Leier und denselben Vorwürfen kom-
men,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Dann ändern Sie doch einfach Ihre Redebeiträge!)


statt endlich konstruktiv darüber zu reden, wie man die
Energiewende voranbringt. Vielleicht hat der eine oder
andere von Ihnen auch dazu eine Idee. Das wäre zur Ab-
wechslung gar nicht schlecht.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719520400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Un-
berechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie
abschaffen – Kein Sponsoring der Konzerne durch
Stromkunden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/9999, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8608 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
von SPD und Grünen angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 9 auf:

Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbe-
auftragten

Jahresbericht 2011 (53. Bericht)


– Drucksache 17/8400 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffnet die Aussprache. Das Wort hat der Wehr-
beauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut
Königshaus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren Abgeordnete! Bitte erlauben Sie mir, als Erstes einen
herzlichen Gruß nach Bosnien-Herzegowina zu schi-
cken. In diesen Minuten wird im EUFOR-Hauptquartier
in Sarajevo die deutsche Flagge eingeholt. Damit endet
der bislang längste Auslandseinsatz der Bundeswehr.
Mehr als 63 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten wa-
ren dort seit 1996 im Einsatz. Beim Besuch dort habe ich
mich selbst von der hervorragenden und auch erfolgrei-
chen Arbeit unserer Soldaten überzeugen können.

Mein Dank gilt allen Soldatinnen und Soldaten, die
durch ihren Dienst in Bosnien-Herzegowina maßgeblich
zur Stabilisierung der Region beigetragen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle aber auch
ihren Angehörigen, die viel zu häufig vergessen werden
und manche Entbehrung und Belastung tragen mussten.
Und: Ich gedenke in Trauer der Soldaten, die bei diesem
Einsatz wie auch bei den anderen Einsätzen ihr Leben
lassen mussten oder die gesundheitlichen oder seeli-
schen Schaden erlitten haben. Ihre Opfer werden uns
stets mahnen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeord-
nete, bitte erlauben Sie mir vorab zwei weitere kurze
Anmerkungen zu aktuellen Fragen.

Erstens. Auch wenn es immer wieder bedauerliche
Einzelfälle gibt, die zu Recht hart geahndet wurden: Der
Wehrbeauftragte hat keine Erkenntnisse darüber, dass es
allgemeine rechtsradikale Tendenzen in der Bundeswehr
gibt. Bei noch immer beinahe 200 000 Soldatinnen und
Soldaten liegen jedenfalls die bekanntgewordenen Vor-
fälle glücklicherweise hinsichtlich Anzahl und Schwere
unterhalb der Durchschnittswerte in der Gesellschaft.

Dies gilt zweitens auch für die beklagenswerten sexu-
ellen Übergriffe und Sexualdelikte, von denen wir lesen
mussten. Ich möchte diese Vorfälle nicht bagatellisieren.
Aber man darf sie auch nicht verallgemeinern. Auch die
entsprechenden Zahlen hierfür liegen unter dem statisti-
schen Mittel der allgemeinen Kriminalitätsstatistik. Den-
noch ist jede dieser schändlichen Taten eine zu viel. Ich
werde diesen beiden Bereichen auch in Zukunft beson-
dere Aufmerksamkeit widmen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Nun zum Jahresbericht. Mehr denn je bestimmt wei-
terhin die laufende Neuausrichtung die Diskussion über
die Bundeswehr. Über die Probleme, die beim Übergang
von der Wehrpflicht zum Freiwilligendienst in den
Streitkräften aufgetreten sind, habe ich berichtet. Sie
sind inzwischen größtenteils gelöst. Dennoch ist die
Stimmung unter den Soldatinnen und Soldaten und mehr
noch unter ihren Angehörigen noch immer schlecht. Die
jüngsten Erhebungen der TU Chemnitz, im Auftrag des
Deutschen BundeswehrVerbandes erstellt, und des Sozial-
wissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr haben nun
auch wissenschaftlich belegt, was bereits Tenor meines
Jahresberichts in diesem Punkt war. Die Soldaten ver-
missen ein klar umrissenes Ziel der Reform und bezwei-
feln, dass die jetzt eingeleiteten Umstrukturierungen Be-
stand haben können. Vor allem kritisieren sie die
Umsetzung der Reform. Ich bin dem BundeswehrVer-
band und seinem Vorsitzenden Oberst Kirsch – ich sehe
ihn jetzt nicht; er wollte eigentlich anwesend sein; aber
andere Vertreter des Verbandes sind da – sehr dankbar
für die klare Positionierung in diesem Punkt.

Meine Damen und Herren, es gibt eben zu viele Bau-
stellen, und zu wenige Lösungen prägen die Situation.
Dazu einige Beispiele.

Frauen steht der Dienst in den Streitkräften in allen
Verwendungsreihen offen. Ihr Anteil ist auf zurzeit
9,6 Prozent gestiegen. Zweifellos ist das ein großer Er-
folg; denn ohne die Frauen wird die Bundeswehr ange-
sichts der demografischen Entwicklung in Zukunft noch
weniger auskommen als heute. Frauen aber bekommen
erfreulicherweise Kinder, die meisten jedenfalls.

Dieses Hohe Haus hat eine ganze Reihe von Gesetzen
beschlossen, um Frauen dazu zu ermutigen und es ihnen
auch zu erleichtern, sich für ein Kind zu entscheiden. In
der Bundeswehr aber fehlt es vielfach noch an einem
solchen ermutigenden Klima. Stattdessen wird häufig





Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus


(A) (C)



(D)(B)


darauf verwiesen, dass in der Zeit der Schwangerschaft,
des Mutterschutzes oder auch der Elternzeit der Soldatin
oder auch des Soldaten andere deren Arbeit miterledigen
müssten. Das ist wahr und leider unter den derzeitigen
Gegebenheiten auch unvermeidbar. Gerade deshalb ist
es aber die Aufgabe des Dienstherrn, Strukturen zu
schaffen, die dieses Problem lösen. Bis heute fehlt es an
dem dazu notwendigen personellen Vorhalten zur Kom-
pensation familienbedingter Abwesenheiten. Hier muss
bald etwas geschehen, übrigens nicht nur für die Mütter,
sondern auch für die Väter, damit sie den vom Gesetz
her besonders geförderten Anspruch auf Elternzeit auch
wahrnehmen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch bei der Kinderbetreuung gibt es kaum Fort-
schritte. Für die Bundeswehrkrankenhäuser in Ulm, Ko-
blenz und Berlin sollen jetzt zwar eigene Kindergärten
eingerichtet werden. Ohne solche Einrichtungen wären
die Krankenhäuser nach Aussage des Ministeriums im
Wettbewerb um die Gewinnung qualifizierten medizini-
schen Personals nicht konkurrenzfähig. Das ist wahr.
Wahr ist aber auch, dass das nicht nur für die Kranken-
häuser gilt. Angesichts des von der demografischen Ent-
wicklung angetriebenen Wettbewerbs mit der Wirtschaft
um den Nachwuchs werden sich bald alle Bereiche der
Streitkräfte einem solchen scharfen Wettbewerb stellen
müssen. Hier muss also an flächendeckenden Angeboten
gearbeitet werden, bevor es zu spät ist.

Bei Besoldung und Betreuung gibt es dagegen durch
die Übernahme des Tarifabschlusses für die Soldaten
spürbare Verbesserungen. Das wird in der Truppe auch
anerkannt. Die Angebote bei einem früheren Ausschei-
den aus dem Dienst nach dem Bundeswehrreform-Be-
gleitgesetz werden indessen insbesondere von Portepee-
unteroffizieren als nicht ausreichend empfunden. Die
Entwicklung in diesem Bereich werde ich natürlich wei-
ter verfolgen.

Meine Damen und Herren, erhebliche Sorgen bereitet
mir weiterhin der Sanitätsdienst; denn die sanitätsdienst-
liche Versorgung in der Fläche ist weiteren Einschrän-
kungen ausgesetzt. Die Zahl der regionalen Sanitätsein-
richtungen wird nahezu halbiert. Dieser Verlust soll
durch einen stärkeren Rückgriff auf niedergelassene
Ärzte kompensiert werden, was aber nicht überall gelin-
gen kann. Deshalb muss gerade dort eine stärkere Prä-
senz des Sanitätsdienstes gesichert bleiben, wo bereits
die ärztliche Regelversorgung zu stark ausgedünnt ist.

Weiterer Anstrengungen bedarf auch die Behandlung
und Betreuung einsatzgeschädigter, insbesondere trau-
matisierter Soldatinnen und Soldaten. Ziel muss hier die
Versorgung aus einer Hand auch über das Ende der
Dienstzeit hinaus sein.

Positiv hervorzuheben sind die durch den Deutschen
Bundestag beschlossenen Verbesserungen bei der Ver-
sorgung durch das Einsatzversorgungs-Verbesserungsge-
setz und das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz. Das
sind Maßnahmen, die die Situation der Betroffenen deut-
lich verbessert haben. Den Mitgliedern des Deutschen
Bundestages, die diese Verbesserungen, die übrigens

weit über die Vorstellungen der beteiligten Ministerien
hinaus gingen, für unsere Soldatinnen und Soldaten
durchgesetzt haben, gilt mein besonderer Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Fritz Rudolf Körper [SPD])


Meine Damen und Herren, auch Ausstattung und
Ausrüstung im Einsatz sowie in der einsatzvorbereiten-
den Ausbildung wurden weiter verbessert. Das ist anzu-
erkennen. Aber es sind noch weitere erhebliche Anstren-
gungen nötig, die ich dem Verteidigungs- und dem
Haushaltsausschuss bereits gesondert dargestellt habe.
Dabei sollten übrigens bei der Beschaffung bürokra-
tische Hemmnisse abgebaut werden. Nicht immer muss
für den Einsatz neuer Systeme jede zivile verkehrstech-
nische oder arbeitsrechtliche Anforderung erfüllt sein,
insbesondere dann nicht, wenn dadurch im militärischen
Einsatz andere Einschränkungen der Sicherheit hinge-
nommen werden müssen. Entscheidend ist doch, dass
die Truppe Systeme erhält, die den Anforderungen des
Einsatzes gerecht werden und den Schutz der Soldatin-
nen und Soldaten verbessern. Das muss die Richtschnur
zukünftiger Beschaffungs- und Entwicklungsverfahren
sein.

Inakzeptabel war im Berichtsjahr das Fehlen von Mu-
nition für Handfeuerwaffen und die dadurch bedingte
unzureichende Schießausbildung. Die Stellungnahme
des Ministeriums dazu erschöpft sich in einer Erklärung,
wie es zu dem Missstand gekommen ist, und sie gibt le-
diglich einen Ausblick, wann die ergriffenen Maßnah-
men voraussichtlich greifen werden. Das reicht in einer
Einsatzarmee für die Behebung eines so eklatanten Man-
gels nicht aus. Unsere Soldaten brauchen jeden Tag ihre
erforderliche Munition, sie brauchen jeden Tag die ent-
sprechende Ausrüstung. Ich bin froh, dass der Inspekteur
der Streitkräftebasis nun eine neue Initiative zur Verbes-
serung der Situation ergriffen hat.

Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang
möchte ich kurz auf die Kritik eingehen, die jüngst auch
von Abgeordneten an einigen meiner Äußerungen vor-
gebracht wurde. Der Wehrbeauftragte des Deutschen
Bundestages ist nicht für konkrete Beschaffungsentschei-
dungen und deren haushalterische Legitimation zuständig;
dessen bin ich mir bewusst. Es ist aber meine Aufgabe,
soweit erforderlich, auf Fähigkeitslücken hinzuweisen,
auch wenn es natürlich Stimmen gibt, die das anders se-
hen. Dies haben übrigens auch meine Vorgänger bereits
zu Recht so gehalten, und so wird es auch anderswo ge-
sehen. Im Vereinigten Königreich haben sich schon Ge-
richte mit Vorwürfen über unzureichende Ausrüstung
und Bewaffnung im Einsatz befassen müssen. So weit
muss es bei uns hoffentlich nicht kommen.

Meine Damen und Herren, ich wiederhole gerne, was
ich an dieser Stelle schon einmal gesagt habe: Die
Grundrechte unserer Soldatinnen und Soldaten, insbe-
sondere der Anspruch auf den Schutz ihrer körperlichen
Unversehrtheit, würden verletzt, wenn andere Gesichts-
punkte wie etwa Fragen der politischen Opportunität, in-
dustriepolitische Gesichtspunkte oder Kostengründe
Vorrang vor den Schutzansprüchen der Soldatinnen und





Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus


(A) (C)



(D)(B)


Soldaten fänden. Ich bedauere aber, dass mein Hinweis
auf eine anerkannte Fähigkeitslücke vereinzelt als das
Abwürgen einer ethischen Debatte empfunden wurde.
Das war nicht meine Absicht, und es steht ja auch gar
nicht in meiner Macht.

Frau Präsidentin, wenn ich darf – ich sehe, dass meine
Zeit abgelaufen ist –,


(Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: So weit ist es noch nicht!)


würde ich gerne noch einen Dank sagen. Abschließend
bedanken möchte ich mich zuallererst natürlich bei unse-
ren Soldatinnen und Soldaten, die einen hervorragenden
Dienst leisten, sowie selbstverständlich bei ihren Fami-
lien.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich danke auch Ihnen, den Mitgliedern des Deutschen
Bundestages, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
tern für Ihre stets wohlwollende Begleitung meiner Ar-
beit. Danken möchte ich auch dem Minister, dem Minis-
terium, militärischen Dienststellen und allen, die mit
meinem Amt zusammenarbeiten, für die zumeist konst-
ruktive Zusammenarbeit.

Ein besonders herzlicher Dank gilt aber natürlich
meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Amt des
Wehrbeauftragten. Sie sind hier durch die Führungs-
kräfte vertreten. Sie alle haben in dieser Zeit des Um-
bruchs viele zusätzliche Belastungen hervorragend ge-
meistert. Dafür bin ich Ihnen dankbar.

Meine Damen und Herren, Ihnen bin ich dankbar für
Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719520500

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,

möchte ich im Namen des gesamten Hauses dem Wehr-
beauftragten und natürlich seinen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern für die Vorlage des Jahresberichts 2011 und
ebenso für ihr Engagement danken.


(Beifall)


Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidi-
gung, Dr. Thomas de Maizière.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
heute eine Debatte des Dankes, aber das ist ja auch rich-
tig so. Herr Königshaus, ich möchte deshalb gerne die
Gelegenheit nutzen, Ihren Mitarbeitern, aber auch Ihnen
selbst für Ihre Arbeit zu danken. Wir mussten uns auch
erst ein bisschen aneinander gewöhnen, als ich ins Amt
kam und Sie ins Amt kamen.


(Harald Koch [DIE LINKE]: Wer an wen?)


– So wechselseitig. – Wir hatten auch Debatten über Ak-
tenzugänge und all das; da hat es auch manchmal ein
bisschen gerumst. Aber das ist alles, glaube ich, einver-
nehmlich gelöst. Ich bedanke mich auch für die differen-
zierte Art und Weise, in der Sie vorgehen, in der Sie hier
vorgetragen haben. Es gefällt einem Minister nicht im-
mer, wenn man in die Ecken guckt, wo vielleicht ein
bisschen Staub ist. Aber das gehört dazu, und deswegen
herzlichen Dank dafür.

Ich möchte auf ein paar einzelne Punkte eingehen, die
Sie angesprochen haben, und auch auf einen Punkt hin-
weisen, den Sie in Ihrem Bericht aufgeführt hatten, aber
heute nicht angesprochen haben.

Zunächst: In der Haushaltsdebatte hatten wir schon
darüber debattiert, dass es infolge der Neuausrichtung
der Bundeswehr, insbesondere in einer Phase, in der die
Umsetzungsschritte noch nicht für jeden Mitarbeiter, für
jeden Soldaten und jede Soldatin, für jede Mitarbeiterin
klar sind, zu Unsicherheit kommt. Das ist verständlich,
und wir müssen daran arbeiten, dass diese Unsicherheit
schnell abgebaut wird. Das tun wir, und dazu gehört na-
türlich auch, den Dienst in der Bundeswehr attraktiv zu
halten. Es war gestern vorgesehen, dazu im Verteidi-
gungsausschuss umfangreich vorzutragen. Dazu kam es
nicht; das wird dann sicherlich in der nächsten Sitzung
erfolgen. Aber ich glaube, in dieser Hinsicht ist doch ei-
niges passiert, auch im Bereich der Kinderbetreuung.

Dazu will ich gern eine Ergänzung anbringen; ich
weiß nicht, ob wir uns da unterscheiden. Sie haben von
einem flächendeckenden Angebot gesprochen. – So
weit, so gut. Ich bin aber nicht der Auffassung, dass es
sich um ein flächendeckendes Angebot der Bundeswehr
handeln sollte. Das hängt nämlich von den Umständen
vor Ort ab. Es mag manchmal nicht nur billiger, sondern
für das Aufwachsen der Kinder auch besser sein, dass
vor Ort mit Belegungsrechten und in anderer Weise da-
für Sorge getragen wird, dass die Kinder von Soldatin-
nen und Soldaten anständig betreut werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es kann sogar ein Fehler sein, Kindergärten einzu-
richten, in denen nur Soldatenkinder sind. Ich habe in
Amerika Großstandorte besucht. Da ist alles von der Ar-
mee belegt: die Häuser, die Schulen, die Kindergärten,
die Sportplätze. Ich möchte das in Deutschland nicht,
sondern ich möchte, dass die Soldatinnen und Soldaten
und ihre Angehörigen Teil der Gesellschaft sind und
Kinderbetreuung für sie stattfindet, ganz gleich wo. Das
heißt, durch uns organisierte Kinderbetreuung wird es
nur an Großstandorten geben. Selbst in Ulm – Sie haben
das Beispiel erwähnt – soll zusammen mit der Universi-
tätsklinik ein Kindergarten eingerichtet werden, in dem
die Kinder zusammen aufwachsen und spielen.

Wenn wir unter Kinderbetreuung also verstehen, dass
jeder ein Angebot haben soll, aber es kein bundes-
wehreigenes Angebot sein muss, dann sind wir, glaube
ich, einig.





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)


Zur Sanität vor Ort: Ich hatte schon im Ausschuss und
hier bei verschiedener Gelegenheit vorgetragen, dass die
Realisierungsplanung bis auf die Standortschießplätze
und damit zusammenhängende Fragen und bis auf Sani-
tät abgeschlossen ist. Warum? Weil Sanität akzessorisch
ist; Sanitätsversorgung muss ja da sein, wo Menschen
sind. Deswegen muss sich die Sanitätsversorgung etwa
an die zeitliche Abfolge der Schließung von Standorten
anpassen und ihr nachlaufen.

Nun wird überlegt – das ist im Grunde unser Anspruch –,
dass wir jedem Soldaten eine sanitätsdienstliche Versor-
gung von uns zur Verfügung stellen. Nur, in kleinen
Standorten ist dann diese Versorgung, wenn sie denn
stattfindet, nicht nur teuer, sondern schlechter; denn wir
können gar nicht so viel Sanitäts- und ärztlichen Sachver-
stand in kleinen Standorten vorhalten, dass es dort für die
Fülle der denkbaren Krankheitsbilder eine gute Versor-
gung gibt. Es kann nicht im Interesse der Soldatinnen und
Soldaten liegen, dass sie vor Ort zu wenig Ärzte haben,
die etwas von der Sache verstehen, oder für eine vielleicht
harmlose Krankheit eine Stunde zu einem Sanitätsversor-
gungszentrum fahren müssen, sondern es kann viel eher
im Interesse der Soldatinnen und Soldaten sein, dass wir
mit dem Hausarzt um die Ecke oder dem Internisten um
die Ecke einen Vertrag abschließen und sie zu ihm gehen
können und die Kosten erstattet bekommen, sodass nur
dann, wenn es um Dinge geht, die in besonderer Weise sa-
nitätsdienstlich für uns von Interesse sind, eine spezielle
Versorgung in einem Sanitätsversorgungszentrum er-
folgt. Ich glaube, das ist im Interesse der Soldatinnen und
Soldaten sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ge-
rade an kleinen Standorten, wenn wir diese vertragsärzt-
liche Versorgung ausbauen können. Das Konzept kommt
demnächst.


(Beifall des Abg. Burkhardt Müller-Sönksen [FDP])


Nun zur Ausrüstung: Das ist, wie Sie ja wissen, wie
wir alle wissen, ein ständiger, wenn Sie so wollen, mah-
nender Zeigefinger, den Sie erheben. Durch Sie, aber
auch durch die Haushälter, durch den Verteidigungsaus-
schuss und durch meine Vorgänger ist in diesem Bereich
sehr viel passiert. Sicherlich ist manches zu spät gewe-
sen, was Afghanistan angeht. Aber ich würde einmal die
Behauptung aufstellen, dass heute die Soldatinnen und
Soldaten unserer Bundeswehr sowohl hinsichtlich ihrer
Ausrüstung wie auch bei der Fortbewegung und bei an-
deren Formen im Schnitt besser geschützt sind als unsere
Verbündeten. Das ist so. Ich will jetzt nicht die Staaten
miteinander vergleichen, weil sich das nicht gehört.
Aber wenn man mit den Soldaten vor Ort spricht und
wenn man manche Folgen von Anschlägen sieht, dann
stellt man fest, dass das inzwischen so ist. Dies ist auch
Ihr Verdienst, und das ist gut so. Dass Sie weiterhin in
diese Richtung drängen, versteht sich von selbst.

Eine Bemerkung will ich mir nicht verkneifen, die Sie
natürlich auch kennen: Nicht immer liegt das Abstellen
von Mängeln am Ministerium oder am Geld, sondern
manchmal liegt es auch an dem, der etwas liefern sollte.
Das ist ein leidgeprüftes Thema, das ich jetzt auch nicht

an Beispielen vertiefen will. Aber auch das gehört zur
Wahrheit.

Herr Königshaus, Sie haben in Ihrem schriftlichen
Bericht einen Punkt angesprochen, auf den ich und viele
unserer Kollegen auch bei jedem Truppenbesuch ange-
sprochen werden: Das ist das Thema Weiterverpflich-
tung. Viele Zeitsoldaten fragen: Warum können wir nicht
weiterverpflichtet werden, obwohl wir jetzt erfahren
sind, gut sind und gut ausgebildet sind? Stattdessen wer-
den heurige Hasen eingestellt, die keine Ahnung haben.
Wie kann das gehen in einem Einsatz? – Das ist, glaube
ich, ein zentraler Punkt. Ich will dazu gern zwei Dinge
sagen.

Zunächst muss es immer eine richtige Mischung zwi-
schen sehr Erfahrenen, mittelmäßig Erfahrenen und An-
fängern geben. Wir würden unseren Nachfolgern ja kei-
nen Gefallen tun, wenn wir jetzt alle erfahrenen Leute
weiter verpflichten. Denn wenn diese in fünf oder sechs
Jahren auf einmal ausscheiden, sind überhaupt keine er-
fahrenen Kräfte mehr da. Deswegen muss es immer eine
Mischung geben.

Nun ist der Eindruck erweckt worden – nicht von Ih-
nen, aber von manchen in der Truppe –, das sei alles viel
zu wenig, da finde nichts statt. Deswegen habe ich mir
für die heutige Debatte die Zahlen besorgen lassen, wie
hoch die Zahl der Weiterverpflichtungen von Zeitsolda-
ten ist, die als Z 4, Z 8 oder Z 12 angefangen haben, de-
nen es dann gefallen hat oder bei denen der Vorgesetzte
gesagt hat: „Junge, bleib doch bei uns“, und bei denen
die Prüfung der Weiterverpflichtung zu einem positiven
Ergebnis gekommen ist. Wie viele dieser Weiterver-
pflichtungen hat es also gegeben? Es waren im Jahr 2010
3 180, es waren im Jahr 2011 – in dem Jahr, in dem die
Wehrpflicht ausgesetzt worden ist und in dem die Lücke
natürlich besonders groß war – 6 340, davon allein fast
5 000 beim Heer, wo das Problem am größten war, und
es sind im Jahr 2012 bisher fast 2 800. Das wird also
schon gemacht.

Natürlich wird jeder Fall, der abgelehnt wird, beson-
ders betont, während die Fälle, die bewilligt werden, als
selbstverständlich angesehen werden. Wir bleiben dabei.
In diesem Zusammenhang verweise ich noch einmal auf
den Bundeshaushalt, für den wir die Höherbewertung
von rund 5 000 Stellen gerade für Mannschaftsdienst-
grade beantragt haben in der Hoffnung, dass sie bewil-
ligt wird. Einem Zeitsoldaten geht es ja nicht nur darum,
länger zu bleiben; vielmehr verbindet er mit dem
Wunsch, länger zu bleiben, auch die Erwartung, beför-
dert zu werden. Dafür braucht man dann auch die ent-
sprechenden Stellen.

Wir brauchen hier Augenmaß und wir brauchen Ver-
ständnis für beide Positionen, nämlich die Weiterver-
pflichtung von Erfahrenen und das Bemühen um die Re-
krutierung von Neuen, die später die Erfahrenen sein
werden. Das ist der Sinn und Zweck einer Armee, die
eben keine Berufsarmee, sondern eine Freiwilligenar-
mee ist, die zu zwei Dritteln aus Zeitsoldaten und zu ei-
nem Drittel aus Berufssoldaten besteht.





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)


Meine Damen und Herren, das Ministerium wird wei-
terhin die Arbeit des Wehrbeauftragten und seiner Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter konstruktiv begleiten. Wenn
es einmal knirscht, werden sich immer Wege finden, auf
denen wir das abzustellen versuchen. – Herzlichen
Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719520600

Das Wort hat die Kollegin Karin Evers-Meyer für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Karin Evers-Meyer (SPD):
Rede ID: ID1719520700

Frau Präsidentin! Verehrter Herr Wehrbeauftragter!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass
wir heute den Jahresbericht 2011 des Wehrbeauftragten
im Plenum behandeln können.

Wir haben eine Bundeswehr, die Hervorragendes leis-
tet. Das hat der Herr Wehrbeauftragte eben schon aus-
führlich gewürdigt. Ich möchte nicht nur als Verteidi-
gungspolitikerin, sondern auch im Namen meiner
Fraktion allen Diensttuenden für ihren Einsatz und für
ihr Engagement bei der Bundeswehr herzlich danken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich wünsche mir natürlich, dass die im Bericht aufge-
zeigten Defizite und Mängel zügig behoben werden, da-
mit unsere Soldaten auch in Zukunft erfolgreich und si-
cher ihren Dienst leisten können.

Herr Wehrbeauftragter Königshaus, auch wenn wir
von der SPD noch in der Opposition sind,


(Zuruf von der FDP: Noch lange!)


möchte ich für Ihren Bericht nicht mit Lob sparen. Er
spricht offen und mutig Missstände an, die es schnell ab-
zustellen gilt. Der Bericht zeigt, wo angesetzt werden
muss. Das verdient unser Lob. Wir schließen ausdrück-
lich Ihre Mitarbeiter darin ein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich denke, dass wir Dinge anpacken müssen, Dinge
aus der Welt schaffen müssen, die immer noch die Quali-
tät und Sicherheit der Arbeit unserer Streitkräfte gefähr-
den. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, den Be-
dürfnissen und Sorgen unserer Soldatinnen und Soldaten
in der besonderen Weise nachzukommen, wie auch sie
für unser Land in ganz besonderer Weise Belastungen
tragen. Lassen Sie uns Lösungen finden, damit sich vor
allen Dingen in Zukunft Dienst und Familie besser ver-
tragen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen zum Beispiel dafür sorgen, dass Mütter
mit Kindern unter zwei Jahren nicht in einen Auslands-
einsatz geschickt werden.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Werden sie doch nicht!)


Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Bundeswehr
mehr Anstrengungen unternimmt, Kinderbetreuung zu
ermöglichen. Herr Minister, ich habe mit Freude zur
Kenntnis genommen, dass Sie gesagt haben, dass Weite-
res folgen soll. Auch die Kooperation mit den Kommu-
nen ist sicherlich sinnvoll. Das passt aber sehr oft nicht
zusammen. Die Bundeswehr kauft sozusagen Plätze,
aber die Öffnungszeiten der Einrichtungen entsprechen
nicht den Schichtdiensten der Soldaten. Schon stehen
diese Eltern wieder ohne eine adäquate Betreuung da.
Ich finde, da könnte man noch eine Schippe drauflegen.
Das wäre sehr schön. Die Bundeswehr will doch ein at-
traktiver Arbeitgeber sein. Ein attraktiver Arbeitgeber
muss auch für vernünftige Kinderbetreuung sorgen.


(Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Darüber kann man reden!)


Ein für meine Fraktion ganz wichtiges Thema ist die
Belastung von Soldatinnen und Soldaten bei Auslands-
einsätzen. Das muss besser werden. Das muss in einem
erträglichen Rahmen bleiben. Drei Auslandseinsätze in
zwei Jahren sind zu viel für einen Soldaten oder eine
Soldatin. Ich denke zum Beispiel an das deutsch-öster-
reichische ORF-Bataillon in Bruchsal. Wir sind es den
Soldatinnen und Soldaten schuldig, realistische Ruhezei-
ten zwischen den Einsätzen sicherzustellen und die Be-
lastung auf ein erträgliches Maß zu bringen.


(Beifall der Abg. Dr. h. c. Susanne Kastner [SPD])


Auch der Einwand, dass diese zusätzlichen Belastun-
gen freiwillig übernommen werden, überzeugt mich
nicht. Das ist doch dann eher freiwilliger Zwang. Natür-
lich lässt man seine Kameraden, mit denen man in meh-
reren Einsätzen zusammen war, nicht im Stich, wenn sie
sagen: Du willst doch unsere Truppe nicht alleine gehen
lassen. – Was nützt es, wenn diese Soldaten, die sehr oft
junge Familienväter sind, zurückkommen und vor den
Trümmern ihrer Ehe stehen bzw. ihre Familie daran zer-
brochen ist? Dieses Thema muss man viel ernster neh-
men. Auch dieses Thema trägt zur Attraktivität der Bun-
deswehr bei.

Herr Wehrbeauftragter, eines muss ich noch anmer-
ken, auch wenn Sie es schon angesprochen haben: Über
eine Sache haben wir uns in den letzten Tagen etwas ge-
wundert: Uns von der Opposition ist vielleicht entgan-
gen, dass der Wehrbeauftragte neuerdings auch Ein-
kaufsberater der Bundeswehr ist. Anders können wir uns
Ihre Kaufempfehlung für bewaffnete Drohnen nicht er-
klären. Dabei ist Ihr Ansinnen sicherlich honorig: Die
Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten im Auslands-
einsatz soll gesteigert werden. Das sehen wir auch nicht
anders. In der Frankfurter Rundschau vom Montag wer-
den Sie allerdings mit den Worten zitiert:

„Hätten unsere Soldaten bewaffnete Drohnen zur
Verfügung, müssten sie nicht mehr hilflos zu-
schauen, wenn unsere eigenen Leute bedroht wer-
den“, …





Karin Evers-Meyer


(A) (C)



(D)(B)



(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ja! – Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Richtig!)


Herr Königshaus, wenn Sie es ernst meinen mit der
Sicherheit unserer Soldaten, dann lesen Sie doch bitte
noch einmal in Ihrem Bericht nach, was dort zur Ausrüs-
tung unserer Truppen geschrieben steht. Aus den Zeilen

… im zehnten Jahr des Afghanistan-Einsatzes be-
standen zahlreiche … Mängel im Bereich der Aus-
rüstung fort

geht doch eindeutig hervor, wo nachgebessert werden
muss. Die von Ihnen im Bericht ebenfalls beschriebenen
Mängel an Handwaffen und Munition geben zusätzli-
chen Aufschluss. Jetzt auf ein schussbereites fliegendes
Auge zu setzen, trägt eventuell in einigen Jahren zu
mehr Sicherheit bei. Aber diese Diskussion hilft doch
nicht unseren Truppen, die heute im Auslandseinsatz
sind.


(Beifall bei der SPD)


Verstehen Sie mich bitte richtig: Wir finden wirklich,
dass Sie ordentliche Arbeit leisten. Aber nehmen Sie
bitte Ihre gesetzlichen Aufgaben als Hilfsorgan des Bun-
destages bei der Ausübung der parlamentarischen Kon-
trollen wahr. Das operative Geschäft und die Material-
und Waffenbeschaffung fallen unserer Meinung nach in
ein anderes Ressort.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bericht
des Wehrbeauftragten von 2011 zeigt, wo gehandelt wer-
den muss. Verteidigungsministerium und Bundeswehr-
führung sind gefordert, den Rahmen so zu gestalten, dass
unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst bestmög-
lich und mit möglichst geringer Gefährdung tun können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719520800

Der Kollege Christoph Schnurr hat nun für die FDP-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christoph Schnurr (FDP):
Rede ID: ID1719520900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Am 24. Januar
2012 haben Sie, Herr Königshaus, uns den aktuellen Be-
richt vorgelegt. Sie haben damit neue Maßstäbe gesetzt,
was die zeitliche Unterrichtung des Deutschen Bundes-
tages betrifft.


(Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Harald Koch [DIE LINKE])


Manchmal wäre man froh, wenn der eine oder andere
Bericht ebenfalls zeitnah vorläge. Wenn das dann, wie
jetzt beim Wehrbericht, einmal der Fall ist, Herr Kollege
Koch, dann muss man das auch positiv erwähnen.

In diesem Zusammenhang möchte ich im Namen
meiner Fraktion insbesondere Ihrem Hause meinen
Dank aussprechen; denn ohne Ihre Mitarbeiterinnen und

Mitarbeiter wäre diese schnelle Umsetzung sicherlich
nicht gelungen.

Ich möchte gleichzeitig aber auch all denjenigen dan-
ken, die die unterschiedlichsten Eingaben – ob es nun
Briefe, E-Mails, Faxe oder teilweise auch Telefonate wa-
ren – Ihnen zukommen ließen, auf deren Grundlage Sie
diesen Bericht verfasst haben. Im Grunde sind die Peten-
ten die eigentlichen Verfasser dieses Berichtes. Sie schil-
dern ihre Erfahrungen mit diversen Missständen und lei-
der teilweise auch mit dem gelegentlichen Fehlverhalten
von Kameraden.

Dabei dürfen wir eines nicht vergessen: Der Jahresbe-
richt des Wehrbeauftragten wird eben auch von denjeni-
gen Menschen in Deutschland gelesen, die sich eine
Karriere bei der Bundeswehr vorstellen können. Das In-
teresse an diesem Jahresbericht 2011 ist vorhanden. Seit
der Übergabe wurde er über 36 000-mal heruntergela-
den. Das zeigt, dass er nicht nur eine von vielen Druck-
sachen ist, die sicherlich in der Bundeswehr interessiert
zur Kenntnis genommen wird, sondern dass dieser Be-
richt auch in der Breite der Gesellschaft Beachtung fin-
det. Darüber sollten wir uns im Klaren sein. Der Bericht
und die darin beschriebenen Missstände sind entschei-
dend dafür, wie die Bundeswehr im Lande wahrgenom-
men wird.

Ich möchte auf drei wesentliche Punkte eingehen, die
Herr Königshaus und der Minister zu Beginn schon an-
gesprochen haben.

Erstens. Ein wichtiger Punkt ist die wesentliche Ver-
besserung von Ausstattung und Ausrüstung über die
letzten Jahre hinweg. Hierzu gehört auch – wenn ich das
an dieser Stelle ergänzen darf – die immer besser wer-
dende einsatzvorbereitende Ausbildung. Hier sind viele
finanzielle Mittel geflossen, damit unsere Soldatinnen
und Soldaten eben nicht erst im Einsatz die entsprechen-
den Fahrzeuge oder Systeme bedienen müssen, ohne sie
vorher erprobt zu haben. Sie sollen schon hier in
Deutschland bestmöglich ausgerüstet werden.

Momentan haben wir über 1 000 geschützte Fahr-
zeuge; das ist ein sehr hoher Stand. Es ist nur richtig,
dass diese Fahrzeuge, die derzeit wieder aus dem Aus-
landseinsatz zurückgeführt werden, unmittelbar für die
einsatzvorbereitende Ausbildung genutzt werden. Da-
mit wird sichergestellt, dass die Fahrer einen routinierten
Umgang mit den jeweiligen Fahrzeugen erlernen kön-
nen. Hier sind wir auf einem guten Weg.

Natürlich gab es in der Vergangenheit immer wieder
einzelne Probleme. Insgesamt lässt sich jedoch festhal-
ten, dass wir auch die Erfahrungen, die wir bei den un-
terschiedlichsten Gesprächen im Rahmen von Truppen-
besuchen im Inland oder im Ausland gesammelt haben,
in den Verteidigungsausschuss oder in den Haushaltsaus-
schuss einbringen konnten. An dieser Stelle geht mein
expliziter Dank an unsere Haushälter dafür, dass für
wichtige Investitionen, für wichtige Beschaffungsvorha-
ben, für Ausrüstung und für Ausbildung die jeweils be-
nötigten finanziellen Mittel bereitgestellt wurden.

Wenn wir über den Schutz im Einsatz sprechen, dann
darf der Tiger nicht unerwähnt bleiben. Ich glaube, dass





Christoph Schnurr


(A) (C)



(D)(B)


wir recht gut in der Zeit liegen, und hoffe, dass es in die-
sem Zusammenhang keine weiteren Verschiebungen
mehr gibt.

Zweitens. Ein weiterer wichtiger Punkt, über den wir
im Deutschen Bundestag schon einmal diskutiert haben,
ist die Betreuungskommunikation. Es gab einen inter-
fraktionellen Antrag, der eine sehr starke Wirkung hatte.
Einiges aus diesem Antrag ist bereits umgesetzt worden.
So sind die praktischen Maßnahmen zum Schutz der Pri-
vatsphäre durchgeführt worden. Die Erhöhung der
Bandbreite für die Internetnutzung sollte zeitnah erfol-
gen und bald auch abgeschlossen sein.

Selbstverständlich – darauf möchte ich an dieser
Stelle noch einmal hinweisen – erwarten wir auch wei-
terhin die volle Umsetzung des kompletten Antrags, den
wir im Deutschen Bundestag beschlossen haben. Das
gilt insbesondere für das zum Ende dieses Jahres ange-
kündigte Umsetzungskonzept zur kostenfreien Nutzung
des Internets.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Dazu gehört auch, dass wir uns nicht nur die Bereiche
anschauen, die oft im Fokus der politischen und gesell-
schaftlichen Diskussion stehen, wie beispielsweise der
Einsatz in Afghanistan. Wir müssen uns vielmehr auch
den Bereich der Marine im Einzelnen vornehmen; denn
auch hier gibt es vermehrt Baustellen, was die Telekom-
munikationsmöglichkeiten auf Schiffen anbelangt.


(Karin Evers-Meyer [SPD]: Sehr richtig!)


Drittens: die Neuausrichtung. Die Frage der Attrakti-
vität der Bundeswehr wurde immer wieder gestellt; sie
begleitet uns seit Jahren und wird uns auch in den nächs-
ten Jahren begleiten. Denn die Bundeswehr ist natürlich
ein Arbeitgeber, der um die qualifiziertesten und fähigs-
ten jungen Männer, aber auch Frauen wirbt. Wir haben
hier einen guten Weg eingeschlagen; die ersten Maßnah-
men sind beschlossen und auch umgesetzt. Aber ich
glaube, dass dies nicht das Ende sein darf.

Die Zahlen sprechen für sich: Am 1. Oktober, kom-
menden Montag, werden 3 500 Freiwillige ihren Dienst
antreten und circa 3 000 Soldaten auf Zeit ihren Dienst
beginnen. Das zeigt doch, dass die Bundeswehr nach der
Aussetzung der Wehrpflicht durchaus noch attraktiv ist.
Wir haben erreicht, dass die Bundeswehr weiterhin in
unserer Demokratie verankert ist, und wir konnten sie
als attraktiven Arbeitgeber positionieren und darstellen.

Wenn ich es in der heutigen Meldung richtig gelesen
habe, haben sogar mehr als 50 Prozent derjenigen, die
am kommenden Montag ihren freiwilligen Wehrdienst
bei der Bundeswehr beginnen werden, Abitur. Die ur-
sprüngliche Befürchtung, dass keiner mehr zur Bundes-
wehr gehen will, wenn die Wehrpflicht ausgesetzt ist, hat
sich nicht bestätigt. Insofern glaube ich, dass wir auch in
diesem Punkt auf einem guten Weg sind.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. ErnstReinhard Beck [Reutlingen] [CDU/CSU])


Ich sehe, dass meine Redezeit rasant schwindet. Ich
möchte noch einen Punkt ansprechen, der ebenfalls zum
Thema Neuausrichtung gehört. Frau Präsidentin, ich ver-
spreche Ihnen: Es geht schnell.

Herr Wehrbeauftragter, ich glaube, Sie haben schon
viele Gespräche zum Thema Neuausrichtung geführt.
Wir dürfen nicht vergessen: Es geht hier nicht nur um
eine strategische Frage, die sicherheitspolitisch abgelei-
tet wird, sondern es geht bei dieser ganzen Reform auch
um Menschen; es geht um unsere Soldatinnen und Sol-
daten und um die zivilen Angestellten. Deswegen ist es
wichtig, dass wir uns unter anderem die Studie des Deut-
schen BundeswehrVerbandes sehr detailliert anschauen.
Darin steht nicht nur Negatives, allerdings auch nicht
nur Positives.

Lassen Sie mich am Ende noch eines sagen: Ich
glaube, nicht alles ist perfekt. Aber für uns ist klar: Re-
formen bedeuten Veränderungen. Wer diese Veränderun-
gen nicht haben will, der sollte nicht nach Reformen ru-
fen. Mein Dank gilt den Angehörigen der Bundeswehr,
unseren Soldatinnen und Soldaten, den Zivilisten, aber
auch den Reservisten und ganz besonders den Familien.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719521000

Der Kollege Harald Koch hat für die Fraktion Die

Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719521100

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Sehr geehrter Herr Königshaus! Wir reden heute
über den Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr
2011, also über all diejenigen Probleme, Verfehlungen,
Mängel und Unzufriedenheiten, wegen denen sich die
Soldatinnen und Soldaten im letzten Jahr an Sie gewandt
haben. Dabei ist ein Phänomen zu beobachten, nämlich
dass die aufgezählten Defizite Jahr für Jahr nahezu iden-
tisch sind.

Wir sprechen jedes Jahr aufs Neue über die unzurei-
chende medizinische Versorgung und Absicherung der
Soldatinnen und Soldaten, die im Einsatz verwundet
oder traumatisiert werden. Wir sprechen jedes Jahr wie-
der über grobes Fehlverhalten von Vorgesetzten oder
über unangemessene und herabwürdigende Aufnahmeri-
tuale. Auch die ausbleibenden Fortschritte bei der Ver-
einbarkeit von Dienst und Familie und die daraus resul-
tierenden Trennungs- und Scheidungsquoten unter den
Soldatinnen und Soldaten von zum Teil über 80 Prozent
sind immer wieder ein Thema, ganz zu schweigen von
der kritischen Personalsituation im Sanitätsdienst oder
der Unzufriedenheit über die halbherzigen Entschädi-
gungsanstrengungen gegenüber den Radarstrahlenop-
fern.

Herr Königshaus, verstehen Sie mich nicht falsch: Es
ist gut und richtig, dass Sie all diese Mängel und Pro-
bleme Jahr für Jahr auflisten und zur Sprache bringen.





Harald Koch


(A) (C)



(D)(B)


Es ist aber äußerst bedenklich, dass dies anscheinend gar
nichts an der Situation ändert. Da muss ich in Richtung
des Ministers die Frage stellen: Wie lange soll das noch
so weitergehen?


(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Ihr wollt doch die ganze Truppe abschaffen!)


Sie sprechen in Ihrem Bericht von schlechter Stim-
mung und tiefgreifender Verunsicherung in der Truppe.
Dies wurde mittels der Studie des Deutschen Bundes-
wehrVerbandes nun auch wissenschaftlich belegt. Ich
sage Ihnen: Das Ganze kommt nicht von ungefähr, es hat
hausgemachte Ursachen.

Zum einen wird in der Bundeswehr alles der uneinge-
schränkten Einsatzfähigkeit untergeordnet. Wenn das
Geld nach der Beschaffung von millionenschweren
Kriegsgeräten ausgegangen ist oder es in den Augen der
Einsatzleitung nötig ist, dass Soldatinnen und Soldaten
sechs Monate oder länger am Stück im Einsatz sind,
dann fallen die Interessen der Betroffenen hinten herun-
ter und werden als nicht so wichtig erachtet. Das spüren
die Soldatinnen und Soldaten auch. Das ist für die Linke
nicht hinnehmbar und muss dringend überdacht werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum anderen wurde von Anfang an vergessen, die
Soldatinnen und Soldaten bei der Reform der Bundes-
wehr mitzunehmen. Stattdessen wird jetzt versucht, ein
unausgegorenes und falsch konstruiertes Konzept von
oben herab überzustülpen. Dass da massive Unzufrie-
denheiten entstehen und gut 90 Prozent der Befragten
– das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen las-
sen: 90 Prozent – im Rahmen der Studie des Bundes-
wehrVerbandes der Meinung sind, dass diese Reform
nicht von Dauer sein wird und Korrekturen unumgäng-
lich sind, kann ich nur zu gut nachvollziehen. Daher
kann ich dem Verteidigungsminister nur raten, diese Pro-
bleme nicht länger abzutun bzw. zu ignorieren. Nehmen
Sie die Bedürfnisse der Soldatinnen und Soldaten end-
lich ernst und ändern Sie etwas. Es wird höchste Zeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Eines möchte ich dennoch betonen: Der Wehrbeauf-
tragte – ich schließe seine Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter mit ein – macht eine sehr gute Arbeit. Er trägt
dazu bei, dass Verfehlungen nicht unter den Teppich ge-
kehrt werden, dass aufgeklärt wird und dass manchmal
auch unangenehme Fragen auf der Tagesordnung stehen.
Dafür möchte ich ihm und seinen Mitarbeitern danken.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Königshaus, was aber meines Erachtens gar
nicht geht – das ist heute schon mehrfach angesprochen
worden –, ist, dass Sie sich zum Gehilfen der Rüstungs-
lobby machen und nun bewaffnete Drohnen für die Bun-
deswehr fordern. Als Begründung führen Sie an – das
haben Sie noch einmal gesagt –, dass das die Sicherheit
der Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen
erhöhen würde. Aber was ist mit der Sicherheit der vie-
len unschuldigen Zivilistinnen und Zivilisten, die durch
bewaffnete Drohnen ums Leben kommen? Ist die weni-

ger wichtig? Was ist mit der moralischen und ethischen
Dimension des Ganzen?


(Zuruf von der CDU/CSU: Heuchler!)


Was ist mit dem Herabsinken der Schwelle für Gewalt-
anwendung, der drohenden Abstumpfung, wenn der po-
tenzielle Gegner von weit weg per Knopfdruck ausge-
schaltet wird? Ist das auch nur um einen Deut besser?
Für mich definitiv nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Königshaus, Ihre Aufgabe ist es, die Rechte der
Soldatinnen und Soldaten zu schützen sowie dem Bundes-
tag bei der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte be-
hilflich zu sein. Verwenden Sie daher Ihre Energie lieber
darauf, dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr end-
lich beendet werden.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das entscheidet das Parlament, nicht der Wehrbeauftragte!)


Das bedeutet Sicherheit für die Soldatinnen und Solda-
ten.


(Beifall bei der LINKEN)


Das würde zeigen, dass die Bedürfnisse der Soldatinnen
und Soldaten ernst genommen werden. Konzentrieren
Sie sich auf Ihre eigentliche Aufgabe und lassen Sie die
Finger von Drohnen und anderem Kampfgerät. Damit ist
den Soldatinnen und Soldaten am meisten geholfen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719521200

Der Kollege Omid Nouripour hat für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719521300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt

gute und es gibt schlechte Routinen. Zu den guten Routi-
nen gehört, dass wir immer wieder zusammenkommen,
um über den jährlichen Bericht des Wehrbeauftragten zu
sprechen. In diesem Zusammenhang gehört es dazu, Ih-
nen, Herr Wehrbeauftragter, und Ihren Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern für die gute Arbeit, die Sie leisten,
herzlich zu danken. Der Wehrbeauftragte ist eine Institu-
tion, die international einmalig und für eine Parlaments-
armee zwingend notwendig ist.


(Beifall der Abg. Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Keine Routine ist der Bericht selbst, der in der Regel
sehr gründlich und sehr gut strukturiert vorliegt.

Sie haben vorhin gesagt, dass ich Ihnen in Bezug auf
das Thema Kampfdrohnen das Abwürgen der Debatte
vorgeworfen habe. Dazu möchte ich ein paar Sätze sa-
gen. Wir brauchen bei diesem Thema Zeit für eine Dis-
kussion, die sowohl die ethischen als auch die rechtli-
chen Aspekte berücksichtigt.


(Christoph Schnurr [FDP]: Wir haben auch Zeit!)






Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)


Den Zeitdruck, der hier immer wieder herbeigeredet
wird, indem gesagt wird, dass wir jetzt schnell entschei-
den müssen, gibt es schlicht nicht. Wenn Sie diesem
Zeitdruck sozusagen das Wort reden, dann würgen Sie
damit die Debatte ab. Das habe ich gemeint. Helfen Sie
uns bitte, dass wir diese Debatte führen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, ich kann nur fest-
halten: Der Kollege Ernst-Reinhard Beck von der CDU/
CSU hat in der letzten Haushaltsdebatte gesagt, dass es
durchaus möglich und kein Problem wäre, den Einsatz
von Heron 1 erst einmal zu verlängern. Dann hätten wir
ausreichend Zeit, um diese Debatte zu führen. Natürlich
ist es Ihr gutes Recht und es ist auch Teil Ihrer Aufgabe,
auf Fähigkeitslücken hinzuweisen. Das ist unbestritten.
Lassen Sie mich aber drei Gründe nennen – und das sind
nicht die einzigen –, warum wir diese Debatte brauchen:

Erstens. Es gibt unglaublich viele Großinvestitionen
bei der Bundeswehr, bei denen erst beschafft und dann
diskutiert wurde. Das wissen Sie selbst.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ich kenne das aus rot-grüner Zeit!)


Es gibt so viele Investitionsruinen. Das hat mit dem
Schutz der Soldatinnen und Soldaten nichts zu tun.

Zweitens. Wenn wir über den Schutz der Soldatinnen
und Soldaten reden, dann sollten wir auch darüber reden,
dass in den US-Streitkräften die Suizidrate bei denjeni-
gen, die Kampfdrohnen steuern, höher ist als bei denje-
nigen, die Bomber fliegen.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Drittens. Wenn Sie betonen, dass der Schutz der Sol-
datinnen und Soldaten gewährleistet sein muss, dann
müssen wir natürlich auch solche Aspekte, die die ethi-
sche Grundlage eines solchen Einsatzes berühren, be-
rücksichtigen.

Der Minister hat, sofern das gestern in der Stuttgarter
Zeitung richtig zitiert wurde, gesagt:

Gezieltes Töten ist ein Fortschritt. Es vermindert
Kollateralschäden und sorgt für weniger nicht ge-
wollte Opfer und Geschädigte.

Dass es einen Fortschritt bringen soll, wenn man auf Ge-
richtsverfahren verzichtet, ist etwas, worüber man hier
unter ethischen Geschichtspunkten einmal ganz drin-
gend diskutieren muss.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das hat er gar nicht gesagt! Das zeigt doch, worum es geht! Sie wollen diffamieren! – Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Sie verstehen das bewusst falsch!)


Wir brauchen ganz dringend ausreichend Zeit, um die
Debatte führen zu können.

In dieser Debatte gibt es auch eine schlechte Routine.
Zur schlechten Routine gehört, dass wir gewisse Punkte

Jahr für Jahr im Bericht des Wehrbeauftragten finden.
Lassen Sie mich auch hier einige Beispiele anführen:

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist schon
mehrfach genannt worden. Es hilft einfach nicht, immer
wieder darauf hinzuweisen, dass es 300 Eltern-Kind-
Zimmer gibt. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie be-
sonders häufig genutzt werden und dass sie besonders
hilfreich sind. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
ist aber von zentraler Bedeutung, wenn es um das Thema
Attraktivität geht und wenn es um die Frage geht, wen
man für die Bundeswehr gewinnen kann.

Der Sanitätsdienst ist ein immer wiederkehrendes
Thema. Das gilt auch für die psychologische Betreuung.
Dabei geht es insbesondere um die Betreuung derjeni-
gen, die zu Schaden gekommen sind, und um die Betreu-
ung der Angehörigen der Versehrten. Das ist natürlich
ein sehr wichtiges Thema. Die Tatsache, dass die Hälfte
der Dienstposten in diesem Feld nicht besetzt ist – auch
das liest man in Ihrem Bericht –, stellt ein erhebliches
Problem dar.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Bitte äu-
ßern, die Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, nicht neu ist; wir
haben sie in den letzten Jahren immer wieder formuliert.
Wenn man sich anschaut, wer sich freiwillig zur Bundes-
wehr meldet, dann stellt man fest, dass über 25 Prozent
der Bewerber einen Migrationshintergrund haben. Das
bringt langfristig eine massive Veränderung des Charak-
ters der Bundeswehr mit sich.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ist das schlimm?)


Ich glaube, dass das auch große Veränderungen für die
Gesellschaft mit sich bringen kann. Es würde mich sehr
freuen, wenn Sie sich in Ihrem Bericht eingehend mit
diesem Thema beschäftigen würden, mit den Chancen
und den Problemen, die damit verbunden sein können.
Ich glaube, dass uns das in den nächsten Jahren sehr
stark beschäftigen wird.

Herr Wehrbeauftragter, herzlichen Dank für den Be-
richt, den Sie vorgelegt haben.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719521400

Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Anita

Schäfer das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Anita Schäfer (CDU):
Rede ID: ID1719521500

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, Ihr
Bericht für das Jahr 2011 ist eine Besonderheit; denn er
umfasst erstmals einen Zeitraum nach der Aussetzung
der Wehrpflicht im vergangenen Sommer. Das war der
größte Umbruch in der Geschichte der Bundeswehr, und
das bei weiterlaufenden, auch sehr gefährlichen Einsät-
zen. Das entspricht, wie der Bundesverteidigungsminis-





Anita Schäfer (Saalstadt)



(A) (C)



(D)(B)


ter es damals bei der Vorstellung der Reform bemerkt
hat, in etwa einer „Operation am offenen Herzen bei ei-
nem Patienten, der noch die Straße entlangläuft“.

Angesichts dieser Umstände können wir feststellen,
dass der Patient das erste Jahr nach der Operation bemer-
kenswert gut überstanden hat. Dabei will ich nicht ver-
schweigen, dass es im Zusammenhang mit der Umset-
zung der Reform noch einige Beschwerden gibt, die sich
im Bericht des Wehrbeauftragten, aber auch in der kürz-
lich vom BundeswehrVerband vorgestellten Befragung
militärischer Führungskräfte wiederfinden.

Uns als Regierungskoalition muss es also vor allem
darum gehen, die Soldaten und zivilen Mitarbeiter dabei
mitzunehmen. Deswegen wird es eine wesentliche Auf-
gabe des Verteidigungsministeriums, aber auch von uns
Abgeordneten bleiben, die Kommunikation mit der
Truppe auf allen Ebenen weiterzuführen, die Reformbe-
mühungen zu vermitteln und die Rückmeldungen, Be-
schwerden und Vorschläge der Soldaten aufzunehmen.

Trotz der gegenwärtig noch schwierigen Situation ist
das Bewerberaufkommen aber weiterhin hervorragend,
obwohl die Bundeswehr nun auf einem Markt mit den
niedrigsten Arbeitslosenzahlen seit 20 Jahren um ihren
gesamten Nachwuchs werben muss. Es kommen also
nicht einfach diejenigen, die sonst nichts finden, wie von
manchen prophezeit. Neben der Rekrutierung von Zeit-
soldaten erfüllt auch der neue freiwillige Wehrdienst die
Erwartungen, wobei es allerdings eine Abbrecherquote
von etwa 27 Prozent in den ersten zwei Monaten des
Dienstes gibt. Das kann uns zwar nicht befriedigen, ent-
spricht aber ziemlich genau den Erfahrungen der Wirt-
schaft. Selbst so verbleiben mehr als ausreichend frei-
willig Wehrdienstleistende.

Von denen, die ihren Dienst jetzt im Oktober antreten,
hat über die Hälfte Abitur, fast ein Drittel die mittlere
Reife und jeder Neunte bereits einen Berufsabschluss.
Es sind also junge Männer und Frauen, die durchaus alle
Möglichkeiten haben, die sich aber für eine gewisse Zeit
für unser Land und unsere Gesellschaft engagieren wol-
len, wobei wir ja beispielsweise auch schon den Fall ei-
ner 41-jährigen Mutter von drei erwachsenen Kindern
hatten, die kurzerhand diese Möglichkeit wahrgenom-
men hat. Insgesamt – auch das muss man sagen – ist al-
lerdings der Frauenanteil unter den freiwillig Wehr-
dienstleistenden mit 6 bis 8 Prozent relativ gering. Da
gibt es also noch Potenzial, das man ausschöpfen kann.

Ein wichtiger Punkt bei der Nachwuchsgewinnung ist
die Attraktivität des Dienstes. Für engagierte Staatsbür-
ger war die Bundeswehr schon immer attraktiv, aber wir
müssen gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tra-
gen, die auch vor Soldaten nicht haltmachen, wie zum
Beispiel die zunehmende Zahl von Beziehungen zwi-
schen berufstätigen Partnern, mehr Pendler etc. Deswe-
gen freut es mich besonders, dass die über 40 Maßnah-
men aus dem Attraktivitätspaket des Bundesministeriums
der Verteidigung im Haushalt 2013 voll abgedeckt sind.

Wir müssen jungen Menschen ein Angebot machen,
das ihnen die Entscheidung für die Bundeswehr erleich-
tert. Dazu gehört nach meiner Überzeugung auch eine
weitere Verbesserung des Standards der Unterkünfte.
Kürzlich war ich mit dem Verteidigungsminister bei sei-

nem Besuch am Standort Zweibrücken in meinem Wahl-
kreis einig: Es müssen ja keine Hotelzimmer sein, aber
die alten Sechsbettstuben werden es künftig auch nicht
mehr tun. Das Gleiche gilt für die Modernisierung der
Ausrüstung. Hier wollen wir trotz knapper Kassen alles
Mögliche tun, damit das bestmögliche Gerät die Solda-
ten auf dem schnellstmöglichen Weg erreicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Den hierzu vorgesehenen neuen integrierten Pla-

nungsprozess begrüße ich deshalb ausdrücklich. Es wird
nun darauf ankommen, diesen Prozess in den neuen
Strukturen des Bundesministeriums der Verteidigung
und seines nachgeordneten Bereichs mit Leben zu erfül-
len und zu einem Erfolg vor allem für die Menschen im
Einsatz zu bringen. Wir von der Koalition werden diesen
Prozess aufmerksam begleiten und, wo immer wir gefor-
dert sind, tatkräftig unterstützen.

Ich möchte noch einen Einzelpunkt aus dem Bericht
herausgreifen, weil sich Soldaten im Gespräch mit mir
recht häufig dazu äußern. Es handelt sich dabei um das
seit 2007 geltende Beurteilungssystem. Bekanntlich
wurde es eingeführt, um der Inflation von Bestnoten un-
ter dem vorherigen System entgegenzuwirken. Diese
wurde mit der Quotierung von Bewertungsstufen inner-
halb der Vergleichsgruppen abgestellt. Wie sich aber ge-
zeigt hat, bringt das neue Verfahren seine eigenen Pro-
bleme mit sich. Weil Bestnoten nur noch begrenzt
vergeben werden dürfen, teilen wohlmeinende Vorge-
setzte sie häufig denjenigen Soldaten zu, die sie für wei-
tere Beförderungen oder die Übernahme zum Berufssol-
daten brauchen, was natürlich ungerecht gegenüber
ebenso leistungsstarken Kameraden ist, für die aber
keine guten Noten mehr übrig sind.

Ein wesentlicher Grund für diese unbeabsichtigten
Folgen ist der immer wieder angesprochene Beförde-
rungsstau. Ich hoffe, dass das künftig flexiblere Ver-
pflichtungssystem dieses Problem an der Wurzel packt,
da hiermit der Anteil an Berufssoldaten, die vorhandene
Planstellen für lange Zeit besetzen, verringert wird.
Auch die demografische Entwicklung wird sicher eini-
ges dazu beitragen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge
aus dem Dienst scheiden. Dann sollten wir ein fertiges
Konzept zur weiteren Verbesserung des Beurteilungssys-
tems haben; denn auch gute Karriereaussichten gehören
zur Attraktivität des Dienstes.

Letztlich gehört dazu auch die gesellschaftliche Aner-
kennung im Hinblick auf den Wert dieses Dienstes. Ich
habe den Mangel daran hier oft beklagt, sodass ich jetzt
auch einmal ein Lob aussprechen möchte; denn langsam
ändert sich etwas. Das sehen wir gerade an der wachsen-
den Zahl von Repräsentanten nicht nur aus der Politik,
sondern auch aus der Kunst und der Unterhaltung, die
sich dafür engagieren. Wir brauchen all diese Formen.
Ich möchte allen danken, die sich auf verschiedenste Art
dafür engagieren. Denn unsere Soldaten leisten ihren
Dienst für uns alle, und sie sollten dafür auch den ent-
sprechenden Rückhalt in der Gesellschaft finden. Daran
sollten wir alle arbeiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719521600

Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege

Wolfgang Hellmich das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Wolfgang Hellmich (SPD):
Rede ID: ID1719521700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst
möchte ich mich beim Wehrbeauftragten des Deutschen
Bundestages für den sehr ausführlichen Bericht für das
Jahr 2011 herzlich bedanken. Ausdrücklich möchte ich
das Bemühen des Wehrbeauftragten hervorheben, die
Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten deutlich zu
verbessern. Damit steht er in der guten Tradition seiner
Vorgänger; das ist auch in der Truppe angekommen.


(Beifall bei der SPD)


Die Frage ist: Trifft dieser Bericht die Realität? Die
Messlatte ist schließlich der Alltag unserer Truppe, die
alltägliche Situation der Soldatinnen und Soldaten.

Meine Damen und Herren, verunsicherte Soldatinnen
und Soldaten sind keine gute Werbung für die Bundes-
wehr. Der Reformprozess und der damit verbundene
Um- und Abbau sowie die Reduzierungen und Schlie-
ßungen drücken auf die Stimmung in unserer Truppe;
das ist schon an vielen Stellen erwähnt worden. Dass die
Kommunikation über die Neuausrichtung der Bundes-
wehr erheblich verbessert werden muss, ist zwischen al-
len Fraktionen dieses Hauses Konsens.

Die Vielzahl der Veränderungen verstärkt die Auf-
stiegsunsicherheit innerhalb der Bundeswehr. Wie geht
es wo in welcher Verwendung und mit welchen Karriere-
optionen weiter? Das sind die Fragen, die viele Soldatin-
nen und Soldaten beschäftigen, nicht nur diejenigen, die
hierzulande ihren Dienst tun, sondern auch diejenigen,
die im Ausland im Einsatz und von diesen Entscheidun-
gen noch weiter entfernt sind als diejenigen, die hier
sind. Das sind die Fragen, die viele Soldatinnen und Sol-
daten beschäftigen, und das in einer Truppe, die struktu-
rell und personell so ausgedünnt ist, dass sie ihre Aufga-
ben im Alltag manchmal kaum noch erfüllen kann. Die
Frage, die sich einige stellen – manchmal wird sie eher
ironisch gestellt –, lautet: Wann haben wir den Punkt er-
reicht, an dem die Offiziere die Wache übernehmen müs-
sen?

Gerne hätte ich vonseiten des Ministers etwas zu der
Frage gehört, warum Soldatinnen und Soldaten in immer
dichterer Folge lange Auslandseinsätze absolvieren müs-
sen. Der Hinweis auf die Freiwilligkeit ist keine Ant-
wort, weil es in einer modernen Armee die Aufgabe des
Arbeitgebers ist, sich um seine Soldatinnen und Solda-
ten, seine Beschäftigten, zu kümmern. Den einen oder
anderen muss man dabei schlichtweg vor seiner eigenen
Entscheidung schützen. Freiwilligkeit ist kein Argu-
ment.


(Beifall bei der SPD)


Hierzu hätte ich, wie gesagt, gerne etwas gehört, damit an
dieser Stelle auch den Soldatinnen und Soldaten klar
wird, in welche Richtung es gehen soll. Es besteht drin-

gender Handlungsbedarf. Unseren Soldatinnen und Sol-
daten wie auch den zivilen Beschäftigten stehen Pla-
nungssicherheit und Teilhabe bei Strukturentscheidungen
zu.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist die
Aufgabe des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundesta-
ges, sich aktiv in die Bundeswehrreform einzuschalten,
und das zum Wohle der Soldatinnen und Soldaten. Für-
sorge und Betreuung sind das eine. Die Evaluierung eines
Reformprozesses aber muss im Interesse der Soldatinnen
und Soldaten reformbegleitend angelegt und organisiert
werden, und zwar jetzt, damit uns dann, wenn wir in der
Lage sind, Korrekturen vorzunehmen, das nötige Mate-
rial zur Verfügung steht.

Meine Damen und Herren, Betroffene wie Vorge-
setzte beklagen, dass der Dienstherr Bundeswehr mehr
auf Neueinstellungen anstatt auf bereits ausgebildete Be-
werber aus der Truppe setzt. Ich denke, es muss auch da-
rüber gesprochen werden, dass die Binnenwerbung ein-
deutig verstärkt und anders angegangen werden muss.
Eine moderne Armee braucht eine besser organisierte
Weiterbildung in den Bereichen Sprache, Führungskom-
petenzen und berufliche Qualifizierung und eine zu-
kunftsorientierte Personalentwicklung im Bestand. Das
wird die Attraktivität des Dienstes steigern.

Das Soldatengesetz verpflichtet den Bund, seiner Für-
sorgeverantwortung gegenüber den Soldaten selbst nach-
zukommen. Das steht deutlich im Bericht und ist dort
hervorgehoben.

Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis,
wenn ich Ihnen mitteile, dass Auslandseinsätze mit ho-
hen physischen und psychischen Belastungen verbunden
sind. Das ist auch eine Konsequenz daraus, wie sie orga-
nisiert sind. Posttraumatische Belastungsstörungen sind
für 2 bis 4 Prozent aller im Einsatz befindlichen Kräfte
leider Realität, wie im Deutschen Ärzteblatt jüngst ver-
öffentlichte Studien noch einmal aufweisen, wobei man
sagen muss: Die wissenschaftliche Begleitung dieses
Faktors und dieser Umstände ist in der Bundesrepublik
im Vergleich zu allen anderen europäischen und außer-
europäischen Ländern weit unterdurchschnittlich entwi-
ckelt. Hier muss dringend nachgearbeitet werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Begriff des sogenannten Einsatzunfalls wurde
durch das Einsatzversorgungsgesetz, das am 27. Dezem-
ber 2004 im Bundesgesetzblatt verkündet wurde und
rückwirkend zum 1. Dezember 2002 in Kraft trat, in das
Soldatenversorgungsgesetz eingefügt. Mit dem am
13. Dezember 2011 in Kraft getretenen Einsatzversor-
gungs-Verbesserungsgesetz wird unter anderem der
Stichtag für die Anwendbarkeit des Einsatz-Weiterver-
wendungsgesetzes zurückdatiert. Die rückwirkende Ver-
änderung der Anspruchsvoraussetzungen war jedoch
nicht Gegenstand dieses Einsatzversorgungs-Verbesse-
rungsgesetzes. Somit wurde die Stichtagsregelung zur
Gewährung einer entsprechenden Entschädigungszah-
lung nicht geändert.





Wolfgang Hellmich


(A) (C)



(D)(B)


Worauf will ich hinaus? Innerhalb der Bundeswehr
gibt es noch zwei verschiedene Gruppen von Entschädi-
gungszahlungen bei auslandsgeschädigten Soldaten mit
PTBS – je nachdem, wann das schädigende Ereignis
stattgefunden hat. Soldaten, die bis zum 30. November
2002 geschädigt wurden, erhalten keine Entschädigung.
Soldaten, die vom 1. Dezember 2002 bis zum 12. Dezem-
ber 2011 geschädigt wurden, erhielten erst 80 000 Euro
und nach der Verabschiedung des Reformbegleitgesetzes
noch einmal 70 000 Euro, insgesamt also 150 000 Euro.
Diese erhalten ebenso Soldaten, die ab dem 13. Dezem-
ber 2011 geschädigt wurden.

Hierbei handelt es sich nicht um zwingend vor-
gegebene Daten, sondern um eine rein politische Ent-
scheidung, die allein an den Absturz des CH-53 im
Dezember 2002 in Kabul anknüpft. Das hat zur Folge,
dass 36 Soldatinnen und Soldaten, die in IFOR-,
SFOR- und KFOR-Einsätzen waren und vor dem
1. Dezember 2002 geschädigt wurden, keine Entschädi-
gung erhalten. Daneben gibt es eine Dunkelziffer von
circa 20 Fällen. Das ist eine grobe Ungleichbehandlung
und Ungerechtigkeit, die man aufheben muss.

Ein im Kosovo-Einsatz geschädigter Soldat wandte
sich mit diesem Anliegen an den Wehrbeauftragten des
Deutschen Bundestages. In dem Antwortschreiben eines
Mitarbeiters vom August 2012 findet sich folgendes Zi-
tat: Ich sehe zurzeit jedoch keine Möglichkeit, mich im
parlamentarischen Raum mit Aussicht auf Erfolg für
eine weitergehende Ausweitung im Sinne einer rückwir-
kenden Änderung der Tatbestandsvoraussetzungen hin-
sichtlich des Anspruchs auf Einmalentschädigung für die
vor dem 1. Dezember 2002 geschädigten Soldatinnen
und Soldaten einzusetzen.

Sehr geehrter Herr Königshaus, ich kenne diese Ini-
tiative nicht – und auch keine Anfrage in dieser Rich-
tung. Würden Sie eine in dieser Richtung starten, wäre
ich gerne dabei und würde Sie dabei unterstützen, um
diesen 56 Soldatinnen und Soldaten Gerechtigkeit in ih-
rer Lage zukommen zu lassen.


(Beifall bei der SPD)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedanke
mich an dieser Stelle für Ihre freundliche Aufmerksam-
keit und hoffe, dass das noch lange so bleiben wird.

Vielen Dank und Glück auf!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719521800

Kollege Hellmich, diese Rede wird im Protokoll des

Deutschen Bundestages als Ihre erste Rede vermerkt
sein. Ich gratuliere Ihnen dazu recht herzlich und wün-
sche Ihnen, sicherlich im Namen aller Kolleginnen und
Kollegen, viel Erfolg für Ihre Arbeit.


(Beifall)


Es sei mir allerdings auch der Hinweis erlaubt, dass
man, egal wer hier vorne gerade präsidiert, seine Rede-

zeit tatsächlich nur einmal um fast die Hälfte überziehen
kann. Ich bitte Sie also, in Zukunft auf das Signal auf
dem Redepult zu achten.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe mir das für später aufbewahrt!)


Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8400 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Ulla Schmidt (Aachen), Doris Barnett, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Kultur für alle – Für einen gleichberechtigten
Zugang von Menschen mit Behinderung zu
Kultur, Information und Kommunikation

– Drucksachen 17/8485, 17/10030 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Ulla Schmidt (Aachen)

Reiner Deutschmann
Dr. Rosemarie Hein
Agnes Krumwiede

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Maria Michalk für die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1719521900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
SPD-Fraktion hat vor einiger Zeit einen Antrag vorge-
legt, in dem sie feststellt, dass nur durch den gleichbe-
rechtigten Zugang auch zu kulturellen und medialen An-
geboten und durch barrierefreie Informationen dem
Anspruch der UN-Behindertenrechtskonvention Ge-
nüge getan wird. Diese Feststellung ist richtig. Dieser
Feststellung schließen wir uns als CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion ausdrücklich an.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])


Die größte Behinderung ist nicht die körperliche Be-
hinderung, sondern es sind die vielen kleinen und großen
Barrieren in unserem Alltag, die Menschen mit Behinde-
rung tagtäglich im Wege sind und ihnen die Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben erschweren. Im kulturellen Le-





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


ben sieht das genauso aus. Ein Beispiel: Ein Mensch in
einem Rollstuhl möchte ins Kino gehen, doch es gibt
keinen barrierefreien Eingang, keine Möglichkeit, den
Rollstuhl im Vorführsaal zu platzieren, weil dafür gar
kein Platz vorgesehen ist. Die Barriere ist also nicht der
Rollstuhl an sich, sondern die bauliche Gegebenheit. Sie
schließt ihn von dem aus, was er in seiner freien Zeit
gerne machen möchte, was alle Menschen tun, mit oder
ohne Behinderung.

Menschen mit Behinderung wollen im Grunde genau
das tun, was alle anderen, wir alle, selbstverständlich
tun. Sie wollen vor allem keine Sonderaufführungen im
Theater oder im Kino, keine Sonderlesungen oder -kon-
zerte, keine Sonderfernsehprogramme. Sie wollen Spiel-
filme, Talkshows, Kochsendungen, Serien, die auf den
regulären Kanälen angeboten werden, anschauen und ih-
nen folgen können. Wir müssen weg von der Vorstel-
lung, dass für Menschen mit Behinderung ganz beson-
dere, ganz spezielle Angebote bereitgehalten werden,
irgendwo da, wo wir alle nicht hinkommen. Das ist nicht
die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, wie wir sie
verstehen. Das ist erst recht nicht der Grundgedanke der
Inklusion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen hin zu der Haltung, dass das Thema Be-
hinderung immer und bei allen Entscheidungen von uns
allen mitgedacht wird. So wie wir ganz persönlich, jeder
von uns, eine grundsätzliche Haltung zu Sprache, Kultur
und Kunst haben, so müssen wir uns eine ganz persönli-
che Haltung zu dieser grundsätzlichen Teilhabe, zu In-
klusion auch im kulturellen Leben unserer Gesellschaft
für Menschen mit Behinderung angewöhnen, sie uns
einverleiben. Das muss eine Selbstverständlichkeit wer-
den.


(Beifall bei der FDP)


Es muss das Prinzip des universellen Designs gelten.
Das heißt, alles muss so aufbereitet, konstruiert, gebaut,
gedacht werden, dass es von allen Menschen genutzt
werden kann. Dies ist ein sehr hoher Anspruch; denn wir
kommen aus einer Welt, in der wir immer meinten, Gu-
tes zu tun, wenn wir Sonderangebote geschaffen haben.
Wir müssen uns angewöhnen, alles gemeinsam zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In dem vorliegenden Antrag wird gefordert, mehr An-
gebote in leichter Sprache bereitzuhalten. Ja, nicht nur
Menschen mit einer geistigen Behinderung oder mit
Lernschwäche würden davon profitieren. Wir alle sind
doch – seien wir einmal ganz ehrlich – selber froh, wenn
wir verständliche, kurze, prägnante Informationen in die
Hand bekommen und nicht erst dreimal den Text lesen
müssen, bevor er im Kopf ankommt.

Ich freue mich, dass der Deutsche Bundestag anläss-
lich unseres gemeinsamen Projektes „Menschen mit Be-
hinderung im Deutschen Bundestag“, das im Oktober
stattfinden wird, die Idee aus dem Antrag aufgegriffen
hat und wir jetzt in der Realisierungsphase sind.

Die leichte Sprache ist jedoch nur ein Teil dessen, was
Barrierefreiheit insgesamt ausmacht. Für ein umfangrei-

ches Angebot an Information für alle Menschen mit ganz
unterschiedlichen Behinderungen sind sehr viel mehr
Dinge zu bedenken.

Für Blinde und Sehbehinderte ist es wichtig, dass zum
Beispiel Fernsehprogramme eine Audiountertitelung ha-
ben, dass Internetseiten oder PDF-Dokumente barriere-
frei gestaltet sind, dass Broschüren in Brailleschrift an-
geboten werden und vieles mehr. Sie sind zudem auf
Blindenleitsysteme in Kinos, Theatern, öffentlichen Ein-
richtungen, Museen, bei Denkmälern usw. angewiesen.

Nehmen wir als weiteres Beispiel die gehörlosen
Menschen. Sie brauchen Gebärdendolmetscher, wenn
sie einer Theateraufführung folgen wollen. Vor Ort gibt
es Gott sei Dank sehr viele praktische und persönliche
Initiativen, durch die man diese Teilhabe über Spenden
und ehrenamtliches Engagement zusätzlich verbreitert.
Das sollten wir einmal positiv hervorheben und den
Menschen, die sich vor Ort in diesem Bereich engagie-
ren, sehr herzlich danken. Denn sie tun das in der Regel
ehrenamtlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Art. 30 der auch von Deutschland ratifizierten UN-
Behindertenrechtskonvention verpflichtet uns alle, da-
für zu sorgen, dass Kunst und Kultur ohne Abstriche
auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nach der Erarbeitung und Beschlussfassung zum natio-
nalen Aktionsplan fußt die Umsetzung der Konvention
auf einer breiten gesellschaftlichen Diskussion. Insofern
ist der Antrag durchaus eine Gelegenheit, wieder und
wieder über diese Themen zu sprechen.

Manche reden den Aktionsplan leider gerne schlecht.
Ich bin nicht derselben Meinung und bin davon über-
zeugt, dass dieser Aktionsplan und all die Aktivitäten in
den unterschiedlichsten Lebensbereichen – dazu gehören
Kultur und Kunst –, die sich entwickeln, unsere Gesell-
schaft durchdringen. Denn Barrierefreiheit ist kein Ge-
schenk für Menschen mit Behinderung, sondern sie er-
leichtert unser aller Leben,


(Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU])


vor allem mit Blick auf die kulturelle Teilhabe.

Wer Kultur anbietet – um einmal von der Angebots-
seite auszugehen –, wird künftig an alle diese Menschen
denken müssen. Denn in unserer älter werdenden Gesell-
schaft sind Menschen mit Behinderung auch eine wich-
tige Kundengruppe. Immerhin leben zurzeit 7,3 Millio-
nen Menschen in Deutschland mit einer Behinderung.
1,5 Millionen davon sind entweder blind, sehbehindert,
schwerhörig oder taub. Die Zahl wird steigen, weil wir
Gott sei Dank älter werden und es unserem menschli-
chen Körper immanent ist, dass wir zunehmend auf
Hilfe und Unterstützung angewiesen sind.

Selbst in einem Lebensbereich, in dem man vielleicht
selber weder künstlerische Aktivitäten bestreiten noch
Kultur aktiv konsumieren kann, sind kulturelle Ange-





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


bote wichtig, zum Beispiel dass älteren kaum noch hand-
lungsfähigen Personen aus guten Büchern vorgelesen
wird und sie vielleicht ein Fernsehprogramm sehen kön-
nen, das die wunderbaren Denkmäler Deutschlands
zeigt, damit auch diese Menschen an unserem kulturel-
len Gut in Deutschland teilhaben können.

Deshalb lassen die Fernsehmacher die Menschen mit
Behinderung längst nicht mehr links liegen: Sie haben
sie als Zielgruppe entdeckt. Manche Sender schaffen
neue Angebote, um auch diese Zuschauer für ihr Pro-
gramm zu gewinnen.

Ein wirklich gutes Beispiel, wie Teilhabe über das
Fernsehen gelingen kann, haben wir im Deutschen Bun-
destag am 18. März bei der Wahl unseres Bundespräsi-
denten erlebt, als die Übertragung auf Phoenix erstmals
live mit Einblendungen in Gebärdensprache stattgefunden
hat. Kompliment dafür an die Initiatoren und Macher!
Solchen guten Beispielen sollten andere folgen.

Sie fordern in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und
Kollegen aus der SPD-Fraktion, die öffentlich-recht-
lichen Rundfunkanstalten stärker in die Pflicht zu neh-
men, was barrierefreie Angebote betrifft. Ist das wirklich
nötig?


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das ist es! Das ist eindeutig nötig!)


Unsere Rundfunkräte, in denen auch Sie vertreten
sind, haben mit der neuen Gebührenordnung ab Januar
des nächsten Jahres große Erwartungen geweckt; da sind
wir uns einig. Es ist klar: Wenn auch von dieser Perso-
nengruppe höhere Gebühren eingezogen werden, dann
sind bessere Angebote notwendig. Aber ich denke, dass
die Herren und Damen in den Anstalten jetzt auf dem
Weg sind, das zu organisieren und die entsprechenden
Voraussetzungen zu schaffen. Hinsichtlich derer, die
noch nicht daran gedacht haben, ist hier ein entsprechen-
der Appell durchaus angebracht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Denn Barrierefreiheit ist ein Prozess, der nur dann vo-
rankommt, wenn viele Impulse aus vielen Richtungen
gegeben werden.


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: So ist es!)


Das zeigt zum Beispiel auch die Filmförderung. Durch
den Einsatz aller Fraktionen hat die Filmförderungsan-
stalt eine barrierefreie Fassung der Förderungsbedingun-
gen der Filmschaffenden erstellt. Sie will darüber hinaus
Barrierefreiheit in die Richtlinien des Deutschen Film-
förderfonds verpflichtend aufnehmen. Dies ist eine gute
Initiative, die wir ausdrücklich begrüßen.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Aber nur, weil wir die Anträge haben!)


Damit hat sich eine weitere Forderung Ihres vorliegen-
den Antrags erledigt.

Die SPD-Fraktion fordert in ihrem Antrag weiter die
Umsetzung der BITV 2.0. Diese ist vor ziemlich genau
einem Jahr in Kraft getreten. Diesbezüglich können auch

wir nur hoffen, dass nach Veröffentlichung des Leitfa-
dens, der jetzt noch in Arbeit ist, die Umsetzung auch
mit Unterstützung der Länder zügig geschieht, sodass
auch im Internet Barrierefreiheit erreicht wird.

Denn wir wollen, dass auf jedem Kulturfeld eine
nachhaltige Lösung gefunden wird. Deshalb geht das
nicht schnell und über Nacht, sondern muss systematisch
und vor allen Dingen nachhaltig angegangen werden.

Ein Teil des bunten Straußes an Forderungen aus Ih-
rem Antrag ist also, wie gesagt, schon realisiert bzw. auf
einem guten Weg, und nicht alle haben einen originären
kultur- oder medienpolitischen Hintergrund. Deshalb
freue ich mich immer wieder, wenn ich kreativen Men-
schen begegne, die mit ihrer und trotz ihrer Behinderung
kulturelle Meisterwerke hervorbringen – für Menschen
mit Behinderung und mit ihnen.

Es kommt darauf an, dass wir das Kunst- und Kultur-
schaffen dieser Menschen würdigen und es auch als
Menschen ohne Behinderung in einer würdigen Form
bewerten, als Kulturgut anerkennen sowie konsumieren
und entsprechend verbreiten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich möchte, dass die eigene Kreativität auch bei Preis-
verleihungen eine stärkere Rolle spielt. Auch da gibt es
gute Beispiele. Ich denke etwa an den Deutschen Hör-
filmpreis. Das ist seit vielen Jahren eine gute Initiative,
die Jahr für Jahr zeigt, welche qualitativen Verbesserun-
gen sich da entwickeln.

Dies alles muss wachsen. Klar, wir sind ungeduldig.
Auch in unserem Herzen sind wir ungeduldig. Aber
wenn wir es schaffen, dass diese Form der kulturellen
Teilhabe kein Thema für Experten oder behindertenpoli-
tische Sprecher bleibt, sondern Herzenswunsch von uns
allen wird, dann haben wir einen guten Beitrag für un-
sere Kulturgemeinschaft geleistet.

Ich danke für die heutige Debatte. Die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses hat deutlich gezeigt, dass wir
bereits viele Dinge auf den Weg gebracht haben und die-
sen Weg weitergehen. Ich danke Ihnen, dass Sie sich für
diesen großen und wichtigen Bereich engagieren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719522000

Die Kollegin Ulla Schmidt hat nun für die SPD-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1719522100

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Frau Michalk, ich mache Ihnen einen ein-
fachen Vorschlag: Stimmen Sie unserem Antrag zu.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: So einfach ist es nicht!)






Ulla Schmidt (Aachen)



(A) (C)



(D)(B)


Wenn alles schon erledigt oder auf einem guten Weg ist,
dann weiß ich nicht, warum die CDU/CSU-Fraktion und
die FDP diesen Antrag ablehnen. Ich kann Ihnen den
Grund aber nennen. Der steht in Ihrer Beschlussempfeh-
lung. Da heißt es, dass zweifelsohne vieles auf dem Weg
ist. Es sei aber auch unbestritten, dass noch viel zu tun
sei.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das habe ich auch gesagt!)


Aber im Hinblick auf andere Anliegen und die begrenz-
ten Finanzmittel müsse endlich anerkannt werden, dass
mehr im Moment nicht erledigt werden könne.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Schritt für Schritt!)


Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
haben da eine andere Auffassung. Die UN-Behinder-
tenrechtskonvention zu ratifizieren, ist das eine. Sie
umzusetzen und dafür zu sorgen, dass jeder Mensch in
diesem Land, egal ob behindert oder nicht behindert,
ob alt oder jung, ob zugewandert oder hier geboren, das
Recht hat und die Chance erhält, das Beste aus seinem
Leben zu machen, ist das andere. Wir müssen die in der
UN-Behindertenrechtskonvention enthaltenen Rechts-
ansprüche erfüllen. Bei dieser Aufgabe ist das Bohren
dicker Bretter, wie es Max Weber formuliert hat, not-
wendig.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Max Weber aus Erfurt! Er hat immer recht!)


Sie haben recht: Es muss etwas in der Gesellschaft, in
den Köpfen der Menschen verändert werden. Aber es ist
auch klar: Wenn wir Bundestagsabgeordnete als Gesetz-
geber nicht für entsprechende rechtliche Rahmenbedin-
gungen sorgen und die Strukturen, in denen wir leben,
nicht so verändern, dass die Teilhabe und das Mitmi-
schen aller garantiert sind, dann bleibt die UN-Behinder-
tenrechtskonvention reines Wunschdenken und wird in
diesem Land nicht gelebte Realität.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen mehr und haben deshalb als SPD-Fraktion
eine Reihe von Anträgen eingebracht. Wir wollen, dass
über dieses Thema hier im Bundestag diskutiert wird
und dass wir uns damit auseinandersetzen. Sie haben
recht: Das ist nicht allein eine Aufgabe der Behinderten-
beauftragten der Fraktionen und des Behindertenbeauf-
tragten der Bundesregierung. Vielmehr geht es um eine
große gesellschaftspolitische Aufgabe. Wir sollten uns
zum Ziel setzen, bis zum Ende dieses Jahrzehnts ent-
scheidende Schritte voranzukommen, und zwar in allen
wichtigen Bereichen wie Verkehr, Mobilität, Bildung,
Arbeitswelt, politische Teilhabe und gesundheitliche
Versorgung.

Wir fordern in unserem Antrag, die Barrierefreiheit
im gesamten Bereich von Kultur und Medien zu garan-
tieren. Das ist wichtig; denn durch die Ratifizierung der
UN-Behindertenrechtskonvention erkennen wir an, dass
es um die Verwirklichung von Rechtsansprüchen jedes
einzelnen Menschen und nicht um ein Goodwill geht. Es

spielt als keine Rolle, ob wir das machen wollen oder
nicht. Wir müssen es machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen alles unternehmen, um dieses Thema im-
mer wieder auf die Tagesordnung zu setzen und darüber
zu debattieren. Uns ist die Barrierefreiheit gerade im
Bereich von Kultur und Medien wichtig, weil es darum
geht, dass sich in den Köpfen – darauf haben Sie zu
Recht hingewiesen – vieles verändert. Wir in Deutsch-
land neigen dazu, Menschen bestimmte Eigenschaften
oder Fähigkeiten zuzuschreiben. Das geht oft mit dem
Ausschluss von bestimmten Aufgaben einher. Gerade
Kultur und Medien, die daran mitwirken, dass sich die
Gesellschaft verändert und dass es keine kritische Aus-
einandersetzung ohne diejenigen gibt, die betroffen
sind, kommt eine ganz wichtige Aufgabe zu, wenn es
darum geht, die Teilhabe aller zu garantieren. Wir haben
große Chancen, unsere Ziele im Bereich von Kultur und
Medien zu erreichen. Es geht nicht nur um passive Teil-
habe. Wir fördern viele Bereiche und wollen erreichen,
dass die aktive Teilhabe behinderter Menschen genauso
selbstverständlich ist wie die nicht behinderter Men-
schen.

Ich habe viele Theaterstücke gesehen und Musicals
besucht, an denen Behinderte und Nichtbehinderte mit-
gewirkt haben. Die Nichtbehinderten haben gesagt:
Nach einer gewissen Zeit haben wir gar nicht mehr be-
merkt, wer behindert ist und wer nicht. Wir alle haben
unser Bestes eingebracht. – So etwas verändert mehr in
den Köpfen als viele andere Aktionen.

Es nutzt aber nichts, allein Postulate aufzustellen und
ständig nur darüber zu reden, was wir wohl noch machen
könnten. Wir sagen in unserem Antrag ganz klar: Die
rechtlichen Voraussetzungen für Barrierefreiheit müssen
geschaffen werden. Das bedeutet im Bereich von Kultur
und Medien, dass wir uns darauf verständigen müssen,
dass kein einziger Euro mehr – das gilt auch für die
Filmförderung – in Projekte fließt, wenn die Barriere-
freiheit nicht gesichert ist. Das kann der Bundestag be-
schließen. Dann wird wirklich etwas geschehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es geht darum, bei der Unterstützung kultureller Pro-
jekte Barrierefreiheit einzufordern und alle dazu zu ver-
pflichten, sich für Barrierefreiheit einzusetzen. Dann
sind wir auf dem richtigen Weg. Damit setzen wir
Signale, so wie wir es mit unserem Antrag gemacht ha-
ben.

Ich weiß sehr wohl, dass Inklusion nicht zum Nullta-
rif zu haben ist. Das spreche ich hier an, weil auch das
etwas mit kultureller Bildung zu tun hat. Inklusion ist
vor allen Dingen da wichtig, wo es um die gemeinsame
Erziehung und Beschulung geht. Dafür brauchen wir
Geld. Wir brauchen die entsprechenden Rahmenbedin-
gungen, damit Inklusion erfolgreich ist. Im Bereich der
Kultur und der Medien können wir mit dem, was wir
derzeit auf den Weg bringen, Verbesserungen erreichen.





Ulla Schmidt (Aachen)



(A) (C)



(D)(B)


Wir können etwas verändern. Deshalb war es uns wich-
tig, einen Weg aufzuzeigen und ein Signal zu senden.

Das Ziel meiner Fraktion ist eine Gesellschaft, an der
alle gleichberechtigt teilhaben und in der alle mitmachen
können. Das gilt für Menschen mit Behinderung, die in
ihrem Umfeld auf Barrieren stoßen, aber auch für Men-
schen ohne Behinderung oder diejenigen, die teilweise
Einschränkungen haben. Das gilt für lernschwache und
lernstarke Menschen, Ältere und Jüngere, Zugewanderte
und für diejenigen, die hier geboren wurden. Sie alle
können von der Inklusion profitieren.


(Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719522200

Frau Kollegin Schmidt.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1719522300

Ich hoffe, dass es uns gelingt, dies perspektivisch um-

zusetzen. Ich weiß, dass wir dafür Zeit brauchen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719522400

Kollegin Schmidt, der Kollege Kurth will Ihnen durch

eine Bemerkung oder Frage die Gelegenheit geben, Ihre
Redezeit zu verlängern. Deswegen versuche ich die
ganze Zeit, Sie zu unterbrechen.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1719522500

Bitte schön.


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1719522600

Frau Kollegin, herzlichen Dank. – Wir alle setzen uns

für Barrierefreiheit ein. Bitte richten Sie dringend mei-
nen Gruß an Ihre famose Landesregierung in Nordrhein-
Westfalen aus. Sie hat neulich die Teilnehmer der Para-
lympics in Nordrhein-Westfalen auf einer Bühne be-
grüßt, die für Rollstuhlfahrer nicht geeignet war.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1719522700

Herr Kollege Kurth, ich bin sehr froh, dass die jetzige

Regierung von SPD und Grünen


(Gisela Piltz [FDP]: Die gab es schon zuvor zwei Jahre!)


die schwarz-gelbe Regierung abgelöst hat. Mit dem Ko-
alitionsvertrag, aber auch schon vorher, ist Inklusion
überhaupt erst zu einem wichtigen Thema in Nordrhein-
Westfalen geworden.


(Beifall bei der SPD)


Bedauerlich ist, dass es heute noch Bühnen gibt, die
für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich sind.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die ist aufgebaut worden!)


– Das ist bedauerlich. Das muss man kritisieren. Ich
richte das gerne aus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Aber, Herr Kollege Kurth, wir können darauf hinwir-
ken, dass Barrierefreiheit beim Bau berücksichtigt wird,
damit so etwas der Vergangenheit angehört. Das muss in
die Köpfe aller Beteiligten.

Ich habe am Wochenende in Marburg erlebt – das
habe ich bedauert –, dass eine Bühne für Menschen mit
einer Gehbehinderung nicht so umgebaut war, dass sie
für diese zugänglich gewesen wäre. Das zeigt, Frau Kol-
legin Michalk, dass wir noch vieles zu tun haben und es
durchaus nicht so ist, als habe sich das alles schon von
allein erledigt.

Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich war am
Wochenende in Marburg und habe dort erlebt, was ge-
schieht, wenn Menschen, auch solche mit einer geistigen
Behinderung, dauerhaft zu Partizipation, zu Teilhabe an-
geregt werden. Ich habe die Diskussionen verfolgt und
gesehen, wie die behinderten Menschen ihre Rechte
wahrgenommen haben. Das ist für geistig Behinderte
eine besondere Herausforderung. Dafür bedarf es einer
leichten, einfachen Sprache, und dazu bedarf es Informa-
tionen. Sie haben in die Debatten eingegriffen, für ihre
Rechte gekämpft und waren in der Lage, auf alle Bei-
träge, die dort geleistet wurden, einzugehen.

Deshalb sollten wir alles dafür tun, dass die gesetzli-
chen Grundlagen geschaffen werden, damit endlich Teil-
habe für alle möglich ist. Das ist unabhängig davon, ob
sie blind oder sehbehindert sind, ob sie taub oder
schwerhörig sind, ob sie körperlich oder geistig behin-
dert sind. Das ist völlig egal. Diese Menschen gehören in
unsere Mitte, sie gehören zu uns, und sie haben das
Recht auf Teilhabe wie alle anderen Menschen auch.

Dafür werben wir als SPD-Fraktion. Ich würde mir
wünschen, Sie würden das unterstützen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719522800

Das Wort hat der Kollege Reiner Deutschmann für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Reiner Deutschmann (FDP):
Rede ID: ID1719522900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! Altbundespräsident Richard
von Weizsäcker hat einmal gesagt – ich zitiere –:

Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst,
sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit
genommen werden kann.

Mit diesem Ausspruch wollte Altbundespräsident von
Weizsäcker uns für die Belange von Menschen mit Be-
hinderung sensibilisieren und deutlich machen, dass uns
die Belange dieser Menschen auch deshalb nicht gleich-
gültig sein können, da es jeden von uns jederzeit betref-
fen kann.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir ehrlich
sind, dann ist es doch häufig so, dass wir im alltäglichen





Reiner Deutschmann


(A) (C)



(D)(B)


Leben – am Wohnort, am Arbeitsort, im Freizeitvergnü-
gen – nicht an Barrieren denken, die sich auf unseren
täglichen Wegen für Menschen mit Behinderung auftun.
Wir nehmen unser quasi barrierefreies Leben als selbst-
verständlich hin. Für Menschen mit Behinderung gibt es
dieses Selbstverständnis der Barrierefreiheit nicht. Sie
sind mit Barrieren konfrontiert, die aufgrund baulicher
oder räumlicher Aspekte sofort sichtbar sind, aber auch
mit Barrieren, die nicht sofort zu erkennen sind, wie zum
Beispiel im Internet, bei Filmangeboten oder im Kom-
munikationsbereich.

Thomas Hänsgen, der Stiftungsratsvorsitzende und
Geschäftsführer von „barrierefrei kommunizieren!“,
sagte im Fachgespräch des Unterausschusses Neue
Medien am 19. September 2011 – ich zitiere –:

Barrierefreiheit ist eine Vision. Bisher haben wir es
im besten Falle mit barrierearmen Angeboten zu
tun.

Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns, Politik und
Gesellschaft, die Bedürfnisse von behinderten Menschen
vergegenwärtigen und Barrieren sowie Hindernisse
abbauen. Menschen mit Behinderung haben wie jeder
Bürger in Deutschland das Recht auf gleichberechtigte
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und auf freie Ent-
faltung ihrer Persönlichkeit, und dies umfasst ganz
selbstverständlich auch das Recht auf Nutzung von kul-
turellen und medialen Angeboten.

Schon in der ersten Lesung und auch in den Beratun-
gen im Ausschuss für Kultur und Medien habe ich den
Kolleginnen und Kollegen von der SPD für die Anre-
gungen gedankt, die sie mit ihrem Antrag unterbreitet
haben. Ihr Antrag enthält eine ganze Reihe von Punkten,
die wir durchaus mittragen, daneben andere, über die
man nachdenken kann, und viele, die inzwischen schon
in der Umsetzung sind. Ich könnte mir durchaus vorstel-
len, die Denkmalförderung an Kriterien der Barrierear-
mut, nicht aber der Barrierefreiheit zu knüpfen.

Allerdings gibt es einen konkreten Punkt, weshalb wir
nicht zustimmen können: das Vergaberecht, denn es ist
nicht der geeignete Weg, Ausschreibungen mit der Erfül-
lung von Beschäftigungsquoten für Menschen mit
Behinderung zu verknüpfen. Nicht jedem kleinen und
mittelständischen Unternehmen wird es möglich sein,
die Voraussetzungen für barrierefreie Arbeitsplätze zu
schaffen; damit würden aber diese Unternehmen von der
Auftragsvergabe ausgeschlossen.

Uns Liberalen kommt es darauf an, dass wir Wege
finden, die allen Interessen weitgehend gerecht werden.
Es ist uns wichtig, dass wir den Weg des gesellschaftli-
chen Umdenkens, des Bewusstmachens der Bedürfnisse
der Menschen mit Behinderung, konsequent weiter-
gehen. Allerdings müssen wir auch so realistisch sein,
um zu erkennen, dass wir nicht alles durch Gesetze
erzwingen können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was unser Haus
selbst angeht, so wird im Oktober im Bundestag eine
Broschüre vorgestellt werden, die in Leichter Sprache
über die Arbeit dieses Hohen Hauses informiert. Dies ist

ein weiterer wichtiger Schritt hin zur Inklusion, den wir
Liberale durchaus begrüßen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719523000

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin

Dr. Rosemarie Hein das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719523100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ein Professor soll zu seinen Studierenden einmal gesagt
haben: Ich bin Professor; mit mir müssen Sie einfach
reden. – Das war ein kluger Mann.

Wir denken nicht selten, wir seien besonders klug,
wenn unsere Reden mit möglichst vielen Fremdwörtern
gespickt sind und wir Fachbegriffe verwenden. Das ist
falsch. Wer klug ist, kann Kompliziertes einfach erklä-
ren. Da nehme ich mich selbst aus der Kritik nicht aus.
Die SPD hat mit der Übersetzung ihres Antrags in eine
einfache Sprache ein Beispiel gegeben: So geht es auch.

Manche und mancher meint immer noch, dass man
mit einer einfachen Sprache Menschen mit Lernschwie-
rigkeiten und geistigen Behinderungen abwertet. Das ist
falsch. Mit der Verwendung einer einfachen Sprache
zeigt man vielmehr, dass man sie ernst nimmt. Um-
gekehrt bedeutet man ihnen mit einer Sprache, die sie
nicht verstehen können, dass man sie für dumm hält, was
sie nicht sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Darum halte ich es für wichtig, politische Entschei-
dungen auch in einer einfachen Sprache zu veröffentli-
chen. Ebenso wichtig ist es – das ist hier heute schon ge-
sagt worden –, sie für Gehörlose in Gebärdensprache
oder Schriftsprache anzubieten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Vielleicht ist Ihnen ja an der Tür unseres Plenarsaales
das kleine blaue Bildchen mit der Abbildung eines Ohres
und einem „T“ aufgefallen. Das ist das Zeichen dafür,
dass hier im Sitzungssaal eine Hörschleife liegt. Das
heißt, alle Menschen mit einer Hörhilfe können sich über
eine gesonderte Schalterstellung an ihrem Hörgerät in
die Lage versetzen, das besser zu hören und zu verste-
hen, was hier im Saal gesagt wird. Ich bin mir nicht
sicher, ob dies alle wussten.

Ich kenne die Einschränkungen von Hörgeschädigten
seit meiner Kindheit durch meine Mutter gut. Ich weiß,
was sie braucht, um am kulturellen Leben teilnehmen zu
können. Aber wirklich gut kenne ich eben nur die Be-
sonderheiten dieser Beeinträchtigungen.

Es gibt aber unendlich viel mehr Barrieren beim Zu-
gang zu Kultur und Medien: zum Beispiel der Zugang
zur Stadtbücherei über eine Treppe. Wenn dann noch die
einzige öffentliche Bibliothek aus Geldmangel geschlos-





Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)


sen wird, wie es zum Ende dieses Jahres in der Stadt
Calbe in meinem Wahlkreis in Sachsen-Anhalt vorgese-
hen ist, wird für viele auch der Zugang zu guter Literatur
abgeschnitten werden. Übrigens ist die Leiterin dieser
Bibliothek schwerbehindert.

Oder nehmen wir die Haltestelle vorm Zoo in meiner
Stadt Magdeburg: Man kann zwar in die Straßenbahn
möglicherweise barrierefrei einsteigen und zum Zoo fah-
ren, aber man kommt an Ort und Stelle alleine im Roll-
stuhl nicht wieder heraus. Zum Zoo hat man dann sehr
weite Wege.

Die Aufzählungen lassen sich nahezu unbegrenzt
fortsetzen. Hier sind heute auch schon einige weitere
Beispiele genannt worden. Der Antrag der SPD kann
helfen, das Verständnis dafür zu schärfen und das Prob-
lembewusstsein zu entwickeln.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die meisten von uns haben sicherlich mit großer
Bewunderung die Leistungen der Sportlerinnen und
Sportler mit Handicaps bei den Paralympics in London
verfolgt. Mir scheint, noch in keinem Jahr wurde so um-
fassend davon berichtet. Auch das ist ein Fortschritt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da konnte man auch sehen, was alles möglich ist,
wenn entsprechende Hilfen gewährt werden: nahezu al-
les. Die Sportlerinnen und Sportler mit Behinderungen
sind darum auch Vorreiterinnen und Vorreiter; denn noch
lange nicht allen Menschen mit Handicaps werden diese
Hilfen gewährt. Dies erfährt man sehr schnell, wenn man
plötzlich in die Lage versetzt ist, dass man sich um An-
gehörige kümmern muss, die pflegebedürftig werden.

Wir haben eine Verantwortung dafür, dass Menschen
mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen am öffentli-
chen Leben uneingeschränkt teilnehmen können; denn
wir machen die Gesetze. Aber von den notwendigen
Gesetzesveränderungen ist im Nationalen Aktionsplan
gerade bei dem Thema Zugang zu Kultur und Informa-
tionen eben nichts zu lesen, und darum ist Nachbesse-
rung angesagt. Wenigstens für öffentliche Einrichtungen
könnten wir diese Regelungen schaffen. Wir müssen
endlich dafür sorgen, dass Städte und Gemeinden finan-
ziell so ausgestattet werden, dass sie ihre einzige kultu-
relle Einrichtung nicht schließen müssen. Kultur ist eben
nicht Luxus und freiwillig, sondern sie gehört zum Le-
ben in den Städten und Dörfern dazu, und zwar für alle.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir können mit gutem Beispiel vorangehen, indem
zum Beispiel die Internetseite dieses Parlaments so ge-
staltet wird, dass man auch erfährt, welche Barrieren
nicht mehr vorhanden sind. Auch könnte diese Internet-
seite selbst barrierefrei gestaltet werden. Die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses empfiehlt nun aber leider
als Lösung, diesen Antrag abzulehnen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719523200

Kollegin Hein, achten Sie bitte auf die Zeit.


Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719523300

Ich bin sofort fertig. – Es steht in dieser Beschluss-

empfehlung, es gebe keine Alternativen. Nach dem, was
ich heute gehört habe, bin ich da sehr enttäuscht; denn
Sie haben davon gesprochen, dass Sie das alles als wich-
tig ansehen. Nun bitte ich Sie: Lehnen Sie die Beschluss-
empfehlung ab; denn Alternativen bietet der Antrag der
SPD sehr wohl.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719523400

Ein kleiner geschäftsleitender Hinweis sei uns gestat-

tet: Bis vor zwei Sekunden konnten wir Sie im Saal nicht
sehen, da wir hier den Platz an der Sonne hatten. Wir
haben der Rednerin eben und auch ihrem Vorredner
zugestanden, dass sie wahrscheinlich das Signal nicht er-
kennen konnten. Ich bitte aber jetzt darum, die Signale
aus dem Präsidium zu beachten. Sollten wir eine
Meldung aus dem Saal aufgrund der Verhältnisse hier
übersehen, bitte ich, es uns irgendwie akustisch noch an-
zuzeigen.


(Zuruf von der FDP: Hört die Signale!)


Das Wort hat die Kollegin Agnes Krumwiede für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719523500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Barrierefreiheit beginnt hier im Parlament.
Wenn Gesetze und Anträge so formuliert sind, dass die
meisten Bürgerinnen und Bürger nicht verstehen kön-
nen, worum es geht, läuft etwas falsch. Verklausulierte
Sprache führt zur Ausgrenzung und verstärkt die Kluft
zwischen Politik und Bevölkerung. Die Anregung der
SPD zu einer freiwilligen Selbstverpflichtung, bei zen-
tralen Debatten die Leichte Sprache zu berücksichtigen,
unterstützen wir daher ausdrücklich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir begrüßen den Antrag der SPD, weil er konkrete
Vorschläge macht für mehr Barrierefreiheit in Kultur,
Medien und Politik – ganz im Gegensatz zum Nationa-
len Aktionsplan der Bundesregierung. Dieser verliert
sich nämlich in vagen Kannbestimmungen. Ende 2012
laufen viele Maßnahmen des Aktionsplans auch schon
wieder aus, ohne dass sich im Bereich Inklusion Ent-
scheidendes verändert hat.

Ab 2013 ist beispielsweise die Förderung für das
Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit nicht mehr
gesichert. So kommen wir in Deutschland bei der Um-
setzung des UN-Übereinkommens über die Rechte der
Menschen mit Behinderung nicht weiter.





Agnes Krumwiede


(A) (C)



(D)(B)


Meine Fraktion denkt bei ihren Anträgen Barrierefrei-
heit immer mit. Unser Antrag zum Aufbau der Deut-
schen Digitalen Bibliothek enthält auch die Forderung,
die Bedürfnisse hörgeschädigter, gehörloser und
taubstummer Menschen bei der Bereitstellung digitaler
Kulturgüter mit einzubeziehen. Seit einem Jahr steht
unsere Forderung nach einem Sofortprogramm „Barrie-
refreier Film“ im Raum. Auch in den öffentlich-
rechtlichen Rundfunkanstalten müssen mehr Angebote
für hör- und sehbeeinträchtigte Menschen geschaffen
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nicht nur Verbesserungen beim substanziellen Zu-
gang zu unserer medialen und kulturellen Infrastruktur
für Menschen mit Behinderung sind notwendig. Es geht
auch darum, wie wir ihre Mitgestaltung individuell för-
dern können. Ansonsten geht unserer Gesellschaft viel
kreatives Potenzial verloren.

Was wäre unsere Musiklandschaft ohne die Stimme
eines Thomas Quasthoff? Seine Karriere hätte beinahe
geendet, bevor sie begonnen hat: vor den Türen der
Musikhochschule, die ihn nicht aufgenommen hat, weil
er aufgrund seiner Conterganschädigung nicht Klavier
spielen kann. Ohne das Pflichtfach Klavier ist an unse-
ren Musikhochschulen auch heute noch offiziell kein
Gesangsstudium möglich.

Alle Ausbildungseinrichtungen im Bereich Kultur
und Medien müssen sich auf die Besonderheiten von
Menschen mit Behinderung einstellen. Ihr kreatives,
künstlerisches und intellektuelles Potenzial muss sich
entfalten können – das fordert auch die UN-Behinderten-
rechtskonvention.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In meinem Wahlkreis Ingolstadt gibt es an einer För-
derschule eine Tanzgruppe mit besonderen Kindern.
Einmal in der Woche kommt eine Tänzerin, um mit ih-
nen zu arbeiten. Vor der Sommerpause habe ich dort eine
Aufführung besucht. Es war berührend und beeindru-
ckend, wie sich diese Kinder mit teilweise schwersten
Behinderungen zur Musik bewegten. Durch die Musik
und den Tanz wurden ihre Persönlichkeiten sichtbar.
Und ich rede hier von Kindern, die für uns oft nicht
sichtbar sind.

Ich wünsche mir, dass vielfältige künstlerische Ange-
bote für alle Kinder und Jugendlichen mit und ohne
Behinderung gleichermaßen selbstverständlich werden.
Es geht um die Entfaltung von Fantasie und Empathie,
um Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung.

Sorgen wir gemeinsam dafür, dass Barrierefreiheit in
Kunst und Kultur für alle Menschen nicht nur ein
Wunsch auf dem Papier bleibt, sondern umgesetzt wird.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719523600

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege

Burkhardt Müller-Sönksen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Burkhardt Müller-Sönksen (FDP):
Rede ID: ID1719523700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Inklusion geht uns alle an, nicht nur als breite gesell-
schaftliche Initiative. Insbesondere uns hier in diesem
Hause sollte sie ein ganz besonderes Anliegen sein.

Frau Kollegin Schmidt, Sie haben es in der letzten
Debatte auf den Punkt gebracht: Wenn wir Volksvertre-
ter sein wollen, dann müssen wir für alle Menschen
Klartext reden und Klartext schreiben. Diese Äußerung
möchte ich ausdrücklich zitieren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Den Antrag der SPD-Fraktion können wir zwar, wie
mein Kollege Reiner Deutschmann ausgeführt hat, nicht
in allen Punkten mittragen. Ich möchte aber den Impuls
des Antrags gerne aufgreifen, weil das gesellschaftliche
Umdenken jetzt beschleunigt werden muss.


(Beifall der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])


Nach den Empfehlungen des Vereins „Mensch zuerst –
Netzwerk People First Deutschland e. V.“ habe ich Teile
meiner Homepage in Leichte Sprache übersetzt. Ich bin
dem Beispiel meiner Kollegin Gabi Molitor gefolgt, weil
ich der Auffassung bin, dass auch Menschen mit Lern-
schwierigkeiten meine parlamentarische Arbeit verfol-
gen sollen. Liebe Gabi, das machst du genau richtig.
Alle Kolleginnen und Kollegen aus dem Hause sollten
deinem Beispiel folgen.


(Beifall bei der FDP)


Und wie Sie, Frau Schmidt, stand ich vor der Heraus-
forderung, im Wortsinne unübersetzbare Begriffe allen
Besuchern zugänglich zu machen. Es ist nicht einfach,
sich in Leichter Sprache auszudrücken. Es ist aber not-
wendig, und deshalb werbe ich bei allen Kolleginnen
und Kollegen, sich damit zu beschäftigen und den zu-
sätzlichen Aufwand, den die Übersetzung in Leichte
Sprache mit sich bringt, bei der Bearbeitung der Home-
page auf sich zu nehmen.

Bei der Übersetzung fiel mir auf, was die Koalition
schon geleistet hat. Vor noch nicht einmal einem Jahr ha-
ben wir den Antrag zur Ausweitung des barrierefreien
Filmangebotes beschlossen. Die Koalitionsfraktionen
haben die Bundesregierung aufgefordert, das Kriterium
des barrierefreien Zugangs zu Filmen bei der Filmförde-
rung stärker zu berücksichtigen. Nun wurden die Förder-
richtlinien des Deutschen Filmförderfonds entsprechend
angepasst und treten zu Beginn des nächsten Jahres in
Kraft. Damit haben wir einen Anreiz für mehr barriere-
freie Filmangebote gesetzt, von denen viele hör- und
sehbehinderte Menschen profitieren werden.





Burkhardt Müller-Sönksen


(A) (C)



(D)(B)


Als Beispiel für die Umsetzung der Barrierefreie-In-
formationstechnik-Verordnung möchte ich auf das Aus-
wärtige Amt verweisen. Auf dessen Website finden sich
zum Beispiel sehr informative Texte in Leichter Sprache
zur Menschenrechtspolitik und Videos mit Gebärden-
sprache.

Außerdem möchte ich die Bemühungen des Verteidi-
gungsministeriums – gerade war der Wehrbeauftragte
hier – hervorheben. Die Komplexität sicherheitspoliti-
scher Begriffe in Leichter Sprache wiederzugeben, ist
wirklich eine anerkennenswerte Leistung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich komme zum Schluss. Wir sehen uns nach alledem
auf einem guten Weg: Ein Antrag der SPD, mein Beispiel
einer Homepage oder der Beschluss des Ältestenrates,
zum Beispiel bei www.bundestag.de, sind erste Schritte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen wir diesen
Weg konsequent gemeinsam weiter, dann wird die Inklu-
sion in allen Bereichen gelingen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719523800

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Frak-
tion der SPD mit dem Titel „Kultur für alle – Für einen
gleichberechtigten Zugang von Menschen mit Behinde-
rung zu Kultur, Information und Kommunikation“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10030, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/8485 abzulehnen.


(Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Das ist unglaublich! Nach den Reden ist das überhaupt nicht zu begreifen!)


Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion,
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:

a) Bericht des Petitionsausschusses

Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag

Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2011

– Drucksache 17/9900 –

b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsordnung

Technikfolgenabschätzung (TA)


Elektronische Petitionen und Modernisierung
des Petitionswesens in Europa

– Drucksache 17/8319 –
Überweisungsvorschlag:
Petitionsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Vorsit-
zende des Petitionsausschusses, die Kollegin Kersten
Steinke.


(Beifall bei der SPD)



Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719523900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Werte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschuss-
dienstes! Der Petitionsausschuss war auch im Jahr 2011
wieder Anlaufpunkt für viele Menschen, die sich Hilfe
erhofften. Zwei Zahlen prägten die Arbeit des Petitions-
ausschusses im Jahr 2011: 15 191 Petitionen wurden im
vergangenen Jahr eingereicht, und 1,1 Millionen Bürge-
rinnen und Bürger haben sich auf der Internetseite des
Petitionsausschusses angemeldet, um Petitionen auf
elektronischem Weg einzureichen oder öffentliche Peti-
tionen mitzuzeichnen oder zu diskutieren.

Ein Drittel aller Eingaben, also circa 5 000, wurden
per E-Mail eingereicht. Knapp ein Viertel der Gesamt-
eingaben, nämlich 3 364 Vorgänge, fielen auf das Res-
sort Arbeit und Soziales. Damit belegt es, wie auch in
den Vorjahren, den Spitzenplatz unter den betroffenen
Bundesministerien.

Allein zum ALG II gab es 937 Petitionen. Hier ging
es zum Beispiel um Fehler bei der Berechnung, um die
Aussetzung von Leistungen, um Sanktionen oder Son-
derregelungen für unter 25-Jährige, um die Verrechnung
mit anderen Einkommen wie Ferienjobs oder Aufwands-
entschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeit.

Zahlreiche Beschwerden gingen beim Petitionsaus-
schuss ein, weil bei der Anrechnung einer Verletztenrente
aus einer gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Rente
aus der gesetzlichen Rentenversicherung für Ost und
West unterschiedliche Freibeträge galten. Die Petenten
forderten die Abschaffung dieser Ungleichbehandlung.
Dieser Forderung schloss sich der Petitionsausschuss ein-
stimmig an, blieb aber im ersten Anlauf erfolglos. Doch





Kersten Steinke


(A) (C)



(D)(B)


es wäre nicht unser Petitionsausschuss, wenn er die Er-
folglosigkeit einfach so akzeptieren würde. Es wurde ein
weiteres Gespräch mit Regierungsvertretern geführt und
um eine Lösung gerungen. Das Ergebnis: Seit dem 1. Juli
des vergangenen Jahres gelten für Ost und West einheit-
liche Freibeträge.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Bundesministerium der Justiz mit 1 885 Einga-
ben bzw. 12 Prozent der Gesamteingaben lag auch im
vergangenen Jahr auf dem zweiten Rang der Eingaben-
statistik. Adoptionsrecht, Unterhaltsrecht, Mietrecht und
Verbraucherschutz sind nur einige Themen aus diesem
Bereich, mit denen sich die Bürgerinnen und Bürger an
uns wenden.

Neben seinen 22 regulären Sitzungen hat der Aus-
schuss 32 Berichterstattergespräche mit einzelnen Minis-
terien geführt, um Lösungen für schwierige Fälle zu fin-
den. Hier wurden beispielsweise das Verbot von Action-
Computerspielen, der Lärmschutz im Luftverkehr und an
Schienenwegen, die Wiedergutmachung nationalsozialis-
tischen Unrechts und die wohnortnahe Versorgung mit
Hebammenhilfe thematisiert.

Hervorzuheben sind vier öffentliche Sitzungen, in de-
nen zehn Petitionen zur Einzelberatung aufgerufen wur-
den. Themen waren unter anderem: die Verankerung des
Klimaschutzes als Staatsziel im Grundgesetz, das Verbot
des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen, die nu-
kleare Ver- und Entsorgung, die Ambulante Kodierricht-
linie, die Finanztransaktionsteuer und die Kopfpauschale
zur Finanzierung der GKV.

In drei Fällen führte der Ausschuss Ortstermine
durch. Besprochen wurden gemeinsam mit den Petenten
und den Vertretern der zuständigen Verwaltungen die
Trassenführung der S-Bahn bei Fürth, die Nutzung der
Ferienanlage Prora auf Rügen sowie der Bau einer
Ortsumgehung bei Ratzeburg.

Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass sich die
Mitglieder des Petitionsausschusses mit großem Engage-
ment darum bemühen, die bestmögliche Lösung für jede
Petentin und jeden Petenten zu erreichen und dabei in vie-
len Fällen eine über die Fraktionsgrenzen hinausgehende
konstruktive Zusammenarbeit praktizieren. Selbstver-
ständlich ist aber auch, dass es zu manchen Themen sehr
unterschiedliche Sichten gibt und somit unterschiedlich
von den Fraktionen votiert wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere mit-
hilfe des Internets eröffnen sich den Bürgerinnen und
Bürgern seit 2005 völlig neue Arten der Beteiligung. Die
Möglichkeit, Petitionen im Internet zu veröffentlichen
und online zu unterstützen, erlaubt es den interessierten
Menschen, sich zusammenzutun und sich gemeinsam für
ein Anliegen starkzumachen. Ziel der öffentlichen Peti-
tion ist es, der Öffentlichkeit Themen von allgemeinem
Interesse vorzustellen und zu diskutieren. Auf diese
Weise wird die Informationsbasis des Ausschusses, die
die Grundlage seiner Empfehlungen an das Plenum des
Deutschen Bundestages bildet, erheblich erweitert.

Seit 2005 besteht die Möglichkeit, Petitionen per In-
ternet einzureichen, öffentlich zu stellen und mitzudisku-
tieren. Und die Zahlen beweisen: Die Entscheidung für
das Internet war richtig, und wir tun gut daran, das An-
gebot immer weiter zu verbessern.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Neben den bereits erwähnten 1,1 Millionen registrier-
ten Nutzern auf der Internetseite wurden auch die 650
im Berichtsjahr veröffentlichten Petitionen insgesamt
1 Million Mal mitgezeichnet und 66 000-mal kommen-
tiert.

Eine weitere Zahl ist imposant: 4 bis 5 Millionen Sei-
tenaufrufe pro Monat zeigen das rege Interesse der Be-
völkerung an diesem Angebot des Petitionsausschusses.
Unser Internetportal ist damit klarer Spitzenreiter unter
den Internetangeboten des Deutschen Bundestages.

Die am häufigsten über das Internetportal mitgezeich-
neten öffentlichen Petitionen im Berichtsjahr waren die
Petition zum Verbot der Vorratsdatenspeicherung mit
über 64 000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern
und zum Verbot des Anbaus von gentechnisch veränder-
ten Pflanzen mit über 43 000 elektronischen Mitzeich-
nungen.

Ich bin der festen Überzeugung: Insbesondere das In-
strument der öffentlichen Petitionen kann helfen, die De-
mokratie zu stärken und Mitwirkung auf eine breitere
Basis zu stellen. Doch bei all den Möglichkeiten, die das
Petitionsrecht in Verbindung mit dem Internet bringt,
dürfen wir eines nicht vergessen: die sehr persönlichen
Sorgen und Nöte des einzelnen Bürgers, die quasi das
Kerngeschäft des Petitionsausschusses sind und auch
den Kernanteil unserer Arbeit ausmachen. Bei all den
persönlichen Bitten und Beschwerden, etwa wegen fal-
scher Berechnung der Rente, Nichtfinanzierung eines
Rollstuhls oder Ablehnung eines Besuchervisums, geht
es für den Einzelnen, der sich an uns wendet, um exis-
tenzielle Probleme. Diese Eingaben eignen sich aber
nicht für Diskussionsforen und öffentliche Beratungen.
Doch auch diese Beschwerden zeigen, wo in der Politik
etwas nicht funktioniert.

Der Petitionsausschuss wird täglich mit diesen Einzel-
schicksalen konfrontiert, bei denen Bürgerinnen und
Bürger in die Mühlen der Bürokratie geraten sind und
nicht mehr ohne fremde Hilfe herauskommen. Hier ein
Beispiel: Eine Petentin, die an einer degenerativen Er-
krankung des Nervensystems leidet, wandte sich an uns,
damit die Deutsche Rentenversicherung Bund die Kosten
der Wartung der Rollstuhlladehilfe an ihrem Pkw über-
nehme; denn trotz ihrer Erkrankung war es der Dame mit
dem entsprechend ausgestatteten Pkw möglich, am Be-
rufsleben teilzunehmen. Durch eine verzögerte Bearbei-
tung durch die Deutsche Rentenversicherung Bund war
sie jedoch gezwungen, die Wartungskosten selbst zu
übernehmen, wenn sie weiter dem Beruf nachgehen
wollte. Durch die vom Petitionsausschuss eingeleitete
Ermittlung konnte der Frau dann doch geholfen werden.
Der Petentin wurden die Wartungskosten erstattet und





Kersten Steinke


(A) (C)



(D)(B)


die Finanzierung eines Kraftverstärkers am Rollstuhl be-
willigt, um ihr auch weiterhin die Teilnahme am aktiven
Leben zu ermöglichen. Ja, die Lösung solcher Probleme
ist zeitaufwändig und in aller Regel auch wenig öffent-
lichkeitswirksam. Aber diese Anfragen sind genauso
wichtig wie die Petitionen mit Hunderttausenden Unter-
schriften.


(Beifall im ganzen Hause)


Ein Wermutstropfen bleibt jedoch: Der Bericht des
Büros für Technikfolgen-Abschätzung, der heute auch
auf der Tagesordnung steht, kommt zu der Einschätzung:

Der Petitionsausschuss ist für die Bürger relativ
einfach erreichbar, gleichzeitig aber in der Durch-
setzung von Bürgerinteressen schwach.

So weit, so gut bzw. so schlecht. Ich frage mich aller-
dings, wie wir diese Einschätzung ins Gegenteil kehren
wollen, wenn wir nicht einmal die Anerkennung des Par-
laments, geschweige denn ausreichend Gehör zur Durch-
setzung im Parlament finden.


(Klaus Hagemann [SPD]: Genau!)


Wie sonst soll ich es bewerten, dass der Tagesordnungs-
punkt so aufgesetzt wurde, dass unsere Debatte erst zu
dieser späten Uhrzeit stattfindet? Die Obleute aller Frak-
tionen haben sich gemeinsam dafür stark gemacht, die-
sen Tagesordnungspunkt zu einer früheren Tageszeit im
Plenum aufzurufen, und sind den Kompromiss einge-
gangen, den Jahresbericht nicht im Juni, sondern im Sep-
tember zu debattieren. Das Ergebnis der Bemühungen
– und damit die mangelnde Akzeptanz und Würdigung
unserer Arbeit – wurde heute wieder sichtbar.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Doch seien Sie sicher: Wir werden uns nicht entmutigen
lassen und immer wieder anmahnen, unsere Arbeit und
ihre Ergebnisse zu achten, aber vor allem ernst zu neh-
men. Denn bei unserer Arbeit geht es um die Menschen
in unserem Land, um ihre Rechte, ihre Fragen, ihre Sor-
gen, ihre Nöte, ihre Vorschläge und Anregungen. Es geht
also um die Ausübung und Achtung eines demokrati-
schen Rechts, des Petitionsrechts.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die heu-
tige Debatte auch dazu nutzen, mich bei den Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschussdienstes
ganz herzlich zu bedanken. Sie sorgen trotz stetigen
Wechsels und dünner Personaldecke für einen kontinu-
ierlichen Zustrom an beratungsreifen Petitionen, arbei-
ten konstruktiv mit den Abgeordneten zusammen und
stehen uns Abgeordneten stets unterstützend zur Seite.
Dafür ganz herzlichen Dank!


(Beifall)


Darüber hinaus möchte ich mich natürlich bei den Aus-
schussmitgliedern aller Fraktionen ganz herzlich für ihr
Engagement und für die gute Zusammenarbeit bedan-
ken.


(Beifall)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für das kom-
mende Jahr wünsche ich mir von den Mitgliedern unse-
res Parlaments, des Petitionsausschusses und den Mitar-
beitern des Petitionsausschussdienstes eine weiterhin
konstruktive und respektvolle Zusammenarbeit, um un-
sere Bemühungen für die Bürgerinnen und Bürger noch
effektiver zu gestalten.

Georg Christoph Lichtenberg sagte einmal:

Es ist unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein
Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu
versengen.

Ich sehe unseren Petitionsausschuss als Fackelträger.
Wenn bei unserer Tätigkeit der eine oder andere Bart
versengt wird, können Sie gesichert davon ausgehen,
dass dies immer im Sinne der Petentinnen und Petenten
geschieht.

Herzlichen Dank.


(Beifall im ganzen Hause – Iris Gleicke [SPD]: Also mit Absicht!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719524000

Der Kollege Günter Baumann hat nun für die Unions-

fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Günter Baumann (CDU):
Rede ID: ID1719524100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir stellen oft fest, dass sich in unserem Land ein gewis-
ses Maß an Politikverdrossenheit breit macht. Besonders
stellen wir das bei Wahlen fest, da manchmal nur 25 Pro-
zent der Bürgerinnen und Bürger von ihrem demokrati-
schen Recht Gebrauch machen.

Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler sagte:
„Wir dürfen nicht müde werden, uns zu fragen, was wir
tun können, um unsere Demokratie attraktiv, aktuell und
lebendig zu erhalten.“ Mein persönlicher Eindruck ist:
Der Petitionsausschuss wird nicht müde, sich Tag für
Tag mit den Problemen der Menschen zu beschäftigen
und zu versuchen, Abhilfe zu schaffen. Nach dem Wahl-
recht bietet der Petitionsausschuss den Bürgerinnen und
Bürgern die wichtige Möglichkeit, sich direkt an der
Politik beteiligen.

Die Bürgerinnen und Bürger haben nach meiner An-
sicht Vertrauen in unsere Arbeit, und das, obwohl es ne-
ben uns in Behörden und Institutionen eine Vielzahl von
Beauftragten gibt. Trotzdem kommen seit vielen Jahren
15 000 bis fast 20 000 Petitionen pro Jahr zusammen.
Auch im letzten Jahr, 2011, belegen das die Zahlen in
eindrucksvoller Weise; die Vorsitzende hat darauf hinge-
wiesen.

Ich möchte an dieser Stelle meinen herzlichen Dank
an die Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss richten.
Wir pflegen ein kollegiales Miteinander. Wir haben nicht
immer die gleiche Meinung – das ist normal –, aber
trotzdem geht es kollegial zu und wir versuchen gemein-
sam, Lösungen zu finden. Wir danken unseren Mitarbei-





Günter Baumann


(A) (C)



(D)(B)


terinnen und Mitarbeitern, die uns zuarbeiten, um die
Berge von Akten zu bewältigen. Ohne sie wäre unsere
Arbeit nicht möglich. Ein herzliches Dankeschön gilt na-
türlich auch dem Ausschussdienst, der uns mit sehr ho-
hem Sachverstand zuarbeitet, sonst könnten wir unsere
Aufgaben nicht packen.

Meine Damen und Herren, ich möchte behaupten: Die
Arbeit im Ausschuss ist erfolgreich, auch wenn wir an
manchen Stellen etwas zu kritisieren haben. Wir können
auf unsere Arbeit ein Stück stolz sein, auch wenn wir
heute Abend erst um 19 Uhr hier im Plenum sprechen
dürfen.

Wenn wir als Delegationen in verschiedene Länder
der Welt reisen, stellen wir fest, dass Bürgerprobleme
teilweise anders behandelt, teilweise ignoriert werden.
Wir können daher stolz darauf sein, wie das bei uns
läuft.

Die eindrucksvollen Zahlen hat die Vorsitzende ge-
nannt. Es gab reichlich 15 000 Petitionen. Zur Ergän-
zung ist zu erwähnen: Das sind immerhin fast 60 Petitio-
nen pro Tag, die im Bundestag eingehen. Die müssen
erst einmal bearbeitet werden, der Aufwand ist also groß.
500 000 Mitzeichnungen im Internet sind ebenfalls eine
eindrucksvolle Zahl. Wir haben im Ausschuss 728 Peti-
tionen zur Einzelberatung aufgerufen, das heißt, wir hat-
ten sie in den Büros, in den Arbeitsgruppen zu bearbei-
ten. Das war ein riesiger Aufwand. Eine Zahl noch, die
die Vorsitzende nicht genannt hat: Immerhin konnten wir
bei rund 6 500 Petitionen, also rund 43 Prozent, den Pe-
tenten helfen, in welcher Form auch immer.

Auffällig ist, dass auch 22 Jahre nach der deutschen
Einheit prozentual immer noch die meisten Petitionen,
auf die Einwohner bezogen, aus den neuen Bundeslän-
dern kommen. Aus Berlin, Brandenburg, Sachsen und
Thüringen sind das zwischen 200 und fast 500 Petitionen
pro Land. Im Vergleich dazu Bayern: 137. Das heißt
nicht – das sage ich jedes Jahr wieder –, dass die Ossis
am meisten meckern, sondern es gibt im Osten eine
Reihe von Problemen – bedingt durch die Geschichte
und durch die Erwerbsbiografien der Menschen –, und
nicht alles konnte durch den Einigungsvertrag komplett
geregelt und aufgearbeitet werden. Einige Herausforde-
rungen liegen noch immer vor uns: Ich denke an offene
Vermögensfragen, an das Sachenrechtsbereinigungsge-
setz, an Rentenfälle und die Zusatzversorgung, wo im-
mer noch die berühmten „Ostfälle“ bei uns aufschlagen.

Wir nutzen unsere besonderen Befugnisse im Aus-
schuss sehr stark, um höhere Sachkenntnis für die ein-
zelne Petitionsbearbeitung zu erreichen und die Fachmi-
nisterien einzubeziehen. Die Vorsitzende sprach bereits
von 32 Berichterstattergesprächen zu den Themen Ge-
sundheit, Verkehr, Lärmschutz, Vermögensfragen, Ren-
ten, Asyl und Spätaussiedler. Wir haben im Zuge der Ge-
spräche für eine Reihe von Petitionen Lösungen finden
können, nicht immer komplett im Interesse des Petenten,
aber zumindest Teillösungen wurden erzielt.

Ich möchte die Verhandlungen mit dem BMVBS und
der Flugsicherung über das Thema Südabkurvung am
Flughafen Leipzig ansprechen. Dabei ging es um Lärm-

schutz. Wir haben nach mehreren Gesprächen erreicht,
dass die Trassen verändert wurden. Das Problem wurde
nicht vollkommen gelöst, heute sind aber wesentlich we-
niger Bürger durch Lärm belästigt als vor den Verhand-
lungen. Das ist ein Erfolg des Petitionsausschusses.

Ich möchte erwähnen, dass wir im letzten Jahr durch
Härtefallregelungen Spätaussiedler in bereits geneh-
migte Fälle einbeziehen konnten. Damit konnten wir ei-
ner Reihe von Bürgerinnen und Bürgern helfen.

Wir nutzen die Möglichkeit von Ortsterminen. Die
Vorsitzende hat das schon erwähnt. In Prora auf Rügen
haben wir uns nicht um eine Ferieneinrichtung geküm-
mert, sondern wir haben uns bemüht, ein kulturhistori-
sches, geschichtsträchtiges Museum zu erhalten. Ich
denke, das war eine ganz gute Aktion. Wir haben einen
Kompromiss ausgehandelt, sodass das Museum erst ein-
mal erhalten bleibt. Jetzt müssen wir schauen, wie es
dort weitergeht.

Ich möchte auch die Lärmbelästigung durch abge-
stellte Züge in der Nähe von Wünsdorf auf der Eisen-
bahnstrecke Dresden–Berlin erwähnen. Wir haben dazu
eine Reihe von Stellungnahmen des Ministeriums erhal-
ten, auch von der Deutschen Bahn, die uns nicht befrie-
digt haben. Man hat das Thema nicht ernst genommen.
Erst nach dem Ortstermin kam Bewegung in die Sache.
Nach einer langen Verhandlungszeit haben wir nun er-
reicht, dass die Lärmsanierung für 2015 im Plan steht.
Die Bürger sind nun ein ganzes Stück zufriedener.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Der schönste Erfolg für uns im Petitionsausschuss ist,
wenn Bürger uns schreiben und sich dafür bedanken,
dass etwas erreicht worden ist. Ich freue mich immer
über solche Briefe. Im letzten Jahr haben uns mehrere
Briefe erreicht, in denen die Bürger einfach geschrieben
haben: Danke. Durch Ihre Arbeit habe ich wieder Mut
gefunden. Mein Problem konnte gelöst werden.

Auch der TAB-Bericht steht heute zur Diskussion. Es
ist ein Novum, dass wir heute in der Zeit, in der wir
sonst nur über den Petitionsbericht debattiert haben,
zwei Berichte bereden müssen. Also haben wir nur sehr
wenig Zeit dafür. Daher nur einige kurze Bemerkungen
dazu: In dem Bericht, der am 15. März 2012 veröffent-
licht wurde, wird empfohlen, dass öffentliche Petitionen
von der Ausnahme zur Regel erklärt werden. Ich möchte
für meine Fraktion deutlich sagen: Diese Einschätzung
teilen wir nicht. Petitionen können elektronisch einge-
reicht werden. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie
im Internet veröffentlicht werden. Wir haben einver-
nehmlich Kriterien festgelegt, an die wir uns halten. Pe-
titionen, die nicht elektronisch eingereicht wurden, müs-
sen nicht im Internet veröffentlicht werden. Das
Instrument der öffentlichen Petitionen, das 2005 als Mo-
dellprojekt eingeführt wurde, hat sich als ständige Ein-
richtung auf der Internetseite des Deutschen Bundesta-
ges bewährt. Inzwischen werden monatlich zwischen 30
und 80 Petitionen neu eingestellt. Das ist also ein gutes
System. Die Veröffentlichung hat allgemeines Interesse
gefunden.





Günter Baumann


(A) (C)



(D)(B)


In dem Bericht wird ferner bemängelt, dass nur ein
Siebtel aller Petitionen, die öffentlich sind, bei uns zuge-
lassen wird.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719524200

Herr Kollege, nicht dass Sie denken: „Ossis meckern

doch“,


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Jammern!)


aber ich muss Ihnen sagen: Ihre Redezeit ist zu Ende.


Günter Baumann (CDU):
Rede ID: ID1719524300

Okay. Ich nehme den Hinweis sehr gerne ernst. – Ich

glaube, über den TAB-Bericht müssen wir noch einmal
sprechen. Die Zeit reicht dafür heute absolut nicht aus.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719524400

Ja.


Günter Baumann (CDU):
Rede ID: ID1719524500

Ein letzter Satz, wenn Sie gestatten. – Wir wollen,

dass alle Petitionen gleich behandelt werden, egal ob sie
öffentlich oder nichtöffentlich sind, ob sie von einem
oder von 50 Leuten eingereicht werden. Für uns ist jeder
Petent gleich. Daran wollen wir festhalten und dieses
System in der Form weiter ausbauen.

Recht vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719524600

Klaus Hagemann hat das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1719524700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tri-
bünen! Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich zwar in
jeder Sitzungswoche hier im Plenum mit Petitionen, aber
es wird nur über Listen abgestimmt, und zwar ohne De-
batte. Einmal im Jahr haben wir die Möglichkeit – das ist
der Höhepunkt –, hier über das Petitionswesen und das
Thema Petitionen öffentlich zu diskutieren. Heute disku-
tieren wir zu einer Uhrzeit – Frau Vorsitzende, diesbe-
züglich stimme ich Ihnen vollkommen zu –, wie ich es
noch nie erlebt habe, seitdem ich Mitglied des Petitions-
ausschusses bin. In der Zeit von Rot-Grün haben wir
festgelegt, dass wir in der Kernzeit miteinander diskutie-
ren. Ich verstehe nicht, warum die Fraktionsführungen
der Koalitionsfraktionen diese Debatte so weit nach hin-
ten geschoben haben. Es gibt doch gar keinen Grund, un-
sere Arbeit zu verstecken. Auch ihr von den Koalitions-
fraktionen müsst eure Arbeit nicht verstecken. Ihr müsst
doch nicht versteckt werden. Ihr macht, genauso wie wir,
gute Petitionsarbeit. Deswegen habe ich überhaupt kein
Verständnis dafür, dass man den Tagesordnungspunkt
zeitlich so weit nach hinten geschoben hat.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Peter Röhlinger [FDP])


Wenn ich auf die Regierungsbank schaue, stelle ich
fest, dass es dieses Jahr eine deutliche Verstärkung gibt.
Kompliment an die Herren Staatssekretäre. Aber ich
muss rügen, dass der Staatssekretär, der eben noch hier
gewesen ist und dem die meisten Petitionen zugeleitet
werden, nämlich der aus dem Bereich Arbeit und Sozia-
les, nicht mehr anwesend ist. Dieses Ministerium ist
nicht vertreten. Das will ich hier rügen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich muss sagen, dass es so aussieht, als wollten die
Fraktionsführungen hier nicht zuhören. Mein stellvertre-
tender Fraktionsvorsitzender ist anwesend; das freut
mich.


(Zurufe von der FDP)


– Entschuldigung. – Damit signalisiert man den Peten-
ten, dass man ihnen nicht zuhören will. Das schließe ich
daraus, dass man die Debatte auf eine derart späte Tages-
zeit verschoben hat. Ihre Nervosität zeigt, dass ich gar
nicht so falsch liege. Liebe Frau Piltz, das ist wohl der
Grund, und diesen musste ich hier herausstellen.


(Otto Fricke [FDP]: Guck mal, wie es bei euch aussieht! Es sind weniger Sozialdemokraten als Liberale da!)


– Passen Sie auf, es zeigen immer drei Finger auf einen
selbst zurück, wenn man mit dem Finger auf andere
zeigt.


(Günter Baumann [CDU/CSU]: Sollen wir einmal in den Fraktionen durchzählen?)


Wenn ich mir den Koalitionsvertrag ansehe, der von
Schwarz-Gelb vor drei Jahren geschlossen worden ist,
dann sehe ich, dass dort steht – ich hatte die Hoffnung,
dass es auch weiterentwickelt wird –: Das Petitionswe-
sen soll weiterentwickelt und verbessert werden. – Was
ist geschehen? Bisher nichts. Dort steht: Das Anhö-
rungsrecht soll verbessert werden. – Was ist geschehen?
Bisher nichts. Vom Kollege Thomae wurde in der Presse
vorgeschlagen – das finde ich ganz toll; wir haben uns
dem auch angeschlossen –, mehr Petitionen hier im Ple-
num zu behandeln und nicht nur einmal im Jahr über das
Thema zu diskutieren. Was ist geschehen? Ich weiß es
nicht, lieber Kollege Thomae, ich vermute, nicht viel;
sonst würde es hier schon Vorlagen geben. Hier muss
also noch etwas mehr Butter bei die Fische gegeben wer-
den.

Petitionsrecht ist nicht nur der Kummerkasten der Na-
tion. Unsere Frau Vorsitzende hat darauf hingewiesen.
Das ist wichtig und die Hauptsache. Aber Petitionswe-
sen bedeutet auch, die Bürgerinnen und Bürger am poli-
tischen Geschehen im Deutschen Bundestag teilnehmen
zu lassen. Nach unserem Grundgesetz ist das die einzige
Möglichkeit der Bürger, auf das politische Geschehen
hier im Parlament, aber auch auf die Regierung direkt
Einfluss zu nehmen. Das hat man nicht genügend he-
rausgestellt.





Klaus Hagemann


(A) (C)



(D)(B)


Wir haben im Jahre 2005 – Kollege Baumann hat da-
rauf hingewiesen; er musste damals ein bisschen zum Ja-
gen getragen werden –


(Günter Baumann [CDU/CSU]: Das sind Gerüchte!)


unter Rot-Grün eine Reform durchgeführt. Sie war gut.
Wir haben die elektronischen Petitionen eingeführt. Wir
haben die öffentlichen Petitionen eingeführt. Wir haben
die Diskussionsforen eingeführt. Unsere Frau Vorsit-
zende hat deutlich gemacht, wie stark diese Möglichkei-
ten wahrgenommen werden und dass wir auf einem gu-
ten Weg sind. Der TAB-Bericht, also die wissenschaft-
liche Untersuchung, die das evaluiert, belegt, dass wir
auf einem guten Weg sind. Von dieser Innovation, die
wir damals im Petitionswesen gestartet haben – lieber
Josef Winkler, liebe Gabriele Lösekrug-Möller, wir ha-
ben hier an einem Strang gezogen –, leben wir noch
heute; aber es folgt nichts, es kommt nichts nach. Des-
wegen bitte ich darum, dass wir uns dieses Thema noch
einmal zusammen ansehen.

Was ist bei den öffentlichen Anhörungen nicht alles
besprochen worden? Wir haben öffentlich über Internet-
sperren diskutiert. Das Gesetz wurde zwischenzeitlich
aufgehoben. Das Thema ACTA ist zu den Akten gelegt
worden; auch damit haben wir uns im Petitionsausschuss
beschäftigt. Zur Finanztransaktionsteuer liegt immer
noch nichts vor; darüber wird immer noch beraten.
Stichwort „Hebammen“: 200 000 Unterschriften waren
eingegangen. Was ist geschehen? Bisher noch nichts. Es
ist noch nichts Konkretes vorgelegt worden. Ich denke
auch an das Beispiel Vorratsdatenspeicherung, an die
Diskussion, die wir dazu geführt haben. 65 000 Mitbür-
gerinnen und Mitbürger hatten diese öffentliche Petition
unterschrieben. Dreimal haben wir von der Opposition
versucht, das Thema hier auf die Tagesordnung zu set-
zen, aber Sie haben dem nicht zugestimmt, obwohl der
Rechtsanspruch gegeben war; denn die Koalition war
zerstritten, und dies wollten Sie nicht zeigen.

Ähnliches gilt auch im Hinblick auf das Thema „Ge-
neration Praktikum“. Wir haben dazu eine Anhörung
durchgeführt. Fünf, sechs Jahre hat es gedauert, bis ein
paar Konsequenzen gezogen worden sind.


(Zuruf der Abg. Gisela Piltz [FDP])


Schließlich hat man eine Broschüre vorgelegt – Frau
Piltz, es ist nun einmal so; die Wahrheit tut manchmal
weh –,


(Beifall bei der SPD)


die man „Leitfaden für die Generation Praktikum“
nennt. 100 000 junge Menschen haben hier unterschrie-
ben, aber es ist nichts dabei herausgekommen. Die
jungen Menschen sind enttäuscht worden. Das ist der
falsche Weg.

Ich könnte Ihnen weitere Beispiele nennen, aber
meine Redezeit ist leider zu Ende.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Es reicht auch! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Gott sei Dank ist sie zu Ende! – Günter Baumann [CDU/CSU]: War eigentlich irgendetwas positiv im letzten Jahr?)


– Es ist schwierig, die Wahrheit zu ertragen, Herr Kol-
lege, nicht wahr?

Wie sieht es im Hinblick auf die Beschlüsse zu
Berücksichtigungen oder Erwägungen aus, die wir ge-
meinsam gefasst haben?


(Dr. Peter Röhlinger [FDP]: Die Redezeit ist vorbei!)


Nur die Hälfte von ihnen ist von der Regierung bisher
erledigt worden.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719524800

Herr Kollege?


Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1719524900

Ich komme zu meinem letzten Satz. – Das muss kon-

sequenter aufgearbeitet werden; denn Petitionsrecht ist
auch Teilhabe an der Politik.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719525000

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Otto Fricke.


Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1719525100

Herr Kollege Hagemann, es ist ja immer möglich, ein

Thema auf eine billige parteipolitische Ebene zu schie-
ben. Aber ich glaube, dafür ist das Thema Petitionen zu
schade.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen des Abg. Klaus Hagemann [SPD])


Sie haben gerade behauptet – das bekommen die Bür-
ger dann ja auch mit –, die Koalitionsfraktionen hätten
diesen Tagesordnungspunkt auf diese Uhrzeit gelegt. Ich
darf Sie darauf hinweisen – ich habe mich extra noch
einmal informiert –, dass sich die Ersten Parlamentari-
schen Geschäftsführer aller Fraktionen darauf geeinigt
haben, diese Debatte zu diesem Zeitpunkt durchzufüh-
ren. Man sollte eher sagen – dafür plädiert meine
Fraktion –: Lasst uns alle noch einmal auf die Parlamen-
tarischen Geschäftsführer zugehen, um dafür zu sorgen,
dass das beim nächsten Mal nicht wieder passiert! Wir
sollten daraus nicht eine parteipolitische Sache machen,
sondern im Interesse der Petenten und im Interesse des
Petitionsverfahrens handeln.

Da Sie darauf hingewiesen haben, wie viele Abgeord-
nete hier anwesend sind, muss ich Ihnen entgegnen: Ich
werde den Linken nicht vorwerfen, dass nur drei von ih-
nen hier sind; denn auch sie machen noch ihre Arbeit.
Ich werde auch Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie, obwohl
Ihre Fraktion etwas größer ist als unsere, nicht in der
Lage sind, mehr Leute als unsere Fraktion hier aufzubie-
ten. Wir sollten wirklich versuchen, Herr Kollege





Otto Fricke


(A) (C)



(D)(B)


Hagemann, beim wichtigen Thema Petitionen, bei der
Anknüpfung von Bürgern ans Parlament, nicht auf par-
teipolitischer Ebene, sondern gemeinschaftlich zu agie-
ren. Das wäre sehr schön.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719525200

Herr Hagemann, bitte.


(Zuruf von der FDP: Jetzt ist er im Wahlkampfmodus!)



Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1719525300

Wahlkampf brauche ich nicht mehr zu machen, weil

ich nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidiere.


(Günter Baumann [CDU/CSU]: Dann setz dich wieder hin!)


Insofern, meine Damen und Herren, war dieser Zwi-
schenruf falsch.

Erstens, lieber Kollege Otto Fricke. Es geht nicht
darum, irgendjemanden anzugreifen,


(Otto Fricke [FDP]: Ach so?)


sondern ich habe, um das deutlich zu machen, die Reali-
täten geschildert, um auch den Kolleginnen und Kolle-
gen aus Ihrer Fraktion und aus der Unionsfraktion, mit
denen wir gemeinsam an einem Strang ziehen, den
Rücken zu stärken.

Zweitens: zum Termin. Das Aufsetzungsrecht haben
die Koalitionsfraktionen.


(Otto Fricke [FDP]: Nein!)


Wir haben versucht, um auch das noch einmal zu sagen,
den Termin in eine andere Sitzungswoche zu verschie-
ben, damit wir dann die Möglichkeit haben, früher zu
tagen. Ich könnte Ihnen Kollegen, die mit dabei waren,
als Zeugen nennen; das geschah sogar auf Anregung des
Kollegen Baumann.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber Sie haben der Tagesordnung doch heute früh zugestimmt!)


Aber man hat sich nicht durchgesetzt. Meine Fraktion
wäre dazu bereit gewesen. Dann hätten wir zu früherer
Stunde über dieses Thema diskutieren können.


(Otto Fricke [FDP]: Habt ihr zugestimmt?)


Lieber Otto Fricke, im Petitionsausschuss ziehen wir
bei allen Tagungen gemeinsam an einem Strang; das
möchte ich betonen. Aber man muss auch die Schwach-
stellen deutlich machen. Petitionswesen heißt nämlich
auch: Lieber Petent, liebe Mitbürgerinnen und Mitbür-
ger, wir wollen Ihr bzw. dein Interesse ernst nehmen. –
Das muss man deutlich machen, und das muss man auch
zeigen.


(Beifall bei der SPD – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Was würde wohl Herr Oppermann dazu sagen?)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Peter Röhlinger für
die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Peter Röhlinger (FDP):
Rede ID: ID1719525400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Mitarbeiterin-

nen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Werte Kol-
leginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Wenn Sie gestatten, kehre ich, ohne das Gespräch über
die Terminierung der heutigen Veranstaltung zu kom-
mentieren, zur Sache zurück und knüpfe an das an, was
der Herr Bundestagspräsident anlässlich der Eröffnung
des Internetportals getan hat. Er hat unseren Ausschuss
nämlich als den fleißigsten und öffentlichkeitswirksams-
ten bezeichnet und für die Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter sehr viel Lob übriggehabt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das ist für mich der Anknüpfungspunkt: Lieber Herr
Hagemann, ich kenne Sie auch aus den Ausschusssitzun-
gen als einen sehr konstruktiven Kollegen und bin ganz
überrascht, dass Ihnen das heute so schwerfällt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuss ist
im Grunde genommen tatsächlich Ihr Ausschuss. Über
den Petitionsausschuss kommunizieren wir mit den Bür-
gerinnen und Bürgern. Jeder von ihnen darf und soll sich
mit Petitionen an uns wenden. So viel zum Werbeblock!
Ich sage Ihnen: Wir haben durchaus damit zu tun, dem
nachzukommen. Es ist uns aber jede Anstrengung recht,
um dieser Verpflichtung nachzukommen – frei nach
Schiller, Herr Hagemann: „Der brave Mann denkt an
sich selbst zuletzt“.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Klaus Hagemann [SPD]: Was hat das mit mir zu tun? – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist eine Frage der Kommasetzung!)


Die Zahlen sind sehr beeindruckend; sie sind vorge-
tragen worden. Ich will sie hier nicht noch einmal wie-
derholen. Eines will ich aber schon sagen: Der Trend ist
positiv. Wir haben die Bürger in den vergangenen Jahren
offensichtlich zunehmend erreicht. Es wurden viele neue
Fragen gestellt – unabhängig von Geschlecht und Alter
und insbesondere auch von dem sozialen Umfeld der
Petenten. Wir freuen uns darüber, dass sich so viele
Menschen an den Deutschen Bundestag wenden und uns
Abgeordneten zutrauen, dass wir ihnen wirklich helfen
wollen. Wir werten das als einen großen Vertrauens-
beweis.

Das Interesse an der Ausübung des Petitionsrechts ist
in einer Zeit, in der sich viele Bürgerinnen und Bürger
nicht an Wahlen beteiligen, eine Chance für die Demo-
kratie.

Die Ausschussmitglieder bearbeiten die Eingaben mit
großem Engagement. 2011 haben wir in 26 Sitzungen





Dr. Peter Röhlinger


(A) (C)



(D)(B)


über 700 Petitionen behandelt. Das ist ein ordentliches
Pensum. Ich werde oft gefragt, wie das funktionieren
kann, wenn 25, 30 oder noch mehr Petitionen auf der
Tagesordnung stehen. Ich will dazu eine kurze Ausfüh-
rung machen:

Verstehen Sie den Petitionsausschuss vielleicht so
ähnlich wie den Hausarzt bei den Medizinern, der oft
Eingangsarzt ist. Er wird die Therapie mit der Untersu-
chung des Patienten auch nicht beenden, sondern er ist
häufig genötigt, ihn zu anderen Ärzten zu schicken. So
ist es bei uns auch. Das heißt, wir legen mit unseren ver-
schiedenen Voten fest, was wir zur Weiterbearbeitung
dieser Petition empfehlen. Wenn wir zum Beispiel wis-
sen, dass eine Gesetzesänderung geplant ist, dann geben
wir diese Petition dem betreffenden Ministerium oder
Ausschuss zur Beachtung und zur Einarbeitung. Wir
sind dann sicher, dass die Petition dort nicht ab-
geschmettert, sondern in Ruhe und mit hoher Sachkom-
petenz bearbeitet wird.

Die Bearbeitung der Petition liegt zunächst einmal in
den Händen von über 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
tern – ein Teil der Führungskräfte ist hier anwesend –,
die die Petitionen dann den Berichterstattern zuleiten
und für den weiteren Verfahrensweg zuständig sind. Ich
muss Ihnen sagen: In den vergangenen Jahren ist hier ein
sehr enges und gutes Vertrauensverhältnis entstanden –
auch dadurch, dass Mitarbeiter des Ausschussdienstes
uns auf den Auslandsreisen begleitet haben. Auf vieler-
lei Weise konnten wir uns von deren Kompetenz über-
zeugen.

Wir sind unsererseits natürlich daran interessiert, die
Mitarbeiter, auch unsere eigenen, durch gute Rahmen-
bedingungen zu motivieren und in die Lage zu verset-
zen, diesen hohen Anforderungen gerecht zu werden.

Ich sage hier aber auch: Wir schieben zurzeit einen
Berg von Petitionen vor uns her, es gibt einen regelrech-
ten Stau. Herr Hagemann, das sollten wir auch sagen.
Wir haben noch keinen Terminkalender, nach dem wir
diesen Berg abarbeiten. Fangen wir doch bei uns einmal
an, Herr Hagemann, bevor wir andere bitten, uns ernst
zu nehmen.


(Klaus Hagemann [SPD]: Ihr blockiert ja so lange!)


Uns ist es bislang nicht gelungen, zu konzipieren, wie
wir diesen Stau auflösen. Das ist unsere Sache. Da bin
ich der Auffassung: Das sollten wir selber machen.

Wir bemühen uns – das ist erfreulich, auch wenn es
heute so aussieht, als sei das untypisch – bei der Bearbei-
tung von Petitionen um Übereinstimmung. Das ist ein
gutes Zeichen, ein Ausdruck dessen, dass wir nicht die
Widersprüche suchen, sondern dass wir froh und dank-
bar darüber sind, wenn wir das eine oder andere frak-
tionsübergreifend besprechen und in Übereinstimmung
behandeln können.

Petitionen machen uns Abgeordnete auf die Sorgen
und die Probleme aufmerksam, mit denen Bürgerinnen
und Bürger zu tun haben, wo sie Ungerechtigkeit erfah-
ren und wo die Gesetze unzulänglich sind. Wir müssen

allerdings auch sagen: Wir können nicht in jedem Fall
helfen. Wir können also nicht immer versprechen, dass
das Anliegen im nächsten Gesetzgebungsverfahren auf-
genommen wird.

Aber auf eines haben wir Einfluss, nämlich darauf,
dass die Fristen eingehalten werden und dass unsere
Antwort, wie immer sie auch ausfällt, vom Petenten ver-
standen wird. Er soll merken, dass wir uns nicht nur um
den Inhalt bemühen, sondern auch darum, dass er unsere
Antwort versteht. Er soll nicht das Gefühl haben, mit uns
auf Distanz gewesen zu sein, sondern es soll deutlich
werden: Der Bundestagsabgeordnete hat mich verstan-
den, der Ausschussdienst hat ihm ordentlich zugearbei-
tet. Er kann mir vielleicht nicht helfen, aber er ermuntert
mich, am Ball zu bleiben und mein Anliegen gegebenen-
falls auf anderem Weg weiter zu verfolgen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sehe, meine Redezeit ist abgelaufen. Frau Präsi-
dentin, weil ich das sehr respektiere, bedanke ich mich
sehr freundlich für den Hinweis und wünsche der Veran-
staltung einen guten Verlauf.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719525500

Dazu trägt jetzt die Kollegin Sabine Stüber für die

Fraktion Die Linke bei.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Stüber (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719525600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter des Ausschussdienstes! Ein Parlament ist laut politi-
scher Theorie eine Volksvertretung. Wir sind also hier
versammelt, um die politischen Meinungen der deut-
schen Wahlbevölkerung zu vertreten und zu repräsentie-
ren.

Tun wir das in einer Art und Weise, die von der Wahl-
bevölkerung akzeptiert wird? Wenn ich mir allein die
zahlreichen Beschwerden vieler Menschen anschaue, die
dem Petitionsausschuss jeden Monat zugehen, beschlei-
chen mich gewisse Zweifel. Da wird bei politischen
Entscheidungen mangelnde Bürgerbeteiligung beklagt.
Uns Abgeordneten wird vorgeworfen, abgehoben und
intransparent nur unsere eigenen Ziele zu verfolgen. Die
Liste ließe sich fortsetzen. Wie also können wir das
ändern?

Ein erster Schritt wäre es, die bereits vorhandenen
Mitwirkungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger,
zum Beispiel den Petitionsausschuss hier im Bundestag,
einfach ernster zu nehmen. Die individuellen Anliegen
von Petentinnen und Petenten werden in der Regel von
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschuss-
dienstes in einem ersten Schritt sorgfältig geprüft.
Manchmal können sie dabei schon durch eine Nachfrage
bei zuständigen Behörden etwas für diejenigen bewegen,





Sabine Stüber


(A) (C)



(D)(B)


die sich an den Ausschuss gewandt haben. Das ist
tatsächlich Arbeit in deren Sinn.

Wir Abgeordneten bewerten die Anliegen darüber
hinaus politisch. Wenn sich bestimmte Beschwerden
wiederholen oder in den Fachausschüssen ein Problem
noch gar nicht behandelt worden ist, können wir parla-
mentarisch aktiv werden. In diesem Bereich läuft die
Arbeit des Ausschusses meiner Meinung nach gut.

Im Bereich der öffentlichen Petitionen sehe ich aller-
dings erheblichen Verbesserungsbedarf. Alle reden von
einem notwendigen Liquid Feedback an die Politik, also
von fließenden Übergängen zwischen repräsentativer
und direkter Demokratie. Wir erleben, dass Menschen
ihre Anliegen selbst vorbringen wollen. Jedoch werden
sie durch bürokratische Hürden und unverständliche Hi-
erarchien meist daran gehindert. Würden wir den Peti-
tionsausschuss als bereits vorhandenes Instrument rich-
tig nutzen und optimieren, könnten wir a) mehr über die
Zustände in Deutschland erfahren als aus manch hoch-
wissenschaftlicher Studie und b) dazu beitragen, dass
Menschen ihre Anliegen auch besser selbst vortragen
könnten.

Ein Beispiel dafür ist für mich die öffentliche Aus-
schusssitzung zum Thema Finanztransaktionsteuer im
Februar 2011. Über 66 000 Bürgerinnen und Bürger ha-
ben diese Forderung unterschrieben. Es ist nicht nach-
vollziehbar, dass es nun schon über anderthalb Jahre
dauert, das Anliegen des Petenten im Ausschuss voran-
zubringen.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn die Bürgerinnen und Bürger sind ja nicht blind. Sie
sehen: Unser Nachbarland Frankreich beispielsweise hat
den ersten Schritt gemacht und am 1. August eine Fi-
nanztransaktionsteuer eingeführt. Deutschland hat sich
dem bisher nicht angeschlossen und trotz Ankündigung
die zu erwartenden Einnahmen noch nicht einmal in den
Haushaltsentwurf 2013 eingestellt. Das Anliegen der Pe-
tentinnen und Petenten wird also gerade nicht vorange-
bracht. Ihrem Anliegen wird nicht einmal teilweise ent-
sprochen.

Wir müssen uns also nicht wundern, wenn sich zu-
nehmend mehr Menschen von dieser Art und Weise des
Politikmachens nicht mehr vertreten fühlen. Die Regie-
rungsmehrheit erweist damit sowohl dem Anliegen des
Petitionsausschusses als auch der Demokratie insgesamt
einen Bärendienst.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich fordere Sie auf, diese politische Praxis zu ändern.
Gelegenheit dazu haben Sie ausreichend. Laut Koali-
tionsvertrag soll im kommenden Jahr ein Petitionsgesetz
zur Behandlung von Massenpetitionen dem Plenum und
den Fachausschüssen vorgelegt werden. Ich bin gespannt
darauf.

Die Linke wird im Oktober einen Antrag im Plenum
einbringen. Darin werden unsere Positionen zusammen-
gefasst. Die Menschen werden sich in diesem Lande
besser mit ihren Anliegen vertreten fühlen.

Abschließend bedanke ich mich sehr herzlich bei den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdiens-
tes für die gute Zusammenarbeit und freue mich auf ein
weiteres Jahr im Petitionsausschuss.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719525700

Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Demokratie ist kein Zuschauersport. Der Petitionsaus-
schuss ermöglicht allen Bürgerinnen und Bürgern, sich
an der Demokratie zu beteiligen. Deswegen ist es eigent-
lich unerhört, dass wir heute um diese Uhrzeit diskutie-
ren.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das haben wir doch gerade erklärt! Haben Sie nicht zugehört?)


Der Petitionsausschuss sollte nicht nur in Sonntagsre-
den, sondern auch in den Sitzungswochen die Wertschät-
zung erhalten, die er verdient.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Nach meinem Dafürhalten ist der Petitionsausschuss
einer der spannendsten Ausschüsse. Das liegt auch an
dem im Bundestag nicht immer üblichen kollegialen und
konstruktiven Umgang der Kolleginnen und Kollegen
untereinander,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


aber insbesondere natürlich an dem breiten Spektrum
von Themen, von der Atombombe bis zur Zahnplombe,
und den zahlreichen Vorschlägen der Petentinnen und
Petenten, die im Ausschuss beraten werden. Nicht nur
das: Es geht auch immer mehr um Petitionen, die die
politische Diskussion in der Gesellschaft mit bestimmen.

Vier Beispiele: Erstens. Die Petition „Steuer gegen
Armut“ von Pastor Jörg Alt hat die Kampagne in
Deutschland für die Finanztransaktionsteuer verstärkt
und einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Fi-
nanztransaktionsteuer ganz weit oben auf der politischen
Agenda stand und jetzt vielleicht tatsächlich kommt. Ich
freue mich auf die hoffentlich in absehbarer Zeit stattfin-
dende Sitzung, auf der wir beschließen können: Ab-
schluss, weil dem Anliegen entsprochen werden konnte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zweitens. Die Petition von Susanne Wiest zum
Grundeinkommen mit fast 60 000 Unterstützungen, die





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)


die Idee des Grundeinkommens einer breiten Öffentlich-
keit bekannt gemacht und damit einen wichtigen Beitrag
zu einer wichtigen gesellschaftlichen Diskussion geleis-
tet hat.

Drittens. Besonders erfolgreich war die Petition von
Martina Klenk vom Deutschen Hebammenverband mit
sage und schreibe rund 190 000 Unterschriften. Der Pro-
test hat sich ausgezahlt: Freiberufliche Hebammen be-
kommen jetzt von den Krankenkassen tatsächlich einen
Ausgleich für die gestiegenen Haftpflichtversicherungs-
beiträge. So erfreulich die Teileinigung der Hebammen-
verbände mit den Krankenkassen ist, so ist dies doch nur
ein Teilerfolg. Denn noch immer sind eine viel zu ge-
ringe Vergütung, der drohende Verlust der flächende-
ckenden Hebammenversorgung sowie eine zunehmende
Zahl an Kaiserschnitten zu beklagen. Aber ohne die Peti-
tion hätte es diesen wichtigen Teilerfolg nicht gegeben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Viertens. Ganz aktuell ist die Petition von Tim
Wessels als Reaktion auf die Pläne von Ursula von der
Leyen zur Rentenversicherungspflicht von Selbstständi-
gen, die von 80 000 Menschen unterstützt wurde und in
der nächsten Sitzungswoche, am 15. Oktober 2012, in
öffentlicher Sitzung behandelt wird, die wie alle öffentli-
chen Petitionsausschusssitzungen live im Internet auf
www.bundestag.de übertragen wird.

Vielen Dank an Susanne Wiest, Tim Wessels, Jörg
Alt, Martina Klenk und den vielen, vielen Tausenden Pe-
tentinnen und Petenten, die zeigen, wie lebendig die par-
lamentarische Demokratie dank des Petitionsausschus-
ses sein kann. Vielen Dank!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ganz besonderer Dank natürlich auch an die Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes und
– nicht zu vergessen – die Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter der Fraktionen und in den Abgeordnetenbüros!


(Beifall im ganzen Hause)


Ihrem Einsatz und ihrer Sachkenntnis ist es zu verdan-
ken, dass die Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Recht
kommen.

Wir sind stolz darauf, dass das 2005 von Rot-Grün
gegen heftige Vorbehalte von CDU/CSU und FDP ein-
geführte Instrument der öffentlichen elektronischen Peti-
tion heute zu einem unverzichtbaren und selbstverständ-
lichen Bestandteil der Demokratie geworden ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])


Bei aller Freude über das Erreichte bleibt weiterhin
viel zu verbessern. Wir streben deshalb einen grundle-
genden Ausbau der Mitwirkungsmöglichkeiten an. So
sind beispielsweise die Fristen zur Mitzeichnung zu kurz
und ist das Quorum zu hoch. Darüber hinaus sollte die
öffentliche Petition von der Ausnahme zur Regel ge-

macht werden, wie es auch der TAB-Bericht vorschlägt.
Wir haben zwar eben gerade gehört, dass die CDU noch
dagegen ist, aber das war bei den elektronischen Petitio-
nen auch einmal der Fall. Ich denke, dass wir auch da
durch Diskussionen wieder vorankommen können.

Wichtig ist uns, auch die Belange der Bürgerinnen
und Bürger zu berücksichtigen, die sich nicht im Internet
bewegen wollen oder können. Wir sprechen uns dafür
aus, in den Kommunen, in den Bürgerämtern und in den
Bürgerbüros Anlaufstellen einzurichten, die den Men-
schen behilflich sind, ihre Eingaben einzureichen und zu
formulieren. Dort sollte es auch möglich sein, mündlich
vorgetragene Petitionen verschriftlichen zu lassen. Wir
hatten eben die Diskussion über Barrierefreiheit in der
Kultur. Wir sollten auch mehr Barrierefreiheit im Peti-
tionsrecht schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Auch bei den Onlinepetitionen sehen wir die techni-
schen und grundsätzlichen Möglichkeiten des Petitions-
rechts noch lange nicht ausgeschöpft. Wir wollen das In-
strument der öffentlichen Petition zu einer offenen
Petition für die Bürgerinnen und Bürger weiterentwi-
ckeln. Petitionen sollten nicht nur, wie bisher, gemein-
sam im Onlineangebot des Petitionsausschusses disku-
tiert, sondern auch gemeinsam erarbeitet und eingereicht
werden können. Derart gemeinsam von Bürgerinnen und
Bürgern erarbeitete und eingereichte Bitten zur Gesetz-
gebung bis hin zu Gesetzentwürfen sollten dann auch in
den Fachausschüssen und im Plenum des Bundestages
beraten werden können.

Mit dieser Vision schließe ich meine Rede und be-
danke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719525800

Das Wort hat Stefanie Vogelsang für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1719525900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Strengmann-Kuhn, eigentlich wollte ich über etwas ganz
anderes reden, aber als ich Ihren Beitrag gehört habe,
habe ich mir überlegt: Darauf musst du eingehen. Natür-
lich ist es richtig und sinnvoll, sich modernen Möglich-
keiten zu stellen. Natürlich muss man jeden Einzelfall
überprüfen. Und natürlich muss man gerade im Zeitalter
von Internet und Computern und dem breiten Zugang
der Bevölkerung dazu auch darüber nachdenken, ob man
diesbezüglich nicht etwas verändert.

Aber ich habe das Gefühl, dass über die Diskussion
dieser Themen der einzelne kleine Fall des einzelnen
Bürgers, der einzelne kleine Bürger, der ganz allein von
etwas betroffen ist, ins Hintertreffen gerät.





Stefanie Vogelsang


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sabine Stüber [DIE LINKE]: Der Bürger ist nicht klein!)


Wir betrachten mit großem Interesse öffentliche Peti-
tionen, die von 50 000, 70 000, 80 000, 120 000 Men-
schen eingereicht werden. Angesichts solcher Zahlen be-
steht die Gefahr, dass die Petition, die ein kleiner, aber
genauso wichtiger, großer Bürger unterschrieben hat,
hinten rüberfällt.


(Klaus Hagemann [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!)


Ich glaube, dass das nicht richtig wäre. Herr Hagemann,
über Ihren Beitrag habe ich mich sehr geärgert,


(Klaus Hagemann [SPD]: Oh!)


weil er auf wesentliche Themen gar nicht zutrifft.

Ein Meinungsforschungsinstitut hat in einer repräsen-
tativen Umfrage 1 000 Menschen in der Bundesrepublik
gefragt: Was ist das Wichtigste für euch, um im Wohl-
stand zu leben? – Darauf haben 80 Prozent der Befragten
geantwortet: Glücklich zu sein. – Die Meinungsforscher
waren ganz irritiert, weil sie sich gefragt haben: Was ist
denn „glücklich“? Für jeden Einzelnen doch etwas ande-
res. Daraufhin gab es eine weitere Umfrage, in der die
Menschen gefragt wurden: Was versteht ihr unter
„glücklich sein“? – Daraufhin haben die Befragten ge-
antwortet: gesund zu sein. – Wir nehmen im Petitions-
ausschuss wahr, dass es ganz viele Petitionen gibt, die
den Gesundheitsbereich betreffen.

In dieser Legislaturperiode haben wir große Kampf-
ansagen erlebt, unterstützt von Verbänden, die meinten,
ihrer politischen Position mit einer Petition mehr Nach-
druck verleihen zu können. Es gab aber auch viele kleine
Einzelfälle, um die wir uns intensiv gekümmert haben.
Ich glaube, in den letzten Jahren sind in keinem anderen
Bereich so viele Petitionen berücksichtigt worden wie
im Gesundheitsbereich. Es gab viele Petitionen, deren
Inhalte das Ministerium und wir in der Gesetzgebung
nachvollzogen haben. So war es nicht die Petition einer
Krankenkasse, aufgrund der im Bereich der Hebammen
gesetzlich nachgebessert wurde, sondern die Petition
von Frau Klenk, aufgrund der das Ministerium im Rah-
men des Versorgungsstrukturgesetzes Änderungen vor-
genommen hat. Auf dieser Grundlage haben wir dann
beraten.

Ich möchte noch auf eine Petition eingehen, die mitt-
lerweile von 800 Menschen unterstützt wird. Diese Peti-
tion wurde von einem einzelnen Ehepaar eingereicht und
befasst sich mit einem zuerst sehr tragisch anmutenden
Fall. Die Ehefrau hatte ein Kind tot zur Welt gebracht,
das weniger als 500 Gramm wog. Die Eltern haben im
Krankenhaus zur Kenntnis nehmen müssen, dass man
ihr Kind für Klinikabfall hält, weil es weniger als
500 Gramm wiegt. Die Eltern haben des Weiteren im
Standesamt zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie den
Namen ihres Kindes nicht in das Personenstandsregister
eintragen lassen können, weil es sich um eine Sache, um
Müll und nicht um menschliches Leben handelt. Um die
Petition, die diese Eltern eingereicht haben, habe ich
mich von Anfang an intensiv gekümmert. Wir haben sie

dem Ausschussdienst gegeben. Die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter haben tolle Arbeit geleistet und die Peti-
tion an das Ministerium weitergeleitet. Die erste Stel-
lungnahme des Innenministeriums lautete: Das Gesund-
heitsministerium sagt, wir können das nicht ändern, weil
die WHO weltweit eine Grenze von 500 Gramm vor-
schreibt; diese können wir nicht unterschreiten. – Das
Familienministerium sagt: Wir können die Grenzen
nicht ändern. – Darauf erklärt das Innenministerium:
Wenn die von der WHO vorgegebene Grenze gilt, kann
der Name des Kindes nicht in das Personenstandsregister
eingetragen werden. – Wir, Herr Schwartze und ich, ha-
ben uns erneut an das Ministerium gewandt, die Petition
zurückgeschickt und gesagt: Nein, diese Antwort akzep-
tieren wir nicht; das wollen wir uns nicht gefallen lassen. –
So ging es vier-, fünf- oder sogar sechsmal hin und her.
Dann hat die Bundesregierung gesehen, dass ein parla-
mentarischer, von engagierten Abgeordneten erzeugter
Druck entstanden ist. Die Familienministerin hat nun ei-
nen Entwurf zur Änderung des Personenstandsrechts
vorgelegt, über den wir demnächst debattieren werden.
Dieses Personenstandsrechts-Änderungsgesetz stellt ei-
nen ersten großen Schritt dar. Ich glaube, dass wir in den
Beratungen über diesen Gesetzentwurf an der einen oder
anderen Stelle noch eine kleine Verbesserung im Sinne
der Betroffenen erzielen werden. Im Petitionsausschuss
gab es jedenfalls ein fraktionsübergreifendes Votum für
die Forderung an die Bundesregierung, diese Verbesse-
rung in Erwägung zu ziehen. Die Bundesregierung hat
reagiert. Wir im Parlament vollziehen es nach.

Ich komme zu den neuen Medien, insbesondere zu
Facebook, zurück. Es handelt sich hier nicht um 80 000,
sondern um rund 800 Menschen. Aber wie glücklich
sind diese Menschen, dass Politik – das war zu der Zeit,
als wir über PID und den Beginn des werdenden Lebens
diskutiert haben – ihre Interessen und Begehren ernst
nimmt.

Ich komme zum Schluss. Ich denke, dass das eine
Sternstunde für den Petitionsausschuss des Deutschen
Bundestages war. Wir brauchen uns mit unserer Arbeit
gar nicht zu verstecken.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das spricht alles nicht gegen ein neues Instrument!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719526000

Frau Kollegin.


Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1719526100

Man muss die Regierung manchmal etwas pushen.

Das können wir gemeinsam tun. Da haben Sie in Ihrem
Bereich zu arbeiten, wir machen es in unserem.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719526200

Frau Kollegin.


Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1719526300

Dann wird das schon gut.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719526400

Michael Groß hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Groß (SPD):
Rede ID: ID1719526500

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sozusagen No-
vize im Ausschuss. Ich will damit sagen: Ich bin nicht
einem Orden beigetreten, sondern seit eineinhalb Jahren
ein Neuling im Ausschuss. Für mich ist es wichtig, in
den Sitzungswochen, nachdem man im Wahlkreis alle
Probleme, die die Menschen in diesem Land bewegen,
einatmen konnte, auch hier zu erleben, was die Men-
schen in Deutschland bewegt und welche Probleme sie
haben. Ich kann nur sagen: Alle im Ausschuss interessie-
ren die Einzelfälle genauso wie öffentliche Petitionen,
die von vielen Hundert Menschen unterschrieben sind.
Es geht um die Lösung von Problemen. Ich glaube, das
liegt uns allen am Herzen. Dafür sollten wir weiter kon-
struktiv zusammenarbeiten.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich möchte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
seitens der SPD-Fraktion danken. Ich habe dazu den
Auftrag bekommen, aber ich hätte es auch von selber ge-
macht. Ich habe im Jahresbericht gelesen, dass Sie auch
Eingaben bearbeiten, die nicht den Anforderungen ent-
sprechen. Ich finde das sehr wichtig; denn wir haben ge-
hört, dass manche Menschen der Schriftform nicht
mächtig sind und manche Leute die Regeln nicht ken-
nen. Sie setzen sich trotzdem hin und bearbeiten diese
Eingaben. Sie kümmern sich darum, sind so etwas wie
Kümmerer bzw. ein Kummerkasten. Ich finde, das ist
eine wichtige Arbeit. Ich hoffe, dass das auch so bleibt
und Sie weiterhin Zeit dafür haben. Letztendlich ist es
wichtig, dass die Menschen eine Rückmeldung bekom-
men. Herzlichen Dank auch dafür.


(Beifall im ganzen Hause)


Wichtig ist natürlich – das wurde vorhin angespro-
chen –, dass hier demokratische Grundrechte wahrge-
nommen werden. Die Menschen erleben, dass sie Ein-
fluss auf das, was im Parlament geschieht, haben,
Einfluss auf die Gesetze und darauf, was ihr Leben be-
einflusst, auch negativ beeinflusst. Ich denke, es ist auch
wichtig, dass die Leute erleben, ob sie Erfolg oder kei-
nen Erfolg haben. Ich habe gerade die Information be-
kommen, dass in der 17. Wahlperiode von 12 Berück-
sichtigungen, für die einstimmig im Ausschuss votiert
wurde, erst 6 umgesetzt worden sind. Von 27 Erwägun-
gen wurden 7 umgesetzt, 11 sind offen und 9 wurden ab-
gelehnt. Da stellt sich für mich schon die Frage, warum
es so viele Ablehnungen oder nicht bearbeitete Fälle
gibt, wenn ein einstimmiges Votum vom Ausschuss vor-
liegt. Ich bin der Überzeugung, dass die Kolleginnen und
Kollegen von der Regierung einen positiven Einfluss auf
ihre Ministerien nehmen können.


(Gero Storjohann [CDU/CSU]: Der Bundesrat macht nicht mit!)


Petitionen sind die älteste Form der Bürgerbeteili-
gung. Ich bin ganz stolz, dass aus NRW die meisten Peti-
tionen kommen; denn das ist ein Zeichen dafür, dass die
Menschen verstanden haben, worum es geht.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Kann es sein, dass das das größte Land ist? – Zurufe von der CDU/CSU)


Ich möchte auf eine Situation hinweisen, die mir Sor-
gen macht und die zeigt, woran wir arbeiten müssen. Ge-
rade im Bereich der Verkehrsinfrastruktur ist es wichtig,
dass wir die zunehmenden Beschwerden der Bürger
ernst nehmen und neben den strukturierten Verfahren
auch die Petition ernst nehmen. Bei Ortsterminen be-
schäftigen wir uns insbesondere mit Schienenlärm und
Straßenlärm. Vor Ort kann man sehr gut erleben, unter
welchen Umständen Menschen leben müssen und wa-
rum sie sich berechtigterweise gegen Lärm wenden und
dafür den Petitionsausschuss anrufen.

Es ist wichtig, öffentlich auf das Petitionsrecht hinzu-
weisen. Mich wundert schon, dass der Bundesminister
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in seinem neues-
ten Papier zum Thema Bürgerbeteiligung die Petition
noch nicht einmal genannt hat.


(Klaus Hagemann [SPD]: Furchtbar! Schande!)


Es ist nicht erwähnt worden, dass die Petition ein offi-
zieller Weg ist, den Bürgerinnen und Bürger nutzen kön-
nen, um ihre Einwendungen und Bedenken zu äußern.

Ich kann nur sagen: Mir hat die Arbeit sehr viel ge-
bracht. Ich habe sehr viel gelernt. Ich habe sehr viel über
Dinge gelesen, die mir vorher in dieser Tiefe nicht be-
kannt waren. Ich glaube, dass in Deutschland viele
Schätze vorhanden sind, die zu Recht bei uns landen und
mit denen auf die Gesetzgebung Einfluss genommen
werden sollte. Ich wünsche uns weiterhin eine gute Zu-
sammenarbeit.

In diesem Sinne: Glück auf!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719526600

Der Kollege Paul Lehrieder hat das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1719526700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Lieber Kollege Hagemann, auch ich be-
dauere, dass wir nicht eher über unser sehr wichtiges
Thema debattieren können. Wenn man sich die heutige
Tagesordnung anschaut, so fällt auf, dass wir zu promi-
nenterer Zeit, etwa von 12.30 bis 13.45 Uhr, über die un-
terschiedlichen Auffassungen innerhalb der Koalition
aus CDU/CSU und FDP diskutieren durften, und zwar
auf Antrag der SPD. Das heißt, der Zusatzpunkt 5, Ak-





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


tuelle Stunde, hat unsere Debatte nach hinten geschoben.
Dass man das dazusagt, gehört zur Ehrlichkeit.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil ihr so uneinig seid in der Koalition!)


– Doch, wir sind uns schon einig. Aber die SPD wollte
halt darüber debattieren.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich kann Sie beru-
higen: Im Petitionsausschuss geht es nicht ganz so kon-
trovers zu, wie der Kollege Hagemann hier hat vermit-
teln wollen.


(Beifall des Abg. Günter Baumann [CDU/ CSU])


Lieber Klaus Hagemann, du hast heute die Ritterrüs-
tung angezogen. Spätestens nächsten Mittwoch ziehst du
sie wieder aus. Dann reden wir wieder ganz normal über
Petitionen, um den Leuten zu helfen.

Es ist tatsächlich so: Wenn zu Beginn der Legislatur-
periode Abgeordnete für den Petitionsausschuss gesucht
werden, so üben sich viele der Kolleginnen und Kolle-
gen – ich weiß nicht, wie es in der FDP oder der SPD
ausschaut – in Schweigen. Eingezogene Köpfe, Blicke
nach unten gerichtet. Während meiner nunmehr sieben-
jährigen Arbeit im Petitionsausschuss habe ich schon ei-
niges erlebt. Dass sich aber Kolleginnen und Kollegen
um einen Platz im Petitionsausschuss gestritten haben,
gehört nicht dazu.

Die Arbeit im Petitionsausschuss ist möglicherweise
nicht so prestigeträchtig. Sie mag auch weniger im Zen-
trum der öffentlichen Wahrnehmung stehen als die in an-
deren Ausschüssen; wir debattieren nur einmal im Jahr
im Plenum über die Arbeit des Petitionsausschusses.
Dennoch ist sie eine der wichtigsten. Mit der verfas-
sungsrechtlichen Verankerung in Art. 17 unseres Grund-
gesetzes – „Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder
in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder
Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die
Volksvertretung zu wenden“ – wird die besondere Be-
deutung, die diesen Ausschuss begleitet, zum Ausdruck
gebracht.

Nachdem bereits von mehreren Vorrednern das Prin-
zip der grundsätzlichen Öffentlichkeit von Petitionsbe-
handlungen hier vorgetragen worden ist, möchte ich
schon darauf hinweisen: Es gibt Massenpetitionen, es
gibt Petitionen, die von allgemeinem öffentlichen Inte-
resse sind – sie werden in aller Regel auch in den Fach-
ausschüssen diskutiert und durch Anträge begleitet –,
und es gibt – darauf hat die Kollegin Vogelsang völlig zu
Recht hingewiesen – etwa die Rentnerin, die einen Ba-
dewannenlift will, aber nicht möchte, dass ihr Anliegen
in der Öffentlichkeit bekannt wird. Man muss also mit
Augenmaß an die ganze Angelegenheit herangehen.

Was wir verdient haben, ist, dass uns die Öffentlich-
keit im Fokus behält, dass sie genau aufpasst, was wir
machen. Aber auch wir müssen aufpassen. Wir wollen
nämlich auch Anwälte der kleinen Leute sein. Das gilt
für alle Mitglieder des Petitionsausschusses. Ich habe
dieses Bemühen, diese Anstrengung bei vielen Kollegen

gespürt. Es tut gut – die beiden Schriftführer hinter mir
können es bestätigen; sie sind ebenfalls im Petitionsaus-
schuss –, wenn man wie in den letzten Sitzungen, etwa
der am vergangenen Mittwoch, parteiübergreifend Ein-
stimmigkeit zustande bringt, liebe Frau Kollegin
Steinke. Da freut sich die Vorsitzende. Wir freuen uns;
denn wir können sagen: Wir haben den Menschen ge-
meinsam helfen können. – Jetzt hätte ich einen Applaus
erwartet.


(Beifall im ganzen Hause)


Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuss ist
einer der wenigen Ausschüsse, dessen Einrichtung das
Grundgesetz in Art. 45 c zwingend vorschreibt. Die Ar-
beit im Petitionsausschuss bietet eine Plattform für ge-
lebte Demokratie; die Vorredner haben zum großen Teil
bereits darauf hingewiesen. Hier haben Bürgerinnen und
Bürger die Möglichkeit, aktiv am politischen Geschehen
teilzunehmen und es maßgeblich mit zu beeinflussen,
und zwar durch allgemeine Petitionen, aber auch durch
persönliche Einflussnahme. Von der so oft beschwore-
nen Politikverdrossenheit ist hierbei zu meiner großen
Freude nichts zu verspüren. Im Gegenteil: 2011 wurden
insgesamt 15 191 Eingaben und Petitionen beim Peti-
tionsausschuss eingereicht. Das bedeutet durchschnitt-
lich stolze 60 Zuschriften pro Werktag. Dies erklärt wo-
möglich auch die besagte Zurückhaltung mancher
Kolleginnen und Kollegen bei der Mitarbeit im Peti-
tionsausschuss zu Beginn der Legislaturperiode.

Die Arbeit im Petitionsausschuss eröffnet wie kaum
eine andere die Möglichkeit, ein direktes, ungefiltertes
Feedback über unsere Arbeit im Bundestag zu erhalten
und nah am und mit den Menschen zu arbeiten. Kollege
Groß hat darauf hingewiesen. Ich sehe es genauso wie
Sie.

Wo muss gesetzlich nachgebessert werden? Wo sind
die Bürger mit Entscheidungen der Obergerichte, aber
auch mit gesetzlichen Entscheidungen und Verwaltungs-
entscheidungen nicht einverstanden? Wo drückt den
Bürger der Schuh?

In keinem Ausschuss ist es leichter als im Petitions-
ausschuss, die Befindlichkeiten, die Sorgen, die Nöte
unserer Bürger kennenzulernen. Das ist anstrengend,
aber es ist in aller Regel auch sehr befriedigend, wenn
man merkt: Jawohl, man kann etwas erreichen. – Nichts
ist für einen Abgeordneten schöner, als von einem Bür-
ger bzw. von einer Bürgerin nach einer eingereichten Pe-
tition, im Rahmen derer man helfen konnte, ein Dankes-
schreiben zu erhalten, in dem steht: Prima, ihr habt das
gut gemacht.


(Beifall im ganzen Hause)


Meine Damen und Herren, zu guter Letzt möchte ich
allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschuss-
dienstes – ähnlich wie die Kollegen vor mir – noch ein-
mal sehr herzlich danken. Sie haben ein immenses Pen-
sum an Arbeit zu bewältigen, und wir diskutieren schon,
ob wir mit einer Stunde für die Ausschusssitzung hin-
kommen. Wir werden vielleicht irgendwann dahin kom-
men, dass wir gegen Mitternacht anfangen, in unserem





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


Ausschuss zu tagen. Denn das Interesse der Bürger, uns
hier kritisch zu begleiten, wächst stetig.


(Zuruf von der LINKEN: Oh!)


Ob wir alle Petitionen hier im Plenum diskutieren
können


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alle wäre ein bisschen zu viel! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht alle!)


und ob, wenn ja, lieber Herr Kollege Strengmann-Kuhn,
wir das zu prominenter Zeit tun können, wage ich zu be-
zweifeln. Wenn wir irgendwann einmal nach Mitternacht
hier zusammensitzen, geht das Lamentieren wieder los,
dass wir eine prominentere Zeit wollen. Also, es ist
schwierig. Wir haben kontrovers, lieber Herr Kollege
Thomae, darüber diskutiert, ob es Sinn macht. Wir gucken
da noch einmal hin, aber ich habe keine große Hoffnung,
dass wir es bis zum Ende der Legislaturperiode schaffen.

Herzlichen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719526800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Drucksa-
che 17/8319 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in
der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie einverstan-
den. Dann ist das so beschlossen.

Somit rufe ich jetzt auf den Tagesordnungspunkt 12:

Beratung des Berichts des Rechtsausschusses

(6. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts-

ordnung des Deutschen Bundestages zu dem von
den Abgeordneten Christine Lambrecht, Olaf
Scholz, Bärbel Bas, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Verlängerung der straf- und
zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei
sexuellem Missbrauch von Kindern und min-
derjährigen Schutzbefohlenen

– Drucksachen 17/3646, 17/10697 –

Berichterstattung:

(VillingenSchwenningen)


Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren, und als Erste hat das Wort die Kollegin Sonja
Steffen für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1719526900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Menschen – vor allem junge Menschen und insbeson-
dere Kinder – haben oftmals die Gabe, erlittene Gewalt
in eine innere Schublade zu stecken. Dort ruht das Er-
lebte oft jahrelang, bis die Bilder und das ganze Leid
manchmal aufgrund eines bestimmten Ereignisses wie-

der an die Oberfläche und ins Bewusstsein gelangen,
und bei Menschen, die als Kind sexuelle Gewalt erlitten
haben, ist dies oft der Zeitpunkt, an dem sie selbst eine
Familie gründen.

Das erlittene Trauma ist nie ganz vergessen. Letztend-
lich muss das Missbrauchsopfer selbst entscheiden, ob
es die Konfrontation mit dem Täter sucht. Denn wer sich
der Konfrontation mit dem Täter stellen möchte, der
braucht eine sehr starke und engmaschige Unterstüt-
zung.

Meine Damen und Herren, im Jahr 2010 wurde nach
dem Bekanntwerden einer unglaublich großen Miss-
brauchswelle in Heimen und Internaten ein Runder
Tisch zum sexuellen Kindesmissbrauch eingerichtet.
Hier haben Vertreter aus Gesellschaft, Kirche und Politik
hervorragende Arbeit geleistet. Innerhalb kürzester
Zeit – und dennoch mit besonderer Sensibilität – hat der
Runde Tisch Empfehlungen erarbeitet, um den Opfern
eine bessere Hilfe und Unterstützung zukommen zu las-
sen. Aber jetzt frage ich Sie: Wozu richtet man einen
Runden Tisch ein, der nach getaner Arbeit in seinem
Schlussbericht sinnvolle und fundierte Empfehlungen
abgibt, wenn diese Empfehlungen nicht umgesetzt wer-
den?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Fraktion hat bereits im Jahr 2010 einen Ge-
setzentwurf eingebracht, der sich mit dem Thema Ver-
längerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungs-
vorschriften beschäftigt. Der Opferschutz verlangt eine
solche Verlängerung. Warum? Derzeit liegt die Frist der
strafrechtlichen Verjährung bei sexuellem Missbrauch
von Kindern bei 10 Jahren. Zwar beginnt die Frist erst
mit Vollendung des 18. Lebensjahres der Opfers zu lau-
fen, jedoch bedeutet diese Frist Folgendes: Spätestens
wenn das Opfer Ende 20 ist, können die Täter strafrecht-
lich nicht mehr belangt werden.

Bei Missbrauch von jugendlichen Schutzbefohlenen
– von Internatsschülern beispielsweise – verjährt die Tat
sogar schon nach fünf Jahren, also spätestens dann,
wenn das Opfer 23 Jahre alt ist.

Es ist doch zutiefst ungerecht, wenn die Täter davon
profitieren sollen, dass ihre Opfer sie aus Scham und oft
auch wegen massiver Drohungen seitens des Täters zu-
nächst nicht anzeigen.

In Ihrem Gesetzentwurf, meine Kolleginnen und Kol-
legen von der Regierungskoalition, wollen Sie nur die
zivilrechtlichen Verjährungsfristen auf 30 Jahre erhöhen.
Aber das ist doch zu kurz gedacht.


(Beifall bei der SPD)


Die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche scheitert
oft genug an dem Mangel an finanziellen Mitteln beim
Täter. Aber was noch viel schlimmer ist: Dem Opfer ist
es doch nahezu unmöglich, ganz auf sich allein gestellt
und höchstens von seinem Anwalt begleitet, den lange
Zeit zurückliegenden Missbrauch zivilrechtlich zu be-
weisen.





Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)


Hier kommt der Runde Tisch übrigens zu folgendem
Ergebnis – ich zitiere –:

Aufgrund der Verlängerung der zivilrechtlichen
Verjährung

– die vom Runden Tisch vorgeschlagen wurde –

können die Betroffenen in Zukunft den Ausgang ei-
nes Strafverfahrens gegen den Täter abwarten, be-
vor sie vor dem Zivilgericht klagen.

Wem nützt denn dann die Verlängerung der zivilrechtli-
chen Verjährungsfrist, wenn die strafrechtliche Verfol-
gung aufgrund der kurzen Verjährungsfrist gar nicht
mehr möglich ist?


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Johanna Voß [DIE LINKE])


Am 26. Oktober 2011, also vor fast einem Jahr, hat
eine Anhörung von Experten stattgefunden. Sie alle, zu-
mindest all diejenigen, die bei der Anhörung dabei wa-
ren, wissen: Die Sachverständigen haben sich mehrheit-
lich, nämlich sechs von acht, für eine Modifizierung der
strafrechtlichen Verjährungsfristen ausgesprochen.

Es ist nach der guten Arbeit des Runden Tisches über-
haupt nicht zu verstehen, dass sich unser Gesetzentwurf
seit 2010 im Gesetzgebungsverfahren befindet und bis
heute keine Umsetzung erfolgt ist.

Ihr Gesetzentwurf, meine Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition, sollte ursprünglich bereits Anfang
2012 in Kraft treten. Doch bis heute ist nichts passiert,
und es bedurfte der Heranziehung einer Geschäftsord-
nungsvorschrift, damit die heutige Debatte überhaupt
stattfinden kann, leider zu einer sehr unpopulären Zeit.

Im Namen der Opfer fordere ich Sie hiermit auf, sich
des Themas endlich anzunehmen. Die zivilrechtlichen
und die strafrechtlichen Verjährungsfristen für Kindes-
misshandlungen müssen verlängert werden. Wir sind es
den Opfern schuldig.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719527000

Ansgar Heveling hat für die CDU/CSU-Fraktion das

Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1719527100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach der Geschäftsordnung sind die Ausschüsse zur bal-
digen Erledigung der ihnen überwiesenen Aufgaben ver-
pflichtet, und es gehört damit zum selbstverständlichen
Recht des Parlaments, dann, wenn Aufgaben nicht kurz-
fristig erledigt werden können, über die Gründe zu de-
battieren. So beraten wir heute darüber, warum der von
der SPD eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Ver-
längerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungs-
vorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern und
minderjährigen Schutzbefohlenen noch nicht abschlie-
ßend beraten worden ist.

Zunächst einmal ist es richtig, dass Handlungsbedarf
hinsichtlich der strafrechtlichen Vorschriften zum sexu-
ellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen
Schutzbefohlenen besteht. Das Ausmaß des sexuellen
Missbrauchs in den letzten Jahrzehnten in konfessionel-
len und nichtkonfessionellen pädagogischen Einrichtun-
gen hat uns sicherlich alle aufgeschreckt. Der zu den
Vorgängen eingerichtete Runde Tisch hat hervorragende
Arbeit geleistet und viele Handlungsfelder, insbesondere
im Hinblick auf Opferschutz- und Verfahrensregeln,
identifiziert und aufgezeigt. Neben nichtlegislativen
Maßnahmen braucht es natürlich auch gesetzgeberische
Entscheidungen zur Umsetzung von vielen Vorschlägen
des Runden Tisches.

Im SPD-Gesetzentwurf wird im Wesentlichen ein As-
pekt aufgegriffen, die Frage der strafrechtlichen Verjäh-
rung; dazu wird eine einzelne Regelung vorgeschlagen.
Auch wenn anzuerkennen ist, dass Handlungsdruck in
zeitlicher Hinsicht besteht, so ist dieses Vorgehen den-
noch insgesamt nicht zielführend, weil die Angelegen-
heit doch komplexer ist.

Die Bundesjustizministerin hat deshalb richtigerweise
einen anderen Weg gewählt und mit dem Entwurf eines
Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen
Missbrauchs ein erstes Paket verschiedener Maßnahmen
vorgelegt, die sowohl zivilrechtliche wie strafrechtliche
Aspekte betreffen und auch verfahrensrechtliche Rege-
lungen vorsehen. Diesen Gesetzentwurf beraten wir mo-
mentan intensiv in der Koalition.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Dann wissen wir, was daraus wird! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie lange denn noch?)


Das ist der Grund, weshalb wir den SPD-Gesetzentwurf
noch nicht abschließend beraten haben.


(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Richtig!)


Dabei erkennen wir, so glaube ich, in allen Fraktionen
an, dass wir über den strafrechtlichen und strafgesetzli-
chen Umgang mit sexuellem Missbrauch ebenso reden
müssen wie über die zivilrechtlichen, insbesondere die
schadensersatzrechtlichen Fragen. Bei aller Handlungs-
notwendigkeit sollten wir aber auch eines bedenken: Das
Strafgesetzbuch ist ein vielfältig ineinandergreifendes
Regelwerk von aufeinander abgestimmten Normen, des-
sen gesellschaftliche Akzeptanz nicht zuletzt wesentlich
darauf beruht, dass jedermann seine Systematik durch-
schauen kann. Alle müssen auf das System vertrauen
können. Ständige Durchbrechungen systematischer Li-
nien sind nicht hilfreich. Das sollten wir bei der Diskus-
sion auch bedenken. Deswegen ist der Vorschlag der
SPD, eine Sonderverjährungsvorschrift – 20 Jahre – vor-
zusehen, sicherlich nicht der richtige Weg. Ich will nicht
verhehlen, dass wir als CDU/CSU-Fraktion das Thema
Verjährungsfrist mit großer Sympathie sehen und da
auch unsere Überlegungen ansetzen. Wir müssen aber
noch beraten, wie wir hier weiterkommen.


(Burkhard Lischka [SPD]: Intensiver! – Stefan Rebmann [SPD]: Ihr wisst gar nicht, was ihr Ansgar Heveling wollt! Sorry! – Dagmar Ziegler [SPD]: Was ihr dürft!)





(A) (C)


(D)(B)


Die Frage ist in diesem Zusammenhang, ob das der
einzige systematische Anknüpfungspunkt ist. Es gäbe si-
cherlich auch noch die Möglichkeit, darüber nachzuden-
ken, beim Strafrahmen anzusetzen, und die Frage zu klä-
ren, ob wir für die einzelnen Straftatvorschriften eine
Erhöhung des Strafrahmens vorsehen. Das könnte dazu
führen, dass einige Straftaten vom Vergehen zum Ver-
brechen hochgestuft werden. Das führt aber ohne Frage
auch zu weiteren systematischen Überlegungen; das
sollten wir genau bedenken.

Ein dritter Ansatzpunkt ist, zu überlegen, ob man bei
der Hemmung der Verjährung ansetzt.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jawohl! Das ist von uns!)


Das ist bereits in den 90er-Jahren diskutiert worden. Sei-
nerzeit hat es eine erste Regelung des Komplexes gege-
ben. Damals ist festgelegt worden, dass die Verjährung
bis zum 21. Lebensjahr – statt bis zum 18. Lebensjahr –
gehemmt ist. Auch das ist ein Ansatzpunkt, nämlich da-
rüber nachzudenken, ob man an dieser Stelle die Hem-
mung der Verjährung nicht weiter hinausschiebt, weil
uns die aktuellen Fälle aus den Institutionen gezeigt ha-
ben – anders als in den 90er-Jahren, wo es um Fälle aus
dem unmittelbaren familiären Nahbereich ging –, dass
viele Opfer erst dann, wenn sie älter werden, in der Lage
sind, ihre Erlebnisse zu reflektieren und tätig zu werden.
Man muss sehr sorgsam abwägen und schauen, wie es in
die Systematik des Strafgesetzbuches passt. In diesem
Prozess befinden wir uns noch. Wir sind aber zuversicht-
lich, dass wir eine Regelung finden werden und dann die
Beratung des Gesetzentwurfs der SPD abschließen kön-
nen – sicherlich auf dem Wege, dass deren Gesetzent-
wurf nicht zum Tragen kommt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719527200

Halina Wawzyniak hat jetzt das Wort für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719527300

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir reden über den Bericht des Rechtsausschus-
ses zum Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, mit wel-
chem die straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvor-
schriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern und
minderjährigen Schutzbefohlenen verlängert werden sol-
len. Dieser Gesetzentwurf war ebenso wie die Gesetzent-
würfe von Bündnis 90/Die Grünen und der Bundesregie-
rung Gegenstand einer Anhörung im Rechtsausschuss.
Eine abschließende Beratung hat noch nicht stattgefun-
den; deshalb jetzt der Bericht.

Lassen Sie mich zunächst eine Bitte äußern. Lassen
Sie uns bitte zukünftig nicht von sexuellem Missbrauch
von Kindern und Schutzbefohlenen reden, sondern von

sexualisierter Gewalt. Der Begriff „Missbrauch“ legt
nämlich unbeabsichtigt nahe, es gäbe auch einen richti-
gen sexuellen Gebrauch von Kindern und Schutzbefoh-
lenen,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach was!)


und – ich glaube, da sind wir uns alle einig – genau den
gibt es nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Schutz-
befohlenen ist ein sehr sensibles Thema. Dabei stehen,
glaube ich, für alle Fraktionen im Haus der Schutz der
Opfer und die Wiedergutmachung im Zentrum der De-
batte.

„Schutz der Opfer“ meint für uns in allererster Linie
Prävention. Es klingt abgedroschen und ist dennoch
wahr: Der beste Opferschutz ist Prävention. Deshalb
müssen die Mittel für Projekte wie „Kein Täter werden“,
die zum Beispiel in der Charité angeboten werden, erhal-
ten bleiben und aus unserer Sicht sogar aufgestockt wer-
den.


(Beifall bei der LINKEN)


Unser vorrangiges Ziel muss sein, potenzielle Täter
zu erreichen, um sie von Straftaten abzuhalten. Zu Recht
wurde in der Anhörung durch den Sachverständigen
Böhm auf diesen Aspekt hingewiesen. Er forderte früh-
zeitig einsetzende psychotherapeutische Behandlungen;
die Rückfallraten könnten so erheblich gesenkt werden.

Es geht aber auch darum, Kinder zu stärken. Sie müs-
sen ihre Rechte kennen, in der Lage sein und ermutigt
werden, diese wahrzunehmen. Aus der Sicht der Opfer
von sexualisierter Gewalt spricht viel dafür, die zivil-
rechtlichen Verjährungsvorschriften zu verlängern. So-
weit ich das sehe, sind sich darin alle Fraktionen einig
und greifen damit eine Empfehlung des Runden Tisches
auf; darauf wurde bereits hingewiesen. Dieses Signal der
Einigkeit sollten die Opfer sexualisierter Gewalt von der
heutigen Debatte mitnehmen; daran wäre mir sehr gele-
gen. Alle Fraktionen sprechen sich für die Verlängerung
der zivilrechtlichen Verjährungsfristen aus.

Die existierende Frist von drei Jahren zur Geltendma-
chung von Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprü-
chen ist deutlich zu kurz. Es ist richtig, dass Opfer sexua-
lisierter Gewalt im Kindesalter oft massiv traumatisiert
sind und erst als Erwachsene und nach Jahrzehnten in
der Lage sind, ihr Schweigen zu brechen.

Dass Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche
dann nicht mehr geltend gemacht werden können, sehen
wir als erhebliches Problem an. Hier hilft die Hemmung
der Verjährung bis zum 21. Lebensjahr nicht wirklich
weiter. Die Verjährungsfristen müssen – so sieht es der
vorliegende Gesetzentwurf vor – tatsächlich verlängert
werden, um die zivilrechtlichen Ansprüche der Opfer se-
xualisierter Gewalt zu erhalten. Wir unterstützen das
ausdrücklich.


(Beifall bei der LINKEN)






Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)


Wir sehen auch das Problem, dass die Verjährungs-
fristen bei Vergewaltigung und sexueller Nötigung auf
der einen Seite und die Verjährungsfristen bei sexuali-
sierter Gewalt gegenüber Kindern auf der anderen Seite
auseinanderklaffen. Das ist der entscheidende Grund da-
für, dass ein Teil unserer Fraktion zu einer Zustimmung
zum SPD-Entwurf tendiert.

Unsere gesamte Fraktion sagt sehr deutlich, dass se-
xualisierte Gewalt gegenüber Kindern nicht zu rechtfer-
tigen ist.

Ein anderer Teil von uns tut sich schwer mit einer
Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen.
Sosehr eine Angleichung der Verjährungsfristen auf den
ersten Blick eine innere Logik hat – dieser Teil unserer
Fraktion beurteilt das Ansinnen skeptisch. Es erscheint
diesem Teil unserer Fraktion nicht sinnvoll, für den Fall,
dass beispielsweise ein Täter innerhalb der von der SPD
vorgeschlagenen 20-jährigen Verjährungsfrist eine The-
rapie gemacht hat und seitdem keine erneute Straffällig-
keit aufgetreten ist, noch strafrechtlich aktiv zu werden.
Dem Opfer und dem Täter ist nach Ansicht dieses Teils
unserer Fraktion damit nicht geholfen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719527400

Der Kollege Christian Ahrendt hat jetzt das Wort für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1719527500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir debattieren die Frage, warum ein Gesetzent-
wurf der SPD zur Verlängerung der Verjährungsfristen
im Strafrecht und auch im Zivilrecht noch nicht ab-
schließend im Rechtsausschuss beraten worden ist.

Wir haben im Juni zusammen mit den Grünen und bei
Enthaltung der Linken entschieden, diese Beratung noch
einmal zu vertagen. Das hat gute Gründe. Es gab eine
Sachverständigenanhörung – über die ist eben schon be-
richtet worden –, bei der das Bild bei weitem nicht so
klar war, wie es hier den Eindruck erweckt. Zahlreiche
Sachverständige haben gesagt, dass die Verlängerung
der Verjährungsfristen nicht unbedingt zielführend ist.
Dafür gibt es auch Gründe, die man sorgfältig erwägen
muss.

Je weiter eine Tat in der Vergangenheit liegt, desto
schwieriger ist es, diese Tat aufzuklären. Beweismittel
werden nicht gesichert. Die Zeugen, die über eine solche
Tat Auskunft geben können, verlieren an Erinnerungs-
vermögen. Insofern führt eine Verjährungsfrist, die es er-
möglicht, dass nicht sofort in der Sache ermittelt wird,
nicht dazu, dass der Täter wirklich herangezogen wird.
Der entscheidende Aspekt ist, dass es zu einer Anzeige
kommt; der Kollege Ansgar Heveling hat es eben schon
gesagt. Deswegen kommt es uns auf ein Rechtsregime
an, das in erster Linie darauf ausgerichtet ist, dass das

Opfer die Tat früh anzeigt. Denn je früher die Tat ange-
zeigt wird, desto früher können Beweise gesichert, Zeu-
gen vernommen und der Täter einer Verurteilung zuge-
führt werden; je früher die Ermittlungen auf das
Tatgeschehen folgen, desto besser ist es möglich, das
Tatgeschehen wirklich gerichtsfest zu beweisen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719527600

Herr Kollege, Frau Steffen würde Ihnen gerne eine

Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen?


Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1719527700

Gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719527800

Bitte schön.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1719527900

Sie sind jetzt leider schon in Ihrem Text fortgefahren,

aber Sie haben vorhin gesagt, die meisten Sachverständi-
gen hätten sich bei der Anhörung nicht für eine Verlän-
gerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen ausge-
sprochen. Ich habe in meiner Rede bewusst nur von
„Modifizierung“ gesprochen. Sie haben vorhin gesagt,
zahlreiche Sachverständige hätten sich nicht für eine
Verlängerung der Fristen ausgesprochen; das ist richtig.
Wir sind gerade im Gesetzgebungsverfahren; leider fan-
gen wir eigentlich erst mit dem Verfahren an. Es gibt
verschiedene Modelle; wir werden gleich das von den
Grünen hören. So besteht etwa die Möglichkeit, bei der
Hemmung anzusetzen; Ihr Kollege hat diese Möglich-
keit auch schon vorgestellt. Würden Sie mir unter die-
sem Aspekt recht geben, dass sich die Mehrheit der
Sachverständigen für eine Modifizierung der strafrecht-
lichen Verjährungsfristen ausgesprochen hat?


Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1719528000

Frau Kollegin, Sie sagen jetzt, dass wir die Fristen

modifizieren könnten, und haben so mit Ihrer Frage mei-
nen weiteren Ausführungen vorgegriffen. Wenn es um
die reine Verlängerung der Verjährungsfristen geht, dann
ist das Bild bei den Sachverständigen klar; so habe ich es
gesehen. Wenn wir darüber nachdenken, möglicherweise
den Beginn der Verjährung bis zu einem bestimmten Al-
ter zu hemmen – Sie haben in Ihrer Rede sehr ausführ-
lich dargestellt, dass es oftmals ein Herauslösen aus dem
Familienkreis braucht, um den Mut zur Anzeige zu fin-
den –, wenn es also um die Frage der Hemmung bis zum
18. oder 21. Lebensjahr geht, um die Frage, ob erst dann
die Frist der strafrechtlichen Verjährung beginnen soll,
und Sie das als „Modifizierung“ bezeichnen, dann bin
ich von Ihnen gar nicht so weit weg. Das ist etwas, über
das wir tatsächlich nachdenken, weil es auch sinnvoll ist.
Aber das ist etwas anderes als die pauschale Verlänge-
rung der Verjährungsfristen und ist, wenn ich das so sa-
gen darf – zumindest habe ich es so in Erinnerung –,
nicht Gegenstand Ihres Gesetzentwurfs.

Lassen Sie mich fortfahren. Der entscheidende As-
pekt ist – darum ringen wir –, dass wir ein Rechtsregime
schaffen, bei dem es darum geht, dem Opfer frühzeitig





Christian Ahrendt


(A) (C)



(D)(B)


den Mut zu geben, die Tat anzuzeigen. Denn wir haben
die Situation, dass das Opfer nicht nur von der Tat selber
betroffen ist. Es sieht sich nachher auch in der Situation,
das, was geschehen ist, berichten zu müssen. Je öfter das
Opfer davon berichtet, desto gravierender, desto mehr
wird es mit dem Erlebten konfrontiert. Deswegen sind
wir mit dem StORMG auf dem Weg, die Opferrechte so
zu verbessern, dass es einfacher wird, die Tat anzuzei-
gen. Damit ist das Ziel dieses Gesetzes klar im Fokus.

Wenn wir sexuellen Missbrauch von Kindern erfolg-
reich bekämpfen wollen, dann müssen wir ihn dort be-
kämpfen, wo er beginnt. Wir müssen dafür sorgen, dass
die Taten aus den Familien heraus oder von den Opfern
früh angezeigt werden. Je früher sie angezeigt werden,
desto besser können Beweismittel gesichert werden,
desto klarer ist das Erinnerungsbild der Zeugen, desto
größer ist die Chance, dass es zu einer Verurteilung
kommt. Man muss sich auch Folgendes vor Augen hal-
ten: Wenn eine Tat erst spät angezeigt wird, also erst
nach Ablauf einer größeren Zahl von Jahren, das Opfer
erst dann den Mut findet, aber die Tat vor Gericht nicht
mehr bewiesen werden kann, ein Verfahren eingestellt
wird oder es gar zum Freispruch kommt, dann hat das
Opfer nicht nur mit der Tat zu kämpfen, sondern auch
noch mit dem Problem umzugehen, dass das, was es er-
lebt hat, nicht vor Gericht gesühnt wird.

Deswegen ist es wesentlich sorgfältiger, daran zu ar-
beiten, die Opferschutzrechte so auszugestalten, dass es
zu einer frühzeitigen Anzeige kommt. Man muss in der
Tat darüber nachdenken – wir tun das in der Koalition –,
einerseits im Zivilrecht und andererseits im Strafrecht zu
einer gemeinsamen Hemmungsregelung zu kommen, die
besagt, wann die Verjährungsfrist beginnt. Meines Er-
achtens kann man sich sehr gut am 21. Lebensjahr orien-
tieren, aus zwei Gründen: Wir haben hier einen klaren
Anknüpfungspunkt im Jugendstrafrecht. Ab 18 ist man
strafmündig; dann hat man noch die Zeit des Heran-
wachsenden bis zum 21. Lebensjahr. Das ist ein deutli-
ches Indiz dafür, dass man in einem gewissen Familien-
verbund noch verfangen ist und deswegen möglicher-
weise davor zurückschreckt, eine solche Tat anzuzeigen.
Das ist der richtige Ansatz. Dann haben wir auch die
Möglichkeit, mit den Verjährungsfristen, die jetzt im
Strafgesetzbuch stehen, vernünftig auszukommen. Aber
zu sagen: „Wir verlängern jetzt einfach die Verjährungs-
frist um fünf oder zehn Jahre und haben damit eine wirk-
liche Verbesserung für die Opfer erreicht“, den Weg hal-
ten wir für falsch. Ich glaube auch nicht, dass wir diesen
Weg gehen werden.

Wichtig ist, dass wir die Sache gut beraten, und wir
werden die Sache gut beraten. Ich gehe davon aus, dass
wir in diesem Herbst zum Abschluss kommen, und
danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719528100

Die Kollegin Ingrid Hönlinger hat jetzt das Wort für

Bündnis 90/Die Grünen.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719528200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir alle konnten uns in den schlimmsten Alpträumen
nicht vorstellen, was sich seit den 70er-Jahren und teil-
weise bis in die Gegenwart hinein hinter den Mauern
von kirchlichen, schulischen und anderen Einrichtungen
ereignet hat. Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs
von Kindern und Jugendlichen, schutzbefohlenen Mäd-
chen und Jungen spielte sich jahrelang im Geheimen ab.
Bis heute sind nicht alle Fälle aufgeklärt, die Traumati-
sierungen der Opfer sind noch lange nicht geheilt, und
diese Untaten sind nicht ausreichend gesühnt, weder mo-
ralisch noch finanziell.

Wir wissen heute, dass Opfer von sexuellem Miss-
brauch oft jahrelang das Erlebte nicht in Worte fassen
können. Sie brauchen Zeit, um über das sprechen zu
können, was ihnen widerfahren ist. Vor diesem Hinter-
grund müssen wir unsere rechtlichen Abwägungen tref-
fen.

Das aktuelle Recht räumt den Opfern nicht ausrei-
chend Zeit ein. Bei den Missbrauchsfällen aus den 70er-
und 80er-Jahren sind die Verjährungsfristen längst abge-
laufen, und zwar sowohl die zivil- als auch die straf-
rechtlichen Fristen. Wir als Gesetzgeber müssen jetzt
den rechtlichen Rahmen dafür schaffen, dass die Men-
schen, deren Forderungen noch nicht verjährt sind oder
die in Zukunft Opfer sexueller Gewalt werden, ihre An-
sprüche in angemessener Zeit durchsetzen können.

Heute sprechen wir über den Gesetzentwurf der SPD.
Auch wir Grünen haben einen Gesetzentwurf zur Ver-
besserung der rechtlichen Stellung von Opfern sexuellen
Missbrauchs vorgelegt. Einig sind wir uns mit der SPD
darin, dass die Verjährungsfrist im Zivilrecht für An-
sprüche von Opfern sexueller Gewalt viel zu kurz ist.
Wir Grünen wollen, genauso wie die SPD, eine Auswei-
tung auf 30 Jahre einführen.

Im Gegensatz zur SPD wollen wir die Hemmungsre-
gelungen nicht nur beibehalten, sondern ausweiten. So-
wohl im Zivil- als auch im Strafrecht soll der Beginn der
Verjährung bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres ei-
nes misshandelten Menschen gehemmt sein.

Die Hemmungstatbestände treffen den Kern der Dis-
kussion – das Schweigen junger Menschen nach sexuel-
lem Missbrauch. Selbst junge Erwachsene sind häufig
emotional nicht in der Lage, ihre Ansprüche wegen sol-
cher Taten geltend zu machen; gerade hier sollten wir
ansetzen.

Nun wende ich mich an die Regierung, die ebenfalls
einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Sie, meine Damen
und Herren, wollen im Zivilrecht ebenfalls die Verjäh-
rungsfrist auf 30 Jahre anheben, aber im Gegenzug wol-
len Sie die Hemmung komplett streichen. Damit beginnt
die Verjährungsfrist bereits mit dem Entstehen des An-
spruchs, also sofort nach der Tat und nicht erst mit Voll-
endung des 21. Lebensjahres des Opfers, wie das nach
aktuellem Recht der Fall ist. Das ist ein völlig falsches
Signal an die Betroffenen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)






Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


Der Regierungsentwurf weist auch noch ein weiteres
Problem auf: Die Verjährungsfrist von 30 Jahren soll
nicht nur für Verletzungen der sexuellen Selbstbestim-
mung gelten, sondern auch für sonstige vorsätzliche Ver-
letzungen des Körpers und der Gesundheit. Damit unter-
fiele jede Beibringung einer Wunde der Verjährungsfrist
von 30 Jahren.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jede Ohrfeige!)


Sicher stimmen Sie mit mir überein, dass wir hier diffe-
renzieren müssen. Dass Sie innerhalb der Koalition noch
über den Gesetzentwurf der Regierung streiten und sich
nicht einigen können, zeigt den Zustand Ihrer Koalition
und schadet den Betroffenen. Meine Damen und Herren
von der Regierung, beschränken Sie Ihren Gesetzent-
wurf auf die Verletzung der sexuellen Selbstbestim-
mung, verlängern Sie die Verjährungsfrist im Zivilrecht,
und schieben Sie den Verjährungsbeginn im Zivil- und
Strafrecht hinaus! Je länger Sie mit dem Inkraftsetzen
des Gesetzes warten, desto mehr Ansprüche von Opfern
verjähren. Dies sollte für die Rechtspolitik Grund genug
sein, schnell und gründlich zu handeln.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719528300

Thomas Silberhorn hat jetzt das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1719528400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich finde, dass der Ton in dieser Debatte der Ernsthaftig-
keit der Problematik sehr angemessen ist. Bei allen Un-
terschieden, die es in Detailfragen gibt, sind wir uns alle
darüber einig, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern
und minderjährigen Schutzbefohlenen seelische Schäden
hinterlässt, die irreparabel sind und die die Betroffenen
ein Leben lang belasten. Die körperlichen Schäden, die
damit oft verbunden sind, mögen verheilen, aber die see-
lischen Wunden kann auch die beste psychologische Be-
treuung nicht wirklich heilen, auch wenn Therapien hel-
fen, solche schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten.
Opfer sexuellen Missbrauchs tragen schwer an dem, was
man ihnen angetan hat, auch noch nach Jahren, nach
Jahrzehnten, oft das ganze Leben lang.

Wir haben nun einen Gesetzentwurf in Vorbereitung,
mit dem die Schwächsten unserer Gesellschaft, Kinder
und Jugendliche, besser geschützt werden sollen. Damit
verfolgen wir einen breiten Ansatz. Ziel ist es, nicht nur
punktuell Verbesserungen für die Betroffenen zu errei-
chen, sondern umfassendere Lösungen zu finden. Wir
haben dabei auch auf die Empfehlungen des Runden Ti-
sches zurückgegriffen, der wichtige Ergebnisse erarbei-
tet hat.

Wir wollen beispielsweise die Opfer sexuellen Miss-
brauchs im Gerichtsverfahren besser schützen und scho-

nen. Das Leid, das sie erfahren haben, soll im Gerichts-
saal nicht noch einmal durchlitten werden müssen. Dazu
dient beispielsweise, dass es leichter möglich sein soll,
einen Opferanwalt zu bestellen. Wir erweitern die Infor-
mationsrechte von Opfern. Wir vermeiden mehrfache
Vernehmungen. Wir ergänzen die Vorschriften zum Aus-
schluss der Öffentlichkeit bei Hauptverhandlungen.

Schließlich sind wir uns darin einig, dass die zivil-
rechtliche Verjährungsfrist für Schadensersatzansprüche
wegen sexuellen Missbrauchs auf 30 Jahre verlängert
werden soll. Das ist dringend notwendig. Spätestens die
in den vergangenen Monaten aufgedeckten gravierenden
Missbrauchsfälle haben deutlich gemacht, dass die Re-
gelverjährung von drei Jahren in diesem Bereich viel zu
kurz bemessen ist. Ich finde, es ist eine wichtige und be-
deutende Botschaft der heutigen Debatte, dass wir einen
fraktionsübergreifenden Konsens in der Frage der Ver-
längerung der zivilrechtlichen Verjährungsfrist festhal-
ten können.

Bei dieser Verjährungsfrist setzt auch der Gesetzent-
wurf der SPD an. Allerdings beschränkt sich die SPD
ausdrücklich auf die Fragen der Verjährung. Das, finde
ich, greift entschieden zu kurz. Man wird den Opfern se-
xuellen Missbrauchs am ehesten helfen können, wenn
man die Reform ein bisschen breiter aufstellt, so wie das
bei uns mit einem ganzen Maßnahmenbündel angedacht
ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es gibt immer wieder Fälle, in denen Opfer aufgrund
ihrer starken Traumatisierung im Kindesalter erst sehr
spät in der Lage sind, über eine solche Tat zu sprechen.
Sie sind erst nach vielen, vielen Jahren bereit und fähig,
eine Strafanzeige zu erstatten. Ich persönlich bin der
Auffassung, dass wir deshalb die Möglichkeiten, sexuel-
len Missbrauch auch strafrechtlich zu ahnden, erweitern
müssen. Wir sollten darauf achten, dass die Hemmung
der Verjährung und die Verjährungsfrist im Strafrecht
und im Zivilrecht nicht zu weit auseinanderfallen. Die
Hemmung der Verjährung zu erweitern und die Verjäh-
rungsfrist zu verlängern, das wäre nach meinem Dafür-
halten eine unmissverständliche Regelung. Das würde
Rechtsklarheit, auch Rechtssicherheit schaffen. Das
würde auch den Besonderheiten dieser Taten Rechnung
tragen. Bei der strafrechtlichen Verfolgung wird die Be-
weisführung mit dem Zeitablauf sicherlich immer
schwieriger. Aber es ist ja nicht erst die strafrechtliche
Verurteilung, die eine abschreckende Wirkung auf Täter
hat, auch schon die Anklage und die Ermittlungen signa-
lisieren möglichen Tätern: Wer das tut, muss sehr lange
damit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD])


Natürlich könnte man eine Verlängerung der straf-
rechtlichen Verjährungsfristen auch automatisch errei-
chen, indem man den sexuellen Missbrauch zum Verbre-
chen aufstuft. Ich bin durchaus der Meinung, dass eine
Strafschärfung im Grundsatz angemessen wäre, wenn
man die lebenslange und schwere Beeinträchtigung





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)


durch sexuellen Missbrauch im Kindesalter in Rechnung
stellt. Ich nehme allerdings auch die kritischen Stimmen
zur Kenntnis, die sagen, dass durch eine Mindestfrei-
heitsstrafe von einem Jahr – die die Aufstufung zum Ver-
brechen bedeuten würde – in Grenzfällen unangemes-
sene Härten entstehen könnten. Darüber wird man weiter
diskutieren müssen. Ich finde, wir sollten diese Fragen
weiter erörtern.

Lassen Sie mich abschließend auf einen Punkt einge-
hen: den Schutz von Schülern gegen sexuelle Übergriffe
durch Lehrer. Wir haben gesehen, dass nach der Recht-
sprechung Schüler eines Vertretungslehrers diesem Leh-
rer unter Umständen nicht zur Erziehung anvertraut sind,
sodass in diesem Lehrer-Schüler-Verhältnis ein strafba-
rer sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen nicht
vorliegt. Ich finde, es sollte für uns selbstverständlich
sein, dass wir jegliche sexuellen Übergriffe von Lehr-
kräften auf Schüler unterbinden und scharf sanktionie-
ren. Wir können das nicht zulassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich sage das ausdrücklich auch als Vater. Wenn wir
als Eltern unsere Kinder in die Obhut einer Schule ge-
ben, dann müssen wir uns darauf verlassen können, dass
sie dort in jeder Hinsicht vor sexuellen Übergriffen
durch Lehrkräfte geschützt sind. Schüler können sich
den Lehrkräften in ihrer Schule nicht entziehen. Alle
Lehrkräfte haben eine gewisse Machtposition den Schü-
lern gegenüber. Deshalb darf es bei der Strafbarkeit von
sexuellem Missbrauch keinen Unterschied machen, ob
es sich um Klassenlehrer, Aushilfslehrer oder Vertre-
tungslehrer handelt.

Ich bin sehr froh, dass die Bundesländer eine Arbeits-
gruppe eingesetzt haben, um an ihren Schulen zunächst
einmal zu erkunden, wie die Lage ist. Wir werden das in
dieses Gesetzgebungsverfahren nicht mehr einbeziehen
können, aber ich bin auf die Ergebnisse dieser Arbeits-
gruppe gespannt.

Ich denke, wir können festhalten: Die Stärkung der
Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs ist auf einem
guten Weg.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719528500

Herr Kollege.


Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1719528600

Wir sind zuversichtlich, dass wir unser Verfahren

zeitnah abschließen können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719528700

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin

Marlene Rupprecht.


(Beifall bei der SPD)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1719528800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Wir haben heute diese Debatte, weil ein Gesetzent-
wurf der SPD nicht innerhalb des Zeitraums, der nach
der Geschäftsordnung vorgesehen ist, beraten wurde. Es
gibt zu diesem Thema auch einen Gesetzentwurf der Re-
gierung, der im Juni letzten Jahres eingebracht wurde,
nämlich den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der
Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Auch dieser
Gesetzentwurf hängt irgendwo.

Ich bin jetzt lange genug im Parlament, um Ihnen zu
sagen: Es kann immer vorkommen, dass man etwas nicht
debattiert. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass
man dann mit den anderen Fraktionen redet und ihnen
sagt, dass man noch etwas in Vorbereitung hat und etwas
später darüber miteinander debattieren möchte. Diesen
Weg müsste die Regierung eigentlich gehen, um zu zei-
gen: Wir sind dran. So sollte man miteinander umgehen.
Das scheint nicht erfolgt zu sein. Das bedaure ich sehr,
weil wir vor allem den Menschen, die es betrifft, nämlich
den Opfern sexuellen Missbrauchs – das sage ich be-
wusst so; hier geht es um das Strafrecht und nicht um
Therapie, sozialpädagogische Betreuung oder Sozial-
politik –, dringend das Signal geben wollen, dass jetzt die
gesetzlichen Maßnahmen kommen. Das, was am Runden
Tisch bearbeitet wurde, wurde bereits schrittweise im
ersten Aktionsplan 2003 umgesetzt. Weiteres wird jetzt
im zweiten Aktionsplan, der auf dem Weg ist, umgesetzt.


(Beifall bei der SPD)


Natürlich reicht das Strafrecht nicht; das ist ganz klar.
Das wäre eine völlige Fehleinschätzung. Zum Umgang
mit Missbrauch und mit massiver Gewalt gegen Kinder
hat der Europarat ein Übereinkommen zum Schutz von
Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Miss-
brauch erarbeitet. Die EU hat eine Richtlinie verabschie-
det, die mit in die Gesetzgebung einfließen muss. Außer-
dem gibt es Fakultativprotokolle der UN, die auch
einfließen müssen. Ich denke, wenn wir gut arbeiten, be-
achten wir das alles und sehen nicht nur durch die natio-
nale Brille.

Beim Übereinkommen des Europarates geht es um
die vier „P“. Ich denke, wir behandeln sie schon in unse-
rem Aktionsplan. Aber für diejenigen, die nicht so nah
an diesem Thema dran sind, sage ich, was die vier „P“
der Konvention bedeuten.

Das erste „P“ steht für Prävention. Das heißt, Be-
kämpfung sexueller Ausbeutung mit allen Mitteln der
Aufklärung und des Schutzes. Man tut also alles, was
machbar ist, damit es gar nicht erst zu einem Übergriff,
einem Missbrauch oder einer schweren Gewalttat
kommt.

Das zweite „P“ steht für Protektion, also für den
Schutz der Rechte von kindlichen Opfern. Das betrifft
das Gesetz, das gerade in der Pipeline ist und endlich
vorgelegt werden müsste; denn es ist dringend notwen-
dig.

Das dritte „P“ steht für Prosekution, also für Strafver-
folgung. In diesen Bereich gehört das Thema, das wir
heute debattieren. Deshalb hätte es überhaupt nicht ge-





Marlene Rupprecht (Tuchenbach)



(A) (C)



(D)(B)


schadet, zu sagen: Wir gehen jetzt an die Verjährungs-
fristen heran und ändern sie. – Daran kann man Schritt
für Schritt arbeiten. Man kann jemandem auch mit Blick
auf die Schwere der Tat – da stimme ich Ihnen zu – wirk-
lich einen Schuss vor den Bug verpassen und deutlich
machen: Wir, die Gesellschaft, zeigen null Toleranz ge-
genüber solchen Straftätern.

Das vierte „P“ steht für Promotion. Das heißt, dass
wir Strategien entwickeln und in diesem Bereich natio-
nal und international kooperieren, damit wir tatsächlich
etwas erreichen.

Diese vier „P“ müssen wir in das, was wir gerade ma-
chen, mit einbauen. Da sind natürlich auch wir, die Mit-
glieder des Familienausschusses, gefragt, vor allem
dann, wenn es um Prävention und Promotion geht. Was
die Strafverfolgung und den Schutz betrifft, wenn es also
um das Recht geht, sind allerdings vor allem die Mitglie-
der des Rechtsausschusses am Zuge. Das Ganze muss so
ausgestaltet werden, dass man überprüfen kann, ob die
Maßnahmen wirken. Wenn man also beispielsweise die
Verjährungsfristen verlängert oder Hemmnisse einbaut,
muss überprüft werden: Wirkt das, und wie wirkt das?
Das ist sehr wichtig.

Die europäische Kinderrechtekonferenz findet ja in
Deutschland statt. Die heutige Debatte sollte dazu füh-
ren, dass wir im März nächsten Jahres auch das Lan-
zarote-Übereinkommen zum Schutz von Kindern vor
sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch ratifi-
zieren – wir haben es im Jahre 2007 unterzeichnet, aber
noch nicht ratifiziert – und damit zeigen: Jawohl, wir
schließen uns an. Wir schließen uns auch der Kampagne
des Europarates an.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719528900

Frau Kollegin?


Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1719529000

Eines von fünf Kindern ist betroffen. Ich denke, das

sollte uns so sehr aufschreien lassen, –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719529100

Frau Kollegin.


Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1719529200

– dass wir jetzt über alle Grenzen hinweg gemeinsam

an diesem Gesetz arbeiten.

Danke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719529300

Damit schließe ich die Aussprache.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 und den Zusatz-
punkt 7 auf:

18 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes

zur Ausführung der Verordnung (EU) Nr. 236/
2012 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 14. März 2012 über Leerverkäufe
und bestimmte Aspekte von Credit Default
Swaps (EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetz)


– Drucksache 17/9665 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/10854 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Manfred Zöllmer
Björn Sänger

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter
Aumer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Bankenunion – Subsidiaritätsgrundsatz be-
achten

– Drucksache 17/10781 –

Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren.

Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus von der
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1719529400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir re-

den zu dieser späten Stunde über Finanzmarktthemen.
Ich möchte diese Debatte zum Anlass nehmen, über drei
Punkte zu sprechen: erstens über die Umsetzung der EU-
Leerverkaufsverordnung, zweitens über den Antrag zur
Bankenunion und drittens – ich glaube, das bietet sich in
dieser Woche an – über das revolutionäre Papier, das uns
den Durchbruch auf den Finanzmärkten bringen wird,
des ehemaligen nordrhein-westfälischen Finanzministers
und Ministerpräsidenten sowie ehemaligen Bundes-
finanzministers Peer Steinbrück.

Fangen wir doch einfach einmal mit der EU-Leerver-
kaufsverordnung an. Das ist heute für uns ein freudiger
Tag, weil auf europäischer Ebene etwas umgesetzt wor-
den ist, was wir vor zwei Jahren auf den Weg gebracht
haben. Wir sind damals belächelt worden. Man sagte: Ihr
könnt nicht vorangehen und das alleine machen. – Wir
haben es gemacht und sind vorangegangen. Am Ende
des Tages hat das dazu geführt, dass die Europäische
Kommission und der Europäische Rat im Wesentlichen
das abgeschrieben haben, was wir gemacht haben. Das
ist ein großer Erfolg für uns.

Das ist für uns heute auch deswegen ein großer Erfolg,
weil das nunmehr das 17. Finanzmarktgesetz ist, das wir
in den letzten drei Jahren hier verabschiedet haben. Da-





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


runter waren wichtige Dinge wie Bankenrestrukturie-
rung, Anlegerschutz, Vergütungen, Ratingagenturen,
Verbriefungen und ganz viele andere Dinge. Ich erwähne
das an dieser Stelle ganz besonders gerne, weil man den
Eindruck hat, dass Finanzmarktregulierung in Deutsch-
land erst vor drei Tagen und nicht vor drei Jahren erfun-
den worden ist.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Sie müssen sich schon selber loben, sonst tut es keiner!)


Nach mir wird der Herr Kollege Zöllmer von der SPD
reden und zu dem EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetz
sagen: Na ja, eigentlich ist das alles ja ganz richtig, aber
eine Sache stört mich. – Dabei geht es darum: Wenn bei
Schieflagen der Handel von irgendwelchen Papieren
ausgesetzt werden muss, soll das nicht, wie bei uns vor-
gesehen, durch die örtlichen Börsen, sondern zentral
durch die BaFin geschehen. Wir haben das geprüft und
sind der Meinung, dass die örtlichen Behörden das bes-
ser machen können, weil sie näher dran sind. Wir sind
auch der Meinung, dass das bewährte Verfahren, bei dem
sie sich abgestimmt haben, fortgesetzt werden kann, so-
dass wir bundesweit eine gute Regelung erreichen ha-
ben.

Herr Zöllmer, Sie werden das gleich aber erläutern.
Man kann auch anders darüber denken. Eines muss ich
Ihnen aber sagen: Wenn Sie das gleich als Begründung
dafür nehmen, sich bei der Abstimmung über dieses Ge-
setz zu enthalten, dann ist das ein bisschen hochgehängt.
Überdenken Sie das also noch einmal. Ich glaube, das ist
ein gutes Gesetz. Das wird die Finanzmärkte besser und
sicherer machen. Deswegen bitte ich hier um Ihre Zu-
stimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweiter Punkt; die Bankenunion. Am 28. und 29. Juni
2012 fand ein Gipfel statt, auf dem vereinbart worden
ist, dass wir europäische Aufsichtsstrukturen und auch
Haftungsstrukturen zusammenführen. Als erster Schritt
sollte unter dem Dach der EZB, der Europäischen Zen-
tralbank, eine gemeinsame Aufsicht eingerichtet werden.
Das ist gut; das begrüßen wir. Die Kommission ist zum
Arbeiten geschickt worden. In den letzten Tagen ist sie
wiedergekommen und hat ein Papier vorgelegt. Wir sind
nicht mit allem, was in diesem Papier steht, einverstan-
den, aber wir werden jetzt frohen Mutes in den Verhand-
lungsprozess hineingehen.

Damit die Bundesregierung in diesem Verhandlungs-
prozess ein robustes Mandat hat und auch weiß, was der
Deutsche Bundestag über dieses Papier von Herr
Barroso und Herrn Barnier denkt, werden wir der Bun-
desregierung einige Dinge mit auf den Weg geben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719529500

Herr Kollege, möchten Sie Ihre üppige Redezeit noch

dadurch verlängern, dass Sie dem Kollegen Schick die
Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben?


Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1719529600

Ich weiß jetzt nicht, was er dazwischenfragen möchte,

weil ich ja erst noch etwas sagen möchte, aber er kann
das gerne machen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719529700

Das weiß ich leider auch nicht.


Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1719529800

Bitte schön, Herr Kollege.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719529900

Bitte.


(Patricia Lips [CDU/CSU]: Er scheint viel Zeit zu haben!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Frau Kollegin, es geht gar nicht so sehr darum,
dass ich viel Zeit habe, aber ich möchte zu Ihrem Antrag
gerne ein paar Fragen stellen, weil wir das im Ausschuss
nicht tun können, da er heute sofort zur Abstimmung
steht.


Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1719530000

Ein paar Fragen?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja, in der Tat. Hier ist der einzige Ort, an dem ich die
Fragen stellen kann. Deswegen muss ich sie hier stellen.

Mich würde erstens interessieren, was bezogen auf
die Aufsichtsaufgaben der EZB mit einer „ausreichen-
den demokratischen Kontrolle“ gemeint ist. Soll man die
Stellenbesetzungen vom Europäischen Parlament aus
kontrollieren? Soll es da Auskunftspflichten der EZB ge-
genüber dem Parlament geben? Ich finde, es ist eine
wichtige Frage, wie die Kontrollmechanismen ausgestal-
tet sind.

Mich würde zweitens interessieren, wie das mit dem
„Netz nationaler Restrukturierungsfonds“ gedacht ist.
Soll es hier nach Ansicht der Koalitionsfraktionen eine
Überlaufregelung geben oder nicht?


(Florian Toncar [FDP]: Könnt ihr nicht einmal ein Bier zusammen trinken gehen?)


Drittens würde mich interessieren, was mit „große
systemrelevante und grenzüberschreitend tätige Banken“
gemeint ist. Sind das nur die 25 systemrelevanten Ban-
ken, die in dieser Liste stehen, von der wir immer reden,
oder sind darunter auch noch größere Institute im deut-
schen Raum, wie zum Beispiel die Landesbank Baden-
Württemberg oder andere Institute dieser Art?

Ich möchte einfach wissen, was Sie uns hier vorlegen.
An diesen Stellen ist der Antrag in der jetzigen Debatte
für mich nämlich nicht einleuchtend.


Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1719530100

Würden Sie diesem Antrag denn zustimmen, wenn

ich Ihre Fragen zufriedenstellend beantworte?


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das werde ich nachher in meiner Redezeit gerne sa-
gen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719530200

Es ist nicht vorgesehen, dass eine Zwischenfrage der

Beginn eines wunderbaren Dialogs hier im Deutschen
Bundestag ist.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Der Aushandlungsprozess ist hier nicht vorgesehen!)


Herr Brinkhaus, Sie hätten jetzt die Gelegenheit, die
Fragen zu beantworten.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1719530300

Ich möchte diese Fragen beantworten. Ich denke, die

erste Frage beantwortet sich im normalen Verlauf meiner
Rede. – Es geht zunächst um die Verknüpfung der natio-
nalen Restrukturierungsfonds. Ich glaube, die erste
Herausforderung ist es, jetzt einen Restrukturierungs-
fonds aufzubauen, der so groß ist, dass er auch inter-
national tätige Banken umfasst. Dann stellt sich die ganz
einfache Frage: Wie gehen wir beispielsweise mit der
Deutschen Bank um? Zahlt sie dann in einen nationalen
Restrukturierungsfonds ein? Zahlt sie in einen europäi-
schen Restrukturierungsfonds ein? Wie erreichen wir da
die Abgrenzung? Das muss also noch geklärt werden.
Wie gesagt, die anderen Fragen klären sich im Laufe
meiner restlichen Rede. Einfach wieder hinsetzen, Herr
Schick, abwarten und danach zustimmen, wenn es gut
war.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das sieht sehr schlecht mit der Zustimmung aus!)


Fangen wir einmal damit an, was wir der Bundesre-
gierung mit auf den Weg geben wollen. Der erste Punkt
ist: Wir wollen mit dem Konstrukt Europäische Zentral-
bank, die unabhängig ist und die Geldpolitik macht, die
zweite Säule schaffen. Diese zweite Säule ist die Auf-
sicht. Dann kann aber die Zentralbank nicht unabhängig
sein, sondern die Aufsicht erfolgt im Auftrag der Politik,
des Souveräns. Dementsprechend brauchen wir Mecha-
nismen. Es kann nicht sein, dass ein Aufsichtshandeln
erfolgt und die Europäische Zentralbank sagt: Liebes
Europäisches Parlament, du hast hier nichts zu sagen,
weil wir unabhängig sind. – Das heißt, die Regelungen
zur Aufsicht müssen vernünftig formuliert werden. Wir
müssen eine personelle und organisatorische Trennung
erreichen. Das ist uns wichtig.

Ein zweiter wichtiger Punkt: Die Kommission hat
sehr schnell einen Vorschlag vorgelegt. Für uns geht
Qualität vor Schnelligkeit. Wir haben schlechte Erfah-
rungen damit gemacht, wenn Sachen übers Knie gebro-
chen werden. Wir möchten aber, dass hier etwas Gutes
entsteht, weil wir uns keine Fehler und keinen zweiten
Wurf leisten können.

Der dritte für uns wichtige Punkt ist, dass sich das
Ganze nicht nur auf den Euro-Raum erstreckt, sondern

dass es eine Öffnungsklausel für die Länder gibt, die
nicht zum Euro-Raum gehören. Das heißt, es muss eine
Beitrittsmöglichkeit bestehen.

Der vierte Punkt ist allerdings sehr entscheidend. Auf
dem EU-Gipfel am 28. und 29. Juni dieses Jahres hat
man unterschiedliche Vorstellungen von dem gemein-
samen Verbund gehabt. Wir als Deutsche hatten die
Vorstellung: Dieses Projekt wird in die Zukunft hinein-
reichen und wird für die Zukunft stabile Verhältnisse
schaffen. Ich glaube, der eine oder andere südeuropäi-
sche Regierungschef hatte so ein bisschen die Vorstel-
lung: Für meine Problembanken soll auf europäische
Ebene eine Lösung gefunden werden, und ich muss mich
dann nicht mehr selber darum kümmern. – Hier besteht
noch eine Menge Klarstellungsbedarf.

Die Restrukturierungsfonds hatte ich bereits ange-
sprochen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Da ist aber doch nichts drin!)


Wir haben vor zwei Jahren ein Restrukturierungsgesetz
auf den Weg gebracht. Das Restrukturierungsgesetz war
sehr erfolgreich. In den entsprechenden Fonds fließen in
Normaljahren mehr als 1 Milliarde Euro hinein.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Die Normaljahre hat es aber nicht gegeben!)


Die Tatsache, Herr Zöllmer – darauf werden Sie gleich
noch eingehen –, dass in den Fonds weniger Geld geflos-
sen ist, liegt einfach daran, dass wir komischerweise
einige Staatsanleihen abschreiben mussten. Welch
Wunder, dass dabei Banken nicht die Gewinne machen,
die wir uns vorgestellt haben.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das hatten wir Ihnen doch gesagt!)


Wir wussten gleich, dass uns dieses Restrukturie-
rungsgesetz an Grenzen bringt. Das heißt, die Rettung
der Deutschen Bank wäre auf der Grundlage des
Restrukturierungsgesetzes nicht machbar gewesen. Das
Gleiche gilt wahrscheinlich für eine mittelgroße Landes-
bank. Deswegen hat diese Bundesregierung, haben die
Koalitionsfraktionen immer auf eine europäische
Lösung gedrängt. Diese muss kommen.

Ein Punkt bereitet insbesondere den Sparkassen und
Volksbanken viele Sorgen. Das ist: Müssen sie jetzt ihre
Einlagensicherungssysteme in einem großen Einlagen-
sicherungssystem auf europäischer Ebene zusammenfas-
sen? Wir denken, das wäre momentan keine vertrauens-
bildende Maßnahme. Dementsprechend wollen wir die
bewährten nationalen Systeme weiter existieren lassen
und das dann mit einem Kommissionsvorschlag, der
bereits vorliegt, entsprechend abstimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Am allerwichtigsten ist, dass die Aufsicht das Subsi-
diaritätsprinzip und das Proportionalitätsprinzip beach-
tet. Was bedeutet das Subsidiaritätsprinzip? Herr Schick,
bitte drehen Sie sich wieder zu mir um, ich komme jetzt
zu Ihrer letzten noch offenen Frage: Was sind systemi-
sche Banken, die europäisch überwacht werden sollen?





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


Das verändert sich von Jahr zu Jahr. Systemische Ban-
ken sind Banken, die ein derartiges Risiko verursachen,
dass das europäische Finanzsystem beschädigt werden
kann. Es muss von Jahr zu Jahr neu entschieden werden,
wer dazugehört. Vielleicht sind das einmal 25 Banken,
vielleicht sind das auch einmal 50 Banken.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Das ist im Prinzip das Entscheidende.

Wir wollen, dass Banken, die europäisch systemisch
sind, aber auch Banken, die dem europäischen Steuer-
zahler zur Last fallen, von der EZB zentral überwacht
werden. Wir wollen aber auf der anderen Seite – auch
das heißt Subsidiarität –, dass Dinge, die hier in
Deutschland erledigt werden können, weiterhin von der
nationalen Aufsicht erledigt werden. Das wollen wir der
Bundesregierung mit auf den Weg geben.

Proportionalität heißt in diesem Bereich, dass unter-
schiedliche Dinge auch unterschiedlich behandelt
werden. Das heißt, die Volksbank Kaunitz bei mir im
Wahlkreis muss nicht mit den gleichen Werkzeugen wie
die Deutsche Bank in Frankfurt, die Santander in Madrid
oder andere Banken überwacht werden. Auch das muss
im europäischen Verhandlungsprozess berücksichtigt
werden. Wir sind optimistisch, dass wir mit dieser Leit-
linie, die wir der Bundesregierung mitgeben, erfolgreich
sein werden und ein gutes System bekommen werden.

Jetzt komme ich zu einem weiteren Punkt, den ich mir
nicht verkneifen kann. Peer Steinbrück hat ein großes
Papier vorgelegt.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Ja! Ganz toll!)


Ich habe großes Verständnis dafür. Peer Steinbrück will
Kanzlerkandidat der SPD werden. Er muss eine Bewer-
bungsmappe abgeben.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Da sind aber keine guten Zeugnisse drin!)


Normalerweise müsste er sich auch an der Kanzlerin
abarbeiten. Das ist aber momentan schlecht. Die Kanzle-
rin hat viel Vertrauen in der Bevölkerung. Deshalb hat er
sich ein einfacheres Ziel gesucht: die Banken. Das kann
ich verstehen. Sie sind momentan tatsächlich ein einfa-
ches Ziel. Das ist in Ordnung, auch wenn es nicht beson-
ders originell ist.

Er hat sich dann, wie ich heute gelernt habe, nach
zweijähriger Klausur entschieden, ein Sammelsurium
von Maßnahmen aufzuschreiben, das im Wesentlichen
bis auf einige wenige kleine Ausnahmen in einer Auf-
zählung von Maßnahmen besteht, die wir bereits umge-
setzt haben,


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Ja, genau! Im Gegensatz zu ihm, als er Minister war! – Manfred Zöllmer [SPD]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)


die momentan in der Umsetzung sind oder die wir mo-
mentan intensiv international diskutieren, weil es keinen

Zweck hat, sie allein auf nationaler Ebene durchzufüh-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir freuen uns darüber, dass wir eine große Überein-
stimmung haben. Vielen Dank. Auch das ist nicht zu
beanstanden, aber es ist ebenfalls wenig originell. Ich
beanstande es auch nicht, dass jemand, der sich in die
Finanzmarktdiskussion, in der wir alle hier in den letzten
drei Jahren hart gearbeitet und gerungen haben, nicht
eingeschaltet hat, jetzt auf einmal wie Kai aus der Kiste
kommt und sagt: Ich habe jetzt eine Lösung gefunden. –
Es ist schön, dass er sich wieder einbringt. Auch das ist
nicht zu beanstanden.

Trotzdem ist das Ganze in gewisser Weise auch eine
Zumutung. Es ist deswegen eine Zumutung, weil er
komplett verkennt, was in den letzten drei Jahren pas-
siert ist. Wir haben in den letzten drei Jahren, wenn ich
alle Anträge und Gesetze zusammenzähle, über 20 Pro-
jekte gehabt. Wir haben über 50 Debatten geführt und
unglaublich viele Berichterstattergespräche, Anhörun-
gen, Symposien und Ähnliches durchgeführt. Wo war
denn Peer Steinbrück in dieser Zeit?


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Er hat für viel Geld Vorträge gehalten!)


Ich wende mich jetzt den Kollegen von der SPD zu.
Ganz ehrlich, irgendwie ist das für Sie doch auch ein
bisschen unangenehm. Sie mühen sich drei Jahre lang
ab, und jetzt kommt jemand, der sagt: Das ist alles nichts
gewesen; ich hab’s jetzt. – Ich würde mir ein bisschen
veralbert vorkommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Dass Sie sich veralbert vorkommen, ist auch richtig!)


Das muss man an dieser Stelle einfach sagen.

Was im Grunde genommen auch wenig lustig ist und
so nicht geht, ist die Tatsache, dass der gute Herr
Steinbrück aufgrund seiner guten Erkenntnisse, die er
gewonnen hat, jetzt meint, er hat den großen grünen
Knopf gefunden, und wenn er auf diesen Knopf drückt,
dann wird alles gut. Dieser große grüne Knopf sind die
Trennbanken.

Meine Damen und Herren, wir reden mit unseren
Partnern in Großbritannien und in den USA über das
Trennbankensystem. Wir haben im Übrigen auf EU-
Ebene eine Kommission unter Führung des finnischen
Notenbankchefs Liikanen auf den Weg gebracht, der uns
dazu Vorschläge vorlegen wird. Ich will nicht sagen,
dass Trennbanken grottenfalsch sind. Aber eines ist
Fakt: Die Krise 2008 wäre durch ein Trennbanken-
system nicht verhindert worden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Fakt ist auch: Ob es die nächste Krise verhindert oder
verschärft, wissen wir ebenfalls nicht. Das heißt, man
kann über die Sache diskutieren und trefflich darüber
streiten, sie aber als Königsweg darzustellen, durch den
alles gut werden soll, halte ich für etwas zu ambitioniert.





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


Der letzte Punkt ärgert mich wirklich, weil es ein
bisschen zu viel Volksverdummung ist,


(Zuruf von der SPD: Darin sind Sie ja Meister!)


nämlich wenn ein Papier verfasst wird, in dem sinn-
gemäß steht: „Wir machen jetzt das und das und das, und
dann wird alles gut“, und der Eindruck erweckt wird:
Wenn ich in der Regierung bin, dann werde ich das in-
nerhalb von zwei oder drei Wochen umsetzen. – Das ist
doch im Grunde genommen das, was gemacht wird. Die
ganzen Mühen, die da drinstecken, wie die internationale
Abstimmung, weil wir wissen, dass Finanzmarktregulie-
rung auf nationaler Ebene nicht läuft, werden komplett
negiert. Jetzt kommt jemand mit seinen Ideen, und es
wird so getan, als würde das sofort umgesetzt und alles,
was vorher gemacht worden ist, wäre Mist.

Wenn das dann nicht klappt, dann wissen wir, wie das
Ganze bei Herrn Steinbrück weitergeht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Dann kommt die Kavallerie!)


– Du hast es richtig gesagt: Dann kommt die Kavallerie,
genauso wie bei der Schweiz.

So kann man keine Politik machen. Dementsprechend
kann ich Ihnen nur eines raten: Seien Sie vorsichtig mit
dem, was Sie versprechen. Sie werden es nicht halten
können.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719530400

Manfred Zöllmer hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1719530500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit der Umsetzung der EU-Leerverkaufsverordnung ge-
hen wir grundsätzlich einen richtigen Regulierungs-
schritt. Denn seit der Finanzmarktkrise wissen wir, wie
schädlich Leerverkäufe sein können. Sie haben ganz we-
sentlich zu schweren Kurseinbrüchen beigetragen und
dienen letztendlich nichts anderem als Zockerei und sind
damit ein Brandbeschleuniger in der Finanzkrise. Die
Bundesregierung bzw. die EU setzt damit nur das end-
lich um, was der ehemalige Bundesfinanzminister Peer
Steinbrück, den Sie eben erwähnt haben


(Lachen bei der FDP)


– ich würde da nicht lachen –, bereits 2008, auf dem
Höhepunkt der Finanzkrise, gemacht hat, als er im
Herbst 2008 ungedeckte Leerverkäufe untersagte.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das war Angela Merkel!)


Nach einem eineinhalbjährigen Verbot war es die
schwarz-gelbe Regierung, die diese Leerverkäufe dann
wieder erlaubt hat.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das wollt ihr nicht hören!)


Erst im Mai 2010 besann man sich und verbot wieder
bestimmte hochspekulative Finanztransaktionen.

Allein dieses Beispiel, Herr Brinkhaus, belegt sehr
deutlich das ganze unentschlossene Hin und Her dieser
Bundesregierung, der schwarz-gelben Koalition, wenn
es um Fragen der Regulierung der Finanzmärkte geht.
Häufig versuchen Sie, sich einfach mit virtueller Regu-
lierung aus der Affäre zu ziehen, in der Hoffnung, die
Menschen würden das schon nicht merken, weil wir es
hier nun wirklich mit schwer verdaulicher Kost zu tun
haben.

Sie, Herr Brinkhaus, und der Kollege Flosbach haben
sich bei der Vorstellung des Steinbrück-Papiers zur
Regulierung öffentlich echauffiert. Sie haben es hier ge-
rade noch einmal getan. Der Kollege Flosbach hat ge-
sagt, seit drei Jahren arbeite die Regierung an der Regu-
lierung der Finanzmärkte.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: So ist es auch!)


Arbeit allein genügt aber nicht. Es müssen auch die rich-
tigen Ziele verfolgt werden.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Und Taten vor allen Dingen!)


Wenn von Frau Merkel als Ziel Ihrer Politik ausgegeben
wird, dass Sie eine marktkonforme Demokratie wollen,
dann kann bei der Regulierung natürlich nichts Vernünf-
tiges herauskommen.


(Beifall bei der SPD)


Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele. In dem Teil des
vorliegenden Gesetzentwurfs, den Sie verändern durften,
sehen Sie eine geteilte Zuständigkeit für den Erlass zeit-
lich befristeter Leerverkaufsverbote vor. Sie haben das
dankenswerterweise ausgeführt. Der Börsenvorstand
soll für Verbote zuständig sein. Damit haben wir insge-
samt ein Problem. Nicht nur der Bundesrat hat in seiner
Stellungnahme eine einheitliche Zuständigkeit der BaFin
gefordert. Auch in der Anhörung ist von den meisten
Sachverständigen genau dieser Punkt kritisch beleuchtet
worden.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Aber nicht von allen!)


Warum? Sie öffnen damit Schlupflöcher für Spekulan-
ten. Das ist nichts anderes als Regulierung light. Denn
wenn die örtliche Börsenaufsicht die gefährliche Zocke-
rei an einer Börse verbietet, besteht für diejenigen, die
zocken, immer noch die Möglichkeit, auf andere Börsen-
plätze auszuweichen. Dieses Schlupfloch haben Sie
offen gelassen. Und Sie wissen das. Damit wird der
Zweck der Leerverkaufsverbote, die Unterbindung des
Leerverkaufs, im Zweifelsfalle in einer Krisensituation
ad absurdum geführt.


(Beifall bei der SPD)


Das ist Regulierung light. Sie sehen: Arbeit allein genügt
nicht. Man muss auch die richtigen Maßnahmen ergrei-
fen.





Manfred Zöllmer


(A) (C)



(D)(B)



(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Da hat aber jemand was gesucht, damit er Nein sagen kann!)


Nun regen Sie sich über die Vorschläge zur Banken-
trennung auf. Als ob die Bankentrennung das Übel wäre
und nicht die Zockerei! Sie haben doch bei Ihren Maß-
nahmen, die Sie selbst immer hochjubeln, weil es sonst
keiner tut, scheunentorgroße Schlupflöcher bei den Ban-
kerboni offen gelassen. Ich erinnere an die Commerz-
bank-Vorstände, die sich dann bedienen konnten. Sie ha-
ben dazu gesagt: Das sieht das Gesetz nun einmal vor.

Sie haben versprochen, die Banken an den Kosten der
Krise zu beteiligen. Was ist geschehen? Nichts. Sie
wollen jetzt den Hochfrequenzhandel regulieren, habe
ich gelesen, aber ohne eine Haltefrist. Damit wird die
Regulierung wieder vollständig ausgehebelt. Denn den
Hochfrequenzhandel können Sie nur dann eindämmen,
wenn Sie auch eine Haltefrist einführen.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das ist der nächste Papiertiger!)


Restrukturierungsfonds: Sie haben eben selbst gesagt,
dass da nichts im Topf ist.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Doch!)


Das heißt, in einer Krisensituation haben wir keine
Munition. Das, was Sie gemacht haben, wirkt nicht.


(Florian Toncar [FDP]: Was hätten Sie denn gemacht?)


Wir haben es Ihnen gesagt. Finanztransaktionsteuer:
Was ist daraus geworden? Bisher nichts.

Wie plan- und hilflos diese Koalitionsfraktionen häu-
fig agieren, sieht man auch an der heutigen Tagesord-
nung. Wir sollten hier eigentlich eine halbe Stunde über
Leerverkäufe diskutieren. Flugs haben Sie noch einen
Antrag zur Bankenunion untergeschoben. Als ob das ein
völlig unwichtiges Thema ohne große Relevanz wäre!


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)


Wir wissen: Das Gegenteil ist der Fall. Die Relevanz die-
ses Themas ist klar. Es ist für die Euro-Rettung und die
zukünftige Struktur der Finanzmärkte von entscheidender
Bedeutung, wie wir diese Probleme lösen. Das scheint al-
len klar zu sein, nur nicht den Koalitionsfraktionen. Sie
wollen noch nicht einmal Redezeit dafür opfern und pres-
sen das in eine halbstündige Debatte. – Lieber Herr Kol-
lege Brinkhaus, wenigstens jetzt könnten Sie zuhören. –
Wie peinlich ist es eigentlich, wenn Sie dies noch nicht
einmal zu einem eigenständigen Tagesordnungspunkt
machen?


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Es steht Ihnen ja frei, das auf die Tagesordnung zu setzen!)


Kann man noch deutlicher machen, wie gering Ihr Ge-
staltungswille bei zentralen Zukunftsfragen Deutsch-
lands und Europas eigentlich ist? Ich kann das nicht ver-
stehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Gibt es denn einen eigenen Antrag der SPD dazu?)


Warum haben Sie nicht den Versuch unternommen,
sich in wesentlichen Fragen der zukünftigen Finanz-
marktpolitik in Europa mit den anderen Fraktionen we-
nigstens abzustimmen, wenigstens einmal ein Gespräch
zu führen, um herauszufinden, ob es nicht eine gemein-
same Positionierung gibt? Es geht doch um wichtige
Fragen. Die Sparkassen beispielsweise schalten ganzsei-
tige Anzeigen. Es geht um fundamentale deutsche Inte-
ressen. Aber Sie versuchen, dieses Thema totzumachen.
Ich sage Ihnen: So geht es nicht.

Wir haben jetzt nicht die Gelegenheit, auf einzelne In-
halte und Punkte, die Sie angesprochen haben, einzuge-
hen, weil Sie mit Ihrem Vorgehen eine Debatte über die-
ses Thema unmöglich machen. Ich sage Ihnen: Wir
werden uns in der Abstimmung über den Gesetzentwurf
zum Thema Leerverkäufe enthalten – warum, habe ich
bereits begründet – und Ihren Antrag ablehnen. In dieser
Form geht es nicht. Das erinnert mich an den ehemaligen
Trainer von Bayern München Trapattoni, der einmal ge-
sagt hat: Flasche leer!


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Genau!)


Ich sage Ihnen: Genau das trifft auf diese Koalition wirk-
lich zu.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719530600

Der Kollege Dr. Volker Wissing hat für die FDP-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1719530700

Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin-

nen und Kollegen! Herr Kollege Zöllmer, die Gegenwart
und die Zukunft kann man gestalten. Mit seiner Vergan-
genheit muss man leben. Ich weiß, dass Sie als Sozial-
demokraten gerne auf die Ära sozialdemokratischer
Finanzminister in der Form zurückblicken würden, dass
Sie mit Stolz auf deren knallharte Regulierungspolitik
verweisen könnten. Ihre Vergangenheit sieht aber anders
aus, und mit der müssen Sie leben.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber nicht der Tagesordnungspunkt!)


Die Zeit, als die Sozialdemokratie Verantwortung für das
Finanzressort in Deutschland trug, war geprägt von einer
Politik der Deregulierung der Finanzmärkte, die zusam-
men mit den Grünen betrieben wurde.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Was habt ihr denn gefordert?)






Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


Als Peer Steinbrück, der heute den Eindruck zu er-
wecken versucht, er sei ein Bändiger der Finanzmärkte,
Regierungsverantwortung hatte, hat er sich mit Finanz-
marktregulierung nicht befasst.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist wieder heiße Luft bei Ihnen! – Günter Gloser [SPD]: Märchenerzähler!)


Nachdem er dann die Regierungsverantwortung verloren
hatte, die Finanzkrise eskaliert war und die christlich-
liberale Koalition Verantwortung übernommen hat, hat
Finanzmarktregulierung in Deutschland stattgefunden.
Ratingagenturen wurden unter Aufsicht gestellt – CDU/
CSU und FDP. Leerverkäufe wurden verboten – CDU/
CSU und FDP. Gesetz zur Beschränkung des Hochfre-
quenzhandels – CDU/CSU und FDP.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Welches Gesetz denn? Sie haben ja noch nicht einmal eines eingebracht!)


Die Reihe können Sie fortsetzen: Bankenrestrukturie-
rungsfonds – CDU/CSU und FDP. Beteiligung der Ban-
ken an den Kosten der Krise – CDU/CSU und FDP.
Schaffung von Aufsichtsstrukturen auf europäischer
Ebene – CDU/CSU und FDP. Sie waren jedenfalls nie
dabei. Sie haben auch nie eigene Vorschläge gemacht.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was?)


Nun kommt Ihr ehemaliger Finanzminister, der Regu-
lierungsverweigerer in Deutschland, wie Kai aus der
Kiste – so hat es der Kollege Brinkhaus zu Recht formu-
liert – und sagt: Wir müssen einen großen Katalog an
Regulierungsmaßnahmen auf den Weg bringen.


(Günter Gloser [SPD]: Das glauben Ihnen noch nicht einmal Kinder, was Sie erzählen! So ein Märchenonkel!)


Dabei hat er noch nicht einmal bemerkt, dass sein Forde-
rungskatalog genau das enthält, was CDU/CSU und FDP
umgesetzt haben; er aber nicht, als er in der Regierung
war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was Sie machen, ist deswegen nichts anderes als
Regulierungsklamauk. Sie legen die Menschen, die hier
sitzen oder zuschauen, herein, indem Sie ihnen die
Geschichte von der Sozialdemokratie als Finanzmarkt-
regulierer erzählen. Dabei haben Sie mit der Regulie-
rung der Finanzmärkte nichts, aber auch gar nichts zu
tun. Regulierungspolitik ist das Werk der christlich-libe-
ralen Koalition.


(Günter Gloser [SPD]: Da lachen ja die Hühner!)


Wir haben Verantwortung und Haftung wieder zusam-
mengeführt. Das ist die Leistung dieser Bundesregie-
rung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wie ich sehe, möchte Herr Schick eine Zwischen-
frage stellen. Wenn die Uhr angehalten wird, lasse ich
sie zu. – Bitte, Herr Schick.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, die Präsidentin erteilt das Wort!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke. – Ich will es konkret machen, um die Position
der Koalition zu verstehen. Welche Banken sollen euro-
päisch beaufsichtigt werden?


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das habe ich erklärt!)


– Nein, das war nicht eindeutig. – Es geht mal um 25,
mal um 50 Banken. Es stellt sich konkret die Frage, wel-
che es sein sollen. Das ist die große Streitfrage. Das wird
aus Ihrem Antrag nicht deutlich. Ich möchte wissen, ob
nach dem Willen der Koalitionsfraktionen Banken wie
die Landesbank Berlin mit einer Bilanzsumme von
129 Milliarden Euro, die Berlin Hyp mit einer Bilanz-
summe von 38 Milliarden Euro oder die Sparkasse
KölnBonn mit einer Bilanzsumme von 29 Milliarden
Euro europäisch oder national beaufsichtigt werden sol-
len. Wie sollen wir den Antrag verstehen?

Meine zweite Frage ist, wie das mit den nationalen
und europäischen Restrukturierungsfonds geplant ist.
Ich habe den Kollegen Brinkhaus so verstanden, dass es
einen europäischen Restrukturierungsfonds und natio-
nale Restrukturierungsfonds geben soll. Im Antrag ist
nur von nationalen Restrukturierungsfonds die Rede. Ich
würde gerne verstehen, was die Verhandlungslinie der
Koalition in Bezug auf dieses System von Restrukturie-
rungsfonds ist.


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1719530800

Zunächst zu Ihrer Frage, welche Banken auf europäi-

scher Ebene und welche auf nationaler Ebene beaufsich-
tigt werden sollen. Sie können das nicht so machen, wie
sich das Peer Steinbrück in seiner Welt vorstellt. Danach
werden alle Banken, die heute systemrelevant sind, auf
europäischer Ebene beaufsichtigt und alle anderen auf
rein nationaler Ebene; denn – das ist in der Debatte heute
schon gesagt worden – das kann sich verändern. Es gibt
Banken, die sich von nicht systemrelevanten Banken zu
systemrelevanten Banken entwickeln können.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Wo ist das Problem?)


Das war in Deutschland bei der Hypo Real Estate der
Fall. Das hätte ein früherer Finanzminister eigentlich
wissen können, aber mit den Dingen hat er sich schon
damals nicht richtig beschäftigt.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)


Wenn Sie sehen, dass man sich damals bei der Hypo
Real Estate monatelang in Deutschland gestritten hat, ob
die Bank systemrelevant ist oder nicht, dann erkennen
Sie auch, dass es keinen Sinn macht, dass man einen kla-
ren Schnitt macht und sagt: Die Banken, die heute sys-





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


temrelevant sind, werden europäisch beaufsichtigt, die
anderen nur national. – Denn die Instanz, die für die
Kontrolle systemrelevanter Banken zuständig ist, muss
auch die Banken im Blick haben, die jederzeit systemre-
levant werden können. Genau das steht in unserem An-
trag. Wir wollen die Konzentration der europäischen
Aufsicht auf die Systemrelevanz und die grenzüber-
schreitende Tätigkeit, wir wollen aber auch, dass sie sys-
temische Risiken jederzeit aufgreifen kann.

Das muss jetzt – wir befinden uns ja nicht in einem
Gesetzgebungsverfahren, sondern es handelt sich bei
unserer Vorlage um einen Antrag – mit den europäischen
Partnern institutionell so auf den Weg gebracht werden,
dass es den Anforderungen des Deutschen Bundestages
genügt. Deswegen ist es wichtig, dass dieser Antrag
heute beraten wird. Sie können auch einen eigenen An-
trag einbringen, wenn Sie eigene Vorstellungen haben.
Peer Steinbrück hat bisher nur ein Papier für die Medien
mit viel Klamauk gemacht, aber einen eigenen Antrag
der SPD gibt es nicht. Vielleicht kommt einer von den
Grünen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Günter Gloser [SPD]: Oberlehrerhaft! Also wirklich!)


Jetzt komme ich zu der zweiten Frage, der nach den
Restrukturierungsfonds. Peer Steinbrück lässt hier von
seinen sozialdemokratischen Freunden vortragen, der
deutsche Restrukturierungsfonds sei nicht ausreichend
gefüllt. Gleichzeitig schlägt er vor, dass der Hauptzahler
in den deutschen Fonds künftig in einen europäischen
Restrukturierungsfonds einzahlen soll. Darüber müssen
Sie sich einmal mit Herrn Steinbrück unterhalten. Das
passt nämlich nicht zu dem, was Sie, Herr Zöllmer, hier
vorgetragen haben.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Doch!)


Dieser europäische Restrukturierungsfonds macht
doch nur dann Sinn, wenn es eine auf europäischer
Ebene exekutiv handelnde Instanz gibt, die in einer Ret-
tungsnacht – wir wissen beide, wie so etwas abläuft; wir
waren zusammen im Untersuchungsausschuss zur Hypo
Real Estate – auch handeln kann. Einen europäischen
Fonds zu schaffen und in diesen die Hauptsummen ein-
zuzahlen, aber am Ende niemanden zu haben, der in
einer Rettungssituation darüber entscheidet, wie restruk-
turiert wird, das ist Peer Steinbrücks Politik. Wir haben
da andere Vorstellungen. Wir wollen einen handlungsfä-
higen Staat haben, damit nicht am Ende der Steuerzahler
wieder die Zeche bezahlt, wie es bei dem Konzept von
Peer Steinbrück der Fall ist; die Zeche soll vielmehr aus
dem Restrukturierungsfonds bezahlt werden, den die
Banken gespeist haben. Das verbirgt sich hinter dem An-
trag. Er dient dem Schutz der Steuerzahler, damit sie
nicht wieder sozialdemokratischer Deregulierungspolitik
preisgegeben werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Noch mehr SPD! Noch mehr Steinbrück! Sie können ruhig weiter werben!)


– Man muss die Dinge klarrücken. Es hilft nichts, wenn
Sie sich die Welt schönreden. Noch einmal: Sie müssen
mit dieser Vergangenheit leben. Sie hatten die Verant-
wortung und haben sie leider nicht wahrgenommen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Sie müssen mit 3 Prozent leben!)


Das, was wir in dem Bereich Leerverkaufsverbot auf
den Weg gebracht haben, ist eine Blaupause für Europa.
Jetzt geht es darum, dass die Beschlüsse, die auf europäi-
scher Ebene gefasst worden sind, so konkretisiert wer-
den, dass sie den Anforderungen genügen, die wir für
unser Land für wichtig und erforderlich halten. Das be-
deutet für die europäische Aufsicht, dass es eine Einbe-
ziehung der Europäischen Zentralbank geben kann, ge-
nauso wie wir national die Deutsche Bundesbank mit
ihrem Sachverstand und ihrer Kompetenz in die Beauf-
sichtigung einbeziehen. Aber selbstverständlich brau-
chen wir eine strikte Trennung zwischen Aufsichtspoli-
tik und Geldpolitik, und das kommt in diesem Antrag
klar zum Ausdruck. Deswegen empfehle ich Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, diesem Antrag zuzustimmen.

Dieser Antrag ist wichtig. Er stellt wichtige Weichen
für eine solide, eine schlagkräftige europäische Aufsicht.
Deswegen ist keine Eile geboten, sondern Sorgfalt.
Wichtig ist auch, der Bundesregierung Rückendeckung
zu geben, sie in ihrer Haltung zu stärken, dass es nicht
darauf ankommt, jetzt ganz schnell eine europäische
Aufsicht zu schaffen, sondern darauf, eine solide, sorg-
fältig verhandelte europäische Aufsichtsinstanz auf den
Weg zu bringen. Darauf kommt es an.

Die weiteren Punkte sind schon genannt worden. Wir
wollen keine europäische Einlagensicherung, sondern
wir wollen nationale Verantwortung für die Einlagen-
sicherung. Wir wollen keine Missachtung des Subsidia-
ritätsprinzips, zugleich jedoch die systemische Kontrolle
durch die europäische Instanz jederzeit gewährleisten.
Auch das kommt in dem Antrag zum Ausdruck. Wir leh-
nen außerdem – das habe ich schon deutlich gemacht –
die Schwächung der nationalen Restrukturierungsfonds,
wie Peer Steinbrück sie will, ab.

Ich glaube, dass wir mit diesem Konzept den richti-
gen Ansatz haben. Es wird nicht leicht sein, eine euro-
päische Struktur aufzubauen; aber es ist notwendig. Wir
sind es den Menschen schuldig, die in der Vergangenheit
die Defizite der Aufsicht erlebt haben.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Jetzt sagen Sie noch mal „Peer Steinbrück“! – Günter Gloser [SPD]: „Peer Steinbrück“, noch einmal!)


– Sie können ja darüber lächeln. Aber die Leute können
sich noch gut daran erinnern: Damals gab es keinen
Finanzminister, der verhindert hätte, dass die Steuerzah-
ler einspringen müssen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: An Ihre Positionen können wir uns ganz doll erinnern!)


Wir stehen hinter der Bundesregierung. Wir unterstüt-
zen sie bei ihren Bemühungen auf europäischer Ebene.





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)



(Günter Gloser [SPD]: Steinbrück! – Weitere Zurufe von der SPD)


Wir wissen dieses Projekt bei Bundesfinanzminister
Schäuble in guten Händen. Wir wissen, dass die Bundes-
kanzlerin eine außerordentlich starke Durchsetzungs-
kraft auf europäischer Ebene hat. Nach Annahme dieses
Antrags wird sie mit voller Rückendeckung des Deut-
schen Bundestages auf europäischer Ebene verhandeln
können. Wir werden eine gute Aufsicht auf europäischer
Ebene bekommen, genauso wie wir mit dieser Regie-
rung und dieser Koalition die beste nationale Finanz-
marktregulierung bekommen haben, die wir jemals in
Deutschland hatten. Was Sie als Lücke hinterlassen
haben, konnten wir durch Kompetenz ausfüllen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719530900

Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719531000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Kollege Zöllmer hat bereits darauf hingewiesen,
dass wir durch die kurzfristige Einbringung eines neuen
Antrags auf einmal zwei völlig unterschiedliche The-
menfelder zu behandeln haben. Ich will mich jetzt auf
diesen Antrag zur sogenannten Bankenunion konzentrie-
ren, wobei ich keinen Hehl aus meiner Meinung zu die-
sem Begriff mache. In meiner Fraktion werde ich immer
gefragt, ob damit die bankenfreundliche Unionsfraktion
mit ihrer Lobbypolitik für Großbanken und den entspre-
chenden Spenden, die man bekommt, gemeint ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: Was antworten Sie denn dann?)


Der Begriff „Bankenunion“ ist also völlig fehl am Platz.
Mit diesem Begriff meint man aber in der Tat, dass ein
neues, gemeinsames europäisches System aus Aufsicht,
Einlagensicherung und Krisenmechanismen für die eu-
ropäischen Banken gefunden werden soll.

Das Ganze ist kurzfristig verabredet worden in der
Nacht vom 28. auf den 29. Juni, als es darum ging, ob
auch spanische Banken Mittel aus dem ESM bekommen.
Da war die deutsche Verhandlungsposition: Das geht
nur, wenn es bis zum Jahresende eine europäische Ban-
kenunion gibt. Dazu gibt es einen Vorschlag der Kom-
mission, der in der Tat völlig unausgereift ist. Es war ge-
nau diese Bundesregierung, die auf dem nächsten Gipfel
gesagt hat: Das muss jetzt wieder weg. Das muss auf die
lange Bank geschoben werden, weil in der Tat völlig un-
klar ist, was hier wie in welcher Institution geregelt wer-
den soll. – Das macht noch einmal deutlich, dass es drin-
gend erforderlich ist, dass wir darüber im Bundestag
ausführlich diskutieren, statt uns in einer Sofortabstim-
mung, quasi am Finanzausschuss vorbei, mit diesem
Themenfeld zu beschäftigen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


In der Tat, wir brauchen eine solche europäische Ban-
kenaufsicht. Aber wo die Aufsicht dann wirklich ange-
siedelt ist, ob sie bei der EZB oder bei der Europäischen
Bankaufsichtsbehörde, also bei der EBA, richtig ange-
siedelt ist, das muss man in Ruhe diskutieren. Es gibt auf
europäischer Ebene nämlich genau die gleichen Pro-
bleme wie in Deutschland. Im Koalitionsvertrag haben
Sie ja zunächst festgelegt, die nationale Bankenaufsicht
solle bei der Bundesbank angesiedelt werden. Doch
dann haben Sie andere Konsequenzen gezogen: Letztlich
haben Sie eine entsprechende Aufsicht bei der BaFin
organisiert.

Wir brauchen kurzfristig die Rekapitalisierung einiger
Banken aus gemeinsamen Mitteln, zum Beispiel über
den ESM. Aber das darf aus unserer Sicht natürlich nicht
mit völlig verfehlten Auflagen für die Staaten verbunden
sein,


(Beifall bei der LINKEN)


und es muss in der Tat von den Verursachern der Krise
finanziert werden. Die Stichworte sind heute Morgen ge-
fallen: Vermögensteuer, Vermögensabgabe, Finanztrans-
aktionsteuer, Abgabe systemrelevanter Banken.

Wir müssen also dringend Maßnahmen ergreifen,
aber diese Maßnahmen werden nicht ausreichen. Neben
einem Bankenrettungsfonds müssen wir auch auf ein Zu-
rechtstutzen der Größe der Banken abstellen und Banken
massiv verkleinern, um so das Systemrisiko herunterzu-
fahren. Aus unserer Sicht – das wurde angesprochen –
ist der Vorschlag, Trennbanken einzuführen,


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wahrscheinlich staatliche!)


noch unzureichend. Ich glaube nämlich, man muss nicht
nur trennen, sondern bestimmte Geschäfte komplett un-
terbinden, erst entsprechend zusammenschrumpfen und
letztendlich verbieten.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD])


Das heißt aus unserer Sicht – und das ist die Grund-
idee –, dass ein Finanz-TÜV einzurichten ist. Nur die
Bankgeschäfte sind dann erlaubt, die vorher genehmigt
worden sind, weil sie relevant, systematisch und sinnvoll
sind. Das muss sozusagen im Mittelpunkt stehen.


(Beifall bei der LINKEN)

Ganz kurz zum EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetz.

Natürlich ist dies vom Prinzip her eine vernünftige Akti-
vität – Sie haben sich auch lange genug und oft genug
dafür entsprechend gelobt –, aber das Gesetz ist unzurei-
chend; Kollege Zöllmer hat auf viele Fehler hingewie-
sen. Es regelt schließlich nur einen kleinen Bruchteil des
gesamten Finanzmarktgeschäftes. Insofern gilt: Das
Haus brennt, aber Sie erlassen erst einmal Rauchverbote.
Das ist unzureichend, und deswegen werden wir uns in
diesem Fall auch enthalten. Die Grundrichtung stimmt
zwar, aber es reicht leider nicht.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719531100

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der

Kollege Dr. Gerhard Schick das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwei Punkte sind anzusprechen. Das eine ist das Thema
Leerverkäufe, das andere die Bankenunion.

Kurz zum ersten Thema: Es ist richtig, ungedeckte
Leerverkäufe zu verbieten; dieses findet jetzt bei Staats-
anleihen statt. Deshalb sind weitere Schritte bei anderen
Finanzprodukten notwendig. Die Verordnung auf euro-
päischer Ebene stellt mehr Transparenz her, und sie gibt
auch nationaler und europäischer Aufsicht entspre-
chende Befugnisse, um einzugreifen. Das ist richtig, und
wir Grünen haben uns im Europaparlament mit dem grü-
nen Berichterstatter Pascal Canfin aktiv dafür eingesetzt,
dass es ein generelles Verbot ungedeckter Leerverkäufe
gibt und dass es auch klare Regeln für die Eindeckungs-
verfahren bei Leerverkäufen gibt, sodass Anreize für
schädliche Spekulationen verhindert werden.

Das sind wichtige Schritte, die auf europäischer
Ebene unter aktiver grüner Mitwirkung vorangebracht
worden sind. Jetzt haben wir in Deutschland die Umset-
zung vor uns. Es ist wichtig, dass es jetzt vorangeht.
Aber der Fehler bleibt natürlich, dass Sie nicht die
BaFin, die Finanzaufsicht, damit beauftragen, das umzu-
setzen, sondern dass es den Börsen überlassen wird.

Sie machen immer wieder den Fehler, dass Sie auf die
eigeninteressierten Marktakteure vertrauen. Damit ha-
ben Sie genau das nicht aus der Krise gelernt, was in vie-
len Diskussionen – ich erinnere mich an einige Reden
hier – immer wieder gesagt worden ist: Die Selbstregu-
lierung, auf die man vertraut hat, hat nicht funktioniert.
Daraus muss man Konsequenzen ziehen und muss zuse-
hen, dass es wirklich unabhängige staatliche Aufsichts-
behörden gibt, die in den Markt eingreifen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/CSU])


Zum zweiten Punkt, der Bankenunion. Was Sie uns
heute vorgelegt haben, ist offensichtlich sehr kurzfristig
unter großer Hektik entstanden, sodass wir dieses Thema
heute in einer Art und Weise behandeln, die diesem
Thema und seiner Bedeutung nicht angemessen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist nicht nur so, dass es kurzfristig gemacht wurde.
Vielmehr waren beide Redner der Koalition nicht in der
Lage, die entscheidenden Fragen hier zu beantworten.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Na, na, na! Sie sind nicht in der Lage, zuzuhören! – Gegenruf des Abg. Manfred Zöllmer [SPD]: Natürlich!)


Die erste Frage, die ich gestellt habe, lautete: Wie se-
hen die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten für
das Europäische Parlament aus? Man muss doch eine
Verhandlungslinie haben, wenn man der Bundesregie-
rung irgendetwas mitgibt. Das kann doch nicht ein biss-
chen Blubb-blubb sein. Vielmehr besteht die zentrale
Herausforderung darin, dass trotz dieser neuen Mecha-
nismen in Europa die Demokratie nicht auf der Strecke
bleibt.

Deswegen will ich die Frage für unsere Fraktion be-
antworten: Wir wollen, dass das Europäische Parlament
bei den Stellenbesetzungen im Bereich Bankenaufsicht
konkrete Mitwirkungsrechte erhält. Wir wollen, dass die
Europäische Zentralbank im Bereich Bankenaufsicht
dem Europäischen Parlament Auskünfte geben muss,
also eine klare Auskunftspflicht besteht, sodass es nicht
im Ermessen der Zentralbank steht, was sie erzählt. Wir
wollen, dass es die Pflicht zur regelmäßigen Berichter-
stattung gibt. Das muss ganz klar festgelegt werden. Es
wäre notwendig, dies in einem solchen Antrag ganz klar
darzustellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Steht doch drin! Demokratische Kontrolle!)


– Das steht da so allgemein, dass Sie alles Mögliche da-
runter fassen können.


(Florian Toncar [FDP]: Wir wollen auch alles Mögliche darunter fassen!)


Die zweite Frage lautete: Welche Banken sind denn
drin? – An dieser Stelle ist es ganz wichtig, noch einmal
zurückzublicken. Im Jahr 2008 gab es bereits den Vor-
schlag, auf europäischer Ebene gemeinsam die Restruk-
turierung, Abwicklung oder Sanierung von Banken vor-
zunehmen. Die deutsche Bundesregierung, damals von
der Großen Koalition getragen, hat das abgelehnt. Das
ist einer der zentralen Fehler im Krisenmanagement ge-
wesen.

Im Jahr 2010 hat das Europäische Parlament vorge-
schlagen, den europäischen Aufsichtsbehörden klare
Durchgriffsrechte zu geben und Großbanken unmittelbar
auf europäischer Ebene zu beaufsichtigen. Die deutsche
Bundesregierung, damals schon von Schwarz-Gelb ge-
tragen, war dagegen.

Jetzt endlich sind Sie auch darauf gekommen, dass es
eine europäische Aufsicht braucht, wenn man eine Au-
genhöhe zwischen Großbanken und staatlicher Aufsicht
hinbekommen will. Ihre Erkenntnis kommt sehr, sehr
spät. Es ist eine 180-Grad-Wende. Hoffen wir, dass es
diesmal gelingt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unser Vorbild ist, dass es in den USA gelungen ist,
mehr als 450 Regionalbanken abzuwickeln, statt mit
dem Geld der Steuerzahler zu retten;


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Die Zeit ist jetzt aber vorbei!)






Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


für diese Banken mussten die Steuerzahler nicht auf-
kommen. Das muss auch in Europa das Ziel sein. Jetzt
stehen Sie allerdings wieder auf der Bremse und machen
nicht klar, was Sie wollen. Sie sagen, es soll doch ir-
gendwie nicht richtig europäisch sein. Nach den Ant-
worten von Herrn Brinkhaus und Herrn Wissing ist völ-
lig unklar geblieben, wie das Verhältnis zwischen dem
europäischen und den nationalen Restrukturierungsfonds
aussehen soll. Unsere Vorstellung ist: Es gibt einen euro-
päischen Restrukturierungsfonds, der in der Lage ist,
auch größere Banken abzuwickeln.

Die nächste Frage lautete: Wer ist von der Aufsicht ei-
gentlich eingeschlossen? Ich möchte die konkret ge-
stellte Frage für unsere Fraktion beantworten: Institute
wie die Landesbanken gehören unter eine europäische
Aufsicht, weil sie eben nicht klar abgegrenzte regionale
Geschäftstätigkeiten ausüben, so wie kleine Sparkassen,
und weil sie von den hiesigen Institutssicherungen im
Zweifelsfall nicht gerettet werden könnten. Dieses genau
müssen wir tun.

Ich fordere Sie auf, mit mehr Klarheit heranzugehen
und vor allem die Perspektive für einen europäischen
Restrukturierungsfonds, für klare demokratische Kon-
trolle und für eine Aufsicht, die wirklich Durchgriffs-
rechte hat, zu unterstützen und nicht wieder wie 2008
und 2010 auf der Bremse zu stehen. Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: 20 Prozent mehr Redezeit!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719531200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines EU-Leerver-
kaufs-Ausführungsgesetzes. Der Finanzausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/10854, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/9665 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der
Stimme? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-
Fraktion bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen ange-
nommen worden.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen angenommen worden.


(Zurufe von der SPD: Enthaltung!)


– Enthaltung der Oppositionsfraktionen, Entschuldi-
gung. Das war schon einmal der Aufmerksamkeitstest.
Wir kommen nachher noch zu sehr vielen Abstimmun-
gen. Ich bedanke mich für den Hinweis.

Zusatzpunkt 7. Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/10781 mit dem Titel „Bankenunion –
Subsidiaritätsgrundsatz beachten“. Wer stimmt für die-
sen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?
– Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen ange-
nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth,
Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Ausbeuterische Kinderarbeit weltweit be-
kämpfen

– Drucksachen 17/5759, 17/6930 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christoph Strässer
Pascal Kober
Katrin Werner
Volker Beck (Köln)


Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)

Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6930,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/5759 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?
– Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion an-
genommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke,
Sibylle Pfeiffer, Peter Altmaier, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Joachim Günther (Plauen),
Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga Daub,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Entwicklung durch Wachstum – Der Beitrag
der deutschen Wirtschaft zum Erreichen der
Millenniumsziele

– Drucksachen 17/9423, 17/9892 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke

1) Anlage 3





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Sascha Raabe
Joachim Günther (Plauen)

Heike Hänsel
Ute Koczy

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind auch hier einverstanden.1)

Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9892, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP auf Drucksache 17/9423 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Opposition angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller (Köln), Volker Beck (Köln), Marieluise
Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Zwei-Staaten-Perspektive für den israe-
lisch-palästinensischen Konflikt erhalten –
Entwicklung der C-Gebiete in der Westbank
fördern – Abrissverfügungen für Solaranlagen
stoppen

– Drucksache 17/9981 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller (Köln), Volker Beck (Köln), Marieluise
Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Zwei-Staaten-Perspektive für eine friedli-
che Regelung des israelisch-palästinensischen
Konflikts retten

– Drucksache 17/10640 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben bereits vor einem Jahr über den palästinensi-
schen Antrag auf Aufnahme in die Vereinten Nationen
debattiert. In diesem Monat, gerade in dieser Woche, fin-
det wiederum die UN-Generalvollversammlung statt. Zu
diesem Zeitpunkt ist dieses Anliegen völlig in den Hin-
tergrund getreten, nicht nur, weil Iran und Syrien die
Nahostdebatte inzwischen dominieren, sondern auch
– das muss man ganz klar und generell sagen –, weil das
vergangene Jahr für eine friedliche Regelung des israe-
lisch-palästinensischen Konfliktes ein verlorenes Jahr
war. Es war wieder einmal ein Jahr ohne substanzielle
Friedensverhandlungen. Es war ein Jahr von weiterem
massiven Siedlungsausbau und verstärken Angriffen
durch israelische Siedler. Es war auch ein Jahr der dra-
matischen Verschlechterung der Wirtschaftslage in der
Westbank.

Man muss festhalten, dass es 19 Jahre nach Oslo im-
mer noch keinen palästinensischen Staat gibt. Im Gegen-
teil: Das international akzeptierte Konzept von zwei
Staaten zur Regelung des Konfliktes verkommt immer
mehr zur Bedeutungslosigkeit. Alternativen sind nicht in
Sicht. Auch deshalb haben wir uns heute entschlossen,
noch einmal zwei Anträge für die Zweit-Staaten-Rege-
lung in den Bundestag einzubringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD] und Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Es gibt keinen palästinensischen Staat. Es gibt in Zo-
nen geteilte palästinensische Gebiete. Es gibt den Gaza-
streifen, der von der Hamas beherrscht wird. Dann gibt
es die Westbank, die in drei Zonen geteilt ist: Zone A
wird komplett von den Palästinensern kontrolliert. Zone
B kontrollieren zwar die Palästinenser, aber die Israelis
sind für die Sicherheit verantwortlich. Zone C wird al-
lein von israelischer Seite kontrolliert; sie umfasst im-
merhin 62 Prozent der Westbank.

Ich habe im März dieses Jahres ein palästinensisches
Dorf in der Zone C besucht. Sie kennen meine Position
zum Nahostkonflikt; ich sehe vieles durchaus auch kri-
tisch. Aber die Lebensbedingungen der Palästinenser in
dieser Zone C sind wirklich erschütternd.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Richtig!)


Sie sind erschütternd, und trotzdem gibt es dort Projekte,
die auch Hoffnung machen. In diesem Dorf beispiels-
weise wurde die Versorgung mit elektrischem Strom
durch ein Windrad und durch Solarpanels sichergestellt.
Es handelt sich um ein sehr kleines Projekt von wenigen
Israelis – medico international –, finanziert durch das
Auswärtige Amt.

Dieses Projekt ist wie andere Projekte diese Art, die
von der EU unterstützt werden, nun vom Abriss der ent-
sprechenden Anlagen bedroht. Warum? In den C-Gebie-
ten gibt es keine Bebauungspläne. Die Palästinenser
können keine Anträge auf Baugenehmigungen stellen;
deshalb werden solche Projekte illegal durchgeführt, und
dann kommt es eben zu jenen Abrissverfügungen.1) Anlage 4





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Warum berichte ich davon? Nach Aussage aller Ex-
perten ist völlig klar: Ohne die Entwicklung der C-Ge-
biete wird es keinen lebensfähigen palästinensischen
Staat oder ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum
für einen solchen noch zu gründenden Staat geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb habe ich mich entschlossen, hierzu einen An-
trag zu erarbeiten, wenngleich die Hintergründe allge-
mein kaum bekannt sind. Es gibt nämlich Versorgung in
den C-Gebieten. Die findet aber nur für die jüdischen
Siedler statt, nämlich für den massiven Ausbau ihrer
Siedlungen, der dort leider betrieben wird.

Wenn wir zusammen mit der internationalen Gemein-
schaft an der Zwei-Staaten-Regelung festhalten wollen,
wenn wir sagen, dass es dazu keine Alternative gibt,
dann muss der israelischen Seite unmissverständlich
klargemacht werden, dass ihre Politik in den C-Gebie-
ten, die auf eine Vertreibung der palästinensischen Be-
völkerung hinausläuft – viele dieser Menschen verlassen
diese Gebiete nämlich –, absolut inakzeptabel ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es muss auch hier endlich demokratische Planungs-
verfahren geben, die in die Verantwortung der palästi-
nensischen Autonomiebehörde gehören. Die Abrissver-
fügungen müssen gestoppt werden. Eine Politik „on the
ground“, die die internationale Politik unterminiert,
muss beendet werden.

Darüber hinaus muss die EU auch endlich zu einem
gemeinsamen Handeln kommen. Die Palästinenser wer-
den in der UN-Generalversammlung zunächst einmal die
Aufwertung ihres Status beantragen. Dafür werden sie
eine Mehrheit bekommen. Ich glaube jedoch, dass es un-
abhängig von dieser Mehrheit wichtig ist, dass gerade
die Europäer an dieser Stelle einmal gemeinsam Zustim-
mung signalisieren, weil diese natürlich noch ein ganz
anderes Gewicht in diesem Konflikt hat. Die Palästinen-
ser warten jedenfalls darauf.

Ich hoffe, dass es weitere Initiativen gibt, dass wir
weiter in diesem Sinne handeln werden. Die Vorstellung,
in der derzeitigen Lage ließe sich wegen der Unsicher-
heiten im Hinblick auf den palästinensischen Konflikt
nichts machen, ist nach meiner Überzeugung ebenso
falsch wie die Vorstellung, dass Fortschritte bei der Re-
gelung automatisch zu einer Lösung der vielfältigen
Spannungen und Konflikte führen würden. Dennoch
müssen wir daran arbeiten.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719531300

Der Kollege Jürgen Klimke hat nun für die Unions-

fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1719531400

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren! Zum Abschluss seiner
Nahostreise im Mai dieses Jahres hat Bundespräsident
Gauck das Recht der Palästinenser auf einen eigenen
Staat betont – ich zitiere –:

Deutschland bekennt sich nachdrücklich zur Zwei-
Staaten-Lösung und unterstützt die Schaffung eines
eigenständigen palästinensischen Staates.

Diese Meinung unseres Staatsoberhaupts steht damit
auch in der Tradition der CDU/CSU-Außenpolitik.

Klar ist: Die vielfältigen Probleme das Nahen Ostens
gehören alle zusammen, doch ist für uns die Lösung der
Zwei-Staaten-Frage im Nahen Osten das wichtigste Ele-
ment, um den gordischen Knoten zu zerschlagen. Unsere
Bemühungen sind immer wieder auf Wiederaufnahme
direkter Verhandlungen gerichtet, egal wie sprachlos
beide Seiten zurzeit miteinander umgehen. Ein solcher
Verhandlungsprozess steht für uns im Mittelpunkt; denn
die Lösung des Gesamtkonflikts lässt sich nur mit diesen
Mitteln erreichen.

Die Augen der Weltöffentlichkeit sind derzeit auf den
Bürgerkrieg in Syrien gerichtet. Trotzdem dürfen wir die
Sicherheit Israels, die für die CDU/CSU zur Staatsräson
gehört, niemals aus den Augen verlieren. Für dieses
Selbstverständnis gibt es viele ähnliche Formulierungen.
Ich halte nichts davon, in jeder etwas anderen Formulie-
rung eine Verstärkung oder eine Abschwächung dieser
Aussage zu sehen. Die Aussage ist nämlich klar.

Ich bin angesichts der jüngsten Entwicklungen über-
zeugt: Auch der Nahostkonflikt kann und darf nicht un-
gelöst bleiben. Anders gesagt: Die Wiederaufnahme der
Verhandlungen duldet keinen Aufschub. Der jetzige
Stillstand hilft niemandem. Aber klar ist auch: Eine trag-
fähige Lösung erfordert politische Entschlossenheit; sie
erfordert schmerzhafte Kompromisse, und zwar auf bei-
den Seiten.

Das Ziel müssen zwei Staaten sein: ein demokrati-
scher jüdischer Staat Israel Seite an Seite mit einem le-
bensfähigen palästinensischen Staat. Wo immer Deutsch-
land und Europa zusammen mit den USA diesen Prozess
unterstützen können, werden wir das tun; wir unterstüt-
zen alles, was den berechtigten Belangen des palästinen-
sischen Volkes entspricht und Rechnung trägt.

Hier geht es um Fragen, die beantwortet werden kön-
nen, wenn beide Seiten aufeinander zugehen und die
Rechte des jeweils anderen anerkennen und akzeptieren.
Es sind keine leichten Fragen; es sind aber auch keine
abstrakten Fragen. Es sind vielmehr Fragen von sehr
großer Aktualität, die uns alle unmittelbar betreffen.
Nicht alle diese Fragen können wir heute oder morgen
abschließend beantworten.

Verantwortung ist kein Automatismus. Sie bewährt
sich nicht im Falle von Ankündigungen, sondern eher in
einer konkreten Situation. Das Denken in Wenn-dann-
Sätzen wirkt im Nahen Osten eskalierend, vor allem
auch das vorherige öffentliche Ziehen von roten Linien.





Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)


„Der Unterschied zwischen Europa und dem Nahen
Osten“, so hat es der israelische Schriftsteller Amos Oz
vor wenigen Wochen in einem Interview mit der Welt ge-
sagt, „ist der Unterschied zwischen Frieden und Krieg.“
Damit hat er wohl recht: Der Nahe Osten ist heute eine
der explosivsten Regionen der Welt, Europa erlebt hin-
gegen eine historisch einmalige Periode des Friedens.
Meine Damen und Herren, nur weil bei uns Frieden
herrscht, dürfen wir nicht nachlässig werden.

Die Hauptfrage ist jedoch: Wo setzen wir an? Diese
Frage stellen auch die Grünen in ihren Anträgen. Wir be-
danken uns für den Beitrag. Wir setzen in diesem Be-
reich aber schon seit Jahren eigene Prioritäten, entspre-
chend der Überzeugung der Kanzlerin. Nach dieser
Überzeugung geht es um Verständigung und vor allem
um gegenseitigen Respekt. Klare Kante: Die Palästinen-
ser verzichten auf Gewalt, und die palästinensische Füh-
rung erkennt Israel an; Israel verzichtet auf den Sied-
lungsbau in den besetzten Gebieten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, unser gemeinsames Enga-
gement geht jedoch über diesen Grundsatz hinaus: Wir
sorgen für anhaltende humanitäre Hilfe, Verhütung des
illegalen Handels mit Waffen und Munition, dauerhafte
Öffnung der Grenzübergänge, Instandsetzung und Wie-
deraufbau von Infrastruktur, Förderung der innerpalästi-
nensischen Versöhnung sowie Unterstützung der EU
Border Assistance Mission im Bereich der Grenzkon-
trollen.

Für die Unionsfraktion ist jedoch eines klar – hier
liegt im Übrigen der Unterschied zu den Grünen –: Ei-
nen unabhängigen demokratischen und lebensfähigen
Staat Palästina kann es nur ohne völkerrechtliches Präju-
diz geben. Alle Maßnahmen, die einen palästinensischen
Staat präjudizieren, wie etwa die Aufnahme eines derzeit
nicht existenten Staates Palästina in die UNESCO im
Oktober 2011, sind deshalb abzulehnen. Deutschland hat
gemeinsam mit seinen Verbündeten gegen eine Auf-
nahme gestimmt.

Weitere Hinderungsgründe für das Erreichen einer
Zwei-Staaten-Lösung liegen im palästinensischen
Schisma zwischen der Hamas im Gazastreifen und der
Fatah im Westjordanland. Solange die Palästinenser
nicht mit einer Stimme sprechen, kann es keine Zwei-
Staaten-Lösung geben. Wenn im Antrag der Grünen ge-
fordert wird, dass der Bundestag die Aufnahme Palästi-
nas in die UNO unterstützen soll, so ist allein das für uns
ein Grund zur Ablehnung.

Meine Damen und Herren, der Friedensprozess im
Nahen Osten ist ein langwieriger Prozess. Deutschland
nimmt hier auf verschiedensten Kanälen seine Verant-
wortung wahr. Dazu gehören auch Aufforderungen der
Bundesregierung an Israel, den Bau neuer Häuser in den
Palästinensergebieten zu überdenken.

In der vorliegenden Form sind beide Anträge nicht
zustimmungsfähig, weil die Umsetzung der Forderungen
wiederum Fakten schaffen würde, anstatt einen offenen
Verhandlungsprozess zu ermöglichen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Quatsch ist das! Völlig wirre Rede!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719531500

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege

Dr. Rolf Mützenich.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1719531600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zuerst möchte ich darauf hinweisen, dass es noch immer
israelische Bürgerinnen und Bürger gibt, die auf der ei-
nen Seite eine Debatte über die Voraussetzung für eine
Zwei-Staaten-Lösung in Israel selbst führen und auf der
anderen Seite auch über die bisherigen Versäumnisse auf
dem Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung sprechen.

Ich bin beeindruckt gewesen, dass zum Beispiel ehe-
malige israelische Soldaten mit einer wichtigen Fotoaus-
stellung, die bis Ende September im Willy-Brandt-Haus
hier in Berlin gezeigt wird, auf das Schicksal der Palästi-
nenserinnen und Palästinenser aufmerksam machen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gehört zum Bau einer Friedensbrücke mit dazu, dass
sich die Menschen mit wachen Augen begegnen, und da-
für gilt mein Dank.

Die Rahmenbedingungen, zu einer Friedenslösung
zwischen Palästina und Israel zu kommen, sind in den
letzten Jahren in der Tat schwieriger geworden. Der
amerikanische Präsident Obama hat zumindest am An-
fang seiner Amtszeit versucht, im Rahmen seiner Mög-
lichkeiten Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die
Gespräche wieder aufgenommen werden.

Die Spaltung der palästinensischen Bewegung ist ein
Hindernis auf diesem Weg, aber es hat in den letzten
Monaten nach meinem Dafürhalten durchaus den Ver-
such gegeben, insbesondere Präsident Abbas zu legiti-
mieren, wieder Friedensverhandlungen zu führen.

Im Nahen und Mittleren Osten liegt der Fokus auf den
Umbrüchen in der arabischen Welt und insbesondere auf
der humanitären Katastrophe in Syrien. Dennoch hat es
unter diesen schwierigen Bedingungen Chancen gege-
ben. Leider hat es die Bundesregierung versäumt, diese
Chancen zu ergreifen. Ich will in diesem Zusammen-
hang auf drei Punkte aufmerksam machen.

Erster Punkt. Wir hatten die Chance einer Aufwer-
tung der palästinensischen Vertretung hier in Deutsch-
land. Ich unterstelle dem Außenminister durchaus guten
Willen, aber ich glaube, er ist am Bundeskanzleramt und
letztlich an der Bundeskanzlerin gescheitert. Es gehört
zu einer ehrlichen Debatte mit dazu, zuzugeben, dass wir
hier die große Chance verpasst haben, der deutschen
Verantwortung zumindest durch eine leichte Aufwertung
der Palästinenser gerecht zu werden und auf die Interes-





Dr. Rolf Mützenich


(A) (C)



(D)(B)


sen beider Staaten einzugehen. Ich finde, Sie hätten dies
tun können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zweiter Punkt. Hierüber hat es eine Debatte gegeben.
Wir von der SPD haben dazu einen Antrag eingebracht.
Es wäre gut gewesen, in den Unterorganisationen der
Vereinten Nationen eine gemeinsame Haltung der Euro-
päischen Union zum Status Palästinas zu erarbeiten. Das
haben Sie nicht geschafft. Sie haben zum Beispiel auch
dagegen gestimmt, dass Palästina eine wichtige Rolle in
der UNESCO wahrnimmt. Dafür hat es aber eine Mehr-
heit gegeben, wir waren auf der Ebene der Vereinten Na-
tionen erneut in der Minderheit. Auch hier ist eine große
Chance aufseiten der Bundesregierung verpasst worden,
sozusagen leichte, neue Stützpfeiler für die Friedensbrü-
cke aufzubauen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Dritter Punkt. Nach dem Gaza-Krieg – dieser Mei-
nung waren wir alle – gab es verschiedene Möglichkei-
ten, auch Möglichkeiten aufseiten der israelischen Re-
gierung. Ich sage ganz bewusst: der israelischen
Regierung, weil ich in Israel andere Menschen, viele
Politiker, aber insbesondere eine lebhafte Zivilgesell-
schaft, kennengelernt habe. Das Upgrade des Assoziie-
rungsabkommens mit der EU ist wegen der Blockade
des Gaza-Streifens und wegen des fortgeführten Baus
von Siedlungen ausgesetzt worden. Was haben wir im
Sommer erlebt? Es wurden 60 Punkte für ein neues Up-
grade beschlossen. Ich finde, Sie haben damit leichtfer-
tig ein Instrument aus der Hand gegeben, mit dem Sie
dafür hätten sorgen können, dass die israelische Regie-
rung ihr Verhalten ändert;


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


denn die israelische Regierung braucht die Zusammenar-
beit mit der Europäischen Union.

In der Tat versperrt der Siedlungsbau alle Wege in
Richtung Frieden. Ich glaube, dass sollte vom Deutschen
Bundestag sehr deutlich gesagt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich gönne dem Außenminister das Lob des General-
sekretärs der Arabischen Liga, das er, glaube ich, gestern
im Sicherheitsrat ausgesprochen hat. Ich habe überhaupt
keine Bedenken bei diesem Lob, aber vielleicht sollte
sich die Bundesregierung fragen, ob dies möglicher-
weise ein vergiftetes Lob war. Er hat nämlich Taten an-
statt Worte gefordert, und genau daran mangelt es. Das
wird deutlich, wenn man an diese Fragen erinnert. Ich
glaube, der Bundesaußenminister sollte nicht immer nur
gute Worte im Munde führen, sondern er sollte sich
letztlich auch für Taten einsetzen. Daran mangelt es in
der deutschen Politik, und daran wird gerade in diesem
Zusammenhang Kritik geübt.

Wir alle wollen die Sicherheit Israels. Ich glaube,
diesbezüglich gibt es über alle Fraktionsgrenzen hinweg
überhaupt keine Differenz.


(Florian Toncar [FDP]: Es gibt Unterschiede!)


– In einem demokratischen Gemeinwesen müssen Sie
Unterschiede anerkennen. – Dennoch besteht in einem
demokratischen Parlament die Möglichkeit, dass wir be-
zogen auf einzelne Aspekte gemeinsame Anträge ein-
bringen. So haben wir in den letzten Jahren hier einige
Dinge gemeinsam beschlossen. Manchmal haben wir
wortgleiche Anträge eingebracht, weil der eine oder an-
dere nicht alle Fraktionen mit dabei haben wollte. Ich
glaube, das war ein gutes Signal des Deutschen Bundes-
tages, aber leider hat die Bundesregierung auch diese
Chance nicht ergriffen.

Wenn wir wollen, dass die Menschen in Israel in Si-
cherheit leben, dann müssen wir die israelischen Partner
und die israelische Regierung fragen, mit wem sie glaubt
in Zukunft einen Frieden schließen zu können, wenn
nicht mit diesem palästinensischen Präsidenten. Sie wird
auf keinen anderen stoßen, der die Hand ausstreckt. Ich
war erschüttert über seine Rede heute vor der General-
versammlung der Vereinten Nationen. Daraus hat Frus-
tration, daraus hat Hilflosigkeit und auch Resignation
gesprochen. Wir werden uns noch wundern, was pas-
siert, wenn dieser palästinensische Präsident Israel nicht
mehr die Hand reichen kann, weil er nicht mehr die
Kraft dazu hat und zurücktritt. Ich finde, die deutsche
Bundesregierung täte gut daran, den Worten Taten fol-
gen zu lassen, damit eine der letzten Chancen möglicher-
weise genutzt werden kann.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen möchte ich daran erinnern, dass die tat-
sächliche Entwicklung auf das Ende der Zwei-Staaten-
Lösung hinausläuft. Schon 1999 hat der damalige und
heutige Verteidigungsminister Barak geäußert, Israel
könne weder als demokratischer noch als jüdischer Staat
überleben, wenn die Zwei-Staaten-Lösung scheitert. Un-
klar ist mir, ob er heute noch so denkt; aber seine Mah-
nung ist nach wie vor angebracht und bleibt aktuell.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719531700

Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1719531800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vor zwei Stunden hat in New York Präsident Abbas ge-
sprochen. Vor ungefähr einer Stunde hat Herr Netanjahu
gesprochen. Das Ganze findet in einem Kontext statt, der
uns allen zunehmend Angst machen muss: Kriegsrheto-
rik ist alltäglich geworden; es wird täglich darüber ge-





Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)


sprochen, dass Angriffe unmittelbar bevorstehen. Aus
dem Iran hören wir zum Beispiel immer wieder, dass
dieses zionistische Regime vernichtet werden muss.

Volker Perthes hat neulich in einem Beitrag in der
Süddeutschen Zeitung eine Analogie zu 1914 gezogen.
Damals haben viele Kräfte über Krieg gesprochen. Sie
haben den Krieg quasi herbeigeredet, und dann ist dieser
furchtbare Krieg ausgebrochen. Ich glaube, das sind
Dinge, die uns gemeinsam bewegen müssen. Wir müs-
sen sehen, in welchem Kontext über den Konflikt, über
den wir heute debattieren, gesprochen wird.

Angesichts des Tenors der beiden Anträge, in denen
vieles Richtige steht – das ist gar keine Frage –, muss ich
das wiederholen, was ich in jeder Rede zu diesem
Thema sage: Wir müssen verstehen, dass im Zentrum je-
der israelischen Politik die Sicherheit des Staates Israel
stehen muss.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir müssen verstehen, dass die Lage in Israel außeror-
dentlich sensitiv ist. Jeden Tag – das weiß die Öffentlich-
keit nicht, weil das nicht immer in der Zeitung steht –
werden Raketen auf Israel abgefeuert. Und wir wissen,
dass im Südlibanon ein Arsenal von mehr als 45 000
hochmodernen Raketen vorhanden ist, die Israel bedro-
hen.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht aus den C-Gebieten!)


Das ist der Kontext, in dem Israel reagiert.

Nun stimme ich durchaus der Auffassung zu, dass die
israelische Siedlungspolitik sehr kontraproduktiv ist. Sie
ist völkerrechtswidrig. Die Bundesregierung sagt das
deutlich, und zwar nicht nur allein, sondern im europäi-
schen Verbund und auch im Rahmen der Vereinten Na-
tionen. Es ist völlig richtig, dass die Siedlungspolitik ein
Hindernis ist.

Man muss sich fragen, was man mit solchen Anträgen
bewirkt. Glauben Sie, dass Sie mit diesen Anträgen
wirklich etwas erreichen und die Situation verbessern?
Ich glaube, das ist nicht der Fall.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sollen wir tun?)


Man muss diese Anträge in einen Kontext stellen,
zum Beispiel in den Kontext, den Herr Mützenich eben
richtigerweise angesprochen hat. Nach meinem Dafür-
halten – ich glaube, dieses teilen viele hier in diesem
Haus, auch wenn es in den Anträgen nicht zum Aus-
druck kommt – ist die Zwei-Staaten-Lösung in Gefahr,
uns zwischen den Fingern zu zerrinnen. Wir halten jetzt
hier die Schimäre aufrecht, dass das ein Ziel ist, das wir
noch erreichen können, und doch wird es von Tag zu Tag
unwahrscheinlicher, dass wir es erreichen. Wir müssen
den Gesamtkontext sehen. Diesen können wir nur be-
trachten, wenn wir wissen, in welcher Weise wir etwas
erreichen können.

Wir wissen – ich spreche jetzt den zweiten Antrag, in
dem es um den Status Palästinas geht, an –, dass wir

nichts erreichen können, wenn wir nur einseitig Paläs-
tina aufwerten und Palästina die Mitgliedschaft in der
UNO verschaffen wollen, wie dies in Ihrem Antrag
steht. Vielmehr müssen wir sagen, dass man nur gemein-
sam etwas erreichen kann. Ich bin dafür – und das habe
ich schon vor einem Jahr hier gesagt; ich bitte die Bun-
desregierung, dies auch durchzusetzen –, den Status Pa-
lästinas aufzuwerten. Ich habe mich schon vor einem
Jahr für den Status ausgesprochen, den Sie leider immer
noch als Vatikan-Status bezeichnen. Das klingt etwas
verniedlichend. Das ist der Deutschland-Status, unter
dem wir jahrzehntelang gelebt haben, und das ist auch
der Schweiz-Status.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf den Vatikan trifft es aber auch zu!)


– Ja, richtig, aber diese Bezeichnung wird der Situation
nicht gerecht. – Es ist eben kein Status nur für sehr
kleine Staaten, sondern dieser Sonderstatus ist auch für
große Staaten veritabel. Ich bin dafür, dass wir als nächs-
ten Schritt diesen Status einführen. Ich hoffe, dass die
Bundesregierung die Kraft findet, diesen Schritt zu ge-
hen und die europäischen Staaten hier entsprechend mit-
zunehmen.

Ich spreche mich aber, liebe Frau Kollegin Müller, ge-
gen Ihre weitergehenden Forderungen aus, die Sie erho-
ben haben. Das werden wir in den Ausschüssen beraten.
In dieser Form ist der Antrag für uns bisher nicht zustim-
mungsfähig.

In dem ersten Antrag, also dem Antrag zu den C-Ge-
bieten, steht auch sehr viel Richtiges. Ich habe meine
Meinung zur Siedlungspolitik hier sehr deutlich zum
Ausdruck gebracht. Das war unmissverständlich, das hat
jeder gehört und kann jeder nachlesen. Das ist gar keine
Frage. Aber ich glaube, dass Sie auch mit diesem Antrag
nichts erreichen können, weil Sie der Komplexität des
Problems und der gesamten Situation und Sicherheits-
lage der Region mit diesem Antrag nicht gerecht wer-
den. Deshalb befürchte ich, dass wir auch diesen Antrag,
wenn er nach Debatten im Ausschuss nicht verändert
wird, ablehnen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Günter Gloser [SPD]: Machen Sie uns doch einmal Hoffnung, Herr Stinner!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719531900

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719532000

Schönen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-

nen und Kollegen! Um das auszugleichen, was Kollege
Stinner eben gesagt hat, möchte ich am Anfang ankündi-
gen, dass wir den beiden Anträgen zustimmen werden,
weil sie politisch richtig und vernünftig sind.





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Darüber sollte man auch nicht entlang von Parteigrenzen
debattieren.

Ich muss Ihnen sagen: Es hat mich unendlich traurig
gestimmt, einen völlig resignierten und verzweifelten
Präsidenten Abbas vor den Vereinten Nationen zu sehen.
Es ist mir zu Herzen gegangen, diesen Mann, der – auch
in den eigenen Reihen – so lange für einen Ausgleich
zwischen Palästinensern und Israelis gekämpft hat, in
dieser Verfassung zu sehen. Am Ende bleibt ihm eigent-
lich nur noch die Botschaft: Wir schmeißen alles hin. –
Das darf man so nicht weitertreiben.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])


Ich war gerade wieder einmal in Israel und Palästina.
Ich rede mir ja selber Mut zu: Meine Erfahrung ist, dass
auch die Menschen in Israel einem zu Recht erklären:
Die Zwei-Staaten-Lösung ist die beste Lösung, die man
erhalten kann. Alle Eckpunkte der Zwei-Staaten-Lösung
liegen vor, aber niemand glaubt mehr an ihre Umset-
zung. Das ist das eigentliche Problem. Ich möchte, dass
wir den Glauben an die Zwei-Staaten-Lösung erneuern
und politisch untermauern; denn wir brauchen sie, um
Stabilität zu erhalten.

Deswegen nenne ich Ihnen zuerst ein positives Bei-
spiel, das mich sehr glücklich gestimmt hat. Ich habe
zwei Jahre lang mit jüdischen Freunden aus Israel und
mit Palästinensern an einer Ausstellung von jungen
Künstlerinnen und Künstlern gearbeitet, die unter dem
Namen „Wonderland“, Wunderland, in Haifa eröffnet
worden ist. Sie wird im Februar 2013 im Bundestag ge-
zeigt. Das ist für mich ein Projekt, mit dem man prak-
tisch nachweisen kann, dass Palästinenserinnen und Pa-
lästinenser sowie Jüdinnen und Juden an einer gemein-
samen Sache arbeiten können und dass dadurch alle rei-
cher und klüger werden.

Ich möchte dieses Beispiel auf die staatliche Ebene
übertragen. Durch die Zwei-Staaten-Lösung gewinnen in
einem solchen Prozess alle, wenn man sie ernsthaft will
und nicht nur darüber redet. Hören Sie sich nur die Re-
den von Netanjahu an. Er spricht zwar von einer Zwei-
Staaten-Lösung. Aber schon in seinen Reden wird deut-
lich, dass er politisch das Gegenteil betreibt; in der poli-
tischen Praxis wird das erst recht deutlich. Was Netanjahu
vorschlägt, ist ein Israel bis an die Grenzen des Jordans,
das mithilfe von Siedlungen durchgesetzt werden soll.
Es reicht aber nicht, nur verbal gegen diese Siedlungen
zu protestieren, sondern man muss auch klarmachen,
dass diese Siedlungen das Ende der Zwei-Staaten-Lö-
sung bedeuten.

Die Palästinenser haben angeboten, dass sie, was die
Siedlerinnen und Siedler betrifft, eine Zweistaatlichkeit
für möglich halten, dass sie also die israelische und die
palästinensische Staatsbürgerschaft haben könnten. Hier
passiert also sehr viel. Ich bin glücklich, dass die Palästi-
nenser nicht zu einer neuen Intifada aufrufen, sondern
versuchen, das Prinzip der Gewaltfreiheit in der Politik
durchzusetzen. Wäre es nicht notwendig, dass dieses

Parlament endlich einmal sagt: „Das ist eine richtige
Entscheidung, und wir helfen euch dabei, eure Rechte zu
verteidigen“? Solche Signale brauchen wir.


(Beifall der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])


Das Grundproblem ist die Besatzung. Die Besatzung
muss beendet werden. Kerstin Müller und ich waren im
gleichen Ort; Susa heißt die kleine Stadt. Wer in Hebron
an der Grenze gestanden hat, versteht, dass es so nicht
weitergehen kann. Ich finde, das müssen auch wir als
Mitglieder des Deutschen Bundestages Israel sehr deut-
lich sagen.

Ich erwarte von der Bundesregierung – es ist übrigens
interessant, dass niemand hierzu etwas gesagt hat –, dass
man in der Vollversammlung der Vereinten Nationen
dem minimalen Vorschlag, den Palästinensern einen Be-
obachterstatus zu verleihen – das ist der sogenannte Vati-
kan-Status –, zustimmen wird und dass man in Europa
dafür wirbt, damit man endlich einen Schritt voran-
kommt.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was wollen Sie Präsident Abbas denn anbieten? Was
soll er seinen Leuten sagen, wenn es um die Gewaltfrei-
heit geht? Er hat doch nichts in der Tasche, und ihm ist
nichts in die Tasche gesteckt worden. Das sind die
Dinge, die geändert werden müssen. Ich möchte, dass
wir diesen Mut zusammen aufbringen.

Ich freue mich über die Ausstellung im Willy-Brandt-
Haus mit dem Titel „Das Schweigen brechen“. Ich war
da und muss sagen: Das ist eine sehr beeindruckende
Ausstellung. Ich finde es toll, dass das Willy-Brandt-
Haus der Gastgeber ist. Im Bundestag werden wir im
Rahmen der Ausstellung „Wonderland“ sehen können,
wie ein politischer Konflikt kulturell verarbeitet wird.
Ich lade Sie dazu ein und bitte Sie, solche gemeinsamen
Projekte zu unterstützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719532100

Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1719532200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist schon fast ein Ritual: Es ist September, in New
York tagt die Generalversammlung der Vereinten Natio-
nen, und wir diskutieren im Deutschen Bundestag zum
wiederholten Mal über den israelisch-palästinensischen
Konflikt.

Noch vor einem Jahr hat Präsident Abbas seine Initia-
tive gestartet, die Palästinensische Autonomiebehörde





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)


als ordentliches Mitglied in die Vereinten Nationen auf-
zunehmen. Ein Unterausschuss der Vereinten Nationen
hat festgestellt, dass es nicht möglich sei, eine einstim-
mige Empfehlung zu diesem Antrag abzugeben. Seither
wird dieses Anliegen von palästinensischer Seite nicht
weiter forciert. Es ist auch fraglich, ob es dafür eine Zu-
stimmung im Sicherheitsrat geben würde.

Trotzdem unternimmt die palästinensische Seite er-
neut den Versuch einer Internationalisierung des Kon-
flikts, und sie unternimmt einen erneuten Anlauf auf
dem New Yorker Parkett. Der Sinn scheint mir nicht
ganz klar zu sein, auch wenn natürlich zu erwarten ist,
dass man die Anerkennung als staatliches Nichtmitglied
anstrebt. Klar ist aber, dass Deutschland einem einseiti-
gen Vorstoß auch weiterhin nicht wird zustimmen kön-
nen. Das ist die konsistente Linie der Bundesregierung,
die wir auch beibehalten wollen: keine einseitigen Ma-
növer, sondern direkte Gespräche ohne Vorbedingungen.


(Günter Gloser [SPD]: Warum lehnen die anderen dann immer einseitige Gespräche ab?)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, es würde in
der Tat Sinn machen, wenn beide Seiten Energie und
Kreativität in direkte Friedensgespräche und nicht in ein-
seitige Schritte stecken würden, die die israelische Posi-
tion im Übrigen aller Erwartung nach nicht verändern
würden. Bei einseitigen Schritten besteht auch die Ge-
fahr, dass es zu Eskalationen kommt, die wir alle gerade
jetzt, in einer Zeit aufgeheizter Stimmung, in der wir al-
les tun sollten, um eine weitere Verschärfung der Lage
zu vermeiden, nicht wollen.

Der Friedensprozess stockt seit längerem, und es ist
realistischerweise wohl auch nicht mit neuer Bewegung
vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen und vor
der Bildung einer neuen US-Regierung zu rechnen, zu-
mal Präsident Obama mit einer Grundsatzrede im Juli
und mit dem Bekenntnis zu einer Lösung, die Israel in
den Grenzen von 1967 sieht, eine Position definiert hat,
die für Israel noch immer unannehmbar scheint.

Trotzdem wäre es hilfreich, wenn es in den Verhand-
lungen zwischen Israel und den Palästinensern neue Be-
wegung geben würde. Man verheddert sich aber nach
wie vor in Bedingungen und Gegenbedingungen. Man
setzt sich nicht an einen Tisch und ist noch nicht einmal
in der Lage, sich zunächst pragmatisch um die konkreten
Probleme der Bürger zu kümmern.


(Günter Gloser [SPD]: Wie bei der Koalition!)


Ich bin überzeugt, dass vor allem Israel von einer dau-
erhaften Friedenslösung profitieren würde. Das würde
Israel nämlich nicht nur aus dem Fokus der Kritik der
arabischen Straße nehmen, sondern auch Mittel für In-
vestitionen in Wirtschaft und Gesellschaft freisetzen, die
angesichts immer wieder aufflammender sozialer Pro-
teste in der Region dringend nötig wären.

Wir müssen aber konstatieren, dass wir auf der israe-
lischen Seite derzeit nur wenig Interesse sehen, sich den
Verhandlungen mit den Palästinensern zu widmen. Fast
im Gegenteil: Es wird über die Gefahr eines iranischen
Nuklearschlags diskutiert. Damit wird der Fokus natür-

lich auf ein Thema außerhalb des Israel-Palästina-Kon-
flikts gelenkt. Gleichzeitig geht der Siedlungsbau – das
ist angesprochen worden – unvermindert weiter. Hier
teilen wir die Position, die im Antrag der Grünen formu-
liert wird. Insbesondere in der Westbank ist die Lage be-
sonders unbefriedigend, was sowohl die Europäische
Union als auch die deutsche Seite immer wieder anmer-
ken.

Die Sorge, dass Fakten geschaffen werden, die eine
Zwei-Staaten-Lösung in immer weitere Ferne rücken, ist
schon begründet, zumal die wirtschaftlichen Perspekti-
ven für die palästinensischen Gebiete nicht besser wer-
den. Gerade weil deutsche Entwicklungsprojekte in der
Region betroffen sind, muss diese israelische Siedlungs-
politik immer wieder thematisiert werden, was nach
meiner Kenntnis auch geschieht.

Es mag monoton klingen, aber eine dauerhafte Frie-
denslösung zur Stabilisierung der Lage im Nahen Osten
wird es nur mit Gewaltverzicht der Palästinenser ein-
schließlich einer Anerkennung Israels geben; das ist
schon angesprochen worden.

Man wird aber auch nicht darum herumkommen, die
Hamas einzubeziehen, die im Zuge der arabischen Revo-
lutionen stärker geworden ist und sich besser vernetzt
hat. Genauso werden wir im Übrigen in der Zukunft mit
den Muslimbrüdern als relevante Akteure auskommen
müssen. Man kann sich seine Verhandlungspartner eben
nicht immer aussuchen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Kernele-
mente einer Verhandlungslösung liegen seit langem auf
dem Tisch. Neu ist aber: Die Weichen im Nahen Osten
werden in dieser Zeit neu justiert. Kurzfristiges Denken
in Nullsummenkategorien wird es in Zukunft immer we-
niger geben können. Die Zeichen stehen auf Emanzipa-
tion und hoffentlich zunehmend auch auf Demokratisie-
rung.

Deshalb wird es nicht viel weiterhelfen, wenn die eine
Seite versucht, auf internationaler Bühne immer wieder
Knalleffekte zu setzen, die am Ende wirkungslos blei-
ben, und die andere Seite versucht, dauerhaft rechtlich
verbindliche Abreden zu unterminieren. Beide Seiten tä-
ten besser daran, aufeinander zuzugehen und sich für
eine kluge Steuerung einzusetzen.

Deswegen dürfen wir nicht müde werden, zu appellie-
ren: Setzt euch an einen Tisch! Dieser Konflikt braucht
direkte Gespräche ohne Vorbedingungen auf beiden Sei-
ten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719532300

Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin

Wieczorek-Zeul das Wort.


Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1719532400

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin ge-

hört, was Herr Stinner gesagt hat. Er hat sich dafür aus-
gesprochen, dass Deutschland den Antrag, den Präsident





Heidemarie Wieczorek-Zeul


(A) (C)



(D)(B)


Abbas heute in der UN-Generalversammlung angekün-
digt hat, unterstützt. Ich habe Herrn Silberhorn so ver-
standen, dass er das für falsch hält. Wir haben Vertreter
der Bundesregierung hier. Ich erwarte, dass hierzu eine
klare Aussage gemacht wird.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Wunsch nach Unterstützung dieses Antrages ist in
der Breite des Deutschen Bundestages sehr deutlich vor-
handen.

Das ist für die Palästinensische Autonomiebehörde
vielleicht die allerletzte Chance, hier einen Erfolg zu er-
zielen. Diese Behörde ist im Grunde doch die einzige auf
der palästinensischen Seite, die sagt: Wir wollen Ver-
handlungen, wir wollen gewaltfreie Lösungen. Wer die-
sen Antrag, der bald in der UN-Generalversammlung
vorliegen wird, ablehnt, der bestärkt nur diejenigen, die
gewaltsame Lösungen wollen. Deshalb müssen wir dazu
beitragen, dass Abbas mit seiner Initiative einen Erfolg
erzielt.

Es wird eine klare Mehrheit in der Generalversamm-
lung geben. Ich erwarte, dass die Bundesregierung nicht
wieder verzögert, taktiert oder sich enthält. Das ist das
Mindeste, was wir aus der heutigen Debatte lernen kön-
nen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719532500

Wünschen Sie noch einmal das Wort, Kollege

Silberhorn?


(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Nein! – Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Vielleicht Herr Stinner! – Gegenruf des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ich habe doch alles gesagt!)


– Wir haben hier Regeln. Die Kurzintervention ist wäh-
rend der Rede des Kollegen Silberhorn angemeldet wor-
den. Da er jetzt auf eine Erwiderung verzichtet, schließe
ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9981 und 17/10640 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Elf-
ten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immis-
sionsschutzgesetzes

– Drucksache 17/10771 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer (Hamburg), Arnold Vaatz, Daniela
Ludwig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick
Döring, Michael Kauch, Birgit Homburger, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Schienenlärm wirksam reduzieren – Schienen-
güterverkehr nachhaltig gestalten

– Drucksache 17/10780 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Sobald
die notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionen
vorgenommen sind, kann ich die Aussprache eröffnen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Daniela Ludwig für die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Daniela Raab (CSU):
Rede ID: ID1719532600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wo möchten Sie lieber wohnen? An einer Autobahn
oder an einer Zugstrecke?


(Florian Pronold [SPD]: Weder noch!)


Jetzt werden Sie vermutlich sagen: An keinem von bei-
dem, wenn es irgendwie geht. Wenn Sie sich aber ent-
scheiden müssten, müssten Sie nach geltender Rechts-
lage erwidern: Dann lieber an einer Autobahn. Warum?
Weil man hier bei gleichem Lärm mehr Lärmschutz be-
kommt als an einer Zugstrecke. So jedenfalls geltendes
Recht, geregelt in der 16. Bundesimmissionsschutzver-
ordnung. Schienenlärm darf nämlich 5 dB (A) lauter sein
als Straßenlärm. Das nennt sich dann Schienenbonus.

Oder anders: Der Lärmpegel an der Schiene muss we-
sentlich lauter sein als an der Straße, bevor der Anwoh-
ner ein Recht auf Lärmschutzmaßnahmen hat. Eine der-
artige Bevorzugung der Schiene wird es, zumindest
wenn es nach den Koalitionsfraktionen geht, demnächst
nicht mehr geben, und das ist gut so.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese unterschiedliche Behandlung von Lärm wurde
in den 70er-Jahren geschaffen, weil man damals glaubte,
dass Schienenlärm als weniger störend empfunden wer-
den würde als Straßenlärm. Das war damals vielleicht
sogar noch nachvollziehbar; denn die Frequenz der Züge
war deutlich überschaubarer als heute, und auch der Gü-
terverkehr hielt sich noch in Grenzen, die wir uns heut-
zutage oftmals wünschen würden, wenn wir über Lärm-
belastungen an Zugstrecken sprechen.

Wie wir alle wissen, nimmt der Schienenverkehr mas-
siv zu. Wir bemühen uns auch von staatlicher Seite,
möglichst viel Güterverkehr auf die Schiene zu verla-





Daniela Ludwig


(A) (C)



(D)(B)


gern. Dass dabei die Belastung der Anwohner auf schier
unerträgliche Weise steigt, ist eine wenngleich logische,
aber extrem unerfreuliche Konsequenz.

Es kann also nicht mehr davon die Rede sein, dass
Schienenlärm vielleicht nicht mehr ganz so schlimm ist
oder als nicht mehr ganz so schlimm empfunden wird.
Denn wir wissen alle: Lärm macht krank. In der Fre-
quenz, in der ihn sehr viele Anwohner in Deutschland
aushalten müssen, ist das schlimm genug, und das müs-
sen wir auch so festhalten.

Wir haben die fast schon absurde Situation, dass wir
nachts, wenn es am leisesten ist, den meisten Lärm ha-
ben, weil wir dann die Güterzüge über die Schienen
schicken, während tagsüber die sehr leisen hochmoder-
nen Personenzüge auf unseren Gleisen fahren. Deswe-
gen ist es an der Zeit, die Privilegierung des Schienen-
verkehrs durch einen besseren Lärmwert endlich
abzuschaffen. Ich bin ausgesprochen froh, dass es uns
nun endlich auch mit einem Gesetzentwurf und einem
sehr guten Antrag gelingt, dies anzugehen.


(Florian Pronold [SPD]: Das ist eine lange Fahrt, bis es Realität wird!)


Dass wir Maßnahmen umsetzen wie das Lärmsanie-
rungsprogramm, das unter Rot-Grün angestoßen wurde
– es ist ein sehr gutes Programm, das wir gerne weiter-
führen; die 100 Millionen Euro im Jahr sind gut inves-
tiertes Geld, um an bestehenden Strecken mehr Lärm-
schutz für die Anwohner zu ermöglichen –, ist gut und
richtig und muss fortgeführt werden. Es ist aber auch
richtig, dass wir versuchen, den Lärm an der Quelle zu
bekämpfen, das heißt, leisere Bremssohlen und deren
Umrüstung zu fördern. Dass ein leiser Zug weniger für
die Trassenbenutzung zahlen muss als ein lauter Zug, ist
ebenfalls richtig.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)


Aber auch diese Umrüstung kostet Geld und natürlich
auch Zeit. Denn Sie alle wissen, dass nicht gerade wenig
Güterzüge, nämlich 180 000, in Deutschland umgerüstet
werden müssen. Das kostet uns einige Jahre, und es kos-
tet uns 300 Millionen Euro. Aber ich sage auch hier: Das
muss es uns wert sein, wenn wir andererseits von den
Bürgerinnen und Bürgern Akzeptanz für große Schie-
nen- oder Straßenprojekte verlangen.

Deswegen sind wir hier auf einem guten Weg. Auf
diesem guten Weg passt es extrem gut ins Konzept, dass
wir endlich den Schienenbonus angehen. Wie machen
wir das? Mit der nächsten Änderung des Bundesschie-
nenwegeausbaugesetzes 2016 und dem dazugehörigen
Bedarfsplan wird er nicht mehr angewendet.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Viel zu spät, Frau Ludwig!)


– Jetzt kann man sagen, Frau Wilms – es war mir klar;
Ihren Zwischenruf hatte ich an dieser Stelle eingeplant –:
viel zu spät. Wissen Sie, wünschenswert ist vieles. Da
bin ich sofort bei Ihnen. Wir glauben aber, dass sich die
Aufgabenträger in sinnvoller Weise auf diese neue Tat-
sache vorbereiten müssen. Wir haben große und lang-
wierige Projekte, bei denen eine Umstellung innerhalb

weniger Monate oder innerhalb von zwei Jahren einiger-
maßen schwierig ist.

Deswegen halte ich die Abschneidegrenzen, wie wir
sie gewählt haben, für richtig für Schienenprojekte, für
die das Planfeststellungsverfahren bis dahin noch nicht
eingeleitet wurde.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr wollt nur Geld sparen!)


Sie sind logisch und politisch richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Nein! Falsch!)


Ich glaube, es ist auch an der Zeit, dass wir das ange-
hen. Wir tun es wenigstens. Wir reden nicht nur darüber,
sondern wir tun es auch, und das ist richtig.

Ich verhehle nicht, dass es sicherlich den einen oder
anderen Haushaltspolitiker geben mag, der jetzt vor lau-
ter Schreck erst einmal umkippt, bildlich gesprochen,
weil er sich sagt: Oh Gott, jetzt wird alles teurer.


(Zuruf von der FDP: Stimmt! – Gustav Herzog [SPD]: Sie geben doch nicht mehr Geld!)


Meine lieben Freunde, wenn uns die Gesundheit unser
Mitbürgerinnen und Mitbürger das nicht wert ist, dann
weiß ich es nicht. Wir müssen schlicht und ergreifend
springen.

Der Schienenbonus, wie er in den 70er-Jahren ent-
standen ist, ist ein Relikt aus dieser Zeit. Er hat sich
längst überholt, ist nicht mehr sachgerecht und wird den
massiven Belastungen unserer Bürgerinnen und Bürger
durch stark gestiegenen Verkehr nicht mehr gerecht.
Deswegen ist es höchste Zeit, dass wir endlich dieses
Projekt angehen und künftig statt des Schienenbonus lei-
sere Zugstrecken haben.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719532700

Das Wort hat der Kollege Gustav Herzog für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1719532800

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! In diesem
Hause gibt es große Übereinstimmung, dass der Schie-
nenlärm zurzeit die verkehrspolitische Herausforderung
ist. Millionen von Menschen sind erheblich belastet. Wir
gehen nach volkswirtschaftlichen Schätzungen von
10 Milliarden Euro an Schäden aus.

Als Rheinland-Pfälzer, der häufig im Mittelrheintal
unterwegs ist, weiß ich, was es bedeutet, wenn nachts
Güterzüge an den Häusern entlangfahren und 100 Dezi-
bel Lärm und Erschütterungen verursachen. 100 Dezibel
entsprechen einem Presslufthammer im Vorgarten. Ich
glaube, wir stimmen darin überein, dass dies ein Ende
haben muss.





Gustav Herzog


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Trotzdem gibt es eine strittige Debatte hier im Plenum
und sicherlich später auch im Ausschuss. Aber diese
strittige Debatte liegt nicht an der Opposition. Bevor Sie
nachher wieder den Vorwurf bringen, wir hätten unter
Rot-Grün oder in der Großen Koalition keinen entspre-
chenden Antrag eingebracht, möchte ich Ihnen sagen,
dass ich mich auch nicht daran erinnern kann, dass je-
mals ein Antrag von der FDP gekommen wäre, den
Schienenbonus abzuschaffen, als Sie in der Opposition
waren.


(Michael Kauch [FDP]: Doch!)


Also halten Sie den Rand in dieser Frage.

Es liegen seit Frühjahr 2011 Anträge der SPD vor.
Seit über einem Jahr gibt es entsprechende Anträge von
uns und auch von den Grünen. Auf der rechten Seite die-
ses Hauses wurde deren Beratung immer wieder vertagt.

Wir hatten im Dezember letzten Jahres eine viel-
beachtete Anhörung. Auch danach haben Sie die Bera-
tung unserer Anträge vertagt. Wir haben dann über die
Geschäftsordnung am 27. April dieses Jahres eine
Debatte hier im Deutschen Bundestag erzwungen. Ich
will einmal zitieren – ich glaube, es ist auch für die Men-
schen wichtig, das noch einmal nachzuvollziehen –, was
am Schluss des Zwischenberichtes unseres Ausschuss-
vorsitzenden Toni Hofreiter steht:

Im Obleutegespräch … wurde übereinstimmend
festgestellt, dass eine Aufsetzung der Vorlagen zur
abschließenden Beratung derzeit am Einspruch der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP scheitert, da die
Abstimmung zwischen den Koalitionsfraktionen
noch nicht abgeschlossen ist.

Drei Jahre arbeiten Sie Ihren Koalitionsvertrag ab.


(Zurufe von der CDU/CSU: Vier!)


Die Mövenpick-Steuer haben Sie in ganz kurzer Zeit
durchgesetzt. Da gab es keinen Zank zwischen den
Koalitionsfraktionen und kein Problem bei der Ressort-
abstimmung. Das haben Sie hinbekommen. Aber in ei-
ner ganz wichtigen Frage für die Menschen sind Sie zer-
stritten.

Interessant ist, dass mein Kollege Michael Hartmann
von Herrn Staatssekretär Ferlemann als Auskunft
bekam, dass die Ressortabstimmung am 26. April 2012
begonnen hat, also einen Tag bevor wir die Debatte hier
im Deutschen Bundestag erzwungen haben. Das ist mehr
als ein Symbol dafür, dass wir diese Koalition in Fragen
des Lärmschutzes nicht nur schieben, sondern treiben
müssen. Sie schaffen es nicht von alleine.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Daniela Ludwig [CDU/ CSU]: Wir sind die Ruhe selbst! Wir fühlen uns nicht getrieben!)


Ich frage mich immer, was der Kollege Fischer, den
ich seit 1998 als engagierten Verkehrspolitiker kenne
– ich weiß, dass er sich in dieser Frage sehr stark enga-

giert hat –, 2009 angestellt hat, dass er mit einem sol-
chen Bundesverkehrsminister bestraft worden ist, sodass
er über die Koalitionsfraktionen dafür sorgen muss, dass
ein Stückchen des Koalitionsvertrages umgesetzt wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In Ihrem Koalitionsvertrag schreiben Sie noch, dass
Sie den Schienenbonus stufenweise abschaffen wollen,
und zwar in dieser Wahlperiode.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Ist doch super!)


Jetzt will ich Sie einmal an Ihren eigenen Maßstäben
messen. Sie haben einen Antrag und einen Gesetzent-
wurf unter dem Motto vorgelegt: Wasch mich, aber
mach mich nicht nass! Ich kann mir auch erklären, wa-
rum, nämlich weil Ihr Verkehrsminister gesagt hat: Jedes
Dezibel weniger kostet mich 1 Milliarde Euro. Außer-
dem hat Ihr Kanzleramtsminister Pofalla gesagt – dem
wurde bisher nicht widersprochen –: in dieser Wahlpe-
riode nicht. Und damit hat er recht; denn 2016/2017,
Frau Kollegin Ludwig, ist nicht mehr in dieser Wahlpe-
riode. Da werden die Karten schon neu gemischt sein.
Ihren Koalitionsvertrag können Sie also nicht umsetzen.

Auch das, was Sie jetzt vorgelegt haben, ist doch nur
weiße Salbe. Frau Kollegin Ludwig, ich weiß nicht, wa-
rum Sie einen Herzinfarkt Ihrer Haushälter befürchten.
Es steht doch nirgendwo, dass es mehr Geld gibt. Im
Gegenteil: Sie machen deutlich, dass alle Maßnahmen
länger dauern werden und dass Sie im Haushalt keinen
zusätzlichen Euro bereitstellen wollen, um den Schie-
nenlärm effektiv zu bekämpfen. Das müssen Sie den
Menschen auch deutlich sagen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sind sehr locker darüber hinweggegangen, dass
die von Ihnen vorgesehenen Maßnahmen erst mit dem
Inkrafttreten der Änderung des Bundesschienenwe-
geausbaugesetzes 2017 wirksam werden. Aber alle Plan-
feststellungsverfahren, die bis zu diesem Zeitpunkt lau-
fen, werden noch nach altem Recht abgearbeitet. Ich
kann Ihnen aufgrund meiner allgemeinen Lebenserfah-
rung sagen: Es wird in den Monaten und Jahren zuvor
eine Flut von Planfeststellungsverfahren geben, die alle
noch nach altem Recht beschieden werden. Sie haben
gesagt: Demnächst wird der Schienenbonus abgeschafft.
Mit „demnächst“ meinen Sie das Jahr 2020.


(Zurufe von der FDP: Falsch!)


So können Sie mit den Menschen, die unter Schienen-
lärm leiden, nicht umgehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was bleibt bis dahin zu tun? Ich hätte von Ihnen etwas
mehr Engagement bei der Beschleunigung der Um-
rüstung erwartet. Wir werden sehr genau darauf achten,
ob das System, das Sie zu Umrüstung und Finanzierung
anbieten, also der lärmabhängige Trassenpreis, funktio-
nieren wird.






(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719532900

Herr Kollege Herzog, gestatten Sie eine Zwischen-

frage oder Bemerkung des Kollegen Jarzombek?


Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1719533000

Ja.


Thomas Jarzombek (CDU):
Rede ID: ID1719533100

Kollege Herzog, Sie sind doch ein Abgeordneter aus

Rheinland-Pfalz. Durch Ihren Wahlkreis fahren ver-
dammt viele Güterzüge. Ich hatte eigentlich erwartet,
dass Sie am heutigen Tag sagen: Es ist ein großer Erfolg
für die Menschen – auch in meinem Wahlkreis –,


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Es ist kein Erfolg!)


dass endlich, nachdem zehn Jahre unter allen SPD-
Verkehrsministern nichts geschehen ist, der Durchbruch
geschafft ist und das Rheintal beruhigt wird. Warum
haben Sie nicht ein Mal gesagt: „Danke, ein toller Tag
für das Rheintal, ein toller Tag für Rheinland-Pfalz“?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Weil es falsch ist!)



Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1719533200

Herr Kollege, als Rheinland-Pfälzer weiß ich, was

Schienenlärm bedeutet. Deswegen bin ich stolz auf die
rot-grüne Bundesregierung, dass sie überhaupt angefan-
gen hat, Mittel für die Lärmsanierung an der Schiene in
den Verkehrshaushalt einzustellen. Das waren wir. Wir
haben damals mit 50 Millionen Euro angefangen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich glaube, Sie waren noch nicht Mitglied des Bundes-
tages, als wir dann die Mittel erhöht haben. Tun Sie also
nicht so, als ob in der Vergangenheit nichts passiert
wäre. Die ersten beiden Lärmschutzpakete haben sozial-
demokratische Minister auf den Weg gebracht. Wir
haben die Sache in Bewegung gesetzt. Sie sind leider
nicht in der Lage, mit dem notwendigen Schwung und
Engagement dies zu einem vernünftigen Ende zu
bringen.


(Beifall bei der SPD – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Sie haben meine Frage nicht beantwortet!)


Wir als Sozialdemokraten wollen, dass umgerüstet
wird, weil allein eine schnelle Umrüstung einen hörba-
ren Erfolg für die Menschen bringt. Es wird spannend
sein, zu beobachten, ob Ihr System, wonach der Trassen-
preis um 1 Prozent erhöht werden soll, um die Umrüs-
tung zu finanzieren, tatsächlich funktioniert. Ich jeden-
falls habe niemanden in der Wirtschaft oder bei der Bahn
getroffen, der mit Überzeugung gesagt hätte: Das, was
diese Bundesregierung vorlegt und was der Bundesver-
kehrsminister will, funktioniert.

Deswegen werden wir die parlamentarische Debatte
nutzen, um Sie weiterzutreiben. Wir werden Ihre Vor-

schläge in einer Anhörung auf den Prüfstand stellen. Der
Erfolg der Politik muss für die Menschen hörbar werden.
Mit Ihrer Politik wird uns das leider nicht gelingen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719533300

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Oliver

Luksic das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Oliver Luksic (FDP):
Rede ID: ID1719533400

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Unser Anliegen ist, den Lärm bei neuen Bahn-
projekten durch die Abschaffung des Schienenbonus und
beim Bestand durch weitere Anreize zu reduzieren. Die
christlich-liberale Koalition will die Infrastruktur beim
Güterverkehr weiter stärken. Kollege Herzog, elf Jahre
hatten Sie Zeit. Sie haben es nicht hinbekommen. Diese
Koalition bekommt es nun hin. Es ist richtig und not-
wendig, dass wir das tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Reden Sie hier doch nicht herum!)


Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir
den Schienenbonus schrittweise reduzieren und ihn
schließlich abschaffen.


(Gustav Herzog [SPD]: Wann denn?)


Wir schaffen ihn jetzt ganz ab; denn er ist eine alte Privi-
legierung aus den 70er-Jahren.


(Gustav Herzog [SPD]: 2017! Nach Ihrer Zeitrechnung demnächst!)


Der Bonus beruht auf einer überholten Annahme. Es gibt
nämlich unserer Meinung nach beim Lärm keinen Unter-
schied zwischen Straße und Schiene. Lärm ist Lärm, und
er ist eine Bedrohung für die Gesundheit.

Kollege Herzog, die FDP-Bundestagsfraktion hat
schon 2007 einen solchen Antrag gestellt, aber damals
hat ein SPD-Verkehrsminister unsere Forderungen abge-
lehnt. Insofern, Herr Kollege Herzog, machen Sie sich
erst einmal schlau.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Klar ist: Steigende Mobilität verursacht hohe gesamt-
gesellschaftliche Kosten. Der volkswirtschaftliche Scha-
den durch Schienenlärm wird auf 800 Millionen Euro
beziffert. Deswegen ist es nachhaltige Verkehrspolitik,
diesen Lärm zu reduzieren. Denn sonst wird das weitere
Wachstum des Schienenverkehrs – das ist ein besonders
wichtiger Punkt, der zu Recht von Kollegin Ludwig an-
gesprochen worden ist – beschränkt. Der Lärm droht zu
einem Haupthindernis für die Verlagerung von Transpor-
ten auf die Schiene zu werden. Lärmschutz ist uns an
dieser Stelle eine Herzensangelegenheit. Mit der vorhan-
denen Stichtagsregelung ist die Umstellung machbar.





Oliver Luksic


(A) (C)



(D)(B)


Mehr Güterverkehr kann nur durch mehr Akzeptanz er-
reicht werden.

Wir ergreifen weitere Maßnahmen zur Stärkung der
Infrastruktur der Schiene. Ich nenne das nationale Lärm-
schutzkonzept und die Vereinbarung zu lärmabhängigen
Trassenpreisen. Für Lärmsanierungsmaßnahmen werden
100 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt. Der
Einstieg in die leise Technik wird belohnt. Besonders
wichtig ist: Wir wollen mit dem Einstieg in lärmabhän-
gige Trassenpreise marktwirtschaftliche Anreize zur An-
schaffung leiserer Fahrzeuge setzen. Das ist ein Punkt,
der der FDP-Bundestagsfraktion besonders am Herzen
liegt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir müssen dieses Thema in naher Zukunft natürlich
auch auf europäischer Ebene angehen. Hier besteht
Handlungsbedarf, weil die Güterzüge, die in Deutsch-
land rollen, nicht nur deutsche Züge sind. Deswegen ist
das ein europäisches Thema.

Wir werden, wie gesagt, auch im Eisenbahnregulie-
rungsgesetz weitere Anreize setzen.


(Gustav Herzog [SPD]: Da bin ich gespannt!)


Wir freuen uns, dass wir das auf den Weg gebracht
haben. Es stimmt, dass es diesbezüglich Bedenken inner-
halb der Koalition gab. Aber Sie haben das in elf Jahren
nicht hinbekommen. Wir freuen uns über unseren
Erfolg. Wir haben einen wichtigen Schritt getan, um die
Infrastruktur der Schiene zu stärken. Das hat diese
Koalition hinbekommen, aber nicht die SPD. Es ist rich-
tig, dass wir den Schienenbonus abschaffen. Leider
haben Sie, Kollege Herzog, in dieser Hinsicht wenig hin-
bekommen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Sie können es noch so oft behaupten, es ist falsch!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719533500

Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719533600

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte in Erinnerung rufen, worüber wir sprechen. Die
gesundheitlichen Belastungen für die Leute im Mittel-
rheintal und im Rheintal überhaupt durch die Güter-
verkehrszüge sind nach Berechnungen von Professor
Greiser mindestens doppelt so hoch, wahrscheinlich
dreimal so hoch, wie die Belastungen von Menschen, die
in Einflugschneisen von Flughäfen wohnen. Die Vorsor-
gewerte, die jetzt für Neubaustrecken vorgesehen sind,
mit deren Bau nach dem Gesetzentwurf, den Sie hier
vorlegen, irgendwann nach dem Jahr 2016 begonnen
wird, werden heute um das etwa Zehnfache überschrit-
ten. Professor Greiser sagt, man müsse angesichts dieser

Werte eigentlich von aktiver Körperverletzung mit mög-
licher Todesfolge sprechen,


(Oliver Luksic [FDP]: So ein Quatsch!)


weil sich tatsächlich die gesundheitlichen Risiken enorm
summieren.

Jetzt wird am 1. Oktober unser Verkehrsminister, Herr
Ramsauer, in Bingen eine große Show veranstalten.


(Florian Pronold [SPD]: Wo ist er denn heute, der Herr Ramsauer, bei dem wichtigen Thema?)


Er wird dort mit einem halbsanierten Güterzug auflaufen
und zeigen, wie das Programm „Leiser Rhein“ die
Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bewirken soll.
Genau die gleiche Veranstaltung mit dem gleichen Vor-
führzug ist 2007 in Bingen schon einmal vonstatten-
gegangen, ohne dass sich für die Leute dort irgendetwas
geändert hat.

Tatsächlich ist es mit dem Programm „Leiser Rhein“
inzwischen gelungen, 1 250 der 800 000 Güterwaggons
zu sanieren, von denen die Kollegin vorhin gesprochen
hat. Das sind 0,7 Prozent. Das hören die Leute nicht, ge-
nauso wenig wie sie hören, dass der Schienenbonus im
Jahr 2016 abgeschafft werden soll. Denn die Strecken,
die vorhanden sind, werden überhaupt nicht saniert. Es
werden keine zusätzlichen Lärmschutzmaßnahmen ge-
troffen. Das heißt, die Menschen haben von dem, was
Sie hier heute beschließen werden, gar nichts. Sie fühlen
sich verhöhnt. Sie fühlen sich nicht ernst genommen. Sie
haben vor allen Dingen nicht den Eindruck, dass das
Problem Lärmbelastung ernst genommen wird, genauso
ernst, wie Sie die wirtschaftlichen Interessen derjenigen
Unternehmen nehmen, die ihre Güter durch das Rheintal
rasen lassen.

Es gibt in der Schweiz – die ist gar nicht weit entfernt –
ein sehr gutes Beispiel dafür, wie mit Lärmschutz an Gü-
terverkehrstrassen umgegangen werden kann. Da wird
damit sehr systematisch umgegangen. Da wird Lärm ge-
messen. Da werden verschiedene Maßnahmen ergriffen.
Da wird mit den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam
überlegt, wie man es besser machen kann. Außerdem
werden da klare Festlegungen für das Ende der lauten
Güterzüge getroffen. Wir haben im Verkehrsausschuss
eine Anhörung durchgeführt – Sie erinnern sich sicher
daran –, und alle dort vertretenen Unternehmen haben
gesagt: Es ist für uns überhaupt kein Problem, die Güter-
züge auf leise Bremsen umzurüsten; aber die Politik
muss klare Vorgaben machen. Es muss eine Deadline ge-
setzt werden, bis wann die Güterzüge umzurüsten sind.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Lärmsanierung der bestehenden Strecken würde
– das haben wir bei der Bundesregierung erfragt –
1,2 Milliarden Euro kosten. Sie wollen die ganze Ge-
schichte kostenneutral organisieren. Das wird nicht klap-
pen. 1,2 Milliarden Euro, hört sich viel an. Aber wenn
ich bedenke, dass der Bundesverkehrsminister damit
einverstanden ist, dass ungefähr 1,6 Milliarden Euro für
die Förderung der Automobilindustrie zur Entwicklung





Sabine Leidig


(A) (C)



(D)(B)


von Elektroautos eingesetzt werden und dass man mit
diesem Geld eigentlich die Elektromobilität auf der
Schiene vernünftig gestalten könnte, nämlich mit ordent-
lichem Lärmschutz, dann finde ich die Situation nachge-
rade skurril.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte zum Schluss sagen, dass die Bürgerinitia-
tiven, die im Rheintal sehr aktiv sind, eine sehr konkrete
Forderung haben, deren Umsetzung sie ganz schnell und
ganz sicher entlasten würde, nämlich ein Nachtfahrver-
bot für laute Güterzüge.


(Oliver Luksic [FDP]: Wollen Sie keinen Güterverkehr mehr haben?)


Dieselben Forderungen erheben die Flughafeninitiativen
im Hinblick auf den Flugverkehr. Ich kann Ihnen sagen:
Wenn Sie die Leute nicht ernst nehmen, dann werden
sich die Auseinandersetzungen dort zuspitzen. Die Bür-
gerinitiativen gegen Fluglärm haben es geschafft, ein
Nachtflugverbot durchzusetzen. Das ist noch nicht ge-
nug, aber es ist etwas. Flieger können von den Bürgerini-
tiativen nicht gestoppt werden; aber Zuggleise sind zu-
gänglich. Die Bürgerinitiativen, die Bürgerinnen und
Bürger befinden sich an der obersten Belastungsgrenze.
Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie dort noch
Ihr blaues Wunder erleben.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719533700

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die

Kollegin Dr. Valerie Wilms das Wort.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719533800

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns das so an-
hören, was die Kolleginnen und Kollegen eben schon
gesagt haben: Es ist erschütternd. Wir bekommen schon
seit langem keine vernünftigen Begründungen mehr da-
für, dass der Schienenverkehr doppelt so laut sein darf
wie der Straßenverkehr. Man muss es sich auf der Zunge
zergehen lassen: Der sogenannte Schienenbonus in Höhe
von 5 Dezibel, also eine Prämie für die Schiene, geht
einher mit einer Verdopplung der Lautstärkewirkung.
Das ist etwas, worum wir uns wirklich dringend küm-
mern müssen.

Auf diesen Gesetzentwurf haben wir schon lange ge-
wartet. Wir können uns fragen, warum dieser Entwurf
Ewigkeiten zwischen den Ressorts hin- und hergescho-
ben wurde. Das können wir aber auch sein lassen; denn
ein solches Verhalten ist ja bei allem der Fall, was diese
Regierung in ihrer Endzeitstimmung anfasst.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Detail hat sich im Vergleich zu den ersten Entwür-
fen jedenfalls nichts Wesentliches geändert. Grundsätz-
lich kann man sagen: Die Sache ist richtig, notwendig
und vor allem dringend. Sie ist aber nur ein Detail eines
großen Problems. So wie Sie das Ganze jetzt angelegt

haben, wird es zunächst nur ganz wenigen helfen, die
vom Verkehrslärm betroffen sind.

Erst nach dem nächsten Bundesverkehrswegeplan
sollen neue Schienenstrecken leiser gebaut werden. Das
müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen:
Dieser muss eigentlich 2015 beschlossen werden. Die
Erfahrungen lehren uns allerdings, dass es, sofern es gut
geht, 2016 oder eher 2017 sein wird. Und mit dem von
Herrn Herzog schon angesprochenen kleinen Kniff kann
der Vorhabenträger besonders genial vorgehen: Dann
schiebt er alles nach hinten, indem er vorher mit der
Planfeststellung für all die Projekte, die er noch durch-
ziehen will, beginnt, und schon haben wir 2020 und noch
später.

Jeder weiß, dass sich der Bau von Schienenprojekten
über Jahrzehnte hinziehen kann. Das ist vor allem dann
der Fall, wenn die Mittel nicht reichen. Dafür haben wir
ein besonders unrühmliches Beispiel, das wir eigentlich
bis 2020 fertigstellen sollten. Ich denke da an die Rhein-
talbahn. Der Entwurf hält nämlich ausdrücklich fest,
dass kein zusätzliches Geld ausgegeben werden soll.
Dann wird alles noch länger dauern.

Wer Pech hat, bekommt auch noch in vielen Jahren
eine neue Schienenstrecke in alter Lautstärke vor die
Nase gesetzt. Soll das etwa eine ernsthafte Lösung für
die von Güterzuglärm geplagten Anwohner sein? Wohl
kaum. Hinzu kommt, dass es auch nur für Neubaustre-
cken in ferner Zukunft gilt. Das eigentliche
Problem – beispielsweise das Mittelrheintal – sind die
bestehenden Strecken, aber die haben Sie, werte Kolle-
ginnen und Kollegen von der Koalition, im Gesetzent-
wurf explizit ausgeschlossen.


(Oliver Luksic [FDP]: Wollen Sie den Güterverkehr abschaffen? Das geht doch gar nicht!)


Alte Strecken sind laut und dürfen es Ihrer Meinung
nach bleiben.

Es wird keinen Rechtsanspruch auf Sanierung beste-
hender Strecken geben. Nur wenn es im Haushalt ent-
sprechende Mittel gibt, kann überhaupt etwas passieren.
Die Koalition lehnt aber eine Erhöhung der Mittel
ab – auch das steht in Ihrem Gesetzentwurf –, und dann
schauen die Betroffenen noch lange in die Röhre.


(Oliver Luksic [FDP]: Dann müssen Sie den Güterverkehr abschaffen!)


Das alles zeigt uns: Auf die größte Frage des Problems
hat diese Koalition in der Endzeit keine Antwort.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Kernfrage lautet letztendlich: Wollen wir als Ge-
meinschaft, als Gesellschaft auf Kosten von Millionen
von Menschen weiter Krach machen? Darum geht es,
und darüber müssen wir diskutieren.

Verkehrslärm ist neben Luftverschmutzung der zweit-
größte Verursacher von Gesundheitsrisiken. Auch so-
ziale Folgen sind spürbar, weil ärmere Menschen häufig
an lauten Orten – diese sind nämlich billiger – leben. Die





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)


standortbedingten gesundheitlichen Probleme verstärken
sich damit weiter.

Das, Kolleginnen und Kollegen, sind die Probleme,
über die wir reden müssen. Das sind die Probleme, für
die wir eine Lösung brauchen. Aber leider hilft uns Ihr
Gesetzentwurf dabei keinen Schritt weiter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir brauchen deswegen eine breite gesellschaftliche
Debatte. Lassen Sie uns darüber reden, wie lange Men-
schen noch unter Verkehrslärm leiden sollen. Wir müs-
sen diskutieren, was uns das wert ist. Es geht nicht nur
allein um die Abschaffung des Schienenbonus; ich
glaube, wir sind uns alle einig, dass es dazu kommen
muss. Vielmehr muss es jetzt darum gehen, wie wir die
Mittel dafür generieren können – und zwar schleunigst
und nicht erst 2020 oder noch später.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719533900

Kollegin Wilms, achten Sie bitte auf die Zeit.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719534000

Dem müssen wir uns stellen – Frau Präsidentin, ich

komme zum Schluss –; denn alles andere ist nur Placebo
oder maximal eine Beruhigungspille. Die wollen Sie der
Tribüne zwar verpassen, aber sie wird die Ursache nicht
beseitigen.


(Gustav Herzog [SPD]: Es ist niemand mehr auf der Tribüne!)


Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719534100

Das Wort hat der Kollege Steffen Bilger für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1719534200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als ich mich auf den Weg ins Plenum gemacht habe,
habe ich eigentlich gedacht, uns könnte vielleicht doch
ein harmonischer Abschluss dieses Sitzungstages erwar-
ten.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommt noch! – Gustav Herzog [SPD]: Kollege Bilger, dann müssen Sie Ihren Antrag bzw. Gesetzentwurf korrigieren! – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Dann müssen Sie etwas vorlegen, was dies wert ist!)


Denn im Ziel, der Abschaffung des Schienenbonus, sind
wir uns alle einig. Dann habe ich allerdings, Frau
Dr. Wilms, Ihren Twitter-Beitrag gelesen und die Rede
von Herrn Herzog gehört und festgestellt: Die Opposi-
tionsreflexe dominieren leider auch diese Debatte.


(Gustav Herzog [SPD]: Das ist der gesunde Menschenverstand!)


– Ich kann Ihnen sagen, lieber Herr Kollege Herzog:


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommen die Sachargumente!)


Wir haben nicht nur im Koalitionsvertrag festgeschrie-
ben, dass wir den Schienenbonus abschaffen, sondern
wir haben uns bereits im März 2011 in unserem Antrag
zur Rheintalbahn dazu bekannt, und ich kann Ihnen ver-
sichern, dass auch der Bundesverkehrsminister für die
Abschaffung des Schienenbonus einsteht.


(Ulrich Kelber [SPD]: Waren Sie schon mal bei der Rheintalbrücke? – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Davon wird es auch nicht leiser! – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was macht er im Mittelrheintal? Nichts!)


Nicht zuletzt deswegen können wir heute auch diesen
Antrag vorlegen.

Schon bei unserer letzten Debatte – daran erinnern
mich einige Beiträge –, die im April 2012 – Kollege
Herzog hat es gesagt – stattgefunden hat, habe ich für
unsere Koalitionsfraktionen bekräftigen können, dass
wir den Schienenbonus abschaffen wollen, und bereits
damals – ich habe im Protokoll nachgelesen – mussten
wir uns vorwerfen lassen, wir seien eine Koalition der
Verweigerung und der Vertagung.


(Beifall bei der LINKEN – Gustav Herzog [SPD]: Ja, Sie haben unsere Anträge die ganze Zeit vertagt!)


Wir würden nichts auf die Reihe kriegen. Das alles hat
sich nun als das erwiesen, was es auch damals schon
war, nämlich reines Oppositionspoltern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Antworten Sie doch inhaltlich!)


Ich kann mich nicht nur an die Debatte erinnern, son-
dern auch an viel Unterstützung, die wir von den Bürger-
initiativen bekommen haben, aber durchaus auch an kri-
tische Nachfragen, wann denn dem Lippenbekenntnis
Taten folgen würden.

Das ist heute der Fall. Die Koalition steht nach wie
vor ganz klar zu der Aussage im Koalitionsvertrag: Wir
schaffen den Schienenbonus ab. Ich will deutlich ma-
chen, dass der Schienenbonus heute nicht mehr zeitge-
mäß ist. Damals, als der Schienenbonus eingeführt
wurde, gab es Untersuchungen, die belegen sollten, dass
es gerechtfertigt wäre, diesen Schienenbonus einzufüh-
ren, weil bei dem Halbstundentakt, der früher üblich
war, der Schienenlärm eher verträglich sei, als es bei-
spielsweise beim Straßenlärm der Fall sei. Heute, in Zei-
ten, in denen die Zugtaktung sehr viel enger ist, wissen
wir, dass dieser Schienenbonus nicht mehr zeitgemäß ist.

Damals hat man auch gedacht, dass man der Bahn et-
was Gutes damit tun würde, wenn der Schienenbonus
eingeführt wird. Mittlerweile muss man sagen, dass eher





Steffen Bilger


(A) (C)



(D)(B)


das Gegenteil der Fall ist; denn für Schieneninfrastruk-
turprojekte in der Zukunft wird es immer wichtiger, dass
die Akzeptanz bei der Bevölkerung gewährleistet ist.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Genau, es geht gar nicht um Lärmschutz, sondern nur um Akzeptanz! – Ulrich Kelber [SPD]: Bei welchen Abschnitten der Rheintalbahn wird die Abschaffung des Schienenbonus wirksam?)


– Zur Rheintalbahn komme ich gleich noch ausführlich,
lieber Herr Kollege.

Wir sind uns, glaube ich, alle darin einig, dass Schie-
nenlärm eine enorme Belastung für die Bevölkerung dar-
stellt. Deswegen wurde es auch zu einer Art Symbol für
die Bevölkerung, wenn es um den Kampf für mehr
Schutz vor dem Schienenlärm geht, den Schienenbonus
abzuschaffen. Auch und gerade deshalb ist die Abschaf-
fung des Schienenbonus ein Zeichen, dass wir das Lärm-
problem sehen und verstanden haben, dass wir uns als
Verkehrspolitiker an diese Aufgabe machen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Und demnächst im Jahr 2018 abschaffen! Das ist Ihr Webfehler!)


Dabei soll es aber nicht bleiben. Es kann noch viel
mehr getan werden. Der Bund ist schon in der richtigen
Richtung unterwegs: freiwilliges Lärmsanierungspro-
gramm,


(Ulrich Kelber [SPD]: Wer hat das eingeführt?)


lärmabhängiges Trassenpreissystem und die Einführung
neuer und damit leiserer Bremsen.

Die Abschaffung des Schienenbonus ist aber nicht nur
ein Symbol, sondern sie wird massiv hörbar sein.


(Gustav Herzog [SPD]: Wann?)


Wir haben es heute schon gehört: Das Privileg, auf der
Schiene 5 Dezibel mehr Lärm produzieren zu dürfen, be-
deutet im Klartext – das zeigen auch Studien beispiels-
weise des Umweltbundesamtes –, dass der Lärmpegel
um 50 Prozent höher ist. Das gilt es zu ändern.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Aber überall!)


Die Lärmschutzmaßnahmen werden aufgrund der
Abschaffung des Schienenbonus deutlich umfassender
werden. Das sind gute Nachrichten für die Menschen,
die entlang der Bahnstrecken wohnen.


(Florian Pronold [SPD]: Ab wann und für wen? – Zuruf von BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN: Ab wann? Wo ist der Vorschlag?)


Damit wird endlich der Lärm nicht mehr abqualifiziert,
sondern als das beschrieben, was er ist, nämlich als mas-
siver Störfaktor.


(Gustav Herzog [SPD]: An Bestandsstrecken wirkt die Regelung nicht! Erzählen Sie den Leuten keine Märchen!)


Dabei – das will ich auch deutlich sagen – ist natür-
lich klar, dass die Abschaffung des Schienenbonus erst

für Neubaumaßnahmen gelten wird, die ab Inkrafttreten
der nächsten Änderung des Bundesschienenwegeaus-
baugesetzes im Jahr 2015 geplant werden.

Wir bedauern sicherlich alle, dass nicht sofort eine
Regelung für alle lärmgeplagten Anwohner gefunden
werden kann.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Sie können es doch ändern! Sie haben doch die Mehrheit!)


Aber wenn Sie einmal ehrlich sind, liebe Kollegen von
der Opposition, wenn Sie hier in der Verantwortung wä-
ren und als Regierungsfraktion einen Antrag zur Ab-
schaffung des Schienenbonus vorlegen müssten, wäre
Ihnen auch kein anderer Weg möglich.


(Florian Pronold [SPD]: Als ihn der nächsten Regierungskoalition aufzugeben! Wirklich mutig!)


Schließlich geht es hier um Planungen, die über den
Haufen geworfen werden würden. Wir müssen auch da-
ran denken, dass der Haushalt bei einer sofortigen Ab-
schaffung des Schienenbonus infrage gestellt werden
würde. Trotzdem ruhen wir uns nicht darauf aus.


(Florian Pronold [SPD]: Wie viel Geld gibt es mehr für Lärmschutz? Was machen Sie wirklich für die Leute?)


Wir müssen daran arbeiten, dass der Verkehr in Deutsch-
land insgesamt leiser wird. Deshalb finanziert der Bund
unter anderem die Umrüstung auf leise Güterzüge.


(Zurufe von der SPD)


Meine Damen und Herren, schon lange beschäftigt
uns das Thema Schienenlärm im Bundestag. Als Koali-
tionsfraktion haben wir uns bereits im März 2011 in un-
serem Antrag zur Rheintalbahn dafür eingesetzt, dass
dieses wichtige Bahnprojekt so geplant wird, als wenn
der Schienenbonus bereits abgeschafft wäre. Darauf
hatten wir uns – die Wahlkreisabgeordneten Armin
Schuster und Peter Götz können es bestätigen – mit den
anderen Beteiligten, mit den Bürgerinitiativen, mit den
Landesregierungen, mit der Bundesregierung, mit den
kommunalen Vertretern und der Deutschen Bahn ver-
ständigt. Das kann doch ein gutes Beispiel auch für an-
dere Projekte sein.


(Ulrich Kelber [SPD]: Passiert es oder passiert es nicht?)


Abschließend kann ich meine Forderung aus der letz-
ten Debatte nur wiederholen: Es würde uns in Deutsch-
land sehr helfen, wenn die Europäische Union mittelfris-
tig nur noch leise Güterzüge in Europa zulassen würde.

Ein wichtiger Schritt für mehr Lärmschutz ist getan,
sobald unser Gesetzentwurf beschlossen ist. Lassen Sie
uns doch gemeinsam daran arbeiten, dass weitere
Schritte folgen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Florian Pronold [SPD]: Welche Initiative haben Sie denn dazu unternommen? Nichts! Nicht mehr Geld, keine europäische Initiative! Sie veräppeln doch die Leute!)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719534300

Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Judith

Skudelny.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Judith Skudelny (FDP):
Rede ID: ID1719534400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Ich wundere mich über den einen oder an-
deren Redebeitrag.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wir auch!)


Ich spreche oft mit den Bürgerinitiativen vor Ort, die
sich seit Jahren für die Abschaffung des Schienenbonus
einsetzen.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Die sind für Lärmschutz!)


Die meisten Parteien, die jetzt dagegen – ich sage
einmal – maulen, dass wir nicht schnell genug sind und
zehn Jahre gar nichts getan haben, müssten eigentlich
ganz froh sein über unseren Gesetzentwurf.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Dann sagen Sie doch einmal, wann die Leute im Rheintal davon profitieren! Sagen Sie ein Datum! – Ulrich Kelber [SPD]: Und welche Generation? – Florian Pronold [SPD]: Sie müssen ja selber lachen! – Gegenrufe von der CDU/CSU)


– Natürlich muss ich lachen, weil Sie wissen, dass es für
die Bürger im Rheintal nicht rechtzeitig kommen würde,
selbst wenn wir morgen den Schienenbonus abschaffen
würden.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie bewirken gar nichts!)


Es geht darum, einen modernen, leistungsfähigen, zu-
kunftsorientierten und menschenfreundlichen Schienen-
verkehr für kommende Generationen zu schaffen.


(Florian Pronold [SPD]: Wie viel Geld nehmen Sie dafür in die Hand?)


– Mehr als alle Regierungen vorher.

Jetzt bitte eine Zwischenintervention.


(Florian Pronold [SPD]: Das hätten Sie gern! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: So weit geht es nicht!)


Diejenigen, die hier am lautesten schreien, haben in
den letzten Jahren am wenigsten gemacht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieser Gesetzentwurf ist nicht wegen der Opposi-
tionsparteien zustande gekommen, sondern wegen der
Bürgerinnen und Bürger der betroffenen Region, der
Rheintalschiene. Das ist richtig. Die haben sich seit Jah-
ren vor Ort in Bürgerinitiativen, in Kommunalräten, bei
den Bürgermeistern, aber auch bei den Bundespolitikern
dafür eingesetzt. Sie haben E-Mails geschrieben und im
Vorder- und Hintergrund gearbeitet, damit heute und hier

endlich der richtige Schritt in die richtige Richtung ge-
macht wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Aber es hat nicht geklappt! – Gustav Herzog [SPD]: Das ist aber eine riesige Blase, die Sie hier losgelassen haben!)


Der heutige Gesetzentwurf geht in die richtige Rich-
tung.


(Florian Pronold [SPD]: Aber das hilft doch den Menschen vor Ort nicht!)


Wir haben vorhin gehört, dass Rot-Grün die Lärmsanie-
rung mit 50 Millionen Euro eingeführt hat. Ich darf Ih-
nen gratulieren. Wir haben bis heute den Betrag verdop-
pelt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Das haben wir doch in der Großen Koalition gemacht! Da hat an Sie noch keiner gedacht!)


Es ist richtig, dass Kinderlärm privilegiert ist.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie müssen selber über das lachen, was Sie aufgeschrieben haben! – Weitere Zurufe von der SPD)


– An die Zwischenblöker von links: Ich muss lachen,
weil mich die Debatte amüsiert, weil Sie so viel Quark
erzählen, dass mir kaum noch etwas anderes einfällt, au-
ßer zu lachen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Oppositionslärmbonus!)


Es ist durchaus richtig, dass Kinderlärm privilegiert
ist. Auch das hat die


(Florian Pronold [SPD]: Die Große Koalition gemacht! Das stimmt!)


schwarz-gelbe Koalition gemacht. Das haben die ande-
ren nicht geschafft. Oppositionslärm ist hinzunehmen.
Nicht hinzunehmen ist Lärm von Güterverkehr, der bis-
her gegenüber dem Straßenverkehr privilegiert war und
künftig nicht mehr privilegiert sein wird.


(Florian Pronold [SPD]: Da wünsche ich mir doch den Kollegen Simmling zurück! – Heiterkeit)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719534500

Liebe Kollegen, überlassen Sie der Kollegin

Skudelny bitte überwiegend das Wort.


(Florian Pronold [SPD]: Die drei Minuten sind schon um!)



Judith Skudelny (FDP):
Rede ID: ID1719534600

Meine Damen und Herren, ich beende diese lustige

Debatte damit, zu sagen, dass wir immer die richtigen
Schritte gemacht haben, die Sie nicht auf die Reihe be-
kommen haben. Ich freue mich auf die Debatten im Aus-
schuss.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719534700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/10771 und 17/10780 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Zusatzpunkte 8 a und 8 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung personenbeförde-
rungsrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 17/8233 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
Martin Burkert, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn,
Dr. Valerie Wilms, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung personenbeförderungs- und
mautrechtlicher Vorschriften

– Drucksachen 17/7046 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/10857 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Sören Bartol

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Thomas Lutze,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Keine Liberalisierung des Buslinienfernver-
kehrs – Für einen Ausbau des Schienenver-
kehrs in der Fläche

– Drucksachen 17/7487, 17/10857 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Sören Bartol

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und Bünd-
nis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen
Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde
vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


D
Andreas Scheuer (CSU):
Rede ID: ID1719534800


Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Bei diesem Tagesordnungspunkt gibt es sicherlich
keine lustige, sondern vielmehr eine friedliche und kol-
legiale Debatte.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Keine Drohungen!)


– Der Kollege von der Linksfraktion hat zu diesem Frie-
den nichts beigetragen.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Weil es ein schlechter Frieden ist! Ein Pseudofrieden!)


Ich möchte mich zunächst sehr herzlich für die gute
politische Kultur unter den Kolleginnen und Kollegen
bedanken. Wir haben eine Einigung erzielt zwischen
CDU/CSU, SPD, den Grünen und der FDP. Vier Fraktio-
nen im Deutschen Bundestag zusammen mit den Bun-
desländern haben für die Lebenswirklichkeit der Perso-
nenbeförderung in Deutschland einen guten und sehr
demokratischen kollegialen Beitrag geleistet. Herzlichen
Dank dafür.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Obwohl es jetzt 22.50 Uhr ist, wäre gerade dieses für
die Verkehrspolitik doch sehr wichtige Reformprojekt
gut dafür geeignet gewesen, dass die Medien etwas öf-
fentlichkeitswirksamer hätten darüber berichten kön-
nen, anstatt es lediglich irgendwo in einem Einspalter
darzustellen. Insbesondere angesichts der Vergabesitua-
tion in den Kommunen im Hinblick auf die Personenbe-
förderungsrealität hätte die Tatsache, dass jetzt auch die
Liberalisierung der Fernbuslinien verwirklicht wird,
mehr Raum in der öffentlichen Diskussion verdient ge-
habt.

Ich denke, dass verkehrspolitisch ein Riesenschritt
gemacht wurde, nämlich zum einen beim Schienenbonus
für die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger – darüber
wurde vorhin diskutiert – und zum anderen mit Blick auf
die Lebenswirklichkeit der Personenbeförderung vor Ort
in den Gemeinden, in den Städten.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719534900

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Frage oder Be-

merkung des Kollegen Dr. Seiffert?

D
Andreas Scheuer (CSU):
Rede ID: ID1719535000


Ja, natürlich.


(Zuruf von der FDP: Es ist 22.52 Uhr!)


– Wir haben doch Zeit.


(Zuruf von der FDP: Nein, wir haben keine Zeit mehr!)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719535100

Meine lieben Damen und Herren, Sie hätten ja den

Tagesordnungspunkt weiter nach vorne setzen können,
wenn Ihnen das jetzt zu spät ist für diese Frage.

Herr Staatssekretär, nachdem Sie die vier Fraktionen
gelobt haben, sind Sie bereit, zumindest einen Satz dazu
zu sagen, dass es großen Drucks aus der Behindertenbe-
wegung in ganz Deutschland bedurfte, Sie überhaupt auf
den Gedanken zu bringen, bei der Liberalisierung des
Fernreiseverkehrs auch an barrierefreie Busse zu den-
ken, obwohl das die UN-Behindertenrechtskonvention
als geltende Gesetzesgrundlage in Deutschland zwin-
gend vorschreibt?

D
Andreas Scheuer (CSU):
Rede ID: ID1719535200


Wissen Sie, Herr Kollege, ich habe jetzt noch fünf
Minuten und drei Sekunden Redezeit auf der Uhr stehen;
ich wäre schon noch dahin gekommen.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Na, dann tun Sie es doch!)


Sie hätten auch noch Ihr Lob abbekommen.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Können Sie gerne machen! – Gustav Herzog [SPD]: Die Ungeduld der Jugend!)


Lassen Sie mich diese fünf Minuten noch reden. Ich
hätte auch noch den Behindertenbeauftragten Hubert
Hüppe hervorgehoben. Wir hatten zahlreiche Gespräche
mit den Berichterstattern, woran sich die Linksfraktion
nicht beteiligt hat.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wir sind gar nicht eingeladen worden!)


Wir aber haben wenigstens die Berichterstattergespräche
mit den Behindertenverbänden und dem Behinderten-
beauftragten geführt. Hierzu wäre ich noch gekommen.

Wenn Sie schon diesen Punkt herausgreifen, dann las-
sen Sie mich sagen: Es ist ein guter Schritt, dass auch die
Verbände der Behinderten dazu bereit waren, Kompro-
misse einzugehen und von den Maximalforderungen ab-
zuweichen. Dieser Gesetzentwurf wurde insgesamt sie-
ben Jahre lang mit den verschiedenen Mehrheits-
verhältnissen und in den verschiedenen Entwurfsstadien
diskutiert. Dass wir jetzt miteinander diese Lösung er-
zielt haben, zeigt, wie kompromissbereit dieses Haus in
den einzelnen Fraktionen ist. Es ist hervorzuheben, dass
alle Beteiligten – die vier Fraktionen, die Bundesländer,
die Verbände – ihren Beitrag zu diesem Kompromiss-
werk geleistet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Sören Bartol [SPD] und Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Gerade im Hinblick auf die vollständige Barrierefrei-
heit haben wir natürlich auch Verpflichtungen, die zu er-
füllen wir uns vorgenommen haben. Aber bis dann 2020,
2022 diese Regelungen vollständig umgesetzt sein müs-
sen, ist es zumindest ein guter Kompromiss, dass wir bei
den Fernbuslinien für die Behinderten Plätze vorgesehen

haben, und zwar jeweils mindestens zwei Plätze für die
Rollstühle sowie die notwendigen Einstiegshilfen.

Neben diesen Punkten ist natürlich auch der Schutz
des öffentlichen Nahverkehrs von besonderer Bedeu-
tung. Im Fernbuslinienverkehr soll freier Wettbewerb
entstehen, um den Bürgerinnen und Bürgern komplette
Wahlfreiheit zu geben: Sie können jetzt natürlich nach
wie vor mit dem Pkw fahren, können aber genauso – wir
alle wünschen das – auf den Zug, auf die Schiene um-
steigen; diejenigen, die vielleicht nicht auf die Uhr
schauen müssen und mehr Zeit haben oder auf den Geld-
beutel schauen müssen, nämlich beispielsweise die Stu-
denten und die Rentnerinnen und Rentner, können auf
das Fernbuslinienangebot zurückgreifen. Das ist eine
gute Botschaft. Wir haben an dieser Stelle Liberalität in
der Mobilität erreicht. Das ist ein sehr guter Schritt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, an dieser Stelle erlaube ich
mir, die Kolleginnen und Kollegen hervorzuheben, die
daran mitgewirkt haben: Dirk Fischer, Sören Bartol,
Patrick Döring und Toni Hofreiter, die Berichterstatter
der verschiedenen Fraktionen, unter der Moderation von
Volkmar Vogel, vor allem auch die diversen Länderver-
treter, die Fraktionsmitarbeiter und die Mitarbeiter unse-
res Hauses. Sie haben sich, wie gesagt, mehrere Jahre
mit der nationalen Umsetzung kompliziertester Sachver-
halte von europäischer Ebene beschäftigen müssen. Die
Mitarbeiter Doose und Hamburger haben großen Einsatz
gezeigt; sie mussten mit unseren Fraktionsmitarbeitern
große Schmöker bearbeiten. Wenn ein Werk gut gewor-
den ist, dann ist es Zeit, in einer solchen Debatte die Mit-
arbeiter hervorzuheben, ebenso die Kompromissbereit-
schaft der Kolleginnen und Kollegen.

Es ist eine gute Botschaft zu später Stunde, dass wir
einen weiteren positiven Beitrag zur Entwicklung der
Mobilität und der Verkehrspolitik in Deutschland geleis-
tet haben. Ich freue mich, dass wir damit Klarheit für die
vielen mittelständischen Unternehmen in dem Bereich
schaffen, die über Jahre hinweg eine harte Zeit hatten.
Denn es gab Bedenken und Ängste, die im Zusammen-
hang mit der Umsetzung europäischer Vorgaben auf na-
tionaler Ebene aufkommen mussten. Es gab in den ver-
schiedenen Verhandlungsstadien immer wieder große
Diskussionen, Debatten, parlamentarische Abende, An-
hörungen und vieles mehr. Es freut mich, dass wir heute
zu diesem Ergebnis gekommen sind.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719535300

Das Wort hat der Kollege Sören Bartol für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1719535400

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Das Thema Personenbeförderungsgesetz hat nicht





Sören Bartol


(A) (C)



(D)(B)


nur uns Fachpolitiker seit mehreren Jahren beschäftigt:
Kommunen, Verkehrsunternehmen und ihre Beschäftig-
ten, Gerichte und vor allen Dingen eine Vielzahl von Ju-
risten begleitet dieses Thema schon lange. Kaum jemand
hat noch damit gerechnet, dass die Novellierung des Per-
sonenbeförderungsgesetzes in dieser Legislaturperiode
kommt. Deswegen freue ich mich umso mehr – der Kol-
lege Staatssekretär hat es schon gesagt –, dass es uns
Parlamentariern gelungen ist, einen Kompromiss zu fin-
den, der – davon gehe ich ganz schwer aus – auch von
einer breiten Mehrheit der Länder mitgetragen wird.

Ab 2013 wird der öffentliche Nahverkehr in Deutsch-
land einen neuen Rechtsrahmen haben, der mehr Rechts-
sicherheit bringt, vor allem aber ein qualitatives, hoch-
wertiges Nahverkehrsangebot sichert. Ich möchte mich
dem Dank an die Kolleginnen und Kollegen anschlie-
ßen, die daran mitgearbeitet haben, vor allen Dingen da-
für, dass sie sich auf dieses Experiment eingelassen ha-
ben und wir sachlich und konstruktiv über Monate
hinweg an dem jetzt vorliegenden Kompromiss arbeiten
konnten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war, wie
ich finde, Gesetzgebungsarbeit im besten Sinne. Zahlrei-
che Länder von A-, B- und neuerdings auch G-Seite ha-
ben uns mit ihrem fachlichen Rat unterstützt. Auch dafür
möchte ich mich ganz herzlich bedanken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Leider stehen die Fernlinienbusse im Mittelpunkt der
öffentlichen Wahrnehmung; man sieht es auch an der
Kurzbezeichnung des Tagesordnungspunktes. Ich kann
es niemandem verdenken; denn der ÖPNV ist ein schwer
zugängliches Expertenthema, ein Expertenthema, das al-
lerdings konkrete Auswirkungen hat, auf das tägliche
Leben der Menschen, die Busse und Bahnen nutzen, und
auf die Beschäftigten in den Verkehrsunternehmen. Uns
als SPD war es deshalb wichtig, dass die kommunalen
Aufgabenträger die Gestaltungshoheit über das Ver-
kehrsangebot bekommen. Sie sind diejenigen, die für die
Daseinsvorsorge verantwortlich sind, und dieser Kom-
promiss setzt das auch um. Die Aufgabenträger bekom-
men eine klare Aufgabenbeschreibung und Handlungs-
instrumente entsprechend der EU-Verordnung. Neben
einer Vergabe in einem wettbewerblichen Verfahren sind
Eigenerbringung und Direktvergabe ausdrücklich mög-
lich. Das ist wichtig für die Kommunen und ihre Ver-
kehrsunternehmen, aber auch für kleine und mittelstän-
dische private Unternehmen. Die Gewerkschaften, liebe
Kolleginnen und Kollegen, begrüßen diesen Erfolg doch
ausdrücklich.

Die Besonderheit des deutschen Rechts, der Vorrang
eigenwirtschaftlicher Verkehre, bleibt, auch auf Wunsch
der Länder. Dieser Vorrang wird aber dann einge-
schränkt, wenn kommunale Aufgabenträger selbst aktiv
den Nahverkehr gestalten wollen. Eigenwirtschaftliche
Verkehre dürfen Qualitätsanforderungen zu Takt, Be-
dienzeiten und Barrierefreiheit nicht wesentlich unter-
schreiten, ansonsten bekommen sie keine Genehmigung.

Welche Qualitätsanforderungen unter welchen Vo-
raussetzungen gelten, wann Abweichungen davon we-

sentlich sind, das haben wir in einem langen, ich gebe
zu, sehr komplizierten Paragrafen verfasst, der sicherlich
kein Lehrbuchbeispiel wird. Aber was uns am Ende ge-
lungen ist – ich glaube, darauf kommt es an –, ist ein
System von Checks and Balances zwischen kommunaler
Verantwortung auf der einen Seite und Unternehmensin-
teressen auf der anderen Seite, das Rosinenpickerei auf
lukrativen Linien und die Unterschreitung von Qualitäts-
standards wirkungsvoll verhindert.

An zwei weiteren wichtigen Stellen wird das ÖPNV-
Recht modernisiert. Erstens. Im Nahverkehrsplan wird
das Ziel vollständiger Barrierefreiheit vorgegeben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Regelung gilt ab 2022, und dann sind Ausnahmen
– und das ist wirklich neu – nur noch mit Begründung
möglich. Zweitens. Wir gehen außerdem einen ersten
Schritt, um die Genehmigung alternativer Bedienformen
zu erleichtern: Von Anrufsammeltaxen über Rufbusse
bis hin zu Linienbandbetrieb – in der Praxis hat sich eine
erfreuliche Vielfalt entwickelt, die endlich eine tragbare
rechtliche Grundlage braucht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen: Bei der
Liberalisierung der Fernbuslinien waren wir als SPD
nicht von Anfang an vollauf begeistert.


(Oliver Luksic [FDP]: Schöner Euphemismus! – Gustav Herzog [SPD]: Mir fehlt immer noch die Begeisterung!)


Neben den Chancen eines zusätzlichen, preisgünstigen
Mobilitätsangebots sehen wir allerdings auch die Risi-
ken. Deswegen ist es uns besonders wichtig, dass in das
Gesetz nun eine Regelung zum Schutz des Regionalver-
kehrs aufgenommen wird; denn der Regionalverkehr auf
der Schiene wird mit viel öffentlichem Geld bezahlt, und
er ist für viele Pendler – das muss man einmal deutlich
sagen – alternativlos.

Wir müssen die neue Entwicklung des Fernbusmark-
tes aufmerksam beobachten. Im Gesetz ist deshalb eine
Berichtspflicht der Bundesregierung verankert, Anfang
2017 soll dieser Bericht dem Deutschen Bundestag vor-
liegen. In unserem gemeinsamen Entschließungsantrag
fordern wir die Bundesregierung noch einmal auf, das
Bundesamt für Güterverkehr personell so auszustatten,
dass es diese neuen Fernlinienbusse auch effektiv kon-
trollieren kann. Es geht dabei um einen fairen Wettbe-
werb, die Arbeitsbedingungen der Fahrer und damit
nicht zuletzt um die Sicherheit der Fahrgäste, und das
von Anfang an.

Ich freue mich besonders, dass es uns gelungen ist,
bei den Fernlinienbussen Barrierefreiheit zur Pflicht zu
machen. Ab 2016 gilt für neue Busse, dass sie mit zwei
Rollstuhlplätzen und einem Hublift ausgestattet sein
müssen. Ab Ende 2019 gilt das dann für alle Busse. Die
Hersteller und die Unternehmen werden genug Zeit ha-
ben, sich darauf einzustellen. Was wir in den letzten Ta-
gen in der Presse gelesen haben, dass das die Unterneh-
men überfordert, ist im Sinne einer modernen Politik für





Sören Bartol


(A) (C)



(D)(B)


Menschen mit Behinderung eigentlich nicht mehr zu dis-
kutieren.

Die Novelle zum Personenbeförderungsgesetz, die
wir heute beschließen, ist ein wichtiger Schritt auf dem
Weg zu mehr Rechtssicherheit und zu einem guten öf-
fentlichen Nahverkehr. Mit den Fernlinienbussen wagen
wir uns auf Neuland, unter jetzt vernünftigen Rahmen-
bedingungen, auf die wir uns alle gemeinsam verständigt
haben. Dass dieser Kompromiss gelungen ist, das zeigt
auch die politische Handlungsfähigkeit jenseits von
manchmal doch recht tiefen ideologischen Gräben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719535500

Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Oliver Luksic (FDP):
Rede ID: ID1719535600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

freuen uns, dass der gefundene Kompromiss beim Perso-
nenbeförderungsgesetz innerhalb und auch außerhalb
dieses Hauses breite Zustimmung findet. Es gibt nur
kleine Unzufriedenheiten und Kritikpunkte. Das zeigt,
dass es sich um einen ausgewogenen Kompromiss han-
delt. Er ist ein großer Erfolg aller beteiligten Fraktionen
und auch der Bundesländer. Deswegen gilt mein herzli-
cher Dank im Namen der FDP-Bundestagsfraktion all je-
nen, die an diesem Kompromiss beteiligt waren.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unser zentrales Anliegen war und ist, den bewährten
Ordnungsrahmen für den ÖPNV in Deutschland an das
geänderte europäische Recht anzupassen, aber auch
nicht völlig umzukrempeln. Deutschland hat im Ver-
gleich zu anderen Ländern einen attraktiven und erfolg-
reichen ÖPNV. Mehr Transparenz und Wettbewerb tun
aber auch dem ÖPNV in Deutschland gut.

Dabei die Interessen der kleinen und mittelständi-
schen, meist familiengeführten Busunternehmen zu wah-
ren, war für die FDP ein zentrales Anliegen in den Ver-
handlungen. Das ist an den entscheidenden Stellen auch
gelungen. Im ÖPNV bleibt es beim Vorrang der eigen-
wirtschaftlichen Verkehre. Das ist ein Thema, das uns
besonders wichtig war und bleibt. Das heißt, die Aufga-
benträger können nur unter engen Voraussetzungen mit
einem öffentlichen Dienstleistungsauftrag eigenwirt-
schaftlichen Verkehr verdrängen.

Auch im Fernverkehr haben wir nicht nur die weitge-
hende Liberalisierung erreicht, sondern auch das Geneh-
migungsverfahren entbürokratisiert. Das ist gut für Kun-
den, für Steuerzahler und das mittelständische Trans-
portgewerbe. Deswegen können wir uns mit dem Ergeb-
nis wirklich sehr gut anfreunden. Das ist auf Linie des
Koalitionsvertrages, weil wir, wie Kollege Bartol zu

Recht beschrieben hat, eine angemessene Rollenvertei-
lung zwischen Staat und Markt im ÖPNV haben, die
kommunalen Gestaltungsmöglichkeiten mit dem Instru-
ment des Nahverkehrsplans und des öffentlichen Dienst-
leistungsauftrages konkreter als bisher beschrieben und
gestärkt haben, es aber auch noch ausreichend Spielraum
für eigenwirtschaftlichen Verkehr gibt. Dies kann durch
verschiedene Vorgaben des Nahverkehrsplans quasi hin-
ten herum nicht mehr ausgehebelt werden. Der eigen-
wirtschaftliche Genehmigungsantrag kommt, vereinfacht
gesagt, nur dann nicht zum Zug, wenn er wesentlich von
dem abweicht, was der Aufgabenträger an Verkehr be-
stellen will.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Wir freuen uns besonders über die wirklich überfäl-
lige Freigabe des Buslinienfernverkehrs. Diese Freigabe
bedeutet natürlich nicht, dass jeder tun und lassen kann,
was er will. Es gelten strenge gewerberechtliche Anfor-
derungen, was Zuverlässigkeit und Sicherheit angeht.
Natürlich ist es weiterhin notwendig, eine Verkehrsge-
nehmigung, eine Liniengenehmigung zu beantragen. Der
Unterschied zu vorher ist, dass man diese Genehmigung
nicht mehr einfach mit der Begründung verweigern
kann, dass es andere Unternehmer bzw. die Eisenbahn
gibt. Der bisherige Wettbewerbsschutz entfällt. Das ist
unserer Meinung nach nichts anderes als eine Selbstver-
ständlichkeit bei einer Tätigkeit, die der Staat nicht be-
zuschussen muss und die auch nicht in das eigentliche
Tätigkeitsfeld staatlicher Aufgaben fällt.


(Beifall bei der FDP)


Das heißt, wir vollziehen beim Busverkehr nichts ande-
res als das, was wir auf allen anderen Verkehrsmärkten
haben. Heute würde ja auch keiner mehr auf die Idee
kommen, einem Spediteur Beförderungsdienstleistungen
zu verbieten, nur weil ein anderer sie erbringt.


(Zuruf von der FDP: Das ist die Wahrheit!)


Wir sind der Überzeugung, dass Wettbewerb und
marktwirtschaftliche Ordnung auch im Verkehrssektor
dafür sorgen, dass Kunden und die Volkswirtschaft pro-
fitieren, dass die Preise fallen, dass Service und Qualität
sich verbessern. Das wird auch mit der Liberalisierung
im Fernverkehr der Fall sein. Deswegen ist das gut und
richtig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Welche Angebote es nun geben wird – das wurde
eben zu Recht angesprochen –, das kann niemand vo-
raussagen. Wir wollen Marktchancen für etablierte Un-
ternehmen, aber auch für junge, innovative Unterneh-
men. Wir werden sehen, wie sich der Markt entwickelt.
Auf jeden Fall machen wir Schluss mit der Bevormun-
dung des Bürgers, dem bis jetzt die Freiheit abgespro-
chen wurde, selbst zu entscheiden und auszuwählen,
welches Fernverkehrsangebot er nutzen will.

Der Fernbus ist gerade für Reisende mit geringem
Einkommen eine hervorragende Alternative. Deswegen





Oliver Luksic


(A) (C)



(D)(B)


kann ich die Bedenken auf der linken Seite des Hauses
nicht verstehen. Im Gegenteil: Es ist sogar unsozial, dass
Sie ein solches Instrument ablehnen wollen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir erhoffen uns von der Freigabe des Buslinienfern-
verkehrs natürlich auch, dass Bewegung in das Thema
„Monopolstellung der Bahn“ kommt. Auch 20 Jahre
nach der Bahnreform muss sich noch viel tun. Wir wis-
sen: In den Bereichen, in denen wir Monopole haben,
haben wir steigende Preise. Das ist auch bei der Bahn
der Fall, wie wir gerade jetzt wieder merken. Deswegen
sind wir der Überzeugung, dass ein wenig Konkurrenz
auch die Bahn beflügeln wird. Vor allem wird das Ver-
kehrsangebot breiter und besser. Von diesem neuen An-
gebot profitieren alle Kunden in unserem Land.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Uns war es besonders wichtig, dass wir mit dem
neuen PBefG, dem Personenbeförderungsgesetz, verläss-
liche Rahmenbedingungen und Rechtssicherheit für alle
Beteiligten, Aufgabenträger und Unternehmen, im
ÖPNV schaffen und den Fernbusmarkt liberalisieren.
Das ist ein Thema, über das seit fast zehn Jahren disku-
tiert wird. Deswegen freut es uns umso mehr, dass wir
am Ende einen Erfolg haben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719535700

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, das Foto-

grafieren einzustellen. Was soll das? Das ist eine Unsitte.
Kollege Kurth, ich habe Sie gesehen.

Das Wort hat nun Thomas Lutze für die Fraktion Die
Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Thomas Lutze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719535800

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Herr Staatssekretär Scheuer, man kann auch einen in-
haltlichen Disput führen und dabei friedlich sein. Ich
denke, im Bundestag haben wir das immer so gehand-
habt. Die Linksfraktion hier als nicht friedlich darzustel-
len, geht, finde ich, ein bisschen zu weit. Lassen Sie uns
bei den Argumenten bleiben.

Der öffentliche Nahverkehr ist eine wichtige Lebens-
ader unserer modernen Gesellschaft. Ebenso wie Strom-
und Wasserversorgung sowie die Müllabfuhr ist auch der
Nahverkehr ein öffentliches Gut, zu dem jeder Zugang
haben muss. Es war die Rede davon, die EU wolle vor-
schreiben, dass die kommunalen Verkehrsleistungen zu-
künftig ausgeschrieben werden müssen. Dadurch be-
stünde die Gefahr, dass EU-rechtlicher Vorrang für
private Verkehrsanbieter in der Bundesrepublik gelten-
des Recht werden würde. Es kam anders: Die EU
schreibt nicht ausdrücklich vor, dass Nahverkehrsleis-

tungen an private Anbieter vergeben werden müssen; sie
lässt es offen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den vier Fraktionen, die hier Gesetzentwürfe einbringen
oder unterstützen, machen das aber nun, indem Sie die
Möglichkeit einräumen, dass private Anbieter Vorrang
bekommen. Genau das lehnen wir Linke ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Uns reicht auch eine kleine Klausel, die im Gesetzent-
wurf sicherlich enthalten ist, nicht aus, durch die man
versucht, die sogenannte Rosinenpickerei zu verhindern.
Wenn dieses Gesetz umgesetzt wird, wird der Alltag al-
ler Wahrscheinlichkeit nach zeigen, dass das allein nicht
funktioniert. Die Linke ist somit die einzige Fraktion im
Deutschen Bundestag mit der Auffassung, dass Nahver-
kehrsleistungen primär öffentlich sein müssen. Eine ge-
setzliche Regelung, dass kommunale Verkehrsunterneh-
men den Verkehrsauftrag bekommen und dann einzelne
Leistungen an Privatunternehmen weitervergeben, war
alltagstauglich. Diese Regelung hätte fortgeschrieben
werden können, auch nach neuem EU-Recht.

Wenn Sie heute die künftige Bevorzugung privater
Unternehmen durchwinken, dann bin ich sehr gespannt
auf die Reaktionen Ihrer Bürgermeisterinnen und Bür-
germeister, gerade der beiden großen Parteien CDU und
SPD. Ich weiß nicht, ob der Applaus da so stark sein
wird wie hier im Deutschen Bundestag. Sie drücken das
hier durch; es Durchwinken zu nennen, wäre noch ge-
schmeichelt. Am Dienstag haben Sie sich geeinigt – ich
habe das im Ausschuss schon gesagt –, und am Mitt-
woch ist es im Schnellverfahren durch den Ausschuss
gebracht worden.


(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Wir verhandeln seit Januar! Da kann man nicht von Durchwinken reden!)


Jeder durfte einmal etwas dazu sagen. Heute, am Don-
nerstag, geht es kurz vor Mitternacht durch das Plenum.
Das ist eine sehr kurze Zeit, um einen Diskurs über Ihren
Vorschlag zu führen. Man kann schon fast froh sein, dass
das hier nicht einfach zu Protokoll gegeben wurde.

Bei der Fernbusdebatte sieht es nicht viel besser aus.
Ein Sprecher der Firma Touring – Touring ist einer der
fünf großen Player; so viel zum Thema kleine mittelstän-
dische Unternehmen auf diesem Markt – brachte es auf
den Punkt. Er hat gesagt, dass sein Unternehmen aus-
schließlich dort fahren wird, wo man zwischen den gro-
ßen Metropolen richtig viel Geld verdienen kann. Die
anderen Unternehmen haben sich nicht anders geäußert.
Die Deutsche Bahn betreibt ja schon seit Jahren diese
Firmenpolitik.

Fernverkehrsbusse sollen eine preiswerte Alternative
zur teuren Bahn darstellen. Das wurde immer wieder ge-
sagt. Diese Busse fahren vor allen Dingen deshalb güns-
tiger, weil die Löhne und Gehälter der Busfahrer wesent-
lich niedriger sind. Sie verdienen schlichtweg weniger
als ein Lokführer. Sie sind auch deshalb günstiger, weil
diese Busse keine Streckengebühr zahlen müssen. Wäh-
rend die Deutsche Bahn und auch private Bahnunterneh-
men auf der Schiene für jeden Kilometer viel Geld zah-
len und für jeden Halt extra zahlen müssen, können diese





Thomas Lutze


(A) (C)



(D)(B)


Busse frei von zusätzlichen Kosten auf Autobahnen fah-
ren, es sei denn – das kann man hier im Parlament noch
ändern –, Sie stimmen heute unserem Antrag zu, den wir
übrigens dankenswerterweise von der SPD übernommen
haben. Die Zulassung der Fernbusse ohne Autobahn-
maut ist nichts anderes als pure Wettbewerbsverzerrung
zulasten der Bahn.


(Beifall bei der LINKEN)


Positiv ist einzig die Entwicklung bei der Barriere-
freiheit. Auch auf Druck der Linken – wir waren nicht
die Einzigen, aber wir haben ganz massiv Druck ge-
macht – haben Bushersteller und Verkehrsunternehmen
das Problem erkannt und bieten mittlerweile erste gute
Lösungen an. Doch Ihr Gesetzentwurf enthält nun län-
gere Übergangsfristen, auch wenn es nur ein Jahr ist, als
die Unternehmen nach eigenen Angaben hätten realisie-
ren können. Das wurde zumindest bei den Veranstaltun-
gen deutlich.

Letzter Satz, Herr Präsident. – Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen, wenn Sie tatsächlich wollen, dass der
Personenfernverkehr preiswerter wird, folgen Sie ein-
fach dem Vorschlag, den ich in meiner letzten Rede ge-
macht habe: Senken Sie den Mehrwertsteuersatz für
Fernverkehrsfahrkarten von 19 auf 7 Prozent! Dann
würde in unser Verkehrswesen endlich europäischer All-
tag einkehren.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN – Oliver Luksic [FDP]: Aha! Steuersenkungsklientelpolitik!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719535900

Das Wort hat nun Anton Hofreiter für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dieses Thema ist ein wunderschönes Beispiel
dafür, dass selbst völlig verfahrene Situationen, wenn
Parlamentarier die Dinge in die Hand nehmen, zu einem
vernünftigen Ergebnis gebracht werden können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Ich glaube, wir können uns alle zu dem Verfahren und
dem Ergebnis gratulieren; das ist bereits gesagt worden,
und wir haben uns gegenseitig gedankt. Man muss ins-
besondere den Mitarbeitern danken: den Mitarbeitern
der Fraktionen, den Mitarbeitern des Ministeriums und
den Mitarbeitern der Landesverkehrsministerien, mit de-
nen wir sehr konstruktiv zusammengearbeitet und die
uns sehr unterstützt haben. Außerdem können wir uns
gegenseitig für den konstruktiven Umgang miteinander
danken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Welche sind die drei zentralen Punkte dieses Gesetz-
entwurfes? Es ist erstens die Regelung zum ÖPNV,

zweitens sind es die Regelungen zur Barrierefreiheit,
und drittens ist es die Regelung zum Fernverkehr.

Was haben wir im Hinblick auf den ÖPNV erreicht?
Natürlich sind wir nicht mit allen Regelungen hundert-
prozentig glücklich. Warum? Weil es sich um einen
Kompromiss zwischen 4 Fraktionen und 16 Bundeslän-
dern handelt. Natürlich kann angesichts dessen niemand
sagen, er habe sich zu 100 Prozent durchgesetzt. Sonst
wäre das ein unanständiger Kompromiss, weil jemand
anders über den Tisch gezogen worden wäre.

Beim ÖPNV haben wir erreicht – da irren Sie sich,
Herr Lutze –, dass die Aufgabenträger, die demokratisch
bestimmten Aufgabenträger, wenn sie es denn wollen
und wirklich Geld dafür in die Hand nehmen, jetzt einen
vernünftigen ÖPNV anbieten können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist die Neuerung, und das war ein Kompromiss. Der
Kompromiss lautet: wenn sie es wollen und ernsthaft
Geld hinterlegen. Das ist im Gesetzentwurf klar geregelt.
Des Weiteren ist geregelt, dass eine Kommune, die ein
eigenes kommunales Verkehrsunternehmen betreibt, das
gut arbeitet – auch dafür gibt es Kriterien –, direkt an
dieses Unternehmen vergeben darf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Genau das, von dem Sie bemängelt haben, dass es nicht
im Gesetzentwurf geregelt sei, ist also im Gesetzentwurf
geregelt.

Selbstverständlich hätten wir uns beim Thema Barrie-
refreiheit mehr gewünscht. Ich glaube, man kann sogar
sagen, dass wir alle uns bei diesem Thema mehr wün-
schen würden. Hier sind aber gar nicht so sehr die Fern-
busse das Problem,


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Richtig!)


sondern das zentrale Problem ist der allgemeine ÖPNV.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau!)


Aber woran liegt es? Es liegt daran, dass es U-Bahn-Sys-
teme gibt, die zum Teil fast 100 Jahre alt sind,


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: So ist es!)


und dass es Unmengen von Bahnhöfen gibt, die uralt
sind. Hier war nun einmal nichts anderes möglich, als
den Ländern – allerdings mit vollem Verständnis für die
Länder – Übergangsregelungen zuzugestehen. Schließ-
lich können die Länder kein Geld schnitzen, um diesen
Prozess zu gestalten. Wie gesagt, wir hätten uns hier viel
mehr gewünscht. Es gab auch unterschiedliche Vorstel-
lungen darüber, wie schnell man etwas erreichen kann.
Es war nicht mehr drin, und die gefundene Lösung ist im
Vergleich zur bestehenden Regelung ein großer Fort-
schritt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)






Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)


Zu den Fernbussen. Ja, wir haben den Fernbusverkehr
liberalisiert. Das Umweltbundesamt hat festgestellt, dass
ein Fernbus, wenn er vernünftig besetzt ist, unter ökolo-
gischen Aspekten ähnlich gut zu bewerten ist wie die
Bahn. Die Regelung, die wir getroffen haben, sieht vor:
Wenn jemand bereit ist, eine Buslinie, ein ökologisches
Verkehrsmittel, anzubieten, und dafür nicht einen Cent
vom Staat will, dann darf er das tun. Was ist daran
schlimm?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP)


Seien Sie ehrlich: Was ist daran schlimm, dass jemand,
der bereit ist, seinen Kunden ein ökologisches Verkehrs-
mittel anzubieten, dies jetzt tun darf? Hier wäre ich mit
Kritik ganz vorsichtig. Wenn ich mir anschaue, wer zu
wessen Klientel gehört, muss ich nämlich sagen: Ich
glaube, dass dies gerade für Menschen mit geringerem
Einkommen eine hervorragende Alternative ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP)


Insgesamt glaube ich, dass wir einen guten Kompro-
miss gefunden haben. Auf diesen Kompromiss können
wir stolz sein. Jetzt geht es darum, dieses Vorhaben mög-
lichst schnell durch den Bundesrat zu bringen; aber da
bin ich sehr optimistisch.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719536000

Letzter Redner ist Kollege Volkmar Vogel für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1719536100

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich denke, das ist ein versöhnlicher Abschluss eines
doch auch kontroversen Plenartages. Nicht, dass ich
irgendetwas gegen kontroverse Debatten habe, ganz im
Gegenteil, das macht Demokratie aus, aber das, was wir
hier gerade auch der interessierten Öffentlichkeit gezeigt
haben,


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


ist vor allen Dingen eine Wertschätzung derjenigen, die
jeden Tag mit dem Bus oder als Eisenbahner die Men-
schen sicher und zuverlässig transportieren und beför-
dern.


(Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])


Wir sehen, dass es mittlerweile 23.20 Uhr ist. Das ist
auch ein richtiges Signal, weil es um diese Zeit gerade
die von mir eben erwähnten Mitarbeiter sind, die ihren
Dienst ordentlich tun, und wir müssen dafür sorgen, dass
die rechtlichen Grundlagen so gestaltet sind, dass das
auch in Zukunft weiter so geschehen kann.

Eines muss man nämlich auch sagen: Der ÖPNV und
der Fernverkehr in Deutschland können sich bei aller
Kritik, die wir auch üben müssen, weltweit sehen lassen.
Sie sind beispielgebend, und für uns ist es wichtig, dass
wir dieses System erhalten und ausbalancieren, damit es
ein vernünftiges Miteinander der einzelnen Strukturen
gibt, nämlich der mittelständischen Unternehmen, die
viel in unserem Land tun und viele fleißige Mitarbeiter
haben, mit den qualitativ hochstehenden kommunalen
Betrieben, die hier die notwendigen Pflichten zur
Daseinsvorsorge auch in der Praxis erfüllen.

Bei den Gesprächen über das Gewerbe stand eines
fest – das wurde uns sehr schnell klar –: Dieses Thema
taugt nicht für ideologische Auseinandersetzungen oder
für den Vermittlungsausschuss. Wir von CDU/CSU und
FDP waren uns sehr schnell im Klaren darüber, und als
wir unsere Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen ansprachen, haben wir gemerkt, dass sie das genauso
sehen. Das war die Grundlage für die Verhandlungen,
die hart, aber niemals zäh waren; denn sonst würden wir
heute noch sitzen und verhandeln. Sie waren auch immer
fair; denn sonst hätten wir heute keinen so tragbaren
Kompromiss.

All den Mitarbeitern aus unseren Fraktionen, aus dem
Bundesverkehrsministerium – Herr Doose und Herr
Hamburger –, aus den Länderministerien bzw. aus den
Ländern und auch aus den Verbänden, die uns dabei un-
terstützt haben, gilt auch heute unser Dank. Den möchte
ich hier für meine Fraktion auch noch einmal bestärken.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es war nicht leicht. Wir mussten einen Kompromiss
finden zwischen dem Vorrang der eigenwirtschaftlichen
Verkehre, die uns wichtig sind, weil für uns auch die
Gleichbehandlung der mittelständischen Unternehmen
in diesem Markt wichtig ist, und den Pflichten zur Da-
seinsvorsorge, die bei den kommunalen Aufgabenträ-
gern liegen und bestimmte Zwänge auslösen. Wir muss-
ten uns darüber verständigen: Wie wollen wir in Zukunft
den Nahverkehrsplan gestalten? Wie gestalten wir das
Verhältnis zwischen dem Aufgabenträger mit den Pflich-
ten, die er hat, und den Rechten, die sich daraus für ihn
ableiten, und einer neutralen Genehmigungsbehörde, die
darüber wacht, dass das Gesetz ordnungsgemäß ange-
wendet wird? Wir mussten auch einen Kompromiss fin-
den zwischen dem Willen der christlich-liberalen Koali-
tion zur Liberalisierung des Fernbusverkehres und den
Zwängen, die bestehen, um vor allen Dingen den schie-
nengebundenen Nah- und Fernverkehr zu schützen.

Ich glaube, wir haben in all diesen Bereichen sinn-
volle Regelungen geschaffen. Meine Vorredner haben
darauf hingewiesen. Ich muss das nicht noch im Einzel-
nen darlegen.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das wäre schon schön!)


Trotz alledem ist es wichtig, dass wir gerade im
Bereich des Fernverkehrs einfache Lösungen gefunden
haben. Hätten wir die Freigabe des Fernverkehrs mit zu
weitreichenden Vorgaben belastet, dann wäre der Start





Volkmar Vogel (Kleinsaara)



(A) (C)



(D)(B)


dieses neuen Marktsegmentes sicherlich schwieriger
gewesen – vielleicht nicht für die Großen am Markt, die
europaweit agieren, auf alle Fälle aber für die vielen
Kleinen, die hier neue Chancen zur Betätigung sehen
und aktiv sein wollen.

Gerade in diesem Bereich war die Barrierefreiheit
natürlich ein wichtiger Punkt, über den wir auch gemein-
sam diskutiert haben. Die Barrierefreiheit ist wichtig,
weil sie jeden von uns betreffen kann. Auf der anderen
Seite hat Barrierefreiheit nicht nur für Menschen mit
körperlicher Behinderung, sondern auch für junge Fami-
lien mit Kinderwagen eine Bedeutung, die genauso ent-
sprechende Einstiegsmöglichkeiten haben müssen.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau!)


Mit dem Kompromiss, den wir hier gefunden haben, so
denke ich, werden wir den berechtigten Anliegen der
Behinderten gerecht. Andererseits können auch die Un-
ternehmen, vor allen Dingen die kleinen Unternehmen,
wenn es um Investitionen geht, mit den wirtschaftlichen
Zwängen leben.

Zum Abschluss lassen Sie mich noch zwei Worte zu
unserem Entschließungsantrag sagen. Ich denke, die Tat-
sache, dass wir einen gemeinsamen Entschließungsan-
trag vorlegen, zeigt, dass wir an diesem Thema gemein-
sam dranbleiben wollen. Die Stärkung des BAG ist ein
richtiger Ansatz, damit es auch in Zukunft die erweiter-
ten Kontrollaufgaben, die sich mit dem Markt Fernbus-
linienverkehr ergeben, realisieren kann. Daran müssen
wir arbeiten.

Abschließend muss man sagen: Barrierefreiheit heißt
natürlich auch technische Umsetzung. Wir haben in Ge-
sprächen erfahren, dass die technischen Standards, die
aus unserer Sicht europaweit bei Fernbussen gelten müs-
sen, noch nicht in der Schärfe vereinheitlicht sind, wie
das notwendig wäre.

Man muss auch hier sehen: Wir wollen die Barriere-
freiheit und das Angebot dafür im Fernverkehr haben. Das
heißt aber für die Unternehmen, die das umsetzen müssen,
Planungssicherheit und Investitionssicherheit, sodass sie
nicht am Ende einen Bus kaufen, der zwar augen-
scheinlich Barrierefreiheit gewährleistet oder Plätze für
Behinderte bietet, aber dann nicht den beschlossenen
Standards entspricht.

An diesem Punkt müssen wir weiter arbeiten. Das
werden wir gemeinsam im Auge behalten. Ich denke, um
diese Zeit kann man sagen, dass wir diesen Tag zu einem
guten Abschluss gebracht haben. Ich möchte Sie darum
bitten, dass Sie alle gemeinsam, auch die Linken, unse-
rem Gesetzentwurf zustimmen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719536200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur

Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschrif-
ten. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/10857, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/8233 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Ände-
rungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir
zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag
auf Drucksache 17/10858? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die
Stimmen der Linken mit Zustimmung der übrigen vier
Fraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Hierzu liegt eine persönliche
Erklärung zur Abstimmung des Kollegen Ilja Seifert
vor.1) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen
die Stimmen der Linken angenommen.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge. Zunächst Entschließungsantrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/10859. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist von den
beantragenden Fraktionen bei Enthaltung der Linken an-
genommen.

Nun Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/10860. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Entschließungsantrag ist mit den gleichen Mehr-
heitsverhältnissen wie zuvor abgelehnt.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Entwurf eines Gesetzes der Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung personenbeförde-
rungs- und mautrechtlicher Vorschriften. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Empfehlung auf
Drucksache 17/10857, den Gesetzentwurf der Fraktio-
nen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/7046 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim-
mig angenommen.

Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/7487 mit dem Titel „Keine Liberalisierung des
Buslinienfernverkehrs – Für einen Ausbau des Schienen-
verkehrs in der Fläche“. Wer stimmt für diese Beschluss-

1) Anlage 2





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


empfehlung? – Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der vier
Fraktionen gegen die Stimmen der beantragenden Frak-
tion Die Linke angenommen.

Nun kommt eine ganze Reihe von Abstimmungen
und von zu Protokoll gegebenen Reden.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Lothar Binding (Heidelberg), Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Deutschland braucht dringend eine kohä-
rente Strategie für die zivile Krisenpräven-
tion

– zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen),
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Zivile Krisenprävention ins Zentrum deut-
scher Außenpolitik rücken

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof
Schmidt, Omid Nouripour, Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ressortübergreifende Friedens- und Sicher-
heitsstrategie entwickeln

– Drucksachen 17/4532, 17/5910, 17/6351,
17/8711 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Edelgard Bulmahn
Joachim Spatz
Jan van Aken
Kerstin Müller (Köln)


Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind einverstanden.1)

Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/8711. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/4532 mit dem Titel
„Deutschland braucht dringend eine kohärente Strategie
für die zivile Krisenprävention“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stim-
men von SPD und Grünen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/5910 mit dem Titel „Zivile Kri-
senprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik
rücken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen
wie zuvor angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/6351 mit dem Titel „Ressortübergreifende Frie-
dens- und Sicherheitsstrategie entwickeln“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Auch hier haben CDU/CSU, FDP und
Linke dafür gestimmt und SPD und Grüne dagegen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Energiesteuer- und des Strom-
steuergesetzes

– Drucksachen 17/10744, 17/10797 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Interfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die Re-
den zu Protokoll zu geben.2) – Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 17/10744 und 17/10797 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 21:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Angelika Graf (Rosenheim), Bärbel Bas, Elke
Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Glücksspielsucht bekämpfen

– Drucksachen 17/6338, 17/10695 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben.


Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1719536300

Seit Dezember 2011 wird der Entwurf zur 6. Verord-

nung zur Änderung der Spielverordnung mit Ressorts,
Ländern und Verbänden abgestimmt. Der Entwurf greift
die Vorschläge zur Verbesserung des Spieler- und Ju-

1) Anlage 5 2) Anlage 6





Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)


gendschutzes bei den Geldspielgeräten auf, die im Be-
richt des Bundesministeriums für Wirtschaft und Tech-
nologie zur Evaluation der 5. Spielverordnung enthalten
sind.

Das ist gut und richtig, denn Glücksspiel ist weit ver-
breitet. 45 Prozent der erwachsenen Bevölkerung haben
im vergangenen Jahr schon einmal an einem öffentlich
angebotenen Glücksspiel teilgenommen. Rund 9 Prozent
der Bevölkerung haben bereits an Geldspielautomaten in
Spielhallen und Gaststätten gespielt. Aber auch
11 Prozent der Deutschen haben ein oder mehrmals die
Spielbanken aufgesucht und dort am sogenannten großen
Spiel an den Spieltischen oder am sogenannten kleinen
Spiel an den dortigen Spielautomaten teilgenommen.

Besorgniserregend ist in der Tat – insoweit teile ich
die Grundüberlegung Ihres Antrages –, dass mittler-
weile rund 1,4 Prozent der Bevölkerung in den letzten
12 Monaten risikoreich gespielt haben, 0,3 Prozent pro-
blematisch und 0,35 Prozent spielten pathologisch
Glücksspiele, wobei pathologisches Glücksspiel als ei-
genständige psychische Erkrankung im internationalen
diagnostischen System des CDI-10 anerkannt ist.

Die Suchtpotenziale unterscheiden sich nach Art des
Spiels. Die Teilnahme an Sportwetten, dem kleinen Spiel
in der Spielbank, Poker und Geldspielautomaten ist mit
einem erhöhten Risiko für pathologisches Glücksspiel
verbunden. Geldspielautomaten haben nach allen Un-
tersuchungen das höchste Suchtpotenzial. Das ist auch
einleuchtend, denn zum einen erlebt der Spieler mit der
schnellen Spielefrequenz und der bislang erlaubten
Mehrfachbespielung den Verlust immer weniger. Er hat
keine Zeit, zu realisieren, dass im Augenblick des Spiels
vor dem neuen Druck auf die Taste der Einsatz weg ist.
Zum andern wird mit höherem Einsatz der Anreiz, den
Verlust auszugleichen, auch unmittelbar höher. Vor al-
lem sind die Automatenspiele außerhalb der staatlichen
Spielbanken in Spielhallen und Gaststätten überall ver-
fügbar. Deshalb ist es sicher richtig, dort anzusetzen.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD:
Ihr Antrag ist mit dem Adressaten Bundesregierung
überwiegend an die falsche Adresse gerichtet. Mit der
Föderalismusreform im Jahr 2006 ist die Kompetenz für
die Hallen auf die Länder übergegangen, und zum
1. Juli 2012 ist auch der neue Glücksspielstaatsvertrag
der Länder in Kraft getreten. Ich gehe deshalb auch da-
von aus, dass Sie Ihre Forderungen und Anregungen bei
ihren jeweiligen Landesregierungen erfolgreich ange-
bracht haben. Der Bund bleibt lediglich für die geräte-
bezogene Regelung zuständig. Nicht nur in diesem Teil-
bereich sind wir uns in der christlich-liberalen Koa-
lition selbstverständlich unserer Verpflichtung bewusst.

Ich will hier auch darauf hinweisen, dass das BMG
seit 2007 im Rahmen eines Modellprojektes mit einer
Gesamtsumme von 1,1 Millionen Euro die Entwicklung
und Erprobung von frühen Interventionen bei pathologi-
schem Glücksspiel fördert. Schon jetzt steht fest, dass die
Qualifizierung in der Suchthilfe für Glücksspielsucht mit
dem Modellprojekt gelungen ist. Die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung ist umfassend tätig; ich
nenne als Beispiel das Beratungstelefon. Soweit Sie den

Einsatz auf europäischer Ebene anmahnen, hat
Deutschland im Rahmen der Ratsarbeit zum Glücksspiel
selbstverständlich auf die Bedeutung hingewiesen, die
dem Schutz der Allgemeinheit vor unkontrolliertem
Glücksspiel zukommt. Es geht dabei insbesondere um
den Minderjährigenschutz, die Bekämpfung der Spiel-
sucht und den Schutz vor Folge- oder Begleitkriminali-
tät.

Spielerschutz und Vorbeugung sind mir wichtige An-
liegen. Die christlich-liberale Union wird alles dafür
tun, dass in ihrem Einflussbereich Spielerschutz und
Prävention zentraler Punkt jeder Neuregelung sind.
Deshalb sind natürlich neue, gerätebezogene Regelun-
gen nach der Evaluation der 5. Spielverordnung drin-
gend notwendig. Denn die früheren Unterhaltungs-
spiele, bei denen der Geldeinsatz nur dazu dienen sollte,
das Gerät zu bedienen, wie zum Beispiel bei den
Flipperautomaten, gibt es kaum noch. Das Unterhal-
tungselement trat im Laufe der Zeit in den Hintergrund.
Heute dominiert bei den Automaten der Gewinnaspekt.

Gerade durch die Novellierung der Spielverordnung
2006 wurden die Ereignisfrequenz, die Illusion der Be-
einflussbarkeit von Einsatz und Gewinn erhöht. Es ist
vor allem festzuhalten, dass mit der folgenden zuneh-
menden Attraktivität des Automatenspiels nicht gleich-
zeitig die Schutzmaßnahmen zur Verhinderung von
Sucht angepasst wurden. Die Evaluation der 5. Spielver-
ordnung hat ergeben, dass der damals beabsichtigte
Schutz zum Beispiel mit dem Verbot der Fungames
durchaus erreicht wurde. Allerdings konnten die Vorga-
ben vor allem illegale Praktiken, insbesondere bei den
Punktspielen, wie das sogenannte Vormünzen, nicht aus-
reichend verhindern. Der Jugendschutz in den Hallen
wurde weitestgehend eingehalten; aber in den Gaststät-
ten liegt oder lag offenbar vieles im Argen.

Der Entwurf der 6. Spielverordnung greift nun bereits
viele Aspekte auf: Er sieht erfreulicherweise Maßnah-
men zur Verbesserung des Jugend- und Spielerschutzes
vor. Zudem sollen die gerätebezogenen Regelungen ge-
nerell verschärft werden. Zu diesem Zweck sollen
Spielanreize und Verlustmöglichkeiten durch die Absen-
kung des maximalen Durchschnittsverlustes pro Stunde
begrenzt, das sogenannte Punktspiel eingeschränkt und
die Mehrfachbespielung eingedämmt werden. Vorgese-
hen ist die Einführung einer Spielunterbrechung mit
Nullstellung der Geldspielgeräte nach drei Stunden. Das
sogenannte Vorheizen der Geldspielgeräte, also das
Hochladen von Punkten durch das Personal der Spiel-
stätte, wird ausdrücklich verboten. Die Mehrfachbespie-
lung von Geldspielgeräten wird weiter eingedämmt
durch eine Reduzierung der Geldspeicherung in Ein-
satz- und Gewinnspeichern und eine Verschärfung der
Beschränkung von Automatiktasten. Insgesamt soll so
der Unterhaltungscharakter der Geldspielgeräte wieder
gestärkt werden. Das bestehende Spielverbot für Ju-
gendliche soll durch Verschärfung der Regelungen zu
Automaten in Gaststätten gestärkt werden. Um schneller
auf Fehlentwicklungen reagieren zu können, sollen die
Bauartzulassung und die Aufstelldauer für Geldspielge-
räte befristet werden. Alles in allem ist das, meine ich,
eine gute Entwicklung.

Zu Protokoll gegebene Reden





Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)


Wenn wir von Mängeln und Versäumnissen reden, die
sich aus der Evaluation deutlich erkennen lassen, ist mir
aber eine differenzierte Betrachtung wichtig: Ich wehre
mich entschieden dagegen, dass eine gesamte Branche,
die nach wie vor ein zulässiges Gewerbe betreibt, Aus-
bildungs- und Arbeitsplätze schafft und Steuern zahlt, in
Verruf gebracht wird, um die schwarzen Schafe – die es
sicher in der Branche gibt – zu erfassen.

Selbstverständlich müssen Regeln eingehalten wer-
den und muss jeder, der versucht, Regeln zu umgehen,
empfindlich bestraft werden. Zurzeit sind einige sucht-
politische relevante Vorgaben – wie beispielsweise das
Auslegen von Informationsbroschüren über die Risiken
des übermäßigen Spielens – noch nicht einmal als Ord-
nungswidrigkeit geahndet. Das geht so nicht und ist zu
ändern. Auch ist die Höhe der Bußgelder für viele Ord-
nungswidrigkeiten-Tatbestände zu gering. Das BMWi
will die Bußgeldandrohung bei Verstößen gegen die
Spielverordnung von 2 500 Euro auf 5 000 Euro anhe-
ben. Hier werde ich auf empfindlichere Bußgelder hin-
wirken.

Ich rede aber jetzt nicht nur von den Erhöhungen im
Ordnungswidrigkeitenbereich, sondern von krimineller
Energie. Nicht zuletzt hat das BMF Ergänzungen der
Spielverordnung um Regelungen zur Datenspeicherung
und zur Verbesserung des Manipulationsschutzes zur
Verhinderung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung
verlangt. Die entsprechenden Vorschläge werden aktuell
erarbeitet. Es geht um die Bauartzulassung, die künftig
nur erteilt werden soll, wenn sämtliche von der Kontroll-
einrichtung in Spielgeräten erfasste Daten dauerhaft
und jederzeit verfügbar, lesbar und auswertbar sind und
wenn vor allem nachträgliche Änderungen erkennbar
bleiben. Die Umstellung erfordert insbesondere Anpas-
sungen der technischen Richtlinien der PTB, neue
Schnittstellenstandards und Auslesetechniken sowie an-
gemessene Übergangsfristen. Infolgedessen sind die
Vorarbeiten zur 6. Spielverordnung auch noch nicht ab-
geschlossen.

Ich konnte mich jedenfalls in vielen Gesprächen, de-
nen auch Taten gefolgt sind, selbst davon überzeugen,
dass die Branche die Probleme erkannt hat und durch-
aus bereit ist, mitzuwirken. Deshalb setze ich mich dafür
ein, dass das Element der freiwilligen Selbstkontrolle
Teil der Regelung bleibt und dass erst dann, wenn diese
nicht funktioniert, die staatliche Repression – dann aber
auch mit aller Schärfe – einsetzt.

Noch ein Aspekt ist mir wichtig: Allein mit weiteren
technischen Vorschriften kann der Spielerschutz auf
lange Sicht nicht sichergestellt werden. Ein Gutachten
von Professor Tilmann Becker, Universität Stuttgart-Ho-
henheim, nimmt unter anderem zu Maßnahmen der Auf-
klärung und Information von Spielern und Mitarbeitern
und zum Schutz der gefährdeten Spieler Stellung. Pro-
fessor Becker zeigt, dass Identitätskontrollen eine Maß-
nahme sind, um die soziale Verfügbarkeit zu verringern.
Er stellt dar, dass die Selbstsperre zu den effektivsten
Maßnahmen des Spielerschutzes gehört, und er erklärt,
dass eine Verpflichtung der Anbieter, Sozialkonzepte
vorzulegen, die Mitarbeiter zu schulen sowie die Spieler

aufzuklären und zu informieren, maßgeblich zur Präven-
tion beitragen kann.

Die Studie weist nach, dass der Automatenspieler ei-
nen Spielemix in Anspruch nimmt. Neben dem Spiel in
den Spielstätten pokern 52,2 Prozent. 42,9 Prozent spie-
len auch in Automatensälen von Spielbanken und
39,6 Prozent nehmen am Fußballtoto teil. Im Durch-
schnitt werden von pathologischen Spielern 5 Spielfor-
men genannt, die sie betreiben. In dieser Studie werden
übrigens nur von 3,4 Prozent der pathologischen Spieler
Geldgewinnspielgeräte als bedeutsamstes Spiel in den
vergangenen 12 Monaten genannt. Jedenfalls gibt es, so
die Studie, nicht den pathologischen Automatenspieler,
sondern allenfalls den pathologischen Spieler, der eben
unter anderem auch an Automaten spielt. Sollte also das
Automatenspielangebot gänzlich für ihn wegfallen, ist
zu erwarten, dass er den Automaten durch ein anderes
Angebot ersetzt. Vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass man die Spieler in den Spielhallen mit Schutz-
maßnahmen, Prävention und Suchtangeboten noch am
besten erreicht, dem dortigen Alkoholverbot und den
Steuerungsmöglichkeiten der Kommunen wäre ein Aus-
weichen ins Internet mit gleichen Glücksspielangeboten,
wie ich es an dieser Stelle bereits beschrieben habe, si-
cher eine sehr schlechte Variante.

Für die Suchtentwicklung ist auf den Einzelfall, auf
den einzelnen Menschen, seinen Lebenshintergrund und
das von ihm bevorzugte Glücksspiel abzustellen. Auch
das Emnid-Institut hat in seiner neuesten Studie dazu
festgestellt, dass der pathologische Spieler diese fünf
unterschiedlichen Spielformen nutzt. Nicht das Spielan-
gebot sei ursächlich, sondern krankhafte Strukturen in
der Spielerpersönlichkeit.

Nochmals: Selbstverständlich darf der Schutz vor den
Gefahren des Automatenspiels nicht vernachlässigt wer-
den. Maßnahmen wie die Spielerkarte gegen illegale
Spielpraktiken wie Mehrfachbespielung sind hier sicher
gut und richtig. Genau dazu wird mit der 6. Verordnung
zur Änderung der Spielverordnung vom BMWi eine Er-
mächtigungsgrundlage geschaffen. Die Karte soll nur
für einen Tag und für eine Spielstätte gelten. Sie kann
nur an einem Gerät eingesetzt werden, sodass Mehr-
fachbespielungen ausgeschlossen werden. Die Karte
soll auch eine maximale Obergrenze für mögliche Ein-
zahlungen beinhalten. Gewinne werden nicht auf der
Karte gespeichert, sondern müssen – ebenso wie mögli-
cherweise verbleibende Restbeträge – bis zur Schlie-
ßung der Spielhalle ausbezahlt werden.

Ich werde mich auch weiterhin dafür einsetzen, dass
die Kenntnisse der Spielhallenbetreiber über den Spie-
ler- und Jugendschutz verbessert werden und eine Sach-
kundeprüfung zur Voraussetzung für eine Spielhallener-
laubnis gemacht wird. Auch dazu konnte ich mich
übrigens von Fortschritten überzeugen. Es geht auch um
die Förderung von Sozialkonzepten, zum Beispiel die
Einführung von Suchtpräventionsbeauftragten.

Mir ist der kohärente Spielerschutz ein dringendes
Anliegen. Ich bin davon überzeugt, dass wir für den Teil-
bereich Automatensucht eine gute Lösung erwarten kön-
nen. Ihren Antrag lehnen wir ab.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1719536400

Von der FDP haben wir in den Ausschussanhörungen

zu unserem Antrag gehört, dass Glücksspielsucht angeb-
lich nur wenige Menschen betreffe. Das halte ich vor
dem Hintergrund von rund 500 000 pathologischen
Glücksspielern, rund 800 000 problematischen Spielern
und rund 3 Millionen Menschen, die ein oder zwei Krite-
rien für risikoreiches Glücksspiel erfüllt haben, für äu-
ßerst zynisch. Zumal die Bundesregierung in ihrem eige-
nen Drogenbericht nicht nur die besonders starke
Suchtgefahr erwähnt, die es bei Geldspielautomaten
gibt, sondern auch von einer starken Steigerung der
Zahl der Süchtigen, insbesondere im Bereich junger
Männer, spricht und sich der Bruttospielertrag seit 2005
von 2,35 Milliarden Euro auf 4,14 Milliarden Euro um
über 76 Prozent dramatisch erhöht hat.

Von CDU und CSU haben wir in den Beratungen ge-
hört, dass nicht das Spielangebot ursächlich für die
Sucht sei, sondern „krankhafte Strukturen in der Per-
sönlichkeit der Spieler“. Das hört man in den USA auch
immer von der Waffenlobby; nicht die Waffen sind das
Problem, sondern die Menschen, die diese Waffen benut-
zen. Die Schlussfolgerung der Lobby in den USA: Weil
die Waffen ja nicht das Problem sind, braucht es keine
Regulierung. Beim Glücksspiel ist die schwarz-gelbe
Logik, dass man – weil ja das Problem bei den Spiel-
süchtigen liege – auf eine Regulierung der Geldspielau-
tomaten weitgehend verzichten könne. Das ist auch des-
wegen ein Skandal, da die Bundesregierung damit den
eigenen Evaluierungsbericht der Novelle der Spielver-
ordnung, der einen deutlichen Ausbau der Regulierung
fordert, einfach ignoriert.

Daran kann man leider sehen, dass die Automaten-
lobby bei der Bundesregierung vollen Erfolg hatte. So-
gar die krude Theorie der Lobby, wonach eine zu starke
Regulierung der Geldspielautomaten die Menschen an-
geblich in die noch schlimmere Online-Glücksspielsucht
treibe, scheint inzwischen eine schwarz-gelbe Mehr-
heitsmeinung zu sein, und das, obwohl die einzige
Grundlage dieser Theorie eine von der Automatenlobby
selbst finanzierte Studie ist und alle seriösen Suchtex-
perten in der Anhörung zu unserem Antrag „Glücks-
spielsucht bekämpfen“ energisch diese Theorie ins
Reich der Fantasie verwiesen haben. Das Gegenteil ist
der Fall, in der Anhörung haben wir gehört, dass sich
die Süchte sogar noch gegenseitig verstärken, eine bes-
sere Regulierung daher dringend notwendig wäre und
die angebliche „Kanalisierung“ lediglich eine Schutz-
behauptung für diejenigen ist, die keine Suchtprävention
wollen. Die Frage ist also nur, ob die Regierungsfrak-
tionen nicht zugehört haben oder ob sie nicht zuhören
wollen.

Das endlose Gezerre um die neue Spielverordnung,
die von der Bundesregierung eigentlich schon für das
erste Halbjahr 2011 angekündigt war, vermittelt eher
den Eindruck, dass Schwarz-Gelb schlicht und ergrei-
fend den Schutz von Süchtigen und den Jugendschutz ge-
genüber wirtschaftlichen Interessen der Automatenwirt-
schaft als nachrangig erachtet. So hatten alle bisherigen
Entwürfe des FDP-geführten Bundeswirtschaftsministe-

riums für die Novelle der Spielverordnung stets eines ge-
meinsam: viele Placebos, wenig Suchtprävention.

Nehmen wir zum Beispiel die Spielerkarte. Die SPD
fordert die Einführung eines Identifikationssystems und
eine personengebundene Spielerkarte, mit der es zum
Beispiel in Norwegen einige gute Erfahrungen gibt. Das
Prinzip ist dabei, dass jeder nur eine personalisierte
Karte erhält und Jugendliche keine erhalten. Damit
wäre auch das dringend notwendige bundesweite Sperr-
system für Süchtige möglich, für das wir uns einsetzen.
Denn Süchtige können sich bisher nur für die in Kompe-
tenz der Länder befindlichen Glücksspielbereiche selbst
sperren lassen. Das gilt zum Beispiel für Spielcasinos,
für Geldspielautomaten in Spielhallen und gastronomi-
schen Einrichtungen gilt es aber nicht, wodurch das
ganze Sperrsystem ausgehöhlt wird. Das müssen wir
dringend ändern.

Das Bundeswirtschaftsministerium will aber bisher
eine personenungebundene Spielerkarte einführen, die
auch von der Automatenwirtschaft befürwortet wird.
Alle Experten aus der Suchthilfe haben dagegen in der
Anhörung zu unserem Antrag erklärt, dass eine per-
sonenungebundene Spielerkarte im besten Fall ein Pla-
cebo ist und im schlechtesten Fall die Suchtgefahr noch
erhöht, nämlich dann, wenn sie eher den Charakter ei-
ner Kundenkarte hat. Das Problem mit einer Spieler-
karte ohne Identifizierung ist, dass sie problemlos wei-
tergegeben werden kann, sowohl an Süchtige, die an
mehreren Automaten gleichzeitig spielen wollen, als
auch an Minderjährige. Dies befürchtet auch der Bun-
desrat. Zeitliche oder finanzielle Begrenzungen als
Schutzfunktion sind zudem nicht möglich, wenn jeder
Spieler in jeder Spielhalle eine neue Karte erhalten
kann. Eine personenungebundene Spielerkarte verbes-
sert also weder den Jugendschutz noch die Suchtpräven-
tion und hat auch keine Steuerungsfunktion.

Noch schlimmer wäre es nur, wenn diese personenun-
gebundene Spielerkarte auch noch eine Geldkartenfunk-
tion erhielte und damit bargeldloses Zahlen ermögli-
chen würde, was die Sucht fördern würde. Derzeit wird
von der Bundesregierung und interessanterweise auch
von Vertretern der Automatenwirtschaft dementiert,
dass eine Geldkartenfunktion geplant sei, Bundeswirt-
schaftsminister Philipp Rösler von der FDP hatte sich
jedoch in der Vergangenheit wohlwollend genau dazu
geäußert.

Vor diesem Hintergrund darf man sich nicht wundern,
dass die Koalitionsfraktionen zu unserer Anhörung zum
Antrag „Glücksspielsucht bekämpfen“ ausgerechnet
Herrn Gauselmann eingeladen hatten, der von „Lobby-
Control“ für eine „Lobbykratie-Medaille“ nominiert
wurde. Und die jetzige Debatte über verdeckte Partei-
spenden und die wirtschaftlichen Verflechtungen der
FDP mit der Gauselmann AG kann einen auch nicht
wirklich überraschen.

Überraschend ist für mich lediglich, dass es offen-
sichtlich niemanden in CDU, CSU und FDP gibt, der die
Suchtprävention gegenüber wirtschaftlichen Interessen
als vorrangig betrachtet. Die gesamte Opposition hat
hier eine andere Herangehensweise.

Zu Protokoll gegebene Reden





Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



(D)(B)


Die SPD hat in ihrem Antrag „Glücksspielsucht be-
kämpfen“ etliche Vorschläge für die notwendige Weiter-
entwicklung der Suchtprävention und des Jugendschut-
zes sowie auch speziell für die Novelle der Spiel-
verordnung vorgelegt. Wir haben konkrete Vorschläge
für die Entschärfung und Entschleunigung der Geld-
spielautomaten, mehr Transparenz für die Spieler hin-
sichtlich der realen Gewinnchancen sowie den Abbau
von suchtfördernden Funktionen der Automaten vorge-
stellt. Ich freue mich darüber, dass der Antrag sowohl
mehrheitlich von den Experten in der Anhörung unter-
stützt wurde als auch von den anderen Oppositionsfrak-
tionen viel Zuspruch erhalten hat. Ich freue mich zudem
darüber, dass die Bundesregierung offenbar unseren
Vorschlag aufgreifen will, den Einfluss der Kommunen
auf die Standortentscheidungen von Spielhallen auszu-
bauen. Wir werden sehr darauf achten, dass es im Rah-
men der Novelle des Baugesetzbuches dabei nicht nur
bei Ankündigungen bleibt.

Wir brauchen dringend ein Gesamtkonzept zur Prä-
vention und Bekämpfung von Glücksspielsucht und dazu
auch eine bessere Zusammenarbeit von Bund und Län-
dern, für die wir bei der Drogenbeauftragten der Bun-
desregierung einen unabhängigen Beirat einsetzen wol-
len, der auch Empfehlungen für die Prävention abgeben
soll. Ein kohärentes System der Prävention und Be-
kämpfung der Glücksspielsucht ist nicht zuletzt die Vo-
raussetzung für den Erhalt des staatlichen Glücksspiel-
monopols, und Letzteres dürfen wir nicht aufs Spiel
setzen, denn es bietet den bestmöglichen Rahmen für die
Suchtprävention und den Jugendschutz. Schwarz-Gelb
gefährdet daher mit der Untätigkeit im Bereich der
Geldspielautomaten das gesamte staatliche Glücksspiel-
monopol und mit ihm die Suchtprävention auch in ande-
ren Glücksspielbereichen.


Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1719536500

Glücksspielsucht ist ein ernstzunehmendes Problem,

dem wir uns weiterhin zuwenden müssen. Denn Spielen
kann zu einem schweren Problem werden. Glücksspiel-
sucht geht im Extremfall mit hoher Verschuldung und
gesteigertem Verarmungsrisiko einher und stellt für die
Betroffenen und ihre Familien eine große psychische Be-
lastung dar. Wie bei jeder Suchterkrankung droht sich
die Spirale immer weiter zu drehen, wenn nicht rechtzei-
tig interveniert wird.

Bei aller Notwendigkeit, praktikable Lösungsansätze
gegen Glücksspielsucht zu entwickeln, muss aber auch
festgehalten werden: Es sind in Deutschland rund
264 000 Menschen im Alter von 16 bis 65 Jahren glücks-
spielsüchtig. Weitere 275 000 weisen ein problemati-
sches Glücksspielverhalten auf. Unter dem Strich ist das
circa 1 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in
Deutschland.

Die absoluten Zahlen klingen gewaltig, und klar ist
auch, dass jedem Einzelnen geholfen werden sollte. Die
relativen Zahlen sprechen allerdings auch eine eindeu-
tige Sprache: 99 Prozent der Bevölkerung im Alter von
16 bis 65 Jahren weisen kein problematisches oder pa-
thologisches Glücksspielverhalten auf. Ich empfinde es

als erfreulich, dass Glücksspiel für die überwiegende
Mehrheit nicht mehr ist als ein faszinierender Frei-
zeitspaß. Das dürfen wir auch bei der Regulierung des
Automatenspiels nicht vergessen.

Genau deshalb muss bei der Neujustierung der Re-
geln mit viel Augenmaß vorgegangen werden. Ein
Schwerpunkt bei der Bekämpfung von Glücksspielsucht
sollte daher bei Information und Prävention liegen. Zen-
trale Punkte dabei sind zum Beispiel Mitarbeiterschu-
lungen zur Früherkennung sowie Informationsmateria-
lien über kostenfreie und anonyme Beratungsmög-
lichkeiten. Auch die Hinweise auf das Beratungstelefon
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind
von zentraler Bedeutung.

Sehr begrüßenswert ist auch das seit 1985 bestehende
Alkoholverbot in vielen sogenannten „Spielotheken“.
Dies hilft den Spielgästen im wahrsten Sinne, einen kla-
ren Kopf zu behalten und nicht in riskantes Spielverhal-
ten abzudriften.

Von besonderer Wichtigkeit ist der Jugendschutz:
Minderjährige gehören einfach nicht an Automaten.
Wenn mancherorts das Jugendschutzgesetz nicht einge-
halten wird, haben wir ein Vollzugsdefizit, aber kein Ge-
setzesdefizit. Hier sind die Ordnungsbehörden angehal-
ten, das Jugendschutzgesetz konsequenter zu über-
wachen.

Die Bundesregierung arbeitet darüber hinaus an ge-
setzlichen Neuregelungen der Spielverordnung und der
Gewerbeordnung, um einen noch besseren Jugend- und
Spielerschutz zu erreichen. Geplant ist beispielsweise die
Einführung einer personenungebundenen Spielerkarte,
mit der man den Automaten freischalten muss. Dies
schafft einen besseren Jugendschutz, denn so wird die Ge-
fahr verringert, dass Minderjährige an Automaten spie-
len. Und dies schafft auch einen besseren Spielerschutz,
denn damit wird die gefährliche Automaten-Mehrfachbe-
spielung unterbunden.

Die Neuregelung der Spielverordnung und der Ge-
werbeordnung befindet sich gerade in der Feinjustie-
rung zwischen den zuständigen Ministerien. Der von
der SPD-Fraktion vorgelegte Antrag hat seine Erledi-
gung gefunden. Nicht nur, weil sich die christlich-libe-
rale Koalition der Glücksspielproblematik bereit ist an-
genommen hat, sondern auch, weil der SPD-Antrag in
weiten Teilen über das Ziel hinausschießt.


Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719536600

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes

vom 8. September 2010 ist das Thema Glücksspielsucht
verstärkt in den Vordergrund der sucht- und drogenpoli-
tischen Debatten gerückt. Aufgrund dieses Urteils
musste der Glücksspielstaatsvertrag der Bundesländer
reformiert werden, um das staatliche Glücksspielmono-
pol aufrechterhalten zu können. Das Gericht hatte unter
anderem die staatliche Werbung für Lotterien und den
gleichzeitigen Auftrag der Suchtprävention mit dem Mo-
nopolanspruch des Staates auf das Glücksspiel für un-
vereinbar erklärt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Frank Tempel


(A) (C)



(D)(B)


Vor allem Geldspielautomaten stellen sich hierbei als
Hauptproblem einer Glücksspielsucht heraus, und die
Anhörung zum Antrag im Gesundheitsausschuss vom
21. März 2012 hat ergeben, dass vor allem bei den Geld-
spielautomaten ein enormer Handlungsbedarf besteht:
Gerade das Glücksspiel an Geldautomaten, das einen
Schwerpunkt des Antrags bildet, besitzt ein erhöhtes
Suchtpotenzial.

Der Antrag der SPD greift die mit dem Glücksspiel
verbundene Suchtproblematik auf und enthält richtige
Forderungen, die uns aber noch nicht weit genug gehen.
Daher auch unsere Enthaltung zu diesem Antrag.

Die Forderung nach einer Entschleunigung der Geld-
spielautomaten, die Senkung des maximalen Verlustes
pro Stunde, die Einführung eines verpflichtenden Identi-
fikationssystems sowie eine Höchstzahl von Automaten
in gastronomischen Einrichtungen sind richtige Punkte
im Antrag der SPD. Allerdings sind die vorgeschlagenen
15 bis 20 Sekunden pro Spiel immer noch viel zu niedrig
angesetzt. Ergebnisse verschiedener Suchtforscher und
des Fachbeirats Glücksspielsucht sprechen eher von
60 Sekunden. Dies ist neben der Reduzierung der Ver-
fügbarkeit entscheidend für die Suchtbekämpfung und -
prävention und prioritär vor Spielerkarten oder auch
anderen Gerätespezifika zu bewerten.

Gleichzeitig muss aber gefragt werden, ob es über-
haupt sinnvoll ist, das Automatenspiel außerhalb von
Spielkasinos zu ermöglichen. Zwar sieht der Antrag der
SPD Sanktionierungsmaßnahmen gegen Betreiber vor,
falls diese sich nicht an die vorgeschlagenen Regelun-
gen halten, die Frage der Kontrolle bleibt jedoch offen.
Es ist nur schwer vorstellbar, dass nun die Ordnungsäm-
ter und Polizeikräfte – neben der Vielzahl an Aufgaben,
die bisher erledigt werden können – nun auch noch die
Kontrolle von Lokalitäten übernehmen sollen. Die „Er-
hebung zur Einhaltung des Jugend- und Spielerschutzes
in Berliner Imbissen mit Geldspielautomaten“ der Fach-
stelle für Suchtprävention im Land Berlin in Koopera-
tion mit dem Präventionsprojekt Glücksspiel 2011 bestä-
tigte, dass Jugendliche unter 18 Jahren in der Gastro-
nomie unkontrollierten Zugang zu Geldspielgeräten ha-
ben. Wie im Antrag der SPD selbst niedergeschrieben,
ist der Zugang zu den Automaten viel zu niedrigschwel-
lig, gerade auch für Personen unter 18 Jahren.

Nachforschungen haben ergeben, dass vor allem
junge Migranten aus sozial schwierigen Verhältnissen
die größte Gruppe der abhängigen Spieler abbilden.
Spielhallen befinden sich besonders häufig in sozial
schwachen Gebieten.

Automatenspiel außerhalb von Spielkasinos, vor al-
lem in gastronomischen Einrichtungen, sollte daher
gänzlich verboten werden. Im Gegensatz zu gastronomi-
schen Einrichtungen verfügen Spielkasinos potenziell
über bessere Sicherungsmaßnahmen, um pathologi-
schen Spielern den Zutritt zu verwehren und den Ju-
gendschutz einzuhalten. Dies muss weiter gestärkt wer-
den.

Aus kommunalpolitischer Sicht bieten sich hier
durchaus Handlungsmöglichkeiten: So hat der ehema-

lige rot-rote Senat von Berlin im Mai 2011 als Erster ein
Spielhallengesetz beschlossen. Das Gesetz schreibt
strengere Vorschriften zum Aufstellen von Automaten
vor. So wurde zum Beispiel ein Mindestabstand von
500 Metern zwischen Hallen und Kinder- und Jugend-
einrichtungen beschlossen. Mitarbeiter müssen zudem
den Nachweis erbringen, Spielsucht erkennen zu kön-
nen. Anfang des Jahres 2011 wurde außerdem die Ver-
gnügungsteuer in Berlin auf Spielautomaten von 11 auf
20 Prozent erhöht. Die FDP stimmte im Abgeordneten-
haus als einzige Fraktion gegen dieses Gesetz.

Aber von der FDP können wir in diesem Bereich auf-
grund der offensichtlich guten Beziehungen mit der Au-
tomatenlobby keinerlei Änderungen zum Schutz vor den
Suchtgefahren durch das Automatenspiel erfahren. So
berichtete die ARD am 10. September 2012, dass an
FDP-Tochterunternehmen vom Glücksspielautomaten-
hersteller Gauselmann 2,5 Millionen Euro geflossen und
diese teilweise an die Partei weitergeleitet worden sind.

So ist es nicht verwunderlich, dass die längst überfäl-
lige Novellierung der Spielverordnung bis heute durch
das Bundeswirtschaftsministerium, FDP, verschleppt
wird. Und auch bei der Anhörung zum Thema Glücks-
spielsucht vom 21. März 2012 im Gesundheitsauschuss
des Deutschen Bundestages wurde Herr Gauselmann
von der FDP als Sachverständiger geladen. Einen Inte-
ressenskonflikt zwischen dem Verkauf von Glücksspiel-
automaten und der Aufklärung über die Suchtgefahren
des Automatenspiels sieht die FDP hierbei offensicht-
lich nicht gegeben. Wie bereits nach der Veröffentli-
chung durch die ARD wiederhole ich an dieser Stelle
meine Forderung: Das von der FDP geführte Bundes-
wirtschaftsministerium ist nun in der Pflicht, die nötige
Unabhängigkeit von der Automatenwirtschaft nachzu-
weisen. Es muss die Blockadehaltung in Fragen der
Spielverordnung aufgeben. Die überfällige Novellierung
dieser Verordnung muss in enger Rücksprache mit den
Suchthilfeverbänden geschehen.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719536700

Vor zwei Wochen berichtete das ARD-Magazin Moni-

tor darüber, dass ein Vertrauter und Geschäftspartner
der Firma Gauselmann, die hierzulande Geldspielge-
räte herstellt, insgesamt 2,5 Millionen Euro in ein FDP-
Tochterunternehmen investiert hat, wovon zumindest ein
Teil des Geldes auch an die Partei geflossen sein soll. So
kaufte das besagte Unternehmen der FDP beispiels-
weise ein Grundstück zu einem wohl überhöhten Preis
ab. Die Bundestagsverwaltung prüft derzeit, ob es sich
dabei um eine verdeckte Parteispende gehandelt hat.
Derselbe Gauselmann-Berater ist übrigens auch Mitin-
haber der Firma Pro Logo, die für die FDP in Sponso-
ringfragen tätig ist.

Vor dem Hintergrund dieser engen Verbindung ist es
mittlerweile kein Wunder mehr, dass das FDP-geführte
Bundeswirtschaftsministerium die Novellierung der
Spielverordnung nur zögerlich angeht. Eine vom Minis-
terium selbst in Auftrag gegebene Studie hat zwar im
Vorfeld noch einmal das erhebliche Suchtpotenzial von
Spielautomaten und die Unwirksamkeit der bisherigen

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Harald Terpe


(A) (C)



(D)(B)


Präventionsbemühungen festgestellt, aber davon ließ
sich Minister Rösler bislang nicht beeindrucken. Wir
wissen jetzt vielleicht wieso.

Wie stark die Industrie Einfluss auf die derzeitigen
Reformbemühungen nimmt, lässt sich an zwei Beispielen
veranschaulichen: Die Automatenhersteller haben in
den letzten Jahren durch die Umrechnung von Geldbe-
trägen in Punkte einen Weg gefunden, die geltenden Vor-
gaben der Spielverordnung zu umgehen. Anstatt diese
Praxis zu untersagen, hat das Ministerium ihr zwischen-
zeitlich durch einen Erlass de facto seinen Segen gege-
ben. Nun wurde selbst im Zuge der vom Ministerium in
Auftrag gegebenen Studie erklärt, dass dieses soge-
nannte Punktespiel ein maßgeblicher Faktor für die Ent-
stehung von Spielsucht und für den Verlust erheblicher
Geldsummen sei. Man könnte also meinen, dass dies der
dringendste Punkt ist, bei dem die Bundesregierung
Handlungsbedarf sieht – weit gefehlt. Rösler und sein
Ministerium erklären ausdrücklich, das Punktespiel zu-
lassen zu wollen, weil – und hier wird es jetzt zynisch –
ein Verbot von der Branche umgangen werden würde.

Zweites Beispiel. Die Bundesregierung erklärte, der
Entstehung von Sucht und der Umgehung des Jugend-
schutzes zukünftig dadurch begegnen zu wollen, indem
sie eine Spielerkarte einführt – so weit, so gut. Nun gab
es innerhalb der Bundesregierung – interessanterweise
zwischen zwei FDP-geführten Ministerien – einen Streit
darüber, wie diese Spielerkarte aussehen soll. Die Dro-
genbeauftragte der Bundesregierung schlug die Einfüh-
rung einer personengebundenen Spielerkarte vor, weil
nur diese aus suchtpolitischer Sicht Sinn macht. In die-
sem Punkt stimme ich ihr ausdrücklich zu. Die Automa-
tenbranche erklärte allerdings, allenfalls mit einer nicht
personengebundenen Karte leben zu können, etwas,
dass aus der Sicht von Spielsuchtexperten völlig nutzlos
ist und auch von den Ländern im Bundesrat abgelehnt
wird. Nun dürfen Sie raten, welcher Position sich das
Bundeswirtschaftsministerium angeschlossen hat. Die
Einführung einer personengebundenen Karte soll nun-
mehr allenfalls mittelfristig erfolgen. Mit anderen Wor-
ten: nie.

Insofern begrüßen wir die Initiative der SPD, die auf
Änderungen im Bereich der Spielautomaten drängt, zu-
mal es seinerzeit das SPD-geführte Wirtschaftsministe-
rium war, das die Spielverordnung auf Wunsch der
Branche erheblich gelockert hatte und somit für die der-
zeitige Situation mitverantwortlich ist. Meine Fraktion
hat in der Vergangenheit mehrfach Anläufe unternom-
men, die Prävention im Bereich Glücksspielsucht gerade
im Hinblick auf das Automatenspiel zu verbessern, zu-
letzt mit einer Anhörung im Gesundheitsausschuss und
mit einem Antrag, mit dem den Kommunen bessere Mög-
lichkeiten an die Hand gegeben werden sollten, die Neu-
ansiedlung von Spielhallen zu verhindern. Erfreulich ist,
dass die SPD nun ebenfalls vorschlägt, dieser Spielhal-
lenflut mittels einer Änderung der Baunutzungsverord-
nung Herr zu werden. Dem entsprechenden Antrag un-
serer Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wollten sie ja
seinerzeit noch nicht zustimmen.

Auch andere Forderungen des SPD-Antrags können
von uns unterstützt werden, insbesondere die strengeren
Rahmenvorgaben für Geldspielgeräte. Dies setzt aller-
dings voraus, dass die Einhaltung der Vorgaben durch
Sachverständige auch vor Ort kontrolliert werden kann.
Gerade diese Kontrollen vor Ort will die Bundesregie-
rung aber jetzt abschaffen. Eine sinnvolle Begründung
hat sie bislang dafür nicht abgegeben. Das fiele auch
schwer, waren es in den vergangenen Jahren gerade
diese Sachverständigen, die auf Manipulations- und
Umgehungsmöglichkeiten hingewiesen hatten. Viel-
leicht ist gerade das aber auch der Grund für die Ab-
schaffung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungs-
fraktionen, wirksamer Spielerschutz und eine effektive
Suchtprävention sind kein Ausdruck von Wirtschafts-
feindlichkeit. Sie entspringen einer nüchternen Kosten-
Nutzen-Bilanz. Die negativen Auswirkungen, die gesell-
schaftlichen Probleme und auch die sozialen Kosten, die
die Spielautomatenindustrie hierzulande zu verantwor-
ten hat, überwiegen bei Weitem das, was diese Branche
wirtschaftlich zur Entwicklung Deutschlands beiträgt.
Anstatt den Wünschen gerade dieser Szene blind Folge
zu leisten, sollten Sie sich die Mühe machen, sich mit
den Folgen genauer zu beschäftigen. Wenn Sie dies
wirklich einmal täten, würden auch Ihre Reformvor-
schläge anders aussehen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719536800

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/10695, den Antrag der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/6338 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Lin-
ken angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergän-
zung des Geldwäschegesetzes (GwGErgG)


– Drucksachen 17/10745, 17/10798 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden dazu
zu Protokoll zu geben. – Ich sehe, Sie sind damit einver-
standen.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 17/10745 und 17/10798 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es anderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

1) Anlage 7





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Tagesordnungspunkt 23:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Keine Rüstungsforschung an öffentlichen
Hochschulen und Forschungseinrichtungen –
Forschung und Lehre für zivile Zwecke sicher-
stellen

– Drucksache 17/9979 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Verteidigungsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1719536900

Die Erforschung und die Entwicklung neuer Techno-

logien sind wesentliche Grundlagen des wirtschaftli-
chen Erfolges und Wohlstandes unseres Landes.

Dank des Engagements der Bundesregierung konnte
sich auch die zivile Sicherheitsforschung in Deutschland
als eigenständiges Forschungsgebiet mit einer gut ver-
netzten Akteurslandschaft etablieren.

Angesichts der globalen Bedrohungsszenarien der
letzten Jahre ist es wichtig, die Sicherheit der Bürgerin-
nen und Bürger sowie den Schutz kritischer Infrastruktu-
ren durch systematische Forschungsaktivitäten zu erhö-
hen. Die Sicherheit und die daraus resultierende
Freiheit der Bürger unseres Landes zu gewährleisten, ist
somit ein expliziter Auftrag unserer Forschungspolitik.

Die besagten Fördergelder des Bundesministeriums
für Bildung und Forschung werden ausschließlich im
Hinblick auf die zivile Nutzbarkeit von Forschungspro-
jekten vergeben. Nun unterstellen die üblichen Ver-
schwörungstheoretiker in den Reihen der Opposition,
dass die Gelder – durch die Hintertür – zur Finanzie-
rung der Wehrtechnikindustrie dienen. Ich kann an die-
ser Stelle nur immer wieder betonen, dass diese Unter-
stellung schlichtweg falsch ist. Die Förderung von
wehrtechnischer Forschung hat hiermit nichts zu tun
und fällt in den Zuständigkeitsbereich des Verteidi-
gungsministeriums. Unser Programm für zivile Sicher-
heitsforschung dient ausschließlich dem Ausbau der in-
ternationalen Vorreiterstellung deutscher Anbieter
ziviler Sicherheitsprodukte und der Weiterentwicklung
interdisziplinärer akademischer Ausbildungsstrukturen.

Es liegt dabei auf der Hand, dass zahlreiche Erkennt-
nisse aus der zivilen Sicherheitsforschung auch militä-
risch nutzbar sind. Und das, verehrte Kollegen von der
Linken, ist auch gut so. Die alte Leier der unrechtmäßi-
gen Doppelnutzung wird nicht stichhaltiger, je mehr Sie
darauf herumreiten. Im Gegenteil: Die Doppelnutzung
von Forschungsergebnissen in dieser Sparte ist kein
Fluch, sondern ein Segen!

Warum soll beispielsweise verbesserte Schutzklei-
dung, die primär für Feuerwehrleute oder THW-Mitar-
beiter entwickelt wurde, nicht auch unseren Soldaten im

Einsatz zugutekommen? Oder weshalb sollten unsere
Streitkräfte nicht ebenfalls von verbesserten Spreng- und
Kampfstoffdetektoren profitieren, die ursprünglich für
Flughäfen und andere empfindliche Punkte entwickelt
wurden?

Ich halte es für eine zutiefst ungehörige und unverfro-
rene Forderung, unseren Soldaten, die tagtäglich ihre
Gesundheit oder gar ihr Leben für die Sicherheit dieses
Landes riskieren, die neuesten Entwicklungen im Hin-
blick auf eine bessere Ausrüstung vorzuenthalten.

Doch damit nicht genug. In ihrem Antrag fordert die
Linke, „Zivilklauseln in den Statuten der Hochschulen
und Forschungseinrichtungen sowie in den jeweiligen
Landeshochschulgesetzen zu verankern“. Aus unserer
Sicht ist das ein höchst bedenklicher Eingriff in die For-
schungsfreiheit der Wissenschaftler.

Aber davon einmal ganz abgesehen, ist Ihr Vorhaben
auch verfassungsrechtlich sehr problematisch. Der
Bund hat in diesem Bereich keinerlei Kompetenzen.
Hochschulpolitik ist nach wie vor Ländersache. Akzep-
tieren Sie das und streben Sie nicht ständig danach, die
föderalistischen Prinzipien dieser Republik auszuhe-
beln.

Zuletzt möchte ich dazu bemerken, dass mit dieser
Forderung neben Ihrer fehlenden juristischen Fach-
kenntnis ein weiterer Denkfehler zutage tritt, der die
ganze Diskussion um die Zivilklausel ohnehin als
Scheindebatte entlarvt. Selbst wenn die Hochschulen
sich einer Zivilklausel unterwerfen würden, wäre damit
noch lange nicht gesichert, dass ihre rein zivilen For-
schungserkenntnisse nicht irgendwann militärisch ge-
nutzt werden könnten. Es ist doch während der Entwick-
lungsphase oft gar nicht klar, für welche Fälle das
Produkt in Zukunft Verwendung finden kann.

Ebenfalls absurd ist im Übrigen Ihr Appell zur Er-
greifung einer „Initiative zur Offenlegung aller Koope-
rationsverträge der Hochschulen“. Offensichtlich ist Ih-
nen nicht klar, dass es sich hierbei um empfindliche
Geschäftsgeheimnisse handelt! Eine derartige Maß-
nahme würde verfassungsrechtlich ebenfalls einen äu-
ßerst bedenklichen Eingriff darstellen, ganz zu schwei-
gen von dem erheblichen Schaden, den die deutsche
Wirtschaft davontragen würde.

Zuletzt möchte ich noch ein paar Sätze zu Ihrer For-
derung nach einer „Ausfinanzierung der Hochschulen
in der Breite“ sagen. Sie können unserer Regierung nun
wirklich nicht vorwerfen, zu wenig in die deutschen
Hochschulen investiert zu haben. Trotz der primären
Verantwortung der Länder wurden mehr Bundesmittel
als jemals zuvor an die Hochschulen vergeben. Allein
4,8 Milliarden Euro wurden in den Hochschulpakt 2020
investiert.

Zusätzlich wollen wir die Länder sogar dauerhaft mit
Bundesgeld für die Hochschulen unterstützen. Es sind
vielmehr die rot-grünen Länder, die sagen, wir nehmen
das Geld nur, wenn wir zusätzlich auch noch finanzielle
Zuwendung für die Schulen bekommen. So werden die
Hochschulen von der Opposition in Geiselhaft genom-
men, um deren leere Landeskassen zu füllen.





Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)


Sie sehen, der Vorwurf, die Bundesregierung ver-
nachlässige die Förderung von Bildung und Forschung
in Deutschland, ist unhaltbar. Vielleicht werfen Sie noch
einmal einen genauen Blick in den Einzelplan 30. Ich
denke, die Zahlen belegen das Engagement von Frau
Schavan und der gesamten Koalition eindeutig.

Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass die
Forderungen im Antrag der Linkspartei allesamt über-
zogen und nicht vertretbar sind. Sie sehen über sämtli-
che verfassungsrechtlichen Grundsätze hinweg, Sie ma-
chen keinen Halt vor der Unabhängigkeit der Hoch-
schulen, die föderale Struktur unseres Landes scheint Ih-
nen fremd zu sein, und, was ich noch schlimmer finde:
Sie weisen eine äußerst ignorante Einstellung gegen-
über den deutschen Soldatinnen und Soldaten auf.

Den Antrag gilt es daher abzulehnen.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1719537000

Einige von Ihnen wissen, dass ich mich sehr leiden-

schaftlich für die Friedensforschung in Deutschland
einsetze. Auch zu dem Thema zivile Sicherheitsfor-
schung habe ich an dieser Stelle bereits öfter gespro-
chen. Insofern war ich auf den uns hier vorliegenden
Antrag durchaus gespannt. Aber um es gleich vorwegzu-
nehmen: Ich bin von diesem Papier enttäuscht. Warum,
möchte ich Ihnen anhand einzelner Punkte des Antrages
darstellen.

Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der
Linken, fordern in dem Papier den Bund auf, an den
Universitäten eine Zivilklausel einzuführen. Wir Sozial-
demokratinnen und Sozialdemokraten halten es für un-
terstützenswert, wenn Universitäten für sich Zivilklau-
seln einführen, die darauf abzielen, keine militärische
Forschung zu machen, sondern dem Frieden in der Welt
dienlich zu sein. Aber dafür ist der Bund der komplett
falsche Ansprechpartner. Das ist ganz klar Landeskom-
petenz bzw. greift in die Autonomie der Hochschulen ein.
Die Studierenden und Hochschulangestellten sind, wie
Sie in Ihrem Antrag selbst aufzählen, hingegen eigen-
ständig in der Lage, wenn sie die nötige Mehrheit mobi-
lisieren können, diese Klausel zu verankern. Eine Bewe-
gung von unten ist bei solchen Überzeugungsfragen
sowieso besser als die Verordnung von oben, wie es die
Linke hier fordert.

Vor allem aber weiß ich nicht, ob es wirklich fair ist,
dass „die Politik“, also Parlament, Regierung usw., ei-
nerseits Forschungsaufträge vergibt, auch für militäri-
sche Zwecke, aber anderseits von den Hochschulen, also
den Wissenschaftlern und Studierenden, verlangt, diese
Aufträge bzw. Angebote nicht wahrzunehmen. Eine sol-
che Vorgehensweise erscheint mir nicht redlich. Wir ver-
schieben hier Verantwortung auf die Wissenschaft, die
wir doch eigentlich hier im Parlament haben. Und wir
sind es auch, die über den Einsatz der Forschungsergeb-
nisse zu entscheiden haben. Wir können die Wissen-
schaft beauftragen, einen Lastwagen zu entwickeln, und
wir haben dann zu entscheiden, ob der Lkw zu zivilen
oder militärischen Zwecken genutzt wird. Mit einem An-
trag „Entwickelt uns einen Lkw, der auf keinen Fall für

militärische Zwecke genutzt werden kann“ schieben wir
unsere Verantwortung auf die Wissenschaft ab.

Daneben fordern Sie eine Offenlegung von Koopera-
tionsverträgen zwischen Universitäten und Unterneh-
men. Diese Forderung unterstützen wir. Aber auch hier
ist der Bund der falsche Ansprechpartner. Diese Forde-
rung von Ihnen geht also ebenfalls ins Leere.

Darüber hinaus fordern Sie, dass das Bundesministe-
rium für Verteidigung keine Aufträge mehr an Universi-
täten vergibt. Damit könnte ich einverstanden sein, wenn
klar wäre, was denn militärische Forschung ist. Hilfrei-
cher wäre es, wenn Sie dazu eine Definition liefern
könnten, aber Sie kommen auf das zentrale Problem des
Dual Use nicht wirklich zu sprechen. Unter der Dual-
Use-Problematik versteht man das Dilemma, dass zum
Beispiel einige Technologien militärisch wie auch zivil
verwendet werden können. Aktuell debattieren wir For-
schungspolitiker zum Beispiel über die Veröffentlichung
der H5N1-Publikationen. Darin haben Forscher ge-
zeigt, wie ein gefährliches Virus übertragbarer gemacht
werden kann. Vor der Publikation wurden die Chancen
– mögliche Erkenntnisse zur Bekämpfung einer Pande-
mie – und Gefahren – mögliche Nutzung als Waffe – ge-
geneinander abgewogen. Nach einer langen Diskussion
kamen die Experten zu dem Ergebnis, dass die Chancen
die Gefahren überwogen. An diesem Beispiel sieht man
bereits, wie komplex die Dual-Use-Problematik oftmals
ist. Nur auf Verbot zu setzen, wie die Linken es tun, hilft
uns nicht weiter. Dabei benutzen Sie selbst unklare For-
mulierungen wie dass Dual Use „weitestgehend verhin-
dert wird“. Was heißt das konkret? Es muss vielmehr
immer wieder abgewogen werden, und das nicht nur im
Nachhinein, sondern die einzelnen Wissenschaftler müs-
sen sich ihrer Verantwortung für ihre Forschung(-sergeb-
nisse) insgesamt bewusster sein. Dieses wichtige Thema
greifen Sie in Ihrem Antrag aber leider nicht auf. So
fehlt bei Ihrem Versuch einer historischen Einordnung
des Themas Rüstung und Wissenschaft dann auch, nicht
ganz überraschend, ein Verweis auf die für den deutschen
Wissenschaftsbetrieb so wichtige „Göttinger Erklärung“
von 1957. Die 18 Atomphysiker haben das Thema mili-
tärische versus zivile Forschung damals auf den Punkt
gebracht. Zu Recht gilt die Erklärung auch heute noch
als Gründungsdokument dessen, was wir unter Wissen-
schaftsethik verstehen.

Ebenso fehlt in Ihrem Antrag ein Abschnitt zur Frie-
dens- und Konfliktforschung, zu der Wissenschaft also,
die sich maßgeblich mit den Themen auseinandersetzt,
wie Frieden erhalten und gestützt werden kann. Dabei
wäre eine breite politische Unterstützung des Wissen-
schaftszweiges durchaus angebracht. Wie Sie zu diesem
Thema stehen, muss der Leser Ihres Antrages hingegen
erahnen. Vielleicht, weil auch hier Grenzen verwischen
können?

Wie Sie wissen, habe ich mich in den letzten Jahren
öfters zum zivilen Sicherheitsforschungsprogramm der
Bundesregierung kritisch geäußert. Wir Sozialdemokra-
tinnen und Sozialdemokraten haben dabei immer wieder
insbesondere die starke Technikzentriertheit und die
Verengung des Sicherheitsbegriffs auf terroristische

Zu Protokoll gegebene Reden





René Röspel


(A) (C)



(D)(B)


Anschläge bemängelt. Wir sehen heute, dass das Minis-
terium bei den Überlegungen zum neuen Sicherheitsfor-
schungsprogramm einen Teil unserer Kritik aufgenom-
men hat. Das neue Programm ist jetzt breiter aufgestellt.
Wir gehen davon aus, dass sich dies am Ende auch in
den Ergebnissen widerspiegeln wird. Mögliche Anwen-
der der erforschten Lösungsansätze sind THW, Feuer-
wehr und Polizei. Zu Recht gibt es in Deutschland die
Trennung zwischen militärischer und ziviler Forschung.
Allerdings wird in vielen Bereichen im Nachhinein bei
Vorliegen der Ergebnisse eine Dual-Use-Diskussion
möglich sein, ohne dass man sie vorher gesehen hat.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von den Linken, Sie sprechen in Ih-
rem Antrag viel über das, was Sie nicht wollen. Wie man
aber tatsächlich militärische Nutzung eines für zivile
Zwecke produzierten Forschungsergebnisses bereits vor
Entstehung des Ergebnisses verhindern kann, wäre eine
spannende Frage gewesen. Um eine Antwort aber mo-
geln Sie sich herum. So kann man den Antrag wohl fol-
gendermaßen zusammenfassen: einige gute Grundideen,
diese werden aber total durcheinander an den falschen
Adressanten verschickt. Schade! Das so wichtige Thema
Wissenschaft und Rüstung hätte mehr verdient.


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1719537100

Der Antrag „Keine Rüstungsforschung an öffentli-

chen Hochschulen und Forschungseinrichtungen – For-
schung und Lehre für zivile Zwecke sicherstellen“ der
Linken offenbart ein überaus fragwürdiges wissenschafts-
politisches Verständnis, das wir Liberale in keinster
Weise teilen. Wir lehnen den Antrag ab, weil wir die Auf-
fassung von Forschung und unserem Wissenschaftssys-
tem, die der Antrag transportiert, nicht unterstützen.

Im März 2012 stellte die Linke einen Antrag, der un-
ter dem Titel „Freiheit von Forschung und Lehre schüt-
zen“ die Forschungsfreiheit als zentralen Punkt propa-
gierte. Heute greift sie mit dem vorliegenden Antrag
genau diese Freiheit frontal an. Sie wollen der Wissen-
schaft, den Hochschulen und Forschenden die Freiheit
nehmen, selbst zu entscheiden, welche Forschungspro-
jekte angenommen werden und in welchen Bereichen ge-
forscht werden darf. Sie wollen, wie im aktuellen Antrag
gefordert, die gesetzliche Verankerung von Zivilklauseln
in den Landeshochschulgesetzen, in den Statuten von
Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Eine sol-
che gesetzliche Verankerung ist mit Forschungsfreiheit
aber nicht vereinbar. Wenn Sie Wissenschaftsfreiheit
ernst nehmen, dann müssen Sie auch akzeptieren, dass
der Wissenschaftler seine eigenen Maßstäbe anlegt und
selbst entscheidet, welche Kooperation und Aufträge er
annimmt. Ideologische Einschränkungen, wie die For-
derung nach einer politisch verordneten Zivilklausel und
dem Verbot von Forschung mit militärischem Hinter-
grund bzw. zur militärischen Nutzung, lehnen wir ent-
schieden ab.

Für uns Liberale ist die Freiheit von Forschung und
Lehre ein überaus hohes und kostbares Gut. Wissen-
schaftsfreiheit ist ein in Art. 5 GG garantiertes Grund-
recht und wird nur durch den Schutz anderer verfas-

sungsrechtlich geschützter Werte begrenzt. Es ist nach
unserem Verständnis Grundlage wissenschaftlichen Ar-
beitens sowie Fundament unseres Wissenschaftssystems.
Forschungsfreiheit bedeutet für uns aber nicht nur
Selbstbestimmung darüber, zu welchen Forschungsthe-
men und in welchen Bereichen der Wissenschaftler
forscht, sondern es impliziert auch eine gesellschaftliche
Verantwortung des Wissenschaftlers. Dieser Verantwor-
tung sind sich Wissenschaftler in Hochschulen und in
Forschungseinrichtungen bewusst, so beispielsweise die
Max-Planck-Gesellschaft, die in 2010 das Papier „Hin-
weise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum ver-
antwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und For-
schungsrisiken“ für sich und ihre Mitglieder die Grenzen
von Forschung formulierte und dabei die Personen, den
einzelnen Wissenschaftler als Verantwortungsträger in
den Mittelpunkt rückt.

Die Linke fordert in einem weiteren Punkt, dass der
Wissenschaftsrat mit der Erarbeitung eines Kodex be-
auftragt werden soll. Laut Antrag soll definiertes Ziel
des Kodex die ausschließlich zivile Ausrichtung von
Forschung und Lehre an öffentlichen wissenschaftlichen
Einrichtungen sein. Allein diese Forderung legt offen,
welche kruden Vorstellungen von der Arbeit und dem
Verständnis des Wissenschaftsrates bei der Linken vor-
herrschen. Der Wissenschaftsrat ist aber kein Instru-
ment zur Durchsetzung politischer Ideologie, sondern
ein wissenschaftspolitisches Beratungsgremium. Der
Wissenschaftsrat ist unabhängig und wird von der Poli-
tik um Stellungnahme gebeten. Für uns Liberale ist ein
solcher Kodex auch nicht von oben zu verordnen. Wel-
che Legitimation besitzt solch ein Kodex, wenn er oktro-
yiert wurde? Vielmehr müssen sich die Wissenschaftler
und die Einrichtungen von sich aus und aus sich heraus
über die Grenzen von Forschungsfreiheit austauschen
und, wenn notwendig, zu einem Kodex finden. Das beste
Beispiel hierfür ist das von der Linken ausgewählte und
geforderte Beispiel der Zivilklausel und die Einführung
an den Hochschulen in der jungen Bundesrepublik. Es
waren die zahlreichen Hochschulen, die sich selbst im
Rahmen der sogenannten Zivilklausel gegen die Beteili-
gung an wehrtechnischer Forschung ausgesprochen ha-
ben.

Interessanterweise war es der Wissenschaftsrat, der
in 2007 in seiner Stellungnahme zur Neustrukturierung
der Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwis-
senschaften e.V. der Politik empfahl, die drei Ressortfor-
schungseinrichtungen des Bundesministeriums für Ver-
teidigung in die Fraunhofer-Gesellschaft zu überführen.
Es war zwar eine politische Entscheidung, die 2009 zur
Integration der drei Ressortforschungseinrichtungen in
die Fraunhofer-Gesellschaft führte, aber – anders als es
der Antrag von der Linken zur Interpretation freigibt –
auf Empfehlung der Wissenschaft.

Ein weiterer Punkt, den wir am Antrag der Linken zu
kritisieren haben, ist die Behauptung, mittels Regelun-
gen und Gesetzen eine Trennlinie zwischen militärischer
und ziviler Forschung ziehen zu können, so als sei es
kein Problem, Forschung und Forschungsergebnisse zu
kategorisieren und eine Doppelnutzung auszuschließen.
Als Beispiel wird das von der christlich-liberalen Koali-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Martin Neumann (Lausitz)



(A) (C)



(D)(B)


tion aufgelegte Programm „Forschung für die zivile Si-
cherheit“ kritisiert, wo die Bundesregierung nach dem
Antrag der Linken auszuschließen hat, dass die For-
schungsergebnisse auch militärisch genutzt werden. In
den Beratungen im Ausschuss wurde darauf hingewie-
sen, dass die Forschungsfragen im Programm „For-
schung für die zivile Sicherheit“ entlang ziviler Sicher-
heitsszenarien erfolgen. Dass nun abermals angemahnt
wird, dass Forschungsprojekte zu Detektionssystemen
zum Nachweis von Gefahrenstoffen eine Doppelnutzung
erlauben und militärisch eingesetzt werden können,
zeigt, dass der Versuch der lupenreinen Trennung von zi-
vil und militärisch nicht möglich ist.

Als einen letzten Kritikpunkt sei auf die Forderung
nach einer Ausfinanzierung der Hochschulen verwiesen.
Für die Grundfinanzierung der Hochschulen sind allein
die Länder verantwortlich. Ähnlich pauschal, wie diese
Forderung in jedem Antrag der Linken formuliert wird,
lehnen wir es ab. Es ist für die Zukunft sicherlich einfa-
cher, wenn die Linke den Förderalismus und die Zustän-
digkeit der Länder anerkennt, als in ihren Anträgen die
Realitäten zu verdrehen. Zudem sei darauf verwiesen,
dass von der Linken bislang die konkreten Schritte die-
ser christlich-liberalen Koalition abgelehnt wurden.
Wenn die Linke an der Finanzierung der Hochschulen
mitwirken möchte, ist diese gerne eingeladen, die
Grundgesetzänderung in Art. 91 b im Bundesrat zu un-
terstützen und so dem Bund zu ermöglichen, sich an der
Finanzierung von Hochschulen zu beteiligen.

Der Antrag von der Linken wird dem Anspruch an
das Wissenschaftssystem nicht gerecht. Wir Liberale
sind gegen ideologische Denkverbote. Aus diesem
Grund lehnen wir den Antrag ab.


Nicole Gohlke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719537200

Diese Woche, vom 24. bis 29. September, findet die

bundesweite Aktionswoche gegen die Aktivitäten von
Bundeswehr an Schulen und Hochschulen statt. Die
Hauptforderung des Bündnisses lautet: „Wir fordern die
sofortige Kündigung der bestehenden Kooperationsver-
einbarungen zwischen Kultusministerien und der Bun-
deswehr sowie die flächendeckende Einführung und Ein-
haltung von Zivilklauseln, um eine Lehre und Forschung
an Hochschulen zu garantieren, die ausschließlich zivi-
len Zwecken dient.“

Dem kann ich mich nur voll und ganz anschließen –
gerade hier in der Bundesrepublik, einer der größten
Waffenexportnationen der Welt.

Wissenschaft im Dienste des Krieges und des Militärs
und die Einführung von Zivilklauseln, also die Verpflich-
tung auf eine friedlichen und zivilen Zwecken dienende
Forschung und Lehre, werden an immer mehr Hoch-
schulen unter Studierenden, Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern, unter Professorinnen und Professoren
und den Beschäftigten der Hochschule diskutiert. In ei-
ner Reihe von Hochschulen wurde in den letzten Mona-
ten positiv über die Einführung von Zivilklauseln be-
schieden: In einer Urabstimmung an der Uni Frankfurt
haben sich 76 Prozent dafür ausgesprochen. An den
Universitäten Tübingen und Rostock sowie an der Hoch-

schule Bremen wurden Zivilklauseln direkt in die Statu-
ten der Hochschulen aufgenommen. Immer mehr Stu-
dierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
möchten sich also im Rahmen ihrer Tätigkeit an der
Hochschule nicht an der Entwicklung militärischer Gü-
ter beteiligen.

Diese Position reflektiert nicht nur die deutsche Ge-
schichte – es ist auch der bewusste Umgang mit der ethi-
schen Verantwortung als Wissenschaftlerin oder Wissen-
schaftler.

Die Haushaltsgesetze 2009 bis 2012 bescheinigen,
dass das Bundesministerium für Verteidigung, BMVg,
jährlich Summen zwischen 900 Millionen und 1,2 Mil-
liarden Euro für „Wehrforschung, wehrtechnische und
sonstige militärische Entwicklung und Erprobung“ aus-
gibt. Der Großteil dieser Gelder fließt an Institute der
Ressortforschung sowie an private Firmen, doch auch
an öffentlichen Hochschulen und außeruniversitären
Forschungseinrichtungen wird Rüstungsforschung und
militärisch nutzbare Forschung betrieben.

Nach bisherigen Erkenntnissen vergab das Bundes-
ministerium für Verteidigung, BMVg, von 2006 bis 2009
jährlich etwa 8 Millionen Euro an Drittmitteln für wehr-
technisch relevante oder militärische Forschung an
deutsche Hochschulen; rund 36 Millionen Euro flossen
für dieselben Zwecke zwischen 2000 und 2010 jährlich
an öffentliche Forschungseinrichtungen.

Diese Zahl zeigt aber nur an, was offiziell für militä-
rische Forschung ausgegeben wird. Die Frage, was ei-
gentlich alles unter militärische und Rüstungsforschung
fällt, ist abschließend nicht einmal geklärt. Und leider
sind oftmals bei offiziell als zivil deklarierten Projekten
und Mitteln keineswegs auch wirklich zivile Absicht und
ziviler Zweck sichergestellt.

Gerade im Rahmen des durch das Ministerium für
Bildung und Forschung aufgelegten „zivilen Sicher-
heitsprogramms“ finden sich viele Forschungsprojekte,
die unter den Begriff des „Dual Use“ fallen, Projekte
also, die einem zivilen Zweck dienen, genauso aber auch
militärisch genutzt werden können. Viele Forscherinnen
und Forscher wissen also oftmals gar nicht, wie die Er-
gebnisse ihrer Forschung letztlich verwertet werden. Sie
sind Teil eines Großprojektes und arbeiten in ihren spe-
ziellen Teilbereichen, ohne zu erfahren, was als Endpro-
dukt eigentlich herauskommen soll. Diese Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftler haben durch die fehlende
klare Abtrennung und die mangelnde Transparenz nicht
einmal die Chance, sich die Gewissensfrage zu stellen,
ob sie bereit wären, Militär- oder Rüstungsgüter zu ent-
wickeln. Wenn die Bundesregierung ihre vielgepriesene
„Wissenschaftsfreiheit“ wirklich ernst nehmen würde,
dann würde diese für sie auch unterhalb der Leitungs-
und professoralen Ebene gelten – nämlich für alle Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie müssen end-
lich wieder die Kontrolle über ihr wissenschaftliches
Handeln bekommen; dafür ist die Herstellung von
Transparenz eine Grundvoraussetzung.

Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag
deshalb auf, sich für die Offenlegung von Kooperations-

Zu Protokoll gegebene Reden





Nicole Gohlke


(A) (C)



(D)(B)


verträgen zwischen Hochschulen und privaten Auftrag-
gebern einzusetzen und eine entsprechende Verpflich-
tung in den jeweiligen Gesetzen zur Informationsfreiheit
bzw. in den Hochschulgesetzen zu verankern.

Wir fordern die Bundesregierung auch auf, die Ge-
heimhaltung bei ihrer eigenen Vergabepraxis aufzuhe-
ben. Es kann nicht sein, dass Mittel aus dem Verteidi-
gungsministerium an öffentliche Hochschulen und
Forschungseinrichtungen dem Geheimschutz unterlie-
gen und der öffentlichen Kontrolle vorenthalten werden.

Die Bundesregierung sollte stattdessen gemeinsam
mit den Ländern eine Initiative starten, um sicherzustel-
len, dass Forschung und Lehre an öffentlichen Hoch-
schulen und außeruniversitären Forschungseinrichtun-
gen ausschließlich zivilen und friedlichen Zwecken
dient. Wir fordern, dass sich auch die Bundesregierung
– genauso wie viele Studierende und einzelne Hochschu-
len – zu der im Grundgesetz verankerten Friedensver-
pflichtung bekennt und sich dafür einsetzt, dass bundes-
weit Zivilklauseln in den Statuten der Hochschulen und
Forschungseinrichtungen und in den jeweiligen Lan-
deshochschulgesetzen verankert werden. Was wir brau-
chen, ist die Ausfinanzierung der Hochschulen in der
Breite. Das würde die wissenschaftliche Unabhängigkeit
gewährleisten, würde die Hochschulen unabhängig ma-
chen vom Druck, private Mittel einwerben zu müssen,
um überhaupt forschen und lehren zu können.

Das Verteidigungsministerium gibt jährlich über
1 Milliarde Euro für Wehrforschung aus. Kriege und be-
waffnete Konflikte machen einen weltweit wachsenden
Wirtschaftszweig aus: Laut des Stockholmer Instituts für
Friedensforschung belaufen sich die weltweiten Staats-
ausgaben für Militär- und Rüstungsgüter auf 1,74 Billio-
nen US-Dollar im letzten Jahr.

Der aktuelle OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick
2012“ hat uns noch einmal vor Augen geführt, wie drin-
gend in der Bundesrepublik Bildungschancen und So-
zialstatus entkoppelt werden müssten: Nur 20 Prozent
der jüngeren Beschäftigten in Deutschland haben einen
höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern, 22 Prozent
einen niedrigeren. Damit ist die Bundesrepublik
Schlusslicht unter den OECD-Ländern.

Die Milliarden für Rüstungsgüter und militärische
Forschung werden offensichtlich in diesem chronisch
unterfinanzierten Bildungswesen dringend benötigt. Da
wären sie besser aufgehoben!


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719537300

Wir haben bei verschiedenen Gelegenheiten mehr

Transparenz bei der öffentlichen Forschungsförderung,
dem Einsatz von öffentlichen Forschungsmitteln und bei
Kooperationsverträgen zwischen Hochschulen, staat-
lichen Forschungseinrichtungen und Dritten gefordert.

Ich habe die Bundesregierung mehrfach aufgefordert
gemäß der Empfehlung des wissenschaftlichen Beirats
Kriterien zu entwickeln, die den zivilen Charakter des
Rahmenprogramms Sicherheitsforschung gewährleis-
ten. Wir brauchen zweifellos Spielregeln und Standards

für Offenlegungspflichten und zur Wahrung der Freiheit
der Wissenschaft.

Aber den Antrag der Linken werden wir ablehnen. In
diesem Antrag kommt die Linke mal wieder auf einem
ziemlich hohen moralischen Ross daher. Aber diese
Moral erweist sich ähnlich wie Herr Tur Tur bei „Jim
Knopf“ als Scheinriese, der immer mehr zusammen-
schrumpft, je mehr man sich ihm zu nähern wagt.

Als jemand, der Anfang der 80er-Jahre selbst in der
Friedensbewegung aktiv war, muss ich feststellen, dass
die Linke gedanklich und rhetorisch noch in der histori-
schen Phase der Blockkonfrontation verhaftet ist, als
verfeindete Staaten bzw. Staatenblöcke durch wechsel-
seitige Hochrüstung und gegenseitige Drohung mit Ver-
nichtung ein sogenanntes Gleichgewicht des Schreckens
zu etablieren suchten und die Friedensbewegung sich
mühte, diese grausame Logik zu durchbrechen.

Inzwischen hat sich das internationale Völkerrecht
– nicht zuletzt vor dem Hintergrund neuer Herausforde-
rungen wie innerstaatlicher ethnischer und nationalisti-
scher Konflikte und asymmetrischer terroristischer Ge-
walt – weiterentwickelt.

Das Völkerrecht und die UN als System kollektiver
Friedens- und Sicherheitsordnung bejahen ausdrücklich
die subsidiäre Schutzverantwortung der internationalen
Staatengemeinschaft „the responsibility to protect“ ein-
schließlich der Option für militärische Interventionen
als Ultima Ratio.

Wer wie die Linke auf die besondere historische Ver-
antwortung Deutschlands verweist, muss sich fragen
lassen, ob diese Deutschland nicht geradezu verpflich-
tet, sich nicht in die Büsche zu schlagen, wenn die inter-
nationale Staatengemeinschaft die Notwendigkeit einer
solchen subsidiären Schutzverantwortung unter Einsatz
auch militärischer Mittel im Einzelfall feststellt.

Es ist schon seltsam, wenn bei der Linken die histori-
sche Verantwortung dafür herhalten muss, dass
Deutschland die Teilnahme an internationalen UN-
mandatierten Einsätzen lieber den Ländern überlassen
soll, die seinerzeit mit nationalsozialistischem Angriffs-
krieg und Besatzung überzogen wurden, kleine Länder
wie Dänemark und Norwegen, bei denen der gesell-
schaftliche Konsens darüber viel größer ist, dass man
manchmal den Versuch machen muss, Menschen davor
zu bewahren, in ethnischen, religiösen oder nationalisti-
schen Konflikten abgeschlachtet zu werden – auch wenn
dies nicht heißt, dass dies immer möglich ist oder immer
gelingt. Was es bedeutet, wenn der Versuch unterbleibt
und die Staatengemeinschaft sich auf ziviles Zugucken
verlegt, davon habe ich mich selbst 1996 in Bosnien
überzeugen können.

Wenn sich Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen
und Polizisten freiwillig für solche schwierigen und
gefährlichen Aufgaben auf der Basis demokratischer
politischer Entscheidungen zur Verfügung stellen, dann
haben sie das Recht auf gute Ausbildung, gute Vorberei-
tung und optimale Ausrüstung für solche Einsätze. Alles
andere wäre verantwortungslos.

Zu Protokoll gegebene Reden





Krista Sager


(A) (C)



(D)(B)


Die Auffassung, es sei per se unmoralisch, durch For-
schung und Entwicklung zur Verbesserung und Weiter-
entwicklung dieser Ausrüstung beizutragen, teile ich
nicht.

Richtig ist, dass in diesem Zusammenhang wichtige
politische Fragen der Rüstungskontrolle und des Rüs-
tungsexports geklärt werden müssen, und dazu gibt es
auch von uns jede Menge kritische Beiträge. Aber die
Behauptung der Linken, jede Forschung und Entwick-
lung, die nicht ausschließlich zivilen Zwecken diente,
verstoße gegen das Friedensgebot des Grundgesetzes,
halte ich für ziemlich weit hergeholt. Dann wäre unser
Grundgesetz ja mit dem internationalen Völkerrecht
nicht kompatibel.

Noch abenteuerlicher finde ich die Behauptung, die
bloße mögliche Doppelnutzung von Forschungs- und
Entwicklungsergebnissen sei ebenfalls mit der Friedens-
pflicht des Grundgesetzes unvereinbar. Gerade im Be-
reich IT-intensiver Entwicklungen ist es unvermeidbar,
dass viele dieser Dinge sowohl in der Polizeiarbeit,
beim Katastrophenschutz, bei der Verkehrs- und Bau-
überwachung oder auch in einem militärischen Umfeld
genutzt werden können. Die gesamte Forschung in die-
sem Kontext für unmoralisch und verfassungswidrig zu
erklären, halte ich für absurd.

Es liegt nun mal auch in der Natur asymmetrischer
terroristischer Gewalt, dass sie im Inland gegen die
Zivilbevölkerung zuschlagen kann oder im Ausland bei
internationalen Einsätzen. Sollen deshalb Entwicklun-
gen zur Gefahrstofferkennung per se unmoralisch sein?
Und was ist überhaupt die Moral bei der Geschichte?
Wenn ein Sensor dazu eingesetzt werden kann, einen
verloren gegangenen Feuerwehrmann in einem bren-
nenden Gebäude aufzuspüren, ist er gut, und wenn der
gleiche Sensor hilft, einen verloren gegangenen Solda-
ten bei einem Einsatz wiederzufinden, ist er böse – oder
was ist die Moral der Linken?

Natürlich gibt es bei sicherheitstechnologischen Ent-
wicklungen wichtige Fragen in der Abwägung zwischen
Bürgerrechten und Sicherheitsbedürfnissen. Diese
Fragen lassen sich aber nicht mit Forschungsverboten
und moralischen Stigmatisierungen beantworten.

Aber die Linke will ja sogar öffentlichen Hochschulen
die geisteswissenschaftliche Forschung über Auslands-
einsätze am liebsten verbieten – als wenn es da nichts
Nützliches zu lernen gäbe, und sei es aus Fehlern, die
man nicht wiederholen sollte.

Ob Hochschulen oder Forschungseinrichtungen eine
Zivilklausel einführen wollen und was sie beinhalten
soll, darüber sollten diese selbst entscheiden. Das Wich-
tigste dabei scheint mir ein offener intensiver Diskus-
sionsprozess. Die staatliche Verordnung einer solchen
Klausel widerspricht der autonomen Leitbildentwick-
lung. Die Motive der Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler bei den älteren Zivilklauseln waren klar: Sie
wollten nicht zur Vorbereitung eines Angriffskrieges bei-
tragen. Wie müsste eine Friedensklausel heute aussehen,
die dem Friedenswunsch im Rahmen einer kollektiven
Friedens- und Sicherheitsordnung entspricht und neuen

gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen
gerecht werden kann. Darüber lohnt sich die Debatte.

Aber die Antwort ist aus meiner Sicht nicht so ein-
fach, wie die Linke sich das vorstellt.

Für mich steht das Massaker von Srebrenica – der
Völkermord an 8 000 muslimischen Bosniaken im Alter
zwischen 12 und 77 Jahren trotz der Anwesenheit von
Blauhelmsoldaten – auch dafür, dass es eine Illusion ist,
zu glauben, „ausschließlich zivile Zwecke“ seien immer
und überall identisch mit „friedlichen Zwecken“.

Übrigens sollte die Linke bei aller moralischen Über-
höhung bedenken, dass das Hauptproblem von Herrn
Tur Tur war, das seine scheinbare Riesenhaftigkeit ihn
ziemlich einsam machte.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719537400

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9979 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 24:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Postbeamtenversor-
gungskasse (PVKNeuG)


– Drucksache 17/10307 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses (8. Ausschuss)


– Drucksache 17/10853 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Brackmann
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1719537500

Mit dem vorliegenden Gesetz übertragen wir die Auf-

gaben der Postbeamtenversorgungskasse BPS-PT auf
die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation
Deutsche Bundespost. Wir kommen damit insbesondere
vom Bundesrechungshof geäußerten rechtlichen Beden-
ken nach.

Worum geht es genau? Der BPS-PT ist Anfang 2011
aus der Verschmelzung der von der Deutschen Telekom,
der Deutschen Post und der Deutschen Postbank im
Jahre 1995 gegründeten Unterstützungskassen in der
Rechtsform eines eingetragenen Vereins entstanden.
Hauptaufgabe der Postbeamtenversorgungskasse ist es,
Versorgungs- und Beihilfeleistungen an Versorgungs-
empfänger der früheren Deutschen Bundespost und der
Postnachfolgeunternehmen zu erbringen. Sie betreut
derzeit fast ein Fünftel der Versorgungsempfänger in der





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)


Bundesrepublik und ist damit die größte Beamtenversor-
gungskasse in Deutschland. Finanziert wird der BPS-PT
durch Beiträge der Postnachfolgeunternehmen und
durch den Bund. Der Bund leistet dabei den größten Teil
der Zuführungen an die Postbeamtenversorgungskasse.
Diese beliefen sich im Jahr 2011 auf rund 6,3 Milliarden
Euro. Im laufenden Jahr sind rund 6,8 Milliarden Euro
vorgesehen.

Der Bundesrechnungshof hat in der Vergangenheit
wiederholt die Rechtsform des BPS-PT als privatrecht-
licher Verein kritisiert, nicht zuletzt auch vor dem Hin-
tergrund der umfangreichen finanziellen Zuwendungen
des Bundes an die Kasse. Kritisch wurde dabei insbe-
sondere gesehen, dass rechts- und fachaufsichtliche Ent-
scheidungen gegenüber dem Verein nur eingeschränkt
durchgesetzt werden können. Wir akzeptieren die Kritik
des Bundesrechnungshofs und übertragen mit dem heute
debattierten Gesetz die Aufgaben sowie die vermögens-
rechtlichen Rechte und Pflichten der Postbeamtenver-
sorgungskasse auf die Bundesanstalt für Post und Tele-
kommunikation Deutsche Bundespost, wie sie korrekt
heißt.

Die Bundesanstalt wurde im Rahmen der zweiten Stufe
der Postreform im Jahr 1995 als Anstalt des öffentlichen
Rechts eingerichtet. Sie nimmt unternehmensbezogene
und soziale Aufgaben mit Bezug zu den Postnachfolgeun-
ternehmen wahr. Dafür wird sie im Wesentlichen von
diesen finanziert. Die mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf geplante Aufgabenübertragung ist aus unserer
Sicht ohne größere Probleme und kostengünstig mög-
lich. Den öffentlichen Haushalten entstehen weder da-
durch noch durch die sonstigen Regelungen des Geset-
zes zusätzliche Kosten. Die Verwaltungskosten der
Postbeamtenversorgungskasse wurden schon bisher von
den Postnachfolgeunternehmen getragen. Sie werden es
auch weiterhin tun.

Die Rechtsformänderung ist im Detail mit vielen Re-
gelungsanpassungen verbunden, stellt aber insgesamt
einen eher technischen Akt dar. Ich möchte im Folgen-
den noch auf einen besonderen Aspekt dieser techni-
schen Umsetzung hinweisen. In den Jahren 2005 und
2006 hat der BPS-PT in einer umstrittenen Aktion einen
Großteil der gegenüber den Postnachfolgeunternehmen
bestehenden, zukünftigen Beitragsforderungen an zwei
Zweckgesellschaften verkauft und übertragen. Der BPS-
PT steht für diese Forderungen gerade. Er hat diese Ga-
rantie durch die Verpfändung seiner Ansprüche gegen
den Bund abgesichert. Zur Finanzierung der von den
Verbriefungszweckgesellschaften an den BPS-PT ge-
zahlten Kaufpreise haben die Zweckgesellschaften An-
leihen am internationalen Kapitalmarkt platziert. Auf
Grund der erzielten Verkaufserlöse musste der Bund in
den Jahren 2005 und 2006 keinen und im Jahr 2007 nur
einen geringen Zuschuss an die Postbeamtenversor-
gungskasse leisten. In Bezug auf die jetzige Aufgaben-
übertragung ist zu sagen, dass die Bundesanstalt in
sämtliche im Zusammenhang mit den Forderungsver-
käufen begründete vertragliche Rechte und Pflichten
eintritt. Die Rechte der Gläubiger aus den Forderungs-
verkäufen bleiben gewahrt. Pfandrechte und sonstige Si-
cherungsrechte bestehen unverändert fort. Der Gesetz-

entwurf ist auch mit Blick auf mögliche Kapital-
marktrisiken sehr genau geprüft und mit den relevanten
Akteuren besprochen worden.

Lassen Sie mich abschließend noch kurz auf die wei-
teren wesentlichen Neuregelungen des Gesetzes hinwei-
sen:

Da ist erstens die Verlängerung der Regelungen zum
Vorruhestand für die bei den Postnachfolgeunternehmen
beschäftigten Beamtinnen und Beamten um vier Jahre.

Zweitens schaffen wir mit dem Gesetz eine Ermächti-
gungsgrundlage für unternehmensspezifische Regelun-
gen zur Altersteilzeit.

Schließlich besteht mit dem Gesetz die Möglichkeit
der dauerhaften Zuweisung von Beamtinnen und Beam-
ten an Konzernmutter- und -schwestergesellschaften der
Postnachfolgeunternehmen. Dies wird aber niemals ge-
gen den Willen der Betroffenen stattfinden.

Ich bin davon überzeugt, dass wir mit diesem eher
technischen Gesetz gleichwohl Sinnvolles regeln. Die
Aufgaben des BPS-PT werden in der Bundesanstalt für
Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost in
guten Händen sein. Ich bitte Sie daher um breite Zustim-
mung.


Norbert Brackmann (CDU):
Rede ID: ID1719537600

„Unbürokratisch“, „kostengünstig“ und „effizient“

sind drei Eigenschaften, die dieses Gesetzesvorhaben in
sich vereint. „Unbürokratisch“ und „kostengünstig“,
das gilt, da die Aufgaben der Postbeamtenversorgungs-
kasse für beamtenrechtliche Versorgungs- und Beihilfe-
leistungen vom Bundes-Pensions-Service für Post und
Telekommunikation e. V. auf die bereits bestehende Bun-
desanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche
Bundespost übertragen werden. „Effizient“, das gilt
aufgrund der erhöhten Durchsetzungskraft von rechts-
und fachaufsichtlichen Entscheidungen des Bundes und
der Umsetzung der Kritikpunkte des Bundesrechnungs-
hofes.

Die aus der früheren Deutschen Bundespost hervor-
gegangenen Unternehmen Deutsche Post AG, Deutsche
Postbank AG und Deutsche Telekom AG, Postnachfolge-
unternehmen, bedienen sich bei der Erfüllung ihrer Zah-
lungsverpflichtungen aus beamtenrechtlichen Versor-
gungs- und Beihilfeansprüchen der ihnen zugeordneten
Versorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfän-
ger der Postbeamtenversorgungskasse vom Bundes-
Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V.
Er betreut derzeit fast ein Fünftel der Versorgungsemp-
fänger und ist damit die größte Beamtenversorgungs-
kasse Deutschlands. Für rund 273 000 Ruhestandsbe-
amtinnen und -beamte, Witwen, Witwer und Waisen sind
im Jahr 2011 rund 7,1 Milliarden Euro ausgezahlt wor-
den. 2012 werden es mit einem Anstieg auf circa
274 000 Empfänger rund 7,3 Milliarden Euro sein –
Tendenz steigend.

Der Bundesrechnungshof hat in der Vergangenheit
wiederholt darauf hingewiesen, dass eine Erbringung
von Versorgungs- und Beihilfeleistungen an die Versor-

Zu Protokoll gegebene Reden





Norbert Brackmann


(A) (C)



(D)(B)


gungsempfänger und Versorgungsempfängerinnen des
Bundes sowie deren Hinterbliebene durch einen privat-
rechtlichen Verein – Postbeamtenversorgungskasse vom
Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunika-
tion e. V. – als Dauerlösung kritisch zu sehen ist, nicht
zuletzt vor dem Hintergrund der erheblichen finanziel-
len Zuwendungen des Bundes. Zwar speist sich die im
Jahre 1995 eingerichtete Kasse aus Leistungen der
Postnachfolgeunternehmen, die Beiträge in Höhe von
33 Prozent der Bruttobezüge ihrer aktiven und der fikti-
ven Bruttobezüge ihrer beurlaubten Beamtinnen und Be-
amten zahlen und auch die Verwaltungskosten der Kasse
übernehmen, jedoch leistet der Bund auch erhebliche
Zuführungen zur Postbeamtenversorgungskasse. Im
Jahr 2011 waren es rund 6,34 Milliarden Euro, und in
diesem Jahr sollen es rund 6,75 Milliarden Euro sein.

Mit der Aufgabenübertragung auf die Bundesanstalt
kann nun die Kritik des Bundesrechnungshofes, der zu-
dem die eingeschränkte Möglichkeit der Durchsetzung
rechts- und fachaufsichtlicher Entscheidungen des Bun-
des gegenüber den Organen des Vereins monierte, beho-
ben werden.

Die Aufgabenübertragung auf die Bundesanstalt, die
bereits langjährig die unternehmensbezogenen und so-
zialen Aufgaben mit Bezug zu den Postnachfolgeunter-
nehmen wahrnimmt, ist effektiv und kostengünstig. Den
öffentlichen Haushalten entstehen durch die Aufgaben-
übertragung und die Überleitung des Personals auf die
Bundesanstalt sowie durch die sonstigen Regelungen
des Gesetzes keine zusätzlichen Kosten. Die Verwal-
tungskosten der Postbeamtenversorgungskasse, die bis-
lang bereits von den Postnachfolgeunternehmen getra-
gen wurden, werden auch weiterhin von diesen
getragen.

Die Bundesanstalt tritt zudem in sämtliche begrün-
dete vertragliche Rechte und Pflichten unter anderem im
Zusammenhang mit Forderungsverkäufen ein; die
Rechte der Gläubiger aus den Forderungsverkäufen
bleiben gewahrt. In den Jahren 2005 und 2006 hat der
Verein – Bundes-Pensions-Service für Post und Tele-
kommunikation e. V. – einen Großteil der gegenüber den
Postnachfolgeunternehmen bestehenden, zukünftigen
Beitragsforderungen an zwei Verbriefungsgesellschaf-
ten verkauft und übertragen. Der Verein hat die Höhe
und Einbringlichkeit der verkauften Forderung garan-
tiert und diese Garantie durch Verpfändung der ihm als
Postbeamtenversorgungskasse zustehenden Ansprüche
gegen den Bund abgesichert. Zur Finanzierung der von
den Verbriefungsgesellschaften an den Verein gezahlten
Kaufpreise haben die Zweckgesellschaften Anleihen be-
geben und am internationalen Kapitalmarkt platziert.
Soweit der Bundes-Pensions-Service für Post und Tele-
kommunikation e. V. im Zusammenhang mit den Forde-
rungsverkäufen Pfandrechte oder sonstige Sicherungs-
rechte bestellt hat, bleiben diese ebenfalls unverändert.

Neben der Aufgabenübertragung enthält der Gesetz-
entwurf drei weitere Neuregelungen, die den Postnach-
folgeunternehmen bei der Erfüllung ihrer Beschäfti-
gungspflicht für die noch verbliebenen circa 110 000
Beamtinnen und Beamten der früheren Deutschen Bun-

despost dienen. Die Regelungen zum Vorruhestand für
die bei den Postnachfolgeunternehmen beschäftigten
Beamtinnen und Beamten sollen um vier Jahre verlän-
gert werden, und es soll eine Ermächtigungsgrundlage
für unternehmensspezifische Regelungen zur Altersteil-
zeit geschaffen werden.

Darüber hinaus soll es die Möglichkeit der dauerhaf-
ten Zuweisung von Beamtinnen und Beamten an
Konzernmutter- und -schwestergesellschaften der Post-
nachfolgeunternehmen geben; jedoch setzt diese Zuwei-
sung stets die Zustimmung der Beamtin oder des Beam-
ten voraus. Die Neuregelungen gehen auf entsprechende
Vorschläge der Postnachfolgeunternehmen zurück, die
hinsichtlich Vorruhestand und Altersteilzeit auch von
den Gewerkschaften unterstützt werden.

Der Bundes-Pensions-Service für Post und Telekom-
munikation e. V. bleibt nach der Aufgabenübertragung
auf die Bundesanstalt bestehen. Das Bundesministerium
der Finanzen wird den von ihm benannten Mitgliedern
des Vereins jedoch empfehlen, für eine Auflösung des
Vereins wegen Aufgabewegfalls zu votieren.


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1719537700

Die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation

bekommt ab 2013 zu ihren bisherigen Aufgaben neue
hinzu. Sie wird die Angelegenheiten der Postbeamten-
versorgungskasse, auch Bundes-Pensions-Service für
Post- und Telekommunikation e. V., vollständig überneh-
men. Die Arbeitsplätze der Mitarbeiter sind gesichert,
sie werden in Gänze von der Bundesanstalt übernom-
men. Alle Fraktionen unterstützen die Reform. Wir be-
schließen deshalb heute gemeinsam den Gesetzentwurf
der Bundesregierung.

Bisher hat sich die Postbeamtenversorgungskasse um
die Versorgung, also die Pensionsangelegenheiten, so-
wie um die Beihilfeleistungen bei Krankheit der Ruhe-
standsbeamtinnen und -beamten der Postnachfolgeun-
ternehmen und deren Hinterbliebenen gekümmert. Dabei
handelt es sich um rund 275 000 Versorgungsempfänger.
Die Postbeamtenversorgungskasse betreut damit fast ein
Fünftel der gesamten Versorgungsempfänger und ist die
größte Versorgungskasse in Deutschland. Da mit der
Übertragung ihre Aufgaben wegfallen, wird das Bundes-
finanzministerium empfehlen, den Verein schließlich
aufzulösen.

Zwar ist mit dem Postpersonalrechtsgesetz 1994 be-
schlossen worden, dass die Postnachfolgeunternehmen
dem Bund gegenüber die Versorgungs- und Beihilfekos-
ten tragen müssen. Allerdings sind erhebliche Zuschüsse
des Bundes nötig, um die Ansprüche der pensionierten
Beamten voll zu decken. In den Jahren 2010 und 2011
hat der Bund die Postbeamtenversorgungskasse je mit
knapp über 6 Milliarden Euro bezuschusst, für 2012
werden es voraussichtlich weit mehr als 6 Milliarden
Euro sein.

Die hohen Zuschüsse durch den Bund weisen darauf
hin, um was es in der Neuregelung durch den Gesetzent-
wurf hauptsächlich geht: um bessere Aufsicht. Der Bun-
desrechnungshof hat in der Vergangenheit wiederholt

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)


kritisiert, dass die Versorgungsangelegenheiten bei der
Postbeamtenversorgungskasse in der Rechtsform eines
eingetragenen Vereins geregelt werden. Dieser unter-
liegt einer eingeschränkten Rechts- und Fachaufsicht
durch das Bundesfinanzministerium, da es sich um einen
privatrechtlichen Verein handelt. Aufsichtsentscheidun-
gen können gegenüber den Organen des Vereins deshalb
nur beschränkt durchgesetzt werden.

Der Bundesrechungshof hat angemahnt, dass nicht
zuletzt vor dem Hintergrund der erheblichen Bundeszu-
schüsse dies keine Dauerlösung sein kann. Die Aufga-
ben sollten stattdessen an eine öffentlich-rechtliche Ein-
richtung übertragen werden. Mit dem Gesetzentwurf
setzen wir diese Forderung um.

Die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation
wurde im Zuge der Postreform 1995 als Anstalt des öf-
fentlichen Rechts errichtet. Bislang nimmt sie unterneh-
mensbezogene und soziale Aufgaben wahr. Sie beauf-
sichtigt Personalentscheidungen und Stellenpläne der
Postnachfolgeunternehmen. Die sozialen Aufgaben be-
ziehen sich in der Hauptsache auf die Weiterführung der
Sozialeinrichtungen der ehemaligen Deutschen Bundes-
post. Dazu gehören beispielsweise die Postbeamten-
krankenkasse, Wohnungsfürsorge und das Betreuungs-
werk für die Mitarbeiter der Postbeamtenversorgungs-
kasse.

Darüber hinaus verlängern wir mit dem Gesetzent-
wurf die Vorruhestandsregelungen für die Beamtinnen
und Beamten bei den Postnachfolgeunternehmen für
weitere vier Jahre. Dass damit bisher positive Erfahrun-
gen gemacht wurden, haben auch die Spitzenorganisati-
onen der Gewerkschaften bestätigt. Der Deutsche Be-
amtenbund, dbb, und der Deutsche Gewerkschaftsbund,
DGB, begrüßen auch, dass das Bundesfinanzministe-
rium künftig per Rechtsverordnung neben dem Lauf-
bahnrecht und der Arbeitszeit auch die Altersteilzeit für
die Postnachfolgeunternehmen gesondert regeln darf.
Die allgemeinen Vorschriften berücksichtigen die be-
sonderen Bedürfnisse der im Wettbewerb stehenden Un-
ternehmen nicht ausreichend. Ich freue mich, dass wir
fraktionsübergreifend diese Reformen auf den Weg brin-
gen.


Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719537800

Mit der Privatisierung der Deutschen Bundespost

übernahm die Postbeamtenversorgungskasse die Ver-
waltung der Versorgungs- und Beihilfeleistungen an die
den Postnachfolgeunternehmen Deutsche Post AG,
Deutsche Telekom AG und Deutsche Postbank zugeord-
neten Versorgungsempfängerinnen und Versorgungs-
empfänger sowie deren Hinterbliebene. Die bisherige

(Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V. – BPS-PT)

gangenheit des Öfteren, zuletzt 2011, bemängelt und
eine öffentlich-rechtliche Einrichtung angemahnt. Mit
dem Gesetzentwurf hat die Bundesregierung die Kritik
endlich aufgegriffen und schlägt die Überführung der
Aufgaben des BPS-PT an die Bundesanstalt für Post und
Telekommunikation Deutsche Bundespost vor. Dieser

Änderung der Rechtsform stimmt die Fraktion Die Linke
zu.

Zusätzlich ist im Gesetzespaket eine Verlängerung
der Vorruhestandsregelungen um 4 Jahre vorgesehen.
Auch das begrüßen wir, da solch eine Regelung von den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausdrücklich gefor-
dert wird.

Wie Sie wissen, ist die Privatisierung der Deutschen
Bundespost von der PDS und den Linken abgelehnt und
kritisch begleitet worden. Immer wieder haben wir an-
gemerkt, dass der Trend bei den Nachfolgeunternehmen,
insbesondere bei der Deutschen Post AG und den aus-
gelagerten Bereichen, zu Geringbeschäftigung, über-
proportional vielen Überstunden und Sonderschichten,
Personalabbau und Ausdünnung der Versorgungsdichte
geht. Die Privatkunden stehen heute oftmals schlechter
da, als vor der Privatisierung. Die Preise steigen immer
weiter, und die Kunden müssen zunehmend mehr Leis-
tungen selbst erbringen.

Der gleiche kapitalistische Geist wehte offensichtlich
auch, als der Verkauf der Forderungen gegen die Post-
nachfolgeunternehmen durch den Bundes-Pensions-
Service für Post und Telekommunikation e. V. im Jahr
2005 durchgeführt wurde. Das hat bis heute Folgen. Für
den Bundeshaushalt erbrachte dieses Konstrukt in den
Jahren 2005 bis 2007 kurzfristig einen Liquiditätsvor-
teil. Ab dem Jahr 2008 musste der Bundeshaushalt den
Finanzbedarf fast vollständig selbst tragen. In diesem
Jahr werden Zuwendungen in Höhe von 6,755 Milliar-
den Euro geleistet. Längerfristig gesehen entgehen dem
Bund Einnahmen, die er ohne Verbriefung gehabt hätte.
Unter dem Strich ist es ein Minusgeschäft!

Man kann sich aussuchen, ob die Idee zur Verbrie-
fung einfach nur dem neoliberalen Zeitgeist entsprach,
oder dem immer wieder zu beobachtenden Trend zur
Verschiebung der Finanzierung von Pensionszahlungen
auf zukünftige Generationen zuzurechnen ist. Unzurei-
chende Rücklagen und geplünderte Pensionsfonds in
Bund und Ländern werden dem Steuerzahler eine im-
mense Belastung aufbürden. Das Prozedere aus dem
Jahre 2005 wird einen nicht unbedeutenden Anteil an
dieser fatalen Entwicklung tragen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Der Bundesrechnungshof hat zu Recht wiederholt kri-
tisiert, dass die Postbeamtenversorgung bisher nicht
über eine öffentlich-rechtliche Einrichtung, sondern
über einen eingetragenen Verein organisiert ist. Die Kri-
tik ist nachvollziehbar, es geht hier um milliarden-
schwere Versorgungsausgaben, die sollten auch ver-
nünftig organisiert werden; das ist völlig richtig.

Der vorliegende Gesetzentwurf sieht nun vor, diese
milliardenschweren Versorgungsausgaben der Postbe-
amtenversorgung nicht wie bislang durch den Bundes-
Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V.,
also durch einen eingetragenen Verein, abzuwickeln,
sondern durch eine öffentlich-rechtliche Einrichtung zu
vollziehen. Die Bundesregierung trägt der Kritik des

Zu Protokoll gegebene Reden





Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)


Rechnungshofes nun also Rechnung. Die Aufgaben der
Postbeamtenversorgungskasse werden durch die Geset-
zesänderung auf die „Bundesanstalt für Post und Tele-
kommunikation Deutsche Bundespost“ übertragen. Das
ist so weit auch in Ordnung, das ist sogar sinnvoll, dass
hier endlich eine deutliche Verbesserung erreicht wird.

Wenn man aber den Fokus auf die geplanten Ände-
rungen des Postpersonalrechtsgesetzes im Hinblick auf
die Möglichkeiten der Tätigkeitszuweisung richtet, muss
eines klar sein: Wir reden hier über mehr als 100 000
Bundesbeamtinnen und -beamte, die von ihrem Arbeit-
geber bundesweit ohne ihre Zustimmung und ohne zeit-
liche Begrenzung „versetzt“ werden können. Für diese
Beamtinnen und Beamten haben auch wir als Bundestag
eine Fürsorgepflicht; da müssen wir genau hinschauen.

Der neu gefasste § 4 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 und 2 des
Postpersonalrechtsgesetzes bedeutet für die Beamtinnen
und Beamten der Postnachfolgeunternehmen, dass für
sie die strikteren Zuweisungsregeln des Bundesbeamten-
gesetzes, die vor unzumutbaren Zuweisungen schützen,
nicht in Gänze gelten. Sie sind also schlechter geschützt
als andere Bundesbeamtinnen und -beamte. Man ver-
langt ihnen eine höhere Flexibilität in der Lebenspla-
nung ab. Es kann ja sein, dass diese höhere Flexibilität
bei einem betriebswirtschaftlich ausgerichteten Arbeit-
geber auch sinnvoll sein kann, das will ich gar nicht
grundsätzlich bezweifeln. Das will ich an dieser Stelle
deutlich sagen, damit hier kein falscher Eindruck ent-
steht.

Ich will aber auch deutlich sagen, dass der betriebs-
wirtschaftliche Druck in Richtung Zuweisung den be-
troffenen Personen in der Praxis faktisch kaum eine
Wahl lässt, auch wenn nach dem Gesetz eigentlich ihre
Zustimmung erforderlich ist. Auch vor diesem Hinter-
grund ist für unsere Fraktion maßgeblich und wichtig,
dass Kriterien der sozialen Zumutbarkeit auch weiterhin
bei Zuweisungsentscheidungen berücksichtigt werden
müssen. Nicht zuletzt geht es hier zu einem großen Anteil
um Menschen im einfachen und mittleren Dienst. In die-
sem Sinne fordere ich das Bundesministerium der Fi-
nanzen anlässlich der heutigen Beratung auf, die Aus-
führungshinweise für Zuweisungen, die das Ministerium
im Jahre 2004 erlassen hat, auf die Neuregelung des
Postpersonalrechtsgesetzes inhaltsgleich zu übertragen.
Die bisherige Gleichbehandlung von Tarifbeschäftigten
und Beamtinnen und Beamten beim Rationalisierungs-
schutz darf nicht aufgegeben werden. Der bestehende
Standard muss erhalten bleiben.

Für die Rechte der Beamtinnen und Beamten bei der
Post tragen Sie ganz direkt auch Verantwortung. Ich
bitte Sie darum, dieser Verantwortung auch gerecht zu
werden. Insgesamt unterstützen wir das Anliegen des
Gesetzentwurfes vollkommen, die Änderungen sind sinn-
voll und dafür haben Sie unsere Unterstützung.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719537900

Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Haushalts-

ausschuss empfiehlt in seiner Empfehlung auf Drucksa-
che 17/10853, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/10307 anzunehmen. Ich bitte diejeni-

gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ein-
stimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 25:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Sahel-Region stabilisieren – Humanitäre Ka-
tastrophe eindämmen

– Drucksache 17/10792 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Re-
den zu Protokoll genommen.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1719538000

Die humanitäre Lage in der Sahelregion darf uns

nicht unberührt lassen. Menschenleben sind in Gefahr.
Unschuldige Kinder stehen vor dem Hungertod. Mit
meinem geschätzten Kollegen Thilo Hoppe habe ich mir
vor einigen Monaten bei einer Reise ans Horn von
Afrika ein Bild machen können von den Zuständen in
den Flüchtlingscamps, die infolge der Dürrekatastrophe
im vergangenen Jahr entstanden sind. Schon damals
wurden wir vor Ort in der Region Ostafrika auf die be-
vorstehende Ausweitung der Dürre und ihrer humanitä-
ren Folgen in das nordwestliche Gebiet der Sahelzone
hingewiesen.

Spiegel Online berichtete bereits am 23. März 2012
unter der Überschrift „In der Sahelzone droht eine Hun-
gerkatastrophe“ von der Lage im Sahel. Mit Sebastian
Lesch wurde der Sprecher des Entwicklungshilfeministe-
riums zitiert, der zu diesem Zeitpunkt bereits konsta-
tierte, dass mehr als 10 Millionen Menschen von Hun-
ger bedroht seien.

Diese befürchtete Verschärfung der humanitären Si-
tuation in der Sahelregion ist nun bittere Realität gewor-
den.

Am 1. August lasen wir in der Süddeutschen Zeitung
von einem aktuellen Bericht der Hilfsorganisationen
„Save the Children“ und „World Vision“: „Den Organi-
sationen zufolge sind bald 1 Million Menschen in der
Region akut vom Hungertod bedroht. Insgesamt seien
mehr als 18 Millionen Menschen von Unterernährung
betroffen.“ Laut UNICEF sind mehr als 1 Million Kin-
der in der Sahelzone in akuter Lebensgefahr.





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


Wie der Antrag richtig beschreibt, ist „die Sahelre-
gion eines der ärmsten Gebiete der Welt. Seit Jahren
kommt es in den Ländern dieser Region durch Dürren
und Misswirtschaft zu Lebensmittelkrisen. Ernteaus-
fälle, politische Umbrüche in den Staaten Nordafrikas,
die Rückkehr bewaffneter Söldner aus Libyen und der
Elfenbeinküste, organisierte Kriminalität, islamistischer
Terrorismus sowie Kampfhandlungen im Norden Malis
haben die Ernährungskrise und fragile Sicherheitslage
in der Sahelregion dramatisch verschärft“.

In welche Richtung muss die Hilfe nun weisen? Nun,
es ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen notwendig, wie
das Zitat aus dem Antrag bestätigt. Von weitreichenden
politischen Initiativen, zu denen auch mögliche militäri-
sche Interventionen in einzelnen Ländern gehören kön-
nen, bis zu schneller humanitärer Hilfe muss das Portfo-
lio der Instrumente reichen.

Der Antrag stellt daher auch insgesamt 20 verschie-
dene Forderungen an die Bundesregierung. Allerdings
verzettelt sich für meine Begriffe damit leider das gutge-
meinte und notwendige Anliegen.

Was ist tatsächlich zu tun? Zunächst einmal ist es
wichtig, die humanitären Hilfen und politischen Instru-
mente bestmöglich zu koordinieren. Dies geschieht auf
der Ebene der Vereinten Nationen durch das Amt für die
Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Ver-
einten Nationen – UNOCHA –, das VN-Kinderhilfswerk
– UNICEF – und VN-Flüchtlingshilfswerk, UNHCR. Auf
dieser Ebene ist dringend geboten, eine dauerhafte
Konferenz zur humanitären Lage in der Sahelzone zu in-
stallieren, wie es auf EU-Ebene geplant ist. Neben der
aktuellen Abstimmung der Maßnahmen bedarf es unbe-
dingt der Entwicklung eines Frühwarnsystems für das
gesamte Subsahara-Afrika.

Zu begrüßen ist auf der Ebene der EU, dass bereits im
Juni eine neue Partnerschaft der Geberländer, die Ini-
tiative mit dem Namen AGIR Sahel, Alliance Globale
pour l'Initiative Resilience, ins Leben gerufen und die
humanitäre Hilfe der EU um 40 Millionen Euro auf
337 Millionen Euro – zusätzlich zu den 208 Millionen
Euro für die Finanzierung laufender Projekte für Ernäh-
rungssicherheit – aufgestockt wurde.

Vertreter der EU-Mitgliedstaaten, der USA, Norwe-
gens, Brasiliens, der Vereinten Nationen, der Weltbank,
der Afrikanischen Entwicklungsbank, der Organisation
für Islamische Zusammenarbeit sowie Botschafter der
Sahelländer, Vertreter zweier regionaler Organisationen
– ECOWAS und UEMOA – und Vertreter der Zivilgesell-
schaft sind zu AGIR eingeladen.

EU-Entwicklungskommissar Andris Piebalgs er-
klärte zu AGIR: „In der heutigen Zeit ist es schwierig zu
akzeptieren, dass manche Menschen nicht genug zu es-
sen haben. Dies kann verhindert werden, indem mit den
Sahelländern und internationalen Partnern zusammen-
gearbeitet wird, um tragfähige landwirtschaftliche Sys-
teme aufzubauen und somit künftige Krisen zu vermei-
den. Allerdings kann eine solche Widerstandsfähigkeit
nicht über Nacht entwickelt werden. Die Initiative AGIR
Sahel wird alle wichtigen Akteure auf diesem Gebiet zu-

sammenbringen und den Menschen in der Region auf
lange Sicht Hoffnung auf eine stabilere Zukunft geben.
Die EU wird ihren Teil leisten und in den kommenden
Jahren die Landwirtschaft und die Ernährungssicher-
heit in den Mittelpunkt ihrer Unterstützung stellen. Da-
mit wird eine fundamentale Grundlage geschaffen, um
auf nachhaltiges und breitenwirksames Wachstum hin-
zuarbeiten.“ Piebalgs findet darin meine uneinge-
schränkte Zustimmung.

Natürlich engagiert sich auch die Bundesregierung in
der Sahelregion. Das BMZ hat im August seine Unter-
stützung um 14,7 Millionen Euro, die Bundesregierung
ihre Unterstützung damit auf insgesamt 51 Millionen
Euro aufgestockt. Sie ist damit drittgrößter bilateraler
Geber des Welternährungsprogramms in der Sahelkrise.
Das BMZ und das Auswärtige Amt stehen in ständigem
Kontakt untereinander und mit den Partnern in Europa
sowie den in der Sahelregion tätigen NGOs. Die Not-
wendigkeit einer Aufstockung der Hilfe wird jederzeit
weiter im Blick behalten.

Doch noch einmal zurück zu meinen persönlichen
Eindrücken. Thilo Hoppe und ich sind tapferen Men-
schen begegnet, die unter katastrophalen Umständen le-
ben müssen, und die Erstaunliches leisten. Der Begriff
„humanitäre Katastrophe“ ist spätestens nach solchen
Begegnungen kein leerer Fachterminus mehr, sondern
es verbergen sich Gesichter und Geschichten hinter den
nackten Zahlen. Es geht um Menschen. Um diesen Men-
schen zu helfen, müssen wir die politischen Aktivitäten
in Europa und den Vereinten Nationen bündeln. Wir
müssen die Bürgerinnen und Bürger zu verstärktem En-
gagement und Spendenbereitschaft motivieren, indem
wir diese „vergessene Region“ thematisieren. Wir müs-
sen internationale NGOs unterstützen – und alles das
über Parteigrenzen hinweg. Darum begrüße ich den
heutigen Antrag und diese Debatte. Ich hoffe, sie führt
zu einer größeren Wahrnehmung der Sahelregion in der
Öffentlichkeit. Doch wir dürfen die konzertierten Hilfen
der Weltgemeinschaft und den starken Anteil der Bun-
desrepublik dabei nicht kleinreden.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1719538100

Heute befassen wir uns mit einem Thema, welches

schon längst auf der Tagesordnung des Plenums hätte
stehen sollen, ein Thema, das schon längst mehr Auf-
merksamkeit verdient hätte.

Die humanitäre Lage in der Sahelzone ist, zweifels-
ohne und nicht erst seit gestern, katastrophal. Bereits
vor einigen Monaten haben internationale Hilfsorgani-
sationen auf die sich anbahnenden Probleme hingewie-
sen. Auch die bestehenden Frühwarnsysteme, die es seit
der Hungerkatastrophe am Horn von Afrika im Jahr
2011 gab, haben auf diese Entwicklung hingewiesen.
Dank dieser konnten erste Maßnahmen eingeleitet und
internationale und nationale Hilfe auf die anstehenden
Bedürfnisse angepasst werden. Es ist unerlässlich, jetzt
sofort und auf schnellstem Wege Hilfen für die Bewohne-
rinnen und Bewohner der Sahelregion bereitzustellen.
Gleichwohl muss im gleichen Augenblick auch daran
gedacht werden, wie eine Krise wie die derzeitige zu-

Zu Protokoll gegebene Reden





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)


künftig effektiv verhindert und die umfangreichen Risi-
kofaktoren für Hunger sowie die Krisenanfälligkeit der
Region abgemildert, besser gänzlich beseitigt, werden
können.

Ein wesentliches Problem ist derzeit die anhaltende
Dürre sowie die Verfügbarkeit von Rohstoffen. Prinzi-
piell sind die Märkte der Region in der Lage, klimabe-
dingte Schwankungen in der Verfügbarkeit von Rohstof-
fen zu verkraften. Es sind zumindest statistisch aus-
reichend Anbaukapazitäten und Lebensmittel vorhan-
den; allerdings können diese aufgrund des hohen Prei-
ses von der lokalen Bevölkerung nicht mehr erworben
werden. Preissteigerungen bei Getreide von bis zu
20 Prozent werden beobachtet; in einigen Regionen be-
richtet die Welthungerhilfe von weitaus größeren Steige-
rungen.

Besonders die erhöhten Weltmarktpreise für Roh-
stoffe haben die Lage der Bevölkerung in der Sahelzone
verschlimmert. So sind in letzter Zeit vermehrt Spekula-
tionen auf Rohstoffe zu beobachten. Dies führt zu einem
erheblichen Anstieg des Preisniveaus für Reis, Mais und
Zucker. Es ist unerträglich, dass sich große Fonds und
Banken zulasten der ohnehin Ärmsten der Armen berei-
chern und es für eine Familie nicht mehr möglich ist, ih-
ren Kindern mehr als eine Tasse Tee am Morgen als
Nahrung anzubieten. Nach der Linderung der akuten
Not müssen wir diese Frage angehen und aktiv gegen
diese anstößige Praxis von Finanzinvestoren vorgehen.

Durch die politischen Umwälzungen in den Ländern
der Sahelzone wird die akute Notlage weiter verschärft.
Einerseits entsteht durch rückkehrende Flüchtlinge ein
hoher Druck auf die angespannte Versorgungslage; an-
dererseits ist der Zugang in die am schwersten betroffe-
nen Regionen durch unklare und unsichere Verhältnisse
sowie gewaltsame Auseinandersetzungen erheblich er-
schwert, teilweise sogar unmöglich. Insbesondere in
Mali ist die Lage extrem angespannt. Infolge des Put-
sches und der instabilen politischen Verhältnisse, aber
auch der Nahrungsmittelkrise flüchteten mittlerweile
über 250 000 Malier in die Nachbarländer Burkina
Faso, Mauretanien und Niger. Außerdem gab es im sel-
ben Zeitraum rund 185 000 Binnenflüchtlinge innerhalb
Malis. Sowohl die ausreichende Versorgung der Flücht-
linge mit Nahrungsmitteln, Wasser und Unterkunft als
auch ihre medizinische Versorgung sind mangelhaft.
Fast eine halbe Million Menschen sind ohne Heimat und
Obdach. Zwischenzeitlich berichten Hilfsorganisatio-
nen auch vom Auftreten von Cholera, die durch das enge
Zusammenleben der lokalen Familien und der zahlrei-
chen Flüchtlinge bedingt sind. Die schlechte Ernäh-
rungssituation und die Überflutungen im Niger sind ein
weiterer Herd für die Ausbreitung von Cholera und an-
deren Krankheiten.

Zunehmend bedienen sich auch internationale Ver-
brechergruppen der Sahelregion, um von hier aus unge-
hindert Drogen-, Waffen- und Menschenhandel zu be-
treiben. Einige Organisationen sprechen bereits vom
„Pulverfass Sahelzone“, da sich in dem enormen, über
mehrere Ländergrenzen greifenden Gebiet ein nahezu
rechtsfreier Raum entwickelt hat, der unter anderem be-

waffneten und terroristischen Gruppen wie Boko Haram
und der al-Schabab als Rückzugsgebiet dient. Kaum ei-
nem der Sahelstaaten gelingt es, auch aufgrund der Topo-
grafie, sein Territorium zu kontrollieren. Das Operieren
der Gruppierungen setzt die Bevölkerung vor Ort erhebli-
chen Gefahren aus und erschwert auch die Arbeit interna-
tionaler Hilfsorganisationen. Wir fordern in diesem Zu-
sammenhang auch eine stärkere Kontrolle der deutschen
Rüstungsexporte. Zunehmend oft werden deutsche Rüs-
tungsgüter, insbesondere Klein- und Leichtwaffen, in
Staaten exportiert, die den Verbleib der Waffen nicht kon-
trollieren können oder nicht transparent über den Ver-
bleib berichten. Insbesondere unter dem Aspekt, dass
auch terroristische Organisationen in den Staaten der
Sahelregion operieren, müssen Waffenexporte genauer
kontrolliert und gegebenenfalls auch eingestellt werden.

Langfristig müssen die politischen und sicherheits-
politischen Verhältnisse vor Ort so stabilisiert werden,
dass die Menschen sich niederlassen und ihre Versor-
gung sicherstellen können, ohne befürchten zu müssen,
gewaltsamen Auseinandersetzungen ausgesetzt zu wer-
den. Deshalb ist eine Lösung des Konflikts in Nordmali
im vorrangigen Interesse der benachbarten Staaten in
Westafrika, insbesondere aber natürlich der dort leben-
den Menschen.

Es ist daher äußerst positiv zu bewerten, dass seit
Dienstag eine grundsätzliche Einigung zwischen Mali
und der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft
ECOWAS über die Bedingungen und den Einsatz aller
erforderlichen Mittel vorliegt. In den kommenden Tagen
wird eine formelle Einigung über die Stationierung von
Truppen, unter anderem in Bamako, erwartet. Nach ers-
ten Informationen soll die Hilfe von ECOWAS-Personal
erbracht werden, um so eine höhere Akzeptanz bei der
Bevölkerung herzustellen. Wir begrüßen diese innerafri-
kanische Initiative und erwarten, dass auch ein hoch-
rangiges Treffen am Rande der UN-Vollversammlung in
New York weitere konkrete kurz- und langfristige Hilfen
für die Menschen in der Sahelregion hervorbringt. Wir
fordern die Bundesregierung dringend dazu auf, gerade
als Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
selbst Unterstützung zu leisten und bei den Partnern da-
für zu sorgen, dass die notwendige Unterstützung der
Staatengemeinschaft nicht entweder an den Interessen
einzelner Staaten scheitert oder mit dramatischen Fol-
gen für die betroffene Bevölkerung verzögert wird.

Die derzeit sichtbaren akuten Probleme werden flan-
kiert von grundlegenderen Herausforderungen, die in
langfristigen Entwicklungsprojekten bearbeitet werden
müssen. So ruft der weltweite Klimawandel in der Sahel-
region bereits sehr deutliche Veränderungen hervor. In
einer Region, in der Ackerbau, Landwirtschaft und Vieh-
zucht schon heute äußerst mühsam und wenig ertrag-
reich sind, sind sich ausbreitende Desertifikation und
zunehmend unregelmäßige Niederschläge eine Kata-
strophe. Zudem belastet der weiterhin hohe Bevölke-
rungsanstieg die angespannte Versorgungslage der Be-
völkerung. Nach der gegenwärtig notwendigen Akut-
versorgung mit Wasser und Lebensmitteln braucht es
auch hier langfristige Strategien zur Verbesserung der
Versorgungslage. Gemeinsam mit internationalen Orga-

Zu Protokoll gegebene Reden





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)


nisationen und in der bilateralen Zusammenarbeit müs-
sen wir den Bäuerinnen und Bauern Strategien und In-
strumente an die Hand geben, die es ihnen ermöglichen,
unter veränderten klimatischen Bedingungen und bei
drohenden oder akuten Extremwetterlagen ihre Versor-
gung trotzdem sicherzustellen.

Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung bereits
mit Aufkommen der ersten Anzeichen für die Versor-
gungskrise gegen Ende des letzten Jahres und zu Beginn
dieses Jahres Unterstützungsmaßnahmen ergriffen hat
und über verschiedene Wege finanzielle Hilfen bereitge-
stellt hat. Gleichwohl scheint dies angesichts der fort-
schreitenden und sich verschlimmernden Krise wie ein
Tropfen auf den heißen Stein.

Wir unterstützen daher die Forderung nach zusätzli-
chen Mitteln und Initiativen, um die Situation der Men-
schen vor Ort schnellstmöglich zu verbessern und ihre
Not zu mildern. Wir müssen jetzt die notwendigen Maß-
nahmen ergreifen, um die akute Not in der Sahelregion
zu lindern und in ausreichendem Maß Wasser, Nah-
rungsmittel, Unterkunft und medizinische Versorgung
zur Verfügung zu stellen.

Langfristig müssen wir uns jedoch darauf verständi-
gen, die Staaten dabei zu unterstützen, die strukturellen
Probleme, welche zu der aktuellen Notlage führten, zu
bewältigen. Neben stabilen politischen Verhältnissen
braucht es insbesondere auf dem Gebiet der Nahrungs-
mittelsicherheit grundlegende Veränderungen. Es muss
sichergestellt werden, dass die regionale Landwirtschaft
verbessert wird und den Bedingungen des Klimawandels
angepasst wird. Es muss sichergestellt werden, dass an
den internationalen Märkten keine Spekulationen auf
Rohstoffe getätigt werden, die die Weltmarktpreise ex-
plodieren lassen.

Denn wenn die Menschen die aktuelle Krise über-
standen haben, müssen wir – wenn es keine strukturellen
Veränderungen gibt – im nächsten Jahr bereits die
nächste Akutmaßnahme verabschieden. Es wäre drama-
tisch, wenn die Menschen in der Sahelregion von einer
humanitären Katastrophe in die nächste kämen. An der
Beratung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen wer-
den wir uns deshalb konstruktiv beteiligen.


Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1719538200

Eines schicke ich vorweg: Ich begrüße diese Debatte

ausdrücklich. Bereits beim Besuch des Menschen-
rechtsauschusses in Genf beim Menschenrechtsrat im
Mai hat man uns auf die Situation in der Region hinge-
wiesen und die Brisanz der Lage verdeutlicht.

Gestern fand am Rande der 67. Sitzung der VN-Gene-
ralversammlung eine Konferenz zur aktuellen humanitä-
ren und politischen Situation der Sahelregion statt. Ban
Ki-moon hatte diese unter anderem einberufen, um die
neue regionale Strategie der Vereinten Nationen für den
Sahel vorzustellen. Die Länder der krisenerschütterten
Region stehen vor zahlreichen Herausforderungen.
Viele der Probleme verstärken sich gegenseitig. So ver-
schärfen beispielsweise die anhaltenden Flüchtlings-

ströme aus Mali die ohnehin schon schlechte Nahrungs-
mittellage in der Region.

Die Strategie der Vereinten Nationen verfolgt hierzu ei-
nen übergreifenden Ansatz und soll die Bereiche Sicher-
heit, Regierungsführung, Entwicklung und Menschen-
rechte sowie eine humanitäre Dimension umfassen. Dabei
sollen insbesondere regionale Strukturen und grenzüber-
schreitende Herangehensweisen gefördert werden.

Wenn wir die aktuellsten Zahlen zur humanitären
Lage in der Sahelzone lesen, wird deutlich, dass es auch
weiterhin eines solchen entschiedenen Handelns bedarf.
Das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegen-
heiten der Vereinten Nationen, UNOCHA, veranschlagt
den humanitären Bedarf im Sahel auf 1,6 Milliarden US-
Dollar. Etwa ein Fünftel der gesamten Bevölkerung der
Region ist von Ernährungsunsicherheit bedroht; das
sind 18 Millionen Menschen in neun Ländern.

Die deutsche Bundesregierung hat schnell auf die
ersten Berichte über eine bevorstehende Nahrungsmit-
telkrise im Sahel reagiert. Seit Ende 2011 haben wir ins-
gesamt 55 Millionen Euro an humanitärer Hilfe für die
Region bereitgestellt. Die Gelder flossen in Nahrungs-
mittelhilfen des World Food Programme, in Flüchtlings-
hilfen von UNHCR, unterstützten die Verwundetenver-
sorgung durch das Internationale Komitee vom Roten
Kreuz oder humanitäre NGOs wie Help oder Care.

Selbstverständlich werden wir dieses Engagement
fortsetzen; aktuell gibt es zum Beispiel eine finanzielle
Neuzusage an das Internationale Komitee vom Roten
Kreuz für Mali.

Die Bundesregierung und die internationale Gemein-
schaft wollen durch ihren Einsatz verhindern, dass aus
der Krise eine Katastrophe wird. Humanitäre Hilfsorga-
nisationen haben hier beachtliche Leistungen erbracht,
vornehmlich für die 1 Million Kinder, die von der Nah-
rungsmittelkrise besonders betroffen sind.

Dürren, Ernteeinbußen, steigende Lebensmittelpreise
und kriegerische Umwälzungen verschärfen die Nah-
rungsmittelsituation der ohnehin unterentwickelten Re-
gion. Zwar gibt es die Hoffnung, dass die nächste Ernte
im Oktober die Krise vorübergehend lindern wird und
die Marktpreise wieder sinken werden. Zahlreiche mali-
sche Flüchtlinge werden dieses Jahr jedoch nicht ihre
Felder bestellen können. Eine Wiederholung der Krisen-
situation ist damit vorprogrammiert.

Hier offenbaren sich die strukturellen Probleme der
Region, die bei akuter Unterstützung und Eindämmung
der humanitären Notlage nicht ausgeblendet werden
dürfen. Schwache Produktions- und Versorgungssysteme
führen zu einer sprunghaft ansteigenden Unterernäh-
rung der Bevölkerung im Falle eines externen Schocks.
Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass die
Bundesregierung über die akute Nothilfe hinaus die Sa-
helregion auch dabei unterstützt, ihre Widerstandskraft
dauerhaft zu verbessern. Dies geschieht durch den Auf-
bau von Nahrungsmittelreserven, das Fruchtbarmachen
von Böden oder durch Schulungen von Kleinbauern.
Eine Erkundungsmission der GIZ gemeinsam mit Nicht-
regierungsorganisationen hat die hohe Wichtigkeit einer

Zu Protokoll gegebene Reden





Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)


engen Abstimmung zwischen EZ-Programmen und hu-
manitärer Hilfe bestätigt. Dies entspricht auch den res-
sortübergreifenden Leitlinien „Für eine kohärente Poli-
tik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten“,
die letzte Woche im Kabinett beschlossen wurden.

So dramatisch die humanitäre Lage und die Nah-
rungsmittelkrise im Sahel sind, die politische Dimension
dürfen wir bei allem akut gegebenen Handlungsbedarf
nicht aus den Augen verlieren. António Guterres, der
Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen, be-
klagte unlängst eine unzureichende Aufmerksamkeit für
die politische Situation in Mali vonseiten der internatio-
nalen Gemeinschaft und sprach gar von einer „verges-
senen Krise“.

Dabei sind die Entwicklungen in Mali mehr als alar-
mierend; sie gefährden die Sicherheit und die Stabilität
der Region auf ernst zu nehmende Weise. Der Kommis-
sionspräsident der Afrikanischen Union, Jean Ping,
sieht in der Krise gar eine der „ernsthaftesten Bedro-
hungen“ für den gesamten afrikanischen Kontinent.

Seit dem Militärputsch im März ist das Land faktisch
geteilt. Mali befindet sich in einer verheerenden Spirale
von Marginalisierung, Nahrungsmittelknappheit, be-
waffneten Auseinandersetzungen, Separatismus, Terro-
rismus und organisierter Kriminalität. Die Lage spitzt
sich kontinuierlich zu, weitere Entwicklungen werden
zunehmend unvorhersehbarer.

Nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi kehrten
Tausende Söldner, meist Tuareg, die vom libyschen
Machthaber rekrutiert worden waren, nach Mali zurück
und kämpfen nun gegen die malische Armee. Während
die Rebellion zunächst von säkularen Motiven wie Auto-
nomiebestrebungen geprägt war, haben sehr schnell is-
lamistische Kräfte an Einfluss gewonnen. Die „Bewe-
gung für die Einheit und den Dschihad in Westafrika“,
Mujao, al-Qaida im Maghreb, AQIM, und die mit ihnen
verbündete radikal-islamische Gruppe Ansar al-Din be-
herrschen den Norden Malis und haben in den von ihnen
kontrollierten Gebieten die Scharia eingeführt. Die
Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten
Nationen, Navi Pillay, berichtete letzte Woche von grau-
samen Amputationen, Steinigungen, Massenhinrichtun-
gen und der Verletzung von Frauenrechten aufgrund von
Scharia-Vorschriften.

Es ist unerlässlich, dass die malische Übergangsre-
gierung entschiedene Bemühungen unternimmt, um die
Ordnung im Land wiederherzustellen. Deutschland un-
terstützt dabei ausdrücklich den konsequenten Einsatz
der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECO-
WAS und stimmt sich bei seinen Aktivitäten mit der EU,
der Afrikanischen Union und den Vereinten Nationen ab.
Mit einem nachdrücklichen Engagement muss die inter-
nationale Gemeinschaft verhindern, dass sich die Krise
in Mali zu einem Flächenbrand auf die gesamte Sahelre-
gion ausweitet.


Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719538300

Zum dritten Mal innerhalb von sieben Jahren werden

die Menschen in der Sahelregion von akutem Hunger

bedroht. Durch die unregelmäßigen Regenfälle, ausfal-
lende Ernten und sterbende Tiere geraten immer mehr
Menschen in eine akute Notlage. Durch die viel zu kur-
zen Zeiträume zwischen den Trockenperioden haben die
Gemeinden überhaupt keine Chancen mehr, Vorräte an-
zulegen, um die Dürreperioden überstehen zu können.
Während sich die Dürren in den Jahren 2005 und 2010
noch hauptsächlich auf Niger und Teile des Tschad be-
schränkten, betrifft die diesjährige Hungerkrise die ge-
samte Sahelzone.

Die Getreideproduktion liegt in vielen Ländern der
Region weit unter dem Durchschnitt der letzten fünf
Jahre. Die Erträge in Mauretanien sind dieses Jahr um
46 Prozent, im Tschad um 37 Prozent, im Niger um
23 Prozent und in Burkina Faso um 14 Prozent geringer
als prognostiziert.

Im Niger sind 20 Prozent aller Kinder zwischen 6 und
23 Monaten mangelernährt, in Burkina Faso leiden
1,7 Millionen Menschen unter Hunger, in Mali sind über
4,6 Millionen Menschen vom Hunger betroffen. Nach
Angaben des UN-Kinderhilfswerks UNICEF leiden in
der Sahelregion mehr als 1 Million Kinder unter schwe-
rer Mangelernährung.

Die Staaten des globalen Nordens tragen direkte Mit-
verantwortung für die Not der Menschen in der Sahelre-
gion: Klimaforscher weisen seit vielen Jahren darauf
hin, dass diese deutliche Zunahme der Dürreperioden
auf die Folgen des Klimawandels zurückzuführen ist.
Spekulationen mit Nahrungsmitteln haben dazu beige-
tragen, dass sich Nahrungsmittel in der Sahelregion im
letzten Jahr extrem verteuert haben. Die Getreidepreise
in der Region sind überdurchschnittlich angestiegen, die
Versorgung mit Grundnahrungsmitteln wie Hirse ist teil-
weise nicht mehr gesichert. Viele Familien können sich
die Lebensmittel nicht mehr leisten. Aufoktroyierte Frei-
handelsabkommen haben lokale Märkte durch subven-
tionierten Export von landwirtschaftlichen Gütern aus
der EU zerstört und viele Kleinbauern in existenzielle
Not gebracht. Der nicht zu verantwortende Angriff der
NATO auf Libyen hat die Sicherheitslage in der Region
maßgeblich verschlechtert. Viele der mit NATO-Waffen
oder erbeuteten Waffen ausgerüsteten Söldnertruppen
aus Libyen sind nach dem Sturz des Regimes in die Sa-
helregion eingesickert und haben zum Umsturz im Nor-
den von Mali beigetragen. Durch die prekäre Sicher-
heitslage in einigen Gebieten der Region ist der Zugang
zu den hilfsbedürftigen Menschen deutlich erschwert.
Die Destabilisierung Nordafrikas durch die Militär-
interventionen der NATO-Staaten hat den radikalen
Strömungen in Afrika deutlichen Zulauf gebracht.

Die Folge sind große Flüchtlingsströme, für die eine
schnelle Hilfe organisiert werden muss. Nach Angaben
der UNHCR sind alleine aus dem Norden Malis
435 000 Menschen als Binnenflüchtlinge unterwegs oder
in die Nachbarstaaten geflohen. Die aufnehmenden
Nachbarstaaten müssen von der internationalen Gemein-
schaft unterstützt werden.

Die Ausführungen in dem Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen zu Aktivitäten der Gruppe al-Qaida sind einsei-
tig, da sie die Ursachen für das Erstarken dieser Grup-

Zu Protokoll gegebene Reden





Annette Groth


(A) (C)



(D)(B)


pen verschweigen. Viele der heutigen Kämpfer von al-
Qaida wurden durch die NATO-Interventionen radikali-
siert. Viele der Waffen, die diese Gruppen heute einset-
zen können, stammen aus den Waffenlieferungen der
NATO-Staaten an die Opposition in Libyen.

Wieder einmal zeigt sich deutlich, dass die imperiale
Politik eine negative Rolle für die Entwicklung ganzer
Regionen spielt. Auch aus diesen Gründen halten wir die
Forderung nach Ausbau der Krisenreaktionskräfte für
problematisch.

Nicht nachvollziehbar ist die in dem Antrag aufge-
stellte Forderung nach Aufbau eines Asylsystems in den
betroffenen Ländern. Das hat mit der Realität der
Flüchtlingsbewegungen in dieser Region wenig zu tun.
Die Grenzen in dieser Region sind willkürliche Grenzen
aus der Zeit des Kolonialismus und spielen für die rea-
len Bewegungen der Menschen und die Wirtschaft keine
zentrale Rolle.

Wir brauchen in der Region kein Asylsystem wie in
der EU, das nicht zum Flüchtlingsschutz, sondern zur
Flüchtlingsabwehr aufgebaut wurde, sondern eine Lö-
sung zur Überwindung der bestehenden Grenzkonflikte
und eine Ausrichtung der Politik der Bundesregierung
auf wirtschaftliche Hilfe für die Region, die eigene Ent-
wicklungschancen ermöglicht.

Die Fraktion Die Linke erwartet von der Bundesre-
gierung schnelle und umfassende Hilfe für die Men-
schen. Wir erwarten, dass sie sich nicht auf einen Ver-
handlungsmarathon zwischen den Geberländern ein-
lässt, um angeblich „faire Anteile“, wie dies im Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen benannt wird, auszuhan-
deln, sondern durch schnelle und umfassende Maßnah-
men den Menschen hilft. Die Betroffenen in der Sahelre-
gion haben keine Zeit, auf das Ergebnis von inter-
nationalen Verhandlungen zu warten, sondern brauchen
sofort Hilfe.

Mehr als 18 Millionen Menschen sind von akuter Un-
terernährung betroffen, 8 Millionen Menschen brauchen
dringend Nothilfe. Die Fraktion Die Linke unterstützt
ausdrücklich die Forderung im Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen, dass die Mittel für humanitäre Hilfe und die
entwicklungsfördernde und strukturbildende Über-
gangshilfe für die Sahelzone sofort auf 82,5 Millionen
Euro angehoben werden müssen. Dass die Bundesregie-
rung sich seit Jahren weigert, die entsprechenden Titel
angemessen aufzustocken, ist skandalös angesichts der
Häufung lebensbedrohender Krisen in den Ländern des
Südens. Jetzt sind auf dem Verschiebebahnhof zwischen
AA und BMZ unterm Strich auch noch Gelder gekürzt
worden. Wir werden die Haushaltsberatungen 2013 nut-
zen, um hier energisch mehr Mittel einzufordern.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719538400

Die Lage in der Sahelregion ist dramatisch. Meine

Fraktion bringt diesen Antrag in den Bundestag ein,
weil wir befürchten, dass die dortige humanitäre Kata-
strophe angesichts der Euro-Krise und des Bürgerkriegs
in Syrien nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch
im politischen Bereich nicht die Beachtung erfährt, die

sie benötigt. Wir sollten uns die Dimension dieser Krise
vor Augen führen: Durch die Nahrungsmittelkrise sind
mittlerweile 18 Millionen Menschen in der Sahelregion
bedroht. Laut OCHA wären 1,7 Milliarden Euro notwen-
dig, um die nötige Nothilfe zu leisten. Bisher sind gerade
einmal 56 Prozent davon aufgebracht.

Als infolge des Libyen-Konflikts ehemalige Gaddafi-
Söldner mit einer Vielzahl schwerer Waffen aus Gadda-
fis Arsenal die Sahelregion überströmten und dort dazu
beitrugen, dass alte Konflikte mit nie gekannter Intensi-
tät wieder ausbrachen, schaute Europa tatenlos zu.

Seit Ausbruch des Tuareg-Aufstandes in Nord-Mali,
der durch die Söldner Gaddafis erst richtig ins Rollen
kam, und verstärkt noch seit der Machtübernahme dort
durch die Islamisten von Ansar Dine und MUJAO sind
bisher 435 000 Menschen aus diesen Gebieten geflüch-
tet, zum Teil in die Nachbarländer Niger, Burkina Faso
und Mauretanien, zum Teil in den Süden des Landes.

Grund dafür sind Menschenrechtsverletzungen, die
von allen Seiten berichtet werden. Plünderungen, Zer-
störungen von Kulturgütern, Rekrutierung von Kinder-
soldaten, Vergewaltigungen, drakonische Körperstrafen
und Exekutionen und Massaker sind aus dem Norden
Malis vermeldet worden.

Hier ist leider von der internationalen Gemeinschaft
und auch von der EU einiges versäumt worden. Dies ist
umso tragischer, als einige in der EU frühzeitig auf die
angespannte Lage in der Sahelregion aufmerksam ge-
macht haben: Bereits im März 2011 hat die EU die Sahel-
Strategie für Sicherheit und Entwicklung verabschiedet.
Leider hat es bis zum Juni dieses Jahres gedauert, bis
die erste angestrebte Unterstützungsmission im Sicher-
heitsbereich von der EU begonnen wurde. EUCAP Niger
Sahel will die Ausbildung von Polizei und Gendarmerie
in Niger unterstützen. Aus unserer Sicht eine richtige
und wichtige Mission.

Sicherlich gibt es für diese Verzögerung einige
Gründe. Aber bedauerlicherweise hören wir aus Brüs-
sel, dass es gerade auch diese Bundesregierung war, die
sich gegen eine EU-Mission im Rahmen der GSVP in
der Sahelregion lange gesperrt hat. Anstatt sich auf ihre
positive Rolle in der Region zu besinnen – immerhin ge-
hörte die Bundesrepublik zu den ersten Staaten, die die
Unabhängigkeit Malis 1960 anerkannt haben –, hat die
Bundesregierung das Handeln der EU verzögert. Warum?
Aus Furcht, vor den französischen Karren gespannt zu
werden, oder wegen der Uneinigkeit in der EU infolge
des Libyen-Einsatzes? Wir müssen in der EU endlich zu
einer gemeinsamen Einschätzung der sicherheitspoliti-
schen Erfordernisse kommen. Eine veraltete Sicherheits-
strategie hilft da augenscheinlich nicht weiter. Es reicht
nicht aus, dass Bundesminister Niebel für eine Stipp-
visite nach Mali fährt und ein paar von seinen Mützen
verschenkt.

Nun stellt sich die Frage: Was tun, um Mali nach dem
Putsch bei der Rückkehr zur Demokratie und zu stabilen
Institutionen zu unterstützen? Was tun, um die territo-
riale Integrität Malis wieder herzustellen? Und was tun,
um einer Destabilisierung der ganzen Region entgegen-

Zu Protokoll gegebene Reden





Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)


zuwirken und Strukturen für eine nachhaltige Entwick-
lung unter demokratischen Vorzeichen zu schaffen?

Wichtig ist nun aus unserer Sicht, dass jetzt nicht aus
Übereifer der falsche Weg eingeschlagen wird. Bisher
steht die westafrikanische Staatengemeinschaft ECOWAS
im Mittelpunkt aller Vermittlungsversuche. Der malische
Übergangspräsident Traoré hat explizit die ECOWAS ge-
beten, bei der Ausbildung und Reorganisation der mali-
schen Streitkräfte sowie logistisch bei der Rückerobe-
rung des Nordens unterstützend tätig zu werden. Einen
entsprechenden Brief hat Traoré auch schon an UN-Ge-
neralsekretär Ban Ki-moon geschickt. Deutschland ist
zurzeit Mitglied im UN-Sicherheitsrat und hat daher be-
sondere Verantwortung. Die internationale Gemein-
schaft muss versuchen, möglichst alle wichtigen Akteure
in der Region in den Prozess um die Lösung der Kon-
flikte in Mali einzubeziehen. Besonders wichtig sind die
Nachbarstaaten Malis Algerien und Mauretanien, die
nicht Mitglieder der ECOWAS sind. Ohne ihre Beteili-
gung könnte ein Eingreifen der ECOWAS den Konflikt
eher eskalieren, als ihn der Lösung näherbringen. Die
Afrikanische Union sollte daher stärker in die Konflikt-
lösung einbezogen werden. Wenn eine breite Einbettung
einer Friedensmission, die sich auf die Reorganisation
und Ausbildung der malischen Armee beschränkt, zu-
standekommt, sind Deutschland und die EU aufgefor-
dert, diese finanziell und logistisch zu unterstützen.

In dieser Hinsicht gilt es für die Bundesregierung,
auch den UN-Generalsekretär bei der Ausarbeitung und
Implementierung einer UN-Sahel-Strategie zu unterstüt-
zen.

Wenn wir zur Stabilisierung der Region beitragen
wollen, müssen wir in unserer Politik umsteuern. Wir
müssen regionale Akteure auch außerhalb der ECOWAS
stärker in die Umsetzung der Sahel-Strategie einbinden.
Auch Nigeria sollte dabei neben Algerien und Libyen
eine wichtige Rolle spielen. Zudem empfehlen wir, den
Ansatz der Strategie „Sicherheit ist Voraussetzung für
Entwicklung“ zu überprüfen. Eine Studie des Europäi-
schen Parlamentes hat deutlich gezeigt, dass die Ar-
mutsbekämpfung viel zu kurz kommt. Die Bundesregie-
rung sollte ihr politisches Gewicht in die Waagschale
werfen, um hier eine Veränderung herbeizuführen.

Die Sahelregion liegt vor der Haustür der EU. Eine
destabilisierte Region, in der Menschen tagtäglich um
ihr Überleben kämpfen müssen, die große Rückzugs-
räume für islamistischen Terror und die organisierte
Kriminalität lässt, geht uns alle an. Unterstützen Sie
unseren Antrag, damit wir gemeinsam dazu beitragen
können, dass sich dort ein Raum entwickelt, in dem
Voraussetzungen für ein sicheres und wirtschaftlich
nachhaltiges Umfeld gewährleistet sind.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719538500

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/10792 an die in der Tagesordnung vorge-
sehenen Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 26:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Nadine Schön (St. Wendel),
Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner

(Berlin), Heinz Lanfermann, weiterer Abgeord-

neter und der Fraktion der FDP

Berufsqualifikation – Mobilität erleichtern,
Qualität sichern

– Drucksache 17/10782 –

Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Re-
den zu Protokoll genommen.

Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
In Europa leben derzeit nicht einmal 10 Prozent der

Weltbevölkerung. Diese produzieren ein Viertel des
Bruttoinlandsprodukts der Welt und geben 50 Prozent
der Sozialausgaben der Welt aus. Daran sieht man: Wir
sind im weltweiten Kontext wenige, diese wenigen sind
aber ein hohes Wohlstandsniveau gewohnt. Und diesen
Wohlstand wollen wir auch erhalten.

Um innerhalb eines agilen und dynamischen Welt-
marktes diesen Wohlstand zu sichern, müssen wir wett-
bewerbsfähig sein; denn nur wenn wir wettbewerbsfähig
sind, können wir den Wohlstand erhalten, von dem un-
sere auch und die nächste Generation profitieren soll.
Dies wird umso schwerer, je mehr der demografische
Wandel in Europa und gleichzeitig die Attraktivität an-
derer Standorte dazu führen, dass gut ausgebildete und
qualifizierte Fachkräfte entweder nicht vorhanden sind
oder in andere Regionen abwandern.

Aus diesem Grund ist es richtig und wichtig, dass die
Europäische Union mit all ihren Mitgliedstaaten seit
Jahren darum bemüht ist, die Mobilität der Fachkräfte
innerhalb Europas zu erleichtern, um das vorhandene
Fachkräftepotenzial bestmöglich auszuschöpfen. Der
vorliegende Entwurf der Europäischen Kommission zur
Überarbeitung der Richtlinie 2005/36/EG über die An-
erkennung von Berufsqualifikationen und über die Ver-
waltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarktin-
formationssystems soll diesem Ziel dienen. Er soll ein
Beitrag zur besseren Mobilität innerhalb Europas und
damit zur Sicherung des Fachkräftebedarfs und schließ-
lich zu mehr Wettbewerbsfähigkeit sein. Dieses Anliegen
der Kommission teilt und begrüßt die CDU/CSU-Frak-
tion.

Intensiv haben sich deshalb die Mitglieder meiner
Fraktion mit dem Richtlinienentwurf auseinanderge-
setzt. Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Wirt-
schaft und Technologie, Bildung und Forschung, Ge-
sundheit, Arbeit und Soziales, Recht und Europa haben
den Entwurf eingehend geprüft. Wir haben ein Experten-
gespräch mit den größten betroffenen Verbänden durch-
geführt und gerade gestern in einer Fachtagung zusam-
men mit den Kollegen aus dem Europäischen Parlament
sowie den Verbänden die Dimension des Themas aus
deutscher und europäischer Sicht beleuchtet. Allen, die





Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)


daran mitgewirkt haben, will ich auch von dieser Stelle
noch einmal herzlich danken.

Einig sind wir uns innerhalb der Fraktion und auch in
den erwähnten Fachgesprächen darin, dass wir jeden
Vorschlag begrüßen, der die Mobilität in Europa er-
leichtert und das Fachkräftepotenzial erhöht. Aller-
dings: Der Wille zur Vereinfachung darf nicht auf Kos-
ten der Qualität gehen. Und ich sage hier ganz deutlich:
Es gibt zahlreiche Vorschläge in diesem Entwurf, die alle
Alarmglocken zum Läuten bringen. Den Richtlinienent-
wurf durchziehen zahlreiche Vorschläge, die mit unse-
rem System der dualen Ausbildung nicht oder nur
schwer vereinbar sind.

So verkennen etwa die Vorschläge, eine zwölfjährige
Schulzeit für Krankenpfleger und Hebammen als Vo-
raussetzung für die automatische Anerkennung zu ver-
langen, gänzlich, dass in Deutschland gerade in den
Pflegeberufen mit einem bewährten System von zehnjäh-
riger Schulzeit und qualitativ hochwertiger dualer Aus-
bildung hohe Fachkraftquoten erreicht werden. Eine
Anhebung auf zwölf Jahre Schulzeit als Zugangsvoraus-
setzung würde 45 Prozent der Krankenpflegerinnen und
Krankenpfleger und 85 Prozent der Altenpflegerinnen
und Altenpfleger von der Anerkennung ausschließen.
Dabei sind heute kaum Unterschiede in der Qualität
zwischen Auszubildenden mit Fachhochschulreife und
solche mit Mittlerer Reife zu erkennen. Es besteht also
kein Grund, einem Großteil der Jugendlichen den Zu-
gang zu dieser Ausbildung zu verwehren. Dadurch ver-
bessert man keine Qualität, sondern erhöht nur den
Fachkräftemangel in den betroffenen Bereichen und da-
mit die Arbeitsbelastung der Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter. Die Mehrheit der betroffenen Verbände – und
die Allianz reicht von der Krankenhausgesellschaft über
DIHK bis hin zu Caritas und Verdi – plädiert daher ent-
schieden gegen den Vorschlag der Kommission, pau-
schal eine Schulzeit von zwölf Jahren zu verlangen.
Mehr Anerkennung und eine bessere Bezahlung erreiche
man nicht durch den Umweg der Anhebung der Ausbil-
dungsvoraussetzungen, so die mehrheitliche Meinung,
der wir uns in aller Deutlichkeit anschließen.

Diese Deutlichkeit und dieses einheitliche Bild und
die klare Positionierung haben wir auch hier im Deut-
schen Bundestag. Das freut mich sehr; denn es ist wich-
tig, dass wir mit einer Stimme sprechen. Mit einer
Stimme sprechen sollten wir dann aber auch in Brüssel.
Deshalb hat es mich sehr überrascht, zu hören, dass es
in den Reihen der SPD auf EU-Ebene eine Parlamenta-
rierin gibt, die diese deutsche Position gerade nicht ver-
tritt. Liebe Freunde der SPD, werben Sie auch in Ihren
Reihen in Brüssel und nicht nur im Deutschen Bundes-
tag für unsere hervorragende duale Ausbildung, gerade
auch in den Pflegeberufen. Es ist wichtig, dass wir hier
mit einer Stimme sprechen!

Nicht nur die Pflegeberufe, sondern auch viele an-
dere regulierte Berufe sind von der Richtlinie betroffen.
Besonders beim deutschen Handwerk werden die Pläne
der Kommission daher kritisch betrachtet. Gerade hier
spielt die duale Ausbildung eine entscheidende Rolle.
Mehr als in anderen Bereichen sichert sie hier den eige-

nen und auch den industriellen Fachkräftenachwuchs.
Mit einer Ausbildungsquote von 9 Prozent leisten zahl-
reiche Handwerksbetriebe in Deutschland hervorra-
gende Arbeit für die junge Generation und einen ent-
scheidenden Beitrag zur Prosperität Deutschlands.

Deshalb ist mit Beunruhigung zu sehen, dass in der
Richtlinie zahlreiche delegierte Rechtsakte vorgesehen
sind, die dazu führen können, dass Regelungen durchge-
setzt werden, die unser duales System empfindlich tref-
fen, ohne dass der deutsche Gesetzgeber die Möglichkeit
hat, dem entgegenzusteuern. Auch der partielle Zugang
kann nach Auffassung des Handwerks eine Gefahr für
unser qualitativ hochwertiges deutsches Ausbildungs-
system darstellen, da es durch die Gewährung des par-
tiellen Zugangs zu einer Zersplitterung gewachsener Be-
rufsbilder kommen könnte. Deshalb ist es wichtig, dieses
Instrument restriktiv einzusetzen. Auch was die Ausge-
staltung der Niveaustufen angeht, befürchtet speziell das
Handwerk eine Benachteiligung der dualen Ausbildung,
wenn etwa einem deutschen Handwerksmeister der Zu-
gang zu Berufen, die in anderen Mitgliedstaaten einen
Bachelor oder Master voraussetzen, grundsätzlich ver-
wehrt bliebe, umgekehrt aber einem EU-Bürger mit Pri-
märschulabschluss mit einer höchstens dreijährigen
Ausgleichsmaßnahme zukünftig die Führung eines zu-
lassungspflichtigen Handwerksbetriebs gestattet werden
kann. Diese Bedenken müssen ernst genommen und in
der Richtlinie entsprechend klargestellt werden.
Schließlich muss das System der gemeinsamen Ausbil-
dungsgrundsätze so ausgestaltet sein, dass es keine An-
gleichung auf niedrigem Niveau nach sich zieht. Auch
beim europäischen Berufsausweis ist darauf zu achten,
dass er Verfahren vereinfacht und beschleunigt, nicht
aber zu Unsicherheit führt.

In all diesen Einzelpunkten ist die konkrete Ausge-
staltung der Vorschläge der Kommission entscheidend
dafür, dass unser duales System nicht gefährdet wird.
Wir wollen das duale System stärken: im Handwerk, in
den Gesundheitsberufen und in allen anderen von der
Richtlinie betroffenen Berufsgruppen. Deshalb gilt es
jetzt, zusammen mit unseren Kolleginnen und Kollegen
im Europäischen Parlament für eine sinnvolle und kluge
Ausgestaltung zu werben, die das duale System stärkt
und nicht schwächt.

Diese Stärkung des dualen Systems ist nicht nur in
unserem eigenen Interesse: Schließlich entdecken ge-
rade auch andere Staaten der EU und weltweit das duale
Ausbildungssystem als Garant für hohe Beschäftigungs-
und Fachkraftquoten. So waren im Juni in Deutschland
7,9 Prozent der Jugendlichen arbeitslos, in Frankreich
hingegen 22 Prozent und in Spanien sogar über 50 Pro-
zent. Das duale System sichert eine hohe Fachkraft-
quote, beugt dem Fachkräftemangel vor, indem sich die
Unternehmen selbst um ihren Nachwuchs bemühen, und
verteilt die Kosten der Ausbildung auf Wirtschaft und
Allgemeinheit. Viele Berufe, die in anderen Ländern mit
Hochschulstudium erreicht werden, werden in Deutsch-
land durch die duale Ausbildung in der gleichen Quali-
tät sichergestellt. Meisterausbildung und Durchlässig-
keit zum Hochschulstudium garantieren gleichzeitig
Aufstiegsmöglichkeiten. So sichert das duale System in

Zu Protokoll gegebene Reden





Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)


Deutschland quantitativ und qualitativ eine hohe Fach-
kraftdichte. Damit leistet die duale Ausbildung einen un-
verzichtbaren Beitrag zur wirtschaftlichen Prosperität
unseres Landes. Dies haben andere Länder erkannt und
machen es uns nach. Allein aus diesem Grund gilt es,
dieses Erfolgsmodell zu bewahren, auf europäischer
Ebene für dieses System zu werben und es zu verteidi-
gen. Deshalb plädieren wir eindringlich für eine Ände-
rung der oben genannten Vorschläge.

Neben den Bestandteilen der Richtlinie, die die duale
Ausbildung betreffen, gibt es darüber hinaus innerhalb
des Richtlinienentwurfs weitere problematische Ge-
sichtspunkte. In unserem Antrag sind wir auf die Berufs-
gruppe der Notare, auf die Apotheker und Ärzte sowie
auf weitere Einzelregelugen, die besonders für die Ge-
sundheitsberufe von Relevanz sind, eingegangen. Ich
kann in meiner Rede leider nicht alle diese wichtigen
Themen aufgreifen. Es gilt aber für alle diese Punkte,
wenn ich sage: Wir werden gemeinsam mit der Bundes-
regierung und unseren europäischen Kollegen sowie den
Verbänden im Europäischen Parlament und bei der
Kommission dafür werben, dass die Richtlinie so ausge-
staltet wird, dass sie Mobilität erhöht, ohne Qualität zu
gefährden. Das ist unser aller Ziel im Sinne unseres
Landes und im Sinne des Wohlstandes in Europa.


Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1719538600

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der

Europäischen Union ist eine wegweisende Errungen-
schaft eines zusammenwachsenden Europas.

Jeder EU-Bürger kann sich entsprechend seiner
Qualifikationen frei auf dem europäischen Arbeitsmarkt
bewegen. Diese Mobilität macht es unseren deutschen
Unternehmen möglich, um die „Besten“ zu werben und
mit niedrigen bürokratischen Hürden dem Fachkräfte-
mangel entgegenzuwirken.

Die Novelle der Berufsanerkennungsrichtlinie ist
deswegen ein wesentlicher Baustein dafür, dass das
Fachkräftepotenzial in der EU optimal genutzt wird.
Auch durch den angestrebten Berufsausweis soll die
Mobilität zukünftig noch leichter werden.

Aber: Unter der zunehmenden Mobilität darf die
Qualität der Arbeit und der Ausbildung nicht leiden. Die
berufliche Mobilität in Europa darf nicht zulasten beste-
hender und bewährter Berufsqualifikationen führen.
Denn auch oder gerade deutsche Arbeitnehmer profitie-
ren von einem freien europäischen Arbeitsmarkt.

Diese Tatsache ist neben der sehr guten Ausbildung
an den deutschen Universitäten vor allem auf das deut-
sche duale Berufsbildungssystem zurückzuführen. Denn
dieses gewährleistet nicht nur einen sehr guten Bil-
dungsstand, sondern auch eine hochwertige Ausbildung,
wie zum Beispiel in den Sozial- und Handwerksberufen –
und das auch ohne Abitur oder Hochschulabschluss.

Ebendiese duale Ausbildung ist ein wesentlicher
Grund für die geringe Jugendarbeitslosigkeit in
Deutschland. Nur 7,9 Prozent der Jugendlichen sind
arbeitslos. Ihre Qualität ist der engen Verzahnung von
Theorie und Praxis geschuldet. Selbst im neuesten

OECD-Bericht wird den USA vorgeschlagen, unser
duales Ausbildungssystem aufzugreifen und einzufüh-
ren. Nicht nur die USA interessieren sich dafür, auch an-
dere Länder, zum Beispiel in Südamerika und selbst bei
uns in Europa. Die Welt schaut auf unsere duale Ausbil-
dung. Und wir können stolz auf sie sein.

Gerade die zehnjährige Schulausbildung als eine
machbare Zulassungsvoraussetzung ist für die geringe
Arbeitslosigkeit bei Menschen mit mittlerem Bildungs-
abschluss und besonders bei den Jugendlichen verant-
wortlich.

Etwa zwei Drittel aller Jugendlichen absolvieren
nach ihrem Schulabschluss eine betriebliche Ausbil-
dung. 2011 gab es 1,5 Millionen Auszubildende in
Deutschland.

Doch für viele Menschen endet nach der Ausbildung
die berufliche Qualifikation nicht: Sie schließen an ihre
Ausbildung eine Zusatzausbildung an, wie zum Beispiel
einen Meister oder Techniker, eine Fortbildung oder ein
Studium.

Das deutsche duale Ausbildungssystem und die da-
rauf aufbauenden Weiterbildungsmöglichkeiten sind die
elementaren Bausteine unserer Wirtschaftskraft. Seine
hohe Qualität ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit.

Grundsätzlich begrüßen wir, die CDU/CSU-Fraktion,
die Überarbeitung der Qualifikationsrichtlinie. Sie ist
gut und in vielen Punkten auch richtig.

Aber in einem wesentlichen Punkt sehen wir unser
duales Ausbildungssystem durch den Richtlinienvor-
schlag gefährdet: Mit der Forderung, die schulische
Voraussetzung für die Zulassung zur Ausbildung zum
Krankenpfleger/zur Krankenpflegerin und Hebamme
von zehn auf zwölf Jahre anzuheben, untergräbt die
Novelle der Richtlinie weite Teile unseres Ausbildungs-
systems.

Wir, die CDU/CSU-Fraktion, setzen uns dafür ein,
dass die bisherige Zugangsvoraussetzung einer zehnjäh-
rigen Schulausbildung zur Krankenpflege- und Hebam-
menausbildung bestehen bleibt und nicht auf eine zwölf-
jährige allgemeine Schulausbildung angehoben wird.

Eine Ausbildung im Gesundheits- und Krankenpfle-
gewesen muss auch für Realschulabgänger möglich
sein. Nur so kann dem Fachkräftemangel entgegen-
gewirkt werden.

Im Schuljahr 2010/2011 haben 31 Prozent der
Schülerinnen und Schüler Abitur gemacht, 40,5 Prozent
hingegen aber einen Realschulabschluss. Diesen Ab-
solventen würde durch den Richtlinienvorschlag der EU
ein Zugang zum Pflegeberuf verwehrt werden.

Welche Kompetenzen erwerbe ich denn wirklich,
wenn ich länger zur Schule gehe? Würde sich ein Abitu-
rient überhaupt für eine Ausbildung im Pflegebereich
entscheiden, wenn er auch Medizin studieren kann?
Wird so die Akzeptanz und Attraktivität des Pflegeberu-
fes bei Abiturienten gestärkt? Ist ein Abiturient besser
qualifiziert für den Pflegeberuf als jemand mit Real-
schulabschluss?





Dr. Philipp Murmann


(A) (C)



(D)(B)


Der Pflegeberuf ist sehr anspruchsvoll. Daran
besteht kein Zweifel. Ich selbst konnte mich erst im Au-
gust davon überzeugen, als ich im Rahmen meiner Som-
mertour mehrere Pflegeeinrichtungen in meinem Wahl-
kreis besucht habe. Diesem Berufsfeld gilt mein voller
Respekt.

Doch was spricht dagegen, dass auch Mädchen und
Jungen mit Realschulabschluss den Anforderungen die-
ses Berufes voll genügen? Nichts. Seit Jahrzenten erler-
nen Realschulabsolventen den Beruf des Krankenpfle-
gers oder der Hebamme. Sie machen ihre Arbeit gut.
Und auf einmal sollen sie die Anforderungen mit ihrer
schulischen Ausbildung nicht mehr erfüllen?

Die Kompetenzen am Ende einer zehnjährigen Schul-
bildung plus dreijähriger Ausbildung sind nicht nur gut –
sie sind hervorragend. Warum sollte man an einem Sys-
tem etwas verändern, das erfolgreich ist.

Im Gegenteil – mit der Anhebung der schulischen
Ausbildungsvoraussetzungen würde man nicht nur dem
größten Teil unserer Schulabsolventen den Zugang zu
einem Berufsfeld verweigern, dies hätte auch erhebliche
Konsequenzen: Bei Zulassung nur von Abiturienten zur
Krankenpflege- und Hebammenausbildung wird sich
der bereits bestehende Fachkräftemangel in der Bran-
che weiter dramatisch zuspitzen. Eine alternde Gesell-
schaft ist heute mehr denn je auf viele Pflegekräfte ange-
wiesen. Aufgrund des demografischen Wandels werden
in den nächsten zehn Jahren über 200 000 neue Pflege-
fachkräfte benötigt. 200 000! Aber 50 Prozent eines
Ausbildungsjahrgangs in der Gesundheits- und Kran-
kenpflege würden durch die neue Richtlinie von der Aus-
bildung ausgeschlossen werden.

Neben den Konsequenzen für den Arbeitsmarkt und
die deutsche Wirtschaft würde eine Änderung der Zulas-
sungsvoraussetzungen für Krankenpfleger/-innen und
Hebammen auch einen massiven Umbruch bei den aus-
zubildenden Schulen und den Pflegeeinrichtungen nach
sich ziehen: Eine systemische Umstellung von einem auf
das andere System würde Jahre dauern.

Anstatt die Zulassungsvoraussetzungen anzuheben,
sollten größere Anstrengungen unternommen werden,
die Qualität der Ausbildung in den Schulen und in der
Praxis weiter zu verbessern.

Müssen sich bei strengeren Zulassungsvoraussetzun-
gen auch die Inhalte der Ausbildung ändern und auf ein
noch höheres Niveau gebracht werden?

Was würde eine veränderte Zulassungsvoraussetzung
für die Lehrerausbildung bedeuten? Welche Auswirkun-
gen hätte das?

Können wir uns das Ausmaß der Auswirkungen über-
haupt bewusst machen?

Maßgeblich für die Qualifikation eines Arbeitneh-
mers sollte nicht die Anzahl seiner besuchten Schuljahre
sein, sondern die innerhalb von Aus- und Weiterbildung
erworbenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen.

Die Attraktivität des Pflegeberufes wird nicht durch
die Anhebung der schulischen Bildung erhöht. Nein, im

Gegenteil – sie wird sogar verringert. Das können wir
uns in Zeiten des Fachkräftemangels nicht leisten, und
deshalb ist unser Antrag „Berufsqualifikation – Mobili-
tät erleichtern, Qualität sichern“ richtig und auch so
wichtig. Wir wollen verhindern, dass uns der Richt-
linienvorschlag der EU in unser Ausbildungssystem ein-
greift, unser erfolgreiches duales Ausbildungssystem
gar zunichte macht. Liebe Kolleginnen und Kollegen:
Lassen Sie uns auf Kompetenzen setzen.

Deshalb, stimmen Sie für diesen Antrag. Stimmen Sie
für unser duales Ausbildungssystem.


Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1719538700

Der Antrag der Koalitionsfraktionen zum Richtlinien-

entwurf über die Anerkennung von Berufsqualifikatio-
nen in Europa ist zunächst zu begrüßen. Dies schon
allein deshalb, weil damit der Deutsche Bundestag die
Gelegenheit bekommen könnte, dieses nicht ganz
unwichtige Projekt zu diskutieren und der Regierung
eine Wegweisung nach Brüssel mitzugeben. Das sollten
wir generell zur Gepflogenheit in unserem Parlament
machen und der Bundesregierung auch auf die Finger
schauen, inwieweit sie sich an unsere Empfehlungen
hält.

In einigen Teilen können wir Ihren Positionen zur
BQR-Richtlinie vollständig folgen. Auch wir meinen,
dass es sinnvoll und notwendig ist, den Menschen einen
Arbeitsplatzwechsel und die Arbeitsplatzsuche inner-
halb der EU zu erleichtern. Vor allem geht es aber da-
rum, erworbene Qualifikationen einsetzen zu können
und sie auch im Sinne einer angemessenen Bezahlung
und möglichen Weiterentwicklung anerkannt zu bekom-
men. Davon profitieren sowohl die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer als auch die Betriebe.

Wir unterstützen auch die Hervorhebung der Bedeu-
tung unseres dualen Ausbildungssystems und die Forde-
rung, dass dies mit seinen Abschlüssen im europäischen
Kontext nicht unterbewertet werden darf. Da wir auch
am Prinzip der Beruflichkeit festhalten und eine Zer-
splitterung von Berufsbildern verhindern wollen, sehen
wir den „partiellen Zugang“ in Übereinstimmung mit
dem Koalitionsantrag sehr kritisch.

Für völlig verfehlt halten wir den Ansatz des Richt-
linienentwurfes in der Frage des Zugangs zu Ausbildun-
gen im Gesundheits- und Pflegebereich. Wir diskutieren
seit Jahren über bundesweit einheitliche Ausbildungs-
ordnungen mit gemeinsamen Grundlagen in der Alten-
und Krankenpflege, am besten auf der Grundlage des
Berufsbildungsgesetzes. Die bisherigen Regelungen er-
weisen sich immer mehr als zusätzliches Hemmnis bei
der Gewinnung von genügend Fachkräften. Jetzt kommt
der Richtlinienentwurf mit der Vorstellung, die Hürden
zu solchen Ausbildungen noch anzuheben und zwölf
Jahre Schulbildung zu verlangen, um überhaupt eine
solche Ausbildung beginnen zu können. Wir begrüßen es
sehr, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen dazu eine
klare Aussage in dem Sinne trifft, de facto eben nicht das
Abitur zur Voraussetzung für Pflegeberufe zu machen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Klaus Barthel


(A) (C)



(D)(B)


Allerdings muss damit auch für die nationale Ebene
klar sein, dass wir hier endlich mehr Durchlässigkeit
aus dualen und auch pflegerischen Ausbildungen in
Richtung Weiterbildung und Hochschule brauchen.

Auch in anderen genannten Punkten finden wir Über-
einstimmungen, die ich hier nicht im Einzelnen aufzäh-
len kann.

Uns fehlen aber zentrale Aussagen, und teilweise
müssen wir widersprechen.

Es ist schon bezeichnend für diese Lobbyistenkoali-
tion, dass sie sich zu Aussagen über Notare und Apothe-
ker aufschwingen kann, das Handwerk beispielsweise
aber nicht vorkommt. Bei genauerer Betrachtung lässt
sich nämlich der Eindruck nicht von der Hand weisen,
dass gerade in diesem Bereich, aber auch bei den grenz-
überschreitenden Dienstleistungen im Allgemeinen ein
neuer Versuch läuft, das Herkunftslandprinzip durch die
Hintertür einzuführen. Das könnte im Ergebnis dazu
führen, dass es in bestimmten Bereichen einfacher wird,
sich zur Erbringung von Dienstleistungen niederzulas-
sen, als vorübergehend einen Beruf auszuüben. Insge-
samt werden Ausbildungsgrundsätze auch in dualen
Berufen eher aufgeweicht, statt dass eindeutig dafür
plädiert wird, das duale System explizit als Mindeststan-
dard zu verankern.

So weit waren wir schon gemeinsam mit unserem Be-
schluss im Wirtschaftsausschuss vom 22. Juni 2012.
Auch in vielen anderen Gesprächen zeichnete sich ein
breiter Konsens in den Kernpunkten ab.

Was es dagegen nach einjähriger Debatte ausgerech-
net heute soll, bei Nacht und Nebel einen so kurzfristig
vorgelegten Antrag zu verabschieden, verstehen wohl
nur die besteingeweihten Koalitionsstrategen. Auch mit
Blick auf die derzeit laufenden Ausschussberatungen im
Europäischen Parlament würde uns – ebenso wie gegen-
über der Bundesregierung – nur breiter Konsens helfen.
Das war auch unsere bisherige Stärke in den Gesprä-
chen mit Kommission und Parlament. Ich erinnere an
die seinerzeitige Videokonferenz.

Einmal mehr vertun Union und FDP diese Chance.
Dass es für die SPD-Bundestagsfraktion nur zu einer
Enthaltung reicht, wird jeder verstehen.


Claudia Bögel (FDP):
Rede ID: ID1719538800

Im Dezember vergangenen Jahres hat die Europäi-

sche Kommission einen Vorschlag zur Überarbeitung
der Richtlinie über Berufsqualifikationen vorgelegt.

Meine Fraktion und ich begrüßen die Evaluierung
und Modernisierung der Richtlinie ausdrücklich.

Damit verbunden unterstützen wir die Bundesregie-
rung mit dem vorliegenden Antrag und der heutigen
Debatte im Plenum in den laufenden Verhandlungen
über den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates und des
Europäischen Parlaments zur Änderung der bisher gel-
tenden Berufsqualifikationsrichtlinie.

Die Änderung der Richtlinie ist ein zentrales Reform-
projekt im europäischen Binnenmarktprogramm; denn

während in Europa der grenzüberschreitende Waren-
und Güterverkehr mittlerweile an der Tagesordnung ist,
können die Entwicklungen im Dienstleistungsbinnen-
markt nicht Schritt halten, und das angesichts eines
Anteils der Dienstleistungen an der europäischen Brut-
towertschöpfung von knapp 70 Prozent im Jahr 2011.

In den kommenden Jahren ist in Europa ein signifi-
kanter Anstieg der Nachfrage nach hoch qualifizierten
Arbeitskräften zu erwarten. Aber auch schon jetzt wer-
den vor allem in Deutschland händeringend Fachkräfte
gesucht. In anderen Ländern Europas hingegen
herrscht, besonders im Fachkräftebereich, eine hohe
Arbeitslosigkeit, gerade auch unter Jugendlichen.

Um diesen ungleichen Strukturen entgegenzuwirken,
müssen Arbeitsplätze und Arbeitskräfte in Europa
besser zueinanderfinden und vor allem Fachkräfte im
Binnenmarkt besser zirkulieren können – mobile und gut
ausgebildete Berufstätige aus anderen EU-Mitglied-
staaten müssen zukünftig noch problemloser dorthin ge-
hen können, wo sie gebraucht werden.

Aus diesem Grund stimmen wir mit der Europäischen
Kommission überein und erachten es ebenfalls für not-
wendig, dass die Qualifikationen der Arbeitskräfte in
der gesamten Europäischen Union einfacher, transpa-
renter, nutzerfreundlicher und zuverlässig anerkannt
werden.

Die Vorschläge der Kommission enthalten unseres
Erachtens viele positive Elemente, um eine bessere
wMobilität insbesondere von Berufstätigen bzw. Fach-
kräften im Binnenmarkt zu erreichen. Zum Beispiel soll
ein für alle interessierten Berufsgruppen angebotener
Europäischer Berufsausweis die angesprochene leich-
tere und schnellere Anerkennung von Qualifikationen
ermöglichen. Diese Maßnahme ist unserer Meinung
nach durchaus positiv zu bewerten; jedoch muss sicher-
gestellt werden, dass die abschließende Entscheidung
über die Anerkennung der Qualifikation letztendlich
dem jeweiligen Aufnahmeland vorbehalten bleibt.

Darüber hinaus werden die Mitgliedstaaten aufgefor-
dert, das Ausmaß der Reglementierung von Berufen
jeweils zu überarbeiten.

Da die Gründe für die Reglementierung eines Berufs-
zugangs vielgestaltig sind – hier sind beispielsweise
Rechts- und Berufstraditionen anzuführen –, ist es daher
zu begrüßen, dass die letztendliche Entscheidung da-
rüber, ob ein Berufsabschluss reglementiert werden soll,
den Mitgliedsländern überlassen wird. Hier wäre es
dann unsere Aufgabe als Gesetzgeber, zum einen die
Zahl der reglementierten Berufe zu überprüfen und,
wenn möglich, zu verringern. Zum anderen sollte auch
der Bereich der automatischen Anerkennung von Quali-
fikationen auf neue, innovative Berufe überprüft und,
wenn möglich, erweitert werden.

Wir Liberalen sind der Meinung, dass im vorliegen-
den Antrag der Koalitionsfraktionen sowohl die positi-
ven als auch die noch kritisch zu sehenden Elemente im
Zusammenhang mit der europaweiten Anerkennung
von Berufsqualifikationen ausgewogen zum Ausdruck
kommen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Claudia Bögel


(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte darüber hinaus abschließend noch einmal
betonen, dass die Überarbeitung der Berufsqualifika-
tionsrichtlinie eine wichtige Voraussetzung dafür ist, das
europäische Fachkräftepotenzial optimal nutzen zu kön-
nen und die Freizügigkeit in Europa zu verbessern.

Vor diesem Hintergrund unterstützen wir mit dem
vorliegenden Antrag die deutschen Verhandlungsinte-
ressen in Brüssel und hoffen, dass letztlich ein inhaltlich
ausgewogenes Paket zur Modernisierung der Berufs-
qualifikationsrichtlinie geschnürt wird.


Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1719538900

Das duale Ausbildungsmodell in Deutschland ist im

europäischen Vergleich einzigartig.

Die Kombination aus praktischer Ausbildung im Be-
trieb und Bildung in der Berufsschule gewährleistet den
Auszubildenden eine optimale Vorbereitung auf ihr spä-
teres Arbeitsleben. Gerade die enge Verzahnung von
Theorie und Praxis ermöglicht das hohe Bildungsniveau
unserer Gesamtbevölkerung. Denn in vielen Berufszwei-
gen ist eine Ausbildung in Deutschland mit einem aka-
demischen Abschluss im Ausland vergleichbar.

Junge Menschen mit einer abgeschlossenen Berufs-
ausbildung sind auf dem Arbeitsmarkt besonders ge-
fragt, sodass Deutschland europaweit derzeit die nied-
rigste Jugendarbeitslosigkeit verzeichnen kann.

Diese Vorteile sehe ich besonders deutlich bei den
Pflegeberufen. Derzeit ist es allen Absolventen mit Real-
oder Hauptschulabschluss möglich, eine hochwertige
Pflegeausbildung abzuschließen, in der sich theoreti-
sche Schulblöcke mit Praxiseinheiten in Pflegeeinrich-
tungen fortlaufend abwechseln. Mithilfe dieses berufs-
begleitenden Systems können junge Pflegerinnen und
Pfleger eine Bindung zu ihrer Praxisstelle aufbauen und
ihrem Arbeitgeber nach Ausbildungsabschluss als quali-
fizierte Fachkräfte erhalten bleiben. Davon profitieren
beide Seiten gleichermaßen.

Der Zugang zu einer Ausbildung im Gesundheits- und
Pflegebereich muss sich deshalb weiterhin für alle
Haupt- und Realschulabsolventen so einfach gestalten
wie bisher! Und darf eben nicht, wie von der Europäi-
schen Kommission gefordert, durch eine Anhebung auf
zwölf Jahre Schulausbildung erschwert werden. Mit
Blick auf die geringe Jungendarbeitslosigkeitsrate
würde sich ansonsten die Situation auf dem deutschen
Arbeitsmarkt der Pflegekräfte verschärfen. Rund die
Hälfte der Absolventen eines heutigen Jahrgangs für den
angestrebten Pflegeabschluss würde der Zugang zu ei-
ner Ausbildung versperrt werden; denn derzeit erfüllen
nur 50 Prozent der Auszubildenden die Anforderungen
eines Abiturs. Für die betroffenen Haupt- und Real-
schulabgänger würde dies eine Verletzung der Berufs-
wahlfreiheit bedeuten.

Entscheidend in Gesundheits- und Pflegeberufen sind
jedoch insbesondere menschliche Fähigkeiten, wie Für-
sorglichkeit, Empathie und soziale Kompetenz, und
nicht die Anzahl besuchter Schuljahre. Gerade wenn es
um die Pflege Demenzkranker geht, merkt man schnell:
Wir brauchen nicht Heerscharen von Diplom-Pflegema-

nagern – sondern anständig ausgebildete Menschen mit
Geduld, Einfühlungsvermögen und praktischen Fach-
kenntnissen! Dafür braucht’s nicht zwangsläufig Abitur,
am besten noch mit Großem Latinum.

Die Pflegeausbildung in Deutschland ist auf dem in-
ternationalen Arbeitsmarkt in Qualitätsfragen absolut
konkurrenzfähig! Deshalb muss unser Ausbildungsab-
schluss auch weiterhin im Ausland anerkannt werden.

Darüber hinaus wird Deutschland in den nächsten
Jahrzehnten der Herausforderung eines Wandels des Al-
tersaufbaus der Gesellschaft entgegentreten müssen.
Eine gestiegene Lebenserwartung sowie der medizi-
nisch-technische Fortschritt führen zukünftig zu einer
größer werdenden Anzahl älterer Menschen, die auf
Pflegeleistungen angewiesen sein werden. Dem gegen-
über steht eine niedrige Geburtenrate, die zu einer sta-
bilen Bevölkerungsentwicklung kaum ausreicht. Damit
verbunden ist ein stetig steigender Bedarf an qualifizier-
tem Personal in den medizinischen Versorgungs- und
Pflegeberufen, der allerdings aus der schrumpfenden
Zahl an Arbeitskräften gedeckt werden muss.

Schon bis 2020 ist mit einem Mehrbedarf an 170 000
Stellen in der Altenpflege zu rechnen. Diesem stärker
werdenden Fachkräftemangel kann nicht damit begeg-
net werden, die Zulassungsvoraussetzungen zu einer
Pflegeausbildung zu verschärfen. Wir müssen uns viel-
mehr der Frage zuwenden, wie wir die Potenziale der
Pflege ausschöpfen und weiter fördern können. Dazu ge-
hört insbesondere der sogenannte informelle Bereich,
also der häusliche Bereich. Denn sobald eine Pflegebe-
dürftigkeit eintritt, leisten in den meisten Fällen zu-
nächst die Angehörigen den größten Teil der Pflege.
Hier setzen wir alles daran, die Rahmenbedingungen so
zu gestalten, dass die Pflege im eigenen Heim so einfach
und so individuell wie möglich stattfinden kann.

Mit dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz stellen wir
uns den Herausforderungen des demografischen Wan-
dels und der Pflege in der Zukunft. Wir ermöglichen
erstmals besondere Leistungen für den wachsenden An-
teil an dementiell Erkrankten in der Gesellschaft und
ihre Angehörigen und berücksichtigen deren besondere
Bedürfnisse. Darüber hinaus werden weitere Maßnah-
men für die Verbesserung der Situation von Menschen
mit eingeschränkter Alltagskompetenz eingeführt.

Mit dem umfangreichen Maßnahmenpaket, das wir
mit dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz geschnürt ha-
ben, leisten wir eine großen Beitrag zur Verbesserung
der Pflege in Deutschland. Es wäre absolut kontrapro-
duktiv, sogar äußerst töricht, uns selbst nun Steine in
den Weg zu legen und den Zugang zu Pflegeberufen so
verantwortungslos und sinnlos zu erschweren.


Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719539000

Seit Jahren wird auf der europäischen Ebene versucht,

die EU-Richtlinie über die Anerkennung von Berufsquali-
fikationen und die Verordnung über die Verwaltungszu-
sammenarbeit mithilfe des Binnenmarktinformationssys-
tems gemeinsam zu erarbeiten.

Zu Protokoll gegebene Reden





Agnes Alpers


(A) (C)



(D)(B)


Ganz Europa ringt in dieser Frage um ein gemeinsa-
mes Handeln, aber CDU/CSU und FDP legen heute ei-
nen Antrag vor, der zu einem Großteil ein Nein-Sager-
Antrag ist. Europa will gemeinsame Standards für Be-
rufe und Qualifikationen, und die Regierungsparteien
legen keinen Wert darauf, dieses im Plenum zu diskutie-
ren. Diese Reden gehen zu Protokoll und der Antrag soll
einfach mal so durchgewunken werden.

Hier sagen wir als Linke Nein, Nein zum Nein-Sager-
Antrag, Nein zum geräuschlosen Durchwinken und Nein
zum Umgang von Schwarz-Gelb mit dem jahrelangen
Ringen auf europäischer Ebene um gemeinsames Han-
deln.

Schauen wir uns den Nein-Sager-Antrag zum gemein-
samen europäischen Vorgehen an einigen Beispielen an:
Nehmen wir zunächst den europäischen Berufsausweis.
Der Vorschlag der EU-Ebene war, dass nach einem an-
erkannten Abschluss die Ausbildungsberufe in einem
Berufspass eingetragen und von allen Staaten anerkannt
werden. CDU/CSU und FDP begrüßen diesen Vor-
schlag, doch ob die Ausbildungen anerkannt werden,
soll letztendlich das Aufnahmeland entscheiden. Was
also wollen uns die Antragstellerinnen und Antragstel-
ler damit mitteilen? Die Idee ist ja ganz nett, aber wir
entscheiden alleine, was wir anerkennen.

Und hier sagen wir als Linke: Nicht mit uns! Wir wol-
len gemeinsame und qualitativ hochwertige Inhalte für
die Ausbildungsberufe in Europa festlegen. Das sichert
Qualitätsstandards, schafft berufliche Perspektiven in
ganz Europa und vermeidet nebenbei noch aufwendige
Anerkennungsverfahren.

Schauen wir nun auf die Einschätzung der Koalition
zu den gemeinsamen Ausbildungsrahmen und -prüfun-
gen. Hier sprechen die Antragstellerinnen und Antrag-
steller zwar von der Stärkung gemeinsamer Ausbil-
dungsgrundsätze, sie betonen sogar, dass eine große
Gruppe von Mitgliedstaaten voranschreiten kann, wenn
sich nicht alle Mitgliedstaaten auf gemeinsame Ausbil-
dungsgrundsätze einigen können. Allerdings – und nun
wird es an zentraler Stelle wieder spannend – heißt ihre
berühmte Ultima Ratio an dieser Stelle nicht: Wir gehen
gemeinsam voran. Sondern: Es muss jedem Mitglied-
staat freistehen, an den gemeinsamen Ausbildungsrah-
men oder Qualifikationsprüfungen teilzunehmen.

Das bedeutet: Jeder kann mitmachen, aber wenn es
uns nicht passt, können wir dann doch wieder machen,
was wir wollen. Das ist nicht unsere Vorstellung eines
gemeinsamen Handelns in Europa!

Wir als Linke stehen für ein Europa, in dem wir soli-
darisch Wege beschreiten, um gemeinsame verlässliche
und verbindliche Perspektiven zu eröffnen.

Im Gegensatz dazu fordern CDU/CSU und FDP, dass
die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bei Ausbildungs-
inhalten gewahrt bleiben muss. Es dürfen keine tieferge-
henden Kompetenzen an die EU-Kommission übertra-
gen werden. Ich wiederhole: Es dürfen keine tiefer-
gehenden Kompetenzen an die EU-Kommission übertra-
gen werden! Das ist die Kernaussage der Regierungs-

parteien. Das bedeutet: Europa ja, aber nicht, wenn na-
tionale Interessen verletzt werden.

Und auch hier sagen wir als Linke klar und deutlich:
Nein! Für uns gibt es in Europa nur einen Weg: gemein-
sam, solidarisch, sozial und gerecht! Europa ist keine
Spielwiese nationaler Machtinteressen, sondern ein ge-
meinsames Projekt, um Zukunft für alle zu gestalten.
Und das, was wir hierfür benötigen, sind Regierungs-
parteien, die gemeinsame konstruktive Wege für Europa
aufzeigen, statt mit ihrem Handeln Europa ad absurdum
zu führen.

Arfst Wagner (Schleswig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Das duale Ausbildungssystem hat sich in Deutsch-
land als besonders erfolgreich erwiesen. In den weiteren
Beratungen zur Richtlinienmodernisierung muss die
Bundesregierung sicherstellen, dass die EU-Ausbil-
dungsgrundsätze keine Qualitätserosion zur Folge ha-
ben und die duale Ausbildung gestärkt statt geschwächt
wird.

In dieser Grundausrichtung begrüßen wir den Antrag
der Koalitionsfraktionen. Wir teilen aber nicht alle vor-
gebrachten Kritikpunkte an der Ausrichtung des Ände-
rungsvorschlages der Kommission zur Berufsqualifika-
tionsrichtlinie. Denn dieser stärkt die berufliche Mobi-
lität in Europa. Zur Stärkung der beruflichen Mobilität
gehört Transparenz im Anerkennungsverfahren bei den
Berufsqualifikationen und in den jeweiligen Min-
destausbildungsanforderungen für die Berufstätigen.
Dazu gehören die verbesserte Zusammenarbeit zwi-
schen Aufnahmestaaten und Herkunftsstaaten über das
elektronische Binnenmarkinformationssystem und die
Stärkung des gegenseitigen Vertrauens durch das neue
Vorwarnsystem. Auch andere Maßnahmen, die den Be-
teiligten künftig mehr Planungssicherheit verschaffen
werden und Hürden und Diskriminierung im Zuge der
Anerkennung von Berufsqualifikationen zwischen den
EU-Mitgliedstaaten abbauen, begrüßen wir. Dazu gehö-
ren: der klare zeitliche Rahmen für das Anerkennungs-
verfahren sowie die Pflicht zur Erstellung nationaler
Listen der jeweils reglementierten Berufe und natürlich
die Einführung des freiwilligen Europäischen Berufs-
ausweises.

Mit dem Kommissionsvorschlag, die Zulassungsvo-
raussetzungen für die Ausbildung der Krankenpfleger
und Krankenschwestern sowie der Hebammen von einer
zehnjährigen allgemeinen Schulausbildung auf zwölf
Jahre heraufzusetzen, werden auf der anderen Seite je-
doch neue Hürden aufgebaut. So bedeuten zwölf Schul-
jahre, wie sie in bereits 24 EU-Ländern Ausbildungs-
voraussetzung sind, nicht in allen Ländern das Gleiche.
Während sie in Deutschland gleichbedeutend mit einer
Hochschulzugangsberechtigung sind, werden in Frank-
reich und Irland beispielsweise die Vorschuljahre mit
eingerechnet, sodass ein mittlerer Schulabschluss aus-
reicht.

Der Koalitionsantrag lehnt den Zwölfjahresvor-
schlag für beide Berufsgruppen gleichermaßen katego-
risch ab. Wir Grüne halten dies nicht für zielführend:

Zu Protokoll gegebene Reden





Arfst Wagner (Schleswig)



(A) (C)



(D)(B)


Sowohl der Kommissionsvorschlag als auch der Koali-
tionsantrag werfen die Krankenpflege- und die Hebam-
menausbildung in einen Topf, wenn auch mit entgegen-
gesetzten Konsequenzen. Eine fundamentale Ablehnung,
wie die CDU/CSU-Fraktion hier vorlegt, ist kurzsichtig,
an der Qualifikationsrealität der Hebammen vorbeige-
dacht und ignoriert darüber hinaus die laufende inner-
deutsche Debatte und den Ruf der Hebammen nach ei-
ner schrittweisen Akademisierung ihres Berufsstandes.

Wir Grüne plädieren dafür, die Forderung nach An-
hebung der formalen Voraussetzungen für die Ausbil-
dung in der Entbindungspflege auf der einen Seite und
der Krankenpflege auf der anderen Seite differenziert zu
betrachten und dabei die derzeitige Lage in den Blick zu
nehmen. Im Falle der Hebammen halten wir eine Anhe-
bung für gerechtfertigt, weil die große Mehrheit der
Hebammenschülerinnen aktuell schon überwiegend eine
Hochschulzugangsberechtigung erlangt hat und Heb-
ammen zudem später sehr stark eigenverantwortlich ar-
beiten. Ihr Berufsverband spricht sich deutlich für die
Erhöhung des Qualifikationsniveaus aus, und die ent-
sprechende Entwicklung ist schon im Gange.

Die Situation in der Krankenpflege dagegen stellt
sich anders dar. Eine Erhöhung der schulischen Zu-
gangsvoraussetzungen würde rund 45 Prozent der Aus-
zubildenden betreffen. Deshalb glauben wir, dass eine
Anhebung in diesem Fall zu einer Verschärfung des
Fachkräftemangels führen würde, und lehnen diese ab.
Klar ist: Wir dürfen die Zulassung zur Krankenpfle-
geausbildung nicht an eine Hochschulzugangsberechti-
gung binden, wenn wir damit die Chancengerechtigkeit
unseres Bildungssystems nachhaltig gefährden und Tau-
senden jungen Menschen mit Haupt- und mittlerem
Schulabschluss einen Weg in die Gesundheits- und
Krankenpflegeausbildung verwehren.

In einem weiteren Punkt bewerten wir den Kommis-
sionsvorschlag anders als die Koalitionsfraktionen: Wir
erwarten von der Bundesregierung in den Beratungen
im Rat, bezüglich der Aufnahme des Notarberufes in den
Gel-tungsbereich der Richtlinie Klarheit zu schaffen,
insbesondere bezüglich möglicher „Wandernotare“. Wir
unterstützen den Vorschlag der Kommission, die Nieder-
lassung von Notaren zuzulassen. Einig sind wir uns mit
den Antragstellerinnen und Antragsstellern jedoch in
der Kritik an der grenzüberschreitenden Dienstleistung
der Notare.

Wir begrüßen die in der Richtlinie vorgeschlagene
Streichung der bisherigen Möglichkeit, Apothekerinnen
und Apothekern mit ausländischen Ausbildungsnach-
weisen die Eröffnung ihrer eigenen Apotheke zu verwei-
gern. Dieses Privileg sehen wir weder als förderlich für
die berufliche Mobilität noch als notwendig für die Si-
cherheit der deutschen Verbraucherinnen und Verbrau-
cher an.

Hinsichtlich der Einführung des Europäischen Be-
rufsausweises und der Nutzung des elektronischen Bin-
nenmarktinformationssystems darf Datenschutz natür-
lich kein Lippenbekenntnis sein und muss ernst
genommen werden.

Problematisch ist aus meiner Sicht das Prinzip der
stillschweigenden Anerkennung. Sollte ein Aufnahme-
mitgliedstaat innerhalb einer bestimmten Frist nicht auf
den Antrag zur Anerkennung seiner Berufsqualifikation
reagieren, soll dies nach Auffassung der Kommission ei-
ner faktischen Anerkennung gleichkommen. Die Bun-
desregierung muss in den weiteren Beratungen sicher-
stellen, dass ein Weg für ein unbürokratisches,
nutzerfreundliches Verfahren gefunden wird, ohne dass
erhebliche Rechtsunsicherheit geschaffen wird.

Generell ist es aus meiner Sicht wichtig, dass wir
auch darüber nachdenken, unter welchen Bedingungen
die Richtlinie für Drittstaatsangehörige greifen kann,
die ihren Abschluss in einem EU-Mitgliedsstaat erwor-
ben haben, um auch hier Diskriminierung abzubauen. In
Deutschland haben wir mit dem Gesetz zur Verbesse-
rung der Feststellung und Anerkennung im Ausland er-
worbener Berufsqualifikationen im Jahr 2011 die In-
halte der Berufsqualifikationsrichtlinie im Prinzip auf
Personen aus Drittstaaten bzw. auf in Drittstaaten er-
worbene Qualifikationen ausgedehnt. Politisch sollten
wir alle dafür eintreten, dass das EU-weit so gehand-
habt wird.

Aufgrund dieser Mischung aus zustimmungsfähigen
und abzulehnenden Punkten enthalten wir uns zu Ihrem
Antrag.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719539100

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der

Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksa-
che 17/10782. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit
den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grü-
nen angenommen.

Tagesordnungspunkt 27:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Katrin Kunert, Katja Kipping, Dr. Kirsten
Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Mindeststandards bei der Angemessenheit der
Kosten der Unterkunft und Heizung

– Drucksachen 17/7847, 17/10199 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Dörflinger

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1719539200

Nachdem sich das Bundesverfassungsgericht in sei-

nem richtungsweisenden Urteil vom Februar 2010 mit
den Regelleistungen nach dem SGB II auseinanderge-
setzt und wir uns in der Folge im Ausschuss unter ande-
rem mit den beschlossenen Regelungen für die Kosten
der Unterkunft beschäftigt haben, befassen wir uns heute
mit einem Antrag der Fraktion Die Linke. Sie fordert in





Thomas Dörflinger


(A) (C)



(D)(B)


ihrem Antrag beispielsweise, dass die kommunalen Sat-
zungen, die die Angemessenheit von Aufwendungen der
Unterkunft und Heizung regeln, Mindeststandards erfül-
len müssen, und verkennt offensichtlich, dass die Kommu-
nen bereits verfassungsrechtliche Vorgaben zur Gewäh-
rung bedarfsgedeckter Leistungen zu beachten haben.
Das Bundessozialgericht hat in gefestigter Rechtspre-
chung ein Konzept zur Ermittlung der bedarfsgedeckten
Höhe der Unterkunftsleistungen entwickelt. Wird die An-
gemessenheit der Bedarfe für Unterkunft und Heizung im
Rahmen einer Satzung nach §§ 22 a bis c SGB II festge-
legt, so hat der kommunale Satzungsgeber selbstverständ-
lich ebenfalls die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur
Gewährung bedarfsdeckender Leistungen zu erfüllen.

Auf Ihre Anträge hin, sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen der Linksfraktion, führen wir gerade im Aus-
schuss für Arbeit und Soziales eine Vielzahl von Anhö-
rungen durch. Der Sinn all dieser Veranstaltungen wäre
einmal, zu diskutieren. Ich kann aber zumindest erwar-
ten, dass Sie die Ergebnisse dieser Anhörungen zur
Kenntnis nehmen. Stattdessen legen Sie einen Antrag
vor, der die geltende Rechtslage – damit beziehe ich
mich gar nicht auf das Gesetz zur Ermittlung von Regel-
bedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften
Sozialgesetzbuches – unberücksichtigt lässt.

Machen wir es konkret: Eine Pauschalierungssatzung
muss die Gewähr für eine Finanzierung des grundsiche-
rungsrechtlich angemessenen Wohnraums bieten. Eine
Pauschale, die den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur
Sicherung des Existenzminimums gerecht werden will,
muss sich daher ebenfalls an den Maßstäben orientie-
ren, die das Bundessozialgericht für den Angemessen-
heitsbegriff nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II entwickelt
hat. Eine Notwendigkeit, diese Regelungen zu modifizie-
ren oder gar abzuschaffen, erschließt sich mir daher
nicht.

Auf der anderen Seite sind viele Ihrer Anliegen im
neuen Recht der Kosten der Unterkunft bereits berück-
sichtigt und entsprechen kommunaler Praxis. Das be-
trifft den zusätzlichen Raumbedarf. Hier sind exempla-
risch in § 22 b Abs. 3 SGB II zwei Fallgruppen genannt,
die erweiterbar sind. Es betrifft die Nutzung von Miet-
spiegeln, die nach § 22 c Abs. 1 Nr. 1 SGB II schon vor-
geschrieben ist. Auch die kostenlose Mietberatung, die
im Antrag als Neuerung gefordert wird, gibt es vielerorts
in den Kommunen.

Zu guter Letzt enthält der vorliegende Antrag Forde-
rungen, die – auch das kennen wir von der Fraktion Die
Linke – die Kostenseite völlig unberücksichtigt lassen;
hier beziehe ich mich insbesondere auf den Vorschlag,
unangemessene Wohnkosten bis zu zwei Jahre zu über-
nehmen. Die Verlängerung des Toleranzzeitraums bringt
dem Leistungsberechtigten keinen Mehrwert, erhöht den
finanziellen Aufwand für die kommunalen Träger und
auch den Bund beträchtlich.

Auf der einen Seite laufen Ihre Forderungen auf eine
höhere Belastung der Kommunen hinaus, und auf der
anderen Seite weisen Sie zu Recht darauf hin, dass die
Kommunen genügend Geld für die Erfüllung ihrer Auf-

gaben benötigen. Auch dieser Widerspruch ist bei Ihnen
nicht neu. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt Ih-
ren Vorschlag ab. Es gibt keinen Gesetzesänderungsbe-
darf. Einen solchen Bedarf hat die Sachverständigenan-
hörung nicht ergeben, und den haben wir auch im
Ausschuss nicht gesehen.

Mit dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen
und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Sozialge-
setzbuches haben wir unsere Hausaufgaben gemacht
und die Forderungen von Bundesverfassungs- und Bun-
dessozialgericht konsequent und umfassend zum Wohl
der Bedürftigen in unserem Land umgesetzt.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1719539300

Wir befassen uns heute mit den Regelungen, nach de-

nen Hartz-IV-Bezieher Leistungen für die Kosten der
Unterkunft und der Heizung beziehen. Wir wissen, diese
Bestimmungen beruhen auf einer Vereinbarung zwi-
schen Bund und Ländern. Diese Absprachen sind nicht
in Stein gemeißelt. Sie müssen die Erfahrungen, die da-
mit in der Praxis gemacht werden, berücksichtigen. Und
sie müssen vor allem die Lage auf dem Arbeitsmarkt be-
rücksichtigen.

Die Länder fordern seit längerem eine Überarbeitung
ein, und auch wir von der SPD-Fraktion sehen langfris-
tig Änderungsbedarf. Das, was uns die Linke mit ihrem
Antrag vorgelegt hat, halten wir allerdings insgesamt
für zu weitgehend und nicht sachgerecht.

Die heute bekanntgewordenen Arbeitslosenzahlen für
den ablaufenden Monat zeigen, dass die Konjunktur-
flaute endgültig am Arbeitsmarkt angekommen ist.
Saisonbereinigt müssen wir einen Anstieg registrieren.
Normalerweise bringt der Herbst regelmäßig eine Bele-
bung des Arbeitsmarktes mit einem Rückgang der Ar-
beitslosigkeit. Diese ungünstige Entwicklung wird sich
auch bei den Bedarfsgemeinschaften niederschlagen.

Für den September zählen wir bundesweit 150 693
Bedarfsgemeinschaften. Hier ist absehbar, dass sich die
positive Entwicklung der vergangenen Jahre wieder um-
kehren wird. Schon die letzten Monate haben eine Ab-
schwächung des Trends erkennen lassen. Damit wird
auch die Nachfrage nach günstigem Wohnraum weiter
ansteigen, und das auf einem Wohnungsmarkt, der in
vielen Regionen von Verknappung gekennzeichnet ist.

Nehmen wir das Beispiel Berlin. „Berlin braucht
Tausende neue Wohnungen“, titelte die Hauptstadt-
presse zuletzt. Wie in anderen Großstädten auch wächst
die Nachfrage nach Wohnungen deutlich stärker als das
Angebot. Das wirkt sich natürlich auf die Mietpreise
aus. Die Neumiete liegt in einigen Bereichen bereits bei
8 Euro pro Quadratmeter. 800 Euro für 70 Quadratme-
ter sind keine Seltenheit. Das sind Mieten, die für Berli-
ner mit geringem Einkommen nicht machbar sind.

Hinzu kommt, dass – nicht nur in der Hauptstadt –
der Trend zu Einpersonenhaushalten weiter anhält. Das
bringt eine zusätzliche Verknappung bei kleineren Woh-
nungen mit den entsprechenden Verdrängungseffekten
mit sich.

Zu Protokoll gegebene Reden





Angelika Krüger-Leißner


(A) (C)



(D)(B)


Auch bei mir im Wahlkreis in Oberhavel zeigt sich
dieser Effekt. Das Grundsicherungsamt bestätigte mir,
dass Ein- und Zweiraumwohnungen im Speckgürtel von
Berlin zu erschwinglichen Preisen inzwischen Mangel-
ware sind.

Damit fehlt es ganz grundsätzlich an der Verfügbar-
keit von Ausweichmöglichkeiten für Leistungsbezieher,
deren Wohnkosten das Angemessenheitskriterium nicht
mehr erfüllen. In der Folge führt das oftmals dazu, dass
die Leistungsbezieher einen Teil ihrer Grundsicherung
für die Wohnkosten aufbringen müssen.

Diese Kostensteigerungen werden natürlich auch für
die Kommunen zum Problem. Die Folge ist, dass die
Kommunen oftmals sehr strikt mit den Unterkunftskos-
ten verfahren und ihren Ermessensspielraum nicht aus-
schöpfen.

Vor diesem Hintergrund fordern die Länder schon
seit längerem eine Reform der Vereinbarung mit dem
Bund. Sie wollen, dass sich der Bundeszuschuss nicht
nur an der Entwicklung der Zahl der Bedarfsgemein-
schaften bemisst. Nötig wäre eine Orientierung an den
tatsächlichen Kosten.

„Heizkosten in Berlin und Brandenburg steigen dras-
tisch“, titelte zuletzt die „Berliner Morgenpost“. Für
Erdgas müssen Brandenburger jährlich 83 Euro, Berli-
ner sogar 102 Euro mehr zahlen. Das sind jährliche
Steigerungsraten um die 10 Prozent.

Kehrtwende am Arbeitsmarkt, absehbare Zunahme
der Bedarfsgemeinschaften, Wohnraumverknappung in
vielen Regionen, drastisch steigende Miet- und Energie-
preise, knappe Kommunalfinanzen – das sind die aktuel-
len Rahmenbedingungen für die Bedarfsgemeinschaf-
ten. Per Gesetz müssen sie dafür Sorge tragen, dass ihre
Wohnkosten „angemessen“ sind, wie es heißt. Denn
„Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe
der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit
diese angemessen sind“, so § 22 SGB II. Und das wird
unter den gegebenen Bedingungen für immer mehr Be-
darfsgemeinschaften zum Problem.

Vor diesem Hintergrund greift der Antrag der Linken
ein wichtiges Thema auf, zumal die Kosten der Unter-
kunft regelmäßig zum Streitfall vor den Sozialgerichten
werden. Hier könnte eine Überprüfung der entsprechen-
den gesetzlichen Bestimmungen helfen.

In vielen Punkten kann die SPD-Fraktion dem Antrag
folgen, in anderen nicht.

Nach § 22 a SGB II können die Länder die Kommu-
nen ermächtigen oder verpflichten, durch Satzung die
jeweilige Angemessenheit der Aufwendungen für Unter-
kunft und Heizung zu bestimmen. Im Gegensatz zur Lin-
ken halten wir diese Satzungsermächtigung für ein sinn-
volles Instrument. Die Kommunen vor Ort kennen die
Lage auf dem jeweiligen Wohnungsmarkt am besten. Sie
können auf Besonderheiten reagieren und so den gege-
benen Ermessensspielraum nutzen, und das meine ich im
Interesse der Betroffenen.

Alternativ können die Länder die Kreise und kreis-
freien Städte auch ermächtigen, für die Kosten für Un-

terkunft und Heizung eine monatliche Pauschale festzu-
legen. Diese Pauschalierungen will die Linken-Fraktion
abschaffen. Das können wir nachvollziehen. Auch die
Mehrheit der Experten der Anhörung im Ausschuss
lehnt Wohnkostenpauschalen bei Hartz-IV-Empfängern
ab. Die Sachverständigen bestätigten: Pauschalen brin-
gen den Kommunen keine Einsparungen, da es ohnehin
Einzelfallprüfungen geben muss. In der Praxis greifen
die Kommunen daher so gut wie nie auf Pauschalen zu-
rück.

Ich habe oben die schwierigen Rahmenbedingungen
auf dem Wohnungsmarkt beschrieben. Für viele Be-
darfsgemeinschaften erhöhen sie den Druck, sich nach
günstigerem Wohnraum umsehen zu müssen. Per Gesetz
muss das spätestens nach sechs Monaten erfolgen. Die
Experten der Anhörung konnten die SPD überzeugen,
dass die Forderung der Linken, diesen Zeitraum auf ein
ganzes Jahr auszudehnen, begründet ist. Das macht
Sinn. Schon allein aufgrund der dreimonatigen Kündi-
gungsfrist bleibt den Empfängern gegenwärtig kaum
Zeit, sich um eine neue Wohnung zu kümmern. Zudem
sollten sie sich eher auf die Suche nach einer neuen Ar-
beit konzentrieren können.

Auch die Forderung nach kostenloser unabhängiger
Mieterberatung wurde von den Sachverständigen unter-
stützt. Das ist ein sinnvolles Instrument, das dabei helfen
kann, einvernehmlich zu guten Wohnlösungen zu kom-
men.

In jedem Fall meinen wir, dass man von einem
Zwangsumzug bei bestimmten Personengruppen Ab-
stand nehmen sollte: bei Schwerkranken, Pflegebedürf-
tigen oder Behinderten, Älteren, Alleinerziehenden oder
bei besonders langjährigen Mietern. Damit könnten
auch die umständlichen Einzelfallprüfungen entfallen,
die einen hohen Verwaltungsaufwand mit sich bringen.

Alle Anzeichen sprechen dafür, dass statt Entspan-
nung auf dem Arbeitsmarkt wieder ein rauherer Wind zu
erwarten ist. Zusammen mit der zunehmenden Verknap-
pung auf dem Wohnungsmarkt und der anhaltend klam-
men Finanzlage der Kommunen wird das auch die
Wohn- und Lebenslage der Menschen in den Bedarfsge-
meinschaften verschärfen. Die entsprechenden gesetzli-
chen Bestimmungen sollten überprüft werden. Auch die
Sozialgerichte könnten damit entlastet werden.

Vor diesem Hintergrund tragen wir einige Forderun-
gen im vorliegenden Antrag mit. Andere – wie insbeson-
dere die nach bundeseinheitlichen Mindeststandards –
schießen über das Ziel hinaus. Deshalb enthalten wir
uns.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1719539400

Der Antrag der Linken, der sich mit Mindeststan-

dards bei den Kosten von Unterkunft und Heizung be-
fasst, ist in vielen Punkten obsolet. Obsolet deshalb, weil
einige der von Ihnen angesprochenen Punkte in der Praxis
seit dem Gesetz zur Festsetzung der Leistungssätze nach
dem Sozialgesetzbuch II gelöst werden konnten. Andere
Ihrer Vorschläge haben wir in diesem Gesetzgebungs-
verfahren bewusst und begründet nicht umgesetzt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


So können schon heute beispielsweise zusätzliche
Leistungen bei einem Wohnortwechsel auf Antrag über-
nommen werden. Daher sehen wir hier keinen Rege-
lungsbedarf.

Dass Sie die vor kurzem eingeführte Möglichkeit der
Pauschalierung von Kosten für Unterkunft und Heizung
kritisieren, halte ich für verfrüht, und auch Ihre vorge-
brachten Bedenken teile ich nicht. Durch die Pauscha-
lierung haben wir die Möglichkeit geschaffen für mehr
Eigenverantwortung und eine freiere Lebensgestaltung.

Wir werden selbstverständlich die Entwicklung in
diesem Bereich kritisch verfolgen, um etwaigen Fehlent-
wicklungen entgegenwirken zu können.

Wenn Sie fordern, dass Zwangsumzüge zur Wohnkos-
tensenkung vermieden werden sollen, kann ich Ihnen im
Grundsatz recht geben. Die Lösung, wie dies verhindert
werden kann, ist einfach: Die Menschen müssen wieder
Arbeit finden. Das ist die beste Maßnahme gegen
Zwangsumzüge, und kostensparend obendrein.

Im Mai 2012 gab es in Deutschland 3,3 Millionen Be-
darfsgemeinschaften mit insgesamt 6,2 Millionen Men-
schen. Noch im Mai 2010 waren es 600 000 Menschen
bzw. 350 000 Bedarfsgemeinschaften mehr. Dieser
Rückgang ist unbestreitbar auch der wachstumsorientier-
ten Politik dieser christlich-liberalen Regierungskoali-
tion zu verdanken. Wir zeigen, dass die beste Sozialpoli-
tik ist, die Menschen in sozialversicherungspflichtige
Arbeit zu bringen.

Ihr Vorschlag, sogenannte Zwangsumzüge, gleich wie
groß und teuer die Wohnung ist, nicht umzusetzen, kann
hingegen keine Antwort sein. Wie können Sie dies je-
mandem erklären, der als Alleinerziehender 40 Stunden
die Woche arbeitet und für sich und seine Kinder die
Kosten für die Miete vollständig selbst tragen muss?
Der sich vielleicht nur eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit
50 bis 60 Quadratmeter leisten kann? Da ist es doch
nicht gerecht, wenn der Staat größere und teurere Woh-
nungen für andere übernimmt.

Ihre Antwort wäre jetzt sicher: Dann muss Letzterer
eben auch einen staatlichen Zuschuss bekommen. Aber
Ihr „Mehr für Alle“ muss auch finanziert werden kön-
nen, und Ihre Gegenfinanzierungsvorschläge taugen da
nichts, da sie den Motor für Wirtschaftswachstum, für
Wohlstand und Arbeitsplätze in unserem Land drosseln
würden.

In der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales zu Ihrem Antrag haben sich sowohl die kommunalen
Spitzenverbände, der Deutsche Verein sowie die Bundes-
agentur für Arbeit gegen die Vorschläge der Linken aus-
gesprochen. Ich finde, dass auch das sehr aussagekräf-
tig ist und Ihnen zu denken geben sollte.

Immer wieder erklären uns Sachverständige, dass
Einzelfallgerechtigkeit kein guter Ratgeber im Sozial-
recht ist und dass sie vor allem zu einem gewaltigen Auf-
wuchs an Bürokratie führt. Deshalb sind Pauschalen
eine gute Möglichkeit, um Bürokratie abzubauen.

Im Steuerrecht sind Pauschalen gang und gäbe. So-
wohl bei Werbungskosten als auch beim Grundfrei-

betrag wird mit Pauschalen gearbeitet. Auch bei den
Kosten für Unterkunft und Heizung sind Pauschalen
sinnvoll.

Allein 2010 gab es 900 000 Widerspruchsverfahren
zu Bescheiden im Sozialgesetzbuch II. Davon hat sich
circa ein Viertel mit der Thematik der Kosten der Unter-
kunft beschäftigt. Das Bundessozialgericht befasst sich
in jedem dritten Fall mit den Kosten der Unterkunft.
Dieser Anteil dürfte in den unteren Instanzen sogar noch
höher sein.

Ich finde, dass dies alles Argumente für eine mög-
lichst bürokratiearme Lösung sind. Wenn dazu dann
noch die Vorteile durch mehr Entscheidungsfreiheit für
die Leistungsberechtigten kommen, dann bin ich über-
zeugt, dass wir an den Pauschalierungen dringend fest-
halten müssen.

Daher werden wir Ihren Antrag heute ablehnen.


Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719539500

Die Kosten für Miete und Heizung von Hartz-IV-Be-

ziehenden, auch unter der Abkürzung KdU bekannt,
werden übernommen, soweit sie angemessen sind. So
formuliert es der Gesetzgeber derzeit sinngemäß in § 22
Abs. 1 SGB II. Man würde natürlich denken, dass es bei
einem für die Menschen so wichtigen und grundrechts-
relevanten Thema wie dem Wohnen eine Vielzahl von
Regelungen gibt, die genau beschreiben, welche Woh-
nungsgröße und welcher Mietpreis angemessen sind und
wie man die Angemessenheitswerte für die unterschied-
lichen Regionen Deutschlands mit ihren unterschiedli-
chen Wohnungsmärkten ermittelt. Tatsächlich ist der
eingangs erwähnte erste Satz des § 22 Abs. 1 SGB II die
einzige Festlegung, die der Bundesgesetzgeber in dieser
Frage trifft.

In der Praxis bedeutet dies, dass die für die KdU zu-
ständigen Kommunen durch Richtlinien oder neuerdings
in einigen Bundesländern durch Satzungen selbst be-
stimmen müssen, bis zu welcher Höhe die KdU in ihrem
Gebiet als angemessen gelten. Sie können hierfür zwar
auf eine umfassende Rechtsprechung des Bundessozial-
gerichts zurückgreifen, dessen Urteile sind aber letzt-
endlich einzelfallbezogen. Die dort entwickelten Krite-
rien sind nicht immer ohne Weiteres übertragbar. Eine
bestimmte Methode zur Berechnung der angemessenen
KdU kann in einer Kommune aufgrund der dort beste-
henden Wohnungsmarktstruktur zulässig sein, während
die gleiche Methode in einer Kommune mit einer ande-
ren Wohnungsmarktstruktur von den Gerichten als
rechtswidrig angesehen wird. Die Bestimmung von
rechtssicheren KdU wird für die Kommunen zusätzlich
durch zum Teil unterschiedliche Rechtsprechung in un-
terschiedlichen Bundesländern erschwert.

Die Risiken dieser Unsicherheiten tragen zum einen
die Hartz-IV-Beziehenden, die sich häufig durch die In-
stanzen klagen müssen, um die Übernahme ihrer Wohn-
kosten zu erreichen, und zum anderen die Kommunen,
die regelmäßig juristische Auseinandersetzungen um
das Thema KdU fürchten müssen. Die zu unserem An-
trag im Sozialausschuss durchgeführte Anhörung hat in

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Kunert


(A) (C)



(D)(B)


diesem Zusammenhang übrigens ergeben, dass Wider-
sprüche von Hartz-IV-Beziehenden, die sich ausschließ-
lich gegen die KdU richten, etwa zu 50 Prozent erfolg-
reich sind. Es ist daher nur folgerichtig, wenn die
Sozialgerichte in ihren Urteilen nicht mehr nur die je-
weils zu beurteilende kommunale Richtlinie, sondern die
gesetzliche Regelung direkt kritisieren. Einige Gerichte
stellen dabei sogar die Verfassungsmäßigkeit der derzei-
tigen Praxis infrage.

So hat beispielsweise das Sozialgericht Mainz in sei-
ner Entscheidung vom 8. Juni 2012 erklärt, die beste-
hende Konkretisierung des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II
durch das Bundessozialgericht – gemeint ist hiermit die
Rechtsprechung zur Angemessenheit – sei nicht mit dem
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdi-
gen Existenzminimums vereinbar, wie es im Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen näher
bestimmt worden ist. Aus der Zuordnung der KdU zum
menschenwürdigen Existenzminimum folgt für das So-
zialgericht Mainz, dass der Gesetzgeber ein Gesetz vor-
legen muss, welches einen konkreten Leistungsanspruch
des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträ-
ger enthält. Mit unserem Antrag liegt zumindest ein Vor-
schlag auf dem Tisch, wie den durch das Sozialgericht
Mainz formulierten Vorgaben entsprochen werden
könnte.

Eine Verbesserung der Situation durch die derzeitige
Bundesregierung ist allerdings nicht in Sicht. Anstatt
endlich aktiv zu werden und selbst Standards für die Be-
stimmung der Angemessenheit zu definieren, hat die Bun-
desregierung durch ihre letzte Gesetzesänderung den
Ländern die Möglichkeit eingeräumt, ihre Kommunen
dazu zu ermächtigen, die Angemessenheit durch kommu-
nale Satzungen zu regeln. Möglich sollen hiernach sogar
Pauschalen sein. Gerade zu dem letzten Punkt möchte
ich noch einmal ausdrücklich auf die mündliche Stel-
lungnahme des Sachverständigen Dr. Joachim Rock in
der öffentlichen Anhörung des Sozialausschusses ver-
weisen. In dieser werden die sozial- und verfassungs-
rechtlichen Probleme herausgearbeitet, die eine Pau-
schalierung mit sich bringen würde.

Die fatalen Auswirkungen der derzeitigen KdU-Rege-
lungen, wie zum Beispiel Verdrängung von Hartz-IV-Be-
ziehenden aus begehrten Wohnlagen in Großstädten und
die damit verbundene Erschwernis der Wiedereingliede-
rung, entstehen jedoch nicht nur durch die mangelnde
Bestimmtheit des Begriffes der Angemessenheit. Hinzu
kommen die Regeln zum sogenannten Kostensenkungs-
verfahren. Diese sehen vor, dass Hartz-IV-Beziehende,
deren Wohnungskosten über dem Angemessenheitswert
liegen, in der Regel innerhalb von sechs Monaten in eine
billigere Wohnung umziehen müssen, um ihre Kosten
weiterhin vollständig erstattet zu bekommen. Die Gründe
für eine derartige Überschreitung der Angemessenheits-
werte können dabei vielfältig sein. So kann es sein, dass
jemand nach Auslaufen des Arbeitslosengeldes I erst-
mals Hartz IV bezieht. In Betracht kommt aber auch, dass
sich jemand schon länger im Hartz-IV-Bezug befindet,
dessen Wohnung schlicht durch die allgemeinen Miet-
steigerungen zu teuer wird.

Die Linke schlägt in ihrem Antrag zur Einführung von
bundeseinheitlichen Mindeststandards bei der Angemes-
senheit der Kosten der Unterkunft und Heizung eine
Reihe von Maßnahmen vor, mit denen die derzeitigen
Missstände bei den KdU überwunden werden könnten.
Im Wesentlichen lassen sich hierbei drei Hauptforderun-
gen herausstreichen:

Erstens. Es muss bundeseinheitliche Mindeststan-
dards für die Bestimmung der Angemessenheit der KdU
geben.

Zweitens. Die Pauschalierungsmöglichkeit im SGB II
ist ersatzlos zu streichen.

Drittens. Die Fristen für das Kostensenkungsverfah-
ren müssen auf mindestens ein Jahr ausgedehnt werden,
und es muss in bestimmten Fällen, zum Beispiel bei
schwer kranken oder behinderten Menschen, von der
Durchführung eines Kostensenkungsverfahrens abgese-
hen werden.

Ich bitte Sie, unseren Antrag zu unterstützen.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719539600

Das soziokulturelle Existenzminimum umfasst neben

der Sicherung der physischen Existenz des Menschen
die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischen-
menschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an
Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politi-
schen Leben. Die Kosten für Unterkunft und Heizung ge-
hören hierbei genauso zum physischen Existenzmini-
mum wie Nahrung, Kleidung, Hausrat, Hygiene und
Gesundheit. Dies hat das Bundesverfassungsgericht zu-
letzt in seinem Urteil zum Grundrecht auf Gewährleis-
tung eines menschenwürdigen Existenzminimums vom
9. Februar 2010 unzweideutig festgestellt.

Wie kein anderer Bestandteil des Existenzminimums
ist die Frage der Kosten für Unterkunft und Heizung
jedoch Gegenstand behördlicher und richterlicher Aus-
einandersetzung. Unzureichende Angemessenheits-
werte, Aufforderungen zur Senkung der Mietkosten, eine
nicht erfolgte Übernahme der Mietkaution oder eine
nicht genehmigte Erstattung der Umzugskosten sind da-
bei nur einige Probleme, mit denen Leistungsberechtigte
tagtäglich zu kämpfen haben. Dass solche Auseinander-
setzungen um den eigenen Wohn- und Sozialraum so-
wohl die Leistungsberechtigten stark belasten als auch
dem Ziel der Arbeitsmarktintegration dieser Personen
entgegenstehen können, ist wohl unbestritten. Denn wer
in ständiger Angst lebt, seine Wohnung zu verlieren, wer
über den Angemessenheitswerten liegende Wohnungs-
kosten langfristig über den Regelsatz ausgleicht oder
wer monatelang Rechtstreitigkeiten mit dem Jobcenter
führt, hat wohl einige Schwierigkeiten, sich uneinge-
schränkt auf die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz
einzulassen.

Vor diesem Hintergrund ist die Einbringung des
Antrages „Mindeststandards bei der Angemessenheit
der Kosten der Unterkunft und Heizung“, Drucksache
17/7847, der Linksfraktion begrüßenswert. Dieser An-
trag gab Anlass, in einer öffentlichen Anhörung des Ar-
beits- und Sozialausschusses am 7. Mai 2012 im Deut-

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


schen Bundestag Sachverständige zur Praxis und den
gesetzlichen Regelungen zu den Kosten der Unterkunft
zu befragen.

Die Anhörung zum Antrag am 7. Mai 2012 zeigte
noch einmal eindrücklich, dass zum Teil erheblicher ver-
waltungstechnischer sowie gesetzgeberischer Ände-
rungsbedarf bei Fragen des Wohnens besteht. Jede ver-
meidbare Aufforderung zur Wohnkostensenkung und
erst recht jeder vermeidbare Umzug kann – neben indi-
viduellen Belastungen – zu enormen Folgekosten für die
Gesellschaft führen. So attestiert etwa eine Topos-Studie
zu den Auswirkungen der Wohnungsaufwendungsver-
ordnung, WAV, auf Hartz-IV-Empfänger in Berlin aus
dem Mai 2012 Umzügen aufgrund des Ausziehens eines
Elternteils: „Ein Wohnungswechsel würde aber ange-
sichts der hohen Neuvermietungsmieten selten eine Ver-
ringerung der Miete ergeben. Zudem würden die Kinder,
die in der Regel durch die Trennung psychisch stark be-
lastet sind, durch den Verlust der vertrauten Wohnung
und Wohnungsumgebung einer zusätzlichen Belastung
ausgesetzt.“ Nur ein Bündel an Maßnahmen, das über
die in dem vorliegenden Antrag der Linksfraktion hi-
nausgeht, kann die genannten Probleme in den Griff be-
kommen.

Da sind zuallererst die Wohnungspolitik sowie das
Mietrecht zu nennen. Wir wollen soziale Entmischung
verhindern, indem wir die Modernisierungsumlage auf
die energetische Modernisierung und altersgerechten
Umbau konzentrieren und sie auf 9 statt 11 Prozent ab-
senken. Außerdem wollen wir die Kappungsgrenze bei
der ortsüblichen Vergleichsmiete von 20 Prozent auf
15 Prozent senken und die energetische Gebäudebe-
schaffenheit als Vergleichsvariable aufnehmen.

Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen setzt
sich zudem für eine Stärkung des sozialen Wohnungs-
baus ein, indem sie unter anderem dafür eintritt, die
EFRE-Mittel für die energetische Sanierung von Wohn-
gebäuden und den sozialen Wohnungsbau weiterhin ver-
wenden zu können.

Auch im Bereich des SGB II bedarf es allerdings di-
verser Änderungen. So ist vollkommen zutreffend, dass
die individuelle Beratung und Fallbetrachtung durch die
Jobcenter verbesserungswürdig ist. Dies haben wir in
diversen Anträgen bereits zur Sprache gebracht. So
könnten schon im Vorfeld Missverständnisse ausge-
räumt und viele Wohnkostensenkungsaufforderungen
vermieden werden.

Mehr als sinnvoll wäre auch die Aufnahme der Krite-
rien der Verfügbarkeit sowie der Vorgabe, dass eine Auf-
forderung zur Wohnkostensenkung nur ergehen kann,
wenn dies auch wirtschaftlich für den Kostenträger ist.
Dem Vorschlag der Sachverständigen Gautzsch und Dr.
Schifferdecker, wonach die Höchstgrenze von sechs Mo-
naten einer flexibleren Regelung weichen solle, ist zuzu-
stimmen. Allein in Berlin zeigt sich, dass etwa 250 000
ALG-II-Haushalten 627 000 entsprechende Ein- bis
Zweizimmerwohnungen gegenüberstehen. Die Verfüg-
barkeit angemessenen Wohnraums ist daher sehr einge-
schränkt.

Die Aufbringung der Mietkaution durch das Einset-
zen des Schonvermögens ist nicht sinnvoll, wie die Sach-
verständigen glaubhaft darstellen konnten. Da die Miet-
kaution für die Dauer des Mietverhältnisses nicht zur
Verfügung steht, wird dem Sinn und Zweck des Schon-
vermögens mit dieser Regelung nicht Genüge getan.

Nach Angaben des Paritätischen Wohlfahrtsverban-
des wurde im Jahr 2012 schätzungsweise 200 000
Hartz-IV-Empfängern der Strom abgestellt. Dies liegt
unter anderem daran, dass die entsprechende Position
im Regelsatz viel zu niedrig angesetzt ist. Der aktuelle
Regelsatz reicht bei weitem nicht aus, die täglichen Be-
dürfnisse des Lebens sicherzustellen. Allein eine Regel-
satzerhöhung reicht jedoch nicht aus, einkommens-
schwache Haushalte zu unterstützen. So muss etwa die
Streichung des Heizkostenzuschusses durch Schwarz-
Gelb wieder rückgängig gemacht werden. Stromsparta-
rife müssen angeboten und progressiv ausgestaltet wer-
den. Es kann nicht sein, dass Mehrverbrauch mit einem
niedrigeren Preis belohnt wird, während diejenigen, die
geringe Verbräuche haben, hohe Grundkosten zahlen
müssen. Darüber hinaus bedarf es großer Anstrengun-
gen zur Steigerung der Energieeffizienz. Wir Grünen
wollen daher zusätzlich zu 2 Milliarden Euro im Gebäu-
desanierungsprogramm einen Energiesparfonds mit ei-
nem Finanzvolumen von 3 Milliarden Euro jährlich auf-
legen. Dieser muss sich kurzfristig auf die energetische
Sanierung von Wohngebäuden in Stadtteilen mit einem
hohen Anteil einkommensschwacher Haushalte konzen-
trieren.

Werden all diese Dinge beachtet und entsprechend
angegangen, bedarf es keiner weiteren gesetzlichen Än-
derungen bezüglich erweiterter Ausnahmeregelungen
für bestimmte Personengruppen und der Kostenüber-
nahme von Aufwendungen im Rahmen eines Wohnungs-
wechsels. Bei viel Zuspruch und Zustimmung zum An-
trag kann aber, wie dargelegt, nicht allen Forderungen
zugestimmt werden. Daher enthält sich die grüne Frak-
tion zum Antrag 17/7847.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719539700

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/10199, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/7847 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grü-
nen angenommen.

Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

zu der Reform der Gemeinsamen Fischereipo-
litik der EU

Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über die Ge-





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


meinsame Fischereipolitik
KOM(2011) 425 endg.; Ratsdok. 12514/11

Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über die ge-
meinsame Marktorganisation für Erzeugnisse
der Fischerei und der Aquakultur
KOM(2011) 416 endg.; Ratsdok. 12516/11

Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über den Eu-
ropäischen Meeres- und Fischereifonds zur
Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 1198/
2006 des Rates und (EG) Nr. 861/2006 des Ra-
tes sowie der Verordnung (EU) Nr. XXX/2011
des Rates über die integrierte Meerespolitik
KOM(2011) 804 endg.; Ratsdok. 17870/11

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgeset-
zes

– Drucksache 17/10783 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Dr. Valerie Wilms, Thilo Hoppe, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Die Überfischung beenden – Vorschläge zur
Reform der EU-Fischereipolitik überarbeiten

– Drucksache 17/10790 –

Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Re-
den zu Protokoll genommen.


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1719539800

„Gib einem Menschen einen Fisch und Du ernährst

ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du
ernährst ihn für sein Leben.“ Um die Bedeutung der
Fischerei wusste schon Konfuzius. Denn Fisch ernährt
Menschen, als wertvolles Grundnahrungsmittel und als
unverzichtbare Existenzgrundlage. Daran hat sich bis
heute nichts geändert. Deshalb ist die geplante Reform
der Gemeinsamen Fischereipolitik der Europäischen
Union auch für viele Familienbetriebe und Verbrau-
cher von größter Bedeutung. Mit der Reform der Euro-
päischen Fischereipolitik steht ein ehrgeiziges Projekt
auf der Brüsseler Agenda; denn sie soll die nächsten
zehn Jahre tragen.

Die Debatten sind in vollem Gang, von der spani-
schen Küste bis zum norwegischen Fjord. Den Start
machte die EU-Kommission. Im Juni diesen Jahres ver-
ständigten sich die Fischereiminister auf eine allge-
meine Ausrichtung zu den zentralen Reformelementen.
Inzwischen liegen im Europäischen Parlament mehr als
2 500 Änderungsanträge zu den Vorschlägen der Kom-
mission vor.

Es ist also höchste Zeit, dass sich auch der Deutsche
Bundestag in die Debatte einbringt und zu diesem wich-
tigen Reformprojekt Farbe bekennt. Ich hätte mich per-
sönlich gefreut, wenn wir dazu heute ein gemeinsames
Bekenntnis über die Fraktionsgrenzen hinaus abgege-
ben hätten. Das wäre ein starkes Signal gewesen. Die

Chancen für einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU,
FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen standen gut. Wir
trafen uns etliche Male. Der Text wurde hin- und herge-
sandt. Es wurde gehämmert, gefeilt, poliert. Für das kol-
legiale Miteinander bedanke ich mich an dieser Stelle
noch einmal ausdrücklich bei meinen beiden Kollegin-
nen Dr. Christel Happach-Kasan und Cornelia Behm so-
wie bei unserem Kollegen Holger Ortel.

Aber dann kam leider die Parteipolitik ins Spiel. Die
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
zogen sich auf Druck ihrer Entwicklungshilfepolitiker
zurück. Die SPD-Spitze folgte auf den Fuß, übrigens
auch nicht wegen inhaltlicher Bedenken. Die Begrün-
dung lautete: Wir wollen unseren Hoffnungskoalitions-
partner nicht allein stehen lassen. Hir ging es nicht um
die Sache sondern nur um die Partei. Die Fischer hätten
Besseres verdient.

Da hilft jetzt auch kein Schnellantrag mehr. Gestern
hat die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen einen An-
trag eingebracht, mit der heißen Nadel gestrickt. Hier
greift das Sprichwort „Mancher denkt zu fischen und
krebst nur“ oder die Erkenntnis von Mark Twain: „Er-
zähl Leuten, die dich kennen, kein Anglerlatein, und
schon gar nicht Leuten, die die Fische kennen.“ Schade.
Denn das Thema ist ernsthaft genug.

Es ist unstrittig, dass die Europäische Union ihre
selbst gesteckten Ziele in der Fischereipolitik bislang
verfehlt hat. Trotz positiver Tendenzen in den letzten
Jahren sind nach wie vor einige Fischbestände über-
fischt. Die wirtschaftliche Situation der Fischer und ihre
Zukunftsperspektiven sind nicht gerade rosig. Und es
gibt weiterhin Defizite bei den Fischereipartnerschafts-
abkommen mit den Entwicklungsländern.

Wir haben jetzt die Chance, bei dieser ehrgeizigen
Reform der EU-Fischereipolitik mitzuwirken. Wir haben
es selbst in der Hand, wichtige Impulse zu geben. Wir
sollten diese Chance nutzen. Denn die Zeit drängt. Wir
müssen der Überfischung der Meere wirksam Einhalt
gebieten. Denn wir tragen die Verantwortung dafür,
dass die Fischbestände auch für kommende Generatio-
nen erhalten bleiben. Fische gehören zu den wichtigsten
Nahrungsquellen der Menschheit. Und die Bestände
sind für unsere Fischer die Existenzgrundlage, die wir
dauerhaft sichern müssen.

Wir haben die Chance genutzt. Ihnen liegt unser An-
trag vor. Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner ha-
ben wir analysiert, wo sich etwas ändern muss. Und wir
zeigen, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen,
um diese Ziele zu erreichen. Das oberste Ziel der Re-
form muss die Nachhaltigkeit sein. Nach wie vor sind
Bestände überfischt. Das bisherige Krisenmanagement
in Brüssel reicht offensichtlich nicht. Ohne eine Erho-
lung der überfischten Bestände und der Bewahrung des
empfindlichen Ökosystems „Meer“ lässt sich die Zu-
kunft der deutschen und europäischen Fischerei nicht si-
chern. Dabei reicht es nicht, nur die europäischen Ge-
wässer im Blick zu haben. Nein, wir müssen auch hier
global denken und die Weltmeere insgesamt in unsere
Überlegungen einbeziehen.





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)


Die Fischerinnen und Fischer in unserem Land wirt-
schaften bereits heute nachhaltig und bestandserhal-
tend. Dieses Selbstverständnis sollte Vorbild für Europa
und die Welt sein. Eine nachhaltige bestandserhaltende
Fischerei muss auf allen Meeren sichergestellt werden.
Deshalb fordern wir in und mit unserem Antrag, dass
künftig alle Fischbestände nach dem Prinzip des nach-
haltigen Dauerertrags (MSY) bewirtschaftet werden
müssen. Dieses Ziel soll bis zum Jahr 2015 entsprechend
den Beschlüssen des Nachhaltigkeitsgipfels von Johan-
nesburg erreicht werden.

Wir, die Mitglieder der christlich-liberalen Koalition,
wollen einen grundlegenden Kurswechsel. Die Flick-
schusterei der vergangenen Jahrzehnte muss ein Ende ha-
ben. Wie muss dieser Kurswechsel nun beschaffen sein?
An erster Stelle benötigen wir ein modernes Fischerei-
management. Zentrales Instrument dieses Fischerei-
managements sind schon heute mehrjährige Bewirtschaf-
tungspläne. Diese müssen künftig auf alle kommerziell
genutzten Bestände ausgedehnt werden. So lässt sich das
Nachhaltigkeitsziel schneller erreichen. Es bringt den
Vorteil mit sich, das fischereipolitische Tagesgeschäft
vom Mikromanagement zu entlasten. Dies gilt insbeson-
dere für die jährlichen Quotenverhandlungen der Fische-
reiminister im Dezember. In den letzten Jahren haben
diese durch die bereits geltenden Bewirtschaftungspläne
deutlich an politischem Sprengstoff verloren. Und das ist
gut so.

Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Erhöhung der Se-
lektivität der Fischereien. Nur so lassen sich Jungfische
besser schützen und unerwünschte Beifänge stärker ver-
meiden. Deshalb müssen wir gleichzeitig die Forschung
und Entwicklung innovativer und selektiver Fang-
geräte stärken.

Eines der Kernprobleme der europäischen Fischerei-
politik sind die hohen Rückwürfe infolge unerwünschter
Beifänge. In manchen Fischereien belaufen sich diese
auf über 50 Prozent der Fänge. Die Bilder von Rück-
würfen verunsichern Verbraucherinnen und Verbrau-
cher. Mit dieser unverantwortlichen Verschwendung un-
serer wertvollen Meeresressourcen muss endlich Schluss
sein. Deshalb sind wir der Bundesregierung auch für die
Initiative dankbar, die sie bereits im Jahr 2010 dazu ge-
startet hatte. Aufgrund dieser Initiative unserer Bundes-
ministerin Frau Aigner wurde eine Gemeinsame Erklä-
rung über Rückwürfe im Rahmen der Reform der
Gemeinsamen Fischereipolitik mit Vertretern Däne-
marks, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs ge-
troffen. Wir unterstützen unsere Bundesregierung in die-
ser Haltung und setzen uns deshalb in unserem Antrag
mit Nachdruck dafür ein, Rückwurfverbote und Anlan-
degebote einzuführen. Dies soll nicht pauschal nach Ar-
ten, sondern nach Fischereien und im Rahmen der Be-
wirtschaftungspläne geschehen. Beifangarten, die hohe
Überlebensraten aufweisen, wie zum Beispiel Haie und
Rochen, wollen wir vom Rückwurfverbot ausnehmen. Es
darf keine Fehlanreize für die Vermarktung von Jung-
fischen geben. Aber eine möglichst hochwertige Nut-
zung muss möglich sein. Die Ressource Fisch ist zu
wertvoll, als nur als Fischmehl oder -öl zu enden.

Die Einhaltung des Rückwurfverbots muss natürlich
wirksam kontrolliert werden. Dazu sollte es Anreize zum
freiwilligen Einbau von Kameras an Bord der Fischerei-
fahrzeuge geben. Eine generelle Kamerapflicht lehnen
wir dagegen kategorisch ab. Ich sage sehr deutlich für
meine Fraktion: Eine Kameraüberwachung von Fische-
rinnen und Fischern wird es mit uns nicht geben. Eine
solche Vorschrift wäre insbesondere mit Blick auf unsere
handwerkliche Küstenfischerei völlig überzogen. Für
diese Fischerei müssen alternative Monitoringsysteme
entwickelt werden. Es wird von den Vertretern einer sol-
chen Forderung offensichtlich vergessen, dass ein Fische-
reifahrzeug auch immer ein Arbeitsplatz ist. Auch Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer auf diesen Schiffen
haben Anspruch auf Datenschutz.

Bei der Bewirtschaftung der Fischereibestände gibt
es für uns einen weiteren wichtigen Punkt. Das System
der Quotenverwaltung in Deutschland hat sich bewährt.
Es darf nicht verändert werden. Deshalb müssen die Na-
tionalstaaten auch künftig für das Quotenmanagement
zuständig bleiben. Die verpflichtende Einführung von
handelbaren Quoten, wie von der Kommission vorge-
schlagen, lehnen wir ab. Jeder Mitgliedstaat muss selbst
entscheiden können, ob er handelbare Quoten einführen
will oder nicht. Wir wollen es nicht. Denn damit würden
wir unseren aktiven deutschen Familienbetrieben den
Boden unter den Füßen wegziehen. Bei ihnen handelt es
sich im Wesentlichen um kleine und mittelständische Be-
triebe, die bei einem Marktwettbewerb um Quoten nicht
gegen zahlungskräftige Investoren bestehen können.
Aber auch sie, gerade sie brauchen Zukunftsaussichten
und die Chance, sich zu entwickeln. Wir wollen deshalb
in Deutschland unser Quotensystem fortführen. Fische-
reiressourcen müssen deshalb öffentliches Gut bleiben.

Ein weiteres zentrales Element der Fischereireform
ist für uns der Abbau der Flottenüberkapazitäten. So-
lange die Fangkapazitäten größer sind als die tatsäch-
lichen Fangmöglichkeiten, wird es immer einen Anreiz
geben, die zugeteilten Quoten zu überfischen. Deshalb
fordern wir in unserem Antrag einen verbindlichen Zeit-
plan für den Flottenabbau. Die neuen Kapazitätsober-
grenzen müssen so festgelegt werden, dass sie zu einer
effektiven und nachprüfbaren Reduzierung der Fangka-
pazitäten führen. Diese müssen im Einklang mit den na-
tionalen Fangmöglichkeiten stehen. Dafür muss drin-
gend ein entsprechendes Verfahren entwickelt werden.
Und es muss der Satz gelten: Strafe muss sein. Leider
gibt es nicht in jedem Mitgliedstaat ein so rigides Ahn-
dungssystem wie in Deutschland. Deshalb sind die Mit-
gliedstaaten, die ihren Verpflichtungen zum Flottenab-
bau nicht nachkommen, zwingend mit Sanktionen zu
belegen.

Die Förderung der Fischereiwirtschaft soll künftig
über den neuen Europäischen Meeres- und Fischerei-
fonds erfolgen. Verglichen mit den Strukturfonds handelt
es sich hier um einen vergleichsweise kleinen EU-Fonds
mit einem jährlichen Volumen von insgesamt nur rund
1 Milliarde Euro für alle Mitgliedstaaten zusammenge-
nommen. Umso wichtiger ist es, dass diese Mittel zielge-
richtet eingesetzt werden. Insbesondere muss eine Ver-
zahnung mit den übrigen EU-Fonds erfolgen, um eine

Zu Protokoll gegebene Reden





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)


größtmögliche Wirkung bei der Begleitung des Struktur-
wandels in den Regionen zu gewährleisten, in denen die
Fischerei eine besondere Rolle spielt.

Wir sind äußerst besorgt darüber, dass die Kommis-
sion für den neuen Fischereifonds zusätzliche bürokrati-
sche Lasten vorsieht. Bereits in der derzeitigen Förderpe-
riode ist eine Reihe deutscher Bundesländer aus dem
laufenden Förderprogramm ausgestiegen. Die Verwal-
tungskosten stehen in keinem vertretbaren Verhältnis
mehr zur tatsächlichen Förderung. Für den Fall, dass es
zu keiner durchgreifenden Verwaltungsvereinfachung und
Kostenentlastung kommen sollte, haben weitere deutsche
Länder ihren Ausstieg angekündigt. Das müssen wir un-
bedingt vermeiden. Deshalb setzen wir uns in unserem
Antrag für eine spürbare Senkung der Bürokratie-
kosten dieses kleinen Fonds und für deutliche Vereinfa-
chungen bei der Beantragung von Maßnahmen ein.

Hinsichtlich der Förderschwerpunkte ist uns wich-
tig, dass künftig Forschung und Entwicklung im Fische-
reibereich ein stärkeres Gewicht erhalten, insbesondere
was die Entwicklung innovativer und selektiver Fang-
methoden angeht. Wir halten es für richtig, dass die
Aquakultur zu einem neuen Förderschwerpunkt werden
soll. Gleichzeitig setzen wir uns dafür ein, dass die För-
derung der bestehenden Aquakulturbetriebe weiterge-
führt wird. Zur besseren Durchsetzung von EU-Recht
müssen Fischereiunternehmen, die mehrfach oder gra-
vierend gegen Fischereivorschriften verstoßen haben,
künftig von der Vergabe von Fördermitteln ausgeschlos-
sen werden.

Besondere Verantwortung trägt Europa auch bei der
Nutzung von Fischbeständen außerhalb der EU-Gewäs-
ser, etwa vor der Küste Westafrikas. Umso wichtiger ist
es, dass wir hier in der europäischen Fischereipolitik für
klare Regeln sorgen. Dort sind die gleichen strengen
Maßstäbe anwenden wie in den EU-Gewässern. Das
Nachhaltigkeitsprinzip darf nicht an den Grenzen der
EU-Gewässer haltmachen. Deshalb halten wir es für
richtig, dass die EU-Fischereifahrzeuge nur den Über-
schuss an Fangmengen fischen können, der von den Fi-
schern in den Entwicklungsländern nicht selbst genutzt
werden kann. Dieser Grundsatz muss in allen Fischerei-
partnerschaftsabkommen der EU fest verankert werden.
Gleichzeitig muss in diesen Abkommen mehr Transpa-
renz über zusätzliche Vereinbarungen der Partnerstaa-
ten mit Drittländern eingefordert werden. Nur so lässt
sich wirksam verhindern, dass die Fischbestände zulas-
ten der lokalen Fischer übernutzt werden.

Parallel dazu halten wir flankierende Maßnahmen
für erforderlich: Die Entwicklungsländer müssen ver-
stärkt dabei unterstützt werden, eine effektive Fischerei-
kontrolle in ihren Hoheitsgewässern durchzuführen und
Rechtsvorschriften durchzusetzen. Kapazitäten für wis-
senschaftliche Untersuchungen zur Bestandsabschät-
zung müssen sowohl innerhalb der EU als auch in den
Partnerländern gestärkt werden. Die finanzielle Unter-
stützung des Fischereisektors in den Partnerländern
muss von den Zahlungen für Fangmöglichkeiten entkop-
pelt und an das Prinzip der nachhaltigen Fischerei ge-
bunden werden.

Bei alledem kommt dem Verbraucher eine wesentli-
che Rolle zu. Wir alle wollen mehr Transparenz für die
Verbraucher, davon sind Fischereierzeugnisse natürlich
nicht ausgenommen. Gerade die Verbraucher können
durch ihre Kaufentscheidung eine nachhaltige Fischerei
wesentlich unterstützen. Dafür muss der Verbraucher
aber wissen, was wirklich in der Truhe oder aber der
Dose ist. Deshalb setzen wir uns für eine europäische
Rahmenregelung ein, die Mindestkriterien für Nachhal-
tigkeitssiegel in der Fischerei vorsieht. Hier muss der
vorliegende Kommissionsvorschlag noch deutlich nach-
gebessert werden.

Die Fischereipolitik ist ein weites Feld, auf dem wirt-
schaftliche Interessen, der Schutz unserer natürlichen
Lebensgrundlagen, der wirkungsvolle Einsatz von Steu-
ergeldern und die Transparenz für die Verbraucher in
Einklang gebracht werden müssen. Dieser schwierigen
Aufgabe haben wir uns gestellt. liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, Sie müssen nur noch eines
tun: zustimmen.


Holger Ortel (SPD):
Rede ID: ID1719539900

Ich möchte zunächst mein Bedauern darüber ausdrü-

cken, dass wir heute nicht über einen gemeinsamen An-
trag aller Fraktionen sprechen. Dass die Union die Zu-
sammenarbeit mit den Linken verweigert, ist genauso
bedauerlich wie das Aussteigen der Grünen kurz vor
dem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen. Aber
auch, wenn wir hier heute nicht über einen gemeinsa-
men Antrag sprechen, kann ich feststellen, dass wir alle
von der Notwendigkeit dieser Reform der Gemeinsamen
Fischereipolitik überzeugt sind.

Das Grünbuch der Europäischen Kommission aus
dem Jahr 2009 hat ein düsteres Bild vom Zustand der
Fischbestände in europäischen Gewässern, von den
Flotten und vom Fischereimanagement gezeichnet. In
der Zwischenzeit wurden verschiedenen Lösungsmög-
lichkeiten ausprobiert, einige mit Erfolg, andere nicht.

Sehr erfolgreich waren die Langzeitmanagement-
pläne. Diese müssen in Zukunft ausgeweitet werden. Al-
lerdings müssen diese Pläne auch mehrere Arten umfas-
sen, denn verschiedene Arten wie zum Beispiel Hering
und Dorsch stehen oftmals in einer Jäger-Beute-Bezie-
hung.

Weniger erfolgreich war das Management mittels
Quote und Aufwand. Diese Doppelung hat sich nicht be-
währt. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass es nur
noch dort Management mittels Aufwand gibt, wo es
keine Quoten gibt. Das ist vor allem im Mittelmeer der
Fall.

Die erfolgreiche Anwendung einiger Instrumente
zeigt sich auch in kürzlich von der Europäischen Kom-
mission veröffentlichten Zahlen. Der Anteil nachhaltig
bewirtschafteter Bestände wuchs von 6 Prozent im Jahre
2005 auf 53 Prozent im Jahre 2012. Scholle und Hering
in der Nordsee haben die Wiederaufbauziele seit Jahren
beständig überschritten. Nur beim Kabeljau bleibt noch
einiges zu tun.

Zu Protokoll gegebene Reden





Holger Ortel


(A) (C)



(D)(B)


In der Ostsee werden mittlerweile 70 Prozent der ge-
samten Anlandungen nachhaltig gefischt. Dem Ziel ei-
ner Befischung auf MSY-Niveau, dem Niveau des nach-
haltigen Dauerertrages, bis zum Jahr 2015 kommen wir
mit großen Schritten näher. Es besteht aber leider immer
noch eine deutliche Diskrepanz zwischen den nördlichen
und den südlichen EU-Gewässern. Im Mittelmeer gelten
noch immer 90 Prozent der Bestände als überfischt.

Wir verfügen also bereits über die Instrumente für ein
nachhaltiges Fischereimanagement. Aber die Vorausset-
zungen dafür sind eben vielfach noch nicht gegeben. Die
Flotten einiger Mitgliedstaaten sind zu groß, und effek-
tive Kontrolle kann nicht überall gewährleistet werden.

Nun möchte ich auch noch etwas zu den vorliegenden
Anträgen sagen. Frau Ministerin Aigner hat sich mehr-
fach und öffentlichkeitswirksam für ein Nachhaltigkeits-
siegel eingesetzt. Davon fehlt jetzt aber jede Spur. Frau
Ministerin hat am 13. Juni 2012 erklärt, dass sie sich in
den weiteren Verhandlungen dafür einsetzen werde, dass
EU-weite Mindestkriterien für freiwillige Nachhaltig-
keitssiegel der Wirtschaft festgelegt werden. Jetzt for-
dern Sie auch, dass Frau Ministerin sich weiterhin dafür
einsetzen soll. Wir werden beobachten, mit welchem Er-
folg.

Die Rednerin der Union hat in unserer letzten De-
batte zu diesem Thema behauptet, dass Verbraucher be-
reit seien, für nachhaltig gefangenen Fisch höhere
Preise zu zahlen. Das sollte bedeuten, dass die Fische-
reibetriebe die Kosten für den Einbau von Überwa-
chungskameras an Bord wieder über höhere Preise he-
reinholen könnten. Da muss ich Sie fragen, in welcher
Welt leben Sie denn?

Das Fisch-Informationszentrum veröffentlicht jedes
Jahr aktuelle Zahlen zum Fischverzehr in Deutschland.
Aus den aktuellen Zahlen geht hervor, dass der größte
Teil des Fisches als Tiefkühlware beim Discounter ge-
kauft wird. Glauben Sie ernsthaft, dass der Fischer dem
Einkäufer des Discounters sagen kann: Ich musste jetzt
für 30 000 Euro Kameras einbauen und möchte deshalb
jetzt von dir mehr Geld haben? – Sie haben sich immer
vehement gegen den Einbau von Kameras an Bord aus-
gesprochen. Jetzt wollen Sie sogar Anreize zum Einbau
von Kameras schaffen.

In ihrer Rede hat die Berichterstatterin der Union
auch eine Übergangsphase für den Systemwechsel von
Anlande- zu Fangquoten vorgeschlagen, in der die
Fischer auf freiwilliger Basis beteiligt werden. Ich habe
Ihnen schon damals gesagt, dass das nicht geht, denn
die Gefahr, dass viele Fischer in dieser Übergangsphase
zu viel fischen, um Referenzen zu erlangen, ist zu groß.
Das fordern Sie im vorliegenden Antrag nun nicht mehr.

Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie viele Forderun-
gen in Ihrem Antrag haben, die von der SPD kommen.
Die Urheberrechte werden wir aber trotzdem nicht be-
anspruchen. Eine ganz wichtige Forderung ist dabei die
Ersatzbauförderung unter bestimmten Bedingungen.
Die Bundesregierung war bislang strikt gegen die Neu-
bauförderung. Zu diesem Sinneswandel kann ich Sie be-
glückwünschen.

Dem Antrag der Koalition können wir aber nicht zu-
stimmen, denn auch sie fordert verbindliche Anlandege-
bote im Rahmen der externen Dimension. Abgesehen
von der Frage, wie verbindlich ein Gebot ist, haben Sie
die tatsächliche Situation vor Ort nicht berücksichtigt.
Eine entsprechende Logistik für die Anlandung existiert
nämlich nicht. Diese muss erst gebaut werden, und dafür
braucht es entsprechende Abkommen und eine zweckge-
bundene Mittelverwendung in den Partnerländern.

Es ist keine Frage, dass wir die Abkommen der EU
mit den westafrikanischen Staaten verbessern müssen.
Das Mauretanien-Abkommen ist dabei ein Meilenstein.
Hier wurden die Küstenfischer besser geschützt. Das
Menschenrecht auf Nahrung ist explizit erwähnt, und
über eine zweckgebundene Mittelverwendung wird si-
chergestellt, dass das Geld nicht irgendwo versickert.
Darüber hinaus fordern wir aber noch mehr für die ex-
terne Dimension.

Weit wandernde Arten müssen von allen Küstenstaa-
ten verwaltet werden, in deren Gewässern sie sich bewe-
gen, und zwar gemeinsam im Rahmen einer regionalen
Organisation. Das heißt, dass nicht nur Mauretanien
festlegen können darf, was ein Überschuss ist. Dieser
Überschuss muss auch vom Senegal und den anderen
betroffenen Küstenstaaten festgelegt werden. Die Reeder
müssen einen angemessenen Teil der Zugangskosten tra-
gen.

Obwohl Ihnen die Signalwirkung des Ausgangs der
derzeitigen schwierigen Situation des Mauretanien-Ab-
kommens bekannt ist, sparen Sie es einfach aus. Haben
Sie die Tragweite des Abkommens nicht erkannt oder ist
es Uneinigkeit in den eigenen Reihen?

Außerdem halte ich es für falsch, eine Stellungnahme
nach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz zu verabschieden, die
nicht von einer fraktionsübergreifenden Mehrheit getra-
gen wird.

Die Grünen kann ich zu ihrem Antrag größtenteils be-
glückwünschen. Im Prozess zur Reform der Gemeinsa-
men Fischereipolitik haben Sie sich offensichtlich viele
Gedanken über die Fischerei in Deutschland und Eu-
ropa gemacht und sind von Ihren früheren dogmatischen
Positionen abgerückt.

Ansprechen möchte ich an dieser Stelle die Ausnah-
men vom Rückwurfverbot. In einigen Fischereien er-
scheint es tatsächlich sinnvoll, dass diese ihre Beifänge
wieder über Bord werfen können, da ein erheblicher An-
teil davon überlebt.

Trotz allem ist Ihnen dieser Übergang zu einer prag-
matischen Position nicht vollends geglückt: Die fische-
reipolitische Sprecherin der Grünen hat sich in der Ver-
gangenheit vielfach zur Küstenfischerei in Deutschland,
vor allem den Krabbenfischern, geäußert. Dort wollte
sie unter anderem den Fischern ermöglichen, mehr In-
vestitionsmittel abrufen zu können. Mit dem vorliegen-
den Antrag tun die Grünen aber genau das Gegenteil.
Mit der vorgesehenen Vergabe von Fischereibefugnissen
über mehrere Jahre gibt die EU den Fischern Sicherheit.
Damit können die Fischer zur Bank gehen, und sie be-
kommen wesentlich einfacher die notwendigen Kredite

Zu Protokoll gegebene Reden





Holger Ortel


(A) (C)



(D)(B)


für ihre Investitionen. Sie wollen genau diese Sicherheit
für die Fischer kaputtmachen und ihnen stattdessen
noch Verwaltungsgebühren aufbürden.

Darüber hinaus wollen Sie bestehende fischereiliche
Nutzungen in Schutzgebieten einschränken. Das bedeu-
tet, dass keine Fischerei auf Krabben im Wattenmeer
stattfinden soll. Dabei wissen Sie ganz genau, dass das
Wattenmeer auch mit den Krabbenfischern UNESCO-
Weltnaturerbe wurde.

Obwohl die Positionen der SPD also an vielen Stellen
mit den Positionen der Grünen übereinstimmen, können
wir das nicht mitmachen und dem Antrag der Grünen
nicht zustimmen.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1719540000

Leider beraten wir heute keinen fraktionsübergreifen-

den Antrag zur Reform der gemeinsamen europäischen
Fischereipolitik, GFP, nach 2013, obwohl wir uns in der
politischen Bewertung der bisherigen GFP ebenso wie
in unseren Vorstellungen über die notwendigen Verbes-
serungen für die zukünftige Fischereipolitik grundsätz-
lich fraktionsübergreifend einig sind. Ich bedauere es
sehr, dass es uns aufgrund der Uneinigkeit innerhalb der
Opposition nicht gelungen ist, mit einer starken gemein-
samen Stimme der Bundesregierung für die Verhandlun-
gen in Brüssel den Rücken zu stärken. Dennoch möchte
ich mich bei allen Fischereiexperten für die konstrukti-
ven Diskussionen bedanken, auch wenn Sie sich in Ihren
Fraktionen nicht gegen überzogene Forderungen aus
den Reihen der Entwicklungshilfe durchsetzen konnten.
Es ist politisch der falsche Ansatz, mit der Reform der
Gemeinsamen Fischereipolitik der EU weitreichende
entwicklungspolitische Ziele durchsetzen zu wollen.
Dieses Reformvorhaben hat einen eigenen Wert. Teile
der Opposition erkennen ihn offensichtlich nicht an und
sind nicht bereit, für faire Wettbewerbsbedingungen für
unsere Fischer einzutreten.

Warum ist eine Überarbeitung der europäischen Fi-
schereipolitik überhaupt notwendig? Der Blick auf die
Zahlen und Fakten des Fischereisektors ebenso wie der
Fischerei- und Meereswissenschaften macht deutlich:
Die EU-Fischereipolitik hat trotz einiger Erfolge ihre
Ziele bisher nicht erreicht. Weder hat sich die wirt-
schaftliche Lage des Fischereisektors in Deutschland
wie in Europa nachhaltig verbessert, noch befinden sich
alle Fischbestände auf einem zukunftssicheren Niveau.
Auch wenn einige Maßnahmen zur Sicherung der Be-
stände erste Erfolge aufweisen und dabei auch die deut-
schen Fischereibetriebe endlich von großen Einschnit-
ten der Vergangenheit profitieren können, sind
vielfältige Verbesserungen notwendig.

Die deutschen Fischerinnen und Fischer haben in
den letzten Jahren bereits durch tiefe Einschnitte bei den
Fangquoten und den notwendigen Kapazitätsabbau
ihren Anteil zu einer nachhaltigeren Fischerei beige-
steuert. Deswegen hat der Erhalt der relativen Stabilität
bei der Vergabe der Fangquoten für die FDP eine sehr
hohe Priorität. Die Fangkapazitäten der Fischereiflot-
ten, vor allem der großen Fischereinationen wie Spa-
nien, Italien oder Frankreich, sind dagegen nicht im

Einklang mit den eigenen Fangquoten und vorhandenen
Fischbeständen. Eine zukünftige, nachhaltige GFP wird
daran gemessen werden, ob es gelingt, die Überkapazi-
täten abzubauen und eine nachhaltige Bestandsbewirt-
schaftung nach dem Prinzip des höchstmöglichen
Dauerertrags, MSY – maximum sustainable yield,
durchzusetzen. Nur dann ist sowohl der Erhalt unserer
Meeresumwelt wie auch die Zukunft der Fischerinnen
und Fischer gesichert. In den ärmeren Ländern ist nach
Auffassung der FDP der Abbau der Fangquoten durch
Schaffung alternativer Einkommensmöglichkeiten zu
unterstützen. Ansonsten geschieht der Abbau nur auf
dem Papier, aber nicht in der Realität.

Aus diesem Grund halte ich es für zwingend notwen-
dig, Forschung und Innovation zu einem Schwerpunkt
der neuen Fischereipolitik zu machen. Einerseits müssen
wir mehr, genauere und zuverlässigere Daten über
Größe und Entwicklung von Fischbeständen erheben,
um Zusammenhänge besser verstehen und Vorhersagen
treffen zu können. Andererseits muss die Entwicklung in-
novativer, schonender und spezifischer Fangmethoden
vorangetrieben und die Aquakultur als nachhaltige
Alternative ausgebaut und weiterentwickelt werden.
Dies muss eine Hauptaufgabe des neuen Europäischen
Meeres- und Fischereifonds werden.

Es wird nach aktuellen Schätzungen inzwischen mehr
als die Hälfte der europäischen Bestände im Nordostat-
lantik nachhaltig bewirtschaftet. Allerdings fehlen für
viele Bestände valide wissenschaftliche Daten darüber,
wo der spezifische MSY liegt und wie dieser in einem
notwendigen ökosystemaren Ansatz zu berechnen ist.
Wir begrüßen die Vorschläge der Kommission, mehrjäh-
rige Bewirtschaftungspläne für alle Fischbestände
einzuführen. Diese Bewirtschaftungspläne vereinen öko-
logische Erfordernisse und wirtschaftliche und soziale
Überlegungen und leisten einen wichtigen Beitrag zur
Planungssicherheit der Fischer. Das beste Beispiel für
einen erfolgreichen Bewirtschaftungsplan ist der Plan
für den Dorsch in der Ostsee, dessen Bestand seit der
Einführung des Planes eine erfreuliche Entwicklung ge-
nommen hat und heute größer ist als vor 20 Jahren. Es
gilt, diesen Erfolg auf alle anderen Bestände auszudeh-
nen.

Aus unserer Sicht, und hier sind wir uns einig mit der
Bundesregierung und dem Europäischen Parlament, ist
es keine Frage mehr, ob ein Rückwurfverbot und Anlan-
degebot für unerwünschte Beifänge kommt, sondern wie
es ausgestaltet werden soll. Um keine Ressourcen zu
verschwenden und gleichzeitig dringend notwendige
wissenschaftliche Daten zu erheben, ist die Anlandung
und Dokumentation unerwünschter Beifänge wichtig.
Ausnahmen dürfen hierbei nur für Fischereien gelten,
bei denen wissenschaftlich eine hohe Überlebensrate
der Rückwürfe nachgewiesen wurde. In der handwerkli-
chen Fischerei konnten für einige Fischarten Überle-
bensraten von über 90 Prozent nachgewiesen werden.

Die externe Dimension der GFP und die Ausgestal-
tung der partnerschaftlichen Fischereiabkommen mit
Drittstaaten wurden hier im Bundestag kontrovers dis-
kutiert. Wir wissen, dass die Europäische Union nicht in

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)


der Lage ist, den Bedarf aus eigenen Gewässern zu
decken. Wir importieren, gemessen am Wert, etwa
24 Prozent der weltweit produzierten Fischereizeug-
nisse. Die Europäische Union hat als weltgrößter
Importeur von Fischereierzeugnissen eine besondere
Verantwortung für die nachhaltige Nutzung eigener wie
drittstaatlicher Meeresressourcen; darin sind wir uns
einig.

Das allgemeine Menschenrecht auf Nahrung muss in
der europäischen Fischereipolitik ein wichtiger Schwer-
punkt sein und verstärkt beachtet werden. Darin sind
wir uns ebenfalls einig. Dennoch kann die GFP nicht
das geeignete Instrument sein, um die Probleme der
Welternährung zu lösen. Werden unüberwindbare
Hürden aufgebaut, fischen zukünftig chinesische oder
koreanische Fangflotten statt europäischer Fischer. Das
löst weder das Problem der Überfischung in Drittgewäs-
sern, noch wird dort der Hunger der einheimischen
Bevölkerung gelindert.

Abschließend möchte ich anerkennen, dass sich die
Bundesregierung bei den bisherigen Verhandlungen zur
GFP ebenso wie bei den jährlichen Quotenfestlegungen
vorbildlich verhalten hat. Für die Zukunft unserer
Fischereiressourcen ebenso wie des Fischereisektors,
der wirtschaftlich wie touristisch in unseren Küsten-
gebieten nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, müssen
wir die Fischereipolitik neu ausrichten. Dabei müssen
erstmals die Kommission, das Europäische Parlament
sowie der Rat zusammenfinden. Darum ist es aus unse-
rer Sicht wichtig, dass der Deutsche Bundestag ein star-
kes Signal nach Brüssel sendet und der Bundesregierung
den Rücken stärkt. Ich lade deshalb alle Kolleginnen
und Kollegen aus der Opposition ein, sich aufgrund der
hohen inhaltlichen Übereinstimmungen, die sich in den
ausführlichen Beratungen gezeigt haben, unserem
Antrag anzuschließen.


Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719540100

Über die EU-Fischereipolitik, GFP, wird aktuell weit

weniger gestritten als über die EU-Agrarpolitik nach
2014, obwohl beide Bereiche bis Ende 2013 politisch
neu ausgerichtet werden sollen und obwohl es auch in
der GFP dringenden Änderungsbedarf gibt. Das stand
ungewöhnlich deutlich schon 2008 im Grünbuch der
EU-Kommission, denn viele der selbstgesteckten Ziele
wurden verfehlt. Aus Sicht der Linken gerät in der De-
batte leider häufig ein wichtiges Problem außer Sicht:
Die Zukunftsaussichten der Fischerinnen und Fischer
sind nicht besser geworden. Damit ist klar: Eine Kehrt-
wende muss her.

Das Thema ist auch in der Bundesrepublik wichtig –
trotz relativ wenig Meer und Hochseefischerei. Deshalb
haben die fischereipolitisch zuständigen Abgeordneten
aller fünf Fraktionen seit Monaten an einem gemeinsa-
men Antrag zur EU-Fischereireform gearbeitet. Eigent-
lich waren wir uns in vielen Punkten einig. Trotzdem ist
das Projekt gescheitert. Erst wurde erneut die Linksfrak-
tion aus der Gruppe ausgeschlossen, weil die CDU/
CSU-Fraktion Parteipolitik über demokratische Regeln
stellt. Kurz vor dem Ziel zerbrach die Gruppe im um-

welt- und entwicklungspolitischen Streit – aus meiner
Sicht eine vergebene Chance. Die in der Fischerei Be-
schäftigten hätten die Unterstützung ihrer Interessen
durch eine einheitliche Stimme aus dem deutschen Par-
lament für eine nachhaltige Fischerei dringend ge-
braucht.

Die Reformvorschläge aus Brüssel gehen aus Sicht
der Linken in die richtige Richtung. Die GFP muss eine
nachhaltige berufliche Perspektive für die Menschen am
und mit dem Meer unterstützen. Das ist mehr als eine ro-
mantische Hafenidylle mit Fischbrötchen. Fischerinnen
und Fischer brauchen ein gutes Einkommen und gute
Arbeitsbedingungen. Dazu werden faire, kostende-
ckende Erzeugerpreise gebraucht. Das ist auch ange-
sichts der steigenden Kosten, zum Beispiel für Schiffs-
diesel, durchaus eine Herausforderung. Grundlage für
diese wirtschaftlichen Perspektiven ist und bleibt aber
eine nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen
Fischbestände. Das muss das Ziel sein.

Drei Themen sind uns Linken auf dem Weg zu einer
nachhaltigen GFP besonders wichtig:

Erstens. Es muss ausreichend Fisch vorhanden sein
und gefangen werden, die Ware muss fair bezahlt und re-
gional vermarktet werden können.

Zweitens. Die Förderung muss sich auf die Erforder-
nisse einer nachhaltigen Produktion von Fisch konzen-
trieren.

Drittens. EU-Fisch-Trawler müssen mit ökologischer
und sozialer Verantwortung agieren.

Das führt zurück zum Schlagwort „Überfischung der
Meere“. Betrachtet man dieses Schlagwort einer be-
drohlichen Situation genauer, ergibt sich ein differen-
zierteres Bild. Das soll keine Entwarnung sein, sondern
zum kritischen Hinterfragen einladen. Laut dem Fische-
reiverband ist der Anteil überfischter Bestände in den
vergangenen sieben Jahren von 94 auf 47 Prozent zu-
rückgegangen.

Ein Beispiel: Dem Ostseedorsch geht es heute deut-
lich besser. Aktuell ist der Bestand sogar auf Rekord-
niveau. Das ist bei aller berechtigten Kritik an der GFP
ein großer, wenn auch hart erkämpfter Erfolg, der übri-
gens den natürlichen Druck für die Beutearten des
Dorschs, Hering und Sprotte, erheblich erhöht.

Auch die Scholle wird unterdessen nach dem MSY-
Prinzip – das ist der höchstmögliche Dauerertrag – be-
fischt. Die sich erholenden Bestände haben zu höheren
Fängen geführt, die wiederum die Erzeugerpreise unter
Druck gesetzt haben. Bis 2015 soll dieser MSY-Ansatz
bei allen Arten und Beständen gelten. Das ist richtig so.
Aber wie das Dorsch-Beispiel zeigt, muss die EU zu-
künftig den Ökosystemansatz in der Fischerei stärken,
das heißt, Mehrjahrespläne als Bewirtschaftungsgrund-
lage erarbeiten und die Beziehungen zwischen den
Fischarten berücksichtigen.

Besonders wichtig ist mir auch der Europäische Mee-
res- und Fischereifonds, EMFF. Mit ihm werden zum
Beispiel unterstützende Maßnahmen für die Binnenfi-
scherei finanziert. Mit der neuen EU-Fischereipolitik

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Kirsten Tackmann


(A) (C)



(D)(B)


soll nun erstmals auch die Aquakultur in die GFP einbe-
zogen werden. Das löst nicht nur Freude aus bei den Be-
schenkten. Binnenfischerinnen und Binnenfischer kla-
gen schon jetzt über hohe bürokratische Hürden. Ich
erwarte, dass Brüssel darauf reagiert und dass die Kom-
mission für eine vereinfachte Antragsstellung sorgt. Die
Linksfraktion unterstützt den weiteren Ausbau der hei-
mischen Aquakultur, wenn sie nachhaltig ist. Dazu wird
unter anderem mehr Forschung gebraucht. Binnen-
fischerinnen und Binnenfischer stehen unter dem Druck
billiger Fischimporte, die sozial und ökologisch kaum
verantwortbar sind. Dazu kommen wasser- und natur-
schutzrechtliche Auflagen. Hier ist mehr Interessensab-
wägung mit Fingerspitzengefühl notwendig. Die einhei-
mische Forellenzucht zum Beispiel ist eine wichtige
Lebensmittelproduktion und darf nicht den Bach hinun-
tergehen, auch wenn wir die Herstellung der Durchläs-
sigkeit von Flussläufen als wichtiges Naturschutzan-
liegen unterstützen. Aber wir brauchen auch aus
Nachhaltigkeitsgründen mehr regional erzeugten Fisch,
nicht weniger. In meinem Heimat-Bundesland Branden-
burg stammt nur jeder zehnte verspeiste Süßwasserfisch
aus märkischen Fischereibetrieben. Das ist zu wenig.

Die EU trägt auch international Verantwortung für
die nachhaltige Bewirtschaftung der Gewässer. Im Rah-
men der sogenannten externen Dimension der GFP fi-
schen EU-Trawler auch in weit entlegenen Fischfang-
gründen. Über die Abkommen mit den betroffenen
Staaten bekommen EU-Schiffe Zugang zu den Fisch-
gründen. Als Linksfraktion sehen wir diese Abkommen
sehr kritisch. Zu oft sind diese weder nachhaltig noch
kommen sie der lokalen Bevölkerung zugute. Selbst die
Koalition bestätigt diese Defizite in ihrem Antrag. Die
Linke fordert daher wirklich faire Partnerschaftsabkom-
men unter Beachtung der neuen FAO-Leitlinien.

Ein schwerer Fehler der bisherigen GFP war das
Rückwurfverbot, also die Pflicht, Teile des Fangs wieder
über Bord zu werfen, für die keine Fangerlaubnis vor-
liegt. Diese „Rückwürfe“ machen aber nur Sinn bei Ar-
ten mit sehr hoher Überlebenswahrscheinlichkeit, zum
Beispiel bei einigen Haiarten oder bei bestimmten Platt-
fischen. Deshalb begrüßen wir die neue Regelung mit
Rückwurfverbot und Anlandegebot. Und es ist gut, dass
der fischereibezogene statt eines artbezogenen Ansatzes
gewählt wurde. Der angelandete Beifang sollte aber
nicht nur zu Fischmehl oder -öl, sondern auch als Le-
bensmittel verarbeitet werden.

Die Linksfraktion enthält sich bei beiden Anträgen.


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719540200

Wir Grüne wollen, dass die Reform der EU-Fische-

reipolitik die Überfischung der europäischen Gewässer
beendet und die Nutzung der Meeresressourcen durch
europäische Fischer gerecht und umweltverträglich
gestaltet. So können sich die Fischbestände erholen.
Davon profitieren nicht nur Natur und Umwelt, sondern
über kurz oder lang auch die Fischer. Das ist die Leit-
linie unserer Fischereipolitik. Dass diese Leitlinie
hundertprozentig richtig ist, kann am Beispiel der im
Nordostatlantik erreichten Bestandserholungen ein-

drucksvoll belegt werden. Für einen dauerhaft nachhal-
tigen Ertrag ist es aber notwendig, die von den Wissen-
schaftlern empfohlenen Fangmengen nicht mehr
mutwillig zu überschreiten!

Das ist aber immer noch nicht bei allen Beständen
der Fall. Laut Mitteilung der EU-Kommission wurden
aktuell bei 11 Prozent der Fischbestände im Nordostat-
lantik und seinen Nebenmeeren Nord- und Ostsee
Gesamtfangmengen oberhalb des Niveaus einer nach-
haltigen Bewirtschaftung festgelegt. Im Jahr 2011 waren
es noch 23 Prozent und 2003 sogar 46 Prozent. Die
Richtung stimmt also. Aber es sind immer noch 11 Pro-
zent zu viel!

Dass sich die Mäßigung auszahlt, kann man an der
Entwicklung des Anteils der überfischten Bestände able-
sen: Er ist im Nordostatlantik und seinen Nebenmeeren
von 2005 bis 2012 von über 90 Prozent auf knapp die
Hälfte zurückgegangen. Viele Bestände erholen sich
also bereits. Das ist bei diesen Beständen auf eine strikte
Politik der vorübergehenden Fangzurückhaltung
zurückzuführen, auf die wir Grüne gegen erhebliche
Widerstände seit Jahr und Tag drängen.

Das Glas ist aber genauso halb voll, wie es halb leer
ist. Denn mit knapp der Hälfte ist das Maß der über-
fischten Bestände im Nordostatlantik und seinen Neben-
meeren immer noch erschreckend hoch. Noch erschre-
ckender ist die Situation im Mittelmeer und im
Schwarzen Meer. Dort sind die Fortschritte erheblich
geringer: Lediglich 13 von 65 beurteilten Beständen
werden gemäß MSY und damit nachhaltig bewirtschaf-
tet. 52 Bestände werden überfischt. Hier wirkt es sich of-
fenbar aus, dass sich insbesondere Mittelmeeranrainer
bei den Quotenverhandlungen alljährlich gegen ein
Ende der Überfischung wehren. Die Quittung erhalten
sie und ihre Fischwirtschaft in Form von sinkenden
Fischereierträgen! Daraus sollte die Fischereipolitik
endlich ihre Lehren ziehen und die Politik der Über-
fischung stoppen!

Die deutschen Fischer merken mittlerweile, dass sich
die für sie durchaus schmerzliche Politik der Fangzu-
rückhaltung der letzten Jahre, die bei ihnen ja auch
nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen ist, für sie all-
mählich auszahlt. Sie profitieren heute bei mehreren
Beständen von steigenden Fangmengen – mit der gene-
rellen Aussicht, dass die Fangmengen auch in Zukunft
hoch bleiben, wenn man weiter auf die Fangmengen-
empfehlungen der Fischereibiologen hört und die
Managementpläne einhält und nicht wieder dazu
übergeht, die wissenschaftlichen Empfehlungen zu
missachten.

Diese für die Fischerei positiven Ergebnisse sollten
eigentlich alle Fischer in der EU davon überzeugen,
endlich damit aufzuhören, von den Fischereiministern
höhere Fangmengen einzufordern, als die Fischereibio-
logen empfehlen. Und davon, dass es falsch ist, die EU-
Fischereireform zu torpedieren, das Rückwurfverbot zu
durchlöchern und das Erreichen des maximalen Dauer-
ertrags MSY auf die lange Bank zu schieben sowie den
Fischereirat zu drängen, weiterhin zu hohe Fangmengen
zu beschließen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Cornelia Behm


(A) (C)



(D)(B)


Wir haben intensiv mit den Koalitionsfraktionen und
der SPD darüber verhandelt, wie die EU-Fischereipoli-
tik reformiert werden muss, um die Überfischung zu
beenden. Ich gebe zu: Diese Verhandlungen haben zu
mehr Gemeinsamkeiten geführt, als ich mir am Anfang
erhofft habe. Wir konnten unsere Kollegen bei einigen
Punkten davon überzeugen, unsere Forderungen aufzu-
greifen. Dass wir mit verhandelt haben, das sieht man
vielen Formulierungen des Koalitionsantrages noch an.

Dass aber zum Beispiel die so zentrale Forderung
nach Einhaltung der wissenschaftlichen Empfehlungen
zu nachhaltigen Fangmengen durch den Fischereirat im
Koalitionsantrag immer noch fehlt, macht deutlich, wie
schwer sich Union und FDP mit einer konsequenten
Politik zur Beendigung der Überfischung immer noch
tun. Auch im Bereich der externen Dimension konnten
wir uns nicht einigen, sodass die Verhandlungen über ei-
nem möglichen gemeinsamen Antrag letztlich geschei-
tert sind.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719540300

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der

Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksa-
che 17/10783 zu drei Vorschlägen des Europäischen
Parlaments und des Rates für Verordnungen zur Reform
der gemeinsamen Fischereipolitik der EU, hier: Stel-
lungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23
Abs. 3 des Grundgesetzes. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der An-
trag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken
und Grünen angenommen.

Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10790 mit dem
Titel „Die Überfischung beenden – Vorschläge zur Re-
form der EU-Fischereipolitik überarbeiten“. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD und FDP bei Enthaltung der Linken und Zustim-
mung der Grünen abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 29:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Dr. Konstantin von Notz, Ingrid
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur verfassungs-
rechtlich gebotenen, rückwirkenden
Übertragung ehebezogener Regelungen im öf-
fentlichen Dienstrecht auf Lebenspartner-
schaften

– Drucksache 17/10769 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1719540400

In dem von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Ge-

setzentwurf zur verfassungsrechtlich gebotenen, rück-
wirkenden Übertragung ehebezogener Regelungen im
öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften for-
dern sie eine Rückwirkung des Geltungszeitraumes un-
seres Gesetzes von 1. Januar 2009 auf den 1. Januar
2001.

Ich möchte mich daher zuerst bei den Kolleginnen
und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen bedanken.
Immerhin steckt in Ihrem Antrag wenigstens ein ver-
stecktes Lob an die Koalition. Ja, wir haben im Gegen-
satz zur rot-grünen Regierung, wie im Koalitionsvertrag
zwischen CDU/CSU und FDP vereinbart, die familien-
und ehebezogenen Regelungen im öffentlichen Dienst-
recht per Gesetz vom 14. November 2011 auf Lebens-
partnerschaften übertragen. Mit diesem Gesetz ist eine
vollständige Gleichstellung im Recht des öffentlichen
Dienstes des Bundes mit Wirkung vom 1. Januar 2009
erfolgt.

Das BVerfG hat uns also nicht, wie es bei Rot-Grün
bis 2005 notwendig gewesen wäre, wegen Untätigkeit
ermahnt, sondern lediglich die Rückwirkung bis zum
1. August 2001 weiter gefasst. Bevor ich Ihnen erläu-
tere, warum wir den heute gestellten Antrag dennoch ab-
lehnen, möchte ich einige grundsätzliche Anmerkungen
zur aktuellen Diskussion um die Gleichstellung von Le-
benspartnerschaften machen.

Natürlich diskutieren wir in der Union zum Beispiel
auch über das Für und Wider einer Einführung des Steu-
ersplittings für homosexuelle Paare, wenn sie in einer
eingetragenen Partnerschaft leben. Aber gibt es mit der
Antwort auf diese Frage eine Lösung für das soziale
Kernproblem unserer Gesellschaft, nämlich eine histo-
risch niedrige Geburtenrate von durchschnittlich
1,36 Babys pro Frau? Abermals wurde in dem jetzigen
Karlsruher Urteil darauf hingewiesen, dass es dem Ge-
setzgeber freisteht, die Ehe gegenüber anderen Bezie-
hungsformen zu begünstigen. Hierfür bedarf es gemäß
dem Urteil jenseits des Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs.
1 Grundgesetz aber weiterhin eines hinreichend gewich-
tigen Sachgrundes, der die Benachteiligung anderer
Lebensformen rechtfertigt. Mehrfach habe ich an dieser
Stelle darauf hingewiesen, dass die Weitergabe von
Leben ein solcher gewichtiger Sachgrund für mich
darstellt, der naturgemäß homosexuellen Paaren nicht
möglich ist.

Ich zitiere aus der Begründung des aktuellen Bundes-
verfassungsgerichtsurteiles:

In ihrer Eignung als Ausgangspunkt der Generatio-
nenfolge unterscheidet sich die Ehe zwar grund-
sätzlich von der Lebenspartnerschaft, da aus der
Beziehung gleichgeschlechtlicher Paare grundsätz-
lich keine gemeinsamen Kinder hervorgehen kön-
nen. Dieser Gesichtspunkt kann jedoch nicht als
Grundlage einer unterschiedlichen Behandlung von
Ehegatten und Lebenspartnern herangezogen wer-
den, da er in der gesetzlichen Regelung nicht hin-
reichend umgesetzt ist. Denn das geltende Recht
macht – im Unterschied zu früheren Regelungen –





Armin Schuster (Weil am Rhein)(CDU/CSU)


(A) (C)



(D)(B)


die Privilegierung der Ehe bzw. die Höhe des Frei-
betrags für Ehegatten gerade nicht vom Vorhan-
densein gemeinsamer Kinder abhängig.

Wenn wir dieses Urteil also richtig auslegen, geht es
darum, die Privilegierung der Ehe vom Vorhandensein
gemeinsamer Kinder gesetzlich abhängig zu machen.

Es geht mir nicht darum, einzelne Gruppen zu be-
nachteiligen, es geht auch nicht in erster Linie um Steu-
erpolitik, sondern einzig darum, diejenigen in unserer
Gesellschaft besser zu unterstützen, die sich für Kinder
entscheiden. Das ist Familienpolitik im ureigensten
Sinne. Neben Familien mit Kindern fördert der Staat
heute auch Millionen kinderloser Ehepaare. Insgesamt
wenden wir 15 Milliarden Euro für das Splittingverfah-
ren auf. Das würde ich über ein Familiensplitting sehr
gerne privilegiert Familien mit Kindern zukommen las-
sen. Die Vater-Mutter-Kind-Konstellation ist für uns
nach wie vor die beste, aber gleichwohl nur noch eine
Variante von vielen Lebensformen, in denen Kinder
heute geboren werden und aufwachsen. Deshalb sollten
wir bei den heute vielfältigen Lebensformen nicht die
Geschlechterfrage als gesetzlichen Privilegierungs-
grund diskutieren. Das Kind muss unser Kompass sein.
Daher sollte das geltende Recht so verändert werden,
dass sich die steuerliche Privilegierung von Familien
am Vorhandensein gemeinsamer Kinder orientiert.

Jetzt zu den Gründen, warum wir den Antrag in der
vorliegenden Form ablehnen:

Die vom Bundesverfassungsgericht entschiedene er-
hebliche, rückwirkende Erweiterung von 2009 auf 2001,
wird, anders als im vorliegenden Antrag beschrieben,
gerade im Versorgungs- und Beihilferecht mit erhebli-
chen Kosten verbunden sein. Deshalb geht es uns um
eine präzise Auslegung des Urteils, nicht um die Erfül-
lung eines Wunschkonzerts. Genau genommen hat das
Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet,
rückwirkend zum 1. August 2001 eine gesetzliche
Grundlage für die Gewährung des Familienzuschlags zu
schaffen. Wichtig ist: Das Gericht hat den Anspruch auf
den Kreis derjenigen begrenzt, die einen entsprechenden
Antrag zeitnah gestellt haben, ohne dass über ihren An-
spruch schon abschließend entschieden worden ist, das
heißt die rückwirkende Gewährung betrifft nicht alle po-
tenziellen Empfänger des Familienzuschlags der Stufe 1,
und sie erfolgt frühestens erst ab dem Haushaltsjahr, in
dem ein Antrag gestellt wurde.

Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen er-
streckt die Rückwirkung demgegenüber auf alle ehebe-
zogenen Regelungen im öffentlichen Dienstrecht, nicht
nur auf das Familienrecht, und auf alle eingetragenen
Lebenspartner und soll auch die belohnen, die nicht ei-
nen zeitnahen Antrag gestellt haben.

Insbesondere eine Erstreckung auf alle eingetrage-
nen Lebenspartner ist sehr problematisch. Heute ge-
stellte Ansprüche wären nicht durchsetzbar, da ihnen so-
wohl der Grundsatz der zeitnahen Geltendmachung als
auch Verjährungsregelungen entgegenstehen. Durch
eine gesetzliche Regelung, die alle eingetragenen Le-
benspartner erfasst, würde faktisch ein Verzicht auf den

Grundsatz der zeitnahen Geltendmachung und auf die
Einrede der Verjährung erfolgen. Beides kann wegen
präjudizierender Wirkungen auf anhängige oder künf-
tige Rechtsstreitigkeiten nicht in Betracht kommen. Auch
Grundsätze der sparsamen Haushaltsführung stehen
dem entgegen.

Der Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen geht damit
weit über die Vorgaben des BVerfG hinaus und ist abzu-
lehnen.


Wolfgang Gunkel (SPD):
Rede ID: ID1719540500

In diesem Sommer ereignete sich in Karlsruhe ein

bisher leider altbekanntes Schauspiel – das Bundesver-
fassungsgericht erklärte einen Teil der Gesetzgebung
der Bundesregierung für verfassungswidrig. In diesem
Fall hatte das Gericht am 19. Juni dieses Jahres ent-
schieden, dass die Ungleichbehandlung von eingetragener
Lebenspartnerschaft und Ehe beim beamtenrechtlichen
Familienzuschlag nach § 40 Abs. 1 Nr. 1 Bundesbesol-
dungsgesetz seit dem 1. August 2001 unvereinbar mit
dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1
Grundgesetz ist.

Der Gesetzgeber wird mit dem Beschluss des Bun-
desverfassungsgerichts verpflichtet, den festgestellten
Verfassungsverstoß rückwirkend zum Zeitpunkt der Ein-
führung des Instituts der eingetragenen Lebenspartner-
schaft mit Wirkung zum 1. August 2001 zu beseitigen.

Wieder einmal zeigte das Bundesverfassungsgericht
mehr Lebenswirklichkeit als die amtierende schwarz-
gelbe Bundesregierung. Die Gleichstellung von Schwu-
len und Lesben ist endlich umfassend in allen Bereichen
durchzusetzen.

Es war ein wichtiges Projekt der rot-grünen Bundes-
regierung, mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz 2001
gleichgeschlechtlichen Paaren die Verpartnerung zu er-
möglichen. Das Gesetz war ein Meilenstein der Gleich-
stellung homosexueller Paare und sorgte für mehr Akzep-
tanz gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.
Es hat vielen homosexuellen Menschen ermöglicht, ihre
Liebe offen und vom Gesetz gewürdigt und geschützt zu
leben.

Mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz sollten noch
weit mehr gleichstellende Regelungen umgesetzt wer-
den, unter anderem auch im Beamtenrecht. Diese schei-
terten aber an der fehlenden Zustimmung der CDU/
CSU-FDP-regierten Länder im Bundesrat.

Knapp zehn Jahre nach dem Lebenspartnerschafts-
gesetz legte auch die schwarz-gelbe Bundesregierung
endlich einen Gesetzentwurf vor, der ehebezogene Rege-
lungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartner-
schaften übertragen soll. Dieser Gesetzentwurf hat je-
doch den Makel, dass die Regelungen nicht rückwirkend
zum 1. August 2001, also dem Tag des Inkrafttretens des
rot-grünen Lebenspartnerschaftsgesetzes, gelten.

Im federführenden Innenausschuss des Deutschen
Bundestages stellte die SPD-Fraktion in der abschließen-
den Beratung am 29. Juni 2011 den Änderungsantrag,
das Gesetz rückwirkend zum 1. August 2001 in Kraft zu

Zu Protokoll gegebene Reden





Wolfgang Gunkel


(A) (C)



(D)(B)


setzen. Der Änderungsantrag wurde mit den Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen
die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke
und der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.

Der uns heute vorliegende Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen stellt ebenfalls die Forderung auf, die
gleichstellenden Regelungen rückwirkend zum 1. August
2001 in Kraft treten zu lassen. Dies begrüßen wir als
SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich, entspricht es
doch unserer Forderung vom vorvergangenen Sommer.

Es ist wirklich beschämend, wie die Bundesregierung
bei der Gleichstellung von homosexuellen Paaren zögert.
Obwohl im Koalitionsvertrag angekündigt wurde, die ein-
getragenen Lebenspartnerschaften der Ehe gleichzu-
setzen, hat das Kabinett Anfang des Monats entschieden,
dass es in dieser Legislatur keine steuerliche Gleichstel-
lung beider Formen des Zusammenlebens geben werde.

Vorangegangen war ein Papier von 13 Abgeordneten
der CDU, in dem sie sich dafür aussprechen, eingetra-
gene Lebenspartnerschaften im Steuerrecht der Ehe
gleichzustellen. Das kommt bei der CDU offenbar einem
Tabubruch gleich. Vor allem die CSU will an ihrem anti-
quierten Weltbild festhalten und lehnt eine Gleichbe-
handlung ab, auch der Bundesfinanzminister bremst.
Das Ergebnis ist die bereits erwähnte Kabinettsentschei-
dung.

Die SPD-Bundestagsfraktion wird schnellstmöglich
eine Initiative für einen interfraktionellen Antrag zur
steuerlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Part-
ner mit Eheleuten in den Bundestag einbringen. Es darf
keine weiteren zehn Jahre dauern, bis auch in Deutsch-
land die absolute Gleichstellung von Homosexuellen
Wirklichkeit ist.


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1719540600

Mit dem Gesetz zur Übertragung ehebezogener Re-

gelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspart-
nerschaften hat die christlich-liberale Koalition die
Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnern mit
Ehegatten im Beamtenrecht vor zwei Jahren erfolgreich
umgesetzt. Neben anderen Anpassungen wie der Beihilfe
im Krankheitsfall haben verpartnerte Beamtinnen und
Beamte seitdem ein Anrecht auf Familienzuschlag nach
dem Bundesbesoldungsgesetz von etwa 108 bis 113 Euro
monatlich. Bis zum damaligen Zeitpunkt war der Zu-
schlag noch verheirateten Beamten vorbehalten.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Ent-
scheidung vom 12. Juni 2012 weiteren Handlungsbedarf
in Bezug auf den Familienzuschlag aufgezeigt. Die
Gleichstellung im Beamtenrecht wurde 2011 mit Rück-
wirkung auf das Jahr 2009 von der Koalition beschlos-
sen. Da gleichgeschlechtliche Paare aber schon seit
2001 eingetragene Lebenspartnerschaften eingehen
können, soll nun auch die Rückwirkung auf 2001 ausge-
weitet werden. Die zwischenzeitliche Ungleichbehand-
lung mit der Ehe ist verfassungswidrig. Gerne wäre das
Bundesjustizministerium bei der Rückwirkung einen
Schritt weiter gegangen. Am Ende steht in Koalitionen
aber nun einmal ein Kompromiss.

Der vorliegende Gesetzentwurf der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen nimmt das Urteil zum Anlass zu ei-
nem unüberlegten Schnellschuss, den die Koalition nicht
mittragen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat in
seinem Urteil ganz klar bestätigt, dass die Rückwirkung
für diejenigen Beamten gelten soll, die einen zeitnahen
Antrag gestellt hatten. Demgegenüber bezieht der Ge-
setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die
Rückwirkung auch auf diejenigen Beamten, die den Fa-
milienzuschlag nicht beantragt hatten. Zudem weitet der
Gesetzentwurf die Rückwirkung auf alle die Ehe betref-
fenden Regelungen im Beamtenrecht aus, während sich
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur auf den
Familienzuschlag beschränkt.

Die Koalitionsfraktionen prüfen derzeit weitere
Verbesserungen bei der Gleichstellung eingetragener
Lebenspartnerschaften, die im von der rot-grünen Bun-
desregierung auf den Weg gebrachten Lebenspartner-
schaftsgesetz unter den Tisch gefallen sind. Mit dem
Gesetzentwurf aus dem Bundesjustizministerium zur Be-
reinigung des Rechts der Lebenspartner sind zahlreiche
Angleichungen im Zivil- und Strafrecht geplant. In die-
ser Legislaturperiode haben wir bereits bei Erbschaft-
und Grunderwerbsteuer, BAföG und im öffentlichen
Dienstrecht gleichgestellt und wollen verbleibende He-
rausforderungen mit der gleichen Sorgfalt behandeln.
Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wird der Herausforderung eines verantwortungsvollen
Umgangs mit den komplexen Fragestellungen nicht ge-
recht.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719540700

Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen ist

gut und richtig. Er erhält unsere volle Unterstützung.
Gleichzeitig ist er eine Ohrfeige für die Bundesregie-
rung und die Arbeit der Regierungskoalition. Die Koali-
tion ist in einem sehr desolaten Zustand, sodass sie
selbst dann nicht reagieren kann, wenn es ihr das
Bundesverfassungsgericht vorschreibt.

Zur Klarstellung: Nachdem die eingetragene
Lebenspartnerschaft 2001 wegen des Widerstands der
schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat nur als Ehe
zweiter Klasse eingeführt werden konnte, gab es eine
Reihe von Klagen bis hinauf zum Bundesverfassungsge-
richt. Nun haben wir seit 2009 die Situation, dass das
Bundesverfassungsgericht die Gleichbehandlung der
eingetragenen Lebenspartnerschaft gegenüber der Ehe
dem Gesetzgeber ins Stammbuch schreibt. Zunächst
urteilte das Bundesverfassungsgericht zur Hinterbliebe-
nenversorgung, später in weiteren Fällen der Ungleich-
behandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft.
Seitdem hält das Bundesverfassungsgericht in ständiger
Rechtsprechung fest, dass der grundgesetzliche Schutz
von Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz nicht
dem Gleichheitsgrundsatz nach in Art. 3 Abs. 1 Grund-
gesetz entgegensteht. Im Gegenteil, aus dem Gleich-
heitsgrundsatz folgt, dass die eingetragene Lebenspart-
nerschaft in allen Bereichen der Ehe gleichzustellen ist.
Dies gilt rückwirkend seit Einführung des Lebenspart-
nerschaftsgesetzes zum 1. August 2001, wie es das Bun-
desverfassungsgericht zuletzt am 19. Juni 2012 in sei-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


nem Urteil zum Familienzuschlag im öffentlichen
Dienstrecht bekräftigte.

Die Koalition reagierte auf die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts, aber eben nur unzurei-
chend. Sie brachte 2010 einen Gesetzentwurf zum öf-
fentlichen Dienstrecht ein, mit Rückwirkung ab dem
1. September 2009. Die Linke ebenso wie Bündnis 90/
Die Grünen und die SPD machten bereits damals im lau-
fenden parlamentarischen Verfahren darauf aufmerk-
sam, dass eine Rückwirkung ab 2001 notwendig ist, also
ab dem Jahr der Einführung des Lebenspartnerschafts-
gesetzes. Die jetzige Situation ist beschämend für Regie-
rung und Koalition.

Wenn sie nicht in der Lage sind, eigenständig zu han-
deln, sollten sie die Gelegenheit nutzen und wenigstens
dem Gesetzentwurf der Grünen zustimmen, um ein ver-
fassungsgemäßes Dienstrecht zu haben, so wie es das
Bundesverfassungsgericht in Auftrag gegeben hat. Ich
wünsche mir endlich eine Regierung, die agiert und
nicht reagiert, wenn sie dies denn überhaupt tut. Die
Gleichbehandlung ist verfassungsmäßig geboten und
notwendig, und sie sollte eine Selbstverständlichkeit
sein.

Dies betrifft auch die Frage der Gleichbehandlung im
Steuerrecht und beim Adoptionsrecht. Dass die Bundes-
regierung auch beim Steuerrecht wieder nur das nächste
Bundesverfassungsgerichtsurteil abwartet, ist ange-
sichts des absehbaren Urteils und der jüngsten Auffor-
derung des Bundesrats, endlich die Gleichbehandlung
im Steuerrecht umzusetzen, ein Skandal. Handeln sie
endlich.

Auch wenn es offenkundig noch homophobes Denken
in den Reihen der Koalition gibt, so wie es die Staats-
sekretärin im Bundesumweltministerium und Bundes-
tagsabgeordnete Katherina Reiche am 17. August gegen-
über der „Bild“-Zeitung zum Ausdruck brachte
– „Unsere Zukunft liegt in der Hand der Familien, nicht
in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften“ – und
sogleich vom CSU-Abgeordneten Thomas Goppel auf
seiner Facebook-Seite unterstützt wurde, so kann dies
nicht die Verhinderung der Gleichbehandlung rechtferti-
gen. Wir als Gesetzgeber sind in der Pflicht, das Grund-
gesetz einzuhalten und die Gleichbehandlung sicher-
zustellen.

Am schnellsten und effektivsten wäre es, die Ehe für
Lesben und Schwule zu öffnen. Dies fordern alle drei
Oppositionsparteien. Dies sieht sogar das Programm
der FDP vor, und auch die Lesben und Schwulen in der
Union fordern dies. Es wäre ein notwendiger und richti-
ger Schritt, der der Wirklichkeit Rechnung tragen
würde.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719540800

Im Sommer dieses Jahres hat das Bundesverfassungs-

gericht Ihnen von der Koalition zweimal schwarz auf
weiß mitgeteilt, dass Ihre fortgesetzte Diskriminierung
von eingetragenen Lebenspartnerschaften ein Ende ha-
ben muss. Für den Bereich des öffentlichen Dienstrechts
legen wir Ihnen nun einen Gesetzentwurf vor, der die

Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzt und
allen Betroffenen die ihnen zustehenden Zuschläge
nachträglich gewährt.

Die Ende 2010 beschlossene Übertragung ehebezo-
gener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Le-
benspartnerschaften erfolgte rückwirkend ab dem 1. Ja-
nuar 2009. Diese Begrenzung der Rückwirkung wurde
nun mit der Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts vom 19. Juni 2012 für verfassungswidrig erklärt.
Demnach ist der Gesetzgeber verpflichtet, rückwirkend
zum Zeitpunkt der Einführung des Instituts der Le-
benspartnerschaft mit Wirkung zum 1. August 2001 eine
gesetzliche Grundlage zu schaffen, die allen Beamtinnen
und Beamten, die ihre Ansprüche auf Familienzuschlag
zeitnah geltend gemacht haben, einen Anspruch auf
Nachzahlung des Familienzuschlags ab dem Zeitpunkt
seiner erstmaligen Beanspruchung einräumt. Diese Ver-
pflichtung ist analog auf alle ehebezogenen Regelungen
im öffentlichen Dienstrecht zu übertragen. Unser Ge-
setzentwurf räumt den Familienzuschlag und andere
ehebezogene Regelungen allen Beamtinnen und Beam-
ten rückwirkend ein.

Ich erwarte, dass wir diese Änderungen schnell im
Konsens dieses Hauses verabschieden können. Schließ-
lich werden insbesondere die Kolleginnen und Kollegen
von CDU und CSU nicht müde, immer wieder zu beto-
nen, dass sie die Urteile des Bundesverfassungsgerichts
achten und umsetzen wollen. Hier haben Sie Gelegen-
heit, Ihren Worten Taten folgen zu lassen.

Meine Damen und Herren von der Koalition: Sie ha-
ben im August ein kleines Sommertheater aufgeführt.
Zunächst sah es so aus, als könnten sich auch in Ihren
Reihen Stimmen durchsetzen, die die Diskriminierung
von schwulen und lesbischen Paaren in diesem Land
endlich beenden wollen. Doch leider wurden wir eines
Besseren belehrt. Frau Reiche meinte, zu Protokoll ge-
ben zu müssen, dass „die Zukunft Deutschlands nicht bei
gleichgeschlechtlichen Paaren“ liege. Neben der Euro-
Krise sei die demografische Entwicklung die größte Be-
drohung unseres Wohlstandes. Frau Reiche, selbst wenn
das richtig wäre, warum sollte dieser Befund etwas an
der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer Gleich-
stellung ändern? Sie haben es immer noch nicht verstan-
den: Schwul und lesbisch wird man nicht gemacht – man
ist es! Nicht Schwule und Lesben gefährden die demo-
grafische Entwicklung, sondern die schlechte Familien-
politik Ihrer Regierung, die lieber eine Herdprämie ein-
führt, statt endlich die notwendigen Investitionen in die
Kinderbetreuung zu gewährleisten.

Und das Verfassungsgericht hat Ihnen mehrfach ins
Stammbuch geschrieben, dass die Ehe eben nicht geför-
dert wird, weil sie so viele Kinder hervorbrächte. Nein:
Es ist die gegenseitige dauerhafte, auch rechtlich ver-
bindliche Verantwortung, die zwei Menschen füreinan-
der übernehmen, die der Staat fördert. Und darin unter-
scheiden sich Ehe und Lebenspartnerschaft eben nicht.
Im Übrigen hat Ihnen das Gericht auch gesagt, dass
selbstverständlich auch in Lebenspartnerschaften Kin-
der aufwachsen, und zwar gut und gesund, wie Studien
unter anderem aus dem Justizministerium zeigen. Das

Zu Protokoll gegebene Reden





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


mag zwar Ihr enggefasstes biologisches Verständnis
übersteigen, ist aber Realität in Deutschland.

Die Gleichstellung von schwulen und lesbischen Paa-
ren ist verfassungsrechtlich erforderlich und politisch
laut Umfragen von der Mehrheit der Bevölkerung ge-
wünscht. Die richtige Konsequenz wäre die Öffnung der
Ehe für lesbische und schwule Paare. Nachdem der Bun-
destag mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP dies im
Sommer abgelehnt hat, müssen wir nun bis auf Weiteres
den mühsamen Weg der schrittweisen Angleichung wei-
ter gehen. Unser heutiger Antrag ist ein weiterer, kleiner
Schritt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719540900

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/10769 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall.
Dann haben wir die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim
Pfeiffer, Andreas G. Lämmel, Thomas Bareiß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner

(Berlin), Claudia Bögel, weiterer Abgeordne-

ter und der Fraktion der FDP

Neue Herausforderungen der regionalen
Wirtschaftsstruktur meistern – GRW fort-
führen und EU-Kohäsionspolitik zukunfts-
orientiert gestalten

– zu dem Antrag der Abgeordneten Doris
Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Ver-
besserung der regionalen Wirtschaftsstruk-
tur“ – Finanzierung langfristig sichern

– Drucksachen 17/9938, 17/5185, 17/10848 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Tobias Lindner

Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Re-
den zu Protokoll genommen.


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1719541000

Wenn momentan über Wirtschaftspolitik diskutiert

und auch gestritten wird, dann geht es oft um die „gro-
ßen Themen“ wie Energiewende oder die Euro-Stabili-
tät.

Das Thema der regionalen Wirtschaftspolitik wird
manchmal vergessen. Ein Grund dafür konnte sein, dass
dabei weniger gestritten wird. An der Bedeutung des
Themas kann die mitunter mangelnde Aufmerksamkeit
kaum liegen. Denn Deutschland ist ein vielfältiges Land

mit starken Regionen. Die Mehrheit der Deutschen lebt
in ländlichen Regionen oder mittleren Städten. Das wirt-
schaftliche Geschehen in Deutschland konzentriert sich
nicht auf die eine Metropolregion. Die Vielfalt von Stadt
und Land spiegelt sich auch in der unterschiedlichen
wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen wider. Viele
Regionen sind von den Großtrends wie Strukturwandel,
Globalisierung oder der deutschen Einheit höchst unter-
schiedlich betroffen. Die regionale Wirtschaftspolitik
betrifft den Alltag vieler Bürger unseres Landes.

Das Grundgesetz verlangt die Herstellung gleichwer-
tiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Das zentrale
und bewährte Instrument dafür ist seit 1969 die Bund-
Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der re-
gionalen Wirtschaftsstruktur“ – GRW. Bund und Länder
unterstützen gemeinsam strukturschwache Regionen.
Das Hauptziel ist die Schaffung und Sicherung dauer-
haft wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze durch die Förde-
rung von gewerblichen Investitionen, Investitionen in
die wirtschaftsnahe Infrastruktur und gezielten Maß-
nahmen zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner
und mittlerer Unternehmen. Die GRW zielt also auf die
Aktivierung der regionalen Wirtschaftskraft als Hilfe zur
Selbsthilfe ab.

Im Rahmen der regelmäßigen Evaluation der GRW
wird ihre positive Wirkung ständig bestätigt. Schwer-
punkte der Förderung liegen eindeutig bei kleinen und
mittleren Unternehmen und bei Innovationen. Zwischen
2009 und 2011, also während des heftigsten Einbruchs
der Konjunktur in der Geschichte der Bundesrepublik,
führten 4,4 Milliarden Euro an GRW-Mitteln von Bund
und Ländern zu 22,6 Milliarden Euro Investitionen von
Unternehmen, in der gewerblichen Wirtschaft wurden
über 65 400 neue Dauerarbeitsplätze geschaffen und
circa 280 200 Dauerarbeitsplätze erhalten. Hohe Mit-
telabflüsse von über 90 Prozent belegen das hohe Inte-
resse seitens der Bundesländer und der Unternehmen
vor Ort.

Die Herausforderungen für die regionale Wirt-
schaftspolitik sind groß:

Der demografische Wandel wirkt zuerst in ländlichen
und strukturschwachen Räumen, also in jenen Gebieten,
auf die sich die GRW-Mittel konzentrieren.

Die beihilferechtlichen Rahmenbedingungen für die
nationale Regionalpolitik werden von der Europäischen
Kommission für die neue Förderperiode ab dem Jahr
2014 neu ausgerichtet. Diese Regeln werden festlegen,
wo und was zukünftig in Deutschland regionalpolitisch
gefördert werden darf.

GRW-Mittel stehen auch für die gewerbliche Umwid-
mung ehemaliger Bundeswehrstandorte zur Verfügung –
„Konversion“. Die angelaufene Reform der Bundes-
wehr stellt eine neue Aufgabe für die GRW dar.

Die Investitionszulage – I-Zulage – für Unternehmen
in Ostdeutschland wird Ende des Jahres 2013 auslaufen.
Der Solidarpakt II zur Unterstützung der ostdeutschen
Bundesländer ist bis zum Jahr 2019 befristet. Die Mittel
aus den europäischen Strukturfonds werden in Deutsch-
land ab dem Jahr 2014 vermutlich ebenfalls erkennbar





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


zurückgehen, sodass der GRW eine höhere regionalpoli-
tische Verantwortung zukommt.

Die europäischen Strukturfonds werden ab 2014 neu
fokussiert.

Momentan werden die Weichen dafür gestellt, dass
die GRW effektiv und flexibel zur Stärkung der Regionen
im Standortwettbewerb beitragen kann und auch die
strukturschwachen Regionen ihren Anteil am gesamt-
deutschen Wirtschaftswachstum leisten können.

Die christlich-liberale Koalition steht zur GRW als
zentrales Instrument der regionalen Wirtschaftspolitik.
Wir stehen aber auch zur Schuldenbremse; daher musste
auch die GRW ihren Beitrag zur Haushaltskonsolidie-
rung leisten. Im Gegensatz zu mancher Vorgängerregie-
rung haben wir die GRW aber nicht als haushälteri-
schen Steinbruch genutzt. Außerdem haben wir in den
parlamentarischen Haushaltsberatungen dieser Legis-
laturperiode den Regierungsvorschlag stets ein wenig
zugunsten der GRW verschoben. Diese Notwendigkeit
sehe ich auch in den aktuellen Beratungen für den Haus-
halt 2013. Hier werde ich mich mit vielen Kollegen für
eine bessere Mittelausstattung der GRW einsetzen.

Im Rahmen der Haushaltsmittel und der Schulden-
bremse steht diese Koalition zur Fortführung des Haus-
haltstitels der GRW auf bestehendem, hohem Niveau
und zu einer finanziellen Ausstattung, dass sie struktu-
rell wirksam bleibt und die neue Aufgabe der Konver-
sion ehemaliger Bundeswehrliegenschaften entspre-
chend gewürdigt wird. Weiterhin erwarten wir von den
Bundesländern, dass sie die paritätische Kofinanzierung
durch Landesmittel sicherstellen. Die GRW ist eine Ge-
meinschaftsaufgabe.

Tiefgreifende Entscheidungen für die regionale Wirt-
schaftspolitik in Deutschland werden momentan auf
EU-Ebene vorbereitet. Innerhalb des Europäischen
Parlamentes ist das Verhandlungsmandat für weitere
Gespräche zur Fortsetzung der Kohäsionspolitik abge-
stimmt. Der Trilog aus Parlament, Europäischer Kom-
mission und dem Europäischen Rat hat nun begonnen.

In diesen Verhandlungen unterstützen wir die Bun-
desregierung bei den Verhandlungen zur Weiterentwick-
lung der Regionalleitlinien der Europäischen Union. Es
muss faire und wirksame Übergangsregelungen für Re-
gionen geben, die ihren Status als A-Fördergebiet verlie-
ren. In Deutschland betrifft dies konkret die Unterstüt-
zung des Angleichungsprozesses der ostdeutschen
Bundesländer. Entsprechend dem Grundsatz der Subsi-
diarität müssen auch künftig nationale Spielräume zur
wirkungsvollen Förderung strukturschwacher Regionen
in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union beste-
hen. Dies betrifft auch die Förderung strukturschwacher
Regionen in Westdeutschland.

Wir bestärken daher die Bundesregierung in den Ver-
handlungen zur Weiterentwicklung der Leitlinien der
Regionalpolitik der Europäischen Union im ihrem Ein-
satz unter anderem für die Verlängerung der Über-
gangsperiode für Ex-A-Gebiete bis 2020, die Begren-
zung des Fördergefälles zu Höchstfördergebieten auf

15 Prozentpunkte und die Fördermöglichkeit von Groß-
unternehmen auch in Ex-A- und C-Gebieten.

Auch bei den Verhandlungen über die zukünftige Ko-
häsionspolitik unterstützen wir die Bundesregierung.
Insbesondere begrüßen wir, dass die Strukturfonds ver-
stärkt auf die Ziele der Strategie Europa 2020 ausge-
richtet werden und damit Wettbewerbsfähigkeit und
nachhaltiges Wachstum vorantreiben. Dabei muss die
Kohäsionspolitik weiter auf das Vertragsziel, den Abbau
regionaler Entwicklungsunterschiede, ausgerichtet blei-
ben. Wir brauchen einen effizienten und zweckmäßigen
Einsatz der EU-Mittel in allen Staaten. Daran hat es in
den letzten Jahren oft gefehlt, wie wir heute sehen kön-
nen. Von daher ist die von der Europäischen Kommis-
sion vorgeschlagene thematische Ausrichtung und Kon-
zentration der künftigen Kohäsionspolitik in weiten
Teilen sinnvoll. Allerdings müssen den Regionen dabei
Spielräume verbleiben, um den spezifischen regionalen
Bedürfnissen und Erfordernissen Rechnung tragen zu
können.

Ich werbe um die Zustimmung aller Fraktionen des
Bundestages. Die regionale Wirtschaftspolitik verdient
unser aller Unterstützung, gerade bei den Verhandlun-
gen in Brüssel.


Doris Barnett (SPD):
Rede ID: ID1719541100

Viele Abgeordneten hier im Haus wollen das Gleiche,

nämlich über die im Jahre 1969 eingeführte Bund-Län-
der-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regiona-
len Wirtschaftsstruktur“, GRW, gleichwertige Lebens-
verhältnisse auch in unserem seit 1990 größer
gewordenen Land herbeizuführen. Aber leider konnten
sich die Koalitionsfraktionen nicht überwinden, zusam-
men mit uns gemeinsam einen Antrag zu formulieren,
der dieses Ziel auf hohem Niveau auch weiterhin ver-
folgt. 15 Monate dauerte es, bis die Koalitionsfraktionen
schließlich ihren eigenen Antrag vorlegten. Ärgerlich
für die Koalition war nur, dass inzwischen der Finanz-
plan 2013 von der Bundesregierung vorgelegt wurde,
der vorsah, die Mittel für die GRW um 60 Millionen
Euro zu kürzen.

Aber dann kam der Antrag der Koalition. Und plötz-
lich hatte man entdeckt, dass durch die Bundeswehrre-
form ehemalige Bundeswehrstandorte umgewidmet wer-
den müssen und solche Vorhaben auch erhebliche
Kosten verursachen. Um diese für die betroffenen Ge-
meinden verträglich, vor allem bezahlbar zu gestalten
und auch die Länderhaushalte nicht zu stark zu belasten,
können jetzt Kosten der Konversion in den Fördergebie-
ten über die Mittel der GRW finanziert werden. Das ist
zwar nicht ganz fair gegenüber den Ländern, die schon
seit Jahren erheblich Mittel in Konversionsstandorte ha-
ben fließen lassen. Rheinland-Pfalz hat über 600 Kon-
versionsgebiete finanziert und dabei eine große Kompe-
tenz erlangt, und das alles ganz ohne anteilige
Unterstützung durch die GRW.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich finde es gut, dass
jetzt Mittel der GRW auch für die Umwidmung von ehe-
maligen Bundeswehrstandorten zur Verfügung stehen.
Für diese neue Aufgabe haben Sie die Mittel der GRW

Zu Protokoll gegebene Reden





Doris Barnett


(A) (C)



(D)(B)


dann doch nicht um 60 Millionen Euro, sondern „nur“
um 27 Millionen Euro gekürzt. Und uns wollen Sie vor-
rechnen, dass Sie die Mittel für die GRW sogar aufge-
stockt haben! Das nenne ich die fünfte Grundrechenart:
zuerst kräftig kürzen, dann wieder etwas drauflegen und
dann sich feiern lassen für die angebliche Mittelerhö-
hung des Titels. Genauso hat es schon der Städtebaumi-
nister Ramsauer mit den Geldern für das Projekt „So-
ziale Stadt“ gemacht.

Wenn Sie so weitermachen, erklären Sie noch den
Leichtgläubigen unter den Kollegen, dass 569 Millionen
Euro mehr sind als 596 Millionen Euro, weil ja auf die
ursprünglich geplanten Mittel von 539 Millionen Euro
27 Millionen Euro draufgelegt wurden, also der jetzige
Ansatz höher ist.

Dabei wäre doch Geld da gewesen, die GRW-Mittel
zumindest auf der Höhe des Ansatzes von 2012 zu hal-
ten. Denn im kommenden Jahr läuft die Investitionszu-
lage aus. Die GRW stellt dann das einzige Instrument
des Bundes für die regionale Wirtschaftsförderung dar.
Nach wie vor haben die neuen Bundesländer und auch
die strukturschwachen Gebiete in Westdeutschland ein
großes Interesse, Wettbewerbsnachteile gegenüber den
Ballungszentren und Metropolregionen auszugleichen,
wozu die zusätzlichen Mittel aus der I-Zulage hätten die-
nen können.

Aber jetzt ist die I-Zulage weg, und die GRW-Mittel
sind um 27 Millionen Euro gekürzt. Hinzu kommt, dass
Sie Großunternehmen fördern wollen. Wollen Sie wirk-
lich damit riskieren, dass Ansiedlungen nach Förderhöhe
vorgenommen werden? Sollen andernorts Arbeitsplätze
abgebaut werden – so wie wir es von Standortverlage-
rungen auch renommierter Firmen kennen? Sollen dann
die vielen erfolgreichen Investitionen und Unterneh-
mensgründungen zukünftig nicht mehr erfolgen können,
weil es die bisherige finanzielle Unterstützung wegen der
Großprojekte nicht mehr gibt? Können Sie das wirklich
verantworten?

Gleichzeitig hört man Gerüchte, wonach bei der
nächsten Förderperiode einige Bundesländer, und zwar
auch Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, nicht
mehr in die GRW-Förderung gelangen. Was ist hier Ihre
Gegenstrategie, wenn Ihre Kanzlerin demnächst mit
Kommissar Almunia zum Gespräch zusammentrifft?

Wahrscheinlich gibt es keine, und darüber hinaus ge-
hen Sie ja davon aus, dass die Mittel aus den europäi-
schen Strukturfonds für Deutschland ab 2014 erkennbar
zurückgehen. Da dürfen wir gespannt sein, wie Sie die
Weichen stellen und mit gekürzten GRW-Mitteln „effek-
tiv und flexibel zur Stärkung der Regionen“ beitragen
wollen.

In einigen Tagen wird der Unterausschuss für regio-
nale Wirtschaftspolitik eine Delegationsreise zu Förder-
schwerpunkten in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-
Westfalen durchführen. Sicherlich werden wir dort gute
Beispiele vorfinden, wie die Mittel aus der GRW einge-
setzt wurden und werden, um für Wachstum und Arbeits-
plätze zu sorgen.

Wenn wir Sozialdemokraten in Zeiten von Schulden-
bremse und Einsparungen trotzdem darauf bestehen,
dass die Mittel für die GRW nicht angetastet werden,
dann deshalb, weil wir genau wissen, wie zielsicher
diese Mittel wirken. Ich will an dieser Stelle nochmals
darauf hinweisen: Die zur Verfügung gestellten GRW-
Mittel lösen im Durchschnitt mehr als das Sechsfache an
Investitionen aus, es gibt einen Beschäftigungszuwachs
von knapp 5 Prozent, und auch die Löhne steigen be-
achtlich, nämlich um 6 Prozent – und das alles in einem
Zeitraum von gerade einmal drei Jahren.

Das ist eine Erfolgsmeldung, auf die wir alle stolz
sein können. Deshalb verstehen wir nicht, wieso Sie wi-
der besseres Wissen dann doch einer so dramatischen
Kürzung von 27 Millionen Euro zustimmen konnten und
gleichzeitig diesen Bundestagsantrag vorlegen.


Claudia Bögel (FDP):
Rede ID: ID1719541200

Wir alle wissen, wie wichtig es ist, die regionale Wirt-

schaftsstruktur zu erhalten und zu verbessern. Mit Blick
darauf, ist die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ein
äußerst erfolgreiches Mittel, um strukturschwache
Regionen bei der Bewältigung der Herausforderungen
im Zuge des Strukturwandels zu unterstützen.

Als zentrales Element der deutschen Regionalpolitik
kommt der GRW eine besondere Bedeutung für das
Wachstum in strukturschwachen Regionen in Deutsch-
land zu.

Und offenbar wird dieses Instrument gerne und rege
angenommen – die hohen Mittelabflüsse von über
90 Prozent belegen das große Interesse der Bundes-
länder und Unternehmen.

Zukünftig steht die Regionalpolitik in Deutschland
vor großen Herausforderungen: Der demografische
Wandel, der sich vornehmlich in ländlichen und struk-
turschwachen Regionen auswirkt, das Auslaufen der In-
vestitionszulage für Unternehmen in Ostdeutschland
oder auch die Neuausrichtung der beihilferechtlichen
Rahmenbedingungen für die nationale Regionalpolitik
durch die Europäische Kommission für die neue Förder-
periode ab 2014 – alles dies erfordert eine weitere
Stärkung der GRW, damit diese effektiv und flexibel zur
Stärkung strukturschwacher Regionen beitragen kann.

Die Bedeutung der GRW und ihre erfolgreiche Bilanz
sprechen für sich. Und genau aus diesem Grund wird sie
beständig weiterentwickelt und aktuellen Entwicklungen
und Herausforderungen angepasst.

Eine dieser neuen Herausforderungen der ländlichen
Räume ist sicherlich auch die angelaufene Reform der
Bundeswehr. Die gewerbliche Umwidmung ehemaliger
Bundeswehrstandorte wird zu einer neuen Aufgabe für
die GRW werden.

In meinem Wahlkreis befindet sich zum Beispiel ein
Bundeswehrstandort, der im Zuge der Reform geschlos-
sen wird. Dies stellt die Region – vor allem aus wirt-
schaftlicher Sicht – vor große Herausforderungen. Der
Einsatz von GRW-Mitteln wäre dort deshalb sicherlich

Zu Protokoll gegebene Reden





Claudia Bögel


(A) (C)



(D)(B)


sinnvoll. Mit dem Antrag möchten wir daher unter ande-
rem auch signalisieren, dass die Grundvoraussetzungen
für den Einsatz bzw. Abruf der Mittel von unserer Seite
aus klar sind.

Die Zuteilung der GRW-Mittel für die Konversion der
Bundeswehrstandorte fällt jedoch in den Zuständigkeits-
bereich der Länder. Daher liegt es nun an ihnen, diese
Mittel abzurufen und zu prüfen, ob sie in ein Infrastruk-
turprojekt wie die Umwidmung ehemaliger Bundes-
wehrstandorte investiert werden sollen.

Wir können und möchten an dieser Stelle an die
Länder appellieren, dies zu tun; denn die zivile Nutzung
bisheriger Militärstandorte stellt einen nicht zu unter-
schätzenden Wirtschaftsfaktor dar. Dies wird zum
Beispiel mit Blick auf die Umwidmung des ehemaligen
Bundeswehrstandorts Mönchengladbach deutlich, auf
dessen Terrain eine erfolgreich arbeitende Schienentest-
strecke angesiedelt wurde.

Die GRW ist eine äußerst wirkungsvolle Maßnahme,
um die wirtschaftliche Basis in den strukturschwachen
Regionen Deutschlands zu stützen. Wir freuen uns daher
sehr, dass die Bundesregierung dem Erfolg und der
Wichtigkeit der GRW Rechnung trägt und in ihrem Eck-
wertebeschluss eine Erhöhung des Mittelansatzes für
2013 angekündigt hat.

Mit unserem Antrag wollen wir die hohe regional-
politische Verantwortung der Bund-Länder-Gemein-
schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt-
schaftsstruktur“ betonen und begrüßen, dass sie auf
dem bestehend hohen Niveau fortgeführt und finanziell
so ausgestattet werden soll, dass sie strukturell weiter-
hin so wirksam und erfolgreich bleibt, wie sie ist.


Johanna Voß (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719541300

Strukturschwachen Regionen muss durch gezielte Re-

gionalpolitik geholfen werden. Ziel ist die Herstellung
gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Da-
für steht die Linke wie keine andere Partei – nicht zuletzt
mit ihren Forderungen nach der Angleichung des niedri-
geren Rentenwerts in Ostdeutschland an den Rentenwert
West sowie nach der Anhebung der ostdeutschen Löhne
und Gehälter bei gleicher Arbeitszeit an das westdeut-
sche Niveau.

Zu den wichtigen Instrumenten der Regionalpolitik in
Deutschland gehört neben den europäischen Struktur-
fonds EFRE und ESF die Bund-Länder-Gemeinschafts-
aufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschafts-
struktur“, GRW. Verfassungsrechtlich geregelt ist das im
Grundgesetz in Art. 91 a.

Nun enden nächstes Jahr die Investitionszulage für
Unternehmen in Ostdeutschland und die aktuelle För-
derperiode. Ab 2014 gibt es neue EU-Vorgaben. Des-
halb will die Bundesregierung „GRW fortführen und
EU-Kohäsionspolitik zukunftsorientiert gestalten“, wie
der Titel des Koalitionsantrages so schön lautet. Es
kommt aber auf die Inhalte an! Da sagen wir: Der soli-
darischen Grundidee der Kohäsions- und Regionalpoli-
tik treu bleiben, nicht wie die Regierung die Kohäsions-

und Regionalpolitik zum bloßen Umsetzungsinstrument
für neoliberale Ambitionen machen!

Leider wurde diese ursprüngliche Förderphilosophie
vielfach schon ins Gegenteil verkehrt: Statt die Schwä-
chen der Regionen anzugehen, werden sogenannte
Leuchtturmprojekte vorangetrieben. Die ländlichen Re-
gionen in der Fläche bleiben auf der Strecke.

Wir sind der Meinung, dass es auf den gezielten Aus-
bau der Eigenarten und Entwicklungspotenziale der
Regionen ankommt. Die Bundesregierung hat nur Wett-
bewerbsfähigkeit im Blick: Für Unternehmen mit über-
regionalem Absatz sollen die Investitionskostenzu-
schüsse der GRW ein Ausgleich für Standortnachteile
bei Investitionen in den GRW-Fördergebieten sein.
Doch gerade auch in der Stärkung regionaler Wirt-
schaftskreisläufe steckt eine Chance. So kann Lebens-
qualität auch dort gesichert werden, wo unter aktuellen
Bedingungen kein „Anschluss an die allgemeine Wirt-
schaftsentwicklung“, wie es die Koalition in ihrem An-
trag nennt, möglich ist.

Will man die regionale Kaufkraft stärken und Maß-
stäbe setzen, ist es wichtig, dass nur solche Unterneh-
men oder Projekte gefördert werden, die Tarifverträge
einhalten, Mindestlöhne zahlen und ökologische Stan-
dards sicherstellen. Das allein wird nicht reichen. Es
muss weiter gedacht werden! Mit den Geldern muss der
sozialökologische Umbau vorangetrieben werden. Au-
ßerdem sollen die ohnehin nicht allzu üppig bemessenen
Gelder neben dem Ausbau einer leistungsfähigen kom-
munalen Infrastruktur und der sogenannten nichtinves-
tiven Fördertatbestände auf die Förderung von kleinen
und mittleren Unternehmen konzentriert werden. Die
Regierungskoalition hingegen spricht in ihrem Antrag
von der „Förderfähigkeit von Unternehmensinvestitio-
nen auch außerhalb der KMU“ und meint damit die
Förderung von Großunternehmen. Wir meinen, dass wir
solche Abhängigkeiten nicht schaffen sollten, siehe No-
kia.

Auf EU-Ebene fordern wir, dass sich die Bundesregie-
rung für folgende drei Punkte einsetzt:

Erstens darf die Kohäsionspolitik nicht zu einem blo-
ßen Umsetzungsinstrument der Europa-2020-Strategie
verkommen. Sie ist ein eigenständiger Politikbereich mit
eigenen Zielsetzungen, und das muss sie auch bleiben.

Zweitens muss die Weiterentwicklung der EU-Struk-
turförderung den Erfordernissen des Klimaschutzes und
der Energiewende gerecht werden, sie muss den ökologi-
schen Umbau und den Ausbau der öffentlichen Daseins-
vorsorge stimulieren, sie muss eine nachhaltige Wirt-
schaftsentwicklung, Bildung, gute und nachhaltige
Arbeit und die Gleichstellung der Geschlechter fördern
sowie den demografischen Wandel bewältigen helfen.
Außerdem muss das Bruttoinlandprodukt als Hauptkri-
terium für die Bestimmung der Förderungswürdigkeit
von Regionen um soziale und ökologische Indikatoren
ergänzt werden.

Die EU-Kommission plant, Mitgliedstaaten mit einem
teilweisen Entzug von Mitteln aus den Strukturfonds zu
bestrafen, wenn sie sich einem Defizitverfahren auf-

Zu Protokoll gegebene Reden





Johanna Voß


(A) (C)



(D)(B)


grund der Verletzung der Maastricht-Kriterien unterzie-
hen müssen. Diese Idee ist sofort zu verwerfen. Denn so
würden Regionen für die Haushaltspolitik der National-
staaten bestraft, für die sie keine Verantwortung tragen.
Hinzu kommt, dass durch den Entzug von Fördergeldern
die haushalts- und fiskalpolitischen Schwierigkeiten des
jeweiligen Staates verschlimmert werden.

Die Linke will Angleichung wirtschaftlicher und so-
zialer Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und
Regionen in der EU. Die Linke will gleichwertige Le-
bensbedingungen in Deutschland. Wir fordern ausrei-
chend Mittel für die Kohäsionspolitik der EU und die
GRW auf nationaler Ebene. Außerdem fordern wir die
Weiterentwicklung der regional- und strukturpolitischen
Instrumente Richtung sozial-ökologischer Umbau.
Schließlich fordern wir, dass Wirtschafts- und Sozial-
partner, Nichtregierungsorganisationen sowie regionale
und lokale Akteure die Regionalplanung mitgestalten.


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719541400

Viele Regionen in Deutschland stehen gut da, manche

müssen jedoch auch kämpfen. Dort, wo die Wirtschafts-
kraft fehlt, müssen wir Hilfestellung leisten, um den
Menschen ein gutes Auskommen zu sichern. Der Ansatz
von uns Grünen liegt darin, die Struktur einer Region so
zu verbessern, dass die Wertschöpfung gesteigert wird
und durch eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung
neue Arbeitsplätze geschaffen werden.

Durch die Reform der europäischen Strukturfonds
werden für Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach
weniger Mittel zur Verfügung stehen. Dadurch wird die
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ für unsere ländlichen Regionen
umso wichtiger werden. Wir brauchen eine starke GRW
mit einer guten finanziellen Ausstattung. Der Haushalts-
entwurf der Bundesregierung sieht für 2013 eine Aus-
stattung der GRW von knapp 570 Millionen Euro vor.
Die brauchen wir auch, um zukunftsfähige Unternehmen
beim Auf- und Ausbau zu unterstützen, damit sie Werte
schaffen und langfristig zum Wohlstand einer Region
beitragen können; gerade wenn man bedenkt, dass nach
dem Auslaufen der Investitionszulage, die ja nur auf die
ostdeutschen Bundesländer zugeschnitten ist, ab 2014
die GRW das einzige Instrument des Bundes für regio-
nale Wirtschaftsförderung ist. Insbesondere kleine und
mittlere Unternehmen bedürfen dieser Unterstützung.

In seinem Bericht zur Deutschen Einheit im Rahmen
der gestrigen Regierungsbefragung wies Bundesinnen-
minister Friedrich darauf hin, dass es in Ostdeutschland
eine Herausforderung besonderer Art gäbe, nämlich
eine nach wie vor unterentwickelte Innovationsfähigkeit
im Bereich der Wirtschaft. Diese sei im Wesentlichen da-
rauf zurückzuführen, dass wir es dort mit einer sehr
kleinteiligen Wirtschaftsstruktur und mit zum Teil nicht
nur mittelständischen, sondern auch sehr kleinen Unter-
nehmen zu tun hätten. Diese kleinen und Kleinstunter-
nehmen bräuchten, was ihre Innovationskraft anginge,
Unterstützung und bekämen diese natürlich auch durch
staatliche Hilfen. Weiterhin stellte er fest, dass es sehr
unterschiedliche Entwicklungen in den verschiedenen

Regionen und auch in den einzelnen Wirtschaftszentren
gäbe. Es gäbe zwar auch Boomregionen, aber, und da
sollten wir uns nichts vormachen, es gäbe auch sehr
viele strukturschwache Gebiete.

Wenn die Bundesregierung diese Einschätzung hat,
dann ist sie meines Erachtens auch gut beraten, mit den
zur Verfügung stehenden Instrumenten dort anzusetzen.
Angesichts des Verfassungsauftrages, dem wir uns alle
verpflichtet fühlen sollten, gleichwertige Lebensverhält-
nisse in allen Regionen Deutschlands anzustreben, muss
diesen strukturschwachen, meist ländlich geprägten Ge-
bieten die besondere Aufmerksamkeit der Wirtschafts-
förderung gelten.

Bei der Entwicklung strukturschwacher ländlicher
Regionen setzen wir Grüne besonders auf den Dreiklang
der Akteure aus dem Mittelstand, dem Handwerk und
der bäuerlichen Landwirtschaft; denn dort, wo qualifi-
zierte Arbeits- und Ausbildungsplätze entstehen, wo lo-
kale Initiativen unterstützt und aktiviert werden, dort
entstehen Wertschöpfung und Lebensqualität. Den klei-
nen und mittelständischen Unternehmen kommt in länd-
lichen Strukturen eine besondere Bedeutung als Arbeit-
geber, Ausbilder und im besten Fall als Identitätsstifter
zu. Deshalb setzten wir uns auch für eine ausschließli-
che Förderung der Unternehmensinvestitionen von
KMUen ein. Die Förderung von Großunternehmen leh-
nen wir ab.

Ein verantwortungsvoller und effizienter Umgang mit
Fördergeldern muss eine Selbstverständlichkeit sein.
Deshalb muss die strukturelle Wirksamkeit von Maßnah-
men sichergestellt werden. Zwei Voraussetzungen sind
dabei von großer Wichtigkeit: Erstens muss ein Mindest-
maß an Verwaltungs- und Finanzmanagement in der Re-
gion vorhanden sein. Deshalb unterstützen wir, entgegen
der Koalitionsparteien, die Ex-ante-Konditionalität.
Zweitens müssen die bürokratischen Hürden und Kosten
verringert werden.

Was die Koalition uns als „better spending“ verkau-
fen will, klingt auf den ersten Blick nicht schlecht: ver-
besserte Ausgabebedingungen, um die gleichen Ziele
mit weniger Mitteln erreichen zu können. In Wahrheit
verbirgt sich dahinter einfach nur eines: weniger Geld
für die deutschen Regionen, insbesondere für die ehema-
ligen Konvergenzregionen. Dass wir eine solche Mogel-
packung nicht unterstützen, versteht sich ja wohl von
selbst.

In der Vergangenheit konnten wir mit der GRW viel
bewegen. So wurden in der Förderperiode 2007 bis
2009 mit den 4,1 Milliarden Euro an GRW-Mitteln von
Bund und Ländern 26,2 Milliarden Euro Investitionen
generiert bei einem Beschäftigungszuwachs von
4,6 Prozent. Ich denke, wir alle teilen ein Ziel: Wir wol-
len, dass starke Regionen ihren Wohlstand erhalten und
festigen, und wir wollen, dass schwache Regionen sich
weiterentwickeln können. Dafür müssen die Mittel der
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ verstetigt und verantwortungsvoll
eingesetzt werden.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719541500

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie auf Drucksache 17/10848. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP auf Drucksache 17/9938. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenom-
men.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der SPD
auf Drucksache 17/5185. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 31:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Markus Kurth, Viola von Cramon-Taubadel,
Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Neuen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorge-
abkommen zurücknehmen

– Drucksachen 17/9036, 17/9474 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Johann Wadephul

Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Re-
den zu Protokoll genommen.


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1719541600

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert im vor-

liegenden Antrag, den Vorbehalt der Bundesregierung
gegen die Anwendung des Europäischen Fürsorgeab-
kommens auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende
nach dem SGB II zurückzunehmen. Sie sind der Ansicht,
dass mit diesem Vorbehalt ein Angriff auf die europäi-
sche Solidarität erfolge. Zudem stelle man sich damit
gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Sie sind
der Meinung, dass alle Personen, die sich zum Zwecke
der Arbeitssuche nach Deutschland begeben, dieselben
Leistungen erhalten müssen wie deutsche Arbeitsu-
chende bzw. sogenannte Aufstocker. Diese Grundsiche-
rung nach dem SGB II, also das Arbeitslosengeld II, er-
halten übrigens tatsächlich alle ausländischen Staats-
bürger, die in Deutschland erwerbstätig sind, sobald
ihre Einkünfte für den Lebensunterhalt nicht mehr aus-
reichend sind. Dass man aber durchaus differenzieren
kann und muss, verlieren Sie dabei aus den Augen.

Nun verhält es sich so, dass Zuwanderung nach
Deutschland schon eine längere Tradition hat. Sie wird
von der Unionsfraktion gerade mit Blick darauf sehr be-
grüßt und gefördert, unseren enormen Fachkräftebedarf
zu sichern. In diesem Zusammenhang darf ich auf die

zum 1. Juli dieses Jahres erfolgte Einführung der soge-
nannten Bluecard hinweisen. Mit der Umsetzung der
EU-Hochqualifiziertenrichtlinie, also der Blauen Karte
Deutschland, haben wir in unserem Aufenthaltsrecht ein
Instrument geschaffen, mit dem wir qualifizierte Fach-
kräfte gezielt ansprechen. Wir ermöglichen ihnen einen
schnellen und unkomplizierten Einstieg in unseren Ar-
beitsmarkt. Der Adressatenkreis ist klar definiert. Die
Anforderungen sind transparent und unbürokratisch.
Neben dem Nachweis eines Hochschulabschlusses ist
die Einhaltung von Mindestgehaltsgrenzen notwendig.
Dies lässt Spielraum für Berufseinsteiger und Arbeitge-
ber, ohne jedoch Dumpinglöhne zuzulassen.

Daneben hat die Bundesregierung zu ihrem Meseber-
ger Fachkräftegipfel im vergangenen Jahr ein umfassen-
des Fachkräftekonzept vorgestellt. Dieses Konzept haben
Wirtschaft und Gewerkschaften zusammen mit der Bundes-
regierung in einer „Gemeinsamen Erklärung zur Siche-
rung der Fachkräftebasis“ bekräftigt. Sie sehen also: Nicht
nur die Union, sondern auch unsere Regierung steht Seit
an Seit mit unseren Sozialpartnern, wenn es um den Er-
halt und den Ausbau unseres hervorragenden Arbeits-
kräftepotenzials in Deutschland geht.

Mit der zeitgleich gestarteten Fachkräfteoffensive
wendet sich die Bundesregierung auch an Fachkräfte im
Ausland. Über das Internetportal „Make-it-in-Ger-
many.com“ können sich interessierte ausländische Ar-
beitnehmer aus EU- und Drittstaaten über Arbeitsmög-
lichkeiten in Deutschland informieren. Darüber hinaus
enthält das Portal zahlreiche Informationen über Leben,
Wohnen und Zukunftsperspektiven in Deutschland. Es
bietet in Zusammenarbeit mit der zentralen Auslands-
vermittlung der Bundesagentur für Arbeit und dem euro-
päischen Portal zur beruflichen Mobilität, EURES, die
Möglichkeit, nach spezifischen Jobangeboten in
Deutschland zu suchen.

Das EURES-Netzwerk, also die grenzüberschreitende
Arbeitsvermittlung, wird übrigens auch verstärkt zum
Ziel der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit einge-
setzt. Hierzu sind gemeinsame Konferenzen, Seminare
und ähnliche Kooperationen mit anderen EU-Ländern
geplant.

Ihr Vorwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, die Bundesregierung würde mit ihrem Vorbe-
halt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen keine
Willkommenskultur für ausländische Arbeitnehmer
schaffen, läuft also völlig ins Leere. Er ist angesichts der
eben von mir dargestellten vielfältigen Programme und
Vernetzungen unserer Regierung mit unseren europäi-
schen Nachbarländern sogar als absurd zu bezeichnen.

Im Übrigen leistet die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
einen weiteren Beitrag dazu, den Zuzug von qualifizier-
ten Arbeitskräften nach Deutschland zu erleichtern.
Denn gerade vor zwei Tagen hat unsere Fraktion einen
Antrag zu der EU-Richtlinie zur Anerkennung von Be-
rufsqualifikationen beschlossen. Mit diesem Antrag wol-
len wir für unseren Arbeitsmarkt sowohl die erforderli-
che Mobilität erleichtern, als auch die bestehende
Qualität sichern. Wir verbessern damit die Freizügigkeit





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


in Europa, ohne dabei den Schutz unseres heimischen
Arbeitsmarktes aus den Augen zu verlieren.

Wir müssen aber auch den länderübergreifenden
Konsens berücksichtigen, wonach die EU-Mitgliedstaa-
ten ebenso wie die Vertragsstaaten des Europäischen
Fürsorgeabkommens berechtigt sind, Vorkehrungen ge-
gen einen ungeregelten Zugang in ihre jeweiligen natio-
nalen Sozialleistungssysteme zu treffen. Die Steuerung
und rechtliche Zuordnung innerhalb dieser nationalen
Hilfssysteme gehört zu diesen Vorkehrungen. Im Euro-
päischen Fürsorgeabkommen wird eben dieser Möglich-
keit Rechnung getragen. Warum die Bundesregierung
das Einlegen dieses Vorbehalts für notwendig erachtete,
kann ich Ihnen gerne erklären. Sie wollte einfach errei-
chen, dass die nach Deutschland zugewanderten Bürge-
rinnen und Bürger aus den EU-Mitgliedstaaten nicht
schlechter gestellt sind als die Angehörigen der Staaten,
die das Europäische Fürsorgeabkommen unterzeichnet
haben. Genau dies würde nämlich denjenigen Unions-
bürgern widerfahren, deren Staaten dieses Abkommen
nicht unterzeichnet haben. Das wollen wir nicht, und
deshalb ist der Vorbehalt gegen das Abkommen auch be-
rechtigt. Uns ist die Gleichbehandlung aller EU-Bürge-
rinnen und -Bürger bei der Anwendung deutschen
Rechts ein wichtiges Anliegen.

Der Vorbehalt ist außerdem auch völkerrechtlich zu-
lässig, was die Kollegen von den Grünen irrigerweise
bestreiten. Nach der Wiener Vertragsrechtskonvention
sind Vorbehalte Erklärungen von Staaten bei der Unter-
zeichnung, Ratifizierung, Annahme oder Genehmigung
eines Vertrages, die die Rechtswirkungen einzelner Ver-
tragsbestandteile in Bezug auf eben diesen Staat aus-
schließen oder ändern. Der hier in Rede stehende Vorbe-
halt Deutschlands gegen das Europäische Fürsorge-
abkommen folgt zum einen einer eigenen völkerrechtli-
chen Ermächtigung, und zwar aus Art. 16 des Europäi-
schen Fürsorgeabkommens. Zum anderen richtet er sich
nicht gegen die Anwendung des Abkommens als sol-
chem, sondern umgekehrt gegen die Anwendung deut-
schen Rechts auf das Fürsorgeabkommen. Im Verständ-
nis der Wiener Vertragsrechtskonvention ist der Vor-
behalt also vielmehr eine Erklärung Deutschlands zur
Anwendung des Vertrages im nationalen Recht.

Im Übrigen müssen Sie sich auch fragen lassen, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Grünen-Fraktion, worauf
es Ihnen denn eigentlich ankommt. Geht es Ihnen wirk-
lich darum, dass mit Einlegen des Vorbehalts eine Kos-
tenverschiebung der Aufwendungen zu den Kommunen
stattfindet? Oder geht es nicht doch darum, dass wir
denjenigen Menschen, die in unserem Land leben und
arbeiten möchten, die dafür nötige Unterstützung bieten
können? Die Staatsangehörigen der Vertragsstaaten des
Europäischen Fürsorgeabkommens erhalten zwar keine
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
nach dem SGB II. Stattdessen können sie im Bedarfsfall
einen Antrag auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem
SGB XII stellen. Dieser Anspruch wird auch nicht durch
§ 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII wieder beseitigt. Danach be-
kommt derjenige keine Sozialhilfe zugesprochen, der al-
lein zum Zweck des Aufenthaltsrechts oder der Arbeits-
suche wegen nach Deutschland eingereist ist. Da

nämlich der Vorbehalt Deutschlands gegen das Fürsor-
geabkommen nur zum SGB II erklärt wurde und nicht
zum SGB XII, besteht der Sozialhilfeanspruch für Ange-
hörige eines Unterzeichnerstaates des Abkommens wei-
ter.

Was Sie außerdem ganz verschweigen, ist die Tatsa-
che der Mitnahmemöglichkeit von Arbeitslosengeldan-
sprüchen. Nach dem EU-Recht zur Koordinierung der
sozialen Sicherheit haben alle Unionsbürger das Recht,
in ihrem Heimatland erworbene Ansprüche auf Zahlung
von Arbeitslosengeld für die Dauer von bis zu sechs Mo-
naten mit nach Deutschland zu exportieren. Diese Men-
schen sind also zu einem guten Teil überhaupt nicht auf
Hilfen aus unserem Sozialleistungssystem angewiesen.
Ich bin sehr dafür, arbeitswilligen Immigranten best-
mögliche Unterstützung in unserem Land anzubieten.
Aber wieso sollten manche doppelt abgesichert sein?
Eine Schlechterstellung gegenüber deutschen Bürgerin-
nen und Bürgern ist jedenfalls nicht zu erkennen.
Deshalb komme ich zu dem Schluss, dass nicht nur in
rechtlicher Hinsicht, sondern auch mit Blick auf Gerech-
tigkeits- und Gleichbehandlungsempfinden die jetzige
Situation für alle Beteiligten ausgewogen und gut be-
gründet ist.

Deutschland kann sich ob seiner guten wirtschaftli-
chen und sozialen Situation glücklich schätzen, nicht
nur im europäischen, sondern auch im internationalen
Vergleich. Dazu haben viele beigetragen: Arbeitnehmer,
Arbeitgeber, aber auch die Bundesregierung, die letzt-
lich die Rahmenbedingungen schafft. Unser Erfolgs-
modell wollen wir weiter fortsetzen, aber auch andere
Länder mitziehen. Wir sind auf einem sehr guten Weg,
dass uns dies gelingen kann. Einige Beispiele hierfür
habe ich Ihnen vorhin genannt. Es gibt aber noch viel
mehr, was die Union und die Bundesregierung dabei un-
ternehmen. Lassen Sie uns so weitermachen, und Sie
werden sehen, dass wir am Ende die Früchte unserer gu-
ten Arbeit ernten werden.


Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1719541700

Das Thema Vorbehalt zum Europäischen Fürsorge-

abkommen ist ein Trauerspiel. Es fing damit an, dass der
Bundestag gar nicht darüber informiert wurde, dass die
Bundesregierung einen solchen Vorbehalt eingelegt hat.
Nur durch findige Journalisten kam ans Tageslicht, dass
die Bundesregierung Zuwanderinnen und Zuwanderern
aus den Unterzeichnerstaaten des Europäischen Fürsor-
geabkommens keine Leistungen nach dem SGB II mehr
gewährt, wenn sie ausschließlich zur Arbeitsuche nach
Deutschland kommen. Es ist ein Unding, dass ein so weit
reichender sozial- und europapolitischer Eingriff nur
mehr oder weniger durch Zufall überhaupt bekannt
wird. Ich fordere das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales auf, bei solchen Fällen in Zukunft den Bundes-
tag vorab zu informieren. Denn schließlich ist der Etat
des BMAS für die Öffentlichkeitsarbeit eigentlich ganz
gut ausgestattet, sodass solche Vorgänge nicht verheim-
licht werden müssten.

Die Reaktion in der Presse war zum Glück einhellig.
Selbst die Bundesagentur für Arbeit hat bestätigt, dass

Zu Protokoll gegebene Reden





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


eigentlich in diesem Bereich kein Handlungsbedarf be-
stehe und Zuwanderung aus europäischen Ländern in
das deutsche Sozialsystem nur im Einzelfall auftrete. Ich
finde, es ist bezeichnend, wenn das Ministerium klamm-
heimlich einen solchen Vorbehalt einlegt und noch nicht
einmal diejenigen, die in der Praxis damit zu tun haben,
fachlich nachvollziehen können, was eigentlich der Sinn
und Zweck des Vorbehaltes sein soll.

Ich freue mich daher darüber, dass der Vorbehalt
mittlerweile bereits in mehreren Urteilen und Beschlüs-
sen von Sozialgerichten für nicht mit dem Europarecht
vereinbar bezeichnet wurde. Zudem sei der Vorbehalt
nicht auf Staatsangehörige der Unterzeichnerstaaten
des Europäischen Fürsorgeabkommens anwendbar. Ins-
besondere vor dem Sozialgericht Berlin und dem Sozial-
gericht Düsseldorf fielen hier mehrere Urteile. Auf
meine schriftliche Frage an das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales, wie die Bundesregierung diese Ur-
teile bewertet, bekam ich als Antwort: „Die Bundesre-
gierung geht davon aus, dass der Vorbehalt einer
höchstrichterlichen Nachprüfung standhält.“ Nun habe
ich großes Vertrauen in unsere juristischen Beamtinnen
und Beamten in den Ministerien. Ich als Nichtjurist
möchte mir hier auch gar kein abschließendes Votum er-
lauben, aber ich finde es durchaus bezeichnend, dass
noch kein einziges Verfahren zugunsten der Rechtsauf-
fassung der Bundesregierung ausgegangen ist. Alle Ge-
richte haben den Vorbehalt für nichtig erklärt; die Klä-
ger erhalten wieder – wie zuvor – ihre Sozialleistungen.
Ich begrüße diese juristischen Entscheidungen aus eu-
ropa- und aus sozialpolitischer Sicht ausdrücklich.

Mehrfach habe ich zudem das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales gefragt, wie viele Menschen eigent-
lich von diesem Vorbehalt betroffen seien. Noch in der
Ausschussdrucksache 17(11)881 vom April wird erklärt,
dazu lägen keine Daten vor. In der Antwort vom Septem-
ber auf meine schriftliche Frage vom August wird dann
angegeben, dass im Durchschnitt des Jahres 2011 rund
529 000 Personen aus EFA-Staaten in Bedarfsgemein-
schaften der Grundsicherung für Arbeitsuchende regis-
triert gewesen seien. Darunter fallen jedoch auch viele
Personen, die aufgrund eines anderen Aufenthaltsstatus
nicht vom EFA betroffen sind. Ich freue mich, dass es
nun doch Zahlen aus dem Ministerium gibt, nachdem
dies ja im April noch verneint wurde.

Für mich als jemanden, der sich viel mit Migration
innerhalb Europas beschäftigt, ist der Vorbehalt ein
trauriges Beispiel dafür, wie die EU zurück in national-
staatliche Regelungen fällt. In sehr vielen Drucksachen
der Europäischen Union, die ja auch im Europäischen
Rat von der Bundesregierung mit beschlossen werden,
wird immer wieder die Bedeutung von Mobilität inner-
halb der EU hervorgehoben. Es wird betont, wie wichtig
berufliche Erfahrungen im europäischen Ausland sind.
Zudem wird Mobilität als ein Weg aus der Wirtschafts-
krise gesehen. Man darf Mobilität meiner Meinung nach
nicht überbewerten, denn wir werden wohl kaum nur mit
mehr Mobilität alle Menschen in der EU in Arbeit brin-
gen. Wir dürfen jedoch nicht national durch solche Vor-
behalte die Mobilität behindern und den Menschen den
Eindruck vermitteln, sie seien bei uns nicht willkommen.

Europaweit wird zudem immer wieder betont, wie
wichtig das Zusammenwachsen auch in der Sozialpolitik
sei. Es geht gar nicht darum, dass wir europaweit die
gleiche Sozialpolitik machen. Aber es geht darum, dass
unsere europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger
wissen, dass sie sich in jedem Land auf das soziale Netz
verlassen können. Die Bundesregierung konterkariert
diese Bestrebungen durch den Vorbehalt.

Ich möchte noch auf eine weitere politische Debatte
aufmerksam machen – die Diskussion über die Fach-
kräfteentwicklung. Ich führe diese Debatte schon seit
langem, und ich gehöre gewiss nicht zu denen, die sofort
nach Zuwanderung rufen. Es geht immer erst um Ausbil-
dung derjenigen Menschen, die schon in Deutschland le-
ben. Aber wir dürfen in Zeiten, in denen wir auch auf
Zuwanderung angewiesen sind, nicht mit solchen Signa-
len das Gegenteil dessen bewirken, was mit der vielzi-
tierten Willkommenskultur angestrebt wird. In Sonntags-
reden wird betont, dass wir ein offener Staat mit einer
solchen Willkommenskultur sein wollen – und unter der
Woche wird dann ein Vorbehalt gegen das Europäische
Fürsorgeabkommen eingelegt. Das ermuntert sicherlich
niemanden, unbedingt nach Deutschland kommen zu
wollen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren von der Bundesregierung, die SPD-Fraktion un-
terstützt aus sozial- und europapolitischer Sicht den An-
trag der Grünen. Für den weiteren Gang vor den deut-
schen Gerichten hoffe ich, dass der Vorbehalt weiterhin
für nichtig erklärt und dann vom BMAS aus Einsicht in
die Gerichtsurteile abgeschafft wird.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1719541800

Die Bundesregierung hat mit Wirkung zum 19. De-

zember 2011 einen Vorbehalt zum Europäischen Fürsor-
geabkommen erklärt.

Damit macht die Bundesregierung von einer Mög-
lichkeit Gebrauch, die ihr ausdrücklich zugestanden
worden ist. Schon im Europäischen Fürsorgeabkommen
ist ja die Möglichkeit der Äußerung eines Vorbehalts in
Art. 16 Buchstabe b gegeben. Daher macht der von
Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Antrag aus diesem
Vorbehalt eine unnötig große Sache.

Die positiven Möglichkeiten des europäischen Inte-
grationsprozesses, nicht zuletzt die volle Arbeitnehmer-
freizügigkeit für Menschen aus 25 Ländern der Europäi-
schen Union, haben sich in den vergangenen Jahren in
ihrer Wirkung entfaltet. Für diejenigen Personen aus
EU-Staaten, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit nutzen
und sich in Deutschland aufhalten und arbeiten, beste-
hen im Sozialgesetzbuch II seit Erklärung des Vorbe-
halts wieder einheitliche Regelungen.

Das Problem ist doch, dass das Europäische Fürsor-
geabkommen, das lediglich 18 Staaten des Europarats
ratifiziert haben, diesen Regelungen entgegensteht. Da-
durch ergibt sich zwangsläufig eine Ungleichbehand-
lung der in Deutschland lebenden EU-Bürger, deren
Länder das Europäische Fürsorgeabkommen ratifiziert

Zu Protokoll gegebene Reden





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


haben und den EU-Bürgern aus Ländern, die es nicht
ratifiziert haben.

Der Punkt ist doch der, dass das Europäische Fürsor-
geabkommen, wenn es ohne Vorbehalt Geltung hätte, zu
einer Privilegierung von EU-Bürgern gegenüber ande-
ren EU-Bürgern aus Ländern, die das Europäische Für-
sorgeabkommen nicht ratifiziert haben, führen würde.
Diese Ungleichbehandlung entspricht jedoch nicht dem
Verständnis der christlich-liberalen Regierungskoali-
tion vom europäischen Integrationsprozess.

Während das Europäische Fürsorgeabkommen für
Franzosen, Italiener und Spanier Anwendung finden
sollte, hätte es für Polen und Tschechen nicht gegolten.
Daher finde ich die Entscheidung der Bundesregierung,
einen Vorbehalt einzulegen, nachvollziehbar und rich-
tig.

Mit dem erklärten Vorbehalt werden alle EU-Auslän-
der wieder gleich behandelt, ganz egal ob er oder sie
aus einem Unterzeichnerstaat des Europäischen Fürsor-
geabkommens stammt oder nicht.

Für alle gilt nun wieder: In den ersten drei Monaten
des Aufenthalts besteht grundsätzlich kein Anspruch auf
Arbeitslosengeld II und, soweit der Aufenthalt allein
dem Zwecke der Arbeitssuche dient, besteht auch über
diese Frist hinaus kein Anspruch auf Arbeitslosen-
geld II. Dies halte ich für eine sinnvolle Regelung. Ich
glaube auch nicht, dass die Erklärung des Vorbehalts
die Anwerbung qualifizierter Fachkräfte unterläuft, wie
Sie dies in Ihrem Antrag schreiben.

Ich finde es schon sehr bemerkenswert, dass Sie sich
für eine Regelung einsetzen, die Polen und Tschechen
diskriminiert. Mit solchen Regelungen der Ungleichbe-
handlung macht man keine Werbung für den Arbeits-
markt in Deutschland.

Sodann glaube ich nicht, dass wir mit der Vorbehalt-
erklärung Fachkräfte fernhalten. Das wäre ja nur dann
der Fall, wenn wir ihnen unterstellten, dass sie von
vornherein nach Deutschland kommen, um direkt
ALG II zu erhalten. Das halte ich für lebensfremd. Ich
gehe hingegen davon aus, dass Menschen, die als Fach-
kräfte zu uns kommen, bereits einen Arbeitsvertrag ha-
ben und nicht auf Sozialleistungen aus sind.

Im Übrigen hat diese Bundesregierung eine Menge
für die Erleichterung der Zuwanderung nach Deutsch-
land getan. Ich möchte an dieser Stelle nur an die Ein-
führung der Bluecard für Hochqualifizierte erinnern.

Die Bluecard können Hochschulabsolventen aus
Nicht-EU-Staaten erhalten, wenn sie einen Arbeitsver-
trag mit einem Arbeitgeber in Deutschland vorlegen und
ein Gehalt von mehr als 44 800 Euro pro Jahr beziehen.
In Berufen, in denen bereits jetzt Fachkräftemangel
herrscht, beispielsweise bei Ärzten und Ingenieuren, be-
trägt die Gehaltsschwelle knapp 35 000 Euro. Bei ent-
sprechenden Deutschkenntnissen erhalten Inhaber der
Bluecard bereits nach 21 Beschäftigungsmonaten eine
dauerhafte Niederlassungserlaubnis in Deutschland.

Das Gesetz erleichtert zudem die Beschäftigung aus-
ländischer Studenten und ausländischer Absolventen

deutscher Hochschulen. Die Suchphase, in der sie sich
um eine adäquate Beschäftigung in Deutschland bemü-
hen können, wird auf 18 Monate erweitert.

Außerdem bietet das neu geschaffene sechsmonatige
Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche gut ausgebildeten
Akademikern aus dem Ausland einen stärkeren Anreiz,
Karrierechancen in Deutschland zu suchen.

Die Erklärung des Vorbehalts läuft daher gewiss
nicht den Maßnahmen der Bundesregierung zur Anwer-
bung von Fachkräften und für eine Willkommenskultur
in Deutschland entgegen.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719541900

Bereits im Jahr 1953 haben die Mitglieder des Euro-

parates, der nicht identisch mit der heutigen Europäi-
schen Union ist, das sogenannte Europäische Fürsorge-
abkommen unterzeichnet. Ziel dieser Übereinkunft war
die Festlegung einer Gleichbehandlung der Staatsange-
hörigen der beteiligten Länder; diese Menschen sollten
in allen beteiligten Ländern dieselben Leistungen der
Fürsorge erhalten wie die jeweils einheimischen Ein-
wohner und Einwohnerinnen.

Bei Hartz IV regelt dagegen § 7 Abs. 1 Satz 2 des
Sozialgesetzbuches II einen Ausschluss von Leistungen
für Ausländerinnen und Ausländer sowie deren Fami-
lienangehörige, da deren „Aufenthaltsrecht sich allein
aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“. Das Bundes-
sozialgericht hat im Oktober 2010 geurteilt, dass diese
Einschränkung gegenüber Personen, die unter den
Schutz des Fürsorgeabkommens fallen, nicht greift. In
Reaktion auf diese BSG-Entscheidung hat die Bundesre-
gierung im Dezember 2011 einen sogenannten Vorbehalt
beim Europarat angemeldet – mit der Absicht, dass Leis-
tungen nach dem SGB II sowie Leistungen zur Überwin-
dung besonderer Schwierigkeiten nach dem SGB XII
– Sozialhilfe – von der Anwendung des Fürsorgeabkom-
mens ausgenommen werden sollen.

Wir als Linke kritisieren den durch die Bundesregie-
rung ausgesprochenen Vorbehalt ausdrücklich. Die For-

(Teilgung des Fürsorgeabkommens gleich. Dieser Schritt trifft den Kern des Abkommens und ist daher eine einseitige Aufkündigung europäischer Solidarität. Der Vorbehalt praktiziert und symbolisiert eine bornierte nationale Abgrenzungspolitik – und das ausgerechnet in dem Moment, in dem sich Deutschland offen zeigen müsste gegenüber Menschen, die in ihren Heimatländern aufgrund der EU-Kahlschlagpolitik derzeit keinerlei Zukunftsaussichten sehen. Es ist zudem in Zweifel zu ziehen, dass der Vorbehalt der Bundesregierung rechtlich zulässig ist, da er vermutlich gegen den Vertrag – das Europäische Fürsorgeabkommen – verstößt. Vorbehalte lassen sich nach den Regeln des Fürsorgeabkommens lediglich bei der Anmeldung von „neuen“ Rechtsvorschriften vortragen. Eine derartige „neue“ Rechtsvorschrift – Gesetz oder zumindest eine nationale Verordnung – hat es aber nicht gegeben; ein rechtlich zulässiger Anlass für die Anmeldung eines Vorbehalts ist damit nicht vorhanden. In die Zu Protokoll gegebene Reden Katja Kipping sem Sinne argumentierte jüngst zum Beispiel auch das Landessozialgericht Berlin/Brandenburg: „Ein zulässiger Verbehalt“ liege nicht vor, „die Vorschriften des EFA sind weiterhin anwendbar“ (L 19 AS 794-12 B ER LSG Berlin/Brandenburg vom 9. Mai 2012)





(A) (C)


(D)(B)


Das vorgebliche Anliegen der Bundesregierung, eine
Ungleichbehandlung von EU-Bürgerinnen und -Bürger
zu vermeiden – je nachdem, ob das jeweilige Land das
EFA unterzeichnet hat oder nicht –, ist lediglich vorge-
schoben. Denn bereits aus dem bestehenden Unions-
recht ergibt sich ein Leistungsanspruch auf Grundsiche-
rungsleistungen für EU-Bürger. Ein Anspruch für alle
EU-Bürger ist ebenfalls nach Ansicht vieler Sachkundi-
ger seit dem 1. Mai 2010 unabhängig von dem EFA
direkt aus der EG Verordnung 883/2004 ableitbar. Auf-
grund dieser Verordnung sprechen die Sozialgerichte zu-
nehmend auch „nur arbeitsuchenden“ Unionsbürgerin-
nen uneingeschränkte Alg-II-Ansprüche zu – damit
entfällt eine wesentliche Begründung der Bundesregie-
rung für ihren Vorbehalt. Selbst wenn die entsprechende
Rechtsprechung hier noch uneinheitlich agiert, so folgt
daraus höchstens die die Forderung nach einer Klarstel-
lung der Anspruchsberechtigung für alle EU-Bürgerin-
nen und -Bürger.

Am letzten Freitag wurde bekanntlich im Bundesrat
über die Initiative von drei Bundesländern zur Rück-
nahme des EFA-Vorbehalts abgestimmt. Leider fand sich
hierfür im Plenum keine Mehrheit, aber bezeichnend ist
doch, dass der Arbeits- und Sozialausschuss eine Zu-
stimmung zu diesem Antrag empfohlen hatte, während
der Innenausschuss auf Ablehnung plädierte. Diese
Dominanz der innenpolitischen Hardliner in allen Fra-
gen der Migration und Binnenwanderung muss endlich
aufhören.

Die Linke fordert daher: Ziehen Sie den Vorbehalt
zum Europäischen Fürsorgeabkommen zurück! Handeln
Sie endlich europäisch und solidarisch!


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719542000

Die schwarz-gelbe Bundesregierung legte im Dezem-

ber 2011 einen Vorbehalt gegen das Europäische Für-
sorgeabkommen, EFA, ein. Hiernach soll Zuwanderin-
nen und Zuwanderern aus 14 EU-Ländern sowie
Norwegen, Island und der Türkei, die ausschließlich zur
Arbeitsuche nach Deutschland kommen, fortan kein An-
spruch mehr auf Leistungen der Grundsicherung für Ar-
beitsuchende (SGB II) sowie Hilfen zur Überwindung
besonderer sozialer Schwierigkeiten (Kap. 8 SGB XII)

zustehen. Die Bundesagentur für Arbeit hat in der Folge
am 23. Februar 2012 eine Geschäftsanweisung erlas-
sen, die den EFA-Angehörigen mit sofortiger Wirkung
SGB-II-Leistungen untersagt.


(Bundestagsdrucksache 17/8699, Antwort auf Frage 60)

die Bundesregierung die Einlegung des Vorbehalts
mit der Ungleichbehandlung von Unionsbürgerinnen
und -bürgern gegenüber Angehörigen der EFA-Staaten.
So hätten arbeitsuchende Angehörige aus Ländern der
Europäischen Union im Gegensatz zu Angehörigen aus
EFA-Staaten keinen Anspruch auf SGB-II-Leistungen.

Künftig sollten daher ausnahmslos alle Staatsangehö-
rige, die sich allein zum Zweck der Arbeitsuche in
Deutschland aufhalten, vom Leistungsausschluss betrof-
fen sein. In der Praxis ist es nun unterschiedlich, wie mit
den betroffenen Menschen verfahren wird. Während
Berlin den Personen einen grundsätzlichen Anspruch
auf Sozialhilfeleistungen gewährt, soll der Deutsche
Städtetag nach Informationen der Diakonie Freiburg
der Bundesregierung bereits signalisiert haben, dass
hier keine Zuständigkeit gesehen wird.

Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
auf, den Vorbehalt zurückzunehmen. Dies ist aus mehre-
ren Gründen geboten: Zuerst einmal verstößt die Notifi-
kation des Vorbehalts gegen das Völkerrecht. Ein Sach-
standsbericht des Wissenschaftlichen Dienstes des
Deutschen Bundestages verdeutlicht, dass Vorbehalte
nur dann im Einklang mit der Wiener Vertragsstaaten-
konvention sowie dem EFA sind, sofern es sich um
„neue“ Gesetze handelt, die von den Vertragsstaaten
angezeigt werden müssen. Da es sich im aktuellen Fall
aber weder um ein neues Gesetz noch um eine Recht-
sprechung handelt, die die gerichtlich festgestellte
Rechtslage verändert, hätte die Einlegung des Vorbe-
halts unserer Überzeugung nach nicht stattfinden dür-
fen.

Hinzuweisen ist zudem darauf, dass die Bundesregie-
rung weder Bundestag noch dem Bundesrat über die
Einlegung des Vorbehalts informiert hat. Schon aus dem
Grundsatz der Organtreue wird man daher in derartigen
Konstellationen eine Pflicht der Bundesregierung ablei-
ten müssen, die Gesetzgebungsorgane rechtzeitig vor
Einlegung des Vorbehaltes zu informieren, damit diese
gegebenenfalls entsprechende Gegenmaßnahmen einlei-
ten können.

Insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass der Vor-
behalt zu einer Verschiebung von Kosten zwischen Bund
und Ländern bzw. Kommunen führt, ist die Nichtbeteili-
gung der Länderkammer zu kritisieren. Soweit SGB-II-
Leistungen versagt werden, geht dies zulasten der Län-
der und insbesondere der Kommunen, da der Aufenthalt
der betroffenen Unionsbürgerinnen und -bürger regel-
mäßig nicht beendet werden kann und Länder und ins-
besondere die Kommunen die Finanzierungslast der an-
deren infrage kommenden Leistungen trifft.

Auch das Bayerische Landessozialgericht hält den
von der Bundesregierung erklärten Vorbehalt zum Euro-
päischen Fürsorgeabkommen für nicht wirksam

(Beschluss vom 14. August 2012 – L 16 AS 568/12 B ER)

neue Rechtsvorschrift im Sinne von Art. 16 Buchstabe b
EFA handelt. Außerdem hätte an der entsprechenden
Entscheidung der Bundestag gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1
Grundgesetz beteiligt werden müssen.

Das Sozialgericht Berlin kommt in seinem Beschluss

(25. April 2012 – S 55 AS 9238/12) zu der Auffassung,

dass der Vorbehalt in innerstaatliches Recht transfor-
miert werden müsste. Mangels gesetzlicher Grundlage
des erklärten Vorbehalts bestehe für das Gericht keine
Bindung an diesen Vorbehalt. So heißt es: „Er ist auch
nicht durch bundesdeutsches Parlamentsgesetz inner-

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


staatlich wirksam gemacht worden. Zur Überzeugung
der Kammer ist zur Wirksamkeit dieses Vorbehaltes
jedoch ein bundesdeutsches Parlamentsgesetz erforder-
lich, zumindest im Sinne einer Ermächtigung für die
Erklärung eines entsprechenden Vorbehalts.“

Der Deutsche Anwaltverein appelliert in seiner Stel-
lungnahme des Ausschusses Ausländer- und Asylrecht
an die Bundesregierung, den am 15. Dezember 2011 er-
klärten Vorbehalt zur Anwendung des SGB II auf die
Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten des EFA
zurückzunehmen. Dies sei insbesondere vor dem Hinter-
grund des Grundsatzes der gegenseitigen finanziellen
Solidarität der Mitgliedstaaten geboten.

Die Bundesregierung hat mit der Einlegung des Vor-
behalts außerdem einen zentralen und wichtigen Grund-
satz – die gegenseitige europäische Solidarität – ange-
griffen. Anstatt, wie überwiegend in der Literatur
vertreten, die hiesige Sozialgesetzgebung europarechts-
konform auszugestalten, um allen ernsthaft und nach-
weislich arbeitsuchenden Unionsbürgerinnen und -bür-
gern entsprechende SGB-II-Leistungen zukommen zu
lassen, nimmt die Bundesregierung mit der Einlegung
des Vorbehalts eine Anpassung nach unten vor. Dieser
Schritt ist das Gegenteil einer allgemein angestrebten
Willkommenskultur zur Anwerbung qualifizierter Fach-
kräfte.

Es entbehrt dabei jeglicher Grundlage, den grund-
sätzlichen SGB-II-Anspruch für alle arbeitsuchenden
Unionsbürgerinnen und -bürger mit einer Einladung zur
Einwanderung in die Sozialsysteme gleichzusetzen.
So hat sich nach Angaben der Bundesagentur für
Arbeit, BA, die Zahl der arbeitsuchenden Ausländerin-
nen und Ausländer trotz des Urteils des Bundesozial-
gerichts aus dem Jahr 2010 und der seit Mai 2011 gel-
tenden Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht verändert. Rund
10 000 Personen einschließlich Familienangehörige
kommen monatlich zur Arbeitsuche nach Deutschland.
Aktuelle Ergebnisse einer Untersuchung des Instituts
zur Zukunft der Arbeit ergeben, dass öffentliche Hilfen

(wie Arbeitslosenunterstützung) die Migrationsentschei-

dung potenzieller Zuwanderer nicht beeinflussen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719542100

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/9474, den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9036
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.

Tagesordnungspunkt 32:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher
Vorschriften

– Drucksache 17/10754 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1719542200

Mit dem Beschluss des Kabinetts vom 29. August

2012 zur Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes wurde
ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Energiewende
gegangen. Es ist nicht nur ein klares Bekenntnis für die
Windenergie auf See, sondern verdeutlicht auch unser
umfassendes energiepolitisches Handeln.

Zu oft hört man in den Debatten der letzten Monate,
dass man am besten auf die Offshorewindenergie ver-
zichten sollte, da diese Technologie zu teuer und risiko-
reich sei. Das ist falsch. Wir brauchen für die Energie-
wende alle erneuerbaren Energieträger: von der Photo-
voltaik bis zur Windenergie auf der See.

Es ist richtig, die Offshorewindenergie auszubauen,
da die See mit ihren beständigen Winden ein Topstandort
für unsere künftige Stromversorgung ist. Denn mit
4 000 Volllaststunden ist die Offshorewindenergie dop-

(1 900 Volllaststunden)

Die See ermöglicht auch den Einsatz großer Windkraft-
anlagen mit einer Leistung von bis zu 5 Megawatt (MW).
Dieses hohe Potenzial macht die Offshorewindenergie
zu einer starken Säule der Energiewende.

Das haben nicht nur wir erkannt, sondern auch eine
Vielzahl von Unternehmen, von den Stadtwerken über
Hedgefonds bis hin zu den großen Energieversorgern,
die sich am Aufbau der Offshorewindenergie beteiligen.

Ohne dieses Engagement sowie die richtigen Rahmen-
bedingungen werden wir unsere gemeinsam beschlosse-
nen Ausbauziele von 25 000 MW Offshorewindenergie im
Jahre 2030 nicht erreichen. Diese ambitionierten Zielset-
zungen bieten sowohl dem Wirtschafts- als auch dem
Energiewendestandort Deutschland ein hohes Potenzial.
Deutschland kann in dieser Technologie führend werden.
Beim Umsetzen der ambitionierten Ausbaupläne anderer
Staaten sind schon heute viele deutsche Unternehmen an
Projekten beteiligt. Diese Erfolgsgeschichte möchten
wir fortsetzen.

Wir sind noch am Anfang der technologischen Ent-
wicklung der Offshorewindenergie. Mangelnde Erfah-
rungswerte erhöhen das Investitionsrisiko. Deshalb war
es uns als Regierungskoalition wichtig, stärkere Anreize
zu setzen, um mehr Investitionen auszulösen.

So haben wir schon im vergangenen Jahr im Rahmen
der EEG-Novelle die Finanzierung der Offshorewind-
energie verbessert. Um Investitionen zu erleichtern,
wurde das sogenannte Stauchungsmodell eingeführt,
das alternativ zur bisherigen Regelung gewählt werden
kann. Nach diesem Modell wird für einen kürzeren Zeit-
raum eine höhere Anfangsvergütung gewährt.

Auch haben wird das Kreditprogramm „Offshore-
Windenergie“ der Kreditanstalt für Wiederaufbau, KfW,

Zu Protokoll gegebene Reden





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)


auf den Weg gebracht. Dort werden insgesamt 5 Milliar-
den Euro Kreditvolumen für die Finanzierung von bis zu
zehn Offshorewindparks bereitgestellt. Dadurch wird In-
vestoren ermöglicht, die hohen Finanzierungsvolumina
am Kapitalmarkt aufzubringen.

Neben diesen Maßnahmen ist das jetzige Gesetzes-
vorhaben ein weiterer wichtiger Baustein für mehr
Windenergie. Mit dem im Gesetzentwurf vorgesehenen
Systemwechsel möchten wir verhindern, dass hochmo-
derne Windanlagen betriebsbereit im Meer stehen, aber
der passende Anschluss für die Stromweiterleitung fehlt.
Oder dass die Seekabel gelegt sind, aber die Windräder
nicht stehen. Dies verursacht bei allen Beteiligten unnö-
tige Zusatzkosten und bremst den Ausbau der Off-
shorewindenergie.

Durch die Einführung eines verbindlichen Offshore-
netzentwicklungsplans möchten wir erstmals einen Netz-
ausbauplan einführen. Dieser wird Netzanbindungen
und Offshorewindparks zukünftig besser koordinieren.
Er soll den Realisierungszeitpunkt sowie Ort und Größe
zukünftiger Netzanschlüsse verbindlich festgelegen, um
eine bessere Abstimmung mit dem Onshorenetzausbau
zu erreichen.

Darüber hinaus wird mit der EnWG-Novelle eine
Haftungsregelung für Verzögerungen bei der Errichtung
und Störungen beim Betrieb von Offshorenetzanbin-
dungsleitungen eingeführt. Dies ist eine dringend not-
wendige Regelung, da anderenfalls das Investitionsri-
siko so hoch wäre, dass der Ausbau der Offshore-
windenergie zum Erliegen kommt. Die Schadenssummen
sollen deswegen bis auf einen Eigenanteil von 100 Mil-
lionen Euro zum Großteil über eine Umlage gewälzt
werden, die die Stromverbraucher zahlen.

Im Gegensatz zu der EEG-Umlage, für die die Ver-
braucher 3,59 Cent pro Kilowattstunde zahlen, sind
aber die Mehrkosten für diese Haftung gedeckelt und so-
mit überschaubar. Auf die Stromkunden sollen maximal
0,25 Cent je Kilowattstunde umgelegt werden, auf große
Stromverbraucher – mit mehr als 100 000 Kilowattstun-
den pro Jahr – nur maximal 0,05 Cent.

Mit diesen Regelungen schaffen wir also, sowohl den
Ausbau der Offshorewindenergie zu beschleunigen, als
auch die Kosten für den Verbraucher zu begrenzen.

Der Ausbau der Offshorewindenergie lohnt sich. Es ist
eine Energietechnologie mit Zukunft. So kann sie zur ver-
lässlichen Säule unserer Energieversorgung werden wie
auch zum Exportschlager für die heimische Offshore-
industrie.

Wo andere schon mit Wahlkampfgetöse beginnen, ge-
hen wir Schritt für Schritt voran in Richtung Energie-
wende.


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1719542300

Windenergie ist eine wichtige Säule beim Umbau der

Energieversorgung in Deutschland. Onshore und off-
shore produzierte Windenergie wird künftig einen wichti-
gen Teil der Stromversorgung ausmachen. Wir brauchen
die Windenergie, um die Energiewende zu schaffen.

Bisher ist der Ausbau der Offshorewindenergie aber
nicht wie geplant vorangekommen. Es besteht die Ge-
fahr, dass er auch weiterhin stocken wird. Wie die Ver-
gangenheit gezeigt hat, haben Übertragungsnetzbetrei-
ber häufig Probleme damit, eine rechtzeitige Anbindung
von OWPs an das Netz sicherzustellen. Das kann sowohl
auf Seite eines Offshorewindparkbetreibers als auch ei-
nes Übertragungsnetzbetreibers hohe Risiken bergen:
Offshorewindparkbetreibern entgeht zum Beispiel die
EEG-Vergütung, die sie bei rechtzeitiger Anbindung für
den eingespeisten Strom bekommen würden, sie erleiden
Zinsverluste oder zahlen Instandhaltungskosten für den
fertigen Windpark auf See. Übertragungsnetzbetreiber
sehen sich einem großen Haftungsrisiko ausgesetzt,
wenn sie gegen ihre gesetzliche Anbindungsverpflich-
tung verstoßen und den Windparkbetreiber eigentlich
entschädigen müssten. Das könnte nicht nur zu Liquidi-
tätsengpässen, sondern auch zu einer Zurückhaltung bei
neuen Investitionsentscheidungen führen.

Es ist daher gut, dass der vorliegende Gesetzentwurf
jetzt verlässliche Rahmenbedingungen schafft. Bei der
Netzplanung für die Anbindung von Offshorewindparks
vollziehen wir einen Systemwechsel, der angesichts der
Akteure im Offshorebereich unproblematisch, ja geboten
ist. Wir gehen weg von einem individuellen Anbindungs-
anspruch hin zu einem Offshorenetzentwicklungsplan.
Dieser jährlich von den Übertragungsnetzbetreibern
vorzulegende Plan soll künftig alle Maßnahmen zum
bedarfsgerechten Ausbau der Offshoreanbindungslei-
tungen aufzeigen. Zudem soll er die Zeitpunkte für den
Baubeginn und die Fertigstellung durch den Übertra-
gungsnetzbetreiber festschreiben. Das verschafft ihnen
und den Offshorewindparkbetreibern größere Planungs-
sicherheit, denn beide können sich künftig besser zeitlich
aufeinander einstellen.

Mit diesem Systemwechsel wollen wir erreichen, dass
eine Haftungssituation gar nicht erst entsteht, da die
bisherigen zeitlichen Diskrepanzen zwischen Fertigstel-
lung des Windparks und des Netzes vermindert oder gar
vermieden werden können. Trotzdem ist es wichtig, die
nach bisheriger Rechtslage noch offenen Haftungsfragen
bei Verzögerung oder Störung der Anbindung eines Off-
shorewindparks an das Übertragungsnetz zu klären.

Der vorliegende Entwurf sieht vor, dass der Übertra-
gungsnetzbetreiber für Verspätungen oder Störungen
nun grundsätzlich entschädigungspflichtig ist. Es stimmt
natürlich: Die Kosten der Entschädigung kann er ab-
hängig von seinem Verschuldensgrad über eine Entschä-
digungsumlage auf die Verbraucher abwälzen. Diese
müssen dann höhere Netzentgelte zahlen. Allerdings ist
diese Wälzungsmöglichkeit eben vom Verschuldensgrad
abhängig, was verhindert, dass der Übertragungsnetz-
betreiber sich aus der Affäre ziehen kann. Um aber auch
wirtschaftliches Risiko bei den Offshorewindparkbetrei-
bern zu belassen, haben diese einen bestimmten Selbst-
behalt bei den entstandenen Schäden zu tragen. Das er-
höht den Abstimmungsdruck.

Mit diesen Regelungen geben wir Windparkinvesto-
ren und Übertragungsnetzbetreibern die notwendige Si-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


cherheit für den weiteren Ausbau der Offshorewindener-
gie.

Insgesamt: Vor dem Hintergrund der ohnehin bereits
hohen Belastungen der Verbraucher durch die Energie-
wende müssen wir die Kosten für sie bei jedem Gesetzes-
vorhaben im Auge behalten, so auch bei dem vorliegen-
den Entwurf. Unsere privaten und gewerblichen
Verbraucher dürfen durch die Haftungsregelungen nicht
über Gebühr belastet werden. Vor allem müssen wir da-
rauf achten, dass es nicht zu einem Missverhältnis von
Kompetenzen und Verantwortlichkeiten kommt.

Vielerorts stellt sich – zu Recht – die grundsätzliche
Frage, warum der Verbraucher überhaupt dafür be-
langt werden soll, wenn ein Netzbetreiber seine Anbin-
dungspflicht nicht erfüllt. Die Netzbetreiber führen hier
immer wieder gerne das Argument ins Feld, dass Ver-
spätungen häufig dadurch zustande kommen, dass ihre
Zulieferer sie nicht rechtzeitig beliefern. Das mag ja
sein. Richtig ist es aber eigentlich nicht, dass der Ver-
braucher dafür geradestehen muss. Denn er kann erst
einmal nichts dafür, wenn der Netzbetreiber – aus wel-
chen Gründen auch immer – seine Anbindung nicht
rechtzeitig bewerkstelligt.

Die in dem Entwurf vorgesehenen Haftungsregelun-
gen müssen wir deshalb intensiv auf die Frage der Ver-
antwortlichkeiten der Übertragungsnetz- und Off-
shorewindparkbetreiber prüfen und sie mit den daraus
resultierenden Belastungen für die Verbraucher genau
austarieren. Der vorgesehene Ansatz, die aus den Haf-
tungsregeln entstehenden Belastungen in ihrer Höhe zu
begrenzen und zu verteilen, geht sicherlich in die rich-
tige Richtung, schließlich müssen wir Investitionshemm-
nisse beseitigen, und dazu gehören auch unproportio-
nale Risiken. Gegebenenfalls müssen wir hier aber
nachbessern.

Wichtig ist auch, dass Kostenkontrolle und -transpa-
renz sichergestellt werden. Denn nur wenn die Verbrau-
cher wissen, was sie wofür bezahlen, werden sie die für
die Energiewende notwendigen Maßnahmen mittragen.
Auch hier zeigt der vorliegende Entwurf vernünftige An-
sätze mit einer Pflicht zur Dokumentation und Veröffent-
lichung von Schadensfällen und Maßnahmen zur Scha-
densminderung. Gut ist auch, dass die resultierenden
Umlagen transparent gemacht werden sollen.

Wir brauchen die Windenergie auf See und an Land.
Der vorliegende Entwurf zeigt erste gute Ansätze auf,
wie verlässliche Rahmenbedingungen geschaffen wer-
den können, um den Ausbau der Offshorewindenergie
weiter voranzubringen. Das ist gut und auch dringend
notwendig, um unsere energiepolitischen Ziele zu errei-
chen.

Lassen Sie uns den Weg in das Zeitalter der regenera-
tiven Energie konsequent weitergehen!


Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1719542400

Wieder einmal befasst sich der Deutsche Bundestag

mit Reparaturen an der Energiepolitik der schwarz-gel-
ben Bundesregierung. Ob drei EEG-Novellen innerhalb
von drei Jahren oder die heute diskutierte Investitions-

sicherheit für Betreiber von Offshorewindparks und
Netzbetreiber – es fehlt an Plänen, Absprachen und Vor-
stellungen. Die aktuelle Debatte über Maßnahmen und
deren Finanzierung zur Beschleunigung des Ausbaus
der Offshorewindenergie zeigt einmal mehr, dass die vor
einem Jahr in panischer Eile beschlossenen Gesetze zur
Energiewende nicht nur handwerklich schlecht sind,
sondern eine praktische Realisierung der Energiewende
behindern. Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion be-
reits im Juni letzten Jahres dafür plädiert, die parlamen-
tarischen Beratungen zum Erneuerbare-Energien-
Gesetz, EEG, und zum Energiewirtschaftsgesetz, EnWG,
mit der gebotenen Sorgfalt zu führen und nicht innerhalb
von sechs Wochen ohne Rücksicht auf Verluste durch den
Bundestag zu peitschen. Eine stärkere Unterstützung der
erprobten Windenergie an Land und genügend Zeit zum
Ausbau der Offshorewindenergie wären richtig gewe-
sen.

Auch am heute zu beratenden Gesetzentwurf der Bun-
desregierung besteht noch weitreichender Änderungsbe-
darf. Auch wir sehen die Notwendigkeit, die aufgeworfe-
nen Haftungsfragen derart zu beantworten, dass
Investitionen in Offshorewindparks erfolgen und auch
die Netzbetreiber nicht in den Ruin getrieben werden.
Gleichzeitig braucht es in einem solchen Gesetz aber
auch Anreize für die betreffenden Akteure, die Risiken so
weit wie möglich zu mindern. Gerade wenn mögliche
Schadenersatzforderungen der Windparkbetreiber ge-
genüber den Netzbetreibern von der Allgemeinheit ab-
gefedert werden, müssen auf allen Stufen des Baus der
Windparks und des Netzanschlusses sorgfältig Vorkeh-
rungen getroffen werden, damit der Schadensfall mög-
lichst gar nicht erst eintritt. Hierzu zählen auch Anreize
für ein volkswirtschaftlich sinnvolles Verhalten der
Übertragungsnetzbetreiber bei der Wartung. Dies be-
deutet, dass mögliche Störungsfälle genutzt werden, um
gleichzeitig nötige Wartungsarbeiten vorzuziehen. Hier-
durch würde die potenzielle Ausfallzeit der Stromleitung
verringert.

Noch ein weiterer Aspekt muss gründlich nachgebes-
sert werden: Der vorliegende Gesetzentwurf gewährleis-
tet nicht für alle fortentwickelten Windparkprojekte den
notwendigen Vertrauensschutz. Denn der Gesetzentwurf
sieht vor, dass nur solche Projekte noch einen Anspruch
auf eine unbedingte Netzanbindungszusage haben, die
bis 1. September dieses Jahres die Voraussetzungen zur
Erlangung dieser Zusage nachweisen konnten. Hierbei
wird vergessen, dass diese Frist zur Entlastung des zu-
ständigen Netzbetreibers und mit Genehmigung der Bun-
desnetzagentur bei einigen Projekten nach hinten ver-
schoben wurde. Wenn auch diese Windparks erst eine
Netzanbindungszusage auf Grundlage des zu entwi-
ckelnden Offshorenetzplans erhalten sollen, stehen In-
vestitionsentscheidungen in Milliardenhöhe auf der
Kippe. Deshalb brauchen wir an dieser Stelle einen
Stichtag für die Gewährung der Übergangsregelung, der
die nötige Planungs- und Investitionssicherheit wieder-
herstellt.

Ich möchte noch auf einen weiteren wichtigen Punkt
hinweisen, der in der schwarz-gelben Kakofonie in der
Energiepolitik untergeht: Der in Offshorewindenergie-

Zu Protokoll gegebene Reden





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)


anlagen erzeugte Strom kann nur einen Beitrag zur Ver-
sorgungssicherheit des Landes leisten, wenn der Ausbau
der Übertragungs- und Verteilnetze vorangeht. Regel-
mäßig stellt die Bundesnetzagentur fest, dass selbst der
Ausbau der vor drei Jahren im Energieleitungsausbau-
gesetz festgeschriebenen Stromtrassen nicht voran-
kommt. Der zur Systemintegration der erneuerbaren
Energien notwendige Ausbau der Verteilnetze findet bei
der Bundesregierung gar keine Beachtung.

Weitere Schwerpunkte der anstehenden EnWG-
Novelle betreffen die Vermeidung der endgültigen Still-
legung systemrelevanter Kraftwerke sowie die bessere
Verzahnung der Strom- und Gasversorgung. Gerade die
vorgesehene Verpflichtung zum Weiterbetrieb eines
Kraftwerks muss rechtssicher ausgestaltet sein, handelt
es sich hierbei doch um einen Eingriff in die Eigentums-
rechte des Anlagenbetreibers. In diesem Zusammenhang
müssen wir auch mögliche Mitnahmeeffekte vermeiden,
damit nicht schon die reine Ankündigung, ein systemre-
levantes Kraftwerk stillzulegen, zu einem Geschäft wird.
Hierzu sind Regelungen denkbar, dass das betreffende
Kraftwerk nach Ablauf der festgelegten zusätzlichen Be-
triebszeit wirklich stillzulegen ist oder die geleisteten
Entschädigungszahlungen komplett und verzinst zurück-
zuzahlen sind. Darüber hinaus müssen wir auch die vor-
geschlagenen Regelungen zur Sicherung der Gasversor-
gung der Kraftwerke genau auf ihre Umsetzbarkeit
überprüfen.

Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich in die anste-
henden parlamentarischen Beratungen zur Weiterent-
wicklung des Energiewirtschaftsgesetzes konstruktiv
einbringen. Die vom Wirtschaftsausschuss beschlossene
Anhörung sollten wir nutzen, um die von mir angespro-
chenen Vorhaben und Sachverhalte rechtssicher und
wirksam umzusetzen. Denn wir alle hier tragen Verant-
wortung dafür, dass Deutschland auch zukünftig unter
für die Betreiber von Erzeugungsanlagen verlässlichen
Rahmenbedingungen und mit bezahlbaren Preisen für
Haushalte und Unternehmen sicher mit Strom versorgt
werden kann.


Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1719542500

Mit dem Energiekonzept der Bundesregierung haben

wir uns zum Umbau der Energieversorgung in Deutsch-
land bekannt. Es ist unser gemeinsames Ziel, den Anteil
von Braunkohle, Steinkohle und Kernenergie an unse-
rem Energiemix zu verringern. Ebenso wollen wir ge-
meinsam den Anteil von Biomasse, Wasserkraft und Wind-
kraft ausbauen, sodass sie gemeinsam mit der Photo-
voltaik und der Geothermie bis zum Jahr 2050 rund
80 Prozent der Stromversorgung in Deutschland überneh-
men.

Aus Gründen der Effizienz kommt der Windenergie in
unserem Energiemix der Zukunft eine zentrale Rolle zu.
Einen großen Teil unseres Stroms aus der Windenergie
wollen wir offshore, das heißt draußen in Nord- und Ost-
see, „ernten“. Die Schwierigkeit an der Sache: Gerade
in der Nordsee, wo der Großteil der Parks geplant ist,
sind die Claims sehr weit draußen, oft über 100 Kilome-
ter, im offenen Meer. Bei einer konventionellen Wechsel-

stromübertragung sind hohe Stromverluste über solch
große Distanzen unvermeidbar.

Als Alternative bleibt uns alleine die Gleichstrom-
übertragung. Die Herausforderung dabei aber ist, dass
uns die notwendigen Erfahrungen im Umgang mit dieser
neuen Technologie fehlen, besonders auf dem Meeresbo-
den: Dort müssen Kabel zum Schutz vor Ankern oder an-
deren Störungen metertief eingespült werden. Ebenso
fehlen uns Erfahrungen knapp über dem Meeresspiegel:
Dorthin müssen neue Umspannstationen erst transpor-
tiert werden, und dann müssen sie dort für die kommen-
den zwei Jahrzehnte Wind, Wetter und Salz trotzen.

Wir haben es mit einer vollkommen neuen Technolo-
gie zu tun: Der Ansatz, möglichst schnell möglichst viel
Offshorewindkraft zu installieren, ging an der Realität
vorbei. Das zeigt uns die Situation heute!

Erstens. Die Unternehmen haben nur sehr enge Zeit-
fenster, während derer an den Anschlüssen gearbeitet
werden kann. Die Auftragnehmer für den Bau solcher
Anlagen stehen unter einem extremen Wettereinfluss.

Zweitens. Einige Offshorewindparks könnten schon
Strom produzieren; allerdings sind Anschlüsse für eine
Einspeisung in das Übertragungsnetz noch nicht fertig-
gestellt.

Drittens. Die schnelle Nachfrage nach Umspannsta-
tionen steht in einem Markt nur zwei Anbietern gegen-
über. Liefervereinbarungen können zeitlich oft nicht
eingehalten werden. Dadurch entstehen Windpark-
betreibern teils große Schäden. Je nach Größe eines
Parks können das bis zu 750 000 Euro pro Tag sein.

Diese Risiken bedrohen den Erfolg der Energie-
wende. Investoren brauchen Planungssicherheit! Sonst
werden wir unsere Offshorewindkraftausbauziele nicht
erreichen.

Für ein Gelingen der Energiewende möchten wir
Windparkbetreiber daher entschädigen. Die uns vorlie-
gende Neuregelung legt fest, wie das geschehen soll, und
sie legt fest, bis zu welcher Höhe des Ausfalls der Netz-
betreiber haften muss, ebenso wie die Summe, ab der es
für einen Netzbetreiber unmöglich wird, weiter zu be-
zahlen, und der Verbraucher für die Ziele der Energie-
wende seinen Beitrag leisten muss. Zusätzlich verpflich-
ten wir die Übertragungsnetzbetreiber, jährlich einen
Offshorenetzentwicklungsplan vorzulegen. Auch damit
schaffen wir mehr Planungssicherheit, insbesondere für
private Investoren, die wir für die Offshorewindkraft und
auch für die Energiewende dringend brauchen.


Johanna Voß (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719542600

Die von der Bundesregierung privilegierte Off-

shorewindkraft will nicht so richtig in Gang kommen
und hinkt den anvisierten Ausbauzielen weit hinterher.
Nun meint die Bundesregierung, das Problem in den
Haftungsrisiken der Netzbetreiber entdeckt zu haben,
weshalb es diesen schwerfalle, Investoren zu gewinnen.
Ihre Schlussfolgerung: Die Stromverbraucher sollen das
Risiko tragen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Johanna Voß


(A) (C)



(D)(B)


Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll also Tempo
gemacht werden für den Ausbau der Offshorewindener-
gie. Hierfür sollen die Haftung für nicht rechtzeitig
fertiggestellte Anbindungen der Windparks an das Ener-
gienetz auf die Verbraucher abgewälzt sowie ein
Offshorenetzentwicklungsplan erstellt werden. Künftig
sollen also die Stromverbraucher dafür zahlen, wenn die
Windparks nicht rechtzeitig angeschlossen werden – die
satte Rendite von über 9 Prozent nach Abschluss der An-
bindung kassieren dann aber die Netzbetreiber. Gewinne
privatisieren, Risiken sozialisieren ist also auch hier das
Motto der Bundesregierung. Das ist doch absurd: Für
die Risiken zahlt der Stromkunde, damit die Konzerne
satte Gewinne machen können. Und wie geht das doch
so schön: Großkunden werden wieder einmal von der
Umlage befreit.

Da diese Haftungsabwälzung auch noch rückwirkend
für bereits durch die Netzbetreiber gemachte Anschluss-
zusagen gelten soll, ist bereits heute klar, dass diese
Regelung Milliarden Euro an Kosten auf die Verbrau-
cher abwälzt.

Wenn man auf den massiven Ausbau der
Offshorewindenergie setzen will, dann macht der im
Gesetzentwurf vorgesehene Offshorenetzentwicklungs-
plan Sinn. Aber diese Übersubventionierung der
Offshorewindenergie muss grundsätzlich hinterfragt
werden. Offshorewindenergie ist teuer im Vergleich zu
anderen erneuerbaren Energieträgern. Sie erfordert
zusätzlich hohe Netzausbaukosten für Stromleitungen
bis zur Küste und von Nord nach Süd, zementiert die
zentralisierte Struktur der Stromproduktion in Deutsch-
land und dient vor allem den großen Energiekonzernen.

Während die Einspeisevergütung für Offshorewind-
energie wahlweise 15 oder 19 Cent je Kilowattstunde
beträgt, so liegt sie bei Onshorewindenergie bei
8,93 Cent. Rechnet man Folgekosten wie die höheren
Kosten für Stromleitungen mit, dann betragen die Kos-
ten für verbrauchernahe Onshorewindenergie nur ein
Viertel der Kosten von Offshoreanlagen. Die dezentrale
Versorgung mit erneuerbaren Energien erspart uns nicht
nur manche Großinvestition, sie ist nicht nur billiger
und mit weniger Risiken verbunden, sie kann auch den
Mittelstand stärken, mehr Arbeitsplätze bringen und zur
Demokratisierung der Energieversorgung beitragen –
alles in allem eine wünschenswerte Entwicklung.

Stattdessen orientiert sich die Bundesregierung wei-
ter an alten, ineffizienten und gesellschaftlich teuren
Interessen privater Konzerne, fördert weiterhin vor al-
lem zentrale Offshoreparks und andere Großprojekte
und erlegt jetzt wieder einmal Kosten der Energiewende
einseitig den Verbrauchern auf.

Die Bundesregierung muss von ihrer Fixierung auf
große Offshoreparks abrücken, denn Onshorewindparks
sind günstiger und können dort gebaut werden, wo der
Strom auch gebraucht wird. Die Zukunft der Energie-
versorgung ist dezentral.

Statt die Verbraucher einseitig für das Unterneh-
mensrisiko zahlen zu lassen, muss die Bundesregierung
endlich ihre dogmatische Haltung hinsichtlich der

Stromnetze ablegen. Bei natürlichen Monopolen wie den
Stromnetzen, bei denen es keinen echten Wettbewerb
geben kann, gehen privatwirtschaftliche Lösungen zu-
lasten der Verbraucher. Gerade in einem für die Ener-
giewende und damit für die Zukunft so zentralen Bereich
darf man sich nicht auf den guten Willen der Unterneh-
men verlassen. Darüber hinaus muss eine Bundesnetz-
gesellschaft her, damit die Kosten zwischen Bundeslän-
dern gerecht verteilt werden und nicht die Bürger von
Bundesländern mit einem hohen Anteil erneuerbarer
Energien stärker belastet werden als andere. Die Netze
gehören in die öffentliche Hand!


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719542700

Heue legt uns die Bundesregierung den Entwurf einer

Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes vor, der nichts
anderes ist als der hilflose Versuch einer Notoperation,
um den praktisch nicht stattfindenden Offshoreausbau
vielleicht doch noch zu retten. Es ist wie auf fast allen
Feldern der Energiepolitik: Die Bundesregierung flick-
schustert nur noch herum und versucht, ihr eigenes Ver-
sagen irgendwie zu korrigieren.

Dabei ist das Offshoreproblem sei Jahren bekannt:
Netzbetreiber genauso wie die Betreiber der Off-
shorewindparks haben immer wieder darauf hingewie-
sen, dass es einer Synchronisation und Steuerung des
Baus der Windparks und der Netze auf dem Meer bedarf.
Doch die zuständigen Minister von Brüderle über Rösler
bis Röttgen haben sich schlichtweg nicht darum geküm-
mert, weil es ein schwieriges Thema ist, das keine tollen
Schlagzeilen produziert. Geschehen ist nichts, als man
hätte handeln müssen und können.

Jetzt, wo der Karren vor die Wand gefahren ist und
die Probleme nicht mehr weggedrückt werden können,
versucht man den Rheinischen Klüngel in Gesetzesform
zu gießen: Drei – Bundesregierung, Netzbetreiber und
Windparkbetreiber – verständigen sich auf Kosten eines
Vierten, nämlich der privaten Stromverbraucher. Die In-
dustrie soll wie immer aufgenommen werden.

Das geht so nicht. Wenn Sie schon die Stromverbrau-
cher für Ihre Fehler zahlen lassen – das ist schon ver-
werflich genug –, dann verteilen Sie wenigstens die Las-
ten fair.

Verbraucherschutzministerin Aigner hat sich völlig
zu Recht über die Mehrbelastungen der Privathaushalte
durch die Regelung beschwert. Das Ergebnis dieses Ko-
alitionskrachs ist nun wieder typisch schwarz-gelb: Die
Privatverbraucher werden weiterhin alleine belastet,
aber die Haftungsregelung wurde so verändert, dass es
überhaupt nicht hilft, den Netzanschluss der Windparks
auf See voranzubringen. Das jedenfalls hören wir im
Moment von Beteiligten, und das ist nun Absurdistan im
Quadrat: Rheinischer Klüngel zulasten der privaten
Stromverbraucher, und gar keiner hat etwas davon.

Im vorliegenden Gesetzentwurf ist nun unter anderem
festgeschrieben, dass die Übertragungsnetzbetreiber
jährlich einen Offshorenetzentwicklungsplan vorlegen
müssen sowie eine verbindliche Mitteilung des Netzan-
schlusses für den Betreiber machen müssen, der 30 Mo-

Zu Protokoll gegebene Reden





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


nate vor Fertigstellung nicht mehr geändert werden
kann und somit zu einer größeren Investitionssicherheit
für die Offshorewindparkbetreiber führt. Um dies zu er-
reichen, soll es zudem neue Haftungsregeln geben, für
den Fall von Verzögerungen und Pannen beim An-
schluss von Offshorewindparks auf hoher See. Bei der
Entschädigung ist eine Selbstbeteiligung je nach Scha-
denshöhe der Übertragungsnetzbetreiber vorgesehen,
wenn es zu fahrlässig verursachten Netzunterbrechun-
gen bzw. -verspätungen kommt. Die Selbstbeteiligung
liegt zwischen 20 Prozent bei einer Schadenshöhe von
0 bis 200 Millionen Euro und 5 Prozent bei einer Scha-
denshöhe von 601 bis 800 Millionen Euro Schaden. Die
allgemeine Haftungsbegrenzung für den Übertragungs-
netzbetreiber liegt bei 100 Millionen Euro. Schäden
oberhalb von 800 Millionen Euro im Jahr werden kom-
plett auf die Netzentgelte umgelegt. Entschädigungszah-
lungen für Schäden, die nicht vom anbindungsverpflich-
teten Übertragungsnetzbetreiber verursacht werden,
können komplett umgelegt werden. Durch die Einfüh-
rung einer neuen Umlage von maximal 0,25 Cent pro
Kilowattstunde werden die Stromverbraucher mit einem
Gesamtvolumen von etwa 650 Euro jährlich zusätzlich
belastet. Die Industrie muss ab einem Verbrauch von
1 Million Kilowattstunden im Jahr jedoch nur eine Um-
lage von 0,05 Cent pro Kilowattstunde bezahlen.

Der Großteil der finanziellen Risiken wird auf die pri-
vaten Stromkunden abgewälzt und die Großindustrie
durch Ausnahmetatbestände weitestgehend von der
neuen Umlage befreit. Das wird nicht nur von Verbrau-
cherverbänden, sondern auch von Teilen der Energie-
wirtschaft selbst zu Recht kritisiert. Dabei sollte allen
Beteiligten klar sein, dass der Ausbau der Energiewende
nur gelingt, wenn die Kosten fair auf allen Schultern
verteilt werden.

Wir hätten einen anderen Vorschlag, als die Verbrau-
cher in Haftung zu nehmen: Der Bund übernimmt das
Haftungsrisiko für den Netzanschluss, und als Gegen-
leistung bekommt er Anteile vom Netzbetreiber, der ja
bisher offensichtlich der Herausforderung des Netzaus-
bau gewachsen war. Das wäre der Einstieg in die deut-
sche Netzgesellschaft, die sich ja sogar als politisches
Ziel im schwarz-gelben Koalitionsvertrag von 2009 fin-
det. In anderen Wirtschaftsbereichen ist der Einstieg des
Bundes in schwieriger Lage durchaus nicht unüblich;
man denke nur an die Commerzbank.

Die Bundesregierung hat außerdem Formulierungs-
hilfen an die Koalitionsfraktionen übersandt, mit der im
Zuge dieser EnWG-Novelle das Abschalten von Kraft-
werken bei Stromknappheit verboten werden soll. Eine
weitere Notoperation, denn nach Monaten des Nichts-
tuns ist bei Schwarz-Gelb nun Hektik ausgebrochen, um
Versorgungsengpässe wie im vergangenen Winter zu
vermeiden. Bereits im Mai hatte die Bundesnetzagentur
der Bundesregierung in einem Bericht zu den Versor-
gungsengpässen im vergangenen Winter einen Stapel an
Hausaufgaben aufgegeben; die Fakten waren sogar
schon zwei Monate vorher klar. Doch passiert war bis-
her nichts.

Jetzt staunt man, dass eine christlich-liberale Bun-
desregierung auf Mittel der Wirtschaftspolitik sowjeti-
scher Prägung zurückgreift – die gesetzliche Anordnung
zum Betrieb eines Kraftwerks in Planwirtschaft in Rein-
kultur. Ich will nicht wissen, was hier und heute los
wäre, wenn ein Wirtschaftsminister einer rot-grünen
Bundesregierung so etwas ernsthaft vorschlagen würde.
Das zeigt, wie hilflos Sie in der Energiepolitik agieren,
um Ihre eigenen Fehler und Versäumnisse zu korrigie-
ren. Statt über planwirtschaftliche Anordnungen und
strategische Reserven zu reden, brauchen wir endlich
eine ernsthafte Debatte über Kapazitätsmärkte. Ich
freue mich auf eine konstruktive Debatte in den Aus-
schüssen auch darüber.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719542800

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/10754 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 33:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weite-
rer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 17/10746 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss

Auch hier werden die Reden zu Protokoll genom-
men.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1719542900

Freizügigkeit ist nicht nur ein hohes Gut, sondern

durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofs im Laufe der letzten Jahrzehnte auch ein Kernele-
ment der Unionsbürgerschaft geworden.

Sie gehört seit jeher zu den durch die europäischen
Verträge gewährleisteten Grundfreiheiten und ist somit
maßgeblich am wirtschaftlichen Erfolg des Binnen-
marktes und am Zusammenwachsen der Europäischen
Union beteiligt.

Längst werden unter dem Begriff der Freizügigkeit
nicht mehr nur der freie Aufenthalt und die Bewegungs-
freiheit der Unionsbürger verstanden. Vielmehr haben
der Europäische Gerichtshof und das europäische Pri-
mär- und Sekundärrecht dazu geführt, dass die Regelun-
gen zur Freizügigkeit Bedeutungen für den Arbeits-
markt, die politische Teilhabe, die kulturelle und
sprachliche Integration sowie für den gesamten Bereich
des innerstaatlichen Migrationsrechts erlangt haben.

Von der Freiheit, sich als Unionsbürger in jedem
Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, bis hin zu umfassenden
politischen Teilhaberechten bei Wahlen könnten eine
Vielzahl von Veränderungen aufgeführt werden, die
letztlich alle auf den Grundsatz der Freizügigkeit der





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


Unionsbürger nach Art. 21 AEUV zurückgeführt werden
können.

So konkretisiert auch die Richtlinie 2004/38/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht
der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich
im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen
und aufzuhalten, die im Vertrag über die Arbeitsweise
der Europäischen Union bereits verankerte Grundfrei-
heit auf Freizügigkeit.

Die in der Richtlinie hinterlegten Grundsätze sind im
deutschen Recht bereits durch das Freizügigkeitsgesetz
im Jahr 2004 umgesetzt worden. Hierbei wurden jedoch
einige europarechtliche Vorgaben nicht vollständig be-
rücksichtigt, was einen ergänzenden Gesetzentwurf und
die heute zu debattierende Änderung des Freizügigkeits-
gesetzes erforderlich gemacht hat.

So wird durch das heute zu debattierende Gesetz bei-
spielsweise die in der Richtlinie angelegte Regelung zum
Widerruf von zuvor erhaltenen Freizügigkeitsrechten bei
nachträglicher Feststellung einer Scheinehe nunmehr in
das deutsche Recht übernommen. Dies ist eine wichtige
Ergänzung; denn Abfragen in den Ländern haben erge-
ben, dass es sich hierbei nicht um eine unerhebliche
Anzahl von Fällen handelt. So hatte eine Erhebung der
Innenministerkonferenz vor einigen Jahren festgestellt,
dass es sich um deutlich mehr als 1 000 Fälle pro Jahr in
Deutschland handeln könnte.

Damals waren in die Statistik lediglich von den Aus-
länderbehörden gemeldete Fälle aufgenommen worden,
sodass zudem von einer deutlich höheren Dunkelziffer
ausgegangen werden darf.

Typische Fallkonstellationen sind das nur formale
Eingehen von Ehen sowie Vaterschaftsanerkennungen
ohne das Ziel, eine familiäre Lebensgemeinschaft zu
führen, unterschiedliche Formen des Gebrauchs ge-
fälschter Dokumente sowie Täuschung über den Wohn-
sitz oder das Arbeitsverhältnis, insbesondere um
Einreise- und Aufenthaltsrechte für Angehörige zu er-
langen. Aber auch zum Aufsuchen von Universitäten
oder Fachhochschulen in Deutschland werden ver-
gleichbare Täuschungen vorgenommen.

Die Umsetzung der in der Richtlinie vorgesehenen
Widerrufsmöglichkeit in nationales Recht ist daher eine
notwendige und angemessene Reaktion auf dieses krimi-
nelle Verhalten. Mit ihr setzt die christlich-liberale
Koalition ihren Weg gegen das Erschleichen von Aufent-
haltstiteln fort.

Bereits im vergangenen Jahr haben wir durch die
Einführung des § 237 StGB zur besseren Ahndung von
Zwangsehen deutlich gemacht, dass es in diesem
Bereich keine Toleranz geben darf. Mit der Änderung
des Strafgesetzbuchs ging auch eine Änderung des Auf-
enthaltsgesetzes einher. Nachdem die rot-grüne Bundes-
regierung im Jahr 2000 die Mindestbestandszeit einer
Ehe, die für den Fall des Scheiterns ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht begründet, auf zwei Jahre verkürzt
hatte, haben wir die Anregung aus der Praxis vieler
Ausländerbehörden in Deutschland umgesetzt und die
Mindestbestandszeit auf drei Jahre heraufgesetzt.

Ursprünglich gesetzte Anreize für ausschließlich zum
Zwecke der Erlangung eines Aufenthaltstitels beabsich-
tigte Eheschließungen konnten somit nachträglich wie-
der beseitigt werden. Die mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf beabsichtigte Anpassung stellt somit einen
weiteren Schritt im Kampf gegen Scheinehen in
Deutschland dar.

Der vorliegende Gesetzentwurf enthält darüber
hinaus noch eine Vielzahl von kleineren, zumeist techni-
schen Anpassungen des Freizügigkeitsgesetzes an die
oben bereits zitierte EU-Richtlinie. Hierbei handelt es
sich vor allem um Klarstellungen und Bereinigungen,
die aufgrund der täglichen Anwendungspraxis des
Gesetzes erforderlich geworden sind. Diese tragen ins-
gesamt zu mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bei.

Nachfolgend möchte ich noch eine weitere Änderung,
die der Gesetzentwurf beinhaltet, ansprechen. Bereits
vor einiger Zeit haben die Ausländerbehörden die Ertei-
lung einer Freizügigkeitsbescheinigung infrage gestellt.
Ursache hierfür waren zum einen der erhebliche büro-
kratische Aufwand, der mit der Erteilung und Ausstel-
lung der entsprechenden Bescheinigung verbunden ist,
und zum anderen sah die maßgebliche EU-Richtlinie
2004/38/EG das Ausstellen einer solchen Freizügig-
keitsbescheinigung gar nicht vor. Vielmehr verlangte die
Richtlinie für den Nachweis eines rechtmäßigen Aufent-
halts in einem Mitgliedstaat nur eine aktuelle Meldebe-
scheinigung sowie einen gültigen Pass bzw. Passersatz.

Dem Anliegen der Ausländerbehörden wird daher
nunmehr Rechnung getragen, und die entsprechenden
Vorschriften im Freizügigkeitsgesetz und der Aufent-
haltsverordnung werden dementsprechend angepasst.
Zukünftig entfallen die Erteilung einer Freizügigkeits-
bescheinigung und die Vorlage einer aktuellen Melde-
bescheinigung. Ferner ist die Vorlage eines gültigen
Passes bzw. Passersatzes auch in Deutschland ausrei-
chend.

Auch wenn einige Städte und Gemeinden hierin keine
erhebliche Reduzierung von Bürokratie zu erkennen ver-
mögen, glaube ich, dass sich die Abschaffung der Frei-
zügigkeitsbescheinigung letztlich doch zugunsten der
Beschäftigten in den Ausländerbehörden bemerkbar
machen wird. Zwar muss auch in Zukunft in Zweifelsfäl-
len eine Prüfung des Freizügigkeitsrechts des Einzelnen
durch die Ausländerbehörden vorgenommen werden,
aber insgesamt wird durch den Wegfall der Bescheini-
gung der Verfahrensprozess weiter beschleunigt, was zu
einer Reduzierung der Kosten führen dürfte.

Diese „Arbeitserleichterung“ hat auch der Deutsche
Städte- und Gemeindebund in seiner Stellungnahme zum
Gesetzentwurf der Bundesregierung anerkannt. Weiter
wird darin ausgeführt, dass durch den Wegfall der Frei-
zügigkeitsbescheinigung die Vorgaben der Richtlinie
2004/38/EG besser und einfacher in der Verwaltungs-
praxis umgesetzt werden können.

Teilweise hatte sich bei vielen Behörden die Verwal-
tungspraxis eingerichtet, dass Anträge immer mit einer
Kopie der Freizügigkeitsbescheinigung zu versehen
waren. Da jedoch zwischenzeitlich seit dem 1. Septem-

Zu Protokoll gegebene Reden





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


ber 2011 in Deutschland der elektronische Aufenthaltsti-
tel eingeführt worden ist, kann dieser zukünftig als ent-
sprechender Nachweis bei der Antragstellung bei
Verwaltungs- bzw. Sozialbehörden verwendet werden.
Auch insofern bedurfte es einer Fortführung der Freizü-
gigkeitsbescheinigung nicht mehr.

Es kann somit im Ergebnis sehr wohl von einer nicht
geringfügigen Entlastung der Verwaltung bei der
Durchführung entsprechender Verfahren ausgegangen
werden.

Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen,
dass auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom
21. September 2012 keine Einwände gegen den Gesetz-
entwurf erhoben hat. Das parlamentarische Gesetz-
gebungsverfahren sollte daher zügig durchgeführt und
abgeschlossen werden.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1719543000

Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung

verfolgt das Ziel, Vorschriften der Richtlinie 2004/38/
EG, die noch nicht „angemessen“ in das deutsche Recht
implementiert wurden, nunmehr in das Freizügigkeits-
gesetz/EU zu übernehmen. Dabei handelt es sich vor al-
lem um die Gleichstellung von Lebenspartnern von
Unionsbürgern mit Ehegatten von Unionsbürgern, das
Recht auf Einreise und den Aufenthalt betreffend, den
Abbau von Bürokratiekosten durch die Abschaffung der
rein deklaratorischen Bescheinigung über das Aufent-
haltsrecht für Unionsbürger sowie die Einfügung einer
Passage in das Freizügigkeitsgesetz/EU, die es ermög-
licht, ein aufgrund des Freizügigkeitsgesetzes/EU ge-
währtes Recht wieder zu entziehen, wenn es nur durch
die Vorspiegelung von falschen Tatsachen oder durch
Täuschung erlangt worden ist.

Die rechtliche Gleichstellung von Lebenspartnern mit
Ehegatten von Unionsbürgern ist nur zu begrüßen und
findet selbstverständlich unser volles Einverständnis.
Auch den Abbau von Bürokratiekosten und die Vereinfa-
chung des Verfahrens können wir nur gutheißen.

Die Ahndung von durch Missbrauch bzw. Täuschung
erschlichener Freizügigkeitsrechte ist in der Richtlinie
2004/38/EG zwar nicht zwingend, sondern als Option
vorgesehen, es spricht jedoch auch nichts gegen die Ein-
fügung eines solchen Instruments in das Freizügigkeits-
gesetz/EU. Wie der Begründung des Gesetzentwurfs zu
entnehmen ist, haben Abfragen unter den Ländern eine
nicht unerhebliche Zahl von Rechtsmissbrauchsfällen
ergeben. Obwohl das sehr unkonkret ist, scheint es doch
in der Praxis ein Bedürfnis für eine solche Regelung zu
geben.

Allerdings haben wir am 7. März 2012 einen Gesetz-
entwurf zur Änderung des aufenthalts- und freizügigkeits-
rechtlichen Ehegattennachzugs, Drucksache 17/8921, in
den Bundestag eingebracht. In diesem schlagen wir
Visaerleichterungen für nachziehende Ehegatten und
weitere Familienangehörige vor. So soll zum Beispiel
ein Familienangehöriger, der nicht Unionsbürger ist,
aber einen Unionsbürger begleitet, an der Grenze ein
Ausnahmevisum erhalten, wenn er seine Beziehung zu

dem Unionsbürger sowie die eigene Identität nachweist.
Ein begleitender Familienangehöriger eines Unionsbür-
gers, der im Besitz einer Aufenthaltskarte eines anderen
Mitgliedstaates ist, soll kein Visum mehr benötigen.

Die letztgenannten Gesichtspunkte kommen in dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht vor. Daher
können wir dem Entwurf nicht zustimmen. Ich empfehle
daher Stimmenthaltung.


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1719543100

Im Jahre 2004 hat die damalige rot-grüne Bundes-

regierung die Richtlinie 2004/38/EG weitestgehend in
deutsches Recht umgesetzt. Nach einer Prüfung ist die
christlich-liberale Bundesregierung nun zu dem Schluss
gekommen, dass an einigen Punkten nachgebessert
werden muss.

Dies betrifft zum einen die Gleichstellung von
Lebenspartnern mit Ehegatten bei ihrem Recht auf Ein-
reise und Aufenthalt. Ein Ziel der Koalition von CDU/
CSU und FDP war von Beginn an die weitere Gleich-
stellung von Schwulen und Lesben. Ein Punkt hierbei ist
für uns die Angleichung der Rechte von eingetragenen
Lebenspartnerschaften mit der Ehe. Wir haben die volle
Gleichstellung bei der Erbschaftsteuer, der Grunder-
werbsteuer, beim BAföG, beim Beamten-, Richter- und
Soldatenrecht erreicht. Wir haben die Bundesstiftung
Magnus Hirschfeld mit einem Kapital von 10 Millionen
Euro gegründet. Wir unterstützen damit unter anderem
die Aufklärungsarbeit an Schulen und die Aufarbeitung
nationalsozialistischen Unrechts. Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf bekommen nun Lebenspartner von EU-
Bürgern das gleiche Recht auf Freizügigkeit, das auch
Ehegatten von EU-Bürgern zusteht.

Der zweite Bereich betrifft die Stärkung der Rechte
von illegal Beschäftigten, das heißt Menschen ohne
regulären Aufenthaltsstatus, ohne Papiere. Die christ-
lich-liberale Koalition hat sich engagiert für die Rechte
von Menschen ohne Papiere stark gemacht. Wir haben
Schulen und Kindergärten von den Übermittlungspflich-
ten befreit, damit die Kinder von illegalen Zuwanderern
angstfrei Bildung erlangen können. Auch im Bereich des
Krankenhausbesuchs haben wir die Übermittlungs-
pflichten beschränkt, damit das Grundrecht auf gesund-
heitliche Versorgung im Notfall auch tatsächlich umge-
setzt werden kann. Die Umsetzung der EU-Vorschrift
unterstützt Menschen ohne Papiere in einem weiteren
Punkt: Arbeitgeber von illegal Beschäftigten werden
künftig stärker bestraft. Illegal Beschäftigte, die gegen
ihren Arbeitgeber aussagen, bekommen darüber hinaus
einen besonderen Schutz. Damit setzen wir an der
Wurzel der irregulären Zuwanderung nach Deutschland
an: bei der Nachfrage nach illegaler Beschäftigung und
den damit verbundenen Dumpinglöhnen und Ausbeutun-
gen. Illegale Beschäftigung muss für die Arbeitgeber
unattraktiv werden.

Mit dem Gesetz schaffen wir zudem eine Ermächti-
gungsgrundlage für das Bundesministerium des Innern,
eine Prüfungsverordnung zu den Abschlusstests der
Integrationskurse zu erlassen. Dies ist ein weiterer
Schritt zur qualitativen Stärkung der Integrationskurse,

Zu Protokoll gegebene Reden





Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)


die die Bundesregierung bereits mit der Überarbeitung
der Integrationskursverordnung geleistet hat. Mittler-
weile haben über 1 Million Menschen an den Integra-
tionskursen teilgenommen und können sich dadurch
leichter in Deutschland orientieren und besser auf
Deutsch verständigen. Im Gegensatz zur Vorgänger-
regierung haben CDU/CSU und FDP die Mittel für die
Integrationskurse um 50 Millionen Euro auf 224 Millio-
nen Euro pro Jahr angehoben. Dies ist ein deutliches
Zeichen dafür, wie wichtig wir die Unterstützung von
Integration nehmen. Inzwischen haben viele Menschen
aus den ursprünglichen Zielgruppen der Integrations-
kurse an eben diesen teilgenommen. Es ist daher an der
Zeit zu überlegen, wie die Integrationskurse künftig
ausgerichtet werden können. Mir scheint es wichtig, die
Integrationskurse stärker an Zuwanderern aus der EU
auszurichten und für sie zu öffnen. Mehr als die Hälfte
aller Zuwanderer, die heute in unser Land kommen,
stammen aus der Europäischen Union. Diese Zuwande-
rer können wir besser als bislang bei ihrer Integration
unterstützen. Darüber sollten wir diskutieren.

Zuletzt wollen wir die Chance des aktuellen Gesetz-
gebungsverfahrens nutzen, um die Entbürokratisierung
voranzubringen. Durch die Abschaffung der deklarato-
rischen Freizügigkeitsbescheinigung für Unionsbürger
entlasten wir die Kommunen in Deutschland. Wie eine
Modellrechnung gezeigt hat, kann allein München
50 000 Euro pro Jahr durch diese Maßnahme einsparen.
Auf Deutschland hochgerechnet ergibt sich sicherlich
eine Summe im oberen sechsstelligen oder gar im sie-
benstelligen Bereich.

Der vorliegende Gesetzentwurf streift eine ganze
Reihe von Themen, die der christlich-liberalen Koalition
am Herzen liegen: die Gleichstellung von Schwulen und
Lesben, die Stärkung der Rechte von Menschen ohne
regulären Aufenthaltsstatus, die Integrationskurse und
die Entbürokratisierung in Deutschland. In all diesen
Bereichen können wir weitere Verbesserungen errei-
chen. Ich freue mich auf die Beratungen.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719543200

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nimmt die Bun-

desregierung Änderungen an dem Gesetz vor, das die
Freizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger der Europäi-
schen Union und ihrer Familienangehörigen in
Deutschland regelt. Dass nun Lebenspartnerinnen und
Lebenspartner von Unionsangehörigen künftig mit Ehe-
gatten gleichgestellt werden, ist gut, auch wenn dies
eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Wir
begrüßen auch, dass es bald nicht mehr erforderlich
sein wird, eine sogenannte Freizügigkeitsbescheinigung
zu beantragen und vorzuweisen. Diese Bescheinigung
hat ohnehin nur deklaratorischen Wert und stellt einen
unnötigen bürokratischen Aufwand dar.

Aus drei Gründen aber lehnt die Linke diesen Gesetz-
entwurf ab:

Erstens. Dass die Freizügigkeitsbescheinigung abge-
schafft werden soll, ist, wie gesagt, gut und richtig.
Dadurch springt aber eine menschenrechtswidrige Pra-
xis in Deutschland umso mehr ins Auge, die spätestens

bei dieser Gelegenheit beseitigt werden muss. Ich rede
von der massiven Beschränkung der Freizügigkeit von
Asylsuchenden und Geduldeten durch die sogenannte
Residenzpflicht. Immer mehr Betroffene machen durch
Protestaktionen, unter anderem durch einen aktuellen
Protestmarsch nach Berlin, den viele Abgeordnete der
Linken wie auch andere Aktionen begleitet haben, auf
diesen Skandal aufmerksam. Das Verbot, ein zugewiese-
nes Gebiet ohne Begründung bzw. ohne behördliche Er-
laubnis zu verlassen, und dies auch noch unter Strafe zu
stellen, ist diskriminierend und verletzt die Betroffenen
in ihrer Menschenwürde und in ihren Persönlichkeits-
rechten. Alle vorgeblichen sachlichen Begründungen für
die Residenzpflicht sind entweder nicht überzeugend
oder können jedenfalls nicht diese erhebliche Ein-
schränkung der persönlichen Freiheit rechtfertigen.
Wenn das Wort Freizügigkeit in einem Gesetzentwurf
vorkommt, dann sollte dieser also auch die Freizügigkeit
im Land in einem ganz umfassenderen Sinn herstellen.

Zweitens ist der Gesetzentwurf unzureichend, weil
nicht alle von der EU-Kommission im Rahmen eines
Vertragsverletzungsverfahrens angemahnten Änderun-
gen zur wirksamen Umsetzung der Freizügigkeitsrichtli-
nie berücksichtigt wurden. So monierte die Kommission
eine unzureichende Umsetzung der Vorgabe einer Er-
leichterung des Familiennachzugs weiterer Familienan-
gehöriger, also Geschwister, Onkel, Tanten, Neffen usw.
Die Bundesregierung verwies diesbezüglich zwar auf
ein noch ausstehendes Urteil des Europäischen
Gerichtshofs, doch selbst wenn dieses Urteil im Sinne
der Bundesregierung entscheiden würde, heißt das
nicht, dass die Bundesregierung nicht über die darin als
absolut einzuhaltenden Minimalstandards im Sinne der
betroffenen Menschen hinausgehen kann und sollte.

Davon abgesehen liegt dieses Urteil des EuGH in der
Sache „Rahman“ inzwischen seit dem 1. September
2012 vor. Nach meiner Einschätzung erfordert dies
zwingend eine weitergehende Änderung des Freizügig-
keitsgesetzes, wie von der Kommission angemahnt. Ein
Nachzug entfernter Verwandter ist nach geltendem
Recht nur im außergewöhnlichen Härtefall und nur nach
Maßgabe des § 36 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz möglich.
Dies wird den Vorgaben des EuGH nicht gerecht,
wonach Unionsangehörige gegenüber Drittstaatsange-
hörigen „in gewisser Weise bevorzugt“ behandelt wer-
den müssen, wie auch immer man eine solche Ungleich-
behandlung politisch bewertet. Weiterhin fordert der
EuGH im Urteil, dass die Einreisebedingungen für diese
Gruppe im Wortsinne „erleichtert“ werden müssen und
diese Vorgabe in der konkreten Umsetzung nicht ihre
„praktische Wirksamkeit“ verlieren darf. Die überaus
hohen Hürden eines außergewöhnlichen Härtefalls ent-
sprechen dem nicht. Das ist keine Erleichterung, son-
dern eine Erschwernis. Da hilft im Übrigen auch kein
Hinweis auf die Verwaltungsvorschriften zum Aufent-
haltsgesetz, wo es einen versteckten, aber völlig ungenü-
genden und unbestimmten Hinweis auf diese Betroffe-
nengruppe in Punkt 36.2.2.9. gibt.

Drittens kritisiert die Linke, dass die Bundesregie-
rung eine ausdrückliche Missbrauchsregelung zur
Verhinderung sogenannter Scheinehen schaffen will.

Zu Protokoll gegebene Reden





Sevim Dağdelen

(A) (C)



(D)(B)


Wir fürchten, dass dies zu einer verschärften Prüfpraxis
in den Behörden führen wird und viele binationale Part-
nerschaften unzulässig verdächtigt werden. Zwar heißt
es in der Gesetzesbegründung, dass „systematische oder
anlasslose Prüfungen nicht gestattet“ sind und „be-
gründete Zweifel“ vorliegen müssen, doch diese all-
gemeinen Vorgaben gelten auch im Bereich des Aufent-
haltsgesetzes, und wir wissen ja, in welch breitem und
auch willkürlichem Ausmaß binationale Paare dessen
ungeachtet in der ausländerbehördlichen Praxis unter
Verdacht geraten.

In der Gesetzesbegründung wird auch nicht nachvoll-
ziehbar dargelegt, wieso eine solche Missbrauchsrege-
lung auf einmal erforderlich sein soll. Lapidar heißt es:
„Abfragen unter den Ländern haben eine nicht unerheb-
liche Zahl von Fällen ergeben“. Konkretere Anhalts-
punkte oder auch nur ungefähre Zahlenangaben fehlen
aber komplett. Solange dies so ist, bestreite ich, dass es
den beklagten Missbrauch in bedeutendem Umfang gibt,
zumal die Zahlen, die uns vorliegen, für eine gegentei-
lige Annahme sprechen.

Erst vor kurzem wurde ein Working Paper, Nr. 43, des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu „Miss-
brauch des Rechts auf Familiennachzug“ vorgestellt.
Das Ergebnis auf Seite 5 spricht für sich:

Aufgrund der eingeschränkten Aussagekraft der
verfügbaren statistischen Informationen lassen sich
weder verlässliche Aussagen zum Umfang des
Missbrauchs des Familiennachzugs machen, noch
zu erforderlichen Gegenmaßnahmen.

Auf Seite 26 findet sich auch Interessantes:

Den in der PKS registrierten Verdachtsfällen lässt
sich entnehmen, dass die Scheinehe offenbar nur in
geringem Umfang zur irregulären Einreise genutzt
wird. Stattdessen stellt sie in der Regel ein Instru-
ment zur Verfestigung eines prekären, aber dennoch
legalen Aufenthalts dar.

Vor diesem Hintergrund muss es doch heißen: Abrüs-
ten! Für die viel beschworene Gefahr angeblich verbrei-
teter Scheinehen und Missbräuche gibt es keine Belege.
Was hier produziert und praktiziert wird, befördert
rechtspopulistische Stimmungsmache. Die Folge dieses
staatlich gesäten Misstrauens ist eine erhebliche Behin-
derung des Zusammenkommens und Zusammenlebens
vieler binationaler Paare durch vielfach unbegründete
ausländerbehördliche Verdächtigungen.

Lassen Sie mich deshalb zum Abschluss noch auf
einen Vorgang hinweisen, der schon ein wenig in Verges-
senheit geraten ist. Aber fachkundige Abgeordnete wer-
den sich sicherlich noch daran erinnern, zu welchen
politischen Auswirkungen das sogenannte Metock-
Urteil des EuGH vom Juli 2008 geführt hat. Es ging da-
bei, grob gesagt, um die Nachzugsrechte drittstaatsan-
gehöriger Ehepartnerinnen und -partner Unionsange-
höriger und welche Regeln gelten sollen. Im
Innenausschuss des Bundestages war dieses Urteil
Thema. Der damalige Innenminister Schäuble persön-
lich forderte im EU-Rat mehrfach Konsequenzen aus
dem Urteil, sogar eine Änderung der Freizügigkeits-

richtlinie wurde ins Spiel gebracht. Er sprach wörtlich
von einem „großen Einfallstor für Rechtsmissbrauch“.
Dabei hatte das Urteil Auswirkungen auf eine nur sehr
geringe Personengruppe von vielleicht etwa 3 000
Familiennachzugsfällen im Jahr. Auf parlamentarische
Nachfragen von mir musste die Bundesregierung ein-
räumen, dass es keine Hinweise auf signifikante Ände-
rungen infolge des Metock-Urteils gab, siehe Bundes-
tagsdrucksache 16/13978, Frage 11 a. Selbst der
Staatssekretär sprach ein Jahr später nur noch von einer
sehr kleinen Personengruppe, und dies meint wohl-
gemerkt nicht die vermuteten Missbrauchsfälle, sondern
die Gesamtzahl derer, bei denen es vielleicht einen Miss-
brauch geben könnte. Die Zahl der erteilten Aufenthalts-
karten für Ehegatten von Unionsangehörigen aus Dritt-
staaten – um die ging es bei „Metock“ – ist nach dem
Urteil in etwa gleich geblieben. Von Missbrauch also
keine Spur! Die ministerielle Hysterie von damals
erwies sich als pure rechtspopulistische Panikmache,
genauso wie die vorliegende vorgeschlagene gesetzliche
Verschärfung, die wir Linke deshalb ablehnen.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719543300

Meine Fraktion begrüßt, dass die Bundesregierung

endlich Lebenspartnerinnen und -partner mit Ehegatten
von Unionsbürgerinnen und -bürgern beim Recht auf
Einreise und Aufenthalt gemäß dem Freizügigkeits-
gesetz/EU gleichstellt. Diese Änderung ist längst fällig.
Natürlich gäbe es einen viel einfacheren und unbürokra-
tischeren Weg, Lebenspartnerinnen und -partner gleich-
zustellen, nämlich die Öffnung der Ehe.

Im Übrigen gibt es wenig Positives über den Gesetz-
entwurf zu sagen. Die Bundesregierung hat sich das Ziel
gesetzt, Vorschriften der Freizügigkeitsrichtlinie, die
noch nicht angemessen umgesetzt worden sind, vollstän-
dig in das Freizügigkeitsgesetz/EU zu übernehmen. Von
diesem willkommenen Ziel ist sie jedoch leider weit ent-
fernt.

Vor über einem Jahr hat die Kommission gegen
Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegen
mangelnder Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie ein-
geleitet. In dem laufenden Verfahren ist die fehlende
Gleichstellung von Lebenspartnern allerdings nur ein
Kritikpunkt unter vielen. Ich möchte hier nur zwei der
weiteren Regelungen hervorheben, die die Bundesregie-
rung bei ihrem Gesetzentwurf außer Acht gelassen hat.

Erstens rügt die Kommission die Einreisebestimmun-
gen für Familienangehörige im Sinne von § 3 Abs. 2a
der Freizügigkeitsrichtlinie, die zwar nicht einen An-
spruch auf Einreise haben, denen nach der Richtlinie
aber die Einreise und der Aufenthalt erleichtert werden
sollen. Dazu gehören pflegebedürftige Personen und
solche, denen der Unionsbürger im Herkunftsland
Unterhalt gewährt hat oder die mit ihm in häuslicher
Gemeinschaft gelebt haben. Der EuGH hat in seiner
Entscheidung vom 5. September 2012 in der Sache
Rahman klargestellt, dass die Mitgliedstaaten verpflich-
tet sind, diese Personen, die zu einem Unionsbürger in
einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen, ge-
genüber anderen Drittstaatsangehörigen bevorzugt zu

Zu Protokoll gegebene Reden





Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)


behandeln. Insbesondere müssen die persönlichen
Umstände, wie der Grad der Verwandtschaft und die
finanzielle oder physische Abhängigkeit, eingehend
untersucht werden.

Diesen Anforderungen wird das deutsche Recht nicht
gerecht. Nach § 36 Abs. 2 AufenthG wird den oben-
genannten Familienangehörigen in der Regel der Auf-
enthalt verwehrt. Nur wenn es zur Vermeidung einer
außergewöhnlichen Härte erforderlich ist, wird eine
Aufenthaltserlaubnis erteilt. Jeder weiß, dass es fast un-
möglich ist, eine deutsche Behörde von dem Vorliegen
einer außergewöhnlichen Härte zu überzeugen.

In diesem Zusammenhang rügt die Kommission
ebenso, dass diesen Personen nach der Einreise nicht
die in der Freizügigkeitsrichtlinie vorgesehenen Rechte
zugestanden werden, wie etwa die Erteilung einer Auf-
enthaltserlaubnis für fünf Jahre, Gleichbehandlung,
Ausweisungsschutz und das Recht auf Zugang zur Be-
schäftigung.

Eine weitere Rüge der Kommission betrifft den Aus-
weisungsschutz. Nach deutschem Recht sind Auswei-
sungsverfügungen aus Gründen der öffentlichen Ord-
nung, Sicherheit oder Gesundheit automatisch mit
einem unbefristeten Aufenthaltsverbot verbunden. Die
automatische lebenslange Wiedereinreisesperre, die nur
auf Antrag beschränkt werden kann, widerspricht aber
dem europäischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

Wir erwarten, dass die Bundesregierung im Laufe des
Gesetzgebungsverfahrens den Aufforderungen der Kom-
mission entsprechend ihren Gesetzentwurf nachbessert.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719543400

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/10746 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 34:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
rung einer Partnerschaftsgesellschaft mit be-
schränkter Berufshaftung und zur Änderung
des Berufsrechts der Rechtsanwälte, Patentan-
wälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer

– Drucksache 17/10487 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss

Auch hier werden, wie vorgesehen, die Reden zu
Protokoll genommen.


Dr. Stephan Harbarth (CDU):
Rede ID: ID1719543500

In den letzten Jahren bemerken wir im Bereich der

Anwaltschaft und Steuerberatung eine gesellschafts-
rechtliche Flucht nach Großbritannien. Insbesondere
bei Rechtsanwälten ist eine Abwanderung größeren

Ausmaßes in die britische LLP, Limited Liability Part-
nership, zu beobachten.

Das bisherige Haftungskonzept der deutschen Part-
nerschaftsgesellschaft wird von den Angehörigen Freier
Berufe zum Teil nicht als befriedigend empfunden. Zwar
wird mit der Partnerschaftsgesellschaft schon derzeit
eine Rechtsform angeboten, die unter anderem den Vorteil
einer transparenten Besteuerung mit einer Haftungskon-
zentration verbindet. Praktische Schwierigkeiten erge-
ben sich dann, wenn innerhalb der Partnerschaftsgesell-
schaft Aufgaben durch Teams bearbeitet werden. Die
aufgrund unterschiedlicher Spezialisierung miteinander
arbeitenden Partnerinnen und Partner können die Ar-
beitsbeiträge der anderen mitunter weder inhaltlich
noch dem Umfang nach vollständig überblicken und vor
allem verantworten.

Vor dem Hintergrund der Initiative „Law Made in
Germany“ soll es um eine überzeugende Alternative zur
britischen LLP gehen. Die mit dem Gesetz zur Einfüh-
rung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter
Berufshaftung vorgesehene Rechtsformvariante der
Partnerschaftsgesellschaft für die Freien Berufe vereint
steuerliche Transparenz mit einer Haftungsbeschrän-
kung, wenn es zu beruflichen Fehlern kommt. Damit
passt die neue Gesellschaftsform besonders zu Kanz-
leien und anderen freiberuflichen Zusammenschlüssen,
in denen die Partner hoch spezialisiert in Teams zusam-
menarbeiten. Die Haftung für berufliche Fehler, nicht
jedoch für andere Verbindlichkeiten wie Kreditverbind-
lichkeiten oder Mietzinsen wird auf das Gesellschafts-
vermögen beschränkt.

Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf soll Voraus-
setzung für die Haftungsbeschränkung sein, dass eine
Haftpflichtversicherung abgeschlossen wird. Dabei sieht
der Gesetzentwurf eine Differenzierung der Versiche-
rungssummen in Abhängigkeit von der Art des Freien
Berufs vor. Die Mindestversicherungssumme für Rechts-
anwälte soll 2,5 Millionen Euro betragen. Eine Partner-
schaftsgesellschaft von Steuerberatern soll „angemessen“
versichert sein. Für Wirtschaftsprüfer sieht der Gesetz-
entwurf eine Versicherungssumme von 1 Million Euro
vor.

Die Haftpflichtversicherung soll dem Schutz des Ver-
tragspartners dienen.

Auf den Briefbögen der Partnerschaftsgesellschaften
mit beschränkter Berufshaftung soll nach Vorstellung
des Entwurfs auf die beschränkte Berufshaftung mit ei-
ner Abkürzung aufmerksam gemacht werden. Dies kann
beispielsweise durch das Kürzel „mbB“ geschehen.

Der Gesetzentwurf sieht überdies vor, dass auch wei-
tere Freie Berufe mit gesetzlichem Berufsrecht jederzeit
durch entsprechende Regelung in ihrem Berufsrecht hin-
zutreten und die Partnerschaftsgesellschaft mit be-
schränkter Berufshaftung für sich nutzen können.

Der Entwurf weist in die richtige Richtung. Hinsicht-
lich der Einzelheiten bedarf es jedoch noch weiterer
Diskussionen im Rahmen des parlamentarischen Ver-
fahrens.






(A) (C)



(D)(B)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1719543600

Die deutsche Alternative zur britischen Limited Lia-

bility Partnership kommt. – So wirbt das Bundesjustiz-
ministerium.

Neben der Partnerschaftsgesellschaft, PartG, zu der
sich Angehörige freier Berufe zusammenschließen kön-
nen, soll eine Partnerschaftsgesellschaft mit beschränk-
ter Berufshaftung eingeführt werden. Damit soll verhin-
dert werden, dass vor allem Großkanzleien auf die
Rechtsform der Limited Liability Partnership auswei-
chen. Ich lasse dahingestellt, ob es diesen behaupteten
Trend tatsächlich gibt. Mir liegen jedenfalls keine dem-
entsprechenden Untersuchungen dazu vor.

Größere Kanzleien beklagen, bei großen Teams, die
mit einer Vielzahl von Spezialisten an einer Aufgaben-
stellung arbeiten, könnten die einzelnen Anwälte, Steu-
erberater und Wirtschaftsprüfer die Arbeitsbeiträge der
andern oft nicht mehr überblicken und verantworten,
müssten in einer PartG auch mit ihrem persönlichen
Vermögen dafür aber haften.

Der Entwurf sieht nun eine Beschränkung der unmit-
telbaren persönlichen Haftung für Fehler bei der Be-
rufsausübung vor. Bei beruflichen Fehlern soll bei der
PartG mbB nur noch das Gesellschaftsvermögen haften
und sollen nicht mehr zusätzlich die Bearbeiter des Auf-
trags haften. Bisher haften diese Rechtsanwälte grund-
sätzlich persönlich und mit ihrem gesamten Vermögen.
Die Haftung für andere Schulden wie Mieten und Löhne
bleibt bestehen. Im Gegenzug wird ein angemessener
Versicherungsschutz eingeführt, und die Partnerschaft
wird durch die Namenwahl auf die Haftungsbeschrän-
kung hinweisen müssen.

Für eine aus Anwälten bestehende Partnerschaftsge-
sellschaft mit beschränkter Berufshaftung sind als Min-
destversicherungssumme 2,5 Millionen Euro vorgese-
hen. Eine aus Steuerberatern bestehende PartG mbB
muss „angemessen“ versichert sein. Wirtschaftsprüfer
müssen mit 1 Million Euro versichert sein. Gründe für
diese Differenzierung der Höhe nach sind nicht, jeden-
falls nicht überzeugend vorgetragen.

Diese haftungsbeschränkende Ausgestaltung komme
sowohl den Interessen der Anwaltschaft als auch denen
der Verbraucher entgegen, wird für den Gesetzentwurf
argumentiert.

Ziel des Entwurfs sei es, die „transparente Besteue-
rung“ der PartG mit einer wirksamen Beschränkung der
Außenhaftung zu verbinden.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass damit im Ge-
sellschaftsrecht die eierlegende Wollmilchsau geschaf-
fen werden soll. Damit geht aber die klare Linie im Ge-
sellschaftsrecht verloren. Das Land Bayern ist im
Rahmen der Bundesratsberatung nicht zu Unrecht der
Auffassung gewesen, dass das Konzept der PartG mbB
mit grundlegenden Prinzipien des deutschen Gesell-
schaftsrechts nicht zu vereinbaren ist. Im Recht der Ka-
pitalgesellschaften ist das Privileg der Haftungsbe-
schränkung auf das Gesellschaftsvermögen an die
Erfüllung strenger Kapitalvorschriften geknüpft. Dage-
gen ist Kernelement der Personalgesellschaften – zu de-

nen auch die PartG gehört – die persönliche Haftung zu-
mindest eines Gesellschafters, die nicht einseitig
beschränkt werden kann – aus gutem Grund und zum
Schutz aller Beteiligten.

Auch der Richterbund kritisiert, dass die PartG mbB
einen Bruch im deutschen System der Gesellschaftsfor-
men darstelle, da für bestimme Berufsgruppen vermeint-
lich vorteilhafte Merkmale der Personenhandels- und
der Kapitalgesellschaft vermischt würden.

Außerdem bestehen Zweifel, ob die Begrenzung der
Haftungsbeschränkung auf bestimmte Berufsgruppen
mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar ist. Denn der
Gesetzentwurf sieht eine Beschränkung der Haftung nur
für diejenigen freien Berufe vor, die eine gesetzlich be-
gründete Haftpflichtversicherung haben. Andere Berufs-
gruppen sind von der Gründung einer PartG mbB aus-
geschlossen.

Abgesehen von diesen abstrakten Bedenken gibt es
aber auch offene Fragen zur konkreten Ausgestaltung.
Ist die vorgesehene Mindestversicherungssumme von
2,5 Millionen Euro ausreichend, um die Haftungsbe-
schränkung vollständig auszugleichen? Es gibt aber
auch anderslautende Meinungen, die diese Summe wie-
derum als zu hoch ansehen. So sei eine wirtschaftliche
Versicherungsabsicherung nicht mehr möglich, und das
gefährde die Zusammenarbeit innerhalb großer Kanz-
leien.

Fest steht: Der Rechtsverkehr wird mit neuen Rechts-
formen wieder ein Stück weit unübersichtlicher. Deshalb
muss geprüft werden, ob nicht bewährte Gesellschafts-
formen zur Verfügung stehen, mit denen sich dasselbe
Ziel erreichen lässt.

Wer einen Haftungsausschluss zum Kernziel hat, für
den steht die GmbH als Kapitalgesellschaft zur Verfü-
gung. Sie kann auch von Freiberuflern genutzt werden.
Als Anwaltsgesellschaft vor einigen Jahren noch um-
stritten, haben sich die berufsrechtlichen Zeichen ge-
wandelt und die Nutzung dieser Rechtsform ermöglicht.
Kann es deshalb nicht sinnvoll sein, die Kapitalgesell-
schaften für Freiberufler weiter zu öffnen? Dafür müsste
man die Kapitalgesellschaften für Freiberufler steuer-
lich und bilanzrechtlich attraktiver gestalten. Die Bilan-
zierungspflichten sind für die beratenden Berufen noch
nicht angemessen.

Als zweite Alternative ist daran zu denken, die GmbH
& Co. KG für Anwälte zu öffnen.

Damit möchte ich eins verdeutlichen: Der Vorschlag
der PartG mbB ist nicht so alternativlos, wie uns dies
der Gesetzentwurf verkaufen will. Auch wenn Steuer-
und Gesellschaftsrecht nicht die perfekte Lösung bieten,
stellt sich die Frage, ob eine weitere Gesellschaftsform
zwingend notwendig ist. Gesellschaftsrechtler Noack
spricht nicht zu Unrecht vom „Teilchenzoo“ Gesell-
schaftsrecht.

PartG mbB, ja oder nein? Am Ende läuft die Bewer-
tung auf die Frage hinaus, ob wir rechtspraktischen
oder rechtssystematischen Erwägungen den Vorzug ge-
ben wollen. Ich befürworte deshalb die vom Rechtsaus-

Zu Protokoll gegebene Reden





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)


schuss beschlossene Anhörung, um diese Fragen und
Wertungen diskutieren zu können.


Jens Petermann (Plos):
Rede ID: ID1719543700

Durch die im Gesetzentwurf vorgesehenen Änderun-

gen im Partnerschaftsgesellschaftsrecht soll für die An-
gehörigen freier Berufe eine neue Alternative neben den
bestehenden Rechtsformen geschaffen werden. Die
Partnerschaftsgesellschaft wurde schon vor Jahren in
Deutschland eingeführt. Sie vereint die Vorteile der steu-
erlichen Überschussrechnung mit einer teilweisen Haf-
tungsbeschränkung – ähnlich der im englischen Recht
ansässigen Limited Liability Partnerschip, LLP. Jedoch
ist die Haftungsbeschränkung der LLP weiter ausge-
prägt als die der Partnerschaftsgesellschaften. Deshalb
war es in den vergangenen Jahren immer häufiger zu be-
obachten, dass große Dienstleistungsgesellschaften sich
in die anglo-amerikanische Rechtsform umwandelten.
Damit konnten sie sicherstellen, dass eine persönliche
Haftung aus beruflichem Handeln dem Mandanten bzw.
Klienten gegenüber ausgeschlossen ist, und nutzten den
Vorteil der Rechnungslegung nach den Grundsätzen der
Überschussrechnung und nicht der umständlichen Bi-
lanzierung.

Durch die voranschreitende Globalisierung, in denen
es Lebenssachverhalte über Kontinente hinweg zu beur-
teilen und eine Vielzahl von Rechtsordnungen anzuwen-
den gilt, steigt das Haftungsrisiko für berufliche Fehler.
Jedoch geht die deutsche Partnerschaftsgesellschaft von
einer persönlichen Haftung aller Gesellschafter aus,
egal ob sie selbst mit dem Vorgang befasst waren oder
nicht. Es ist sogar so, dass ein neu in die Partnerschaft
eingestiegener Gesellschafter für die in der Vergangen-
heit von seinen Partnern begangenen Fehler haften
würde.

Im Hinblick auf die steigenden Haftungsrisiken und
Haftungsvolumina kann man es einer natürlichen Per-
son nicht mehr zumuten, persönlich zu haften. Ich be-
grüße es vor diesem Hintergrund ausdrücklich, dass im
Gesellschaftsrecht die Möglichkeit eröffnet werden soll,
die Haftung von Personengesellschaften auf das Ge-
schäftsvermögen bei Vorhandensein einer entsprechen-
den Haftpflichtversicherung und eines Hinweises im Na-
men der Partnerschaft zu beschränken. Auch positiv zu
bewerten ist, dass die bisherige Rechtsform daneben be-
stehen bleibt und damit eine neue Wahlmöglichkeit für
die Gesellschaftsform eröffnet wird. Das zieht natürlich
auch eine Anpassung der Berufsrechte der betroffenen
freien Berufe nach sich, die der vorliegende Gesetzent-
wurf auch folgerichtig aufgreift.

Hier kommt es jedoch auf die Details an: Für Rechts-
anwaltspartnergesellschaften mit beschränkter Haftung
ist eine Mindestversicherungssumme von 2 500 000 Euro
pro Partner vorgesehen. Das klingt auf den ersten Blick
plausibel vor dem Hintergrund, dass eine persönliche
Haftung der Partner mit ihrem Privatvermögen ausge-
schlossen ist und hier allein die Gesellschaft mit ihrem
Vermögen haftet. Mit dem Argument des Schutzes der
Rechtssuchenden und der fehlenden persönlichen Haf-
tung wird die für Rechtsanwälte nach § 51 Bundesrechts-

anwaltsordnung übliche Mindestversicherungssumme
von 250 000 Euro verzehnfacht. Das ist nach meinem
Verständnis nicht sachgerecht und unterstellt, dass jeder
Rechtsanwalt mehrfacher Euro-Millionär sei für den
Fall der persönlichen Haftung gegenüber dem Mandan-
ten.

Viele Rechtsanwälte sind mit der Summe von
250 000 Euro pro Schadensfall versichert. Dies reicht in
der Praxis für die übliche Mandatserledigung aus. Soll-
ten sie Mandate mit höheren Haftungsrisiken überneh-
men, so schließen sie in der Regel eine höhere, mandats-
bezogene Einzelhaftpflichtversicherung ab. Das liegt in
der Verantwortung eines jeden Rechtsanwalts. Nun be-
steht aber die Gefahr, dass die neue Alternative der
Partnerschaftsgesellschaft aufgrund der, mit der hohen
Mindestversicherungssumme verbundenen, entspre-
chend hohen Versicherungsbeiträge nicht angenommen
wird. Das war auch schon bei der Einführung der
Rechtsanwalts-GmbH so. Die hat die gleiche Mindest-
versicherungssumme, und es standen am 1. Januar 2011
453 Rechtsanwalts-GmbH 2 789 herkömmlichen Rechts-
anwaltspartnerschaften gegenüber. Hier muss die Bun-
desregierung noch etwas nachjustieren, um die Attrakti-
vität und Akzeptanz bei der neueren Rechtsform zu
erhöhen.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719543800

Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer

sollen nach dem Gesetzentwurf der Regierung, über den
wir heute beraten, für ihre berufliche Zusammenarbeit
künftig eine neue Organisationsform wählen können:
die Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Haf-
tung, PartGmbH.

Das Auffällige an dieser neuen Gesellschaftsform ist
die Kumulation von Vorteilen: Die Partnerschaftsgesell-
schaft mit beschränkter Haftung soll die steuerlichen
Vorteile der Personengesellschaft mit den Vorteilen der
beschränkten Haftung der Kapitalgesellschaft verbin-
den.

Damit will die Regierung eine deutsche Alternative
zur anglo-amerikanischen Limited Liability Partner-
ship, LLP, schaffen. Im Gesetzentwurf hat sie dement-
sprechend auch dargelegt, dass in Deutschland ein er-
heblicher Trend zur Nutzung der Rechtsform der LLP zu
verzeichnen sei.

Allerdings führt die Bundesregierung im Gesetzent-
wurf keine Anzahl der LLPs in Deutschland auf. Exakte
Zahlen konnte sie auch nicht nennen, als wir sie in unse-
rer schriftlichen Frage konkret darum baten. Vielmehr
heißt es in der Antwort der Regierung: „Aus Berufskrei-
sen der Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und Steuerbe-
rater wird berichtet, dass die Zahl der Zusammen-
schlüsse in Form der LLP steigend ist.“

Schauen wir uns die öffentlich verfügbaren Zahlen
genauer an, so stellen wir fest: In den nach jetziger
Rechtslage möglichen deutschen Gesellschaftsformen
sind weit über 2 000 Kanzleien in der Rechtsform der
Partnerschaftsgesellschaft (ohne beschränkte Haftung)

organisiert, über 300 haben die Rechtsform der GmbH

Zu Protokoll gegebene Reden





Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


gewählt. Bei den verbleibenden Anwaltszusammen-
schlüssen dominiert die Gesellschaft bürgerlichen
Rechts.

Sucht man im Handelsregister nach der Rechtsform
der LLP, so stellt man fest: 54 LLPs sind eingetragen.
Und das sind nicht nur die Freiberufler, denen das Ge-
setz zugutekommen soll. Neben Rechtsanwälten, Steuer-
beratern und Wirtschaftsprüfern sind zum Beispiel auch
Architekten bei den 54 LLPs im Handelsregister einge-
tragen.

Das sind Zahlen, die nicht auf gesetzgeberischen
Handlungsbedarf schließen lassen.

Und es stellt sich noch ein weiteres Problem:

Unterläuft einem Rechtsanwalt, Steuerberater oder
Wirtschaftsprüfer in seiner Tätigkeit ein Fehler, so haftet
er bisher mit seinem Privatvermögen. Dieses Risiko si-
chert er mit einer Berufshaftpflichtversicherung ab. Die
Mindestversicherungssumme liegt für Rechtsanwälte
derzeit bei 250 000 Euro pro Versicherungsfall.

Bei der Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter
Haftung entfällt die persönliche Haftung des Rechtsan-
walts, Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers. Eine ver-
sicherungsrechtliche Lösung soll den Schutz von Man-
danten gewährleisten.

Rechtsanwälte müssen dann eine Berufshaftpflicht-
versicherung von mindestens 2,5 Millionen Euro pro
Versicherungsfall unterhalten. Dies ist das Zehnfache
der bisherigen Mindestversicherungssumme. Ein ent-
sprechend hoher Versicherungsbeitrag ist die Folge.

Wie viele Partnerschaften sich diesen Versicherungs-
schutz werden leisten können, ist fraglich. Wenn über-
haupt, ist eine solche Versicherungssumme nur für große
Kanzleien erschwinglich.

Das Gesetz hat also im Kern eine sehr beschränkte
Zielgruppe: Großkanzleien.

Kleine und mittelständische Kanzleien werden von
der Möglichkeit der Gründung einer Partnerschaftsge-
sellschaft mit beschränkter Haftung kaum profitieren.

Die Folgen eines solchen Gesetzes aber betreffen das
gesamte Gesellschaftsrecht: Die Partnerschaftsgesell-
schaft mit beschränkter Haftung bedeutet eine Vermi-
schung von Merkmalen der Personengesellschaft mit
Merkmalen der Kapitalgesellschaft. Sie bewirkt eine
weitere Aufsplitterung der Gesellschaftsformen. Ein Ge-
setz mit einem solch begrenzten Anwendungsbereich wie
dieses sollte nicht dazu führen, unser gesellschaftsrecht-
liches System zu durchbrechen.

Gerne können wir die Hinweise auf die Nutzung aus-
ländischer Rechtsformen, wie der LLP, dazu nutzen,
über eine grundlegende Reform des Gesellschaftsrechts
nachzudenken. Ziel muss es aber sein, dessen Komplexi-
tät zu verringern und nicht zu vergrößern.

Meine Damen und Herren Rechtspolitikerinnen und
Rechtspolitiker, wir müssen durchdachte und sinnvolle
Gesetze anbieten, wenn wir mit „Law Made in Ger-
many“ in Konkurrenz zu anderen Rechtsordnungen tre-

ten wollen. Diesem Anspruch genügt das vorliegende
Gesetz nicht.

D
Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1719543900


Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf für
ein Gesetz zur Einführung einer Partnerschaftsgesell-
schaft mit beschränkter Berufshaftung und Änderung des
Berufsrechts der Rechtsanwälte, Patentanwälte, Steuer-
berater und Wirtschaftsprüfer ist ein wichtiger Beitrag
zur Förderung des Standorts Deutschland. Mit Einfüh-
rung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter
Berufshaftung wird Freiberuflern eine ausgewogene
deutsche Alternative zu Rechtsformen des europäischen
Auslands, insbesondere zur Limited Liability Partner-
ship nach angelsächsischem Recht, geboten. Diese
Rechtsformvariante der Partnerschaftsgesellschaft steht
konzeptionell allen freien Berufen zur Verfügung.

Die Gestaltungsmöglichkeit beschränkt sich dabei
auf eine Haftungsbegrenzung für berufliche Fehler. Hin-
sichtlich sonstiger Verbindlichkeiten soll es dagegen bei
der bisherigen Haftung der Gesellschafter verbleiben.

Das Konzept der Partnerschaftsgesellschaft mit be-
schränkter Berufshaftung ist ausgewogen. Die Interes-
sen des Rechtsverkehrs und der Vertragspartner der
Gesellschaft werden angemessen berücksichtigt: Zum
Schutze des Rechtsverkehrs wird die Möglichkeit der
Haftungsbegrenzung für berufliche Fehler flankiert
durch die Pflicht der Gesellschaft, im Rechtsverkehr mit
einem die Haftungsbegrenzung signalisierenden Na-
menszusatz aufzutreten. Außerdem besteht die Pflicht,
eine angemessene Berufshaftpflichtversicherung zu un-
terhalten.

In den Stellungnahmen zum Referentenentwurf wurde
deutlich, dass die Regelung manchen zu weit und man-
chen nicht weit genug geht: Ich denke, wir haben hier ei-
nen ausgewogenen und vernünftigen Kompromiss ge-
funden.

Jene, die die Regelung als nicht weitgehend genug
ansehen, verbinden dies meist mit der Forderung, die
Rechtsform der GmbH & Co. KG auch für die freien Be-
rufe zu ermöglichen. Eine Öffnung des Handelsgesetz-
buches für freie Berufe kann allerdings nicht in kleinen
Sonderlösungen für einzelne Berufe erfolgen. Erforder-
lich wäre eine grundsätzliche Umgestaltung des Kauf-
mannsrechts in ein „Unternehmensrecht“. Dies setzte
jedoch grundsätzliche systematische Überlegungen im
Handels-, Gesellschafts- und Steuerrecht voraus. Um
den freien Berufen zeitnah ähnliche Gestaltungsmög-
lichkeiten anbieten zu können, wie sie in anderen euro-
päischen Rechtsordnungen schon bestehen, bietet sich
die Einführung der Partnerschaftsgesellschaft mit be-
schränkter Berufshaftung als schlanke und überschau-
bare Lösung an. Besser der Spatz in der Hand als die
Taube auf dem Dach!

Manchen geht die Regelung allerdings auch schon zu
weit: Hier wird gefordert, es bei der althergebrachten
grundsätzlich vollen persönlichen Haftung der Gesell-
schafter zu belassen. Dabei wird freilich übersehen, dass

Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler


(A) (C)



(D)(B)


Haftungsbeschränkungen auch für Freiberufler schon
längst über ausländische Rechtsformen erreichbar sind
und dass Vertragspartnern von Freiberuflern wenig da-
mit geholfen ist, wenn sie sich zunehmend mit ausländi-
schen Rechtsformen auseinandersetzen müssen. Auch ist
zu bedenken, dass die Höhe der Summe, mit der eine
Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaf-
tung hinsichtlich beruflicher Fehler versichert sein
muss, in der Regel über das Privatvermögen von Freibe-
ruflern hinausgehen dürfte. Über die Versicherung für
berufliche Fehler dürften Vertragspartner daher weiter-
gehend geschützt sein als über einen Zugriff auf das Pri-
vatvermögen der Gesellschafter. Hinzu kommt eine sys-
tematische Überlegung: Als Personengesellschaft mit
Haftungsbeschränkung hat das Gewerbe die GmbH &
Co. KG, den freien Berufen fehlt bislang ein Äquivalent.
Es ist systemkonform, diese Lücke zu schließen.

Ich wünsche mir, dass die Partnerschaftsgesellschaft
mit beschränkter Berufshaftung den Freiberuflern mög-
lichst bald als deutsche Alternative zur Verfügung steht.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719544000

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/10487 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge dazu? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 35:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Seehandelsrechts

– Drucksache 17/10309 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Auch hier sind, wie vorgesehen, die Reden zu Proto-
koll genommen.


Dr. Stephan Harbarth (CDU):
Rede ID: ID1719544100

Das bisher geltende Seehandelsrecht basiert in wei-

ten Teilen auf überkommenen, aus dem 19. Jahrhundert,
mitunter sogar aus dem Mittelalter stammenden Rechts-
grundlagen. Rechtsinstitute wie Partenreederei oder das
Verklarungsverfahren haben im Laufe der Zeit an Be-
deutung verloren. Sie werden der Praxis der modernen
maritimen Wirtschaft nicht mehr hinreichend gerecht.

Bei der vorgesehenen Reform geht es darum, das
deutsche Recht an die Erfordernisse des internationalen
Wettbewerbs anzupassen. Der Gesetzentwurf soll
maßgeblich die einschlägigen Vorschriften für die
Frachtschifffahrt und die Personenschifffahrt moderni-
sieren. Die Zahl seehandelsrechtlicher Vorschriften soll
auf etwa die Hälfte reduziert werden.

Der Gesetzentwurf trifft zugleich Vorsorge dafür, dass
Entschädigungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes
künftig verschuldensunabhängig gezahlt werden. Die
Haftungshöchstbeträge sollen deutlich angehoben wer-

den, von derzeit 164 000 Euro auf 468 000 Euro. Die
Zahl der Unfälle in der Schifffahrt ist indes sehr gering,
was sich bei der Berechnung von Versicherungsprämien
auswirkt.

Mit den Anpassungen an die digitale Realität leisten
wir einen sehr wichtigen Beitrag zur Stärkung des deut-
schen Seehandels.

Im jetzt beginnenden parlamentarischen Gesetz-
gebungsverfahren und in der vorgesehenen Anhörung
im Rechtsausschuss wird der umfangreiche Gesetzent-
wurf einer ausführlichen Prüfung unterzogen.

Im Übrigen danke ich an dieser Stelle den Mitglie-
dern der vom Bundesministerium der Justiz im Jahre
2004 eingesetzten Sachverständigengruppe zur Reform
des Seehandelsrechts für ihre guten und wichtigen
Vorarbeiten, auf denen der Gesetzentwurf basiert.


Ingo Egloff (SPD):
Rede ID: ID1719544200

Das Seehandelsrecht soll durch die vorgeschlagene

Reform grundlegend und systematisch überarbeitet und
im Hinblick auf den internationalen Wettbewerb moder-
nisiert und entbürokratisiert werden. Die Vorarbeiten zu
dieser Reform begannen 2004 mit der Einsetzung einer
Sachverständigengruppe (Zypries), auf deren Vorschlä-
gen der vorliegende Entwurf beruht.

Das im HGB geregelte Seehandelsrecht ist überholt.
Es stammt in den Grundzügen aus dem Allgemeinen
Deutschen Handelsgesetzbuch von 1861, als die See-
fahrt noch mit Segelschiffen betrieben wurde. Deshalb
treffen viele Regelungen die heutige Wirklichkeit nicht
mehr. Das gilt zum Beispiel für die Vorschriften über die
Partenreederei, bei der es sich um eine besondere und
unbekannte Gesellschaftsform des HGB handelt, die
kaum angenommen wird; Reedereien werden heute von
Aktiengesellschaften oder anderen Handelsgesellschaf-
ten betrieben. Auch die Vorschriften über die Verkla-
rung, also die eidesstattliche Erklärung des Kapitäns
nach einem Schiffsunfall, oder über die vermögensrecht-
liche Abwicklung einer Havarie, die sogenannte Have-
rei, sind nicht mehr zeitgemäß. Daher weichen die Un-
ternehmen durch Wahl einer ausländischen Rechts-
ordnung dem deutschen Recht möglichst aus. Falls deut-
sches Recht Anwendung findet, können die Fälle oft nur
mit richterlicher Rechtsfortbildung gelöst werden.

Neben dem klassischen Seehandel werden auch die
Personenbeförderungsverträge auf See neu geregelt,
§§ 536 HGB-E ff. Für Personenschäden wird neu eine
verschuldensunabhängige Haftung eingeführt, § 538
Abs. 2 HGB-E. Auch für die verschuldensabhängige
Haftung gibt es Haftungshöchstbeträge, § 541 HGB.
Nach der Entwurfsbegründung sind diese Beträge höher
als bisher.

Die Regelungen des Gesetzentwurfs zum „Ausführen-
den Verfrachter“, § 509 HGB-E, müssen wir uns genau
ansehen. Der Entwurf sieht eine neue Rechtsfigur vor,
wonach zukünftig neben dem Reeder auch der Seehafen-
umschlagbetrieb direkt und AGB-fest dem Befrachter
oder Empfänger der Güter so haftet, als wäre er der Ver-
frachter. Dies soll bei Güterschäden gelten, die bei einer





Ingo Egloff


(A) (C)



(D)(B)


Tätigkeit entstanden sind, die zur Erfüllung eines Stück-
gutfrachtvertrages ausgeführt wurden. Die vorgeschla-
gene Haftungsausdehnung auf Umschlagbetriebe würde
angesichts des weiten Feldes der mit der Ladungsbe-
treuung tätigen Hafenwirtschaft zu unterschiedlichen
Haftungsregimen auf dem Terminalgelände führen, ab-
hängig davon, ob die Tätigkeit dem Stückgutfrachtver-

(zum Beispiel nachfolgende Beladung eines Lkw oder Zuges für den Nachlauf der Güter)


Neben den juristischen Schwierigkeiten kann die Haf-
tungsausdehnung auf Umschlagbetriebe auch zusätzli-
che wirtschaftliche Belastungen und Wettbewerbsnach-
teile zulasten der Umschlagunternehmen zur Folge
haben. Denn für ausländische Umschlagunternehmen
gelten diese Regelungen der Mithaftung nicht. Hier sehe
ich Probleme.

Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt insgesamt
den Antrag. Doch ist es wieder einmal ein Armutszeug-
nis, dass das BMJ offenbar nicht in der Lage ist, zwi-
schen seinen eigenen Abteilungen den vorliegenden Ge-
setzentwurf mit den Bestimmungen des Seearbeitsüber-
einkommens abzustimmen.

Das Seearbeitsübereinkommen von 2006 zielt auf die
Schaffung von weltweit einheitlichen Mindeststandards
für die Arbeits- und Lebensbedingungen von Seeleuten
an Bord von Handelsschiffen ab, um damit vor allem
Wettbewerbsverzerrungen und Sozialdumping in der
weltweiten Schifffahrt zu verhindern. In Art. II Ziffer j
des Seearbeitsübereinkommens wird klargestellt, dass
der Reeder für alle Forderungen des Seemannes unein-
geschränkt haftbar ist. Diese Regelung greift zum Bei-
spiel dann, wenn Seeleute von Bemannungsagenturen im
Auftrag des Reeders an Bord geschickt werden, das
Schiff von A nach B bringen, aber dann von der Agentur
kein Geld bekommen. In solch einem Fall haben die See-
leute das Recht, sich wegen der unterlassenen Heuer-
zahlung direkt an den Reeder zu wenden.

Über den Gesetzentwurf zur Umsetzung des See-
arbeitsübereinkommens, das sogenannte Seearbeitsge-
setz, werden wir uns hier noch zu unterhalten haben; er
enthält zum Beispiel den Fehler, wonach die Haftung des
Reeders auf eine „Bürgschaft“ begrenzt ist. Hier müssen
wir nur feststellen, dass es im Gesetzentwurf zur Reform
des Seehandelsrechts in den Festlegungen der §§ 476 ff.
nicht gelungen ist, die Begriffsbestimmungen mit dem im
selben Hause erarbeiteten Seearbeitsgesetzentwurf in
Einklang zu bringen. Wir fordern deshalb die Überar-
beitung der vorhergehend genannten Artikel.


Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719544300

Das deutsche Seehandelsrecht ist veraltet und schwer

verständlich. Diese Feststellung im Gesetzentwurf der
Bundesregierung trifft zu. Aber das sollte kein Grund
sein, acht Jahre dafür zu brauchen, ein aktuelles und
verständliches Seehandelsrecht auf den Weg zu bringen.

3 666 Schiffe gehören deutschen Eignern, die deut-
sche Handelsflotte gehört zu den größten weltweit.
Trotzdem tun sich die Bundesregierungen sehr, sehr

schwer damit, internationale Übereinkommen in natio-
nales Recht zu übertragen.

Heute wird uns ein Gesetzentwurf zur Reform des
Seehandelsrechts vorgelegt, an dem seit 2004 ge-
schraubt wird. Zwischenzeitlich war man international
schneller und hat bereits Ende 2008 eine „UN-Konven-
tion über Verträge über die internationale Beförderung
von Gütern ganz oder teilweise auf See“ verabschiedet,
die sogenannten Rotterdam-Regeln. Mit diesen Regeln
sollte ein modernes und international einheitliches See-
frachtrecht ermöglicht werden.

Dieses Abkommen ist jedoch nicht in Kraft, weil die
unterzeichnenden Staaten das Abkommen nicht ratifi-
ziert haben. Deutschland aber hat diese Konvention
noch nicht einmal unterzeichnet. Die Deutsche Ver-
kehrs-Zeitung (DVZ) kommentiert, mit dem Entwurf des
neuen Seehandelsgesetzes gehe Deutschland einen Son-
derweg und koppele sich damit von der internationalen
Rechtsentwicklung ab.

Interessant ist die Begründung. Ich zitiere: „Von ei-
ner vollständigen Einarbeitung der Rotterdam-Regeln in
das Handelsgesetzbuch soll dagegen abgesehen werden.
Diese sollte erst dann überhaupt in Erwägung gezogen
werden, wenn die Rotterdam-Regeln von Deutschland
auch ratifiziert werden. Eine Entscheidung über eine
Ratifikation macht aber erst dann Sinn, wenn absehbar
ist, dass sie völkerrechtlich in Kraft treten und zu den
Vertragsparteien wichtige Seehandelsnationen der Welt
zählen werden.“ Also hält sich die wichtige Seehandels-
nation Deutschland zurück, wie auch andere? Soll damit
ein internationales Übereinkommen ausgebremst wer-
den?

Frau Ministerin, Sie legen uns einen 250-seitigen Re-
ferentenentwurf zur Reform des Seehandelsrechts vor,
der im Vorfeld wegen teils massiver Bedenken der See-
frachtrechtsexperten und der interessierten Verbände
überarbeitet werden musste, nun aber wohl akzeptiert
werden konnte.

Kommen wir zu einigen Details: Zukünftig sollen
auch Subunternehmer eines Verfrachters für ihren Part
direkt gegenüber dem Eigentümer der Ladung haften,
nicht nur auf See, sondern auch beim Umschlag im Ha-
fen. Bislang musste ein Betreiber eines Containertermi-
nals nicht für Schäden haften, die bei der Entladung ent-
standen. Bislang musste der Verfrachter auch weder für
nautische Fehler der Besatzung noch für Feuer an Bord
haften, selbst wenn es durch sie verschuldet war. Dies
wird formal abgeschafft, darf aber durch die Hintertür
in den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beförde-
rer doch wieder ausgeschlossen werden. Damit bleibt es
faktisch beim Alten.

Es gibt weitere Regelungen zur Zeitcharter, zur Haf-
tung im Falle eines Zusammenstoßes von Schiffen, über
die Bergung, über die Große Haverei, über Schiffsgläu-
bigerrechte und vieles mehr. Eine Haftung für die ver-
spätete Ablieferung von Gütern oder die Einführung ei-
nes elektronischen Seefrachtbriefs sind sicher gute
Ideen, Letzteres natürlich unter der Voraussetzung, dass
die datenschutzrechtlichen Vorgaben gewährleistet wer-

Zu Protokoll gegebene Reden





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)


den können. Das sind notwendige Regelungen für einen
rechtssicheren Seehandel.

Nachdem Sie, Frau Ministerin, ja nun beide großen
Arbeitsgebiete wie das Seearbeitsrecht und das Seehan-
delsrecht umgestalten und zusammenfassen, hat es uns
dann doch sehr gewundert, dass das neue Gesetz zum
Seehandelsrecht keinen Verweis auf das Seearbeitsüber-
einkommen enthält. Wird da in unterschiedlichen Abtei-
lungen aneinander vorbei gearbeitet? In §§ 476 bis 480
zu dem Abschnitt „Personen der Schifffahrt“ gehört hier
zwingend der Verweis auf die geltenden Vorschriften des
Seearbeitsübereinkommens hinein.

Abschließen möchte ich mit einem Appell zur Orien-
tierung des Seehandelsrechts an den zukünftigen inter-
nationalen Regeln. Ihr Zögern bei der Übernahme der
Rotterdamer Regeln haben Sie, Frau Leutheusser-
Schnarrenberger, im Mai dieses Jahres bei der Vorstel-
lung Ihres Kabinettsentwurfes damit begründet, dass
Deutschland ja sonst internationale Verpflichtungen ein-
gehen würde, die andere erst etwas später träfen, wo-
durch unsere Reeder leichte Wettbewerbsnachteile hät-
ten, bis sich das Abkommen durchsetzt. Das ist doch
keine inhaltliche Argumentation. Mit dieser Logik könn-
ten sich doch nie rechtliche Verbesserungen internatio-
nal durchsetzen. Wir erwarten von der deutschen Bun-
desregierung bei einer grundlegenden Überarbeitung
keine rückwärtsgewandte Politik, sondern ein Voran-
schreiten.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719544400

Die Bundesregierung hat einen Entwurf zur Reform

des Seehandelsrechts vorgelegt. Das Seehandelsrecht
bildet die Gesetzesgrundlage für die Beförderung von
Gütern und Passagieren über den Seeweg. Das Seehan-
delsrecht unterscheidet sich insofern vom Seerecht, das
sich vor allem auf den Hoheitsbezug von Küstenstaaten
bezieht.

Viele Teile des bisherigen Seehandelsrechts in
Deutschland stammen noch aus der Zeit der Segelschiff-
fahrt und sind nicht mehr zeitgemäß. Die Transporte,
Lieferketten und die technischen Entwicklungen lassen
mittlerweile das bestehende Seehandelsrecht in
Deutschland antiquiert erscheinen. Deutliche Änderun-
gen und die Aufnahme aktueller Entwicklungen sind da-
her notwendig geworden, um das deutsche Seehandels-
recht an moderne Zeiten anzupassen.

Der vorliegende Gesetzesvorschlag beinhaltet vor al-
lem eine Straffung der gegenwärtigen Regelungen, die
über Handelsgesetzbuch und Bürgerliches Gesetzbuch
verstreut zu finden sind. Die Novelle des Seehandels-
rechts fasst jetzt die Rechtslage im Fünften Buch des
Handelsgesetzbuchs zusammen. Eine Neustrukturierung
und Reform der Begrifflichkeiten finden sich hierin
wieder.

Der vorliegende Gesetzentwurf ist das Ergebnis der
noch durch Bundesministerin Zypries 2004 eingesetzten
Sachverständigengruppe Seehandelsrecht. 2009 war
diese Gruppe fertig mit ihren Beratungen. Aus welchen
Gründen, werte Frau Justizministerin, hat es drei Jahre

gedauert, bis wir den Gesetzentwurf nun vorliegen
haben?

Die bisherigen Pflichten des Kapitäns, die bisher
einer unternehmerischen Stellung glichen, werden nun
so formuliert, dass der Kapitän als Person in arbeitneh-
merähnlicher Stellung agiert und haftet. Alle dem
Verkehrsschutz dienenden Regelungen sollen jedoch
beibehalten werden, um den Kapitän weiterhin als Ver-
tretungsmacht des Reeders beizubehalten. Diese Ände-
rung erscheint uns überfällig und wird von uns mitgetra-
gen.

Die Angleichung des deutschen Seefrachtrechts an
die Haager Regeln scheint aus unserer Sicht sinnvoll.
Lobenswert ist, dass an dieser Stelle auch Elemente der
Rotterdam Rules, wie die Möglichkeit der Verwendung
elektronischer Beförderungsdokumente, in den Gesetz-
entwurf eingeflossen sind.

Erstmals werden die weltweit üblichen Schiffschar-
terverträge erwähnt, die sogenannten Schiffsüberlas-
sungsverträge: der Bareboat-Vertrag sowie der
Zeitchartervertrag: Seit Jahrzehnten wird in der inter-
nationalen Handelsschifffahrt auf Musterverträge zu-
rückgegriffen. Diese sind international geregelt und für
nahezu jeden Schifffahrtsbereich erhältlich – und kön-
nen je nach Bedarf individuell angepasst werden. Dass
der Gesetzentwurf die Schiffsüberlassungsverträge aus-
führlich aufgreift und endlich im deutschen Recht regelt,
war überfällig.

Die Regelung zur Haftung der Beförderungsunter-
nehmen bei Personenschäden hat insbesondere durch
das steigende Fahrgastaufkommen in der Kreuzschiff-
fahrt starke Wichtigkeit erlangt. Das zeigt uns gerade
der Unfall mit dem Kreuzfahrtschiff MS „Costa Concor-
dia“. Dass die Haftungssumme bei Personenschäden
jetzt deutlich erhöht wird, scheint folgerichtig.

Wir werden die weiteren Beratungen in den Aus-
schüssen konstruktiv begleiten. Doch dass die Rotter-
dam Rules, als fortschrittliches Rechtsübereinkommen,
noch nicht vollständig zur Anwendung kommen sollen,
ist bedauernswert, sind sie doch bereits 2009 von den
ersten Staaten in Rotterdam unterzeichnet worden, um
ein international einheitliches und aktuelles Rahmen-
werk für den Transport von Gütern über den Seeweg zu
schaffen. Unter den bisherigen Unterzeichnern sind
große Seehandelsnationen wie Dänemark, Frankreich,
Griechenland, Niederlande, Norwegen, Spanien und die
USA. Auch wenn es erst durch zwei Staaten ratifiziert ist
– Spanien und Togo –, so sollte sich vor allem bei den
großen Handelsnationen herumsprechen, dass die
Regeln zwar detailliert, aber doch präzise sind – und die
entsprechende Anzahl an Unterzeichner- bzw. ratifizie-
renden Staaten benötigt wird, um sie endlich wirksam
werden zu lassen. Deutschland ist also gut beraten und
sollte jetzt die Rotterdam Rules sowohl unterzeichnen
als auch ratifizieren.

Wenn jetzt Deutschland mit der Reform des Seehan-
delsrechts voranschreitet, ist das zwar lobenswert. Aber
in einigen Jahren, wenn die Rotterdam Rules ratifiziert
sind, wird auch wieder eine Reform des Seehandels-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)


rechts anstehen. Dann müsste der Prozess noch einmal
wiederholt werden – und unserer Auffassung nach auch
deutlich schneller ablaufen.

Interessant wäre in der Begründung der Gesetzes-
vorlage ein Vergleich der unterschiedlichen Modelle des
Seehandelsrechts in Europa gewesen. Innovativ er-
scheint uns das Regelungswerk Rotterdam Rules, das
erstmals das Seehandelsrecht zusammenfasst und inter-
nationale Maßstäbe setzt. Bisher war es so, dass sich
bestimmte Staaten zum Beispiel nach den Haag-Visby
Rules richten oder auch nach den Hamburg Rules.

Am 24. Oktober werden wir im Rechtsausschuss die
Gelegenheit haben, in einer Anhörung über das neue
Seehandelsrecht zu sprechen. Ich möchte daher noch
nicht zu viele Themen vorwegnehmen – aber insgesamt
scheint der Vorschlag durchaus brauchbar. Das ist zu
einem seltenen Glück dieser Koalition geworden.

Über verschiedene Auswirkungen wird jedoch noch
zu reden sein, zum Beispiel, wenn sich aufgrund der neu
eingerichteten Erhöhung von Haftungs- und Schadensri-
siken am Ende wohl die Versicherer freuen dürften –
denn es ist anzunehmen, dass die neu entstehenden Risi-
ken durch neue Versicherungen abgedeckt werden müs-
sen.

Wir können also jetzt in hoffentlich konstruktive Be-
ratungen in den Ausschüssen einsteigen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:

Mit dem dem Deutschen Bundestag vorliegenden Ent-
wurf soll das deutsche Seehandelsrecht vollständig neu
geregelt werden.

Ziel der Reform ist, das weitgehend noch aus dem
19. Jahrhundert stammende deutsche Recht den heuti-
gen Bedürfnissen der maritimen Wirtschaft anzupassen
und damit den Wirtschafts-, Rechts- und Justizstandort
Deutschland zu stärken.

Zu diesem Zweck sieht der Gesetzentwurf Folgendes
vor: erstens eine Neustrukturierung und Straffung des
im Fünften Buch des Handelsgesetzbuchs geregelten
Seehandelsrechts, zweitens eine Abschaffung überholter
Rechtsinstitute und Regelungen wie etwa die, dass keine
Gegenstände an die Seiten des Schiffes gehängt werden
dürfen, drittens eine Modernisierung des geltenden See-
handelsrechts und schließlich viertens eine Anpassung
des allgemeinen Transportrechts und des Binnenschiff-
fahrtsrechts an das modernisierte Seehandelsrecht.

Eines der wesentlichen Elemente der Reform ist die
Neuregelung des Rechts der Güter- und Personenbeför-
derungsverträge.

Die im Entwurf vorgesehenen Vorschriften über das
Recht der Güterbeförderungsverträge sind klar struktu-
riert: So wird der Raumfrachtvertrag, unter dem der
Entwurf ausschließlich den Reisefrachtvertrag versteht,
in einem eigenen Titel geregelt. Die Vorschriften über
den Stückgutfrachtvertrag gliedern sich in allgemeine
Vorschriften, in Vorschriften über die Haftung wegen

Verlust oder Beschädigung des Gutes sowie in Vorschrif-
ten über Beförderungsdokumente.

Inhaltlich orientieren sich die Vorschriften in weiten
Teilen an dem im Vierten Buch des Handelsgesetzbuchs
geregelten allgemeinen Frachtrecht, berücksichtigen
aber zugleich die Besonderheiten der Seebeförderung.
Was die Haftung des Verfrachters anbelangt, so sind da-
her die Regelungen weiterhin nach dem Vorbild des für
die maritime Wirtschaft bedeutsamsten Übereinkommens,
den sogenannten Visby-Regeln von 1968, ausgestaltet.
Die Rotterdam-Regeln, also das Übereinkommen der
Vereinten Nationen von 2008 über Verträge über die in-
ternationale Beförderung von Gütern ganz oder teil-
weise auf See, spielen insoweit nur eine untergeordnete
Rolle.

Denn es ist noch unklar, ob und wann die Rotterdam-
Regeln völkerrechtlich in Kraft treten werden. Aller-
dings wird von dem skizzierten Regelungskonzept, näm-
lich der Beibehaltung des geltenden Haftungsregimes, in
einem wichtigen Punkt abgewichen, nämlich der Haftung
des Verfrachters für einen von der Schiffsbesatzung bei
der Führung oder der sonstigen Bedienung des Schiffes
oder durch Feuer an Bord des Schiffes verschuldeten
Schaden.

Nach den Visby-Regeln und dem heute geltenden
deutschen Recht ist in diesen Schadensfällen die Haf-
tung des Verfrachters gesetzlich ausgeschlossen. Dies
lässt sich jedoch heute, wie die Rotterdam-Regeln zei-
gen, kaum noch rechtfertigen. Dementsprechend soll
nach dem Gesetzentwurf auf einen gesetzlichen Haf-
tungsausschluss verzichtet werden.

Mit Blick auf die internationale Rechtslage und die
Wettbewerbssituation soll aber den Vertragsparteien ge-
stattet werden, einen solchen Haftungsausschluss zu-
mindest zu vereinbaren, und zwar auch durch AGB.

Soweit der Stückgutfrachtvertrag betroffen ist, möchte
ich schließlich die Modernisierung der Vorschriften
über Beförderungsdokumente erwähnen. So regelt der
Entwurf erstmalig den in der Praxis weithin verwende-
ten Seefrachtbrief und schafft eine gesetzliche Grund-
lage für die Verwendung elektronischer Beförderungs-
dokumente.

Neben den Güterbeförderungsverträgen sollen erst-
malig im Handelsgesetzbuch die sogenannten Schiffs-
überlassungsverträge, nämlich die Schiffsmiete und die
Zeitcharter, geregelt werden. Hierdurch sollen vor allem
bestehende Rechtsunsicherheiten wegen der rechtlichen
Einordnung dieser Verträge und ihrer Abgrenzung von
Güterbeförderungsverträgen beseitigt werden.

Soweit das Personenbeförderungsrecht betroffen ist,
sieht der Entwurf vor, die Haftung des Beförderers ins-
besondere für Personenschäden nach dem Vorbild der
ab dem 31. Dezember 2012 geltenden EG-Verordnung
von 2009 über die Unfallhaftung von Beförderern von
Reisenden auf See deutlich zu verschärfen. Wie wichtig
ein guter Schutz von Schiffspassagieren ist, hat der
Schiffsunfall der „Costa Concordia“ gezeigt. Durch die
Reform soll sichergestellt werden, dass das hohe Schutz-
niveau, das ab Ende dieses Jahres auf EU-Ebene gilt,

Zu Protokoll gegebene Reden





Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


(A) (C)



(D)(B)


auch für Schiffsbeförderungen gilt, die nicht unter die
EG-Verordnung fallen. Erfasst ist damit insbesondere
die innerstaatliche Küstenschifffahrt sowie die Binnen-
schifffahrt.

Die Reform des Seehandelsrechts soll nach dem Ent-
wurf am Tag nach der Verkündung des Gesetzes in Kraft
treten. Ich hoffe, dies wird noch vor Jahresende der Fall
sein. Denn das geltende Recht der Personenbeförderung
auf Schiffen sollte mit Inkrafttreten der EG-Verordnung
am 31. Dezember 2012 an das europarechtliche Vorbild
angepasst sein.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719544500

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/10309 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ander-
weitige Vorschläge gibt es offensichtlich nicht. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 36:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-
kämpfung von Zahlungsverzug im Geschäfts-
verkehr

– Drucksache 17/10491 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Auch hier sind, wie vorgesehen, die Reden zu Proto-
koll genommen.


Dr. Stephan Harbarth (CDU):
Rede ID: ID1719544600

Das Thema Zahlungsverzug hat uns schon Anfang

des Jahres 2010 beschäftigt. Viele Kolleginnen und Kol-
legen werden sich erinnern. Im Frühjahr 2012 hatten
wir mit einer fraktionsübergreifenden Stellungnahme
wesentliche Verbesserungen der Richtlinie erreichen
können.

Zahlungsverzug bringt für viele Akteure und Bran-
chen erhebliche Probleme mit sich. Nicht selten führt
Zahlungsverzug zu Insolvenzen und in der Folge zum
Verlust von Arbeitsplätzen.

Nicht nur die mittelständische Baubranche ist betrof-
fen. Auch andere Unternehmensbereiche wie Dienstleis-
tungs- oder Handwerksbetriebe warten oftmals sehr
lange auf ihr Geld.

Es erweist sich als Problem, wenn Schuldner die Be-
gleichung offener Forderungen über Gebühr hinauszö-
gern oder sich durch überlange vertragliche Zahlungs-
oder Überprüfungsfristen praktisch einen kostenlosen
Kredit einräumen lassen. Nicht selten nutzen gerade
große und marktbeherrschende Teilnehmer oder öffent-
liche Auftraggeber eine solche Möglichkeit, Zahlungs-
aufschübe für lange Zeit zu nutzen. Für einige Unterneh-
men führt dies zu einer wirtschaftlich ernsten, ja gar
existenziellen Gefahr.

Der Gesetzentwurf soll diesem Problem entgegenwir-
ken. Ziel des Gesetzentwurfs zur Bekämpfung von Zah-

lungsverzug im Geschäftsverkehr ist die Verbesserung
der Zahlungsmoral von Unternehmen und öffentlichen
Auftraggebern. Im vorgelegten Gesetzentwurf sehen wir
als CDU/CSU-Bundestagsfraktion allerdings insbeson-
dere im Bereich der geplanten Zahlungs- und Abnahme-
höchstfristen noch Prüfungs- und Erörterungsbedarf.
Insbesondere bedürfen die Fälle weiterer Prüfung, in
denen vor allem große Marktteilnehmer und Auftragge-
ber die nach dem Gesetzentwurf vorgesehenen Überprü-
fungs- und Zahlungsfristen voll ausreizen.

Ich bin zuversichtlich, dass die noch offenen Fragen
im Rahmen der vorgesehenen öffentlichen Anhörung
problematisiert werden. Im Übrigen steht die CDU/
CSU-Fraktion Verbesserungsvorschlägen im jetzt begin-
nenden parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren of-
fen gegenüber.


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1719544700

Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr stellt große

Teile unserer Wirtschaft, vor allem kleine und mittlere
Unternehmen, vor Probleme. Wenn sie nicht umgehend
für ihre Dienstleistungen bezahlt werden, fehlt ihnen
wichtiges Kapital. Insbesondere in wirtschaftlich so pre-
kären Zeiten wie den jetzigen, wo viele kleine und mitt-
lere Unternehmen mit den Folgen der Wirtschafts- und
Finanzkrise zu kämpfen haben, kann dieser Liquiditäts-
mangel fatale Folgen haben: Ihnen fehlt das notwendige
Kapital, um Arbeitsplätze zu sichern und Zukunftsinves-
titionen zu tätigen. Im schlimmsten Fall führen ausste-
hende Rechnungen sogar zur Insolvenz. Zahlungsverzug
im Geschäftsverkehr kann somit viele wichtige Arbeits-
plätze in Deutschland gefährden.

Das Ziel einer EU-Richtlinie von Oktober 2010 ist es,
die Zahlungsmoral innerhalb der EU zu verbessern. Ins-
besondere kleine und mittlere sowie diejenigen Unter-
nehmen, die grenzüberschreitend tätig sind, sollen hier-
durch besser geschützt werden.

Die Regelungen der Richtlinie sollen sicherstellen,
dass Rechnungen umgehend beglichen werden. Hierfür
wurden Zahlungsfristen von 30 Tagen festgeschrieben,
die höchstens auf 60 Tage ausgeweitet werden dürften.
Dies sei aber nur bei ausdrücklicher Vereinbarung und
keiner groben Benachteiligung für einen der Vertrags-
partner erlaubt. Bei Verletzung dieser Regelungen wä-
ren Verzugszinsen fällig. Diese Bestimmungen würden
die notwendige Liquidität garantieren, um Unternehmen
mehr Standfestigkeit, insbesondere in wirtschaftlich
schwierigen Phasen, zu verleihen, sie vor einer Insol-
venz zu schützen und hierdurch Arbeitsplätze zu sichern.

Von Beginn an habe ich mich bei der Formulierung
der Richtlinie dafür eingesetzt, dass dabei die Kommu-
nen als wichtige Auftraggeber und Wirtschaftspartner
nicht durch besonders strenge Sanktionen im Falle des
Zahlungsverzugs gegenüber privaten Unternehmen be-
nachteiligt werden. Es war für mich sehr erfreulich, dass
sich diese Ansicht hier im Bundestag fraktionsübergrei-
fend durchgesetzt hatte. Durch eine gemeinsame Be-
schlussempfehlung im Mai 2010 sprachen wir in dieser
Sache mit einer starken Stimme. Diese Position habe ich
demnach auch bei einer Anhörung im Europäischen





Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)


Parlament und in enger Abstimmung mit meinen Kolle-
ginnen und Kollegen im EP als zuständige Berichter-
statterin der SPD-Fraktion vertreten.

Mit dem nun eingebrachten Gesetzentwurf kommt die
Bundesregierung ihrer Pflicht nach, diese EU-Richtlinie
in deutsches Recht umzusetzen. In den nun folgenden
parlamentarischen Debatten und Beratungen der nächs-
ten Wochen liegt es an uns, die Arbeit der Bundesregie-
rung genauestens zu beurteilen. Wir müssen sicherstel-
len, dass sie im Sinne der Richtlinie handelt und damit
für einen verbesserten Schutz unserer kleineren und
mittleren Unternehmen eintritt.

Hierbei ist es zunächst einmal äußerst bedauerlich,
dass die Bundesregierung zentrale Forderungen aller
Fraktionen dieses Hauses nicht berücksichtigt hat. So
haben wir in unserer fraktionsübergreifenden Be-
schlussempfehlung vom Mai 2010 zu den Verhandlungen
der EU-Richtlinie etwa gefordert, den Begriff der „prüf-
fähigen Rechnung“ einzuführen. Hierdurch wollten wir
klarstellen, dass nur eine Rechnung, die prüffähig ist,
den Zahlungsverzug begründen kann. Dieser Begriff fin-
det sich jedoch weder in der Richtlinie noch im Gesetz-
entwurf der Bundesregierung wieder.

Abgesehen hiervon hat die Bundesregierung die EU-
Richtlinie nicht zufriedenstellend umgesetzt: Zum einen
mangelt es dem Entwurf an Klarheit und Eindeutigkeit.
Struktur und Formulierungen stehen stellenweise nicht
im Einklang mit der EU-Richtlinie. Dies stiftet unnötige
Ungewissheit und Unsicherheit bei den Unternehmen.
Hier besteht also deutlicher Klärungs- und Vereinfa-
chungsbedarf. Zum anderen sind zentrale Bestandteile
der Richtlinie nicht richtig umsetzt. So fehlt im Gesetz-
entwurf etwa die notwendige Verbindung der Zahlungs-
frist mit der maximalen Dauer von Abnahme- und Über-
prüfungsverfahren, wie sie etwa in der EU-Richtlinie
eindeutig hergestellt ist. Darüber hinaus können die Be-
stimmungen des Gesetzentwurfs unter Umständen zu ab-
surden Situationen führen: Ein Unternehmen muss eine
Rechnung bezahlen, obwohl es noch gar nicht die ent-
sprechende Gegenleistung erhalten hat. Man zahlt für
etwas, was man noch nicht bekommen hat – ein kurioses
Novum, das die Bundesregierung in das deutsche Recht
einführt. Hier besteht also erheblicher Verbesserungsbe-
darf.

Ziel muss es sein, die Situation insbesondere von klei-
nen und mittleren Unternehmen zu verbessern. Sie dür-
fen nicht länger auf ihr Geld warten als bislang. Wie wir
sehen, ist dieses Ziel jedoch durch den Gesetzentwurf
der schwarz-gelben Koalition in Gefahr. Statt die Situa-
tion zu verbessern, wird sie im schlimmsten Fall gar ver-
schlechtert.

Wir als SPD-Bundestagsfraktion wollen jedoch, dass
Unternehmen nicht weniger, sondern mehr Sicherheit
und Schutz genießen, dass sie genügend Liquidität besit-
zen, um Arbeitsplätze zu sichern und ihre Angestellten
pünktlich zu bezahlen. Daher werden wir uns in den
kommenden Wochen intensiv dafür einsetzen, den Ge-
setzentwurf zu vereinfachen und zu verbessern, um den
Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr wirksam und im

Sinne unserer Wirtschaft, vor allem kleinerer und mittle-
rer Unternehmen, zu bekämpfen.


Jens Petermann (Plos):
Rede ID: ID1719544800

Gegenstand der heutigen Debatte ist die Umsetzung

einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Rates aus dem Februar 2012. Die Bundesrepublik ist
völkerrechtlich verpflichtet, diese Richtlinie in inner-
staatliches Recht umzusetzen. Ob die Segnungen aus
Brüssel immer den Stein der Weisen darstellen, kann
dahinstehen. Interessieren soll uns das Ob und das Wie
der Umsetzung. Hier ist, vor allem wenn es um Anpas-
sungen so alter und umfangreicher Gesetze wie das des
Bürgerlichen Gesetzbuches geht, sensibles Herangehen
gefragt. Es kommt darauf an, die Neuerungen bestmög-
lich in die bestehende Systematik einzufügen, ohne die
Übersichtlichkeit zu verlieren.

Meines Erachtens ist dem Bundesjustizministerium
eine behutsame Einbettung nicht gelungen – im Gegen-
teil: Die in der Richtlinie vorgesehenen Veränderungen
wurden einfach nur eins zu eins in das BGB hinein-
gedrückt.

Größtenteils entspricht das deutsche Zivilrecht be-
reits den Anforderungen der Richtlinie, sodass nur noch
Teilbereiche neu zu regeln waren. Der Gesetzentwurf
sieht die Anhebung der gesetzlichen Verzugszinsen vor
und führt einen Anspruch auf Zahlung eines Pauschal-
betrages bei Verzug ein. Darüber hinaus sollen Höchst-
grenzen für vertraglich vereinbarte Zahlungsfristen
sowie Höchstgrenzen für die Dauer von Abnahme- und
Überprüfungsverfahren eingeführt werden. Ein pau-
schaler Schadenersatz und Höchstgrenzen für Zahlungs-
und Annahmefristen sind dem BGB bisher fremd.

Alle Bürgerinnen und Bürger, die befürchten, dass die
Gesetze noch umständlicher und Kauf- oder Werkver-
träge komplizierter werden, kann ich beruhigen: Für
Verbraucherinnen und Verbraucher wird sich nichts
ändern. Denn die Neuerungen gelten nur für Verträge
zwischen Unternehmern und zwischen öffentlichen Auf-
traggebern und Unternehmen.

In den vergangen Wochen erreichten mich und meine
Kollegen viele Schreiben von Handwerkern, kleinen und
mittelständischen Unternehmern sowie Handwerkskam-
mern und anderen Interessenvertretungen. Sie warnen
davor, dass sich die ihrer Auffassung nach richtige Ziel-
setzung der Richtlinie, Zahlungsfristen zu verkürzen und
damit die Liquidität der Unternehmen zu verbessern,
durch die Umsetzung in bundesdeutsches Recht ins
Gegenteil verkehren könnte.

Ich sehe aber die Gefahr einer drohenden Rechtsun-
sicherheit, die sich erst nach einigen Jahren durch
höchstrichterliche Rechtsprechung abstellen lässt.

Ich hatte darauf hingewiesen, dass die neuen Rege-
lungen teilweise nicht der deutschen Gesetzgebungs-
technik entsprechen. Dies möchte ich mit zwei kurzen
Beispielen unterstreichen:

Erstens. Der Fristbeginn in § 271 Abs. 1 und Abs. 2
BGB-Entwurf ist nicht einheitlich geregelt. Der Lauf der

Zu Protokoll gegebene Reden





Jens Petermann


(A) (C)



(D)(B)


Frist kann mit Zugang der Rechnung oder gleichwerti-
gen Zahlungsaufstellung oder Empfang der Gegenleis-
tung beginnen. Hier kann es in der Praxis zu erheblichen
Missverständnissen kommen. Eine Zahlungsaufstellung
ist zum Beispiel schon ein Leistungsverzeichnis, welches
bei Bauaufträgen bereits mit dem Angebot abgegeben
wird. Hier ist Konkretisierung notwendig.

Zweitens. § 288 Abs. 5 Satz 2 BGB-Entwurf besagt,
dass eine Vereinbarung, die den Anspruch aus Satz 1
ausschließt, vermutlich gegen die guten Sitten verstößt.
Das ist wortwörtlich aus der Richtlinie übernommen,
entspricht aber mitnichten der deutschen Gesetzesspra-
che. Denn im deutschen Recht sind nur Tatsachen ver-
mutungsfähig, nicht jedoch Wertungen.

Bei diesen beiden Beispielen möchte ich es bewenden
lassen. Sie zeigen aber deutlich, dass sich die Ersteller
der Vorlage über das Copy-and-Paste-Verfahren hinaus
hätten bemühen sollen. Es sind also noch einige Unzu-
länglichkeiten durch die Beamten im Justizministerium
abzustellen, damit der Gesetzentwurf dann im zweiten
Durchgang der Rechtsförmlichkeit entspricht.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719544900

Die verspätete Bezahlung von Rechnungen bringt

kleine und mittlere Unternehmen in Europa immer wieder
in ernste Schwierigkeiten. Diese können bis zum finan-
ziellen Ruin der Unternehmen führen. Um kleinere Auf-
tragnehmer in Europa besser zu schützen, hat die Euro-
päische Union Anfang 2011 eine Richtlinie erlassen, die
den Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr besser regle-
mentieren soll.

Heute debattieren wir über das Gesetz, das die Richt-
linie in Deutschland umsetzen soll. Es geht um den
Schutz der Unternehmen, die sich einem übermächtigen
Verhandlungspartner gegenübersehen, der ihnen Zah-
lungsfristen „diktiert“. Die Regelungen gelten für die
öffentliche Hand und private Unternehmen, nicht für
Verbraucherinnen und Verbraucher.

Ein hoher Zahlungsverzug ist auch in Deutschland
keine Seltenheit. Lange Höchstfristen werden in Verträ-
gen festgelegt und bis zum Ende ausgereizt. Das neue
Gesetz sieht vor, die Zahlungsfristen auf 60 Tage, für öf-
fentliche Auftraggeber sogar auf 30 Tage, zu beschrän-
ken.

60 Tage sind eine lange Zeit, insbesondere wenn man
hierzu noch 30 Tage als Höchstgrenze der Abnahmefrist
hinzuzählt. Bleibt die Zahlung für 90 Tage aus, kann dies
in Vorleistung getretene Unternehmen bereits in eine fi-
nanzielle Bredouille führen.

Die neuen Regelungen lösen deshalb im Unterneh-
menskreis die Befürchtung aus, dass das Ziel der Richt-
linie – Bekämpfung des Zahlungsverzugs – nicht erreicht
wird, sondern sich im Gegenteil am Markt Fristen eta-
blieren, die fern von unserem gesetzlichen Leitbild lie-
gen.

Unser gesetzliches Leitbild sieht die für den Gläubi-
ger günstigste Variante vor: Der Gläubiger kann im
Zweifel die Zahlung sofort verlangen. Um das Ziel der

Richtlinie, den Zahlungsverzug zu vermeiden, nicht ins
Gegenteil zu verkehren, müssen wir bei der Umsetzung
darauf achten, dass unser gesetzliches Leitbild in Funk-
tion bleibt. Wir müssen klarstellen, dass die Zahlungs-
frist von maximal 60 Tagen das Äußerste ist, was im Ge-
schäftsverkehr noch tragbar ist. Wir dürfen dem
Ausreizen von Höchstfristen keinen Vorschub leisten.

Abzuwarten bleibt darüber hinaus, ob ein weiteres
Element im Gesetzentwurf zu einer Verbesserung der
Zahlungsmoral führen wird: Die Einführung eines Pau-
schalbetrags von 40 Euro für sogenannte „Beitreibungs-
kosten“. Der Anspruch entsteht, wenn der Gläubiger
Anspruch auf Verzugszinsen hat.

Dies ist ein Novum im deutschen Recht. Mit 40 Euro
ist dieser Anspruch zwar moderat bemessen, dennoch ist
der pauschale Anspruch, der unabhängig davon vor-
liegt, ob ein solcher Schaden beim Gläubiger überhaupt
entstanden ist, dem deutschen Schadenersatzsystem
fremd.

Fraglich ist, ob eine solche Pauschale tatsächlich
Schuldner dazu anhält, rechtzeitig zu zahlen. Schuldner,
die bewusst Zahlungen nach hinten hinausschieben und
auf einen „Kredit“ des Gläubigers setzen, werden sich
von 40 Euro nicht unbedingt abschrecken lassen.

Auch lässt die Pauschale eine gewisse Nähe zum
Strafschadenersatz erkennen. Die 40 Euro sollen zwar
laut EU-Kommission keine strafende Wirkung haben.
Sie sollen dem Gläubiger als Ausgleich für seine Beitrei-
bungskosten dienen. Aber Schadenersatzforderungen
ohne nachgewiesenen Schaden haben einen „Wieder-
gutmachungscharakter“, der auch dem Strafschadens-
ersatz innewohnt.

Und die EU-Kommission treibt die Einrichtung von
Pauschalzahlungen voran: Im Entwurf zum Gemein-
samen Europäischen Kaufrecht findet sich der Anspruch
auf 40 Euro Entschädigung für Beitreibungskosten wie-
der.

Meine Damen und Herren, auf EU-Ebene sollten wir
uns weiterhin Bestrebungen zur Einführung von unange-
messen hohen Pauschalbeträgen oder von Strafschaden-
ersatz im Zivilrecht entgegenstellen. Ein Strafschaden-
ersatz, der weit über einen tatsächlich eingetretenen
Schaden hinausgeht, stellt eine Bereicherung des Gläu-
bigers dar. Er führt zu einer nicht kalkulierbaren Zusatz-
belastung von Schuldnern oder – im Fall von öffent-
lichen Auftraggebern – letztlich von Steuerzahlern. Einer
solchen Zusatzbelastung müssen wir vorbeugen.

D
Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1719545000


Mit dem dem Deutschen Bundestag vorliegenden Ent-
wurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Zahlungs-
verzug im Geschäftsverkehr soll die im Jahre 2011 über-
arbeitete europäische Richtlinie zur Bekämpfung von
Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr umgesetzt werden.
Ziel ist es, die Zahlungsmoral von Unternehmen und
öffentlichen Auftraggebern zu verbessern. Dies ist vor
allem zum Schutz des Mittelstandes erforderlich. Denn
insbesondere kleine und mittlere Unternehmen leiden,

Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler


(A) (C)



(D)(B)


wenn Schuldner die Begleichung offener Forderungen
über Gebühr hinauszögern oder sich durch vertragliche
Zahlungs- oder Überprüfungsfristen praktisch einen
kostenlosen Gläubiger- oder Lieferantenkredit einräu-
men lassen. Für die Unternehmen kann dies zu einer
wirtschaftlich ernsten, wenn nicht gar existenziellen
Gefahr werden. Mit dem Gesetzentwurf soll diesem
Unwesen entgegengewirkt werden.

Zu diesem Zweck sieht der Gesetzentwurf im Wesent-
lichen Folgendes vor: erstens eine Beschneidung des
Rechts, durch eine Vereinbarung von Zahlungs-, Ab-
nahme- und Überprüfungsfristen die an sich bestehende
Pflicht zur sofortigen Begleichung einer Forderung über
Gebühr hinauszuschieben; zweitens eine Erhöhung der
gesetzlichen Verzugszinsen; drittens einen Anspruch auf
eine zusätzliche Pauschale bei Zahlungsverzug.

Der Gesetzentwurf setzt die Richtlinie eins zu eins
um. Dies bedeutet insbesondere auch, dass Verbraucher
nicht von dem Gesetzentwurf betroffen sind.

Die im Entwurf vorgesehenen Regelungen über eine
Vereinbarung von Zahlungs-, Abnahme- und Überprü-
fungsfristen gehen – wie bisher – von dem Leitbild aus,
dass eine Leistung sofort zu bewirken ist. Allerdings
setzt das geltende Recht den Vertragsparteien, die von
diesem Leitbild abweichen wollen, nur wenige Grenzen,
nämlich das allgemeine Gebot der Wahrung von Treu
und Glauben sowie der für Allgemeine Geschäftsbedin-
gungen geltende Grundsatz, dass die Vertragspartner
des AGB-Verwenders nicht entgegen den Geboten von
Treu und Glauben unangemessen benachteiligt werden
dürfen. Diese Grenzen sollen nach dem Gesetzentwurf
enger gesteckt werden. Insbesondere soll sich der Auf-
traggeber künftig nicht mehr darauf berufen können,
dass er üblicherweise erst nach Ablauf sehr langer Zah-
lungs-, Abnahme- oder Überprüfungsfristen zahle.
Dementsprechend sieht der Entwurf für die Verein-
barung bestimmter Fristen im Verkehr zwischen Unter-
nehmen vor, dass Fristen, die eine bestimmte Länge
überschreiten, nämlich 60 Tage bei Zahlungsfristen und
30 Tage bei Überprüfungs- und Abnahmefristen, aus-
drücklich vereinbart werden müssen und dass diese
Fristen für den Gläubiger der Entgeltforderung nicht
grob nachteilig sein dürfen. Werden diese Anforderun-
gen nicht erfüllt, ist die Vereinbarung unwirksam und
die Leistung sofort bzw. bei einem Werkvertrag bei
Abnahme zu bewirken. Bei Geschäften mit öffentlichen
Unternehmen werden die Anforderungen noch ver-
schärft: So gilt das Erfordernis der Ausdrücklichkeit
bereits bei der Vereinbarung einer Zahlungsfrist von
mehr als 30 Tagen. Außerdem wird die Vereinbarung von
vornherein als unwirksam angesehen, wenn eine Zah-
lungsfrist von mehr als 60 Tagen vereinbart wird.

Die im Entwurf vorgeschlagenen Regelungen lassen
selbstverständlich das Recht der Allgemeinen Ge-
schäftsbedingungen unberührt. Auch dann, wenn in den
AGB Fristen vorgesehen sind, die mit denen im Entwurf
genannten übereinstimmen, ist also nicht ausgeschlos-
sen, dass die AGB im Streitfall als unwirksam anzusehen
sind.

Die im Entwurf vorgesehenen weiteren Änderungen,
insbesondere die Anhebung des Verzugszinssatzes um
1 Prozentpunkt und die Einführung eines Anspruchs des
Gläubigers auf eine Pauschale in Höhe von 40 Euro bei
Verzug des Schuldners, dienen ebenfalls der Bekämp-
fung von Zahlungsverzug. Die Einführung des
Anspruchs auf eine Pauschale trägt außerdem zu einer
Entlastung der Gerichte bei. Denn hierdurch werden
Streitigkeiten vor allem über geringe Kosten der Rechts-
verfolgung, wie sie etwa durch die Einschaltung eines
Inkassobüros entstehen, vermieden.

Die EU-Richtlinie, die die Vorgaben für den vorlie-
genden Gesetzentwurf definiert, muss bis zum 16. März
2013 umgesetzt sein. Ich hoffe, dass spätestens zu die-
sem Zeitpunkt neue Regelungen gelten werden, die dazu
beitragen, dass im Geschäftsverkehr zwischen Unter-
nehmen sowie zwischen Unternehmen und der öffent-
lichen Hand wieder mehr Fair Play Einzug hält und sich
die Zahlungsmoral bessert.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719545100

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/10491 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ander-
weitige Vorschläge gibt es nicht. Dann haben wir die
Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 37:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novel-
lierung patentrechtlicher Vorschriften und an-
derer Gesetze des gewerblichen
Rechtsschutzes

– Drucksache 17/10308 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Dr. Stephan Harbarth (CDU):
Rede ID: ID1719545200

Beim Deutschen Patent- und Markenamt gehen jähr-

lich etwa 60 000 Anmeldungen für Patente ein. Deutsch-
land ist nach wie vor das Land der Tüftler und Erfinder.

Mit dem Gesetzentwurf wollen wir den Erfindergeist
der Menschen in Deutschland stärken. Dies umfasst
auch Verfahrensabläufe bei der Anmeldung von Paten-
ten. Wir wollen zudem die Erfordernisse der Praxis und
entsprechende Vorschläge aus der Wirtschaft aufneh-
men.

Im Einzelnen sieht der Gesetzentwurf vor, den Inhalt
des Rechercheberichts zu erweitern. Dieser soll künftig
neben der Feststellung der Neuheit einer Erfindung
auch Angaben über die Patentfähigkeit der angemelde-
ten Erfindung, wie es bereits der Recherchebericht des
Europäischen Patentamtes vorsieht, enthalten.

Das Deutsche Patent- und Markenamt kann, um sich
vor ausuferndem Arbeitsaufwand zu schützen, bereits im
Rechercheverfahren den Mangel der Uneinheitlichkeit
der angemeldeten Erfindung feststellen und den Inhalt





Dr. Stephan Harbarth


(A) (C)



(D)(B)


des Rechercheberichts auf eine einheitliche Erfindung
begrenzen.

Weitere Erleichterungen soll es bei der Einreichung
von englisch- und französischsprachigen Anmeldeunter-
lagen geben. Diese werden künftig erst bis zum Ablauf
des zwölften Monats beim Deutschen Patent- und Mar-
kenamt eingereicht werden müssen. Die Verlängerung
der Übersetzungsfrist bedeutet für den Anmelder, dass
dieser nunmehr länger Bedenkzeit bekommen wird, ob
er die derzeit hohen Kosten einer Übersetzung der An-
meldeunterlagen für die Weiterverfolgung des nationa-
len Anmeldeverfahrens aufbringen will.

Künftig wird die Erteilung eines Patents ohne Benen-
nung des Erfinders nicht mehr möglich sein. Hierdurch
wird das Persönlichkeitsrecht des Erfinders gestärkt.

Des Weiteren soll es künftig für die Beteiligten und
Dritte möglich sein, die Akten von über 18 Monate zu-
rückliegenden Patentanmeldungen und erteilten Paten-
ten auch durch Zugriff über das Internet einzusehen.

Mit diesen Änderungen tragen wir als christlich-libe-
rale Koalition der Entwicklung im Zeitalter des Inter-
nets Rechnung. Patente werden somit zügiger und kos-
tengünstiger angemeldet werden können. Die Trans-
parenz wird gesteigert.

Wir als Unionsfraktion stehen weiteren Verbesse-
rungsvorschlägen im parlamentarischen Gesetzge-
bungsverfahren offen gegenüber.


Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1719545300

Patente sind ein wichtiger Indikator für die Innova-

tionskraft der deutschen Wirtschaft. Die Zahlen sprechen
für sich: Im vergangenen Jahr sind beim Deutschen Pa-
tent- und Markenamt, DPMA, fast 60 000 Patentanmel-
dungen eingegangen. Zusätzlich belegte Deutschland
nach den Vereinigten Staaten und Japan 2011 mit circa
33 000 Patentanmeldungen beim Europäischen Patent-
amt, EPA, den dritten Platz und war damit Spitzenreiter
in Europa. Patentrechtsnovellen müssen daher auch an
ihren Auswirkungen auf den Innovationsstandort
Deutschland gemessen werden.

Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Novellie-
rung patentrechtlicher Vorschriften und anderer Gesetze
des gewerblichen Rechtsschutzes, mit dem die Bundesre-
gierung auf geänderte Erfordernisse der Praxis und ent-
sprechende Vorschläge für Innovationen aus der Wirt-
schaft reagieren will, enthält eine Reihe von Vor-
schlägen zur Optimierung der Effizienz des Verfahrens
vor dem Deutschen Patent- und Markenamt, DPMA. Sie
sollen die Verfahren effizienter und transparenter gestal-
ten, Kosten und Bürokratieaufwand senken und den Stel-
lenwert des deutschen Patents im Vergleich zum euro-
päischen Patent wahren bzw. erhöhen.

Im Einzelnen wird unter anderem vorgeschlagen, den
Inhalt des Rechercheberichts zu erweitern und an ver-
gleichbare Vorgaben des Europäischen Patentamtes,
EPA, anzupassen. Der Anmeldetag soll künftig unabhän-
gig von der Einreichung übersetzter Anmeldeunterlagen
bestimmt werden. Die kostspielige Übersetzung eng-

lisch- und französischsprachiger Anmeldeunterlagen ist
zukünftig erst bis zum Ablauf des zwölften Monats beim
DPMA einzureichen. Ferner soll die derzeit geltende
kurze Einspruchsfrist von drei Monaten auf neun Mo-
nate verlängert werden, um bei komplexen Patenten eine
sorgfältig Prüfung zu ermöglichen. Schließlich ist auf
Antrag des Anmelders im Erteilungsverfahren zwingend
eine Anhörung durchzuführen, und die Erteilung eines
Patents bedarf künftig grundsätzlich der Benennung des
Erfinders.

Diese und andere Änderungen klingen auf den ersten
Blick vernünftig, und wir werden in den weiteren Aus-
schussberatungen klären, ob sie den Anforderungen der
Praxis genügen oder ob darüber hinaus weitere Maß-
nahmen zur Verbesserung der Verfahrensabläufe beim
DPMA notwendig sind.

Aus wirtschaftspolitischer Sicht müssen wir unsere
Aufmerksamkeit aber auch auf den grenzüberschreiten-
den Patentschutz richten – in Europa und weltweit. Un-
ser Ziel muss sein, ein möglichst einheitliches, über-
schaubares und kostengünstiges Schutzrechtssystem zu
schaffen. Vor allem brauchen wir im Interesse der Inte-
gration des Binnenmarktes, der Verringerung der Kos-
ten des Patentschutzes in Europa und der Verbesserung
der Rechtssicherheit einen effektiven und kostengünsti-
gen einheitlichen Patentschutz in der EU. Die Bilanz der
Bundesregierung ist hier leider ernüchternd: Obwohl
Deutschland das patentstärkste Land in Europa ist, ist
es der Bundesregierung nicht gelungen, das Europäi-
sche Patentgericht nach München zu holen.


Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719545400

Mit dem heute zu behandelnden Gesetzentwurf ver-

spricht uns die Bundesregierung die nutzerfreundliche
Verbesserung der Verfahren vor dem Deutschen Patent-
und Markenamt in Patentsachen. Sowohl für den einzel-
nen Anmelder als auch für das Patentamt soll das Ver-
fahren effizienter und transparenter gestaltet werden.
Versprochen werden Senkung der Kosten und des Büro-
kratieaufwands. Wer kann diesen Zielen und Vorhaben
widersprechen, wenn sie auch so umgesetzt werden?

Aus den Fachkreisen hört man Zustimmung. Die Pa-
tentanwaltskammer signalisiert vollinhaltliche Zustim-
mung und findet im Gesetzentwurf viele ihrer Anregun-
gen wieder. Zu Recht macht die Patentanwaltskammer
auf einige Schwächen aufmerksam, zum Beispiel auf die
neu geschaffene Ermächtigung zur Datenübermittlung
an das Europäische Patentamt.

In der Tat ermöglicht der Wortlaut der Ermächtigung
die unbegrenzte Übermittlung aller Daten, auch derjeni-
gen des Anmelders, die zu den geheimhaltungsbedürfti-
gen Daten gehören, wie etwa eingereichte ärztliche At-
teste. Während von der vorgesehenen elektronischen
Akteneinsicht durch die Öffentlichkeit diese privaten
Teile herausgenommen werden können, dürfte das Euro-
päische Patentamt den Zugriff auf alle Daten haben.
Dies ist weder erforderlich noch zu rechtfertigen. Dies
sollte im Laufe der anstehenden Beratungen korrigiert
und der Standard des Datenschutzes respektiert werden.

Zu Protokoll gegebene Reden





Richard Pitterle


(A) (C)



(D)(B)


Während der Gesetzentwurf die Effektivierung der
Verfahrensabläufe vorsieht, bleiben Fragen grundsätzli-
cher Art außen vor und damit jedoch auf der Tagesord-
nung. Ich will aus Zeitgründen nur drei benennen:

Erstens. Patente sollen Innovationen schützen und
damit fördern. Werden diese jedoch nur aus markttakti-
schem Kalkül angemeldet, ohne dass eine wirtschaftli-
che Nutzung plausibel gemacht wird, dann droht die Ge-
fahr, dass diese Innovationen verhindern. Es fehlen im
bisherigen Patentrecht die Mittel, um den wettbewerbs-
widrigen Missbrauch des Patentwesens ordnungspoli-
tisch zu unterbinden.

Zweitens. Ist es noch vertretbar, dass wir die gleichen
Patentlaufzeiten haben, obwohl sich der Zyklus der Pro-
dukterneuerung ständig verkürzt?

Drittens. Mein Kollege Roland Claus hatte in der
letzten Legislaturperiode im Januar 2009 eine deutlich
stärkere personelle Ausstattung für das Patentamt ange-
mahnt. Auch diese Forderung ist meines Erachtens noch
akut, wenn wir dem von vielen beklagten Patentstau ent-
gegenwirken wollen.

Wenn man sich die Begründung des Gesetzentwurfes
ansieht, so erwartet die Bundesregierung von der Ein-
führung der elektronischen Akteneinsicht und anderen
Gesetzesänderungen Einsparungen bei den Personal-
kosten. Es wäre sinnvoll, hierzu den Personalrat der Be-
hörde zu hören; denn es wäre nicht das erste Mal, wenn
die Einführung von automatisierten Prozessen zumin-
dest in der Anfangsphase nicht mit weniger, sondern mit
mehr Aufwand verbunden wäre. Jeder, der in der Praxis
solche Umstellungen erlebt hat, weiß, wovon ich rede.

Ein Unbekannter hinterließ uns zu dem Thema fol-
gende Botschaft: „Für das große Chaos haben wir Com-
puter. Die übrigen Fehler machen wir von Hand.“

Für die bessere personelle Ausstattung bedarf es ei-
nes Gesetzes nicht, sondern entsprechende Beschlüsse
im laufenden Haushaltsplanverfahren. Hier ist die Re-
gierungskoalition am Zug. Hic Rhodus, hic salta!


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Als Apple kürzlich in einem von zahlreichen Patent-
streitigkeiten um mögliche Nachahmungen seiner
iPhone-Technik vor einem US-Gericht einen überwälti-
genden Sieg erzielte, da wurde sehr genau reflektiert,
welche Folgen der mittlerweile voll eskalierte Patent-
krieg zwischen den Großunternehmen, in diesem Fall
der Softwarebranche, für die Gesellschaft nach sich
ziehen könnte. Es erscheint nicht abwegig, dass die
spektakulären Verfahren und die mit stattgebenden
Urteilen einhergehenden hohen Schadensersatzsummen
und Unterlassungsansprüche im Ergebnis massiv inno-
vationshindernde Folgen nach sich ziehen können. Wenn
eben ein Markt und die Neueinführung eines Produktes
patentrechtlich einem Minenfeld gleicht, sinkt die Be-
geisterung, alle Ressourcen daran zu setzen, Platzhir-
sche infrage zu stellen, Marktführer durch Innovationen
anzugreifen und dabei ganz nebenbei ein dynamisches

wirtschaftliches Umfeld zu erzeugen, auf das die Politik
mit Argusaugen schauen müsste.

Aber auch die Verbraucherinnnen und Verbraucher
könnten am Ende diejenigen sein, die den Preis dieses
Patentkrieges zahlen. Denn in dem Maße, wie das
Patentrecht sich einer weiten Patentierbarkeit öffnet,
wie etwa im Fall der Softwarepatente, führen die
„Monopole auf Zeit“ zu einer vom Preiskampf im Wett-
bewerb temporär abgekoppelten Entwicklung.

Natürlich erscheinen diese Thesen angesichts des
bereits seit vielen Jahren andauernden Patentkrieges
auf den unterschiedlichsten Märkten zugespitzt. Genau-
ere Untersuchungen zu den Folgen liegen nicht vor, und
es erscheint ebenso realistisch, dass sich so hochinnova-
tive und besonders kapitalstarke Branchen wie etwa der
IT-Sektor von rechtlichen Rahmenbedingungen wie dem
Patentrecht allenfalls am Rande, also gewissermaßen als
ein Nebenkriegsschauplatz, betroffen sehen. Dank des
hohen Wettbewerbes auch in diesem Bereich sorgt der
hohe Innovationsdruck auch für laufenden Preisdruck,
sodass die Verbraucherinnen und Verbraucher bei den
Preisen zumeist nicht das Nachsehen haben.

Gleichwohl: Das Diktum vom Patentrecht als bloßem
Anreizsystem für die allgemeine technische Fortentwick-
lung wirkt vor dem Hintergrund der beschriebenen
Realitäten des Patentrechts in den Gerichtssälen etwas
altbacken, und auch der Gesetzgeber muss hier laufend
überprüfen, ob etwas aus dem Ruder läuft.

Besonderen Anlass dazu bietet der Streit um Patente
auf Leben ebenso wie die weiter ausufernde Realität der
Softwarepatente, gegen die sich die freie Softwarebewe-
gung mit guten Argumenten zur Wehr setzt. Zudem wäre
es politisch naiv, Wachstum und Erfolg einer Wirtschaft
allein am zahlenmäßigen Output von Patenten zu be-
messen, wenn nicht sichergestellt ist, dass es sich dabei
um ein sorgfältiges und vor allem gerechtes System der
Erteilung handelt.

Die Bundesregierung hat sich in dieser Situation
lediglich damit begnügt, im nationalen Rahmen eine
Reform für einzelne Verfahrensverbesserungen in allen
Sparten des Immaterialgüterrechts vorzulegen. Sie
dürfte sich damit weitgehend auf sicherem Grund bewe-
gen. Der Entwurf hat denn auch überwiegend Zustim-
mung seitens der beteiligten Verbände erfahren. Es geht
um den in der Sache anerkennenswerten Anspruch,
Erteilungsverfahren zu vereinfachen, Anmelder zu ent-
lasten und Anpassungen an die beim Europäischen
Patentamt vorgegebenen Verfahrensabläufe vorzuneh-
men.

Einen sachgerechten Fortschritt bedeutet die Mög-
lichkeit des Erreichens des Anmeldetages und der damit
verbundenen Rechtsfolgen bei fremdsprachigen Paten-
ten unabhängig vom tatsächlichen Vorliegen der Über-
setzung, ferner auch die Erstreckung der Recherche
nach § 43 auf den „Stand der Technik“, weil und soweit
damit eine verbesserte Recherchequalität spätere dys-
funktionale Streitigkeiten vermieden werden können.

Als grundsätzlich besonders positiv hervorheben
möchte ich auch sowohl die nutzerfreundliche und der

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


Allgemeinheit dienende Klarstellung hinsichtlich der
Akteneinsichtsrechte in die elektronische Schutzrechts-
akte, die seit Mitte 2011 beim DPMA geführt wird, als
auch die Möglichkeit der Weitergabe von Patentinfor-
mationen über die eigenen Publikationen hinaus. Dabei
wurde zwar die gebotene Abwägung mit möglichen
gegenläufigen Datenschutzrechten vorgenommen, zwei-
felhaft erscheint allerdings die Schwelle des „offensicht-
lichen Überwiegens schutzwürdiger Interessen“.

Ich teile ferner die meines Erachtens schlüssige
Kritik der Patentanwaltskammer vom 2. März 2012 hin-
sichtlich Art. 7 des Gesetzentwurfs. Die darin vorgese-
hene Übermittlungsbefugnis an das Europäische Patent-
amt wurde zwar entsprechend überarbeitet, sieht
gleichwohl nach wie vor mit der Schwelle „offensichtli-
chen Überwiegens“ eine unnötig hohe Schwelle für das
Eingreifen einer sorgfältigen inhaltlichen Prüfung vor.

D
Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1719545500


Mit dem Ihnen vorgelegten Gesetz zur Novellierung
patentrechtlicher Vorschriften und anderer Gesetze des
gewerblichen Rechtsschutzes verfolgt die Bundesregie-
rung drei Ziele:

Erstens wollen wir die Verfahrensabläufe bei der Er-
teilung von Patenten beim Deutschen Patent- und Mar-
kenamt nutzerfreundlicher ausgestalten.

Zweitens wollen wir den bürokratischen Aufwand so-
wie die Kosten bei den Anmeldern und beim Patentamt
senken.

Drittens geht es uns darum, angesichts der bevorste-
henden Umgestaltung der Patentlandschaft in Europa
durch das EU-Patent die Bedeutung des deutschen Pa-
tents und des deutschen Patentamtes zu stärken.

Dieses Gesetz bildet einen weiteren Baustein auf dem
Weg zu einem effizienten, anwenderfreundlichen und
konkurrenzfähigen deutschen Patentsystem. Vor drei
Jahren ist die letzte größere Novelle in Kraft getreten:
Mit dem Patentrechtsmodernisierungsgesetz von 2009
ist es gelungen, die Verfahren vor den Patentgerichten
effektiver auszugestalten und eine ausufernde Beru-
fungspraxis einzudämmen. Bei dem vorgelegten Entwurf
liegt der Fokus auf der Optimierung des Erteilungsver-
fahrens.

Für die deutsche Wirtschaft ist ein funktionierendes
Patentsystem von lebenswichtiger Bedeutung. Die deut-
schen Unternehmen haben, was die Zahl der techni-
schen Erfindungen angeht, im europäischen Vergleich
eine Ausnahmestellung. Dazu nur eine Zahl: Etwa
40 Prozent aller vom Europäischen Patentamt an An-
melder aus Europa erteilten europäischen Patente ge-
hen nach Deutschland.

Doch auch das deutsche Patent erfreut sich unverän-
dert großer Beliebtheit. Vielen Unternehmen, insbeson-
dere Mittelständlern, genügt es, ihre Erfindung nur im
Inland schützen zu lassen. Im vergangenen Jahr wurden
ungefähr 60 000 Patente angemeldet und knapp 14 000
erteilt.

Die Bundesrepublik ist unangefochten Innovations-
standort Nummer eins in Europa. Diese Spitzenposition
wollen wir erhalten. Dazu müssen wir das Patentrecht
an veränderte Gegebenheiten anpassen. Dies gilt für
neue technische Entwicklungen ebenso wie für Änderun-
gen im Verhalten der Anmelder.

Dazu greife ich aus der vorliegenden Novelle drei
Kernpunkte heraus:

Erstens. Die Einsicht in die Anmeldeunterlagen soll
künftig online über das Internet möglich sein. Bisher
musste man für die Akteneinsicht die umständliche Me-
thode anwenden, nach München zum Patentamt zu fah-
ren oder sich Kopien per Fax oder Post schicken zu las-
sen. Patentanwälte und Patentabteilungen von Unter-
nehmen haben 18 Monate nach der Anmeldung einen
Anspruch darauf, zu erfahren, welche technischen Erfin-
dungen sich im Erteilungsverfahren befinden. Dann ken-
nen sie den Stand der Technik; dann können sie ihre ei-
genen Entwicklungsaktivitäten darauf abstimmen und
alternative technische Lösungsansätze suchen. Es ist
zeitgemäß und entspricht der Arbeitsweise der Nutzer
des Patentsystems, dass der Informationsfluss über das
Internet eröffnet wird.

Mit dieser Neuregelung kommen wir dem einhelligen
Wunsch der Patentpraxis nach unkomplizierter und ak-
tueller Bereitstellung von Patentinformationen nach.
Gleichzeitig stärken wir damit die Servicequalität des
DPMA erheblich. Dass Datenschutzbelange und Urhe-
berrechte bei der Onlineakteneinsicht gewährleistet sein
müssen, schreibt der Gesetzentwurf ausdrücklich vor.

Zweitens. Das Stichwort Servicequalität gilt auch für
die Privilegierung von Patentanmeldungen in engli-
scher und französischer Sprache. Viele Erfinder melden
zunächst beim DPMA an, um sich dort nach neun oder
zehn Monaten einen ersten Bescheid abzuholen. Aus die-
sem Recherchebericht erfahren sie nach derzeitigem
Recht den relevanten Stand der Technik. Fällt dieser Be-
richt ermutigend aus, verfolgen die Antragsteller an-
schließend den Erwerb ihres Schutzrechts beim Europäi-
schen Patentamt in anderer Sprache, zumeist Englisch,
weiter.

Derzeit müssen alle Unterlagen schon drei Monate
nach der Anmeldung in deutscher Sprache vorliegen.
Unsere Novellierung sieht eine Verlängerung dieser
Frist für englische und französische Anmeldungen auf
zwölf Monate vor. Damit wollen wir erreichen, dass in-
ternationale Anmelder ihre für die Nachanmeldung
beim EPA vorgesehenen fremdsprachigen Papiere erst
dann ins Deutsche übersetzen müssen, wenn sie sich ent-
schließen, ihr Erteilungsverfahren beim deutschen Pa-
tentamt fortzusetzen. Damit wird es attraktiver, das An-
gebot des DPMA zu nutzen. Und damit wird das DPMA
gegenüber dem Europäischen Patentamt konkurrenzfä-
higer.

Drittens. Verbesserung der Servicequalität ist auch
die Überschrift für die inhaltliche Aufwertung des so-
eben angesprochenen Rechercheberichts. Bisher führt
er nur diejenigen Druckschriften auf, die für die Beurtei-
lung der Patentierbarkeit von Bedeutung sein könnten.

Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler


(A) (C)



(D)(B)


Die Recherche soll künftig der Praxis auf internationa-
ler Ebene angeglichen und deshalb erweitert werden um
eine erste, vorläufige Einschätzung der Patentierungs-
voraussetzungen Neuheit und erfinderische Tätigkeit.

Der Anmelder hat dann schon wenige Monate nach
der Antragstellung eine vorläufige Bewertung seiner Er-
teilungschancen in der Hand. Sind diese gering, kann er
aus dem Verfahren aussteigen und weitere Kosten ver-
meiden.

Die vorliegende Novellierung konzentriert sich auf
die Straffung und Entbürokratisierung von Verfah-
rensabläufen bei den Unternehmen ebenso wie beim Pa-
tentamt. Als weitere Stichworte nenne ich noch die Ver-
einfachung des elektronischen Rechtsverkehrs und die
leichtere Zulassung der Öffentlichkeit bei Einspruchs-
verfahren gegen erteilte Patente.

Alle diese Rechtsänderungen scheinen aus der Sicht
des Patentlaien nur vergleichsweise geringfügige tech-
nische Korrekturen vorzusehen. Doch kann ich Ihnen
versichern, dass sie für die Patentpraxis ebenso wie für
das DPMA und damit für den Innovationsstandort
Deutschland von großer Bedeutung sind. Die Novelle
greift Anliegen aus der innovativen Wirtschaft auf, die in
den letzten Jahren immer nachdrücklicher vorgetragen
wurden. Der Gesetzentwurf übernimmt gleichzeitig eine
Reihe von Verbesserungsvorschlägen aus dem DPMA.

Dabei ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht entschei-
dend, dass diese Vorschläge erfüllt werden können, ohne
die Qualität der Patentprüfung zu beeinträchtigen oder
die Erteilungsfristen zu verlängern.

Ich bitte Sie daher, im weiteren Verfahren dem Patent-
novellierungsgesetz Ihre Zustimmung zu geben.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719545600

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/10308 an den Rechtsausschuss
vorgeschlagen. – Anderweitige Vorschläge gibt es offen-
sichtlich nicht. Dann haben wir die Überweisung so be-
schlossen.

Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 c:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-
lung des Assistenzpflegebedarfs in stationären
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen

– Drucksachen 17/10747, 17/10799 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Assistenzpflege bedarfsgerecht sichern

– Drucksache 17/10784 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge,
Matthias W. Birkwald, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Assis-
tenzpflege auf Einrichtungen der stationären
Vorsorge und Rehabilitation

– Drucksache 17/3746 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)


– Drucksache 17/10207 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Hilde Mattheis

Wie vorgesehen, sind die Reden zu Protokoll ge-
nommen.


Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1719545700

Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung des

Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus im August 2009
haben Menschen mit Behinderungen, die nach dem SGB
XII ihre Pflege durch besondere Pflegekräfte nach dem
sogenannten Arbeitgebermodell sicherstellen, einen An-
spruch auf Mitnahme dieser Pflegekraft ins Kranken-
haus und auf Fortzahlung von Pflegegeld und Hilfe zur
Pflege während des gesamten Krankenhausaufenthaltes.

Damit wurde eine wichtige Verbesserung erreicht.
Zuvor gab es weder einen Anspruch auf Mitnahme der
Pflegekräfte noch auf Weiterzahlung der Leistungen
während des Krankenhausaufenthaltes. Oftmals sind
nur diese Assistenzkräfte in der Lage, entsprechend den
spezifischen Bedürfnissen diese Patientinnen und Pa-
tienten zu pflegen und das ärztliche und pflegerische
Personal über die individuellen Bedarfe zu informieren.
Die Kontinuität in der Begleitung und Assistenz ist für
das Wohlbefinden und den Genesungsprozess wichtig.

Seit nunmehr über drei Jahren ist das Gesetz in Kraft.
Die Probleme der ersten Zeit nach seinem Inkrafttreten
sind dank besserer Aufklärung über die neuen Rechte
aufseiten der Krankenhäuser, der Krankenkassen und
der Menschen mit Behinderungen größtenteils überwun-
den. Auch die Finanzierung funktioniert zwischenzeit-
lich geräuschlos und wird sowohl von den Krankenhäu-
sern als auch von den Trägern der Grundsicherung als
unproblematisch geschildert. Im Jahr 2009 waren es
nach der Sozialhilfestatistik 685 Personen, die diese
Hilfe zur Pflege in Anspruch genommen haben. Für die
Weiterzahlung des Pflegegeldes während des Kranken-
hausaufenthaltes fielen damit rund 70 000 Euro jährlich
an. Das ist ein marginaler Kostenfaktor. Die Leistung ist
aber eine erhebliche Erleichterung im Alltag der Betrof-
fenen.

Aus der praktischen Anwendung des Gesetzes zeigt
sich in einem Punkt Änderungsbedarf. Es ist notwendig
und sinnvoll, die Ausweitung des Anspruchs auf Assis-
tenzpflege im Arbeitgebermodell auf Vorsorge- und Re-
habilitationseinrichtungen vorzunehmen. Hier steht nicht
nur das Patientenwohl im Vordergrund. Es ist auch Fakt,
dass die Pflegepersonen während der Zeit des Kranken-





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


haus- und Rehabilitationsaufenthaltes keine alternativen
Beschäftigungsverhältnisse eingehen können. So entste-
hen Lücken in der Erwerbsbiographie und ein erheblicher
Verwaltungsaufwand für relativ kurze Zeiträume.

Wir haben im letzten Jahr im Ausschuss für Gesund-
heit mit Vertretern der Bundesärztekammer, der Bundes-
arbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozial-
hilfe, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dem Forum
selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen, dem
GKV-Spitzenverband und dem Deutschen Heilbäderver-
band ein Expertengespräch durchgeführt, in dem sich
die Erkenntnis verfestigte, dass es sinnvoll ist, die beste-
henden Assistenzpflegeregelungen auf Reha- und Vor-
sorgeeinrichtungen auszuweiten.

Ich freue mich, dass wir heute in erster Lesung den
Entwurf eines entsprechenden Gesetzes vor uns haben
und den betroffenen Menschen eine Verbesserung in
Aussicht stellen können.

Menschen mit Behinderungen soll die Nutzung einer
Vorsorge– oder Rehabilitationsmaßnahme nicht mehr
unnötig erschwert werden. Aus Beispielen wissen wir,
dass immer wieder auf die stationäre Reha verzichtet
wurde. Das wird sich ändern. Es ist nach Beschlussfas-
sung über das Gesetz eine echte Wahlfreiheit gegeben.
Wir möchten, dass das Pflegegeld aus der Pflegever-
sicherung sowie die Hilfe zur Pflege durch die Sozialhilfe
für die gesamte Dauer des Vorsorge- und Rehabilita-
tionsaufenthaltes weitergezahlt werden, weil wir den
spezifischen Bedarf an Assistenz anerkennen. Diese Re-
gelungen erstrecken sich auch auf den Bereich der Hilfe
zur Pflege der Kriegsopferfürsorge. Wir wollen, dass
das zum 1. Januar 2013 gilt.

Die Mehrkosten durch die im Gesetzentwurf vorgese-
hene Leistungsausweitung sind in der gesetzlichen
Krankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung,
der Sozialhilfe und der Kriegsopferfürsorge eher gering.

Der Vollständigkeit halber möchte ich noch einmal
darauf verweisen, dass darüber hinaus die Mitnahme ei-
ner Pflegeperson nach § 11 Abs. 3 SGB V grundsätzlich
möglich ist, wenn es nach dem Erfordernis des Einzel-
falls medizinisch geboten und erforderlich ist. Das heißt,
dass in begründeten Fällen in der Praxis Menschen mit
Behinderungen außerhalb des Arbeitgebermodells ihre
vertraute Assistenzperson in die Einrichtung mitnehmen
können.

Dieser Gesetzentwurf steht ganz im Duktus der UN-
Behindertenrechtskonvention. Wir setzen unsere Bestre-
bungen fort, eine umfassende Verwirklichung der Rechte
für Menschen mit Behinderungen im praktischen Alltag
zu erreichen. Ich denke, dass diese sehr sinnvolle Maß-
nahme geeignet ist, dass diesem Gesetzentwurf frak-
tionsübergreifend zugestimmt wird.


Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1719545800

2009 haben wir unter der Gesundheitsministerin Ulla

Schmidt mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflege-
bedarfs den ersten Schritt getan, um Menschen mit Be-
hinderungen die Begleitung einer Assistenzperson wäh-
rend eines Krankenhausaufenthalts zu ermöglichen.

Zuvor gab es keinen gesetzlich verankerten Anspruch
auf die Finanzierung einer Assistenzpflegekraft für pfle-
gebedürftige Menschen mit Behinderung während der
Dauer der Krankenhausbehandlung. Dadurch haben
Menschen mit einem hohen Hilfebedarf Krankenhaus-
aufenthalte vermieden oder auf aufwendige Untersuchun-
gen verzichtet. Ein solcher Zustand war natürlich nicht
länger hinnehmbar.

Vor Inkrafttreten unseres Gesetzes war die Finanzie-
rung der Assistenzpflegekräfte nicht geklärt, was in der
alltäglichen Praxis für pflegebedürftige Menschen mit
Behinderungen ein großes Problem darstellte. Dieses
Problem ist mit dem Gesetz von 2009 behoben worden.

Die Assistenz von pflegebedürftigen Menschen mit
Behinderung umfasst die speziell wegen einer Behinde-
rung notwendige und individuelle pflegerische Betreu-
ung, Hilfestellung und Assistenz. Hiervon ist ein eng be-
grenzter Kreis von Personen betroffen, die aufgrund
ihrer Behinderung für die Verrichtungen im Alltag auf
Dauer Hilfe bedürfen und dafür auf diese besonderen
Pflegefachkräfte angewiesen sind.

Die stationäre Krankenhausversorgung umfasst nach
§ 39 Abs. 1 Satz 3 SGB V alle Leistungen, die „für die
medizinische Versorgung der Versicherten im Kranken-
haus notwendig sind“. Hierzu gehört auch die nach ei-
ner medizinischen Behandlung erforderliche Kranken-
pflege.

Die notwendige spezifische pflegerische Versorgung
von Menschen mit Behinderung geht jedoch hinsichtlich
ihrer Art und des Umfangs über die für die stationäre
Behandlung einer Krankheit erforderliche Kranken-
pflege hinaus. Deswegen bestand vor unserem Gesetz im
Jahr 2009 nach § 39 Abs. 1 SGB V keine Leistungs-
pflicht der gesetzlichen Krankenversicherung zur Über-
nahme der Kosten der persönlichen Assistenz.

Mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebe-
darfs der Großen Koalition von 2009 wurde deshalb
§ 11 Abs. 3 SGB V eingeführt. Mit dieser Ergänzung im
SGB V wurde für die stationäre Behandlung von Men-
schen mit Behinderung die Mitaufnahme von Pflegekräf-
ten ermöglicht.

Bereits 2009 haben wir als SPD-Fraktion die Posi-
tion vertreten, dass unser Gesetz nur als eine erste Stufe
zu verstehen ist und dass in der kommenden Wahlpe-
riode eine umfassende Lösung gefunden werden müsse.
Es ist daher folgerichtig, dass der gesetzliche Anspruch,
den wir 2009 für den Bereich der Versorgung im Kran-
kenhaus verankert haben, nun auf Einrichtungen der
stationären Versorge- und Rehabilitation ausgeweitet
wird.

Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf erhal-
ten dadurch die Möglichkeit, Angebote in Einrichtungen
der Vorsorge und Rehabilitation wahrzunehmen. Gerade
für Menschen mit besonderem Assistenzbedarf ist diese
Ausweitung enorm wichtig. Die Versorgung von Men-
schen mit Behinderung darf nicht auf stationäre Kran-
kenhäuser beschränkt bleiben. Nur durch die Möglich-
keit, ihre Assistenzkräfte mitzunehmen, ist es Menschen

Zu Protokoll gegebene Reden





Hilde Mattheis


(A) (C)



(D)(B)


mit Behinderung möglich, Einrichtungen der Rehabili-
tation und Vorsorge zu besuchen.

Das nun vorliegende Gesetz der Bundesregierung ist
somit eine große Erleichterung für pflegebedürftige
Menschen mit Behinderungen. Ihre gesundheitliche Ver-
sorgung wird wesentlich verbessert.

Unverständlich ist allerdings, warum die Bundesre-
gierung hier nicht die Chance ergreift, es allen pflegebe-
dürftigen Menschen mit Behinderung zu ermöglichen,
Assistentinnen und Assistenten bei Aufenthalten im
Krankenhaus oder in Einrichtungen der Vorsorge oder
der Rehabilitation mitzunehmen. Das Gesetz in seiner
derzeitigen Fassung sieht nur für diejenigen Menschen
mit Behinderung eine Finanzierung der Assistenzpflege-
kraft vor, die ihre Assistenzkräfte nach dem sogenannten
Arbeitgebermodell selbst beschäftigen.

Menschen mit Behinderungen, die ihre Assistentinnen
oder Assistenten nicht über das „Arbeitgebermodell“,
sondern über ambulante Dienste oder andere Einrich-
tungen sicherstellen, erhalten mit diesem Gesetz, so wie
es jetzt in der Fassung der ersten Lesung vorliegt, kei-
nen gesetzlichen Anspruch auf eine Assistenzpflegekraft
für die Dauer des Aufenthalts im Krankenhaus oder in
einer Einrichtung der Rehabilitation und Vorsorge.

Diese Einschränkung des Personenkreises ist nicht
nachvollziehbar. Alle Menschen mit Behinderung, die
Unterstützung bei einem Aufenthalt im Krankenhaus
oder in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung
benötigen, sollen diese auch bekommen. Dies ist unab-
hängig davon, auf welche Art und Weise ihre Assistenz-
kräfte beschäftigt sind.

Ohne die Sicherstellung der Betreuung und Pflege
durch Assistenzkräfte kann der Aufenthalt im Kranken-
haus oder in einer Vorsorge- oder Rehabilitationsein-
richtung für Menschen mit Behinderung nicht bewerk-
stelligt werden. Zudem erzeugt diese Beschränkung auf
den Personenkreis eine Ungleichbehandlung von Men-
schen mit Behinderung. Eine solche Ungleichbehand-
lung ist nicht vertretbar.

Wenn medizinische Eingriffe bei Menschen mit Be-
hinderung in einer fremden Umgebung ohne Unterstüt-
zung der vertrauten Assistenzperson durchgeführt wer-
den, kann das auf Menschen mit Behinderung extrem
beängstigend wirken. Die Kommunikation mit den Ärz-
tinnen und Ärzten kann sich schwierig gestalten oder
findet unter Umständen gar nicht erst statt.

Die Folge kann sein, dass es bei Menschen mit diesem
hohen Unterstützungsbedarf zu Fehldiagnosen kommt,
weil Diagnosen aufgrund einer fehlenden oder falschen
Kommunikation fehlerhaft gestellt werden. Es besteht
auch die Gefahr, dass Therapien nicht korrekt verordnet
werden oder die Verordnung von Therapien sogar aus-
bleibt und Versorgungsmängel auftreten.

Wir befinden uns erst in der ersten Lesung des Geset-
zes über die Assistenzpflege. Der Gesetzentwurf wird
noch einmal intensiv in den Ausschüssen beraten. Ich
glaube, dass wir an dieser Stelle nacharbeiten und dafür
sorgen müssen, dass alle Menschen mit Behinderung

den gesetzlichen Anspruch auf eine Assistenzkraft erhal-
ten.

Ich denke, wir sollten diesen Gesetzentwurf noch ver-
bessern und allen Menschen mit Behinderung ermög-
lichen, ins Krankenhaus und auch in Einrichtungen der
Vorsorge und Rehabilitation notwendige Assistenzpflege-
kräfte mitzunehmen.

Wir sollten die Chance hier nicht vertun, wesentliche
Verbesserungen für alle Menschen mit körperlicher oder
geistiger Behinderung umzusetzen.


Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1719545900

Pflegebedürftige Menschen mit Behinderung haben

oftmals einen Hilfebedarf, der über die reine medizini-
sche Versorgung hinausgeht, und bedürfen einer beson-
deren Unterstützung.

Mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebe-
darfs im Krankenhaus aus dem Jahr 2009 wurde ein ers-
ter Schritt getan, um diesem besonderen Bedarf gerecht
zu werden. Dadurch wurde es pflegebedürftigen Men-
schen mit Behinderung, die ihre Assistenzleistungen
nach dem sogenannten Arbeitgebermodell erhalten, er-
möglicht, bei stationärer Behandlung im Krankenhaus
ihre persönliche Assistenzpflegeperson mitzunehmen.
Damit wurde die kontinuierliche Spezialpflege auch bei
einem Krankenhausaufenthalt gesichert.

Mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebe-
darfs in stationären Vorsorge- und Rehabilitationsein-
richtungen, über das wir hier heute abstimmen, gehen
wir heute den zweiten Schritt, indem diese Regelung in
Zukunft auch in Vorsorge- und Rehabilitationseinrich-
tungen gelten wird. Damit werden wir die Versorgungs-
lücke schließen und das bestehende Recht konsequent
erweitern. Dies ist eine große Verbesserung für behin-
derte Menschen mit Pflegebedarf.

Sie können nun in Zukunft – analog zu der Regelung
für einen Krankenhausaufenthalt – ihre persönliche As-
sistenzpflegeperson in die Pflege-Einrichtung mitneh-
men und erhalten auch weiterhin über die gesamte
Dauer das Krankengeld und die Hilfe zur Pflege durch
die Sozialhilfe. Dadurch stellen wir sicher, dass das Ar-
beitsverhältnis zur vertrauten Pflegeperson nicht unter-
brochen werden muss.

Dieses Gesetz ist eine wichtige Verbesserung für pfle-
gebedürftige Menschen mit Behinderung und ich würde
mich freuen, wenn es in diesem Haus eine breite Mehr-
heit finden würde.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719546000

Gestern erhielt Andreas Vega in Berlin den Elke-

Bartz-Preis 2012. In einer Feierstunde im Kleisthaus,
dem Dienstsitz des Beauftragten der Bundesregierung
für die Belange behinderter Menschen, wurde der Mün-
chener Rollstuhlaktivist mit dem vom Forum selbstbe-
stimmter Assistenz behinderter Menschen, ForseA, ver-
liehenen Preis geehrt. Der Bundesverband hat zum
dritten Mal mit dieser Auszeichnung an seine vor vier
Jahren verstorbene Gründungsvorsitzende erinnert.
Auch wenn ich bei der Preisverleihung persönlich dabei

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


war, möchte ich auf diesem Wege dir, lieber Andreas, im
Namen der Bundestagsfraktion Die Linke sehr herzlich
zu dieser Auszeichnung gratulieren.

Was aber hat der Elke-Bartz-Preis mit dem heutigen
Thema zu tun?

Auf der REHACARE in Düsseldorf am 19. Oktober
2006 lud ForseA zu einer Podiumsdiskussion ein. Das
war der offizielle Auftakt zu der Kampagne: „Ich muss
ins Krankenhaus … und nun?“ Zu Beginn stellte Mode-
ratorin Elke Bartz die Kampagne und ihre Hintergründe
sowie die Zielsetzung vor. Dabei betonte sie, dass nicht
nur körperbehinderte, Assistenz nehmende Menschen
bei Krankenhausaufenthalten wegen ihres behinde-
rungsbedingten Hilfebedarfes Probleme haben können.
Auch auf die Bedürfnisse von Menschen mit einge-
schränkter Alltagskompetenz oder sinnesbehinderten
Menschen sind die meisten Krankenhäuser nicht einge-
stellt. Zahllose Beispiele von Unterversorgungen bei
und teils dramatischen Folgen nach Krankenhausauf-
enthalten hätten den Anstoß für die Durchführung der
Kampagne gegeben.

Podiumsgast Ilona Brandt schilderte ein Ereignis,
mit dem sie vor einiger Zeit konfrontiert wurde. Ein
schwerstbehinderte Freundin musste mit einer Atem-
wegserkrankung ins Krankenhaus. Ihre Assistenten
durfte sie nicht mitnehmen. Im Krankenhaus war man
nicht auf ihre Bedürfnisse eingestellt. Sie war zu
schwach, um zu rufen, wenn sie abhusten musste. Die
Klingel konnte sie ebenfalls nicht bedienen. Ilona
Brandt wollte sich am folgenden Tag mit dem Sozialhil-
feträger wegen der Kostenübernahme für die Assisten-
ten im Krankenhaus in Verbindung setzen. Doch da war
es bereits zu spät: Die Freundin verstarb noch in der
Nacht, erstickt am eigenen Schleim.

Helmut Budroni, wissenschaftlicher Mitarbeiter der
Universität Witten-Herdecke bestätigte, dass behinderte
Menschen in Krankenhäusern oft unterversorgt sind.
Die Infrastruktur allein wird in vielen Krankenhäusern
nicht den Bedürfnissen behinderter Menschen gerecht.
Hinzu kommen mangelnde Kenntnisse über viele Behin-
derungsarten. Diese und weitere Informationen zur
Kampagne des Behindertenverbandes können Sie übri-
gens nachlesen auf der Internetseite www.forsea.de.

Es dauerte drei Jahre, bis 2009 das „Gesetz zur Re-
gelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus“ im
Bundestag verabschiedet wurde. Mit dem Gesetz erhiel-
ten Menschen, die ihre Assistenz durch von ihnen be-
schäftigte besondere Kräfte nach den Vorschriften des
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, SGB XII, im soge-
nannten Arbeitgebermodell sicherstellen, die Möglich-
keit, ihre besonderen pflegerischen und persönlichen
Assistenzbedarfe bei stationärer Krankenhausbehand-
lung zu sichern.

Das so mühsam erkämpfte Gesetzchen war aber von
Beginn an mit zwei wesentlichen – allen Fraktionen be-
kannten – Mängeln behaftet. Zum einen gilt die Rege-
lung nur für das „Arbeitgebermodell“. Zum Zweiten gilt
sie nicht während eines Aufenthalts in einer stationären
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung sowie in

Hospizen. Ein diesbezüglicher Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke wurde – nachlesbar in der Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit,
Bundestagsdrucksache 16/13417 – mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD abgelehnt. Die Fraktion der FDP
enthielt sich mit der Begründung, die Beschränkung auf
Personen mit Pflegeassistenz im Arbeitgebermodell
führe zu einer Ungleichbehandlung.

Ein Jahr danach, am 11. November 2010, schlug die
Fraktion Die Linke mit einem Gesetzentwurf – Bundes-
tagsdrucksache 17/3746 – vor, zunächst wenigstens den
Assistenzanspruch für den leistungsberechtigten Perso-
nenkreis auch auf den Bereich der Vorsorge und Rehabi-
litation auszuweiten, also einen der bekannten Mängel
zu beseitigen. Dass dies notwendig und machbar ist,
wurde auch in zahlreichen Petitionen an den Deutschen
Bundestag sowie bei dem Expertengespräch des Aus-
schusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am
23. März 2011 deutlich. Was nützt zum Beispiel eine
Krebs- oder Herzoperation, wenn die danach obligatori-
sche Kur in einer Rehaklinik aufgrund der Behinderung,
welche nichts mit der akuten Krankheitsbehandlung zu
tun hat, wegen der ungeklärten Assistenzfrage oder feh-
lender Barrierefreiheit nicht stattfinden kann?

Heute, zwei Jahre danach, steht dieser Gesetzentwurf
zur Abstimmung. Die CDU/CSU-FDP-Koalition will
diesen Gesetzentwurf ablehnen. Die Begründung ist in
der zur Abstimmung stehenden Beschlussempfehlung
– Bundestagsdrucksache 17/10207 – nachlesbar: „Auch
die Koalitionsfraktionen hätten das in dem vorliegenden
Gesetzentwurf thematisierte Problem seit langem er-
kannt und daher ein eigenes Gesetzvorhaben auf den
Weg gebracht. ... Insofern seien die in dem Gesetzent-
wurf der Fraktion Die Linke enthaltenen Regelungsvor-
schläge bereits gegenstandslos geworden.“

Ja, es gibt inzwischen einen fast wortgleichen Gesetz-
entwurf der Bundesregierung. Ihn beraten wir heute in
erster Lesung, und es ist nicht geplant, diesen Gesetzent-
wurf sofort abzustimmen. Der Gesetzentwurf geht nun
zur Beratung in die Ausschüsse, und wann er dann im
Bundestag abgestimmt wird, ist noch offen. Es kann dau-
ern; schließlich geht es hier nicht um milliardenschwere
Rettungspakete für Banken, sondern nur um einen Be-
trag unter 1 Million Euro für ein paar Behinderte, die
seit Jahren nicht zur für die Gesundheit notwendigen
Kur fahren können, weil das Assistenzproblem nicht ge-
löst ist. Bleibt mir also nur die Hoffnung, dass die Zusa-
gen aus Kreisen der Koalition, dass das Gesetz noch in
diesem Jahr kommt, auch erfüllt werden.

Leider enthält der Gesetzentwurf keinen Vorschlag,
den zweiten, seit 2009 bestehenden, Mangel und die da-
mit verbundene Ungleichbehandlung bei den Assistenz-
regelungen zu beseitigen. Natürlich gibt es Beispiele
– ähnlich wie beim Aufenthalt von Kindern in stationä-
ren Einrichtungen –, dass Assistenzkräfte dabeibleiben
können und auch ihre Unterkunft und Versorgung ge-
währleistet wird. Es ist aber nicht geregelt.

Deswegen fordert die Linke – auch mit Blick auf
Art. 25 und 26 der UN-Behindertenrechtskonvention –
mit einem weiteren Antrag „Assistenzpflege bedarfsge-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


recht sichern“ die Bundesregierung auf, einen Gesetz-
entwurf vorzulegen, mit dem für pflegebedürftige Men-
schen und/oder Menschen mit Behinderungen während
eines stationären Aufenthalts im Krankenhaus und in
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen der Assis-
tenzpflegebedarf auch dann sichergestellt wird, wenn
die für sie in der Regel tätigen Pflegekräfte nicht nach
dem sogenannten Arbeitgebermodell beschäftigt sind.

Vor sechs Jahren begann die Kampagne „Ich muss
ins Krankenhaus ... und nun?“ Was diesbezüglich heute
im Bundestag dazu geschieht, ist schlechte Realsatire.
Wir werden also, auch im Sinne von Elke Bartz, weiter-
kämpfen müssen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Juni 2009 hatte der FDP-Kollege Dr. Erwin Lotter
in seiner Rede zum Assistenzpflegebedarfsgesetz bereits
vorhergesagt, dass sich die folgende Regierung wohl er-
neut mit den noch ungeklärten Fragen des Gesetzes be-
fassen müsste. Seine damalige Kritik lautete, dass die
Große Koalition mit der Gesetzesvorlage weit entfernt
sei von einer umfassenden und vernünftigen Lösung.

Nun sind die FDP und der Abgeordnete Lotter selbst
ein Teil der Regierung, und es scheint, dass er die da-
mals vorgebrachte Kritik gänzlich vergessen hat. Die
uns vorliegende Anspruchserweiterung der Assistenz-
pflege auf Reha- und Vorsorgeeinrichtungen nimmt an
keiner Stelle die damals von der FDP monierten Punkte
auf. Der Regierungsantritt kostete wohl einen Teil des
Gedächtnisses der FDP.

Menschen mit einer Behinderung, die eine Assistenz-
pflegekraft beschäftigen und als Arbeitgeber für diese
fungieren, sollen zukünftig einen Anspruch haben, in
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen darauf zu-
rückgreifen zu können und die Refinanzierung gesichert
zu wissen. Das ist gut so, zumal das bisherige Gesetz nur
für das Versorgungsgeschehen bei einem Krankenhaus-
aufenthalt von auf Assistenz angewiesenen Personen
gilt.

Schwarz-Gelb aber führt einen Geburtsfehler des Assis-
tenzpflegebedarfsgesetz, APBG, fort: Die Erweiterung auf
den Reha- und Vorsorgebereich ignoriert den Kern des
Problems, ist nicht systemkonform und schließt viele auf
Hilfe angewiesene Menschen aus. Das ist unverständlich in
Anbetracht des sich verändernden Versorgungsbedarfs ei-
ner älter werdenden Gesellschaft, in der immer mehr
Menschen auf Hilfe, Unterstützung und Begleitung an-
gewiesen sind.

Die Begrenzung im APBG auf diese kleine Gruppe
von Menschen mit Behinderung im Arbeitgebermodell
diskriminiert die weitaus größere Gruppe von pflegebe-
dürftigen Menschen, die nach dem Elften Buch Sozialge-
setzbuch ebenfalls als behindert gelten. Es werden auch
all diejenigen ausgeschlossen, die ihre Assistenz über ei-
nen Pflegedienst erhalten. Das ist diskriminierend und
ein Systembruch, da das Anstellungsverhältnis der As-
sistenz darüber entscheidet, ob ein gesetzlicher An-
spruch besteht oder nicht.

Die Begründung des Bundesgesundheitsministe-
riums, mit der Gesetzesnovellierung der besonderen Si-
tuation behinderter, pflegebedürftiger Menschen Rech-
nung zu tragen, verkennt die Realitäten. Wie wir aus
Studien und aus Berichten von pflegenden Angehörigen,
aber auch Pflegekräften wissen, führt bei Menschen mit
einer Demenzerkrankung der Krankenhausaufenthalt
häufig zu einer Destabilisierung ihres Allgemeinzu-
stands.

Sie erleben dort eine ungewohnte Umgebung, haben
keine Person, die ihnen Halt gibt, noch als Ansprech-
partner fungiert oder über ihre Biografie, ihre Art der
Kommunikation, ihre Gewohnheiten Bescheid weiß. Es
ist nicht nur ihr schlechter Gesundheitszustand, der den
Klinikaufenthalt zur Zäsur macht, sondern auch der
Krankenhausaufenthalt an sich. So leiden die Erkrank-
ten bei einem Krankenhausaufenthalt häufiger an Delir,
kehren häufig desorientierter als zuvor in ihre gewohnte
Umgebung zurück, sind auch häufiger von freiheitsent-
ziehenden Maßnahmen betroffen als andere oder ver-
sterben schneller. Hier ist Handlungsbedarf angesagt.

Es wäre konsequent gewesen, im bisherigen Assis-
tenzpflegebedarfsgesetz all jene Personen einzubezie-
hen, die als Menschen mit Behinderung gelten mit Assis-
tenz außerhalb des Arbeitgebermodells, und es wäre
darüber hinaus notwendig gewesen, die Menschen mit
einem auf den Einzelfall feststellbaren Bedarf an Assis-
tenz und Begleitung zu berücksichtigen.

Wir müssen deshalb, bezogen auf die medizinische
und pflegerische Notwendigkeit, die Begleitung durch
eine Pflegeperson als grundsätzlich unterstützenswert
sehen und dies auch fördern. Die Neuregelung des Assis-
tenzpflegebedarfsgesetz bleibt in dieser Form weit hinter
den Erwartungen zurück.

Das uns vorliegende Gesetz wird erweitert durch eine
Empfehlung des Bundesrats zur Notwendigkeit der Re-
gulierung der Investitionskosten stationärer Einrichtun-
gen nach § 82 des Elften Buches Sozialgesetzbuch. Über
die Zeit haben sich die Investitionskosten zu einem
„zweiten Heimentgelt“ entwickelt. Über die Jahre sind
immer mehr Beschwerden laut geworden über die In-
transparenz der Zusammensetzung der Investitionskos-
ten, über nicht nachvollziehbare Erhöhungen und Inves-
titionsstau. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sind
demgegenüber aber in einer schwachen Position. Das
Bundessozialgericht hat dieses Dilemma 2011 zum An-
lass genommen, die bisherige Handhabung und Rege-
lung zu kritisieren. Aus verbraucherpolitischer Sicht kri-
tisiert unserer Meinung nach das BSG zu Recht die
mitunter auch trägerabhängige intransparente Vorge-
hensweise bei der Umlage der Investitionskosten.

Wir Grüne sehen den gesetzgeberischen Handlungs-
bedarf und auch die Brisanz des Themas. Es muss auch
weiterhin möglich sein, dass die Verbraucherinnen und
Verbraucher nicht der ständigen jährlichen Schwankung
von Instandhaltungskosten unterworfen sind. Rückstel-
lungen sind in Maßen vernünftig, müssen aber vertret-
bar sein und nachweislich für Investitionen verwendet
werden.

Zu Protokoll gegebene Reden





Elisabeth Scharfenberg


(A) (C)



(D)(B)


Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, hier
weitreichende Überlegungen anzustellen, die es nicht
nur gewährleisten, dass die Träger Planungssicherheit
erlangen, sondern auch die Verbraucherinnen und Ver-
braucher vor unangemessenen Investitionskostenpau-
schalen und Investitionsrücklagen schützt, die dann
doch nicht getätigt werden. Die Zusammensetzung der
Investitionskosten sowie etwaige Erhöhungen und Pla-
nungsabsichten des Trägers müssen transparenter für
den Verbraucher gemacht werden. Unserer Meinung
nach wäre dabei eine Erweiterung der Informations-
pflicht im Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz unum-
gänglich.

A
Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1719546100


Der vorliegende Gesetzentwurf knüpft unmittelbar an
das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im
Krankenhaus vom 30. Juli 2009 an, mit dem für pflege-
bedürftige behinderte Menschen, die ihre Pflege bereits
ambulant durch von ihnen beschäftigte besondere Pfle-
gekräfte nach den Vorschriften des SGB XII im so-
genannten Arbeitgebermodell sicherstellen, die Mög-
lichkeit einer Assistenzpflege auch bei stationärer
Krankenhausbehandlung verankert wurde.

Die Praxis nach Inkrafttreten dieses Gesetzes hat ge-
zeigt, dass auch in stationären Vorsorge- oder Rehabili-
tationseinrichtungen ein Bedarf an Assistenzpflege für
den betroffenen Personenkreis besteht. Dies war auch
das Ergebnis eines Expertengesprächs des Gesundheitsaus-
schusses des Deutschen Bundestages vom 23. März 2011.

Der Gesetzentwurf greift deshalb die grundlegende
Zielrichtung des Gesetzes zur Regelung des Assistenz-
pflegebedarfs im Krankenhaus aus dem Jahr 2009 auf
und erstreckt die Maßnahmen für den betroffenen Per-
sonenkreis nunmehr auf die stationäre Behandlung in
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen.

Der eine oder andere mag sich fragen, warum der
Gesetzentwurf den Kreis der berechtigten Personen al-
lein auf solche Pflegebedürftige beschränkt, die ihre
Pflege durch von ihnen beschäftigte besondere Pflege-
kräfte nach den Vorschriften des SGB XII im Arbeit-
gebermodell sicherstellen. Es gebe doch auch andere
Gruppen pflegebedürftiger Menschen mit und ohne Be-
hinderung, die darauf angewiesen seien, während des
stationären Aufenthalts im Krankenhaus oder in statio-
nären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen die
Pflegebereitschaft ihrer Pflegeperson aufrechtzuerhal-
ten.

Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wird weder
der betroffene leistungsberechtigte Personenkreises er-
weitert noch Anspruchsinhalte leistungsrechtlich neu
ausgerichtet und justiert.

Dazu ist festzustellen, dass sich der Gesetzentwurf
systematisch und inhaltlich „1:1“ an dem Rahmen des
Maßnahmenpakets ausrichtet, der bereits durch das Ge-
setz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Kran-
kenhaus verankert worden ist. Dadurch wurde seinerzeit
eine bestehende Regelungslücke im akutstationären Be-

reich für die besondere pflegerische Versorgung von
Pflegbedürftigen geschlossen, die ihre Pflege bereits
ambulant durch von ihnen beschäftigte besondere Pfle-
gekräfte nach dem Arbeitgebermodell des SGB XII si-
cherstellen.

Die Erstreckung dieses Maßnahmenpakets nunmehr
auf die stationäre Behandlung in Vorsorge- oder Reha-
bilitationseinrichtungen ist jetzt folgerichtig und ge-
rechtfertigt, weil die rechtliche und sachliche Situation
des betroffenen Personenkreises in diesen Einrichtun-
gen mit der in den Krankenhäusern vergleichbar ist.
Auch das Expertengespräch im Gesundheitsausschuss
des Deutschen Bundestages hat diese Einschätzung be-
stätigt.

Anderenfalls hätten die betroffenen Pflegebedürftigen
im Gegensatz zum Krankenhausbereich nach der
Rechtslage weiterhin während der Dauer der stationä-
ren Vorsorge- oder Rehabilitationsbehandlung keinen
Anspruch gegen die jeweiligen Kostenträger auf Mitauf-
nahme ihrer besonderen Pflegekräfte in die stationäre
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung und auf Wei-
terzahlung der bisherigen Leistungen. Eine derartig un-
terschiedliche Rechtslage zwischen dem Krankenhaus-
und dem stationären Vorsorge- und Rehabilitationsbe-
reich ist ohne Zweifel nicht sachgerecht.

Aus dieser Zielrichtung des Gesetzentwurfs ergibt
sich auch, dass eine Ausweitung des leistungsberechtig-
ten Personenkreises über die Reichweite des Gesetzes
zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Kranken-
haus hin zu einer umfassenden Sicherstellung von be-
sonders aufwendigem Pflege- und Betreuungsaufwand
nicht Ziel und Zweck des Gesetzentwurfs sein kann.

Eine derartige Erweiterung würde weit über diesen
Gesetzentwurf hinausgehende komplexe Abgrenzungs-
fragen zwischen den Sozialleistungsbereichen der ge-
setzlichen Krankenversicherung, der Pflegeversiche-
rung und der Sozialhilfe aufwerfen – auch verbunden
mit der Klärung der jeweiligen Finanzierungsverant-
wortung im Hinblick auf die zu erwartenden erheblichen
finanziellen Auswirkungen.

Wer hier A sagt, muss auch B sagen! Insoweit steht
die Bundesregierung hier auch in Übereinstimmung mit
der mehrheitlichen Auffassung der Länder, die dies be-
reits in den Anhörungen zum Referentenentwurf und in
der Abstimmung so auf den Punkt brachten. Eine solche
umfassende leistungsrechtliche Neuausrichtung ist und
kann also nicht Gegenstand dieses Gesetzgebungsver-
fahrens sein.

Der Gesetzentwurf verankert jetzt vielmehr eine
kleine, aber schnell umsetzbare Lösung. Nicht mehr,
aber auch nicht weniger. Im Ergebnis ist es mithin ein
kleiner, aber konsequenter und gebotener Schritt hin zur
Verbesserung der Situation pflegebedürftiger behinder-
ter Menschen, die ihre Pflege durch von ihnen beschäf-
tigte besondere Pflegekräfte nach den Vorschriften des
SGB XII im Arbeitgebermodell sicherstellen.

Die im Übrigen vom Bundesrat in seiner Stellung-
nahme zum Gesetzentwurf beschlossene Regelung zur
Investitionsfinanzierung von Pflegeeinrichtungen ist vor

Zu Protokoll gegebene Reden





Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin


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(D)(B)


dem Hintergrund aktueller Entscheidungen des Bundes-
sozialgerichts zu sehen:

Der Beschluss sieht eine Gesetzesänderung im
SGB XI zur Anerkennung angemessener Pauschalen für
die Instandhaltung und Instandsetzung im Landesrecht
vor.

Das Bundessozialgericht hat am 8. September 2011
vier Entscheidungen zur gesonderten Berechnung der
Investitionskosten von Pflegeeinrichtungen gefällt. Da-
nach ist ab 2013 die bisherige Praxis in den Bundeslän-
dern, Pauschalen für künftige Instandhaltungs- und In-
standsetzungsmaßnahmen zu genehmigen, nicht mehr
zulässig, weil nur tatsächlich entstandene oder sicher
entstehende Aufwendungen auf die Pflegebedürftigen
umgelegt werden dürfen.

Dem verständlichen Wunsch nach einer möglichst un-
bürokratischen Lösung steht das gemeinsame Ziel ge-
genüber, die Pflegebedürftigen bei der Umlage der In-
vestitionskosten vor überhöhten Belastungen zu
schützen. Eine entsprechende Änderung wird deshalb
derzeit von uns geprüft.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719546200

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 17/10747, 17/10799 und 17/10784 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann haben wir das so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf ei-
nes Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Ausweitung der
Assistenzpflege auf Einrichtungen der stationären Vor-
sorge und Rehabilitation. Der Ausschuss für Gesundheit
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/10207, den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/3746 abzulehnen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen abgelehnt. Da-
mit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.

Tagesordnungspunkt 39:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Thomas Feist, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Heiner Kamp,
Dr. Martin Neumann (Lausitz), Sylvia Canel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Stärken von Kindern und Jugendlichen durch
kulturelle Bildung sichtbar machen

– Drucksache 17/10122 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

Wie vorgesehen, sind die Reden zu Protokoll ge-
nommen.


Dr. Thomas Feist (CDU):
Rede ID: ID1719546300

Angesichts der aktuellen Diskussionen um die ver-

meintliche Besteuerung von Musikschulen und der damit
verbundenen Frage der Abgrenzung zwischen Bildung
und Freizeitaktivität bin ich sehr froh, dass wir heute
den vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen zur
kulturellen Bildung in diesem Hohen Hause beraten und
ich somit die Möglichkeit habe, den herausragenden
Stellenwert der kulturellen Bildung zu unterstreichen.

Lassen sie mich gleich ganz am Anfang meiner Über-
zeugung Ausdruck geben: Kulturelle Bildung ist Bil-
dung, manchmal auch mehr, aber nie weniger. Sie ist ein
wesentlicher Teil der ganzheitlichen Bildung von Kin-
dern und Jugendlichen und trägt insbesondere zur Per-
sönlichkeitsentwicklung bei. Damit leistet kulturelle Bil-
dung einen wichtigen gesamtgesellschaftlichen Beitrag,
den wir nicht unterschätzen dürfen und dringend weiter
unterstützen müssen.

Bildung ist ein entscheidender Schlüsselfaktor für
den zukünftigen Wohlstand unserer Gesellschaft. Wenn
ich Bildung sage, meine ich dies in ganzheitlichem
Sinne. Denn Bildung ist nicht nur rationaler Wissenser-
werb, sondern auch Tanz, Theater, Musik und viele an-
dere Formen zählen dazu. Der freie Zugang zu Bildung
auf allen Ebenen und eine breite Vielfalt individueller
Bildungsangebote charakterisiert das Bildungssystem,
das wir Bildungspolitiker uns wünschen und bereits zu
einem Großteil realisiert haben. So begegnen wir den
vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit: demogra-
fischer Wandel, kulturelle Heterogenität, Integration
und Inklusion. Dafür müssen sich unsere Bildungsange-
bote an den aktuellen und zukünftigen Anforderungen
ausrichten und sich stetig weiterentwickeln. Dabei ist
die Vermittlung reinen Wissens, um im stetig anwachsen-
den Wettbewerb um die besten Köpfe und dem immer
schneller zunehmenden Wissenszuwachs zu bestehen,
als auch die Entwicklung von allseitig gebildeten Per-
sönlichkeiten kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-
als-auch.

Für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Fa-
milien oder aus sozialen, finanziellen oder kulturellen
Risikolagen kann sich der Übergang ins Erwerbsleben
besonders schwierig gestalten. Ziel muss es daher im-
mer wieder sein, gerechte Bildungschancen zu eröffnen
und Jugendliche in ihrer Ausbildungsreife – egal ob für
den universitären oder dualen Bildungsweg – zu stär-
ken. Schulisches Lernen muss dabei einhergehen mit der
Stärkung kultureller und sozialer Kompetenzen.

In der aktuellen Bildungsdiskussion stehen sich die
Begriffe Wissensvermittlung und Kompetenzerwerb oft
noch als Gegensätze gegenüber. Diese Sichtweise gilt es
zu überwinden. Wissensvermittlung und Kompetenzer-
werb müssen als Zugänge zu individuell realisierbaren
Lernerfolgen gesehen werden, die sich wechselseitig er-
gänzen. Nur so kann eine Kultur des Lernens etabliert
werden, die den ganzheitlichen Bildungsansatz betont
und eine Nachhaltigkeit des Lernprozesses sichert. Nach





Dr. Thomas Feist


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dem humanistischen Bildungsideal findet der Mensch
nur durch Bildung zu sich selbst. Bildung ist dabei ein
Wert an sich, der weit über das Ziel, vorwiegend an der
praktischen Nützlichkeit orientiertes Wissen zu vermit-
teln, hinausreicht und vielmehr an der Herausbildung
der eigenen Identität und der Ermöglichung von Selbst-
verwirklichung orientiert ist.

Eine bisher weitgehend unbeachtete Einbeziehung
der Erfahrungen der kulturellen Bildung kann hier ein
Schlüssel sein, um Potenziale dieser Bildungsprozesse
zu nutzen. Eine Implementierung der Methoden kulturel-
ler Bildung führt zudem zum Erlernen von Kulturtechni-
ken des Lernens, die für junge Menschen umso wichtiger
sind, als sie die Grundlagen für eine Motivation zu le-
benslangem Lernen ebenso legen wie sie durch die
Sichtbarmachung individueller Stärken für eine Nach-
haltigkeit dieser Motivation von besonderer Bedeutung
sind. Um unserem Bildungsideal gerecht zu werden, ist
es daher entscheidend, der kulturellen Bildung den da-
für erforderlichen Stellenwert einzuräumen.

Als Parlamentarier, die sich dem christlichen Men-
schenbild verpflichtet fühlen, gehen wir von den indivi-
duellen Stärken der Kinder und Jugendlichen aus. Diese
gilt es gezielt aufzugreifen, sichtbar zu machen und zu
fördern, um so Potenziale zu erschließen, die im Bil-
dungsverlauf zuweilen noch nicht genügend erkannt
werden. Wir können damit unser Ziel erreichen, allen
Kindern und Jugendlichen – unabhängig von ihrer so-
zialen Herkunft – den bestmöglichen Bildungsstand zu
ermöglichen und damit gesellschaftliche Teilhabe und
Chancengerechtigkeit zu gewährleisten. Angebote der
kulturellen Bildung sind hierfür besonders geeignet, bei
Kindern und Jugendlichen durch erfahrungsgeleitete re-
flektierte Lernprozesse persönliche Schlüssel- und Me-
thodenkompetenzen auszubilden.

Bereits die Enquete-Kommission „Kultur in Deutsch-
land“ betont in ihrem Schlussbericht:

Durch kulturelle Bildung werden grundlegende Fä-
higkeiten und Fertigkeiten erworben, die für die
Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen,
die emotionale Stabilität, Selbstverwirklichung und
Identitätsfindung von zentraler Bedeutung sind:
Entwicklung der Lesekompetenz, Kompetenz im
Umgang mit Bildsprache, Körpergefühl, Integra-
tions- und Partizipationskompetenz und auch Dis-
ziplin, Flexibilität, Teamfähigkeit. Mit kultureller
Bildung werden Bewertungs- und Beurteilungskri-
terien für das eigene und das Leben anderer sowie
für die Relevanz des erworbenen Wissens gewon-
nen. … Kulturelle Bildung erschöpft sich nicht in
der Wissensvermittlung, sondern sie ist vor allem
auch Selbstbildung in kulturellen Lernprozessen.
Sie fördert soziale Handlungskompetenz und Teil-
habe und qualifiziert den Menschen für neue ge-
sellschaftliche Herausforderungen: Indem kultu-
relle Bildung die Möglichkeit bietet, sich inter-
kulturelle Kompetenzen anzueignen, fördert sie die
Verständigung zwischen Kulturen im In- und Aus-
land, baut Vorbehalte von Kindern und Jugendli-
chen vor dem „Fremden“ ab und verbessert die ge-

genseitige Akzeptanz in hohem Maße. Da die
demografischen Entwicklungen verlässliche Bedin-
gungen für soziale Biografien nicht mehr in glei-
chem Maß wie früher formulierbar erscheinen las-
sen, kommt der Stärkung individueller Kompetenz
für gelingende Lebensentwürfe erhöhte Bedeutung
zu. Kulturelle Bildung liefert einen grundlegenden
Beitrag hierzu.

Ich habe selbst jahrelange praktische Erfahrungen
als Kulturreferent sammeln können und kann die Aussa-
gen der Enquete-Kommission nur bestätigen. Die Be-
schäftigung mit Kultur kann dabei sowohl Ziel des päda-
gogischen Handelns sein, aber ebenso auch als Methode
eingesetzt werden. Kulturelle Bildung befähigt zum
schöpferischen Arbeiten und ebenso auch zur aktiven
Rezeption von Kunst und Kultur. Kulturelle Bildung ist
sowohl Teil der Persönlichkeitsbildung wie auch der
schulischen Aus- und Weiterbildung. Sie verbindet kog-
nitive, emotionale und gestalterische Handlungspro-
zesse.

Ich möchte auch noch einmal die Bedeutung der in-
terkulturellen Kompetenz betonen. Interkulturelle Bil-
dung ist ein wesentlicher Bestandteil kultureller Bil-
dung. Nehmen wir das Ziel ernst, dass Bildung ebenso
zur sozialen Integration beitragen soll, so gilt es, soziale
Integration als das Ergebnis gemeinsamer Lernerfah-
rung und gemeinschaftlichen Kompetenzerwerbs zu ver-
stehen. Nur über die Vermittlung kultureller Kompetenz
kann Heterogenität ebenso angemessen berücksichtigt
wie gleichermaßen individueller Bildungserfolg reali-
siert werden. Beides ist unerlässlich für die Konstruk-
tion der Persönlichkeit und somit Voraussetzung für die
Chance gelingender sozialer Integration.

Durch kulturelle Bildungsangebote wie Kunst und
Musik, Theater und Tanz, aber auch bei Sport und Bewe-
gung erleben Kinder und Jugendliche, gerade aus bil-
dungsfernen Schichten, dass sie mit Teamgeist, Einsatz
und Unterstützung etwas erreichen können. Sie erfahren
– oft zum ersten Mal –, in welchen Bereichen sie indivi-
duelle Potenziale, Talente und Stärken besitzen. Sie ma-
chen die Erfahrung, dass sie etwas beherrschen oder gut
können. Kulturelle Bildung ermöglicht es also, individu-
elle Stärken zu erkennen, schult die Fähigkeit, die Stär-
ken anderer anzuerkennen, und stärkt den Willen, die ei-
genen Schwächen zu überwinden. Dies ist die
Grundlage für Selbstmotivation, Leistungsbereitschaft
und Verantwortungsübernahme junger Menschen und
leistet somit einen besonders wertvollen und nachhalti-
gen Beitrag zur Bildung und zur Persönlichkeitsentwick-
lung. Im Koalitionsvertrag haben sich CDU/CSU und
FDP ja gerade deshalb darauf verständigt:

Wir betonen die zentrale Bedeutung der kulturellen
Kinder- und Jugendbildung für die Persönlichkeits-
entwicklung der jungen Menschen. Es gilt, die
neuen Möglichkeiten im Schnittfeld Jugend, Kultur
und Schule zu nutzen und qualitativ und quantitativ
auszubauen.

Der Bericht „Bildung in Deutschland 2012“ hat sich
als Schwerpunkt mit der kulturellen/musisch-ästheti-
schen Bildung im Lebenslauf auseinandergesetzt und ist

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Thomas Feist


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zu dem Schluss gekommen, dass das Interesse der Bevöl-
kerung an kultureller Bildung in allen Lebensphasen
groß ist und dass Kinder und Jugendliche mit Migra-
tionshintergrund musikalische Aktivitäten zum Teil noch
stärker wahrnehmen als Kinder und Jugendliche ohne
Migrationshintergrund.

Lassen sich mich in diesem Zusammenhang, und weil
der Verband der deutschen Musikschulen gerade den
60. Jahrestag seiner Gründung gefeiert hat, einige
Worte zitieren, mit denen unser Bundestagspräsident
Norbert Lammert anlässlich des parlamentarischen
Abends des VdM treffend die Situation der kulturellen
Bildung skizziert hat und denen ich mich nur ausdrück-
lich anschließen kann:

In Deutschland gibt es eine außergewöhnlich große
Kultur- und besondere Musiklandschaft. Wenn es
aber um die Zukunftsfähigkeit dieser Landschaft
geht, ist die kulturelle Bildung die Achillesferse des
deutschen Kultursystems.

Um einer Verletzung oder gar einem Riss dieser
Achillesferse vorzubeugen, betonen wir Koalitionspoli-
tiker mit dem vorliegenden Antrag ausdrücklich, wel-
chen Stellenwert wir der kulturellen Bildung beimessen,
und möchten uns ausdrücklich bei allen Aktiven bedan-
ken, die sich für die kulturelle Bildung unserer Kinder
einsetzen. Wir setzen ein deutliches Signal, dass wir die
kulturelle Bildung in unserem Land weiter voranbringen
wollen. Dies ist eine große und wichtige Initiative des
Parlaments. Ich kann daher nicht verstehen, dass der
Haushaltsberichterstatter der SPD, Kollege Hagemann,
unserem Ansatz vorwirft, wir würden uns verzetteln. So
kann nur jemand reden, der von der Sache keine, aber
nicht die geringste Ahnung hat. Schade.

Damit die Angebote der kulturellen Bildung Kindern
und Jugendlichen zugutekommen, bedarf es einer geziel-
ten Förderung. Größtmögliche Wirkung lässt sich ledig-
lich erreichen, wenn sich alle relevanten zivilgesell-
schaftlichen Akteure vor Ort zu Bildungsbündnissen
zusammenschließen. Die bisher bestehenden Koopera-
tionen zwischen den Akteuren sind zu wenig systemati-
siert und zu stark vom Engagement einzelner Personen
abhängig und das, obwohl der Bericht „Bildung in
Deutschland 2012“ ausdrücklich die Bedeutung der
Breitenwirkung von bestehenden pädagogischen Pro-
grammen und Kooperationen von Kulturinstitutionen
mit Bildungseinrichtungen betont hat.

Aus diesem Grund haben CDU/CSU und FDP in ih-
rem Koalitionsvertrag ebenfalls die Förderung von Bil-
dungsbündnissen als wichtiges Ziel aufgenommen, um
insbesondere Kinder und Jugendliche zu unterstützen,
die im Elternhaus nicht die bestmöglichen Startchancen
erhalten. Neben der Eröffnung von bisher verschlosse-
nen individuellen Bildungsverläufen erhöhen sich damit
ihre Chancen, einen erfolgreichen Weg in die berufliche
oder akademische Ausbildung und anschließend in das
Erwerbsleben zu finden, um damit ihr Leben eigenver-
antwortlich gestalten zu können.

Dass konkrete Maßnahmen der kulturellen Bildung
nicht nur individuell erlebbare Erfolge liefern, sondern

gleichzeitig auch formal und objektiv nachvollziehbar
sind, sich sogar in schulzeugnisähnlichen Dokumenten
belegen lassen, dafür ist der Kompetenznachweis Kultur
ein sehr gutes Beispiel. Der Kompetenznachweis Kultur
ist ein Instrument, welches von der Bundesregierung
Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. im Auftrag
des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ent-
wickelt wurde, um gerade eben die Erfolge von kulturel-
ler Bildung sichtbar zu machen. Der Kompetenznach-
weis Kultur ist ein freiwilliges Angebot an Jugendliche.
Als ein Bildungspass entsteht er in einem Dialog zwi-
schen den Jugendlichen und extra dafür qualifizierten
Fachkräften. Der Kompetenznachweis Kultur hilft glei-
chermaßen, individuelle Stärken zu erkennen, als er in
seinem dialogisch und transparent angelegten Lernpro-
zess die neidlose Anerkennung sowohl der Stärken ande-
rer als auch den Willen aktiver Überwindung eigener
Schwächen kultiviert. Diese im Lernprozess vermittelten
Schlüsselkompetenzen verbessern die persönlichen Bil-
dungschancen und Bildungserfolge der Jugendlichen,
und sie tragen durch das Aufzeigen der bei allen Heran-
wachsenden vorhandenen Potenziale, Talente und per-
sönlichen Stärken erheblich dazu bei, dass Chancenge-
rechtigkeit im Bereich der Bildung kein abstrakter
Begriff bleiben muss, sondern sich für die Beteiligten mit
Lebenswirklichkeit füllt und somit auch bestmöglich ge-
nutzt werden kann. Dies ist vor allem dadurch erreich-
bar, dass hier, ausgehend von den Stärken der Jugendli-
chen, Chancen als konkrete Möglichkeiten eigenen
Aktivwerdens erkannt werden.

Eine Evaluation von Konzepten kultureller Bildung
hat festgestellt, dass insbesondere der Kompetenznach-
weis Kultur ein geeignetes Instrument zur Profilierung
der Bildung und zur Verbesserung beruflicher Orientie-
rungsprozesse ist. So heißt es unter anderem in der Pu-
blikation „Neue Wege der Anerkennung von Kompeten-
zen in der kulturellen Bildung“ der Bundesvereinigung
Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V.:

Der Kompetenznachweis Kultur kann hilfreich sein
für Jugendliche, für Einrichtungen und für das Ar-
beitsfeld. Die Verfahren der Erstellung lenken die
Aufmerksamkeit der Fachkraft auch auf die eigenen
Schlüsselkompetenzen, so dass alleine diese Sensi-
bilisierung für die Kompetenzentwicklung im
Bereich der Kulturarbeit einen entscheidenden Bei-
trag zur Verbesserung der pädagogischen Profes-
sionalität leistet.

Weiter heißt es:

Bildungspolitische Forderungen nach einem höhe-
ren Stellenwert der non-formalen Bildung bei der
Beurteilung der Kompetenzen von Bewerbern für
fortführende Ausbildung bzw. für Beschäftigungs-
verhältnisse erhalten mit dem Kompetenznachweis
Kultur eine konkrete Ausdrucksform.

Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
macht einen weiteren Vorteil deutlich: die Anerkennung
durch die Wirtschaft:

Unternehmer loben die brauchbaren Zusatzinfor-
mationen für die Personalauswahl bei Bewerbun-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Thomas Feist


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gen auf Ausbildungsplätze oder andere Stellen, die
im Lebenslauf und in Zeugnissen nicht enthalten
sind.

Das Programm „Kultur macht stark. Bündnisse für
Bildung“ ist daher der absolut richtige Weg, das – ne-
benbei gesagt – zur bislang größten Einzelfördermaß-
nahme des Bundes im Rahmen der kulturellen Bildung
geworden ist. Die eingegangenen Bewerbungen zeigen,
wie groß die Resonanz war. Die ausgewählten Projekte
versprechen viel Gutes, vor allem für bildungsbenach-
teiligte Kinder und Jugendliche.

Abschließend: Wenn die Linke nun in einer kleinen
Anfrage zu unserem Antrag allen Ernstes wissen will, ob
durch eine gezielte Unterstützung dieser bildungsbe-
nachteiligten Kinder und Jugendlichen diese nicht stig-
matisiert werden, löst das bei mir nur eines aus: Kopf-
schütteln. Wenn man sich auf dieses Niveau begibt, zeigt
dies nur eines: dass die christlich-liberale Koalition hier
einen Antrag vorgelegt hat, an dessen Sinnhaftigkeit
nicht wirklich jemand – auch nicht die Linke – zweifeln
kann.


Marianne Schieder (SPD):
Rede ID: ID1719546400

„Die Gewährleistung guter Bildung für die jungen

Menschen in unserem Land ist als Fundament für ein ei-
genverantwortliches und selbstbestimmtes Leben eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ So lautet der erste
Satz des Koalitionsantrages „Stärken von Kindern und
Jugendlichen durch kulturelle Bildung sichtbar machen“.
Diese einleitende Aussage unterstütze ich voll und ganz.
Weiter heißt es richtig im Antrag: „Auch der ausge-
prägte Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und
Bildungschancen bleibt eine große Herausforderung.“

Zwar werden in diesem Antrag zwei wichtige Heraus-
forderungen erkannt, doch leider fehlt es gänzlich an
den richtigen Konsequenzen. Stattdessen begnügen sich
die Verfasserinnen und Verfasser mit einer Lobhudelei
für die Bundesregierung und vermeintlichen Forderun-
gen, aus denen sich für das Bildungsministerium leider
keine relevanten Handlungsaufträge ergeben.

Die gesamte Bildungspolitik der schwarz-gelben Ko-
alition, so wie wir sie bisher in diesem Hause kennenler-
nen durften, ist massiv darauf ausgelegt, die Bildung der
jungen Generation immer stärker vom Geldbeutel der
Eltern abhängig zu machen. Zahlreiche Studien belegen
dies immer wieder. Gerade in unionsgeführten Bundes-
ländern wie Bayern oder Niedersachsen entscheiden die
finanziellen Ressourcen der Eltern über die Chancen der
Kinder und eben nicht die Fähigkeiten der Kinder und
jungen Menschen.

Es wäre also höchste Zeit, dass diese sogenannte
christlich-liberale Koalition den richtigen Erkennt-
nissen, die eingangs in diesem Antrag noch formuliert
sind, endlich die richtigen Taten folgen lassen würden.
Ein Wesensmerkmal des christlichen Glaubens ist, dass
den Worten Taten folgen. So heißt es im zweiten Kapitel
des Jakobusbriefs: „Was nützt es, meine Brüder und
Schwestern, wenn jemand behauptet, Glauben zu haben,
ohne dass er Werke hat? (…) Denn wie der Leib ohne

Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot.“ Ich
hoffe, dass diese Worte aus dem Neuen Testament ein
Impuls sein mögen, um den Antrag im Laufe des parla-
mentarischen Verfahrens deutlich nachzubessern.

So ist beispielsweise das im Antrag erwähnte Pro-
gramm „Kultur macht stark“ keineswegs die richtige
Antwort auf die drängenden Herausforderungen. Es ist
leider Gottes nichts anderes als eine „Lotterie“, wie so
manch anderes Programm, das von Frau Ministerin
Schavan ins Leben gerufen wurde. Zwar sind die in der
vergangenen Woche dafür ausgewählten Projekte alle-
samt förderungswürdig und werden sich für die teilneh-
menden Kinder und Jugendlichen sicher positiv auswir-
ken. Allerdings werden die wenigsten überhaupt
teilnehmen können. An der Mehrheit der Schülerinnen
und Schüler bzw. der Zielgruppe in Deutschland wird
diese „Fördertombola“ erneut vorbeigehen. Wir werden
gleiches erleben wie beim Nationalen Stipendienpro-
gramm, beim Bologna-Mobilitätspaket oder auch beim
Bildungs- und Teilhabepaket. Ein wirksames Instrument
gegen oder gar die richtige Antwort auf die Bildungs-
armut ist das sicher nicht.

Dies ist nur ein Beispiel, wo die im Antrag dargestell-
ten Maßnahmen zu kurz greifen. Darüber hinaus stelle
ich die Frage, was sich eigentlich konkret hinter den
vielfältigen Aktivitäten der Bundesregierung, die im
Antrag gelobt werden, verbirgt. Dort ist die Rede von
bemerkenswerten Anstrengungen, die angeblich unter-
nommen worden sind, um kulturelle Bildung als In-
vestition in die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens
sichtbar zu machen. Wie spüren die Kinder und Jugend-
lichen im Land diese angeblichen Anstrengungen? Was
kommt bei ihnen an? Darüber ist im Antrag nichts zu le-
sen, und auch darüber hinaus ist die Bilanz der Bundes-
regierung nicht gerade rühmlich.

Ich kann keinem Antrag zustimmen, in dem mit gro-
ßen Floskeln pauschale Aktivitäten gelobt werden, die
jedoch nicht klar benannt werden bzw. benannt werden
können. Ähnlich verhält es sich mit den Forderungen an
die Bundesregierung. Dahinter verbergen sich nichts
weiter als kosmetische Formulierungen, die für die Kin-
der und Jugendlichen im Land kaum etwas ändern wer-
den. Ich möchte nur einige Phrasen aufgreifen, die das
Ausmaß der Unverbindlichkeit deutlich machen: Die
Bundesregierung soll eine Zwischenevaluierung durch-
führen, um mit den Ergebnissen gegebenenfalls Verbes-
serungen anzustoßen. Sie soll an anderer Stelle die Ad-
ministration so einfach wie möglich ausgestalten, und
sie soll für Initiativen die Möglichkeit zur Vernetzung er-
möglichen. Oder sie soll darauf hinwirken, dass die För-
derung auch über den veranschlagten Zeitraum hinaus
weitergeht.

All das, verehrte Kolleginnen und Kollegen der
schwarz-gelben Koalition, sind doch Selbstverständlich-
keiten, für die es keinen eigenen Antrag braucht. Gutes
Regierungshandeln sollte solche Schritte implizieren.

Doch genug der Kritik. Was wären sinnvolle Schritte,
wenn man tatsächlich die kulturelle Bildung fördern und
den immer noch existenten Zusammenhang zwischen so-
zialer Herkunft und sozialer Bildung auflösen möchte?





Marianne Schieder (Schwandorf)



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Als Erstes: Lassen Sie die wahnwitzige Idee vom Betreu-
ungsgeld endgültig fallen, und lassen Sie uns das Geld
in den Ausbau von Kindertagesstätten investieren! Eine
bessere finanzielle Ausstattung würde auch mehr Spiel-
raum für musische und kulturelle Bildung zulassen. Vor
allem käme eine solche dann viel, viel mehr Kindern zu-
gute.

Darüber hinaus muss kulturelle Bildung eine Aufgabe
der allgemeinbildenden Schulen sein und bleiben. Wir
dürfen sie nicht in die Ecke einzelner Projekte und frei-
williger Initiativen verbannen, wenn wir Deutschland
zur Bildungsrepublik umgestalten wollen. Wenn Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, ernsthaft kulturelle Bildung fördern wollen, brau-
chen wir zunächst eine ganz andere Initiative, nämlich
eine Aufhebung des Kooperationsverbotes.

Der auf Spitzenforschung verkürzte Grundgesetzvor-
schlag der Bundesregierung lässt das Kooperationsver-
bot stattdessen unbeschadet bestehen. Damit verhindern
sie gemeinsame Bund-Länder-Initiativen, um auch die
kulturelle Bildung wieder besser im allgemeinbildenden
Auftrag der Kitas und Schulen zur Entfaltung zu brin-
gen, an der alle Schülerinnen und Schüler partizipieren.

Bringen Sie endlich die Kraft auf, den Vorschlägen
der SPD, zum Beispiel zur Aufhebung des Kooperations-
verbots, zu folgen! Dann werden Sie endlich Ihren viel-
zitierten christlichen Ansprüchen gerecht, dass zu den
Worten Taten gehören. Dann würden Sie nicht nur die
richtigen Forderungen aufstellen, wie zu Beginn des An-
trags, sondern daraus auch die richtigen Konsequenzen
ziehen, nämlich solche, die dann tatsächlich etwas be-
wirken könnten.

Ich hoffe sehr, dass es in den Beratungen zu wesent-
lichen Verbesserungen kommt und damit der Antrag
nicht nur ein Schaufensterantrag bleibt, sondern wirk-
lich etwas bringt für die kulturelle Bildung in unserem
Land.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1719546500

Kultur macht stark. Kultur macht reich. Kultur defi-

niert uns. Kultur schafft Identität. Kultur bzw. kulturelle
Bildung macht sehr vieles. Sie stärkt das Ich, sie trägt
zur Entfaltung der Persönlichkeit bei, sie fördert die
Schaffenskraft, sie verbessert das Urteilsvermögen, sie
befähigt zu strategischem Handeln und Denken, sie hilft,
soziale Kompetenzen zu entwickeln – bei Kindern und
Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen.

Ich würde mir wünschen, dass wir mit kultureller Bil-
dung auch Bildungsarmut bekämpfen könnten. Doch das
ist leider nicht so einfach. Denn dazu brauchen wir ein
gesellschaftliches Umdenken auf breiter Ebene, eine
Veränderung in den Köpfen der Menschen und der Poli-
tikerinnen und Politiker – auf Bundesebene und in den
Ländern. Dahin, dass das Miteinander in einer inklusi-
ven Gesellschaft als selbstverständlich aufgefasst wird.
Es muss als selbstverständlich aufgefasst werden, dass
Kinder und Jugendliche aus bildungsärmeren Familien
und Kinder und Jugendliche aus bildungsreicheren
Familien zusammen eine Schule besuchen – möglichst

viele Jahre lang, wie es in den Ländern üblich ist, die bei
PISA erfolgreich sind.

Die lange gemeinsame Bildung muss möglichst früh
beginnen. Deswegen appelliere ich an die Kolleginnen
und Kollegen von CDU/CSU und FDP, endlich die Re-
gelungen zum Betreuungsgeld dorthin fallen zu lassen,
wo sie hingehören: in den Mülleimer der Geschichte.
Wir brauchen dieses Geld nämlich dringend, um in den
Ausbau von Kindertagesstätten zu investieren.

Ich finde es wichtig und richtig, Projekte der außer-
schulischen kulturellen Bildung zu fördern. Wir brau-
chen aber gezielte Maßnahmen, die nicht bestimmte
Regionen benachteiligen oder bevorteilen. Und wir
müssen – auch das gehört zum Umdenken – Angebote
der kulturellen Bildung oder der Soziokultur wie Biblio-
theken als Teil der Daseinsvorsorge begreifen. Sonst
laufen wir immer wieder Gefahr, dass gerade in Zeiten
mit schwachen Haushaltskassen solche Angebote gestri-
chen werden.

Und wir brauchen eine Bündelung der Maßnahmen
auf Bundesebene und gemeinsame Bund-Länder-Initia-
tiven. Kulturelle Bildung muss an den Schulen verankert
werden. Das Kooperationsverbot muss aufgehoben wer-
den.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU, Ihr
Antrag hat gute Absichten wie die Bekämpfung der
Bildungsarmut. Doch leider können diese durch die ge-
forderten Maßnahmen nicht erreicht werden, auch wenn
einzelne Maßnahmen und Projekte unterstützenswert
sind. Der Antrag verschleiert die wirklichen Probleme
und gaukelt mit sehr hoch gesteckten Zielen vor, zu han-
deln und zu gestalten, wenn letztendlich eine solch
starke Wirksamkeit doch zu bezweifeln ist. Deswegen
lehnen wir den Antrag ab.


Sylvia Canel (FDP):
Rede ID: ID1719546600

Kulturelle Bildung ist ein wesentlicher Bestandteil

der Bildungsarbeit, insbesondere da sie eine große Rolle
innerhalb der individuellen Persönlichkeitsentwicklung
spielt. Sie gibt den Menschen, vor allem den Kindern
und Jugendlichen, Halt und Orientierung. Aus diesem
Grund ist es unverzichtbar, dass Kinder und Jugendliche
frühzeitig in Kontakt mit Kunst und Kultur gebracht
werden.

Im Koalitionsvertrag wird bereits deutlich gemacht,
dass der Bund gemeinsam mit den Ländern den Zugang
zu kulturellen Angeboten unabhängig von finanzieller
Lage und Herkunft vereinfacht und zugleich die Aktivitä-
ten weiter verstärkt. Kulturelle Bildung wird in diesem
Zusammenhang auch als förderndes Mittel der Integra-
tion angesehen.

Die Sicherstellung von guter Bildung für die Kinder
und Jugendlichen in der Bundesrepublik ist die Kernauf-
gabe der gesamten Gesellschaft, da sie als Vorausset-
zung für ein eigenverantwortliches und selbstbestimmtes
Leben fungiert. Um diese Kernaufgabe adäquat umset-
zen zu können, bedarf es starker Bildungspartnerschaf-
ten. Diese sind der Garant für ein erfolgreiches und leis-
tungsstarkes Bildungssystem. Das Ziel ist, Kindern und

Zu Protokoll gegebene Reden





Sylvia Canel


(A) (C)



(D)(B)


Jugendlichen faire Teilhabe- und Bildungschancen zu
bieten.

In Zeiten der Globalisierung steht die Bundesrepublik
vor vielen Herausforderungen. Eine bessere Integration
von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshinter-
grund ist zwingend erforderlich. Doch auch Herausfor-
derungen wie die Etablierung eines inklusiven Bildungs-
systems müssen angenommen und bewältigt werden.

Die größte Herausforderung stellt jedoch die Be-
kämpfung von Bildungsarmut dar. Vor dem Hintergrund
des Fachkräftemangels ist dies ein ernst zu nehmendes
Problem. Um den Wohlstand in der Bundesrepublik
nachhaltig zu steigern sowie ihn zu erhalten, benötigen
wir ein Bildungssystem, das unseren Kindern und Ju-
gendlichen eine gute Bildung ermöglicht.

Der Nationale Bildungsbericht legte bereits dar, dass
ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jah-
ren in einer sozialen, kulturellen oder finanziellen Risi-
kolage aufwächst. Alarmierend ist auch die Tatsache,
dass ein Fünftel aller 15-Jährigen zur sogenannten
PISA-Risikogruppe gehört. Gerade Kinder und Jugend-
liche mit Migrationshintergrund sind davon überpro-
portional betroffen. Aus diesem Grund benötigen vor al-
lem diese Kinder und Jugendlichen eine besondere
Förderung, um ihre Persönlichkeit und sozialen Kompe-
tenzen zu stärken. Dies geschieht vorrangig durch kultu-
relle Bildung. Sie stellt eine Schlüsselfunktion dar.

Die Koalition setzt sich dafür ein, dass Programme
wie zum Beispiel „Kultur macht stark. Bündnisse für
Bildung“ implementiert werden, um den Kindern und
Jugendlichen als Vermittler von Werten etc. zu dienen.
Kulturelle Bildung vermittelt Werte und Maßstäbe.
Ferner setzen wir uns dafür ein, außerschulische Ange-
bote zu fördern. Ziel ist es, die Kompetenzen und Erfah-
rungen der Gesellschaft in den Prozess zu integrieren
und ihr Engagement in Vereinen, ehrenamtlichen Tätig-
keiten etc. zu unterstützen. Insgesamt birgt die Koopera-
tion zwischen Kultur- und Bildungseinrichtungen einen
Nutzen für den Einzelnen als auch für die Gesamtgesell-
schaft.

Durch die Bündnisse der Bildung bekommen die Kin-
der und Jugendlichen einen Bildungsnachweis vermit-
telt. Der Bildungsnachweis macht die Schlüsselkompe-
tenzen in den einzelnen Programmen sichtbar. So
werden erstmalig einheitlich konkrete Kompetenzen be-
nannt, die durch Singen, Tanzen, Theaterspielen etc. er-
langt werden. Das Herausarbeiten von Kompetenzen ist
ein dialogisches Verfahren und steht somit für einen bei-
derseitigen Lernprozess.

Begrüßenswert ist es, dass die Allianz für Bildung als
Dach für lokale Bildungsbündnisse fungiert, um die Ver-
netzung im Bereich der kulturellen Bildung sicherzustel-
len und diese auch zu fördern. Die Vernetzung ist ein
wichtiger Bestandteil des Erfolges und daher essenziell.

Die Bündnisse für Bildung werden von der Er-
reichung dreier wichtiger Ziele begleitet, nämlich: der
Möglichkeit nach neuen Bildungschancen, eine breite
Bürgerbewegung für gute Bildung und eine stärkere Ver-

netzung verschiedener Bildungsakteure vor Ort – lan-
des- und bundesweit.

Studien nach zu urteilen, besteht ein enormer Hand-
lungsbedarf im Bereich der kulturellen Bildung in der
Bundesrepublik. Aus diesem Grund fordern wir unter
anderem eine weitreichende Unterstützung bei entspre-
chenden Projekten, sowie die Unterstützung von
deutschlandweiten Bündnissen für Bildung. Des Weite-
ren ist die kulturelle Vermittlung eine Kernaufgabe in
den geförderten kulturellen Einrichtungen und ist auch
als solche anzuerkennen. Wichtig ist auch, dass die Bil-
dungsbündnisse über den Förderzeitraum hinaus beglei-
tet und fortgeführt werden. Dabei ist zu beachten, dass
die Zusammenarbeit zwischen schulischen und außer-
schulischen Akteuren nachhaltig gestärkt wird und ins-
besondere deren Vernetzung angestrebt wird.

Die Integration von Kultur- und Bildungseinrichtun-
gen in den Alltag ist eine notwendige Voraussetzung für
den sozialen Frieden und Zusammenhalt innerhalb der
Gesellschaft, da die kulturelle Bildung essenziell für die
Entwicklung der Persönlichkeit des Einzelnen ist. Die
Vermittlung von Werten, die in einer demokratisch fun-
dierten Gesellschaft von Bedeutung sind, erfolgt im We-
sentlichen durch Kultur- und Bildungseinrichtungen und
im seltensten Fall innerhalb der Familie. Kulturelle Bil-
dung stärkt die positiven Eigenschaften, die jeden Ein-
zelnen zur Selbstfindung anregen und ferner die sozialen
Fähigkeiten bekräftigen, die für ein gesellschaftliches
Zusammenleben notwendig sind. Aus diesem Grund ist
es zwingend erforderlich, dass die entsprechenden Vo-
raussetzungen für Kooperationen zwischen Kultur- und
Bildungseinrichtungen geschaffen werden. So wird ge-
währleistet, dass Kinder und Jugendliche gefördert wer-
den, die von der Bildungsarmut besonders betroffen
sind. Dies betrifft in erster Linie Kinder und Jugendli-
che, die in einer Risikolage heranwachsen. Mittels der
Kooperationen können sie kulturelle Fertigkeiten erler-
nen und in ihrem weiteren Lebensweg anwenden. Somit
wird das Ziel der Integration vorangetrieben. Jedoch
profitieren nicht nur die Kinder und Jugendlichen von
solchen Kooperationen, sondern vielmehr die gesamte
Gesellschaft.

Nach den Zielen der UNESCO Seoul Agenda zu urtei-
len, wird der Zugang zu künstlerischer und kultureller
Bildung als grundlegender und nachhaltiger Bestandteil
einer hochwertigen Erneuerung von Bildung angesehen.
Ferner muss die Qualität solcher Programme sicherge-
stellt werden. Des Weiteren sollen Prinzipien und Prak-
tiken künstlerischer und kultureller Bildung angewendet
werden, um zur Bewältigung der heutigen sozialen und
kulturellen Herausforderungen beizutragen.

Kulturelle Bildung und die dazugehörigen Einrich-
tungen sind in der heutigen Zeit von großer Bedeutung.
Sie geben Impulse für neue Entwicklungen und tragen
zum sozialen Wohlstand bei.


Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719546700

Hinter dem blumigen Titel des Koalitionsantrages

verbergen sich über weite Strecken beachtliche Einsich-
ten und fast durchgängig richtige Forderungen. Man

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)


könnte Ihnen zu diesem Antrag eigentlich gratulieren.
Er ist gut. Ich frage mich nur, warum Sie ihn stellen
mussten. Vor der Sommerpause zog die Bundesregie-
rung, genauer das Bundesbildungsministerium, ein Pro-
gramm zur Stärkung kultureller Bildung aus der Schub-
lade. Um immerhin 30 bis 50 Millionen Euro soll der
entsprechende Haushaltstitel in den nächsten Jahren
aufgestockt werden. So viel erhielten Träger der kultu-
rellen Kinder- und Jugendbildung noch nie. Sie werden
sich zu Recht freuen.

Zudem soll dieses Programm gegen Bildungsarmut
wirken. Dann hätten wir schon mindestens zwei davon,
denn das Bildungs- und Teilhabepaket soll das auch.
Wirkt es nicht hinreichend? Oder sind sie erschrocken
über die Ahnungslosigkeit des Staatssekretärs, der vor
der Sommerpause im Kulturausschuss das Programm zu
erläutern versuchte und damit selbst in den Reihen der
Koalition Zweifel hervorrief?

Als ich im Sommer auf meiner Tour durch den Wahl-
kreis bei Vereinen vor Ort nachfragte, ob ihnen das Pro-
gramm bekannt sei, sah ich Erstaunen. Zum Beispiel das
Familienhaus in Magdeburg, kein ganz kleiner Träger,
war über den drohenden Geldsegen noch gar nicht im
Bilde.

Wollten Sie Werbung für die Arbeit der Bundesregie-
rung betreiben? Verständlich wäre das ja bei dem Zank,
der sonst aus der Koalition zu hören ist, über das
Betreuungsgeld zum Beispiel. Dann hätten Sie es aber
weiter vorn in der Tagesordnung platzieren müssen und
nicht versteckt, bei den Reden zu Protokoll. Aber viel-
leicht haben Sie mit Bedacht den späten Zeitpunkt
gewählt, denn der Bewerbungszeitraum ist bereits ver-
strichen und die Mittel sind auch bereits verteilt, für die
nächsten fünf Jahre im Voraus. Was aber soll der Antrag
dann noch? Haben Sie Angst, dass es ihnen dort so
ergeht wie bei den Mitteln für Teilhabe aus dem Bil-
dungs- und Teilhabepaket, die vor Ort teilweise andere
Finanzierungen durch die Kommunen einfach ersetzen?
Oder fürchten Sie sich vor einem bürokratischen Mons-
trum, das einen Großteil der Mittel auffrisst? Diese
Sorge teile ich, insbesondere, wenn ich Ihren Antrag
lese.

Wie sollen denn nun aber Initiativen vor Ort an dem
Programm teilnehmen können? Wie sollen Schulen pro-
fitieren? Wie wollen Sie in die Fläche vordringen, wenn
vor Ort, wie in der 9 000 Einwohnerinnen und Einwoh-
ner zählenden Stadt Calbe in meinem Wahlkreis, gerade
in diesem Jahr die einzige kulturelle Einrichtung, die
Stadtbibliothek – ich habe heute schon darüber geredet –
geschlossen wird? Sie brauchen zur Weiterführung der
Bibliothek etwa 50 000 Euro jährlich, und die haben sie
nicht. Kultur ist eben eine freiwillige Aufgabe, und das
heißt für manche Verwaltung und manche Kommunal-
aufsicht: kann auch wegfallen.

Sosehr ich den Verbänden und den kulturellen Akteu-
ren bundesweit den warmen Geldregen gönne: Er
ersetzt nicht eine solide Finanzierung von Kultur und
Bildung in der Fläche. Darum: Packen Sie Ihren Antrag
wieder ein, die Knete ist verteilt; er kommt zu spät um
noch etwas zu ändern.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719546800

Mit dem Thema kulturelle Bildung diskutieren wir

heute ein Thema, auf das Wissenschaftler und Hirnfor-
scher schon länger hinweisen. Denn mit der Entwick-
lung der künstlerischen Fähigkeiten verbessern sich
auch die sogenannten kognitiven Leistungen. Soziale
und emotionale Kompetenzen können gestärkt werden.
Besonders für Kinder und Jugendliche aus bildungsfer-
nen Familien kann es einen positiven Einfluss auf ihr
Selbstbewusstsein und ihre Persönlichkeitsentwicklung
haben, wenn sie in ihrem künstlerischen Ausdruck geför-
dert werden, als Mitglied einer Band oder auf der Bühne
Applaus bekommen und so Bestätigung erfahren. Die
grüne Bundestagsfraktion setzt sich daher mit Nach-
druck für die Aufwertung künstlerisch-kreativer Bil-
dungsinhalte ein.

Die Bundesregierung hat nun das Programm „Kultur
macht stark“ vorgelegt; die ersten Konzepte sind vor
kurzem ausgewählt worden. Die Frage ist jedoch, inwie-
fern Sie mit diesem Programm den Kindern und Akteu-
ren in diesem Bereich wirklich und nachhaltig einen
Dienst erweisen. Die Zielsetzung des Programms ist
richtig und wichtig, denn es zielt darauf ab, das Poten-
zial von Kultur und Künsten zur Integration, Entwick-
lung und Teilhabe benachteiligter Kinder im außerschu-
lischen Bereich zu nutzen. Wir bleiben jedoch skeptisch,
weil es sich bei den bereitgestellten Mitteln um zeitlich
gebundene Projektmittel handelt und somit für die An-
tragsteller zu wenig Planungssicherheit herrscht. Was
passiert, wenn die Mittel auslaufen. Welche Antwort ha-
ben Sie auf die Frage der Anschlussfinanzierung? Auch
stellt sich uns die Frage, ob das zweistufige Antragsmo-
dell über die bundesweiten Verbände möglicherweise
kleine Initiativen und Vereine vor Ort bei der Antragstel-
lung benachteiligen könnte. Angesichts der Flut an be-
reits bestehenden Programmen und Projekten im Bil-
dungsbereich ist es kein Verdienst am Bildungswesen,
noch ein weiteres Neues zu schaffen. Wichtiger wäre es,
diese Art Projekte zu verstetigen und den Verbänden und
Initiativen in diesem Bereich eine längerfristige Per-
spektive zu bieten.

Wir fragen uns auch, weshalb die Bundesregierung
nur Projekte mit mindestens drei Kooperationspartnern
fördert, während doch mancherorts auch zwei Partner
gute Projekte auf die Beine stellen können. Der Förder-
richtlinie ist außerdem zu entnehmen, dass primär Pro-
jekte mit Ehrenamtlichen oder Honorarkräften gefördert
werden sollen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum nicht
auch hauptamtlich Beschäftigte, die gute Projekte dau-
erhaft weiterführen könnten, förderungsfähig sein sol-
len. Insofern sehen wir viele offene Fragen und fallen
nicht in den Jubelchor mit ein, ganz zu schweigen von
ihrem Antrag, der ein reiner Scheinantrag ist und aus-
schließlich der Selbstbeweihräucherung der Bundesre-
gierung dient. Inhaltlich setzen sie rein gar nichts neues
hinzu. Zwar ist Bildung mehr als Schule und das An-
schieben bürgerschaftlicher Netzwerke für kulturelle
Bildung richtig, dieser Tatsache trägt das Programm
Rechnung. Jedoch soll Bildung und besonders kulturelle
Bildung eben auch in der Schule stattfinden. Vor diesem
Hintergrund ist das Mauern der Bundesregierung in Sa-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ekin Deligöz


(A) (C)



(D)(B)


chen Kooperationsverbot im Bildungsbereich umso un-
verständlicher. Eine neue Kooperation zwischen Bund
und Ländern könnte ein neues Ganztagsschul-Pro-
gramm ermöglichen, wie wir Grüne es schon so lange
vorschlagen.

Von einer ganztägigen, qualitativ hochwertigen Be-
treuung würden vor allem bildungsferne Kinder und Ju-
gendliche profitieren. Ganztagsschulen sind auch der
richtige Ort, um kulturelle Bildung als Unterrichtsthema
zu stärken und um außerschulische Akteure wie Musik-
schulen, Theatergruppen, Jugendkulturzentren und Ver-
eine einzubeziehen. Stattdessen blockieren CDU, CSU
und FDP aber im Bundesrat eine echte Reform und set-
zen auf ein weiteres, zeitlich begrenztes Programm, das
die Beteiligten nach Ablauf der Bundesförderung ohne
Perspektive im Regen stehen lässt.

Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung

Noch immer wachsen in Deutschland fast 30 Prozent
aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in we-
nigstens einer sozialen, finanziellen oder kulturellen Ri-
sikolage auf, die ihre Bildungschancen schmälert. Etwa
ein Fünftel aller 15-Jährigen gehört zur sogenannten
PISA-Risikogruppe. Diesen Jugendlichen wird der
Übergang ins Erwerbsleben nur mit erheblichen Schwie-
rigkeiten gelingen.

Die Verwirklichung von mehr Bildungsgerechtigkeit
und die Bekämpfung von Bildungsarmut haben deshalb
oberste Priorität für die Bildungspolitik der Bundesre-
gierung.

Wir sind dabei auf einem guten Weg. Dies hat auch
die kürzlich vorgestellte OECD-Studie Bildung auf einen
Blick gezeigt: Immer mehr Kinder in Deutschland besu-
chen Vorschulen und Kindergärten, das Niveau der Bil-
dungsabschlüsse steigt weiter, immer mehr junge Men-
schen besuchen eine Hochschule: Noch im Jahr 2000
haben lediglich 30 Prozent eines Jahrgangs ein Studium
aufgenommen, im vergangenen Jahr waren es über
50 Prozent.

Um auf diesem Weg weiter erfolgreich voranzuschrei-
ten, setzt sich die Bundesregierung dafür ein, mehr Ver-
antwortung für die Bildung von Kindern zu übernehmen,
die von Bildungsarmut besonders bedroht sind.

Mit dem Förderprogramm „Kultur macht stark.
Bündnisse für Bildung“ haben wir einen wichtigen
Schritt in diese Richtung getan. Ziel des Programms ist
es, durch außerschulische Bildungsmaßnahmen bil-
dungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche von 3 bis
18 Jahren zu fördern. Die Angebote sollen ab Anfang
2013 vor Ort – das heißt auf lokaler Ebene – von zivilge-
sellschaftlich getragenen Bündnissen für Bildung durch-
geführt werden. „Kultur macht stark“ fußt auf der Er-
kenntnis, dass Bildung nicht allein eine Aufgabe des
Staates und der Schule ist, sondern der gesamten Gesell-
schaft.

Wir brauchen eine breite Bewegung für mehr Bil-
dungschancen für alle Kinder und Jugendlichen. Des-
halb muss die außerschulische Bildung neben der früh-

kindlichen und der schulischen einen höheren Stellen-
wert bekommen.

Mit dem Programm „Kultur macht stark“ lädt das
Bundesministerium für Bildung und Forschung zivilge-
sellschaftliche Akteure dazu ein, in lokalen Bündnissen
für Bildung außerschulische Bildungsangebote zu ent-
wickeln, die sich an den konkreten Bedarfen und Mög-
lichkeiten vor Ort orientieren. Denn dort werden die
besten Möglichkeiten gefunden, um Kindern und Ju-
gendlichen mehr Bildungschancen in bildungsarmer
Umgebung zu bieten. Dabei können auch Schulen oder
Kindertagesstätten als Kooperationspartner einbezogen
werden.

Die Resonanz auf dieses neue Programm war außer-
ordentlich positiv: Über 160 Verbände und Initiativen
haben ihre Konzepte bei „Kultur macht stark“ einge-
reicht. Die von Frau Bundesministerin Professor
Dr. Annette Schavan, MdB, berufene Jury hat daraus
insgesamt 35 bundesweite Verbände und Initiativen aus-
gewählt, die in den kommenden fünf Jahren bis zu
230 Millionen Euro erhalten werden, um außerschuli-
sche Maßnahmen vor allem der kulturellen Bildung zu
entwickeln und umzusetzen.

Die konkreten Angebote werden auf lokaler Ebene in
Bündnissen für Bildung durchgeführt, das heißt von we-
nigstens drei lokalen Kooperationspartnern. Dies kön-
nen Büchereien sein, Theater und Chöre, Sportvereine
und Jugendverbände.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
lässt sich dabei von einem weiten Kulturverständnis lei-
ten, das alle künstlerischen Sparten bis hin zur Medien-
bildung, Bewegungs- und Alltagskultur umfasst.

Kulturelle Bildung befähigt zum schöpferischen Ar-
beiten und ebenso auch zur aktiven Rezeption von Kunst
und Kultur. Kulturelle Bildung ist sowohl Teil der Per-
sönlichkeitsbildung wie auch der beruflichen Aus- und
Weiterbildung. Sie verbindet kognitive, emotionale und
gestalterische Handlungsprozesse. Auch interkulturelle
Bildung ist ein wesentlicher Bestandteil kultureller Bil-
dung.

Zu den Verbänden, die durch das BMBF gefördert
werden, gehören der Deutsche Volkshochschulverband,
die Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugend-
bildung und der Verband deutscher Musikschulen; alle
drei werden in den nächsten 5 Jahren mit jeweils bis zu
20 Millionen Euro gefördert.

Weitere Konzepte, die ebenfalls von der Jury empfoh-
len wurden, sind zum Beispiel das zirkuspädagogische
Konzept der bundesweiten Initiative „Zirkus macht
stark“ sowie öffentliche, freie und Amateurtheater oder
auch der Deutsche Museumsbund, die Sportjugend und
die Bibliotheken. Sie alle stehen für lokale Bündnisse für
Bildung, die mit ihren spezifischen thematischen und pä-
dagogischen Zugängen Kinder und Jugendliche in ihrer
Persönlichkeitsentwicklung stärken können.

Mit „Kultur macht stark“ konzentrieren wir uns auf
die kulturelle Bildung, da junge Menschen hier neue
Ausdrucksformen finden können, die ihnen Freude, Er-

Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun


(A) (C)



(D)(B)


folgserlebnisse und Selbstwertgefühl vermitteln. Gerade
für junge Menschen aus bildungsfernen Familien ist
Kultur der Schlüssel zu einer neuen Welt, die ihnen sonst
oft verschlossen bleibt.

Lokale Bildungsangebote können jedoch nur wahrge-
nommen werden, wenn auf der Seite der Nutzer ausrei-
chend Informationen darüber vorliegen. Der nationale
Bildungsbericht 2012 mit dem Schwerpunktkapitel
„Kulturelle Bildung“ weist hier deutlich auf Defizite
hin. Es fehlen Informationen über die inhaltlichen Ange-
bote im nonformalen und informellen Bereich. Die Nut-
zer der Bildungsangebote haben oft Schwierigkeiten,
sich über die Einrichtungen vor Ort ausreichend zu in-
formieren und sich in der Vielfalt zu orientieren. Selbst
die Akteure in den kulturellen Bildungseinrichtungen be-
klagen, dass sie zu wenig über die Arbeit anderer wis-
sen, dass die unterschiedlichen Angebote besser abge-
stimmt werden könnten und dass „das Rad zu oft neu
erfunden“ werde.

Das BMBF fördert deshalb ab Sommer 2012 eine Dia-
logplattform „Kulturelle Bildung“ beim Deutschen Kul-
turrat, der alle großen Verbände unter einen Dach ver-
eint.

Damit soll die breite Öffentlichkeit durch ein Inter-
netportal mit Wegweiserfunktion und eine Veranstal-
tungsreihe mit aktuellen Informationen zu Angeboten
der kulturellen Bildung versorgt werden. Die Dialog-
plattform richtet sich auch an die Akteure der kulturel-
len Bildung mit dem Ziel des Austauschs und der besse-
ren Vernetzung.

Insgesamt erhofft sich das BMBF davon mehr Infor-
mation und Transparenz sowie eine Verbesserung der öf-
fentlichen Wahrnehmung. Ziel aller dieser Aktivitäten ist
es, möglichst vielen Menschen ein Mehr an Bildungs-
chancen und neue Bildungshorizonte durch kulturelle
Bildung zu bieten und somit die Chance zu einem erfüll-
ten, selbstbestimmten Leben.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719546900

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/10122 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es keine
anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf:

Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Neunten Buches Sozialgesetzbuch

– Drucksache 17/10146 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Wie vorgesehen, sind die Reden zu Protokoll ge-
nommen.


Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1719547000

Elf Jahre ist es her, als das Rehabilitations- und

Schwerbehindertenrecht als Neuntes Buch in das Sozial-

gesetzbuch eingefügt worden ist. Am 6. April 2001 hat
der Deutsche Bundestag das „SGB IX – Rehabilitation
und Teilhabe behinderter Menschen“ mit den Stimmen
einer parlamentarischen Mehrheit von SPD und Grünen,
CDU/CSU, FDP beschlossen. Nachdem auch der Bun-
desrat dem Gesetz zugestimmt hatte, ist es am 1. Juli
2001 in Kraft getreten. Mit dem SGB IX hat die Politik ei-
nen wichtigen Meilenstein in der behindertenpolitischen
Gesetzgebung markiert und einen Paradigmenwechsel
eingeläutet: Der Mensch steht mit seiner Behinderung
und seinen individuellen Bedürfnissen im Mittelpunkt. Es
soll nicht mehr allein der Bedarf betrachtet werden, son-
dern auch die Fähigkeiten. Die Orientierung liegt auf
der Chancengerechtigkeit.

Das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes,
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden“ (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG), ist seitdem fest im
Sozialrecht verankert. Wir wollen, dass Menschen mit
Behinderung oder solche, die von Behinderung bedroht
sind, solidarische Leistungen erhalten, damit sie selbst-
bestimmt und gleichberechtigt am Leben in unserer Ge-
sellschaft teilhaben können.

Das SGB IX hat nicht nur eine breite Zustimmung bei
den politischen Kräften erhalten, sondern ist auch bei
den Rehabilitationsträgern und Verbänden im Gesund-
heits- und Sozialwesen auf positive Resonanz gestoßen.
Ihnen wurde sehr viel mehr Spielraum zur eigenverant-
wortlichen Gestaltung gesetzlicher Vorgaben einge-
räumt. Wir erhofften uns damals, dass diese umfassend
genutzt werden.

Jeder Mensch ist ein Individuum und braucht eine in-
dividuell zugeschnittene Lösung. Zur besseren prakti-
schen Handhabung hat der Gesetzgeber unter Beibehal-
tung des gegliederten Systems der sozialen Sicherung
das bis dahin auf alle Sozialgesetzbücher verteilte Recht
der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
in einem Buch des Sozialgesetzbuchs zusammengefasst.
Auf dieser Basis soll durch Koordination, Kooperation
der Rehabilitationsträger und Konvergenz der Leistun-
gen ein gemeinsames Recht und eine einheitliche Praxis
der Rehabilitation und Behindertenpolitik erreicht wer-
den. Die weitgehende Einheitlichkeit des Leistungs-
rechts ist ein hohes Gut für die praktische Anwendung.
Wir wollen, dass der behinderte, pflegebedürftige und
chronisch kranke Mensch losgelöst von der Zuständig-
keit des Rehaträgers und der Ursache für den individu-
ellen Rehabedarf von jedem zuständigen Träger die
nach Art, Umfang sowie Struktur- und Prozessqualität
gleich wirksame und bedarfsgerechte Leistung erhält.

Zentrales Ziel des SGB IX ist die Überwindung der
Schnittstellenprobleme des gegliederten Sozialleistungs-
systems im Bereich des Rehabilitations- und Teilhabe-
rechts. Darüber hinaus fördert und stärkt es die Selbst-
bestimmung und die Rechte der Menschen mit
Behinderung durch die Einführung des Rechts auf ein
Persönliches Budget, das Wunsch- und Wahlrecht sowie
die Verpflichtung zur Berücksichtigung der besonderen
Belange behinderter Frauen, seelisch behinderter Men-
schen oder von Eltern und Kindern. Vieles ist erreicht,





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


aber mit manchem können wir leider noch nicht zufrie-
den sein.

Menschen mit Behinderung können nur dann selbst-
bestimmt ihrer Arbeit nachgehen oder gleichberechtigt
am gesellschaftlichen Leben teilhaben, wenn dafür die
notwendigen Grundvoraussetzungen geschaffen sind.
Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist ihre Mobili-
tät. Daher regelt das SGB IX in Kapitel 13 auch die un-
entgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen
im öffentlichen Personenverkehr. Menschen mit Behin-
derung können den ÖPNV sowie Nahverkehrszüge kos-
tenfrei nutzen. Dazu müssen sie eine Wertmarke für
ihren Schwerbehindertenausweis erwerben. Diese Wert-
marke kostete bislang 60 Euro für 12 Monate. Voraus-
setzung ist, dass in ihrem Schwerbehindertenausweis
das Merkzeichen „aG“ für außergewöhnlich gehbehin-
dert enthalten ist. Zudem haben auch blinde Menschen
Anspruch auf die sogenannte Freifahrt.

Mit dieser Regelung haben viele Menschen mit Be-
hinderung die Möglichkeit, mit wenig finanziellen Mit-
teln ein sehr breites Netz an öffentlichen Transportmit-
teln zu nutzen. Im vergangenen Jahr hat die Deutsche
Bahn zudem ihr Nahverkehrsnetz ohne Kilometerbe-
schränkung für schwerbehinderte Reisende freigegeben.
Dies war ein weiterer lobenswerter Schritt für mehr Mo-
bilität.

Ein gut ausgebautes und funktionierendes öffentli-
ches Nahverkehrssystem mit Bussen, Bahnen und Regio-
nalzügen, das sich hinsichtlich der Barrierefreiheit in
den vergangenen Jahren deutlich verbessert hat und
weiter optimiert werden wird, ist nicht zum Nulltarif zu
haben. Die Kostenaufwendungen sind enorm. Sowohl
der Staat als Ganzes als auch alle Nutzerinnen und Nut-
zern, die tagtäglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur
Arbeit, zum Einkaufen, zu Kulturveranstaltungen, zum
Sport usw. fahren, haben sich an den Kosten zu beteili-
gen. Das ist in unserem solidarischen Grundverständnis
immanent.

Wohlgemerkt: Seit dem Jahr 1984 hat sich der Eigen-
anteil an der Wertmarke zur kostenfreien Nutzung des
ÖPNV für Schwerbehinderte nicht erhöht, und das bei
deutlich verbessertem Service der Nahverkehrsbetriebe
mit mehr Angeboten und längeren Reichweiten der Stre-
ckennetze. Das ist beachtlich.

Nun aber haben die Bundesländer Niedersachsen,
Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und
Sachsen-Anhalt im Bundesrat die Initiative ergriffen und
einen Gesetzentwurf zur Änderung des 13. Kapitels des
SGB IX vorgelegt. Sie sehen es als gerechtfertigt an, zum
jetzigen Zeitpunkt die Kosten zur Beförderung von
schwerbehinderten Menschen stärker an das aktuelle
Preissystem anzupassen. Zudem soll künftig auch die
Möglichkeit bestehen, die Kosten für die Wertmarke dy-
namisch anzuheben, wie es das SGB IX im Übrigen auch
etwa für die Ausgleichsabgabe oder Kinderbetreuungs-
kosten vorsieht. Der Vorschlag der Länder liegt auf dem
Tisch: Die Eigenbeteiligung an der Wertmarke soll von
derzeit 60 auf 72 Euro angehoben werden. Das bedeutet
pro Monat eine Erhöhung von einem Euro. Es stellt sich
die Frage, ob das gerechtfertigt ist.

Aus Sicht der Behindertenverbände ist diese Erhö-
hung ungerecht. Das jedenfalls geht aus den bisherigen
Stellungnahmen hervor. Wir müssen aber wissen und be-
rücksichtigen, dass diejenigen Schwerbehinderten, die
bedürftig sind und etwa Leistungen der Grundsicherung
beziehen, nach wie vor von dem Betrag freigestellt blei-
ben. Für sie übernimmt der Steuerzahler den vollen Aus-
gleich. Das Solidarprinzip bleibt erhalten.

Und festzustellen ist auch, dass von einer realen
Preiserhöhung bereits im Vorfeld Abstand genommen
wurde. Denn würde die Eigenbeteiligung in Anlehnung
an die tatsächliche Verbraucherpreisentwicklung in den
Bereichen Mobilität und Verkehr angepasst werden,
müsste die Jahreswertmarke etwa 100 Euro kosten. In-
sofern ist die im Gesetzentwurf vorgesehene Erhöhung
auf 72 Euro aus unserer Sicht durchaus angemessen und
zumutbar. Außerdem können sich alle auf ein sich stetig
verbesserndes Nahverkehrsnetz verlassen.

An dieser Stelle möchte ich auf die überfraktionelle
Initiative zur Personenbeförderungsgesetz-Novelle hin-
weisen, auf die sich die Fraktionen der Union, FDP,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen geeinigt haben, um
den ÖPNV sowie den Fernbuslinienverkehr bis zum
Jahr 2022 vollständig barrierefrei zu machen. Dies nur
als Hinweis darauf, dass sich in vielen Bereichen sehr
viel tut, um die Teilhabechancen von Menschen mit Be-
hinderung durch ein Mehr an Mobilität zu steigern.

Zurück zu den geplanten Änderungen des SGB IX.
Der uns vorliegende Entwurf sieht vor, die Regelung
über die Erstattung bei einer Rückgabe der Wertmarke
zu optimieren, um den Verwaltungsaufwand zu verrin-
gern. Einen Anspruch auf Erstattung sollen Menschen
mit Behinderung nur noch für die Jahreswertmarken ha-
ben, sofern die Hälfte der Gültigkeit der Wertmarke
noch nicht abgelaufen ist. Für Halbjahreswertmarken,
die vor Ablauf zurückzugeben werden, werden die Kos-
ten nicht mehr zurückerstattet.

Aus wirtschaftlicher Sicht will ich der Vollständigkeit
halber darauf hinweisen, das den Verkehrsunternehmen
durch die unentgeltliche Beförderung schwerbehinder-
ter Menschen zunächst Einnahmeverluste entstehen, die
ihnen nach Maßgabe des § 148 ff. SGB IX erstattet wer-
den. Sowohl der Bund als auch die Länder sind je nach
anspruchsberechtigten Personen und Verkehrsmitteln
zum Ausgleich dieser Einbußen verpflichtet. Die dazu
aktuell bestehenden gesetzlichen Regelungen zu den Fi-
nanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern führen zu
einem hohen Verwaltungsaufwand, der mit den Regelun-
gen im vorliegenden Gesetzesantrag vereinfacht werden
soll. Auch das ist positiv anzumerken.

In Zukunft sollen die Aufwendungen für eine unent-
geltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen, die
nach dem Bundesversorgungsgesetz anspruchsberech-
tigt sind, allein von den Ländern übernommen werden.
Zum Ausgleich sollen die Länder ihre Abführungen aus
dem Wertmarkenverkauf an den Bund entsprechend re-
duzieren. Diese Regelung betrifft ausschließlich die Fi-
nanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Die Inte-
ressen schwerbehinderter Menschen sind davon nicht
berührt. Für sie ändert sich dadurch nichts. Aus diesem

Zu Protokoll gegebene Reden





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


Grund tragen wir in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
diesen Vorschlag mit, zumal er den Verwaltungsaufwand
reduziert.

Mit der vorliegenden Gesetzesinitiative der Länder
wird zudem angestrebt, die Lastenverteilung zwischen
dem Bund und den Ländern zu verändern. Auf der
Grundlage des jetzigen Rechts hat der Bund 2011
32 Prozent der Einnahmen erhalten. Der aktuelle Vor-
schlag der Länder basiert auf 20 Prozent. Fakt ist, das
die Aufwendungen des Bundes in den vergangenen zehn
Jahren für die Anspruchsberechtigten nach dem Bundes-
versorgungsgesetz ständig gesunken sind, und sie wer-
den mit Blick auf die demografische Entwicklung weiter
sinken. Deshalb ist es gerechtfertigt, für die Neufestset-
zung der Lastenregelung die Entwicklung der vergange-
nen zehn Jahre zugrunde zu legen. Danach ergibt sich
ein Abführungssatz an den Bund von 27 Prozent, den wir
in § 152 SGB IX festschreiben werden.

Generell möchte ich noch einmal daran erinnern,
dass in Zukunft die Schwerbehindertenausweise nur
noch im Scheckkartenformat ausgehändigt werden. Das
soll ab 1. Januar 2013 gelten.

Ich hoffe, dass die Umstellung klappt, weil sie benut-
zerfreundlich ist.


Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1719547100

Der hier vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates

enthält mehrere Regelungen, die man sich genauer an-
schauen muss. Lassen Sie mich jedoch zunächst generell
auf die Situation persönlicher Mobilität für Menschen
mit Behinderung eingehen.

Der Bundesrat hat in seinem Antrag festgestellt – und
dem kann man sich nur anschließen –, dass die Mobilität
schwerbehinderter Menschen durch die sogenannten
Freifahrtregelungen intensiv gefördert wird. Trotzdem
erfüllen diese Regelungen – erweitert durch den im ver-
gangenen Jahr erfolgten Wegfall der 50-km-Wohnort-
Grenze – nur teilweise die Voraussetzung der UN-Behin-
dertenrechtskonvention.

Ich zitiere aus Art. 20: „Die Vertragsstaaten erleich-
tern ... die persönliche Mobilität von Menschen mit Be-
hinderungen in der Art und Weise und zum Zeitpunkt
ihrer Wahl und zu erschwinglichen Preisen.“ Wir garan-
tieren den Betroffenen bisher nur erschwingliche Preise.
Der mittlere Teil dieser Festlegung der Konvention, die
Art und Weise und der Zeitpunkt ihrer Wahl, muss noch
deutlich verbessert werden.

Als SPD haben wir in unserem Antrag „Barrierefreie
Mobilität und barrierefreies Wohnen – Voraussetzungen
für Teilhabe und Gleichberechtigung“ – 17/6295 – ge-
eignete Vorschläge zur Abstimmung gestellt. Sie wurden
von dieser Koalition aus CDU/CSU und FDP abgelehnt.

Einige der SPD-Vorschläge möchte ich noch einmal
aufführen. Politik sollte sich dafür einsetzen, die Bar-
rierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr auf die
gesamte Reisekette zu beziehen – es muss der gesamte
Weg – von der Haustür bis zum Ziel – für Mobilitäts-
eingeschränkte zugänglich gemacht werden; Fahrgast-

und Tarifinformationen barrierefrei und in leichter
Sprache zu formulieren und darzustellen; Forschungs-
vorhaben und Modellprojekte zur barrierefreien Gestal-
tung von Fahrplanauskünften oder zur Unterstützung
mobilitätseingeschränkter Menschen bei der Nutzung
öffentlicher Verkehrsmittel zu fördern; den barriere-
freien öffentlichen Personennahverkehr als Teil der Da-
seinsvorsorge in das Regionalisierungsgesetz aufzuneh-
men und gemeinsam mit der Deutschen Bahn AG
ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen,
damit alle Bahnhöfe bis 2020 barrierefrei umgebaut
werden können – die Abschaffung der 1 000er-Regelung
inklusive.

Dieser vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates
will die Eigenbeteiligung von Menschen mit Behinde-
rung an den Kosten der Freifahrten von 5 auf 6 Euro an-
heben. Eine Forderung, die angesichts der beschriebe-
nen Leistungsausweitung und der seit 1984 nicht mehr
angepassten Eigenbeteiligung angemessen erscheint.
Mobilität bleibt so erschwinglich. Auch die Vereinfa-
chungen, die gefordert werden, sind grundsätzlich sinn-
voll.

Problematischer ist für mich eher die sogenannte
Dynamisierung der Eigenbeteiligung, denn mit ihr wird
die künftige Anpassung gesteuert.

Der Gesetzentwurf schlägt vor, das statistische
Durchschnittsentgelt der Versicherten in der gesetz-
lichen Rentenversicherung zum Maßstab der jährlichen
Anpassung der Eigenbeteiligung zu machen. Für das
Jahr 2012 würde dies gegenüber 2011 eine Erhöhung
um 5 Euro bedeuten. Selbst wenn diese Steigerung um
7 Prozent sicher nicht jedes Jahr eintritt, kann man sich
vorstellen, dass Menschen mit Behinderung so sehr
schnell eine nicht gewünschte hohe Eigenbeteiligung zu
leisten haben – und das ohne adäquate Steigerung der
Regelsätze, Entgelte und ohne kurzfristige Steigerung
der Barrierefreiheit im Bahnverkehr. Das birgt die große
Gefahr sozialer Ungerechtigkeit und der finanziellen
Überforderung der Betroffenen.

Schwerbehinderte Menschen bestreiten ihr Einkom-
men überwiegend aus Renten wegen Erwerbsminde-
rung, Grundsicherung im Alter oder, bei Erwerbsminde-
rung, Werkstattlöhnen und niedrigen Einkommen. Die
Erwerbssituation schwerbehinderter Menschen ver-
schlechtert sich mit jeder wirtschaftlichen Krise. An
wirtschaftlichen Aufschwüngen partizipieren die Betrof-
fenen unterdurchschnittlich. „Behinderungen wirken
sich deutlich nachteilig auf die beruflichen Teilhabe-
chancen der Betroffenen aus“, stellt auch der aktuelle
Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts fest. Des-
halb wäre zu beraten, die Anpassung an die jährliche
Entwicklung der Sozialhilferegelsätze vorzunehmen.
Darüber sollten wir im parlamentarischen Verfahren
diskutieren und uns ernsthaft mit der Gerechtigkeits-
frage auseinandersetzen.


Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1719547200

Seit mehr als einem Jahr gilt in allen Nahverkehrs-

zügen der Deutschen Bahn die neue Regelung für die
Beförderung freifahrtberechtigter schwerbehinderter





Gabriele Molitor


(A) (C)



(D)(B)


Menschen. Seit dem 1. September 2011 können sie über
einen Radius von 50 Kilometern hinaus kostenlos die
Nahverkehrszüge der Deutschen Bahn nutzen. Sie benö-
tigen hierfür keine zusätzlichen Tickets, sondern nur ih-
ren rot-grünen Schwerbehindertenausweis und ein Bei-
blatt mit Wertmarke. Ein umständlicher Ticketkauf für
den Nahverkehr gehört somit der Vergangenheit an.
Auch das Mitführen eines Streckenverzeichnisses, in
dem der 50-Kilometer-Radius eingetragen wird, fällt
weg. Schwerbehinderte Menschen können dadurch ohne
großen Vorbereitungsaufwand bei der Ticketbeschaffung
Zug fahren.

Diese verbesserte Regelung der Bahn erweitert das
Angebot für Menschen mit Behinderung enorm und er-
leichtert ihnen die Nutzung des Nahverkehrs. Sie schafft
eine größere Mobilität für mehr als 1,4 Millionen Men-
schen mit Behinderung.

Sie erleichtert den Menschen das Erreichen ihres Ar-
beitsplatzes oder ihrer Ausbildungsstätte. Sie haben bes-
sere Bedingungen für ihre persönliche Mobilität. Ganz
im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention werden
hierdurch Teilhabemöglichkeiten verbessert.

Es gilt nun, diese unternehmerische Entscheidung der
Deutschen Bahn auch gesetzgeberisch nachzuvollzie-
hen. Hierfür sind Änderungen im SGB IX notwendig.
Dabei soll das SGB IX auch an weitere Entwicklungen
im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs ange-
passt werden. Der vorliegende Gesetzentwurf des Bun-
desrates zeigt hier den richtigen Weg. Über die Details
der Änderungen werden wir in den kommenden Wochen
gemeinsam beraten müssen.

Dabei ist der Ansatz richtig, die seit fast 30 Jahren
unveränderte Eigenbeteiligung der freifahrtberechtigten
Personen für den Erwerb der für die Fahrt notwendigen
Wertmarke zu erhöhen. Im Zuge der gestiegenen Nut-
zungsangebote für den Nahverkehr ist diese Anpassung
nachvollziehbar. In § 145 Abs 1 SGB IX wird der zu zah-
lende Beitrag seit 1984 unverändert mit 5 Euro angege-
ben.

Es liegt auf der Hand, dass dieser Betrag weder dem
erweiterten Angebot – gerade im Zuge der zuletzt weg-
gefallen Begrenzung auf 50 Kilometer – noch den gestie-
genen Kosten für die Aufrechterhaltung dieser Angebote
gerecht wird. Es ist daher zu verantworten, den monat-
lich zu entrichtenden Betrag anzuheben. Ebenfalls rich-
tig ist die geplante Dynamisierung des Zuzahlungsbe-
trages, da alle Nutzerinnen und Nutzer des öffentlichen
Nahverkehrs von Anpassungen im Preissystem betroffen
sind.

Zwischen Bundesrat und Bundestag bestehen unter-
schiedliche Auffassungen über die Berechnung dieser
Summe. Im Zuge der parlamentarischen Beratungen
werden wir einen geeigneten Kompromiss finden. Be-
stimmte Personengruppen, insbesondere Einkommens-
schwache und Bezieherinnen und Bezieher von Leistun-
gen der Grundsicherung, sollen die Wertmarke selbst-
verständlich auch weiterhin unentgeltlich erhalten.

Weiterhin ist geplant, die komplizierten Ausgleichsre-
gelungen zwischen Bund und Ländern auf der einen und

den Verkehrsunternehmen auf der anderen Seite zu ver-
einfachen. In den §§ 148 bis 153 SGB IX werden die
Ausgleichsleistungen für die Verkehrsunternehmen ge-
regelt, denen durch die verpflichtende Beförderung von
Menschen mit Behinderung Einnahmeverluste entste-
hen. Nach dieser Regelung sind sowohl Bund als auch
Länder erstattungspflichtig. In der Praxis führt diese
Regelung zu aufwendigen Verwaltungs- und Finanzbe-
ziehungen zwischen Bund und Ländern. Es ist daher
sinnvoll, Änderungen am SGB IX vorzunehmen, um den
bürokratischen Aufwand so gering wie möglich zu hal-
ten. Zusätzliche Belastungen für Menschen mit Behinde-
rung müssen dabei ausgeschlossen sein.

In diesem Zusammenhang wird auch über die Mög-
lichkeiten zur Rückerstattung gezahlter Beiträge bei der
Rückgabe nichtgenutzter Wertmarken zu reden sein. Bis-
lang werden nichteingesetzte Wertmarken erstattet,
wenn sie noch mindestens drei Monate gültig sind. Der
Vorschlag des Bundesrates, den Erstattungszeitraum in
Zukunft auf ein halbes Jahr festzulegen, scheint einen
ausgewogenen Ausgleich zwischen den Interessen aller
Beteiligten darzustellen.

Weiterhin sollen nach dem Gesetzentwurf des Bun-
desrates die Aufwendungen für eine unentgeltliche Be-
förderung schwerbehinderter Menschen künftig von den
Ländern übernommen werden. Im Gegenzug wollen die
Länder ihre Abführungen aus dem Wertmarkenverkauf
an den Bund entsprechend reduzieren. Diese Vorgehens-
weise ist geeignet, um sowohl beim Bund als auch bei
den Ländern den Verwaltungsaufwand zu reduzieren.
Hierzu würde auch die in Rede stehende pauschalisierte
Abführung beitragen. Im Hinblick auf die hierfür vom
Bundesrat angesetzte Pauschale von 20 Prozent besteht
allerdings noch Beratungsbedarf. Eine Pauschale in
dieser Höhe drückt nicht die tatsächliche Lastenvertei-
lung zwischen Bund und Ländern aus.

Insgesamt ist die Gesetzesinitiative des Bundesrates
zu begrüßen. Es ist richtig, die Zahl der Tatbestände, für
die Bund oder Länder kostenerstattungspflichtig sind, zu
verringern. Der Ersatz individueller Regelungen durch
pauschalisierte Prozentsätze wird die Finanzbeziehun-
gen zwischen Bund und Ländern vereinfachen. Der da-
durch sinkende Verwaltungsaufwand wird Kosten ein-
sparen und Bürokratie abbauen.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719547300

Eigentlich sollte dieser Gesetzentwurf still und leise,

ohne Debatte im Bundestag an die zuständigen Aus-
schüsse verwiesen werden. Auf Forderung der Linken
gibt es nun wenigstens zu Protokoll gegebene Redebei-
träge der Fraktionen. So kann die Öffentlichkeit erfah-
ren, worum es bei dieser Änderung des Neunten Sozial-
gesetzbuches, SGB IX, geht.

Brauchen wir eigentlich eine Änderung des SGB IX?
Ich meine, ja. Wir brauchen mit Blick auf die UN-Behin-
dertenrechtskonvention endlich ein Leistungsgesetz,
welches zur Ermöglichung von Selbstbestimmung und
umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
bedarfsgerechte, einkommens- und vermögensunabhän-
gige Teilhabesicherungsleistungen gewährleistet.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


Das ist aber nicht Ziel des vorliegenden Gesetzent-
wurfes. Dazu müsste man eher den Antrag der Linken

(Bundestagsdrucksache 17/7889)

dung über diesen Antrag trifft der Bundestag in der kom-
menden Sitzungswoche, am 18. Oktober.

Worum geht es also in diesem Gesetzentwurf? Als
eine Form des Nachteilsausgleiches und zur Verbesse-
rung der Mobilität gibt es das Recht auf unentgeltliche
Beförderung für viele schwerbehinderte Kinder, Jugend-
liche, Frauen und Männer im öffentlichen Personennah-
verkehr. Die zur Beförderung verpflichteten Verkehrs-
unternehmen erhalten dafür einen Ausgleich von Bund
und Ländern. Ein Ziel des Gesetzes ist, das Verwaltungs-
verfahren zwischen Bund, Ländern und Verkehrsträgern
zu vereinfachen. Dagegen ist nichts einzuwenden.

Weniger bekannt ist, dass die freifahrtberechtigten
Personen eine Eigenbeteiligung in Form des Erwerbs
einer Wertmarke leisten müssen, wobei bestimmte Per-
sonengruppen, insbesondere Bezieherinnen und Bezie-
her von Leistungen der Grundsicherung, die Wertmarke
unentgeltlich erhalten.

Mit der Begründung, „dass sich die Nutzungsmög-
lichkeiten und folglich auch der damit verbundene Wert
erheblich erhöht haben“, soll der Preis der Wertmarke
um 20 Prozent, von 60 auf 72 Euro, erhöht und künftig
dynamisiert, also weiter erhöht werden.

Ja, es stimmt. Die Behindertenbewegung hat es er-
kämpft, dass die Nutzungsmöglichkeiten des öffentlichen
Nahverkehrs sich in den letzten Jahren verbesserten
ohne dass der Preis der Wertmarke stieg. Sie sind aber
aufgrund zahlreicher Barrieren noch längst nicht im
vollen Umfang gewährleistet.

Es stimmt aber auch, dass sich die Lebenssituation
von Menschen mit Behinderungen seit März 2009, also
dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention,
mehr verschlechtert als verbessert hat.

Es sind die vielen kleinen Beiträge, die gerade auch
für die vielen mit niedrigen Einkommen haushaltenden
Menschen mit Behinderungen zu Buche schlagen. Es
sind die Mehrkosten infolge der Gesundheitsreformen,
es sind die überproportional gestiegenen Kosten für
Miete und Mietnebenkosten, die hohen Benzinkosten, es
ist die Absenkung der Grundsicherungsleistungen durch
Einführung der Regelbedarfsstufe 3, um nur einige
Punkte zu nennen.

Für mehr als 580 000 Menschen mit Behinderungen,
die bislang von Rundfunkgebühren befreit waren, wird
der Nachteilsausgleich ab 1. Januar 2013 gestrichen.
Und nun steigt der Preis der Wertmarke für die Nutzung
des öffentlichen Nahverkehrs um 20 Prozent.

55 Millionen Euro sind die aus dem Wertmarkenver-
kauf geplanten Einnahmen für Bund und Länder, rund
11 Millionen Euro mehr, weil die Menschen mit Behinde-
rungen wieder einmal zur Kasse gebeten werden. Das ist
nicht der Weg in eine inklusive Gesellschaft und nicht
der Weg, um auch diesem Teil der Bevölkerung eine

gleichberechtigte Teilhabe am Leben der Gesellschaft zu
ermöglichen.

Deswegen ist sich die Linke an dieser Stelle einig mit
der Behindertenbewegung: Die Gebührenerhöhung leh-
nen wir ab.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719547400

Die Änderung des SGB IX, die hier zur Diskussion

steht, sieht eine Erhöhung der Eigenbeteiligung beim
Erwerb der Wertmarke vor, die schwerbehinderte Men-
schen zur Beförderung im öffentlichen Personenverkehr
berechtigt. Seit fast 30 Jahren konnte diese Wertmarke
für 60 Euro im Jahr erworben werden, zukünftig soll sie
12 Euro mehr kosten.

Natürlich ist es nicht schön, wenn Leistungen teurer
werden. Man kann aber mit Recht sagen, dass sich in
puncto Barrierefreiheit in den letzten 30 Jahren etwas
verbessert hat.

Das bedeutet nicht, dass es nichts mehr zu tun gäbe.
In der Debatte um die Novelle des Personenbeförde-
rungsgesetzes haben wir erlebt, dass die Bundesregie-
rung einen Gesetzentwurf zur Liberalisierung des Fern-
busverkehrs vorgelegt hat, ohne darin einen Gedanken
auf die Sicherung der Barrierefreiheit zu verwenden.
Gemeinsam mit der SPD haben wir Grüne in Bundesrat
und Bundestag einen alternativen Vorschlag einge-
bracht, der klare Fristen zur Sicherung der Barrierefrei-
heit im Nahverkehr und bei den Fernbussen setzt. Im Er-
gebnis gibt es jetzt eine Einigung zwischen vier
Fraktionen, in denen die Barrierefreiheit berücksichtigt
wird.

Ich sage ganz offen, dass ich mir mehr gewünscht
hätte. Die Übergangsfristen, die ausgehandelt wurden,
sind Kompromisse. Hätte interfraktionell Einigkeit be-
standen, wäre es sicher möglich gewesen, schon früher
flächendeckend barrierefreie Fernbusse einzuführen. Es
ist außerdem absehbar, dass weiterhin Diskussionen
über die Grenzen entstehender Kosten geführt werden.
Die Unternehmen werden jedes Einfallstor nutzen, um
Kosten zu sparen. Maßstab der Diskussion muss aber
die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
sein. Wir müssen uns weiterhin für den barrierefreien
Aus- und Umbau einsetzen, nicht nur im Verkehrs-
bereich.

In diesem spezifischen Fall ist die Verringerung eines
Nachteilsausgleichs angesichts der Fortschritte, die es
beim Ausbau der Barrierefreiheit im Verkehrsbereich
zwischenzeitlich gab, gerechtfertigt. Darüber dürfen wir
aber nicht aus den Augen verlieren, dass bei den Nach-
teilsausgleichen für Menschen mit Behinderungen ins-
gesamt einiges im Argen liegt: Wir haben noch immer
kein System, mit dem behinderungsbedingte Nachteile
ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen nach-
vollziehbar ausgeglichen werden. Stattdessen gibt es
eine unübersichtliche Zahl „historisch gewachsener“
Nachteilsausgleiche, die sich teilweise von Bundesland
zu Bundesland unterscheiden und in ihrer Höhe willkür-
lich erscheinen. Das ist weder gerecht noch gerechtfer-

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


tigt. Wenn wir hier das nächste Mal über eine Änderung
des Neunten Buches Sozialgesetzbuch diskutieren, hoffe
ich auf eine Debatte, in der es um eine konstruktive
Weiterentwicklung dieses Buches hin zu einem Teilhabe-
leistungsgesetz geht.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719547500

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/10146 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ander-
weitige Vorschläge gibt es offensichtlich nicht. Dann
haben wir die Überweisung so beschlossen.

Zusatzpunkt 9:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung
der Unternehmensbesteuerung und des steuer-
lichen Reisekostenrechts

– Drucksache 17/10774 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Es wurde vereinbart, die Reden zu Protokoll zu neh-
men.1)

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10774 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Gut gelesen! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Geschafft!)


Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich bedanke mich bei Ihnen, dass Sie mir bis hierher
die Treue gehalten haben.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 28. September 2012,
9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine
freundliche Nacht.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Eine ausgiebige freundliche Nacht!)