1) Anlage 8
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23615
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (Die Linke)
zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
zes zur Änderung personenbeförderungsrecht-
licher Vorschriften (Zusatztagesordnungs-
punkt 8)
Das Gesetz zur Änderung personenbeförderungs-
rechtlicher Vorschriften ist ein großer Erfolg für die
Menschen mit Behinderungen und deren Organisatio-
nen. Trotzdem habe ich dem Gesetz nicht zugestimmt,
sondern mich – wie auch die Fraktion Die Linke in
Gänze – der Stimme enthalten. Warum ich so stimmte,
möchte ich hiermit erklären:
Nach jahrelangen Verhandlungen haben sich nun so-
wohl die schwarz-gelbe Koalition mit der SPD und den
Grünen auf die Liberalisierung des Fernbuslinienver-
kehrs geeinigt. Nunmehr sollen Fernbuslinien überall in
Deutschland möglich sein, angeblich um das Verkehrs-
angebot – vor allem in schlecht angebundenen Regio-
nen – zu verbessern, ohne bestehende Angebote der
Bahn zu gefährden. Ob das gelingt oder nicht eher zu
weiteren Verschlechterungen bei der Bahn führen wird,
ist meines Erachtens fraglich.
Dennoch hat die Änderung des Personenbeförde-
rungsgesetzes aus der Sicht von mobilitätseingeschränk-
ten Menschen auch ihre erfreuliche Seite, denn gegen
den anfänglichen Regierungsentwurf vom August 2011
waren nicht nur Behindertenverbände Sturm gelaufen.
Der Grund: Eine Barrierefreiheit bei Fernbussen war zu-
nächst nicht vorgesehen, obwohl die UN-Behinderten-
rechtskonvention seit März 2009 innerstaatliches Recht
ist. Auch die Fraktion Die Linke forderte dies mehrfach
– siehe Drucksache 17/7478 – ein, aber Verkehrsminister
Ramsauer, CSU, wollte partout nichts ändern.
Auf Drängen vieler Behindertenverbände, Selbst-
hilfegruppen und Parteien wurde nunmehr nachgebes-
sert. Schon angeschaffte nicht barrierefreie Fernbusse
dürfen bis 31. Dezember 2019 fahren. Fernbusse, die ab
dem 1. Januar 2016 neu angeschafft werden, müssen
barrierefrei sein und zwei Plätze für Rollstuhlfahrer an-
bieten. Der öffentliche Nahverkehr muss bis 2022 um-
fassend barrierefrei sein.
Doch es gibt – zu viele – Ausnahmen. Barrierefrei ist
mehr als ein rollstuhlgerechter Zugang. Es geht auch um
die Toiletten an Bord, um Barrierefreiheit für seh- und
hörbehinderte Fahrgäste und Barrierfreiheit an den Hal-
tepunkten. Unakzeptabel ist für mich auch, dass die Neu-
regelung nicht für Reisebusse im grenzüberschreitenden
Verkehr gelten soll. Die UN-Konvention wurde schließ-
lich nicht nur in Deutschland, sondern auch durch das
Europäische Parlament ratifiziert. Deswegen müssen
auch auf europäischer Ebene Regelungen geändert wer-
den. Auch fehlen noch gesetzliche Regelungen zur Bar-
rierefreiheit bei Reisebussen und Taxis. Es bleibt also
noch vieles zu tun, um umfassende Barrierefreiheit im
Nah- und Fernverkehr zu schaffen.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Ausbeuterische Kin-
derarbeit weltweit bekämpfen (Tagesordnungs-
punkt 14)
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Aigner, Ilse CDU/CSU 27.09.2012
Altmaier, Peter CDU/CSU 27.09.2012
Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
27.09.2012
Bär, Dorothee CDU/CSU 27.09.2012
Bluhm, Heidrun DIE LINKE 27.09.2012
Hahn, Florian CDU/CSU 27.09.2012
Kolbe, Daniela SPD 27.09.2012
Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
27.09.2012
Kurth (Quedlinburg),
Undine
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
27.09.2012
Nahles, Andrea SPD 27.09.2012
Remmers, Ingrid DIE LINKE 27.09.2012
Schaaf, Anton SPD 27.09.2012
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
27.09.2012
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 27.09.2012
Simmling, Werner FDP 27.09.2012
Thönnes, Franz SPD 27.09.2012
Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 27.09.2012
Dr. Westerwelle, Guido FDP 27.09.2012
Dr. Zimmer, Matthias CDU/CSU 27.09.2012
Anlagen
23616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
Frank Heinrich (CDU/CSU): In Deutschland ist es
selbstverständlich, dass Kinder zur Schule gehen. In Ent-
wicklungsländern haben sie oft keine Möglichkeit dazu,
weil sie tagein, tagaus hart arbeiten müssen. Nach Schät-
zungen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO,
müssen weltweit täglich 220 Millionen Kinder arbeiten.
In Subsahara-Afrika muss etwa jedes dritte Kind im
Alter von 5 bis 14 Jahren arbeiten. Kinderarbeit kann
vieles sein: die Hilfe bei der Ernte in der Landwirtschaft,
Arbeiten im Haushalt, Reinigungsarbeiten, Betreuung
kleiner Kinder, Arbeit in der Produktion von Textilien,
Schuhen, Teppichen usw.
Im Sinne der Konvention 182 der ILO gehören zu den
„schlimmsten Formen der Kinderarbeit“: Versklavung,
Schuldknechtschaft, Kinderhandel, Prostitution, Porno-
grafie, Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten und an-
dere Formen des Einsatzes von Kindern zu unerlaubten
Tätigkeiten. Nach der ILO müssen weltweit 100 Millio-
nen Kinder unter gefährlichen und ausbeuterischen
Bedingungen arbeiten. UNICEF geht davon aus, dass
derzeit mehr als 250 000 Kinder und Jugendliche als
Soldatinnen und Soldaten missbraucht werden. Sie müs-
sen sich an Kampfhandlungen beteiligen, werden als
Spione eingesetzt, müssen Boten- und Kochdienste ver-
richten, und viele werden sexuell missbraucht.
Kinderarbeit ist einer der Hauptgründe dafür, dass
Kinder nicht zur Schule gehen. Fast die Hälfte der arbei-
tenden Jungen und Mädchen haben keine Möglichkeit,
eine Schule zu besuchen. Das ist ein Kreislauf der
Diskriminierung; denn ohne schulische und berufliche
Ausbildung bekommen sie später auch keine bessere Ar-
beit. Sie bleiben arm und können oft auch ihren Kindern
kein besseres Leben ermöglichen.
So ist Kinderarbeit ein riesiges Problem. Laut Art. 32
der Konvention über die Rechte der Kinder vom 20. No-
vember 1989, die Deutschland und alle VN-Staatenmit-
glieder außer den USA und Somalia ratifiziert haben,
sollten Kinder vor wirtschaftlicher Ausbeutung
geschützt werden. Trotzdem bleibt Kinderarbeit eine
Alltagsrealität. Ausbeuterische Kinderarbeit müssen wir
bekämpfen.
Das passiert auch, und zwar nicht nur, indem wir Ar-
mut bekämpfen – denn Armut ist zwar die Hauptursache
der Kinderarbeit, aber eben nicht die einzige –, sondern
auch, indem wir alle anderen Ursachen der Kinderarbeit
bekämpfen. Aus diesem Grund lehnen wir diesen Antrag
ab.
Lassen Sie mich zuerst die Ursachen der Kinderarbeit
vorstellen, die wir berücksichtigen müssen. Ausbeuteri-
sche Kinderarbeit ist in den meisten Fällen eine Folge
der Armut. Ein Fünftel der Weltbevölkerung, circa
1,2 Milliarden Menschen – jeder zweite davon ein Kind –,
leben in absoluter Armut. Die Eltern verdienen oft so
wenig, dass sie ihre Familien nicht ernähren können und
die Kinder mitarbeiten müssen. Viele Kinder verdienen
sogar das Geld für die ganze Familie.
Armut ist aber nicht der einzige Grund für ausbeuteri-
sche Kinderarbeit. Schlechte Schulsysteme spielen eben-
falls eine Rolle. Das Bildungssystem wird von vielen
Regierungen vernachlässigt, das heißt, es gibt zu wenige
Schulen und oft schlecht ausgebildete Lehrer. Nach An-
gaben der Vereinten Nationen sind derzeit 72 Millionen
Kinder weltweit nicht eingeschult, 32 Millionen davon
im südlichen Afrika. Diese Kinder haben keine Möglich-
keit, Lesen und Schreiben zu lernen, und somit nur
geringe Chancen auf einen „besseren“ Job.
Schlechte Gesundheitsversorgung ist eine weitere
Ursache für Kinderarbeit. In den meisten Ländern gibt es
keine kostenlose Gesundheitsversorgung für arme Fami-
lien und auch kein Versicherungssystem. Die armen
Familien müssen den Arzt oder das Krankenhaus mit
Bargeld bezahlen. Wenn sie nicht genug Geld haben,
müssen sie einen Kredit aufnehmen. Diesen können die
Eltern meist ohne Mitarbeit ihrer Kinder nicht zurück-
zahlen. Um ihre Schulden zu tilgen, vermitteln die Eltern
ihre Kinder oft an Firmen.
Dazu ist Korruption oft Teil des Problems, denn die
Behörden und die Polizei in armen Ländern sind häufig
bestechlich, das heißt, sie zeigen Kinderarbeit nicht an,
obwohl sie verboten ist.
Nicht zuletzt sind Kinder die billigsten Arbeitskräfte
der Welt. Wir alle fördern diese Arbeitsbedingungen und
damit die Kinderarbeit in den ärmeren Ländern, wenn
wir T-Shirts, Fußbälle, Kaffee, Schokolade, Orangensaft
und andere Produkte, die von Kindern hergestellt wer-
den, möglichst billig kaufen wollen und nicht bereit sind,
„faire” Preise dafür zu bezahlen.
Die Bekämpfung der ausbeuterischen Arbeit muss al-
len diesen Ursachen begegnen. Das genau macht die
Regierung. Dazu sagt das deutsche Institut für Men-
schenrechte: „Viele Maßnahmen der deutschen staatli-
chen Entwicklungsarbeit haben zur Verbesserung der
Entwicklungschancen junger Menschen beigetragen. …
Vorhaben zur Bekämpfung der Kinderarbeit waren be-
sonders erfolgreich, wenn sie das Familieneinkommen
steigern und das Bildungsangebot verbessern konnten.
Ähnliche Erfahrungen dokumentiert auch das Programm
der Internationalen Arbeitsorganisation zur Bekämpfung
der Kinderarbeit.“
Erstens unterstützt die Bundesregierung nachdrück-
lich das politische Ziel, Kinderarbeit weltweit zu ächten
und die in Kinderarbeit hergestellten Produkte nicht zu
vertreiben oder zu nutzen. Beim Schutz vor Kinderarbeit
handelt es sich um ein unabdingbares Menschenrecht,
dem sich die Bundesrepublik Deutschland unter ande-
rem durch die Ratifizierung der Übereinkommen der
ILO Nummer 138 und Nummer 182 verpflichtet hat.
Diese Übereinkommen sind in der Bundesrepublik
Deutschland vollständig umgesetzt worden, und die
Bundesregierung setzt sich ferner fortlaufend für deren
Verankerung im Rahmen der internationalen Zusammen-
arbeit ein. Die aktuellen Verhandlungen der EU mit
Drittstaaten über den Abschluss von Freihandels- und
Assoziierungsabkommen bieten beispielsweise die Mög-
lichkeit, die Ächtung von Kinderarbeit zu verankern.
Handelspolitische Anreize, die auf die Einfuhr von Pro-
dukten aus Entwicklungsländern zielen, bestehen im
Allgemeinen Präferenzsystem, APS, der Europäischen
Union aus Sonderregelungen für nachhaltige Entwick-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23617
(A) (C)
(D)(B)
lung und verantwortungsvolle Staatsführung (sogenann-
tes APS plus). Diese Regeln eröffnen Herstellern aus
Drittstaaten besonders attraktive Zollvergünstigungen,
wenn die 27 internationalen Übereinkommen, unter
anderem die ILO-Konventionen Nummer 138 und Num-
mer 182, in dem entsprechenden Herkunftsland ratifi-
ziert und effektiv umgesetzt wurden. Auf internationaler
Ebene hat die Bundesrepublik Deutschland zudem
maßgeblich dazu beigetragen, dass das ILO-Programm
„International Programme on the Elimination of Child
Labour“, IPEC, in den 90er-Jahren ins Leben gerufen
wurde, das bis heute läuft. Deutschland ist mit rund
55 Millionen Euro einer der wichtigsten Geber und leis-
tet, nach den USA und Japan, den drittgrößten Beitrag.
Zweitens ist in der Entwicklungspolitik der breite An-
satz der Regierung für die Bekämpfung der Kinderarbeit
die Armutsbekämpfung. Das Bundesministerium hat
letztes Jahr eine Strategie zur Armutsreduzierung festge-
legt. Im Konzept „Menschenrechte in der deutschen Ent-
wicklungspolitik“ wird Armut ebenfalls thematisiert:
„Erfolgreiche Armutsreduzierung erfordert die Verwirk-
lichung von bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechten. Denn Armut
ist das Ergebnis der Verweigerung von Menschenrech-
ten: de facto ein Ausschluss vom Zugang zu elementaren
Ressourcen und sozialen Diensten wie Wasserver- und
Abwasserentsorgung, Gesundheitsdiensten, Energie-
dienstleistungen, Grundbildung, Justiz und politischer
Teilhabe. Armut führt zu weiteren Beeinträchtigungen
der Menschenrechte: Menschen in Armut werden
zwangsweise aus informellen Siedlungen oder von ih-
rem Land vertrieben, Frauen und Mädchen unter ihnen
sind physischer Unsicherheit und Gewalt ausgesetzt, in
vielen Fabriken oder auf Plantagen arbeiten Menschen,
meist junge Menschen, ohne jegliche soziale Sicherung
zu menschenunwürdigen Bedingungen.“ Die Armuts-
bekämpfung ist die erste der acht Millenniumsentwick-
lungsziele, für die Deutschland sich besonders stark ein-
setzt. Das Ziel ist, den Bevölkerungsteil der Menschen,
die mit weniger als 1 Euro pro Tag leben, bis 2015 im
Vergleich zu 1990 zu halbieren.
Drittens fördert die Bundesregierung neben der
Armutsbekämpfung die Grund- und Berufsbildung. Laut
ILO: „Wir werden die Kinderarbeit ohne universelle Bil-
dung nicht beseitigen können, und wir werden umge-
kehrt nicht sicherstellen können, dass jedes Kind in die
Schule geht, wenn wir die Kinderarbeit nicht beseitigen,
vor allem ihre schlimmsten Formen.“ Die Bekämpfung
der Kinderarbeit durch entsprechende Bildungsförde-
rung der betroffenen Kinder ist in der Bildungsstrategie
der Bundesregierung bisher implizit in Ziel 3 – „Qualität
und Zugang zu Grundbildung verbessern“ – enthalten.
Das Konzept „Menschenrechte in der deutschen Ent-
wicklungspolitik“ setzt den Rahmen für die menschen-
rechtliche Ausrichtung deutscher Entwicklungspolitik,
der durch Positionspapiere zu spezifischen Themen kon-
kretisiert wird, etwa das Positionspapier zu Kinderrech-
ten, in dem auf gute, inklusive Bildungsangebote als
wichtigem Hebel zur Bekämpfung der Kinderarbeit
hingewiesen werden wird. Im Strategiepapier zu Jugend-
lichen vom Jahr 2011 wird berücksichtigt, dass Kinder-
arbeit in einem engen Zusammenhang mit Jugendar-
beitslosigkeit steht: Nationale Institutionen werden darin
bestärkt, Alternativen zur Kinderarbeit anzubieten, zum
Beispiel durch die Förderung von Jugendbeschäftigung
und Bildung. Die Förderung der Jugendbeschäftigung ist
in der Tat ein Hebel, denn eine hohe Jugendarbeitslosig-
keit korreliert oft mit hohen Raten von Kinderarbeit.
Viertens ist die partnerschaftliche Zusammenarbeit
mit der Wirtschaft ein weiterer Schwerpunktbereich bei
der Bekämpfung von Kinderarbeit. Das Bundesministe-
rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung hat im Jahr 2001 aktiv die Einberufung des Runden
Tisches „Verhaltenskodizes“ unterstützt und moderiert
diesen. Hier treffen sich Vertreterinnen und Vertreter aus
Unternehmen, Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften,
Nichtregierungsorganisationen und Bundesregierung,
um zu verbesserten Sozialstandards in Entwicklungslän-
dern beizutragen. Dazu fördert der Runde Tisch die Ein-
führung freiwilliger Verhaltenskodizes in deutschen Un-
ternehmen mit Produktionsstätten oder Zulieferern in
Entwicklungsländern. Derartige Dialogforen gibt es
auch auf internationaler Ebene. So unterstützt Deutsch-
land die vom ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi An-
nan ins Leben gerufene Initiative des Global Compact,
in der sich weltweit mehr als 5 300 Unternehmen in
130 Ländern zu der Einhaltung grundlegender Sozial-
standards bekennen. In konkreten Projekten im Rahmen
des Public-Private-Partnership-Programms, PPP, unter-
stützt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit Unter-
nehmen bei der Erarbeitung und Umsetzung von Verhal-
tenskodizes etwa im Kaffee-, Kakao- und Textilsektor,
die neben zahlreichen anderen Aspekten immer auch die
Vermeidung ausbeuterischer Kinderarbeit bezwecken.
Darüber hinaus hat das BMZ sich auch dafür eingesetzt,
dass zwei Richtlinien der Europäischen Union in deut-
sches Recht umgesetzt werden, die vorsehen, dass bei
der Vergabe von Aufträgen öffentlicher Institutionen so-
ziale Kriterien berücksichtigt werden können. So können
der Bund, aber auch die Bundesländer und die Gemein-
den explizit soziale und ökologische Kriterien, zum Bei-
spiel das Verbot ausbeuterischer Kinderarbeit, für die
Ausführung öffentlicher Aufträge vorgeben.
Fünftens setzt die Bundesregierung sich für die Be-
wusstseinsbildung für die Problematik Kinderarbeit in
den betroffenen Regionen und bei den Verbrauchern in
Deutschland ein. Die Bundesregierung unterstützt frei-
willige Nachhaltigkeitsstandardsysteme, die von unab-
hängiger Seite überprüft werden und die in der Zuliefer-
kette wirken, wie zum Beispiel den Fairen Handel,
Rainforest Alliance oder den Common Code for the
Coffee Community. Die Standards, deren Einhaltung
diese Systeme sicherstellen, basieren auf dem ILO-
Übereinkommen zum Verbot und zur Beseitigung der
schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Die Bundesregie-
rung fördert insbesondere die Verbreitung von Informa-
tionen zu den Zertifizierungssystemen. Zu nennen sind
in diesem Zusammenhang das Forum Fairer Handel und
die Unterstützung der jährlichen Fairen Woche sowie die
Förderung von themenspezifischen Internetplattformen:
„Aktiv gegen Kinderarbeit“, „Kompass Nachhaltigkeit“.
Zur Identifizierung der durch ausbeuterische Kinderar-
23618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
beit hergestellten Produkte verfolgt die Bundesregierung
die Entwicklungen, Studien und Berichte im Bereich
Kinderarbeit sowohl auf nationaler als auch auf interna-
tionaler Ebene. Relevante Arbeit und entsprechende
Studien leisten unter anderem Oxfam, Südwind, BAUM
e. V. oder die verschiedenen Standardinitiativen im
Natursteinsektor, mit denen die Bundesregierung in
verschiedenen Kontexten eng zusammenarbeitet. Durch
die enge Zusammenarbeit mit der ILO ist die Bundes-
regierung auch über die wichtigsten Aktivitäten und Be-
richte auf internationaler Ebene informiert.
Zuletzt möchte ich einige Projekte der Bundesregie-
rung, die konkret die Bekämpfung der Kinderarbeit be-
treffen, aufzeigen.
In West- und Zentralafrika – Kamerun, Elfenbein-
küste, Liberia, Nigeria, Ghana, Kongo – unterstützte die
Bundesregierung drei regionale Vorhaben zur Verbesse-
rung der Nachhaltigkeit der Kakaoproduktion, wozu
ausdrücklich die Überwindung der schlimmsten Formen
der Kinderarbeit gehört, mit einem Gesamtvolumen von
circa 10,6 Millionen Euro. Ein wesentliches Element
war der aktive Dialog mit den Regierungen, der Zivilge-
sellschaft und der Privatwirtschaft der Partnerländer.
Best-Practice-Beispiele für den Kakaosektor wurden
entwickelt, die von der Elfenbeinküste landesweit umge-
setzt werden können. Schulbesuche und berufliche Aus-
bildung wurden gefördert, Präventions- und Infrastruk-
turmaßnahmen entwickelt und Reintegration von Opfern
durchgeführt. Mit einem länderübergreifenden Vorhaben
zur Verbesserung des Zugangs von Kleinbauern zu nach-
haltiger Zertifizierung im Kakaosektor unterstützte das
BMZ von 2010 bis 2012 die Kooperation zwischen Ini-
tiativen für Umwelt- und Sozialstandards im Kakaosek-
tor – Fairtrade, Rainforest Alliance und UTZ Certified –,
Privatunternehmen und Entwicklungsorganisationen.
Die Voraussetzungen für den Zugang zu den Märkten für
nachhaltig erzeugte Schokolade wurden für die westafri-
kanischen Kakaoproduzenten dadurch verbessert. Die
Richtlinien der Initiativen sind Mindeststandards für den
umweltgerechten Anbau von Kakao, den verantwor-
tungsbewussten Umgang mit Agrochemikalien, den
Schutz der Biodiversität sowie die Sicherung sozialver-
träglicher Bedingungen, wie faire Entlohnung und Über-
windung von Kinderarbeit.
Ein anderes Beispiel für das Engagement der Bundes-
regierung betrifft das Projekt gegen Kinderarbeit und
Kinderhandel in Burkina Faso, das die deutsche Bundes-
regierung mit einem Beitrag von 5,6 Millionen Euro bis
2015 unterstützt. Es wird eng mit nationalen Program-
men und Initiativen anderer Geber zusammengearbeitet,
um die Kinderrechte in Burkina Faso durch Aufklärung
und Bewusstseinsbildung zu stärken. In der Tat wird in
Burkina Faso die Armut von Kinderhändlern in besonde-
rem Maße ausgenutzt. Mit der Aussicht auf ein besseres
Leben überzeugen sie Eltern davon, ihre Kinder wegzu-
geben: Mehr als 160 000 Kinder wurden so zu Opfern
von Kinderhandel und schlimmsten Formen der Kinder-
arbeit. Rund 5 Prozent aller Kinder im Alter von 6 bis
15 Jahren leben als Arbeitsemigranten getrennt von ih-
ren Eltern – ein schwerer Verstoß gegen die Rechte der
Kinder. Das deutsche Programm unterstützt die Opfer
der Menschenrechtsverletzungen. Gleichzeitig wendet
es sich aber auch mit Aufklärungskampagnen an die Ver-
antwortlichen, die die Verletzungen der Kinderrechte
bisher geduldet haben: an dörfliche Gemeinschaften und
an staatliche und zivilgesellschaftliche Institutionen. In
den Dörfern, die in das Projekt integriert sind, stieg die
Anzahl der Mädchen, die eine Schule besuchen, um rund
50 Prozent. Obwohl die Kampagne sich in erster Linie
an Mädchen richtet, nahm auch der Schulbesuch der
Jungen in beachtlichem Maße zu. Die strafrechtliche
Verfolgung der Kinderhändler verlief ebenfalls erfolg-
reich. Die Zahl der Opfer von Kinderhandel, die wieder
in ihre Heimatdörfer zurückgebracht und in ihre Fami-
lien integriert werden konnten, hat kontinuierlich zuge-
nommen und belief sich bis Ende 2009 auf 1 530 Kinder.
Knapp 4 000 Opfer von Kinderhandel und Kinderarbeit
profitierten von einem sozioökonomischen Unterstüt-
zungsangebot, beispielsweise einem Familiendialog zur
reproduktiven Gesundheit oder Theaterstücken zur Auf-
klärung über Kinderarbeit. Die Arbeit des Projektes wird
von der Bevölkerung inzwischen anerkannt und ge-
schätzt. Die Medien in Burkina Faso berichten regelmä-
ßig über die Aktivitäten; auch das trägt dazu bei, dass
sich das Bewusstsein in der Gesellschaft nach und nach
ändert.
Anhand dieses Beispiels bezüglich ausbeuterischer
Kinderarbeit und Kinderhandel in Burkina Faso möchte
ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Menschen-
und Kinderhandel uns auch hier in Deutschland betref-
fen. Deutschland ist Herkunfts-, Durchgangs- und Ziel-
land für den Handel von Männern, Frauen und Kindern,
insbesondere zum Zwecke von Zwangsprostitution und
Zwangsarbeit. 2010 kamen 9 Prozent der von Men-
schenhandel zur sexuellen Ausbeutung betroffenen und
identifizierten Personen aus Europa, davon 28 Prozent
aus Deutschland; fast ein Viertel von ihnen waren Kin-
der. Laut Daten der IOM dieses Jahres steigen die Fälle
des Kinderhandels und des Labor Trafficking. Ungefähr
ein Drittel der Fälle betreffen Kinder unter 18 und zwei
Drittel insgesamt Frauen oder Mädchen. Nach Daten der
UNODC finden 79 Prozent der Menschenhandelsfälle
im Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung statt, und
92 Prozent davon sind Frauen oder Mädchen. In Berlin
habe ich einen Runden Tisch mit christlichen Hilfswer-
ken, die sich mit dem Thema beschäftigen und die Lage
ändern wollen, ins Leben gerufen. Menschen- und Kin-
derarbeit verstoßen gegen die Menschenrechte, und das
passiert bei uns hier in Deutschland. Dagegen müssen
wir etwas tun.
Zuletzt möchte ich auf den ersten Mädchenwelttag
verweisen, der am 11. Oktober stattfinden wird. Mäd-
chen werden noch weit häufiger als Jungen wirtschaft-
lich ausgebeutet, denn in Entwicklungsländern sind sie
meistens diejenigen, die als Letztes zur Schule geschickt
werden. Und wenn sie zur Schule gehen, brechen sie oft
vorzeitig ab, weil sie zu Hause helfen müssen, früh ver-
heiratet werden oder der Schulweg zu gefährlich ist. Ein
anderes Beispiel der Benachteiligung von Mädchen ist
Wasser: In Afrika sind Frauen und Mädchen für die
Wasserversorgung zuständig. Im Durchschnitt werden
30 Minuten benötigt, um Wasser zu holen. Aber meis-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23619
(A) (C)
(D)(B)
tens werden mehrere Strecken pro Tag nötig. So bleibt
für Mädchen keine Zeit übrig, um die Schule zu besu-
chen. Doch ist Grundbildung für Mädchen und Frauen
besonders wichtig. Ihre Bildung rettet Leben: Kinder,
deren Mütter lesen und schreiben können, sterben we-
sentlich seltener vor ihrem fünften Geburtstag als Kin-
der, deren Mütter Analphabetinnen sind. Denn Mütter
mit Grundschulbildung wissen mehr über Gesundheit
und haben mehr Möglichkeiten, sich Rat und Unterstüt-
zung zu holen. Mit dem Internationalen Mädchentag der
Vereinten Nationen wollen wir, dass Mädchen sichtbarer
werden, und das Millenniumsentwicklungsziel zur
Gleichberechtigung unterstützen. Die Förderung der
Mädchenrechte und die Stärkung der Mädchen wirken
sich zugunsten von uns allen aus.
Zurück zum Antrag: Die Beseitigung der Kinder-
arbeit ist eine Sache, für die es sich tatsächlich zu kämp-
fen lohnt. Sicherzustellen, dass kein Kind arbeiten muss
und eine gute Schulbildung erhält, ist von entscheiden-
der Bedeutung. Die Bekämpfung der Kinderarbeit be-
deutet, dass der Zyklus aus vorenthaltener Bildung, unsi-
cherer Beschäftigung für Jugendliche und allzu sicherer
Armut der Haushalte durchbrochen wird. Dafür enga-
giert sich die Bundesregierung. Hier gilt es politisch
weiter zu denken, weiter zu arbeiten und, wenn nötig, zu
justieren. Zudem ist es aber mindestens genauso wichtig,
dass die Verbraucherinnen und Verbraucher sich gesell-
schaftlich engagieren und durch ihr Kaufverhalten Si-
gnale aussenden.
Christoph Strässer (SPD): Laut UNICEF müssen
über 600 000 Kinder und Jugendliche in Ecuador mitar-
beiten, um ihre Familien zu unterstützen: Fast 40 Pro-
zent der Menschen in dem lateinamerikanischen Land
leben in Armut. Sie haben umgerechnet weniger als zwei
US-Dollar am Tag zum Leben. Besonders sichtbar sind
Armut und Ausbeutung auf den Müllkippen der Städte:
Ganze Familien leben hier vom Durchsuchen des stin-
kenden Abfalls nach Verwertbarem. Die Kinder gehen
oft nicht zur Schule, viele sind krank. Aber auch Kinder,
die sich auf der Straße durchschlagen oder auf Baustel-
len und Bananenplantagen arbeiten, sind extrem gefähr-
det.
Im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh arbei-
ten rund 200 000 Kinder in der Baumwollindustrie. Be-
sonders die Mädchen sind beliebte Arbeitskräfte, weil
sie geschickt und fügsam sind. Elf, zwölf Stunden täg-
lich verbringen sie auf dem Feld – eine anstrengende
und wegen des starken Einsatzes von Pflanzenschutzmit-
teln auch gefährliche Tätigkeit. Zur Schule gehen die
wenigsten.
In Nepal haben fast 600 000 Kinder noch nie eine
Schule besucht. Ein Viertel aller Mädchen im Grund-
schulalter hat keine Chance, am Unterricht teilzuneh-
men. Die meisten müssen Geld verdienen oder im Haus-
halt helfen. Zudem fehlt es in abgelegenen Bergdörfern
an Lehrern. Die schlechte Qualität des Unterrichts lässt
die Kinder frühzeitig die Schule abbrechen.
Das sind drei Beispiele von unzähligen, die uns er-
schüttern müssen. Nach neuen Schätzungen von UNICEF
arbeitet fast jedes sechste Kind zwischen 5 und 14 Jahren;
weltweit sind das etwa 150 Millionen. Für einen Hunger-
lohn sind sie in der Landwirtschaft, als Straßenverkäufer
oder Dienstboten beschäftigt, und das unter Bedingun-
gen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung schwer scha-
den. Diese Kinder müssen nicht nur ihrer Familie bei der
Hausarbeit oder auf dem Feld helfen, viele von ihnen
schuften stundenlang in Betrieben und Fabriken. Rund
8,4 Millionen Mädchen und Jungen weltweit haben ein
besonders schlimmes Schicksal: Sie werden als Kinder-
soldaten, Schuldknechte oder Zwangsarbeiter ausgebeu-
tet. Mindestens eine Million Kinder werden allein jedes
Jahr in Asien als Prostituierte missbraucht. Die meisten
arbeitenden Kinder leben in Afrika südlich der Sahara,
69 Millionen Mädchen und Jungen im Alter zwischen
fünf und 14 Jahren. In Süd- und Ostasien gibt es 66 Mil-
lionen Kinderarbeiter, in Südamerika 12 Millionen. Kin-
derarbeit ist oft kaum sichtbar. Zigtausende Kinder tau-
chen in keiner Statistik auf. Sie schuften in Haushalten,
als Müllsammler und Schuhputzer und sind nirgendwo
registriert. Andere werden als Drogenkuriere miss-
braucht. Viele arbeitende Kinder erhalten keine Bezah-
lung. Vor allem Hausmädchen bekommen oft nicht mehr
als Essen und eine Unterkunft.
Die meisten Kinder arbeiten, weil ihre Eltern zu arm
sind, die Familie allein zu ernähren. Viele von ihnen ver-
dienen sogar das Geld für die ganze Familie. Für die Ar-
beitgeber ist dies meist ein gutes Geschäft: Kinder lassen
sich viel leichter ausbeuten und geben weniger Wider-
worte. Sie bekommen weniger Geld und finden aus die-
sem Grund häufiger Arbeit als die Erwachsenen. Kinder-
arbeit einfach zu verbieten, ist deshalb keine Lösung.
Würden die Kinder ihre Arbeit verlieren, hätten ihre Fa-
milien gar kein Geld mehr. Kinder, die nicht arbeiten
dürften, müssten betteln oder stehlen. Deshalb schlagen
Sie von der Linken vor, über Importverbote auch auf
europäischer Ebene nachzudenken. Gleich vorweg sollte
man aber wissen, dass nach den bisherigen Erfahrungen
Importverbote allein nicht dazu beigetragen haben, Kin-
derarbeit zu verringern. Ein Boykott kann eben, wie
UNICEF richtigerweise immer wieder betont, auch dazu
führen, dass die betroffenen Familien noch ärmer wer-
den, die Kinder entweder in der Landwirtschaft oder in
Produktionsbereichen, die keine Waren für den Export
herstellen, weiter arbeiten müssen. Deshalb sollten Im-
portverbote immer durch Sozialprogramme begleitet
werden. Das Problem darf nicht nur verlagert werden.
Es gibt bereits zahlreiche internationale Vereinbarun-
gen zur Eindämmung von Kinderarbeit. Das ist gut. Dazu
zählen insbesondere die Konventionen der Internationa-
len Arbeitsorganisation, ILO, und deren Konvention 138
zum Verbot der Erwerbstätigkeit unter einem bestimmten
Mindestalter und die Konvention 182, die die schlimms-
ten Formen der Kinderarbeit unterbinden soll. Daneben
hat Deutschland unter anderem die OECD-Leitsätze für
multinationale Unternehmen unterzeichnet. Sie stellen
für multinationale Unternehmen einen Verhaltenskodex
dar. Die Leitsätze sind wichtig, leider sind sie zu unver-
bindlich, überwiegt das „soft law“ mit zu vielen Sollvor-
schriften. Auch die ILO war an der Überarbeitung der
Leitsätze beteiligt, um die Kernarbeitsnormen zu imple-
23620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
mentieren, zu denen eben auch der Verzicht auf Kinderar-
beit zählt. Zum Kampf gegen Kinderarbeit bedarf es auf
allen politischen Ebenen Maßnahmen zur Verwirkli-
chung der ILO-Konvention 182. Deshalb ist ein Indivi-
dualbeschwerdeverfahren auch so wichtig. Recht haben
reicht eben allein nicht aus. Rechte müssen auch durch-
setzbar sein. Hier ist der Menschenrechtsrat weiter gefor-
dert aber natürlich muss auch die Bundesregierung end-
lich aktiver werden, um hier verbindliche Regelungen,
wie zum Beispiel im US-amerikanischen Dodd Frank
Act, zu bewirken. Insofern geht der Antrag komplett in
die richtige Richtung.
Die wichtigste Ursache von Kinderarbeit ist, genau
wie die Linken in Ihrem Antrag feststellen, Armut. Das
wichtigste Instrument ist deshalb die Armutsbekämp-
fung in den Entwicklungsländern. Gleichzeitig gehört
dazu die Förderung der Schul- und Berufsausbildung. In
diesem Zusammenhang gibt es in einigen Ländern, wie
zum Beispiel Mexiko und Brasilien, Sozialprogramme,
die Familien Sozialleistungen gewähren, wenn Kinder
Schulen besuchen. Die Programme sind erfolgreich und
sollten auf weitere Länder übertragen werden.
Gleichzeitig muss die Bewusstseinsbildung und Ver-
antwortung in Wirtschaft und Gesellschaft der Industrie-
länder verstärkt werden. Jeder sollte sich informieren,
wo man Produkte erhält, die nach ethischen Regeln ge-
fertigt worden sind, beispielsweise Produkte aus fairem
Handel. Das „Transfair“-Siegel erhalten zum Beispiel
nur Produkte, die ohne ausbeuterische Kinderarbeit her-
gestellt werden. Jeder von uns kann in den Geschäften
nachfragen, wie zum Beispiel Jeans, Teppiche usw. her-
gestellt werden. Das mag dem einen oder anderen unan-
gemessen erscheinen. Wenn man aber das Leid der Kin-
der in Rechnung stellt, sind solche Fragen mehr als
gerechtfertigt. Insofern begrüßen wir privatwirtschaftli-
che Initiativen fair gehandelter Produkte.
Verbraucher sollten in die Lage versetzt werden, be-
wusste Kaufentscheidungen treffen zu können. Das er-
fordert verstärkt die Kennzeichnung gehandelter Waren
durch die Wirtschaft. In einigen Bereichen wie im Kaf-
fee-, Kakao- und Textilsektor gibt es bereits einige Ver-
haltenskodizes, die sukzessive ausgebaut werden müs-
sen. Wir fordern aber, damit diese grundlegende men-
schenrechtliche Entscheidung gerade nicht dem guten
Willen einiger Unternehmen überlassen bleibt, eine ver-
bindliche Kennzeichnungspflicht, und zwar für die ge-
samte Produktkette. Dies ist ohne großen bürokrati-
schen und materiellen Aufwand möglich; eine solche
verbindliche Zertifizierung ist nach meiner festen Über-
zeugung eben gerade kein bloßer Kostenfaktor, sondern
für jedes Unternehmen, das sich daran hält, ein positiver
Standortfaktor!
Denn viele Kinder arbeiten gezwungenermaßen in
Wirtschaftsbereichen, die Produkte für den Export her-
stellen. Trotz ansteigendem Verantwortungsbewusstsein
bei den Verbrauchern ist eine Kontrolle bzw. Identifizie-
rung von aus Kinderarbeit hergestellten Produkten trotz
aller positiven Entwicklungen nur eingeschränkt mög-
lich. Vielfach muss man sich an – einigen wenigen – pri-
vaten Initiativen orientieren, die entsprechende Informa-
tionen oder Zertifizierungen zur Verfügungen stellen.
Das ist nicht ausreichend. Deshalb hat der Bundesrat auf
Initiative der SPD-geführten Länder Rheinland-Pfalz,
Bremen, später hinzutretend auch Berlin und Branden-
burg 2010 zu Recht eine Initiative zur Verhinderung des
Marktzugangs von Produkten aus ausbeuterischer Kin-
derarbeit gestartet, von der der Bundestag im Februar
2011 unterrichtet wurde. Ich habe Sie bereits in unserer
letzen Debatte gebeten, wichtige Passagen aus der Ent-
schließung des Bundesrates zu übernehmen – was Sie
leider nicht gemacht haben. Warum nicht?
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ich
find es gut und richtig, dass dieses Thema mit dem An-
trag der Linken wieder einmal auf die Agenda kommt.
Natürlich bedauern wir, dass sich, wie Sie in Ihrem An-
trag schreiben, in den vergangenen Jahren an der beste-
henden Situation kaum etwas geändert hat. Natürlich un-
terstützen wir die Forderung, Armutsbekämpfung und
den Schutz der Menschenrechte und damit auch der Kin-
derrechte zu einer Schwerpunktaufgabe der deutschen
Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit zu ma-
chen, ebenso wie Ihr Anliegen, das Verantwortungs- und
Problembewusstsein der bundesdeutschen Verbrauche-
rinnen und Verbraucher hinsichtlich einer Ablehnung
des Kaufs von Produkten aus ausbeuterischer Kinder-
arbeit zu fördern.
Aber leider erwecken Sie mit dem Antrag wieder ein-
mal den Eindruck, als ob die deutsche Politik diesbezüg-
lich bisher so gut wie nichts unternommen habe und wir
uns für unser fehlendes Engagement schämen müssten.
Nicht, dass man die Hände in den Schoß legen soll – im
Gegenteil: Natürlich müssen wir in diesem Bereich im-
mer noch mehr leisten. Das erfordert einfach die Situa-
tion der Kinder weltweit. Aber so zu tun, als ob Deutsch-
land hier komplett schläft, ist nicht akzeptabel. Ich will
hierbei die Bundesregierung auch gar nicht in Schutz
nehmen. Aber Ihren populistischen Ansatz, die Bemü-
hungen, die es ja auch gibt, zu unterschlagen, können
wir so nicht mittragen. Das mag für Wahlkampfzwecke
eine zu differenzierte Sicht sein. Aber ich finde bei die-
sem Thema muss man bei der Abwägung der Argumente
auch alle Fakten auf den Tisch legen. So arbeiten die
verschiedenen Bundesregierungen seit 1972 mit der ILO
im Rahmen der technischen Hilfe zusammen. Das BMZ
hat mit 55 Millionen Euro seit Anfang der 90er-Jahre
Programme zur Abschaffung der Kinderarbeit unter-
stützt und gehört zu den größten Gebern. In informellen
Arbeitskreisen zwischen WTO und ILO wird die Mög-
lichkeit einer Einbeziehung von Sozialstandards bespro-
chen. Aber auch auf kommunaler Ebene gibt es immer
häufiger Bestrebungen, Produkte aus Kinderarbeit zu
meiden. Mit der Änderung des Gesetzes gegen Wettbe-
werbsbeschränkung 2009 können öffentliche Auftrag-
geber an Auftragnehmer und bei Ausschreibungen zu-
sätzliche Anforderungen stellen, die nicht nur die
Wirtschaftlichkeit des Angebots, sondern auch ethische
und soziale Aspekte betreffen. Der öffentliche Auftrag-
geber kann die Vorgaben der Einhaltung der ILO-Nor-
men auf die gesamte Lieferkette bis ins Ursprungsland
erstrecken.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23621
(A) (C)
(D)(B)
Es gibt noch viel zu tun, und deshalb begrüßen wir
das Engagement der Linken und unterstützen dies. Ihr
konkreter Antrag ist allerdings aus den genannten Grün-
den zu undifferenziert, sodass wir uns leider diesmal nur
enthalten können.
Pascal Kober (FDP): Wir befassen uns heute in
zweiter Lesung mit einem Antrag der Kolleginnen und
Kollegen der Linken, der das Ziel verfolgt, ausbeuteri-
sche Kinderarbeit weltweit zu bekämpfen. Über dieses
Ziel sind wir uns einig, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linken; denn die christlich-liberale Koalition
teilt dieses Anliegen uneingeschränkt.
Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorgani-
sation, ILO, müssen noch immer rund 215 Millionen
Kinder im Alter zwischen 5 und 17 Jahren arbeiten,
115 Millionen von ihnen unter ausbeuterischen und oft
gesundheitsschädlichen und gefährlichen Bedingungen.
Man kann sogar davon ausgehen, dass die tatsächliche
Zahl arbeitender Kinder noch deutlich höher ist.
Der Großteil von ihnen, rund 60 Prozent, ist in der
Landwirtschaft beschäftigt, einem der unfallträchtigsten
Wirtschaftssektoren. Andere Kinder müssen Teppiche
knüpfen, Steine hauen, als Haussklaven arbeiten, auf
Plantagen ernten, Drogen schmuggeln oder sogar als
Kindersoldaten in den Krieg ziehen. Für Kinderhändler
und diejenigen, die Kinder beschäftigen, ist dieses Ge-
schäft äußerst lukrativ. Kinder lassen sich leicht ausbeu-
ten, können sich nicht wehren und sind wesentlich billi-
ger als erwachsene Arbeiter.
Bei den Kindern verursachen die oft viel zu schweren
Arbeiten und Misshandlungen bleibende Schäden an
Körper und Seele, die zu Traumatisierung, Krankheit
und sogar bis zum Tod führen können. Kinderarbeit ist
unmenschlich und verletzt die Menschenrechte dieser
Kinder auf das Äußerste.
Aber auch die Folgen für die gesamte Gesellschaft
sind verheerend; denn wir haben es hier mit einem Teu-
felskreis aus Armut, Kinderarbeit, mangelnder Schulbil-
dung und fehlenden Lebenschancen zu tun.
Kinderarbeit ist in den meisten Fällen eine Folge der
Armut der Eltern. Viele Familien sind darauf angewie-
sen, dass ihre Kinder zum Einkommen beitragen. Statt
zu lernen und eine richtige Ausbildung zu bekommen,
müssen viele Kinder darum von klein auf arbeiten. Häu-
fig geht es auch darum, die Schulden der Eltern abzuar-
beiten. Dadurch verlieren sie ihre Chancen auf Schulbil-
dung, auf einen höher qualifizierten Arbeitsplatz und
bleiben selbst in der Armut gefangen, wie schon ihre El-
tern. In der Folge werden ihre eigenen Kinder wieder
Gefahr laufen, arbeiten zu müssen; denn wenn die Not
der Eltern groß genug ist, ist auch die Not groß, ihre ei-
genen Kinder als Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen.
So wird dieser Teufelskreis an die nachfolgende Genera-
tion vererbt. Darum stellt Kinderarbeit über das Leid der
davon Betroffenen hinaus ein massives Entwicklungs-
hemmnis für die ganze Gesellschaft dar.
An dieser Stelle möchte ich meine Rede zu diesem
Thema nutzen, um noch einmal auf den Einsatz von Kin-
derarbeit bei der Baumwollernte in Usbekistan hinzu-
weisen. Zwar hat Usbekistan die ILO-Konventionen zur
Abschaffung von Zwangsarbeit und zur Beseitigung der
schlimmsten Formen der Kinderarbeit ratifiziert, den-
noch ist bisher kaum erkennbar, dass deren Inhalte um-
gesetzt werden.
Stattdessen weigert sich die usbekische Regierung
noch immer, eine unabhängige ILO-Untersuchungskom-
mission einreisen zu lassen. Hinzu kommt, dass nun
auch einer Delegation von Mitgliedern des Menschen-
rechtsausschusses des Bundestags die Erteilung von Visa
verwehrt wurde. Dies spricht Bände darüber, wie Usbe-
kistan zu Offenheit, Transparenz und Kooperation steht,
wenn es um die menschenrechtliche Situation im eige-
nen Land geht.
Die FDP-Bundestagsfraktion fordert die usbekische
Regierung auf, noch in diesem Jahr eine ILO-Untersu-
chungskommission einreisen zu lassen. Ebenso fordern
wir, dass unsere Ausschusskolleginnen und -kollegen
Visa für die Einreise nach Usbekistan erhalten, um sich
vor Ort ein Bild über die Lage machen zu können.
Zugleich begrüße ich, dass sich die Bundesregierung
gegenüber der usbekischen Regierung bilateral, aber
auch im Rahmen der Europäischen Union und in interna-
tionalen Gremien regelmäßig und nachdrücklich für die
Beseitigung der Kinderarbeit einsetzt und weiterhin da-
rauf drängt, eine ILO-Beobachtermission zur Baumwoll-
ernte nach Usbekistan zuzulassen.
Neben den diplomatischen Möglichkeiten des Aus-
wärtigen Amtes ist auch das Entwicklungsministerium
von Dirk Niebel aktiv bei der Bekämpfung von Kinder-
arbeit.
Beispielsweise unterstützt die deutsche Entwick-
lungszusammenarbeit Unternehmen bei der Erarbeitung
und Umsetzung von Verhaltenskodizes, die neben zahl-
reichen anderen Aspekten immer auch die Vermeidung
ausbeuterischer Kinderarbeit bezwecken. Derartige Dia-
logforen gibt es auch auf internationaler Ebene. So un-
terstützt Deutschland die Initiative des Global Compact,
in der sich weltweit mehr als 5 300 Unternehmen in
130 Ländern freiwillig zur Einhaltung grundlegender
Sozialstandards wie dem Verzicht auf Kinderarbeit be-
kennen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wir tei-
len Ihr Ziel, Kinderarbeit zu bekämpfen; allerdings tei-
len wir nicht Ihre Methoden. Denn Verbote allein führen
nicht weiter. Stattdessen müssen wir die Gesamtsituation
der von Kinderarbeit betroffenen Familien konkret ver-
bessern. Das bedeutet, wir müssen konkret die Ursachen
bekämpfen, die zu Kinderarbeit führen.
Dabei müssen wir an vielen verschiedenen Punkten
ansetzen, zum Beispiel bei der Wasserversorgung. Daher
legt Bundesminister Niebel einen Schwerpunkt deut-
scher Entwicklungszusammenarbeit auf den Wassersek-
tor. Das heißt, Wasser muss nicht nur sauber, sondern
auch erreichbar sein, also nicht mehr als 1 Kilometer
vom Haus entfernt. Davon profitieren vor allem Kinder
und Frauen, die diese lebensnotwendige Tätigkeit des
Wasserholens meist ausüben müssen. Indem der tägliche
23622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
Weg zur Wasserstelle verkürzt wird, gewinnen diese
Kinder und Frauen täglich etwas Zeit – Zeit für Bildung,
für sich selbst und die eigene Entwicklung.
Katrin Werner (DIE LINKE): Laut Internationaler
Arbeitsorganisation, ILO, müssen aktuell weltweit circa
215 Millionen Kinder arbeiten. Davon werden rund
115 Millionen Kinder unter sklavenähnlichen Bedingun-
gen ausgebeutet. Die wichtigste Ursache ist Massen-
armut. Kinder arbeiten überall dort, wo die Eltern bitter-
arm sind.
Die Kinder schuften in Steinbrüchen, auf Plantagen,
in der Sexindustrie oder in Privathaushalten. Laut
UNICEF bekommen vier von fünf Kindern für ihre Ar-
beit keinen Lohn.
So hat vor circa zwei Wochen in Usbekistan die dies-
jährige Baumwollernte begonnen. Usbekistan ist der
fünftgrößte Exporteur von Baumwolle weltweit. Die
ILO schätzt, dass während der Erntezeit bis zu 1 Million
Jungen und Mädchen gezwungen werden, auf den
Baumwollfeldern zu arbeiten.
Ein zweites Beispiel: Spiegel Online berichtete am
2. September 2012, dass in chinesischen Fabriken des
Elektrokonzerns Samsung systematisch Kinderarbeit
stattfände. Zwischen Fabriken und Schulen würden so-
gar offizielle „Arbeitsverträge“ abgeschlossen werden.
Die Linke sagt: Kinderzwangsarbeit ist moderne
Sklaverei und gehört abgeschafft!
Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung rei-
chen nicht aus. Es handelt sich auch nicht nur um ein
Problem von fernen Ländern. So verschleppen zum Bei-
spiel skrupellose Menschenfänger im großen Stil min-
derjährige Mädchen und junge Frauen aus Moldau in die
EU und nach Deutschland, wo sie als Sexsklavinnen in
Bordellen arbeiten müssen. Aber auch bei alltäglichen
Produkten profitieren wir als Konsumenten von Kinder-
zwangsarbeit. So stammen circa zwei Drittel aller Grab-
steine auf deutschen Friedhöfen ursprünglich aus Indien.
Auch zahlreiche Importprodukte für den Eigenheimbau,
wie Natursteine für Terrassen und Fensterplatten aus
Marmor, werden nachweislich durch Kinderzwangs-
arbeit gewonnen. Diese Produkte finden den Weg in un-
sere Geschäfte, weil wir uns daran gewöhnt haben, nach
dem Prinzip „Geiz ist geil“ einzukaufen. Das preisgüns-
tigste Produkt ist jedoch meist auch dasjenige, das zu
den niedrigsten sozialen und ökologischen Standards
hergestellt wurde. Das muss sich ändern!
So lange können wir aber nicht warten. Im Interesse
dieser Kinder muss jetzt gehandelt werden: Wir brau-
chen ein gesetzliches, möglichst EU-weites Verbot für
die Einfuhr, den Handel und die Verwendung von Pro-
dukten aus Kinderzwangsarbeit. Bei der Vergabe öffent-
licher Aufträge durch Bund, Länder und Kommunen
muss öffentlich werden, ob die ILO-Konventionen ge-
gen Kinderarbeit im Herkunftsland und in der Handels-
kette lückenlos eingehalten werden.
Die sozialen Ursachen für Kinderarbeit müssen in den
Herkunftsländern bekämpft werden. Der Großteil dieser
Produkte wird für die eigene Binnenwirtschaft herge-
stellt. Brasilien und Mexiko haben gezeigt, wie dies ge-
lingen kann: durch Armutsbekämpfung und Förderung
der Schul- und Berufsausbildung. Arme Familien erhal-
ten zusätzliche Sozialleistungen, wenn die Kinder Schu-
len besuchen. Das Beispiel sollte Schule machen, und
dafür muss sich Deutschland in der Entwicklungszusam-
menarbeit einsetzen.
Leider hat Deutschland seine internationale Ver-
pflichtung, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die
Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, bis heute
nicht erfüllt. Unter Rot-Grün waren es 0,28 Prozent, und
unter Schwarz-Gelb sind es auch nur 0,4 Prozent. Das
zeigt: Weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb haben ein
Herz für arme Kinder.
Die Linke sagt: Dafür müssen sie sich wirklich schä-
men!
Unser Antrag verfolgt einen doppelten Ansatz:
Marktzugangssperren für Produkte aus Kinderzwangsar-
beit bei uns und gleichzeitige Bekämpfung der Ursachen
von Kinderarbeit in den Herkunftsländern. Beides ist
wichtig, um den Profiteuren von Kinderzwangsarbeit
das Handwerk zu legen und den betroffenen Familien
Auswege aus der Armut aufzuzeigen.
Obwohl auch die SPD dies in einem Antrag fordert,
will sie sich laut Beschlussempfehlung bei unserem An-
trag enthalten. Wenn die SPD in der Sache entscheiden
würde, dann müsste sie wie die Grünen unserem Antrag
zustimmen. Darum geht es aber nicht: In der Opposition
blinken die Sozialdemokraten zwar gern links; wenn es
darauf ankommt, biegen sie jedoch rechts ab. Sie wollen
sich damit heute schon als Juniorpartner in einer künfti-
gen großen Koalition nach der nächsten Bundestagswahl
andienen. Das spricht Bände!
Der weltweite Schutz der Kinderrechte muss Vorrang
haben vor den Profitinteressen von Unternehmen. Da-
rüber muss über die Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit
bestehen. Im Interesse der Kinder lehnen wir daher die
Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses
ab und appellieren an Sie, unserem Antrag doch noch
zuzustimmen. Kinder sind unsere Zukunft und brauchen
unseren Schutz!
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Schlagzeilen über katastrophale Arbeitsbedingungen in
der globalen Zulieferkette reißen nicht ab. Mitte Septem-
ber starben bei einem Brand im pakistanischen Karatschi
über 250 Menschen. Notausgänge? Fehlanzeige! Auch
die Handelskette kik ließ dort produzieren. Wenige Wo-
chen vor dem Vorfall hatte der Konzern noch beteuert,
weltweit Arbeits- und Sozialstandards hochzuhalten.
Nicht besser sieht es bei Foxconn aus. In dem Werk, in
dem das neue iPhone 5 produziert wird, herrschen de-
saströse Arbeitsbedingungen, die am vergangenen Wo-
chenende zu Krawallen mit einer Beteiligung von etwa
2 000 Beschäftigten führten. Auslöser soll ein Streit zwi-
schen einem Arbeiter und einem Wachmann gewesen
sein. Der Arbeiter hatte sich über die Behandlung durch
das Management und das Wachpersonal beschwert. Laut
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23623
(A) (C)
(D)(B)
NGOs gehört Gewalt gegen Arbeiterinnen bei Foxconn
geradezu zur Unternehmenskultur.
Wie sieht es bei der Kinderarbeit aus? Auch hier man-
gelt es nicht an aktuellen Beispielen. Gerade vor einigen
Tagen hat die französische Nationale Kontaktstelle,
NKS, der OECD ihren Abschlussbericht im Fall Devcot
vorgelegt. Das Unternehmen wurde beschuldigt, mit
Baumwolle gehandelt zu haben, die in Usbekistan von
Kindern geerntet wurde. Auch wenn die NKS ein direk-
tes Verschulden von Devcot verneinte, machte sie doch
klar, dass der Handel mit Produkten aus Kinderarbeit ein
eklatanter Verstoß gegen die OECD-Leitsätze für multi-
nationale Unternehmen darstellt. Ein wichtiger Schritt,
um klarzustellen, dass transnationale Unternehmen auch
für ihre Zulieferketten verantwortlich sind.
Ausbeuterische Arbeitsbedingungen sind menschen-
verachtend. Ausbeuterische Kinderarbeit ist dies in be-
sonderem Maße: Kinder können ihre Situation noch
nicht verstehen, sie sind noch leichter auszubeuten, sie
werden körperlich und psychisch für ihr gesamtes Leben
schwer geschädigt, oftmals werden sie entweder direkt
entführt oder aber mit Versprechungen den Not leiden-
den Eltern abgekauft. Sie werden zum persönlichen Ei-
gentum ihrer Besitzer. Deshalb müssen wir weltweit So-
zialstandards für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
durchsetzen und Kinderarbeit ächten. Kinder gehören
nicht an die Werkbank oder in den Steinbruch, sie gehö-
ren in die Schule und haben auch ein Recht auf persönli-
che Entwicklung.
Weltweit sind etwa 215 Millionen Kinder von Kinder-
arbeit betroffen. Aber ich will mich nicht mit Zahlen
aufhalten, wichtiger sind Lösungsansätze. Die Vor-
schläge der Linken gehen in die richtige Richtung. Aus
diesem Grund werden wir dem Antrag zustimmen, ob-
wohl er viel an Substanz vermissen lässt: Wir Grüne ha-
ben gerade erst im Mai dieses Jahres ein umfassendes
Positionspapier verabschiedet, in dem wir viele konkrete
Ansatzpunkte aufzeigen, wie die Situation von Arbeite-
rinnen und Arbeitern im globalen Netz von Zulieferern
verbessert und Kinderarbeit überwunden werden kann.
Dazu angesichts der Kürze der Zeit nur drei Stichworte.
Erstens. Unsere bayerischen, deutschen und europäi-
schen Unternehmen müssen Verantwortung für ihre glo-
bale Lieferkette übernehmen. Wir brauchen klare Vorga-
ben zu Sorgfalts- und Berichtspflichten für transnationale
Unternehmen. Dazu zählt die klare Verankerung der
Sorgfaltspflicht für Unternehmen. Die Bundesregierung
muss sich darum bemühen, solche Pflichten und Verant-
wortlichkeiten auch auf die Lieferketten auszuweiten.
Außerdem müssen wir transnationale Unternehmen zur
Offenlegung von sozialen Standards auch in ihren Zulie-
ferketten verpflichten. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist die
sogenannte Nationale Kontaktstelle, NKS, die die Umset-
zung der OECD-Richtlinien gewähren soll. Die NKS ist
im Bundeswirtschaftsministerium in der Abteilung für
Auslandsinvestitionen angesiedelt. Interessenkonflikte
sind vorprogrammiert. In anderen Ländern werden Insti-
tutionen wie die NKS als eigenständige, unabhängige
Einrichtungen betrieben. Das muss auch bei uns möglich
sein. Schlussendlich brauchen wir die Möglichkeit, Un-
ternehmen, die Kinderarbeit in ihren Zulieferketten dul-
den, zu sanktionieren. Keine der bisherigen Vereinbarun-
gen ermöglicht Sanktionen. Hierzu müssen zum einen
international vereinbarte Richtlinien weiter konkretisiert
werden. Zum anderen müssen von Menschenrechtsver-
letzungen betroffene Personen in Deutschland und
Europa ein Klagerecht erhalten.
Zweitens: die öffentliche Beschaffung. Jedes Jahr be-
schafft die öffentliche Hand – Kommunen, Länder und
Bund – Güter und Dienstleistungen im Wert von 250 und
350 Milliarden Euro. Diese Summen bestätigen die
enorme Nachfrageverantwortung Deutschlands. Von den
rund 12 000 deutschen Kommunen sind sich bisher le-
diglich circa 550 dieser Verantwortung bewusst gewor-
den und haben sich deshalb zur „Fairen Kommune“ er-
klärt. Einen Beschluss gegen den Kauf von Produkten
aus ausbeuterischer Kinderarbeit haben bereits deutlich
mehr Kommunen verabschiedet; allerdings ist die Um-
setzung häufig mangelhaft. Erst mit dem Gesetz zur Mo-
dernisierung des Vergaberechts von April 2009 hat die
Bundesregierung für Rechtssicherheit bei der Berück-
sichtigung ökologischer und sozialer Kriterien in der öf-
fentlichen Beschaffung gesorgt. Die Bundesregierung
benennt in der für alle Bundesministerien geltenden Ver-
waltungsvorschrift zur Beschaffung vom Januar 2008
ausschließlich ökologische Kriterien. Menschenrechte
und Sozialstandards spielen keine Rolle. Diese Vor-
schrift läuft 2013 aus. Eine auf soziale Kriterien ausge-
weitete, konkretisierte und verbindlichere Fortschrei-
bung dieser Vorschrift ist dringend notwendig. Vor allem
müssen wir Kinderarbeit vor Ort bekämpfen.
Damit bin ich beim dritten Punkt, den ich ansprechen
möchte. Wenn Eltern die Lebensgrundlage entzogen
wird, wenn sie krank werden oder selber die Arbeit ver-
lieren, dann werden Kinder von der Schule genommen
und zur Arbeit geschickt. Unser langfristiges Ziel ist es,
allen Menschen Zugang zu sozialem Basisschutz zu er-
möglichen. Die Internationale Arbeitsorganisation hat
zur Ausweitung der sozialen Sicherung das Konzept des
sogenannten Social Protection Floor vorgelegt. Allen
Menschen soll ein sozialer Basisschutz garantiert wer-
den, der folgende Standards umfasst: eine Mindestge-
sundheitsversorgung, Mindesteinkommensgarantien für
Kinder, Unterstützung für Arme und Arbeitslose und
Mindesteinkommensgarantien im Alter und für Men-
schen mit Behinderungen. Jetzt heißt es, sich an die Um-
setzung zu machen.
Leider wurde die Zielgröße „soziale Sicherung“ je-
doch im Dezember 2009 im Bundesministerium für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, BMZ, un-
ter Leitung von Minister Niebel abgeschafft. Gleichzeitig
wurden Investitionen in private Fonds verstärkt, um pri-
vate Versicherer dabei zu unterstützen, neue Märkte in
Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländern
zu erschließen. Diese Fonds versprechen den Investoren
zum Teil hohe Profite. Für die grüne Bundestagsfraktion
steht fest, dass die Förderung privatwirtschaftlicher Lö-
sungen keine Konkurrenz zu solidarischen Systemen
werden darf. Die privaten Versicherungsunternehmen
sind auch ohne eine staatliche Förderung dabei, in Ent-
wicklungs- und Schwellenländern für sich zu werben.
23624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
Statt die privat getriebene weitere Entsolidarisierung in
den Gesellschaften der Entwicklungs- und Schwellenlän-
der zu befördern, muss staatliche Entwicklungspolitik ein
Gegengewicht dazu darstellen. Wir wollen die Zielgröße
soziale Sicherung wieder einführen und die Zusammen-
arbeit im Bereich soziale Sicherung verstärken. Soziale
Sicherung soll als zentraler Baustein der deutschen Ent-
wicklungszusammenarbeit etabliert werden. Dabei wol-
len wir zunächst eine Summe von 100 Millionen Euro
jährlich für den Bereich zur Verfügung stellen und die
personelle Ausstattung für diesen Bereich im BMZ deut-
lich erhöhen.
Selbstverständlich müssen Sozialstandards auch fes-
ter Bestandteil von Handelsverträgen sein. Die Linke
macht es sich hier aber zu einfach, wenn sie schlicht for-
dert, auf der Ebene der Welthandelsorganisation einen
Marktzugang von Produkten aus ausbeuterischer Kin-
derarbeit zu verbieten, und konkrete Vorschläge in ande-
ren Bereichen vermissen lässt.
Ich habe an drei Beispielen aufgezeigt, dass differen-
ziertere Ansätze notwendig sind. An dieser Stelle bin ich
offen, auch der Linken mit fachpolitischem Rat weiter-
zuhelfen. Aber zumindest die Stoßrichtung des Antrags
der Linken geht in die richtige Richtung. Darum erhält er
unsere Zustimmung.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Entwicklung durch
Wachstum – Der Beitrag der deutschen Wirt-
schaft zum Erreichen der Millenniumsziele (Ta-
gesordnungspunkt 15)
Jürgen Klimke (CDU/CSU): Leider muss diese
Rede zu Protokoll gegeben werden. Das halte ich für
sehr bedauerlich, ist es doch meine Intention sowie jene
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gewesen, mit die-
sem Antrag einen neuen Ansatz in der Entwicklungs-
politik weg von der Hilfe hin zur wirtschaftlichen Zu-
sammenarbeit herbeizuführen. Das ist ein Thema, das
die Debatte, und zwar die öffentliche Debatte, lohnt, tre-
ten hier doch die Differenzen zwischen Koalition und
Opposition besonders deutlich zutage, die auch eine gute
Basis für eine Livediskussion gewesen wären.
Die deutsche Entwicklungspolitik hat in dieser Legis-
laturperiode zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen
umfangreichen Paradigmenwechsel erfahren. Die Ko-
alitionsfraktionen haben erreicht, dass die westliche
Privatwirtschaft und die regionalen wirtschaftlichen
Wachstumskräfte in unseren Partnerländern eine enge
Kooperation eingehen. Dies, liebe Opposition, ist keine
Wirtschaftshilfe für den deutschen Mittelstand, es ist eine
moderne Entwicklungszusammenarbeit, die den Staaten
Know-how und Wirtschaftsstruktur anbietet, damit da-
durch endlich überall unsere Partner vom Tropf der alten
Entwicklungshilfe abgekoppelt werden.
Sie, liebe Kollegen von der Opposition, haben diese
Entwicklung immer bekämpft.
Sie haben das letzte UN-Entwicklungsziel – Wachs-
tum durch Privatwirtschaft – über Jahrzehnte in den
Haushaltsansätzen des BMZ negiert.
Dass die Grünen und vor allem die Linke in der Ent-
wicklungspolitik wirtschaftsfeindliche Positionen vertre-
ten, ist uns allen klar.
Doch dass selbst die SPD jegliche Verbindungen
zwischen Mittelstand, den Infrastrukturprojekten, den
Außen- und Handelskammern und der Entwicklungszu-
sammenarbeit immer eher negativ definiert hat, ist be-
zeichnend für ihre Ideologie und gleichzeitig erschüt-
ternd.
Wer bürgerliche Politikerfolge in den drei letzten Jah-
ren sucht, kann diese zuhauf in der deutschen Entwick-
lungszusammenarbeit finden.
Ich möchte daran erinnern, als die Kollegin Roth von
der SPD in der Haushaltsdebatte der letzten Woche in ei-
ner Kurzintervention die Kollegin Pfeiffer fragte, ob
denn nicht auch die SPD PPP-Programme in ihrer Regie-
rungszeit gefördert hätte.
Wollten Sie uns mit Ihrem Statement wirklich weis-
machen, dass die SPD im BMZ wirtschaftsfreundlich
agiert hat?
Liebe Kollegin Roth, vielleicht wissen Sie es nicht
besser, weil Sie damals noch Verkehrspolitik als Staats-
sekretärin betrieben haben, aber es waren ihr Kollege
Raabe und seine ehemalige Chefin, die jegliche Aufsto-
ckung der Budgetmittel für den Titel „Zusammenarbeit
mit der Wirtschaft“ und Zugangsverbesserungen und
Vernetzung zwischen Privatwirtschaft und den Partner-
ländern verhindert haben.
Zudem wurde das PPP-Instrument von den SPD-Obe-
ren im Ministerium peinlichst verschwiegen. Die One-
to-One-Shops, die Messebeteiligungen, Wirtschafts-
Know-how der Verbände bei Regierungsverhandlungen
oder in den Länderkoordinationskreisen wurden nicht
beachtet.
Wir haben das geändert, und das ist der wichtige Pa-
radigmenwechsel, von dem ich am Anfang meiner Rede
gesprochen habe.
Diese programmatische Unkreativität ist einer der
Hauptgründe, warum die Entwicklungszusammenarbeit
unter der jahrzehntelangen Regentschaft der SPD vom
DAC ein teils vernichtendes Zeugnis ausgestellt bekom-
men hat.
Wir stehen für die Entwicklungsrelevanz und deutli-
che Wirkungssteigerung der deutschen EZ durch die Zu-
sammenarbeit mit der Wirtschaft.
Dem Ministeriumsnamen „wirtschaftliche Zusam-
menarbeit“ haben wir mit diesem Antrag endgültig ein
Gesicht gegeben.
Jedem mit Auslandsinvestitionen unerfahrenen deut-
schen Unternehmen geben wir die Möglichkeit, gezielte
und einfache Informationen und Strategien bei dem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23625
(A) (C)
(D)(B)
Ministerium und den Durchführungsorganisationen ab-
zurufen.
Außenhandelskammern dürfen endlich Gehör bei Re-
gierungsverhandlungen und Ministerreisen finden.
Die Wirtschaft kann an entscheidenden Qualitätsver-
besserungen der Sektorkonzepte mitarbeiten.
Der Personalaustausch in den beteiligten Ministerien
AA, BMWi und BMZ wird endlich organisatorisch un-
termauert und verstetigt.
Das PPP-Instrument wird auf alle Sektoren erweitert,
finanziell zielführend gestärkt und im Außenauftritt ver-
bessert.
Die Sequa, die gemeinnützige Gesellschaft der Spit-
zenverbände der deutschen Wirtschaft, die Projekte zum
Aufbau von Wirtschaftsorganisationen in Entwicklungs-
ländern durchführt, wird finanziell gestärkt.
Es gibt eine Know-how-Verknüpfung innerhalb aller
nach außen tätigen deutschen Organisationen und aller
Ministerien, um einen besseren Informationsfluss herzu-
stellen.
Leitlinie unserer Philosophie ist, dass Wirtschafts-
wachstum der einzige nachhaltige Schlüssel ist, der Ar-
mutsbekämpfung in Entwicklungs- und Schwellenländer
vorantreibt. Das unterscheidet uns von der gesamten Op-
position.
Der vorliegende Antrag betont unser Anliegen in un-
serer entwicklungspolitischen Strategie, mehr Rechts-
und Investitionssicherheit zu entwickeln, mehr Infra-
struktur zu gewährleisten, mehr Energieentwicklung vo-
ranzutreiben und vor allem den Mittelstand stärker zu
berücksichtigen.
Dabei lautet unser vorrangiges Ziel, Wirtschafts-
wachstum in den Entwicklungs- und Schwellenländern
so zu gestalten, dass es direkte Effekte auf die Armuts-
minderung hat.
Wir sehen dieses Vorgehen als das Hauptinstrument
an, um zu gewährleisten, dass die Schere zwischen Arm
und Reich nicht weiter auseinandergeht. Deshalb fördern
wir mit unserem Ansatz der wirtschaftlichen Zusammen-
arbeit die Weiterleitung des international anerkannten
deutschen Menschenrechtsstandards und die Weitergabe
unseres Ansatzes der sozialen Marktwirtschaft, die die
deutsche Wirtschaft so konkurrenzfähig gemacht hat.
Und wir unterstützen die deutsche mittelständische
Wirtschaft bei der Umsetzung von Entwicklungsprojek-
ten, um in unseren Partnerländern die regionalen Märkte
über mittelständische Strukturen aufzubauen.
Ziel ist es, mit unserer EZ wirtschaftliche Kompetenz
zu vermitteln, die dann endgültig unsere Partnerländer
zu eigener Leistung befähigt.
Die deutsche Entwicklungspolitik ist bereits nach drei
Jahren Union/FDP-Regierung insbesondere für den
deutschen Mittelstand ein Geländer für wirtschaftliche
Betätigung in Entwicklungsländern. Wir gewährleisten
es, wenn wir innerhalb des Ministeriums die finanzielle
und personelle Struktur so verstärken und weiterentwi-
ckeln, dass die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft zum
Beispiel über privat-öffentliche Partnerschaften hinaus
gestärkt wird.
Das heißt, zum Beispiel unter Einbezug der deutschen
Kammern und anderer privatrechtlicher Organisationen,
Grundstrukturen für einen wirtschaftlichen Aufschwung
in unseren Partnerländern zu legen.
Wichtig ist, dass erstmals auch die EZ-Scouts in die
deutschen Kammern entsandt werden. Durch die Entsen-
dung von sogenannten Entwicklungsscouts als Verbin-
dungsreferenten in die großen Wirtschaftsverbände er-
fährt die Wirtschaft weitere Unterstützung.
Hier spielt auch die Frage der Bildung und Ausbil-
dung, zum Beispiel im Zusammenhang mit dem bei-
spielhaften Modell der deutschen beruflichen Bildung,
dem dualen System, eine entscheidende Rolle. Dieses
Modell ist überall nachgefragt, und deswegen müssen
wir es auch verstärkt fördern.
Mit diesem Antrag verbinden wir erstmals die Idee
des dualen Bildungssystems mit der entwicklungsorien-
tierten Wirtschaftspolitik.
Für mich besonders wichtig ist, dass wir das Millen-
niumsziel 8 – weltweite Partnerschaft entwickeln – kon-
sequent umsetzen und die Privatwirtschaft befähigen, in
die deutsche Entwicklungspolitik zu investieren.
Wir wollen, dass deutsche Unternehmen sozial und
umweltfreundlich investieren. Daher haben wir eine
Servicestelle EZ & Wirtschaft zur Beratung mittelständi-
scher Unternehmen beim BMZ eingesetzt. Darüber hi-
naus fördern wir zusätzlich unsere bestehenden Pro-
gramme zur Zusammenarbeit mit der Wirtschaft.
Positive Beispiele gibt es mittlerweile zuhauf. Ich
denke hier zum Beispiel an das biologische Wasserreini-
gungsverfahren bei der Lederproduktion in Mexiko
durch die Leipziger Firma BioPlanta oder an die erfolg-
reiche Einführung der Dialysetechnik in Indonesien
durch die Medizintechniker von Fresenius Medical Care.
Dies sind Erfolge des Programmes „develoPPP“.
Mit diesem Antrag sind wir jedoch nicht blauäugig.
Wir wissen, dass entwicklungspolitische Interessen und
das Streben von Unternehmen nach Gewinn nicht immer
zusammengehen. Daher haben wir Kontrollmechanis-
men eingefügt.
Wir haben den Ansatz „Win-Win“ für alle beteiligten
Seiten gestärkt.
Aber ich möchte hier auch auf für mich wichtige
Missstände hinweisen: Gerade im Rahmen von Arbeits-
rechten und Mindeststandards sind die Großkonzerne,
die Bekleidungshersteller, die Rohstoffkooperationen
und die Lieferketten nicht frei von Zweifeln.
Es ist wichtig, gerade für bürgerliche Politiker, die der
Kooperation mit der Wirtschaft positiv gegenüberstehen,
die Verfehlungen von Konzernen zu beobachten und bei
Bedarf auch zu sanktionieren oder gesetzlich einzu-
schränken.
23626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
Gerade wenn es um den Vorwurf von Menschen-
rechtsverstößen gegenüber Zulieferern von zum Beispiel
Thyssen Krupp, Siemens oder Metro geht, müssen wir
wachsam sein. Bei Lieferanten von Rohstoffen wie Ei-
sen, Bauxit, Stahl, Aluminium und Kupfer drücken viele
deutsche Konzerne die Augen zu.
Verseuchung von Landstrichen, Zwangsumsiedlun-
gen, Verletzungen der Arbeitsrechte sowie von Mei-
nungs- und Versammlungsfreiheit durch Rohstoffkon-
zerne in Ländern wie Indien, Brasilien oder Sambia
ziehen selten den Abbruch von Geschäftsbeziehungen
nach sich.
Hier müssen wir noch einiges tun. Denn dieses Ver-
halten läuft der erfolgreichen Umsetzung anderer ent-
wicklungsrelevanter Sektoren entgegen.
Zwar haben deutsche Konzerne erst einmal keine di-
rekte Zuständigkeit für die Einhaltung von Menschen-
rechten bei Zulieferern – die liegt bei den Regierungen
unserer Partnerländer –, aber doch eine Mitverantwor-
tung.
Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Einhaltung
von Standards bei Rohstofflieferanten systematisch
überprüft wird.
Leider ist diese Einhaltung nicht einfach zu regeln
und bedarf der Zustimmung vieler Politikfelder.
Ich schlage vor, dass wir in einem ersten Schritt bin-
dende Richtlinien in der EU einführen sowie die bin-
dende Einführung umfassender Menschenrechtsverträg-
lichkeitsprüfungen beschließen.
Sie sehen: Wir sind nicht auf einem Auge blind, son-
dern versuchen, einen angemessenen Interessenaus-
gleich zwischen Wirtschaft und Entwicklungsinteressen
herzustellen.
Dieser Antrag hat einen vermittelnden Grundgedan-
ken. Jede Seite muss bei der Umsetzung verantwortlich
vorgehen, damit für die Menschen in unseren Partnerlän-
dern unser Leitsatz „Hilfe zur Selbsthilfe“ nicht eine
leere Phrase bleibt.
Dr. Sascha Raabe (SPD): „Entwicklung durch
Wachstum“ – bereits der Titel des vorliegenden Antrags
belegt erneut die stark wirtschaftszentrierte Auffassung
von Entwicklungszusammenarbeit, der die Koalitions-
parteien folgen. Die in dem Antrag aufgeführten Punkte
bestätigen einmal mehr, dass das Engagement der Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP rein darauf zielt, Außen-
wirtschaft und Investitionen zu fördern, woraus in die-
sem Verständnis automatisch Entwicklung resultiert. Der
Antrag ignoriert sämtliche sozialen Kernelemente, für
die wir uns seit Jahren im Bereich der deutschen und in-
ternationalen Entwicklungszusammenarbeit starkge-
macht haben. Wir lehnen den Antrag daher entschieden
ab; schließlich sind wir doch in der entwicklungspoliti-
schen Debatte längst entscheidende Schritte weiter.
Meine Kritik darf an dieser Stelle nicht falsch verstan-
den werden. Ich erachte es grundsätzlich als richtig, dass
die Privatwirtschaft durch ihre Investitionen in Entwick-
lungsländern positiv zur Entwicklung beitragen kann.
Meine Fraktionskolleginnen und -kollegen sehen das ge-
nauso. Doch Wachstum alleine reduziert Armut nicht;
dieser Ansatz greift schlicht zu kurz. Die Menschen in
den ärmsten Ländern der Welt können nur von einem
breitenwirksamen inklusiven Wachstum mit guten Ar-
beitsplätzen und fairen Löhnen profitieren.
Wir haben während unserer Regierungszeit die soge-
nannten Public Private Partnerships eingeführt und stets
befürwortet. Wir erkennen die Vorteile, die diese Part-
nerschaften in Entwicklungsländern haben können. Hier
liegt unsere Position nicht weit von der Koalitionsmei-
nung entfernt. Kapital und Investitionen privatwirt-
schaftlicher Unternehmen können Arbeitsplätze schaffen
und damit die wirtschaftlichen und sozialen Bedingun-
gen der Menschen in diesen Ländern verbessern. Aus
meiner Sicht ist dieser Punkt unstrittig.
Doch ich sage bewusst: Sie können die Situation ver-
bessern. Von einem Kausalzusammenhang oder einem
Automatismus zu sprechen, ganz nach dem Motto „Eine
Investition schafft Arbeitsplätze und bringt damit Ent-
wicklung“, missachtet die realen Gegebenheiten. Ich
lehne daher diese Linearität entschieden ab. Mit der Er-
richtung von Produktionsstandorten alleine ist es längst
nicht getan. Nur nachhaltiges und breitenwirksamens in-
klusives Wachstum kann zu einer nachhaltigen Etablie-
rung von Entwicklungsstandards und -strukturen beitra-
gen. In dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP allerdings bleibt der Aspekt der Nachhaltigkeit na-
hezu völlig außen vor, worüber ich mich sehr stark wun-
dere.
Mehr als fraglich ist für mich, warum Aspekte der
Unternehmensverantwortung eine derart untergeordnete
Rolle spielen beziehungsweise völlig ignoriert werden.
Im Feststellungsteil heißt es:
Deutschland ist ein erfolgreicher Akteur auf den glo-
balen Märkten, der sich weltweit für die Verbesserung
von Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards einsetzt.
Hier wird also vorausgesetzt, dass jedes deutsche Un-
ternehmen, das in Entwicklungsländern unternehmerisch
tätig ist, die genannten Standards wahrt. Das ist leider
schlichtweg falsch. Zwar gibt es viele deutsche Unter-
nehmen, die sich freiwillig etwa den OECD-Leitsätzen
zur Unternehmensverantwortung verschrieben haben
und durchaus faire Arbeitsbedingungen bieten. Aber lei-
der gibt es auch deutsche Unternehmen, die die Arbeiter
mit Niedriglöhnen vor Ort ausbeuten und Umwelt- und
Gesundheitsstandards nicht einhalten. In vielen Ländern
Afrikas sind Investitionen im Rohstoffsektor beispiels-
weise nicht Segen, sondern Fluch.
Bei privatwirtschaftlichem Engagement in Entwick-
lungsländern geht es nicht um das Ob. Darüber besteht
schließlich Konsens. Vielmehr geht es um das Wie, und
das spart der vorliegende Antrag völlig aus. Die eigentli-
che Fragestellung, die wir an Unternehmen herantragen
müssen, ist: Orientieren Unternehmen, die in Entwick-
lungsländern investieren, ihr Engagement an sozialen
Normen? Begleichen sie die Arbeit der Menschen dort
mit fairen Löhnen? Tragen sie dazu bei, dass durch die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23627
(A) (C)
(D)(B)
Zahlung gerechter Steuern Strukturen sozialer Sicherung
aufgebaut und etabliert werden können? Bieten sie ihren
Angestellten und deren Familien einen Basisschutz?
Halten sie sich an Antikorruptionsvereinbarungen, um
Geklüngel mit den Landesregierungen zu vermeiden?
Verpflichten sie sich auf die Einhaltung menschenrecht-
licher Grundsätze? Begünstigen sie damit die Entwick-
lung in den ärmsten Ländern der Welt langfristig, sodass
auch die nachkommenden Generationen davon profitie-
ren?
Diese vielen Fragen lässt der Antrag unbeantwortet,
was auf dessen Eindimensionalität zurückzuführen ist.
Wir brauchen kein reines Wachstum in Entwicklungslän-
dern. Wir brauchen ein breitenwirksames, inklusives
Wachstum, das die genannten Aspekte einbezieht.
An dieser Stelle komme ich wieder auf den Titel des
Antrags zurück. „Der Beitrag der deutschen Wirtschaft
zum Erreichen der Millenniumsziele“ lautet der Beisatz.
Ein Versprechen, das zunächst sehr vielversprechend
klingt. Doch weit gefehlt: Über die Nennung hinaus fin-
den die Millenniumsziele so gut wie keine Erwähnung
mehr im Text. So steht unter Punkt 3 im Feststellungs-
teil:
Außenhandel und Investitionen deutscher Unterneh-
men sind förderlich für das Erreichen der Ziele der deut-
schen Entwicklungspolitik, die sich eng an den Millen-
niumszielen der Vereinten Nationen orientiert.
Die Millenniumsziele müssen bis 2015 erreicht sein,
doch noch – das ist keine Neuigkeit – sind wir in vielen
Punkten weit davon entfernt, die Maßgaben einzuhalten.
Die Betrachtungsweise, dass durch verstärkte Außen-
handelsförderung quasi automatisch die Millenniums-
ziele erreicht werden können, verfehlt die Realität. Hier
brauchen wir konkrete Konzepte und keine Allgemein-
plätze.
Grundsätzlichster Punkt meiner Kritik ist jedoch ei-
ner, der im Grunde allen anderen übergeordnet ist. Folgt
man der eingangs beschriebenen kausalen Argumenta-
tion, nach der Investitionen zu Wachstum und somit zu
Entwicklung führen, wird der Wille deutscher Unterneh-
men, in Entwicklungsländern zu investieren, vorausge-
setzt: eine Annahme, die sehr stark zu bezweifeln ist.
Bereits in der Fragestunde am 28. September 2011 hat
uns das Ministerium dargelegt, dass der überwiegende
Teil der PPP-Mittel in Schwellenländer und nicht in die
am wenigsten entwickelten Länder fließt. Wir bräuchten
also Konzepte, wie mehr private Investitionen, die zu ei-
nem breitenwirksamen inklusiven Wachstum mit guten
Arbeitsplätzen zu fairen Löhnen führen, in den ärmsten
Entwicklungsländern getätigt werden. Dazu ist Ihr An-
trag unbrauchbar. Deshalb lehnen wir ihn ab.
Joachim Günther (Plauen) (FDP): Seit Beginn der
Legislaturperiode in 2009 hat sich die Bundesregierung
mit Nachdruck dafür eingesetzt, die Privatwirtschaft in
die Entwicklungszusammenarbeit einzubeziehen. Denn
ohne privatwirtschaftliches Engagement ist keine nach-
haltige Entwicklung der Entwicklungsländer möglich!
Und ohne die Finanzkraft der Privatwirtschaft ist auch
keines der globalen Ziele der Entwicklungspolitik zu er-
reichen! Die Zeiten der Scheckheftdiplomatie und der
bloßen Budgethilfen liegen endlich hinter uns.
Außenhandel und Investitionen deutscher Unterneh-
men sind förderlich und notwendig für das Erreichen der
Ziele der deutschen Entwicklungspolitik, die sich eng an
den Millenniumszielen der Vereinten Nationen orien-
tiert. So wird dort im Millenniumziel 8, MDG 8 – Mil-
lennium Development Goal 8, ausdrücklich die Notwen-
digkeit definiert, die Privatwirtschaft anzuerkennen und
zu fördern.
Allein im Jahr 2012 wurden zusätzlich 19,8 Millionen
Euro für Programme zur Zusammenarbeit mit der Wirt-
schaft aufgelegt. Die Bundesregierung hat sich diesen
Bereich von Beginn an zum Schwerpunkt gemacht und
eine ganze Reihe von Initiativen gestartet. Sie hat zum
Beispiel einen Ressortkreis auf Staatssekretärsebene ein-
gerichtet, der zwischen Auswärtigem Amt, Bundes-
ministerium für Wirtschaft und Technologie und dem
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung zur stärkeren Koordinierung von Au-
ßenwirtschafts- und Entwicklungspolitik beiträgt. Zu-
dem wurde eine Servicestelle für die Wirtschaft beim
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung gegründet, die zur zentralen Anlauf-
und Beratungsstelle für Unternehmen mit entwicklungs-
politischem Fokus geworden ist.
Bewährte Instrumente zur entwicklungsorientierten
Nutzung privater Wirtschaftstätigkeit sind weiterhin die
Förderung grenzüberschreitender Direktinvestitionen
und die Verbesserung von Rahmenbedingungen bei-
spielsweise in Steuer- und Finanzverwaltung.
Im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen
wird hierauf aufgebaut und werden Mittel und Wege auf-
gezeigt, wie man die Chancen, insbesondere auch für
kleine Unternehmen und für den deutschen Mittelstand,
in der Entwicklungszusammenarbeit nutzen kann.
Im Unterschied zum chinesischen Engagement in
Afrika garantieren gerade kleine und mittlere private
Unternehmen, dass es nicht um kurzfristige Rendite,
sondern um eine kontinuierliche Zusammenarbeit zum
beiderseitigen Nutzen geht.
Zu den von uns vorgeschlagenen Maßnahmen gehört,
die Haushaltsmittel mit dem Titel „Entwicklungspartner-
schaft mit der Wirtschaft“ zielgerichtet wirtschaftsnahen
Organisationen zur Verfügung zu stellen, die deutschen
Auslandshandelskammern bei der Vorbereitung von Re-
gierungsverhandlungen einzubeziehen und die Erfahrun-
gen der deutschen Wirtschaft bei der Erstellung von ent-
wicklungspolitischen Konzepten zu nutzen.
Es geht weiter darum, den kontinuierlichen Personal-
austausch zwischen den Ressorts Auswärtiges Amt,
Wirtschaftsministerium, Ministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und der Wirtschaft zu intensivieren.
Inzwischen wurden bereits 14 Verbindungsreferenten,
sogenannte EZ-Scouts in Kammern und Wirtschaftsver-
bände entsandt. Außenhandelskammern werden durch
BMZ-finanziertes Personal in Zusammenarbeit mit dem
23628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
DIHK zur engeren Verzahnung von Entwicklungszu-
sammenarbeit und Außenwirtschaftsförderung verstärkt.
Noch einige Bemerkungen zur Ausgestaltung des
Förderinstruments Entwicklungspartnerschaften mit der
Wirtschaft, den PPP, Private-Public-Partnership-Maß-
nahmen: Hier müssen sich die Förderkonditionen an für
Unternehmen gut nachvollziehbaren Kriterien ausrich-
ten. Das betrifft Handel, Investition, Betreiberfunktion
und Beratung, Aus- und Weiterbildung sowie die unter-
schiedliche Attraktivität in den PPP-Zielländern. Beispiels-
weise bei Vorhaben im Gesundheits- oder Infrastrukturbe-
reich können zeitlich befristete Unterstützungsmaßnahmen
wie die Finanzierung von Machbarkeitsstudien, die Ent-
wicklung von vergaberechtlichen Absicherungsinstru-
menten förderungswürdig sein.
Mittlerweile wurde das Programm für Entwicklungs-
partnerschaften mit der Wirtschaft weiter ausgebaut. Ak-
tuelle Ideenwettbewerbe suchen gezielt nach Projektvor-
schlägen für die Sektoren berufliche Bildung – gerade
unser duales Ausbildungssystem ist noch immer welt-
weit hochanerkannt –, ländliche Entwicklung, städti-
scher Umweltschutz sowie Rohstoffe, Energie, Ressour-
cen- und Klimaschutz.
Mit ressourcenreichen Entwicklungsländern streben
wir weitere Rohstoffpartnerschaften an, die in beidersei-
tigem Interesse liegen. Sie versorgen unsere Wirtschaft
mit den notwendigen Rohstoffen und wir sorgen dafür,
dass durch Transparenz die Erlöse zum Wohle der Men-
schen in den Entwicklungsländern eingesetzt werden.
Wir betrachten die Kooperationsländer der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit als Partner auf Augen-
höhe. Die Förderung nachhaltiger Wirtschaftsentwick-
lung ist der Grundbaustein für Wachstum und Wohl-
stand. Sie ist für unsere Partner Voraussetzung, um sich
aus Armut und Abhängigkeit zu befreien und aus eigener
Kraft eine bessere Zukunft zu gestalten.
Deutschland ist im internationalen Vergleich einer der
größten Geber im bilateralen Schwerpunkt „nachhaltige
Wirtschaftsentwicklung“. Darunter fallen die Maßnah-
men im Bereich der lokalen Privatwirtschaftsförderung.
Und in diesem Sinne kann ich mich nur den Worten
unseres Bundesministers Dirk Niebel anschließen: Es
muss Schluss sein mit Hilfe, die Abhängigkeiten ver-
stärkt!
Heike Hänsel (DIE LINKE): Liest man den Antrag
der Regierungskoalition, glaubt man sich zurück in die
1980er-Jahre versetzt, als der unbedingte Glaube
herrschte, dass sich die Länder des Südens durch mehr
Markt und Auslandsinvestoren automatisch modernisie-
ren und entwickeln würden. Allerdings haben diese An-
nahmen in der Realität einer praktischen Überprüfung
nie standgehalten.
Die großen multinationalen Unternehmen und die Eli-
ten in den Ländern des Südens wurden reicher, während
sich die Armut der Bevölkerung in den Ländern des Sü-
dens noch vertiefte. Wachstum heißt eben nicht, dass die
Mehrheit der Bevölkerung und dazu noch die marginali-
sierten Schichten automatisch davon profitieren. Im Ge-
genteil: Viele Auslandsinvestitionen haben durch Um-
weltzerstörungen, Landgrabbing Armut verschärft. Ich
möchte hier nur ein aktuelles Beispiel erwähnen:
Letzte Woche starben bei einem Brand in einer pakis-
tanischen Textilfabrik mehr als 250 Menschen. Die
Fenster waren vergittert, die Feuerlöscher defekt, und
nun stellt sich auch noch heraus, dass die Fabrik für den
deutschen Textildiscounter kik produzierte. Grundsätz-
lich würde kik alle Lieferanten auf die Erfüllung von Si-
cherheitsstandards und elementaren Arbeitsrechten ver-
pflichten, erklärte ein Unternehmenssprecher, doch die
Einhaltung ist dem Konzern gleichgültig. Arbeitsdruck
und unbezahlte Überstunden waren an der Tagesord-
nung, die Zuliefererfirma war nicht einmal offiziell re-
gistriert. Hier muss es endlich verbindliche gesetzliche
Regelungen geben, die dann auch deutsche Unterneh-
men in solchen Fällen zur Verantwortung ziehen und
auch Entschädigungszahlungen erzwingen.
Die Linke fordert deshalb einen verpflichtenden Men-
schenrechtsschutz mit konkreten Sanktionsmöglichkei-
ten bei den OECD-Leitsätzen für internationale Unter-
nehmen. Die Koalition hat unseren Antrag dazu im
letzten Jahr aber abgelehnt und besteht weiter auf der
freiwilligen Selbstverpflichtung, die sich jedoch als völ-
lig unzureichend erwiesen hat – siehe den Fall kik.
Es gibt viele weitere Fälle von fehlenden sozialen und
ökologischen Standards. Wir haben zum Beispiel eben-
falls auf das größte Stahlwerk Lateinamerikas, Thyssen-
Krupp in Brasilien, hingewiesen, das brasilianische Um-
welt- und Sozialstandards verletzt, Tausende von Fischer
arbeitslos gemacht hat und nun durch den Schadstoffaus-
stoß für massive gesundheitliche Schädigungen in den
umliegenden Gemeinden verantwortlich ist. Es passiert
aber nichts! Da geht es nicht um Entwicklung, sondern
nur um Profitinteressen!
Die Koalition setzt sich für eine Stärkung der öffent-
lich-privaten Partnerschaften, PPP, in der Entwicklungs-
zusammenarbeit, namentlich im Infrastruktur-, Gesund-
heitsbereich und bei Mikrofinanzprogrammen, und
insgesamt für eine stärkere Abstimmung mit der deut-
schen Wirtschaft ein, so etwa die stärkere Beteiligung
von Wirtschaftslobbys an Regierungsverhandlungen und
an der Erarbeitung von Sektorpapieren.
Das ist nichts anderes als Außenwirtschaftsförderung
statt Entwicklungszusammenarbeit, die sich Armuts-
überwindung zum Ziel setzt. Einige Länder des Südens,
vor allem natürlich Schwellenländer, werden als Markt-
und Investitionsplatz betrachtet, die für deutsche Unter-
nehmen geöffnet werden sollen. Der Antrag der Koali-
tion scheint mir daher auch aus der Feder des BDI, des
Bundesverbands der Industrie, zu stammen!
Bei den PPPs machten Investitionen in Bereichen wie
Bildung, Gesundheit und Wasser nämlich bisher nur
15 Prozent am Gesamtaufkommen aus. Das PPP-Pro-
gramm der Bundesregierung schließt auch absurder-
weise gerade die lokale Wirtschaft in den Partnerländern
aus, obwohl es ja wichtig wäre, eigene wirtschaftliche
Strukturen in den Ländern des Südens zu stärken. In
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23629
(A) (C)
(D)(B)
Deutschland kämpfen Millionen Menschen um die Of-
fenlegung von Geheimverträgen und gegen den Verkauf
von Krankenhäusern und anderen öffentlichen Einrich-
tungen. Das wollen wir nicht noch weiter auf die Länder
des Südens ausweiten.
Die Beteiligung privater Finanzunternehmen an Mikro-
finanzprogrammen ist ein unverantwortliches Risiko,
wenn auch Akteure der Finanzwirtschaft hier Profitmög-
lichkeiten wittern. Wirtschaftslobbys sollen bei der in-
haltlichen Ausrichtung der EZ einbezogen werden?
Wirtschaftslobbyisten haben in Ministerien nichts verlo-
ren! Entwicklungszusammenarbeit muss Armutsbe-
kämpfung, soziale Gerechtigkeit und ein Ende der Um-
verteilung von unten nach oben zum Ziel haben und
nicht Lobbyinteressen geopfert werden.
Im Übrigen haben Sie die wichtigen gesellschaftli-
chen Debatten längst verpasst. Nicht nur die Finanzkrise
ist an Ihnen vorbeigegangen, auch die Klimakrise. End-
loses Wirtschaftswachstum ist auf einem endlichen Pla-
neten nicht möglich. Wissenschaftler, zivilgesellschaft-
liche Bündnisse und Globalisierungskritiker entwickeln
Perspektiven jenseits des zerstörerischen Wachstums.
Nur durch eine Abkehr vom diesem Wirtschaftssystem
und dem Wachstumswahn im globalen Norden kann glo-
bale soziale ökologische Gerechtigkeit möglich werden.
Dazu gehören neben dem sozial-ökologischen Umbau,
der demokratischen Kontrolle der Finanzmärkte und der
Deglobalisierung – die Regionalisierung und Lokalisie-
rung von Produktion, Verteilung und Konsum – auch die
Umverteilung und Sicherung des Sozialen.
Die Linke setzt sich für diese alternativen Visionen
einer Entwicklung ein, die zu Umverteilung und zu so-
zialer und ökologischer Gerechtigkeit in den Ländern
des Nordens und Südens führt. Am kommenden Sams-
tag gehen wir zusammen mit vielen anderen gesell-
schaftlichen Gruppen zum bundesweiten Aktionstag
„umFAIRteilen“ auf die Straße – für die Umverteilung
vorhandenen Reichtums, kurz: für die Bekämpfung der
Armut weltweit.
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei die-
ser Überschrift, geschätzte Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition, müsste ich Ihnen eigentlich ein gerüt-
teltes Maß an Naivität unterstellen. Denn so einfach ist
es nicht: „Entwicklung durch Wachstum“, das hat sich in
der Geschichte wiederholt als ein äußerst problemati-
scher Glaubenssatz entlarvt.
Die aktuelle Lage beweist doch, wie desaströs eine
Entwicklung durch Wachstum pur ist. Ich nenne hier als
Beispiel den Bankensektor, der sich unkontrolliert ent-
wickelt und die Staaten in entsetzliche Schuldenfallen
gelockt hat. Ich verweise auf fossile Brennstoffe, die uns
in den Industrieländern einen ungeheuren Wohlstand
durch Wachstum ermöglichen und gleichzeitig unsere
Atmosphäre aufheizen – mit heute schon tödlichen
Folgen in den Entwicklungsländern und mit morgen ein-
treffenden Klimaszenarien von wahrscheinlich katastro-
phalen Dimensionen.
Einige aus der Koalition werden jetzt fragen: Geht es
auch eine Nummer kleiner? Bitte schön, auch in der Ent-
wicklungspolitik selbst gab es Zeiten, da hat man voll
auf Wachstum gesetzt – und sich geirrt. In den 1960ern
war man davon überzeugt, dass wirtschaftliches Wachs-
tum auf jeden Fall Entwicklung nachziehen würde. Die
Idee vom Trickle-down-Effekt hatte Konjunktur, also
vom „Durchsickern“ der Mittel „von oben nach unten“
bis hin zu den einzelnen Bedürftigen. In den 1970ern
wurde aber klar: So funktioniert das nicht.
Wo es zu Wirtschaftswachstum gekommen war, war
dieses sehr unterschiedlich verteilt. Robert McNamara,
der damalige Weltbankpräsident, konstatierte sogar das
Scheitern des Konzepts „Entwicklung durch Wachs-
tum“. Ein breitenwirksames Wachstum für eine nachhal-
tige Entwicklung einer ganzen Gesellschaft ergibt sich
nicht einfach so, nicht ohne eine staatliche Umvertei-
lungspolitik. Deswegen wecken Sie mit diesem Antrag
Hoffnungen, die trügerisch sind.
Hinzu kommt, dass die Koalition eine hohe Anforde-
rung stellt; denn die deutsche Wirtschaft soll einen Bei-
trag zum Erreichen der Millenniumsentwicklungsziele
leisten. So falsch ist das im Grunde nicht; denn natürlich
ist die wirtschaftliche Zusammenarbeit in den letzten
Jahrzehnten immer ein Baustein von Entwicklungszu-
sammenarbeit gewesen. Wir Grüne wissen, dass privates
Engagement dringend benötigt wird. Aber wir setzen
uns dafür ein, dass die Beziehungen auf eine faire und
nachhaltige wirtschaftliche Basis gestellt werden.
Aber Sie ernten von mir auch deshalb scharfe Kritik,
weil die Koalition ihren eigenen Beitrag, nämlich die
Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels, grandios verfehlt und
sogar die Öffentlichkeit täuscht. Minister Dirk Niebel
hat in dieser Koalition niemals ernsthaft daran gedacht,
das 0,7-Prozent-Ziel wirklich in dieser Legislatur auf
den Weg zu bringen. Jetzt diesen Antrag einzubringen,
auch nach dem Motto „Die Wirtschaft wird’s schon rich-
ten“, ist schlichtweg Augenwischerei.
Zum Zweiten tun Sie so, als ob die deutsche Wirt-
schaft einen ernsthaften Beitrag zur Erreichung der
MDG leisten könnte bzw. als ob das so einfach wäre.
Nach allem, was wir von Ihren 30 Wirtschaftsscouts hö-
ren oder was uns die Durchführer der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit berichten, hat es außer viel Lärm bisher
wenig substanzielle Änderungen gegeben. Nach wie vor
stehen wir vor der Problematik, dass viele Unternehmer
sich nicht in dem teilweise riskanten Geschäftsumfeld
eines Entwicklungslandes engagieren wollen. Die typi-
schen mittelständischen Unternehmerinnen und Unter-
nehmer tätigen in ihrem Geschäftsleben vielleicht nur
eine solche Investition. Wie Sie diese Unternehmerinnen
und Unternehmer dabei unterstützen wollen, in einem
Hochrisikoumfeld unter Beachtung sozialer, ökologi-
scher und menschenrechtlicher Standards aktiv zu wer-
den, diese Antwort bleiben Sie schuldig. Dabei wäre das
doch der interessante und entscheidende Punkt.
Außerdem blenden Sie vollkommen aus, welche
Gefahren auch für die Menschen in den Entwicklungs-
ländern durch das Engagement deutscher und europäi-
scher Unternehmen da sind. Da passt es auch ins Bild,
23630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
wenn die Bundesregierung ihre Leitlinien für fragile
Staaten vorlegt, und die Wirtschaftspolitik Deutschlands
und der EU gar nicht darin vorkommen. Die Kriegsfürs-
ten in fragilen Staaten leben von Drogen- und Waffen-
handel, von Rohstoffexporten und Korruption sowie von
internationalen Steueroasen. Doch die Bundesregierung
ist nicht willens, die nötigen Maßnahmen in ihrer Wirt-
schafts- und Finanzpolitik zu ergreifen, um dieser Schat-
tenwirtschaft konsequent einen Riegel vorzuschieben.
Ich finde es sehr richtig, von der Wirtschaft mehr Ein-
satz zu erwarten. Einige Ihrer Vorschläge zielen auch in
die richtige Richtung. Aber Sie müssen sich schon heute
fragen lassen, ob hier nicht ein Popanz aufgebaut wird
und Sie nicht zu viele Hoffnungen auf dieses Pferd
gesetzt haben. An erster Stelle muss doch stehen, wie
wir durch wirtschaftliches Engagement den Menschen
vor Ort nachhaltig helfen können. Zentrales Ziel aller
Maßnahmen, muss sein, den Aufbau der lokalen Privat-
wirtschaft zu fördern. Dafür braucht es einen maßnah-
men- und instrumentenübergreifenden Ansatz, der eine
konfliktsensible Förderung lokaler Wirtschaft bei allen
Lieferungen und Leistungen der deutschen EZ, wie etwa
bei Infrastrukturmaßnahmen, zum Ziel hat. Vor allem
das Konzept des beschäftigungsintensiven Wirtschafts-
aufbaus auch und gerade für Frauen muss durch die
deutsche Entwicklungszusammenarbeit weiter ausge-
baut und stärker mit Fortbildungen verbunden werden.
Von diesen Punkten findet sich in ihrem Antrag jedoch
leider fast gar nichts.
Zum Abschluss. Das Engagement des Mittelstands ist
begrüßenswert. Aber warum muss das Entwicklungs-
ministerium so tun, als ob Außenwirtschaftsförderung
jetzt zu seinen Kernaufgaben gehört? Warum fällt kein
kritisches Wort zu den Ausbeutungssituationen in den
Zulieferbetrieben für den deutschen Markt? Erst vor-
letzte Woche mussten wir erleben, wie bei einem Brand
in einer pakistanischen Textilfabrik 300 Menschen ums
Leben gekommen sind. In dieser Textilfabrik wurde
Kleidung für die kik hergestellt. Hier war „Geiz ist geil“
tödlich. Sie reden von Wirtschaft. Sind aber stumm,
wenn es um die Auswirkungen schädlicher Handels- und
Außenwirtschaftspolitik geht.
Aus all diesen Gründen lehnen wir diesen Antrag ab.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen: Deutschland braucht
dringend eine kohärente Strategie für die zivile
Krisenprävention; zivile Krisenprävention ins
Zentrum deutscher Außenpolitik rücken; res-
sortübergreifende Friedens- und Sicherheits-
strategie entwickeln (Tagesordnungspunkt 19)
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Die hier in der
dritten Lesung zu diskutierenden Anträge haben wir in
den vergangenen Lesungen bereits umfassend kritisiert
und bewertet. Lassen Sie mich daher heute abschließend
noch einige generelle Punkte zum Thema zivile Krisen-
prävention und umfassende Sicherheit machen, die mir
besonders wichtig sind.
Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes und im
Zuge zunehmender globaler Vernetzung aller Lebens-
bereiche ist die Zahl zwischenstaatlicher Kriege zwar
zurückgegangen, aber Verteilungskonflikte haben erheb-
lich zugenommen. Vorrangiges Ziel deutscher Politik ist
und bleibt, dem Ausbruch gewaltsamer Konflikte bereits
durch ziviles Engagement im Vorfeld entgegenzuwirken
und sie wo immer möglich zu verhindern. Deutschland
leistet außerdem einen Beitrag zur Bewältigung von
Konflikten und zur Konfliktnachsorge.
Zivile Krisenprävention genießt nach wie vor hohe
Priorität für die Bundesregierung und spielt eine zentrale
Rolle in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Vertei-
digungspolitik. Dies hat sich in den vergangenen Jahren
nicht geändert – die SPD liegt hier falsch in Ihrer Bewer-
tung. Zivile Krisenprävention ist deshalb aber noch
lange kein Allheilmittel, auch wenn uns die Anträge der
Opposition dies glauben machen wollen. Zivile Krisen-
prävention alleine bringt uns nicht weiter, sondern sie
muss stets ein Element – aber eben nur eines! – in einer
umfassenden Sicherheitsstrategie sein.
Die vorliegenden Anträge fokussieren zu isoliert den
rein zivilen Aspekt, statt das Prinzip umfassender
Sicherheit aufzugreifen und auszudeklinieren. Der An-
satz vernetzter Sicherheit war im letzen Jahrzehnt gut.
Umfassende Sicherheit greift weiter.
Enttäuschende Erfahrungen in der Praxis – nicht zu-
letzt in Afghanistan – haben den Nutzen umfassender
Ansätze in der Vergangenheit infrage gestellt. Vor Ort
müssen Akteure kooperieren, die mit unterschiedlichen
Aufgaben auf der Einsatzebene betraut sind. Differen-
zen in Planung, Rekrutierung und Prioritätensetzung
hemmen die Zusammenarbeit zwischen zivilen und mili-
tärischen Kräften. In internationalen Einsätzen wie in
Afghanistan kann man sehen, wie unterschiedliche
nationale Mandatsvorgaben multinationale militärische
Einsätze beeinträchtigen können. Dennoch gibt es ange-
sichts der komplexen Herausforderungen und Bedrohun-
gen unserer Sicherheit keine Alternative zu vernetzten
Ansätzen.
Umfassende Sicherheit heißt für mich nicht nur
Krisenvor- und -nachsorge, sondern schließt sowohl die
zivilen Friedensdienste als auch Fragen der Entwick-
lungspolitik ein. Wo die militärische Unterstützung der
Krisenbewältigung unausweichlich wird, müssen militä-
rische Mittel mit Instrumenten ziviler und polizeilicher
Konfliktbewältigung zusammenwirken.
Deshalb müssen wir unsere außenpolitischen Strate-
gien und Prioritäten weiterentwickeln. In diesem Zusam-
menhang sollten wir den Blick auf eine übergeordnete
und eine untergeordnete Ebene richten. Auf übergeord-
neter Ebene hat meine Fraktion bereits 2008 eine natio-
nale Sicherheitsstrategie vorgelegt, die sich bedauerli-
cherweise nicht durchsetzen konnte. Dieses Thema
bleibt weiter auf unserer Agenda und wird intensiv dis-
kutiert.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23631
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Wir sollten aber unsere Energien auch auf die unter-
geordnete Ebene richten und nach machbaren Lösungen
suchen, die eine Verbesserung der aktuellen Situation
zum Ziel haben. Was wir momentan unter dem Ober-
begriff zivile Krisenprävention betreiben, ist weniger
Krisenprävention als vielmehr Krisenmanagement. Wie
ich schon im letzten Jahr bei der Debatte dieser Anträge
ausgeführt habe, möchten wir von der Union die Wirk-
samkeit der Mittel ziviler Krisenprävention noch weiter
verbessern. Ich möchte das an einer Reihe von Punkten
darstellen, die ich bereits in meiner Rede 2011 angespro-
chen habe.
Erstens kommt es darauf an, für jede Art von Mission
– egal ob zivil, polizeilich oder militärisch – bereits vor
Entsendung in der Vorbereitung Expertise für kulturelle
Befindlichkeiten zu vermitteln. Das ist eine der Haupt-
lehren aus Afghanistan. Zweitens sind politische Ziele
bereits im Vorfeld auch im VN-Mandat festzulegen. Er-
folg und Misserfolg einer Mission müssen evaluierbar
sein. Das bedeutet, wir brauchen Benchmarks, die im
Vorfeld festgelegt werden müssen. Drittens. Jeder
Einsatz sollte jährlich auf unsere nationalen Interessen
hin überprüft werden. Darüber sollten wir mindestens
einmal jährlich im Parlament diskutieren. Viertens. Zur
rechtzeitigen Aufdeckung von Krisen ist ein Frühwarn-
system erforderlich, zu dem auch Nichtregierungsorga-
nisationen einen wesentlichen Beitrag leisten können.
Fünfter Punkt. Unser Land muss die Voraussetzungen
für mehr Bewerbungen von geeignetem und gut ausge-
bildetem Personal schaffen. Sechstens müssen wir dafür
Sorge tragen, vernetztes Denken in den Köpfen von
Diplomaten, Soldaten, Referenten der Fachministerien
und im Friedensdienst zu verankern. Dazu brauchen wir
mehr gemeinsame Schulungen oder Ausbildungen. Die
umfassende rechtzeitige Zusammenarbeit aller Akteure,
aber auch Kooperation und Absprache der zivilen Part-
ner untereinander wie auch mit der lokalen Bevölkerung
sind dafür Voraussetzungen. Eine geeignete internatio-
nale Plattform sind Regionalkonferenzen; national soll-
ten wir unsere Bundesakademie für Sicherheitspolitik
aufwerten, wie ich in meiner Rede 2011 bereits ausge-
führt habe.
Statt also einseitig die zivile Krisenprävention ins
Zentrum deutscher Außenpolitik zu rücken, sollten wir
weiter an einem umfassenden und schlüssigen sicher-
heitspolitischen Ansatz arbeiten. Eine sicherheitspoliti-
sche Generaldebatte, die durch eine Regierungserklä-
rung begleitet würde, wäre hier ein sehr bedeutsamer
Schritt in die richtige Richtung.
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Auf dem Gebiet
der zivilen Krisenprävention hat sich in den letzten Jah-
ren viel getan. Dies ist den Entwicklungen und Anforde-
rungen der modernen Außen-, Sicherheits- und Entwick-
lungspolitik geschuldet.
Krisenprävention als Schnittstelle dieser Politiken
basiert heute im Sinne der vernetzten Sicherheit auf
einem breit angelegten Konzept, das den komplexen
Ursachen von Krisen mit differenzierten Ansätzen
begegnet. Ein wesentlicher Schlüssel zu einer erfolg-
reichen Krisenprävention ist dabei eine möglichst früh-
zeitige, möglichst rasche und möglichst effiziente res-
sortübergreifende Zusammenarbeit.
In diesem Zusammenhang ist der Aktionsplan „Zivile
Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedens-
konsolidierung“ aus dem Jahr 2004 eine wichtige
Grundlage für eine pragmatische, effiziente Krisenprä-
vention. Mit ihm wurde der zivilen Krisenprävention
und dem zivilen Krisenmanagement eine zentrale Rolle
in der Außen-, Sicherheits-, und Entwicklungspolitik
Deutschlands zuerkannt. Erstmals wurden das gesamte
Spektrum von Ansätzen zur Krisenprävention dargelegt,
Handlungsoptionen und konkrete Maßnahmen aufge-
zeigt und die Zusammenarbeit aller Ressorts, insbeson-
dere durch einen verbesserten Informationsaustausch,
intensiviert.
Wenn die Kollegen der SPD und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen an diesem Ansatz einen Mangel an
einer einheitlichen, übergreifenden Strategie kritisieren,
so kann ich dem nur entgegnen: Auf die Umsetzung die-
ses Aktionsplans kommt es an. Die Praxis hat gezeigt,
dass in den letzten Jahren die engen Abstimmungspro-
zesse zwischen den Ressorts wesentlich dazu beigetragen
haben, dass das Konzept der vernetzten Sicherheit mehr
und mehr zur Normalität und maßgeblich für das Denken
und Handeln der Verantwortlichen geworden ist.
Auch jenseits der ressortübergreifenden Zusammen-
arbeit sind bezüglich der Umsetzung des Aktionsplans
wesentliche Erfolge zu verzeichnen, die ich hier nur
schlaglichtartig ansprechen kann.
So ist mit der Gründung der Deutschen Stiftung für
Friedensforschung, DSF, im Jahr 2000 ein wichtiger
Beitrag zur internationalen Friedensforschung geglückt.
Hervorzuheben ist insbesondere das jährliche Friedens-
gutachten, ein Kooperationsprojekt deutscher Friedens-
forschungsinstitute, das Analysen über aktuelle inter-
nationale Konfliktdynamiken und friedenspolitische
Entwicklungen sowie Handlungsoptionen für die deut-
sche und europäische Friedenspolitik aufzeigt.
Ferner haben wir erst vor Kurzem das zehnjährige
Bestehen des Zentrums für Internationale Friedensein-
sätze, ZIF, feiern können. Das ZIF ist heute ein solider
Pfeiler deutscher ziviler Krisenprävention. Derzeit ste-
hen im ZIF-Expertenpool über 1 200 Expertinnen und
Experten mit einem weiten Spektrum an Fähigkeiten und
Erfahrungen für Wahlbeobachtungen oder Friedensein-
sätze zur Verfügung. Rund 200 von ihnen arbeiten ge-
rade für die UN, die EU oder die OSZE. Insgesamt
kamen in den letzten zehn Jahren in über 140 Wahlbeob-
achtermissionen der EU und der OSZE bereits insgesamt
mehr als 3 100 Expertinnen und Experten zum Einsatz.
Auch der Kritik der Opposition, die Mittel für zivile
Krisenpolitik würden gekürzt, muss ich widersprechen.
Allein im Bereich der Entwicklungspolitik als einem
wichtigen Eckpfeiler der zivilen Krisenprävention sind
dieses Jahr über 100 Millionen Euro zusätzlich einge-
stellt worden. Hinzu kommen beispielsweise weitere
50 Millionen Euro aus den Mitteln des Auswärtigen
23632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
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Amts für die Förderung der Demokratisierungsprozesse
in Nordafrika und im Nahen Osten.
Nichtsdestoweniger bleibt noch viel zu tun. In diesem
Punkt sind wir uns einig, auch wenn wir einen eher prag-
matischen, ergebnisorientierten Ansatz bevorzugen.
So haben wir beispielsweise bereits seitens unserer
Fraktion vorgeschlagen, die Bundesakademie für Sicher-
heitspolitik, BAKS, die seit Jahren wertvolle Arbeit im
Bereich der Weiterbildung und Vernetzung aller relevan-
ter sicherheitspolitischer Akteure leistet, enger mit dem
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, BMZ, zu verbinden, sie weiter auszu-
bauen und national noch stärker aufzuwerten.
Essenziell ist auch – hier möchte ich den Punkt aus
den Anträgen der Opposition aufgreifen –, ein effizien-
tes Frühwarnsystem, das alle relevanten Informationen
verarbeitet und eine zuverlässige Basis für politische
Entscheidungen bietet. Hier herrscht noch Handlungsbe-
darf; da sind wir uns fraktionsübergreifend einig.
Wie wir sehen, gibt es Ansatzpunkte für eine frak-
tionsübergreifende Debatte zur zivilen Krisenprävention,
die wir im Sinne einer effizienten zivilen Krisenpräven-
tion gemeinsam führen sollten.
Edelgard Bulmahn (SPD): In der politischen wie
auch der wissenschaftlich-fachlichen Debatte ist immer
wieder festzustellen, wie schwierig es ist, die Erfolge
ziviler Krisenprävention öffentlich darzustellen. Waren
die ergriffenen Instrumente nämlich erfolgreich, kommt
es eben nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen
zwischen den Konfliktparteien, die dann auch das medi-
ale Interesse wecken. Etwas anders verhält es sich da
allerdings mit der Darstellung der Erfolge der schwarz-
gelben Bundesregierung in diesem Bereich. Diese wer-
den nicht öffentlich diskutiert, nicht weil sie nicht sicht-
bar sind, sondern weil es sie schlicht und ergreifend
nicht gibt.
Bis heute ist es von der Regierungskoalition und Au-
ßenminister Westerwelle verschlafen worden, das deut-
sche Engagement für Friedensförderung und Konflikt-
transformation weiterzuentwickeln und damit an die
Erfolge rot-grüner Außen- und Friedenspolitik anzu-
knüpfen. Die dringende Aufgabe, das deutsche Engage-
ment für Friedensförderung und Konflikttransformation
auch international zu stärken und weiterzuentwickeln,
wird von dieser Bundesregierung sträflich vernachläs-
sigt. Statt außenpolitische Fehler zu korrigieren und den
eigenen Ankündigungen endlich selbst Folge zu leisten,
geschieht genau das Gegenteil.
Mit dem Gesamtkonzept und dem Aktionsplan „Zi-
vile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskon-
solidierung“ wurde in den Jahren 2000 und 2004 die Be-
deutung einer primär auf friedliche Mittel und
Ressourcen setzenden deutschen Außenpolitik unterstri-
chen. Eine Vielzahl wichtiger Maßnahmen wurde entwi-
ckelt, und entscheidende Impulse wurden gesetzt. Den-
noch gelang es nicht, darauf aufbauend eine
weiterführende Strategie zu entwickeln. Wir müssen
selbstkritisch feststellen, dass zu sehr vor allem adminis-
trative und ressortspezifische Fragen im Vordergrund
standen und es eine Bestimmung der eigentlichen Inte-
ressen und Ziele einer solchen Politik nicht gegeben hat.
Mit ihrem Antrag hat die SPD-Bundestagsfraktion
bereits im Januar 2011 auf diesen Missstand aufmerk-
sam gemacht und eine ressortübergreifend abgestimmte
deutsche Strategie für die zivile Krisenprävention, die
Friedensförderung und die Konflikttransformation ein-
gefordert. Dabei haben wir unterstrichen, dass vor dem
Hintergrund sich verändernder Formen von Konflikten
und einer Zunahme der tieferliegenden Konfliktursachen
eine solche Strategie nicht nur die strategische Ausrich-
tung des Auswärtigen Amtes beschreiben darf, sondern
zu einer Strategie der gesamten deutschen Bundesregie-
rung weiterentwickelt werden muss.
Waren Krieg und militärische Auseinandersetzungen
in der Vergangenheit geprägt durch Grenzkonflikte,
Hegemonialansprüche, widerstreitende Wirtschaftsinter-
essen oder ethnopolitisch und religiös aufgeheizte Kon-
flikte, so sind spätestens mit dem Ende des Kalten Krie-
ges weitere Ursachen hinzugekommen: Staatszerfall und
die Entstaatlichung von Gewalt durch asymmetrische
Konflikte, Genozid und Massenvertreibungen, Terroris-
mus, organisierte Kriminalität, Hunger, Migration und
Verteilungskonflikte um Ressourcen. All diese Ursachen
bringen neue Herausforderungen für das nationale wie
internationale Handeln mit sich, die nicht alleine mit den
traditionellen Mitteln der Diplomatie gelöst werden kön-
nen. Wir müssen diesen Herausforderungen zusätzlich
auch mit Instrumenten der Entwicklungspolitik, der Um-
welt-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik begegnen. Er-
folgreiches Handeln setzt deshalb eine übergreifende
Strategie voraus, die nicht an den Ressortgrenzen halt-
machen darf.
Was seit dem Januar 2011 vonseiten der Bundesregie-
rung geschehen ist, lässt sich leider in wenigen Worten
beschreiben: Der Entwurf für den kommenden Bundes-
haushalt zeigt die Orientierungs- und Strategielosigkeit
der Bundesregierung. Für das kommende Jahr setzt
Außenminister Westerwelle erneut bei den Maßnahmen
zur Sicherung von Frieden und Stabilität den Rotstift an.
Alleine für den Bereich der zivilen Krisenprävention und
der Friedenserhaltung sollen statt 120 Millionen Euro in
diesem Jahr 2013 nur noch 94 Millionen Euro zur Verfü-
gung stehen. Schon 120 Millionen Euro sind eine lächer-
lich geringe Summe im Vergleich zu den Milliarden-
beträgen, die aufgebracht werden müssen, wenn
Konflikte so eskalieren, dass militärische Interventionen
oder umfassende zivile Wiederaufbaumaßnahmen finan-
ziert werden müssen. 120 Millionen Euro dann aber
noch einmal auf 94 Millionen Euro zusammenzustrei-
chen, zeigt, dass die Bundesregierung ziviler Krisen-
prävention und Friedenserhaltung keine Bedeutung bei-
misst. Das ist die bittere Erkenntnis, die man aus diesen
Kürzungen ziehen muss. Zusätzlich werden der Zick-
zackkurs und ein Auf und Ab in den Haushaltsansätzen
fortgesetzt. Das hat fatale Konsequenzen: Wichtige
Chancen zur Friedenssicherung und Konfliktlösung wer-
den einfach vertan. Und die Verlässlichkeit gegenüber
unseren internationalen Partnern leidet.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23633
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In dieser Legislaturperiode haben wir mit dem Unter-
ausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Si-
cherheit“ erstmals ein parlamentarisches Gremium ein-
gerichtet, das die Mitwirkung und Kontrolle in diesem
so wichtigen Feld deutscher Außen- und Sicherheitspoli-
tik erheblich stärkt. Themen und Problemstellungen
können häufig in einem sehr konstruktiven Dialog auch
über Fraktionsgrenzen hinweg miteinander besprochen
und gemeinsame Initiativen entwickelt werden. Leider
laufen entscheidende Weichenstellungen und Initiativen
dann aber doch oftmals ins Leere, weil die Unterstüt-
zung der Mitglieder der Koalition im Unterausschuss
durch ihre Fraktionen fehlt. Vor dem Hintergrund der
Untätigkeit der Bundesregierung wäre aber eine noch
stärkere parlamentarische Initiative sehr wünschenswert.
Mit unserem Antrag haben wir keine fertigen Ant-
worten formuliert, aber wir haben Wege aufgezeigt, wie
wir zu einer umfassenden außen-, sicherheits- und frie-
denspolitischen Strategie Deutschlands kommen kön-
nen, die primär auf zivile Mittel setzt. Wir werden diese
Wege weiter gehen, auch wenn sie für die derzeitige
Bundesregierung offensichtlich zu steinig und mühevoll
sind.
Joachim Spatz (FDP): Deutsche Außen- und Si-
cherheitspolitik ist Friedenspolitik. Daran hat sich auch
unter der schwarz-gelben Bundesregierung nichts geän-
dert. Im Gegenteil: Ich bin dem Außenminister sehr
dankbar, dass er das Profil unseres Landes in diesem
Bereich weiter gestärkt hat. Die jüngsten Aktivitäten
Deutschlands im Vorsitz des UN-Sicherheitsrats sind
dafür beredtes Beispiel. Man kann mit Fug und Recht
behaupten, dass Deutschland in Sachen neuer außenpoli-
tischer Konzepte eine Führungsrolle übernommen hat.
Gerade vor dem Hintergrund der Umwälzungen im
Nahen Osten und in Nordafrika ist eine differenzierte
Herangehensweise an komplexe Fragestellungen mehr
als angeraten.
Zwei Beispiele: Die in unmittelbarer Reaktion auf
den arabischen Frühling eingerichtete Transformations-
partnerschaft der Bundesregierung für Bildung, Arbeits-
plätze und Wachstum in der MENA-Region verdeutlicht
den Willen Deutschlands, einer Region im Umbruch
jene Stabilität zu verleihen, um eine Eskalation in der
häufig als „Krisenbogen“ bezeichneten Region zu ver-
hindern. Zudem zeigt vor allem der unter Vorsitz des
deutschen Außenministers erreichte erfolgreiche Ab-
schluss einer Präsidentiellen Erklärung des Sicherheits-
rats für eine verstärkte Kooperation zwischen den
Vereinten Nationen und der Arabischen Liga, dass die
Bundesregierung die entscheidenden Herausforderungen
erkannt hat. Nachhaltiger Frieden in der unmittelbaren
Nachbarschaft der Europäischen Union ist nur dann zu
erreichen, wenn es gelingt, stabile Brücken zwischen
den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens zu bauen.
Dafür bedarf es stabiler Fundamente, deren Grundsteine
auch mit deutscher Hilfe gelegt werden. Dabei geht es
nicht darum, einem anderen Kulturkreis unsere Vorstel-
lungen von Zusammenleben und unser Weltbild aufzu-
oktroyieren. Das Prinzip der Ownership, die Freiheit
junger politischer Systeme, ihre eigenen Entwicklungs-
wege zu gehen, ist unserer Ansicht nach Bedingung für
einen Weg hin zu einem Gesellschaftssystem, das auch
von den nach Freiheit und Selbstbestimmung strebenden
jungen Menschen akzeptiert wird. Diesen Weg begleiten
wir und stehen mit Rat und Tat zur Seite, um die Länder
und Völker zu ertüchtigen, ihre Angelegenheiten selbst
zu regeln.
Der Unterausschuss Zivile Krisenprävention und ver-
netzte Sicherheit hat sich im Laufe der 17. Wahlperiode
sehr intensiv mit den verschiedensten Aspekten des
Krisen- und Konfliktmanagements auseinandergesetzt.
Zur Mitte der Legislaturperiode mündeten die dabei ge-
wonnen Erkenntnisse in einen Zwischenbericht, der, mit
zahlreichen Empfehlungen versehen, der Bundesregie-
rung zugeleitet wurde. Als Vorsitzender des Unteraus-
schusses und Vertreter der FDP-Bundestagsfraktion in
diesem Gremium erfüllt es mich mit großer Freude, dass
die Arbeit von Parlament und Bundesregierung in
diesem Bereich nahezu komplementär verläuft. Mit der
Vorlage des Konzepts der Bunderegierung zum Umgang
mit fragilen Staaten und der deutschen Agenda im VN-
Sicherheitsrat werden genau jene Prinzipien und Maß-
nahmen angegangen und umgesetzt, die vonseiten der
schwarz-gelben Koalition mit erdacht und an zahlrei-
chen Stellen proklamiert werden: deutsche Außen- und
Sicherheitspolitik klar auf zivile Mittel ausrichten, poli-
tische und diplomatische Bemühungen an die erste Stelle
setzen, vorrangig zur Lösung von Konflikten nichtmili-
tärische Mittel einsetzen. Dass sich dahinter nicht nur
leere Worte verbergen, hat sich in der deutschen Stand-
haftigkeit gegenüber einem Eingreifen in Libyen mani-
festiert. Für diese konsequente Haltung – gerade auch in
schwieriger Debatte mit der Opposition – möchte ich an
dieser Stelle der Bunderegierung und ausdrücklich unse-
rem Außenminister nochmals danken.
Eine weitere Erkenntnis aus der Arbeit im Unteraus-
schuss: Um in komplexen Krisenszenarien eine ausrei-
chende Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten, benöti-
gen wir den kompletten Instrumentenkasten, um je nach
Herausforderung die richtigen Werkzeuge zur Hand zu
haben – ganz im Sinne des umfassenden Ansatzes. Dazu
gehört auch das Vorhalten ausreichender militärischer
Mittel, die im schlimmsten Fall auch zum Einsatz ge-
bracht werden. Ich würde mir wünschen, dass dieser
Fakt in der Debatte zukünftig den Stellenwert einnähme,
den er verdient, damit die circa 7 000 deutschen Solda-
tinnen und Soldaten unserer Bundeswehr, die sich der-
zeit in Auslandseinsätzen befinden, jene Anerkennung
erhalten, die sie aus unserer Sicht zweifelsohne verdie-
nen. Gleiches gilt für die zahlreichen zivil engagierten
Deutschen in Krisen- und Konfliktregionen der Welt.
Auch ihnen gilt mein besonderer Dank für ihren schwie-
rigen und leider oft auch gefährlichen Einsatz für Frie-
den und Sicherheit in der Welt.
Die vorliegenden Anträge der Fraktionen Bündnis 90/
Die Grünen und der SPD sind unserer Ansicht nach ob-
solet und werden folgerichtig abgelehnt. Der von Ihnen
behaupteten Konzeptionslosigkeit und mangelnden
Kohärenz der Bundesregierung halte ich gerne das
umfassende Engagement der Bunderegierung entgegen.
Dieses beinhaltet neue Instrumente, wie die Transforma-
tionspartnerschaft, die erfolgte thematische Schwer-
23634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
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punktsetzung, etwa auf das Problem von Kindern in
bewaffneten Konflikten, die institutionellen Veränderun-
gen, wie zum Beispiel die Schaffung der Länder-Task-
Forces, zum Beispiel zu Mali und Syrien, oder die
Entwicklung neuer Kooperationsformen, wie die Unter-
stützung kontinentaler und regionaler Kooperationen
wie die Afrikanische Union oder die bereits eingangs er-
wähnte Arabische Liga.
Manche Empfehlungen aus dem Zwischenbericht
warten freilich noch auf ihre Umsetzung. Allerdings war
von Anfang an klar, dass manche Veränderungen schnell
vorgenommen werden können, andere wiederum etwas
mehr Zeit in Anspruch nehmen werden. Insgesamt sind
wir aber zweifelsohne auf einem guten Weg. Ich bin zu-
dem der festen Überzeugung, dass wir, wenn wir uns
dem Themenbereich weiterhin mit der gebotenen Inten-
sität widmen, den umfassenden Ansatz weiter stärken
und der Krisenprävention zu jenem Stellenwert verhel-
fen, den sie verdient.
Kathrin Vogler (DIE LINKE): Aus meiner Sicht
steht im Fokus der drei hier vorliegenden Anträge die
Wiederbelebung und Weiterentwicklung des Aktions-
plans „Zivile Krisenprävention“. Trotz einer ganzen
Reihe von Details, die ich am Aktionsplan kritisiere,
geht das in die richtige Richtung. Aber zivile Konflikt-
bearbeitung kann nur zum Maßstab deutscher Außen-
politik werden, wenn sie von einer klaren Absage an
Krieg begleitet wird. Und davon sind die Kolleginnen
und Kollegen von SPD und Grünen weit entfernt. Und
deswegen können wir Ihren Anträgen so nicht zustim-
men.
Ich muss hier nicht betonen, dass es einen gravieren-
den Unterschied gibt zwischen den Positionen von CDU/
CSU, FDP, SPD und Grünen auf der einen Seite und der
Position der Linken. Die Linke lehnt alle Kampfeinsätze
der Bundeswehr ab. Mir ist natürlich aufgefallen, dass
beide Anträge der Grünen, über die heute beraten wird,
betonen, dass „die Versuche der militärischen Krisenbe-
wältigung der zurückliegenden Jahre“ gezeigt hätten,
„dass deren Potential zur Bearbeitung von Konflikten
maßlos überschätzt“ worden ist. Das muss Ihnen wichtig
gewesen sein. Ich möchte aber doch einmal nachfragen,
wer es denn gewesen ist, der das Potenzial überschätzt
hat? Wer hat denn die Bundeswehr in den ersten Kampf-
einsatz seit 1945, den Angriffskrieg gegen Jugoslawien
1999, geschickt? Wer hat denn die Bundesrepublik in
den Afghanistan-Krieg verstrickt? Es war eine rot-grüne
Bundesregierung. Und Sie haben leider nichts dazuge-
lernt. Bei Libyen waren es Sozialdemokraten und Grüne,
die für eine deutsche Kriegsbeteiligung geworben haben.
Wie kann man überhaupt über „do no harm“ schrei-
ben, also das Prinzip, dass die eigenen Maßnahmen nicht
unbeabsichtigt mehr schaden als nutzen, und dann Mili-
täreinsätze nicht kategorisch ausschließen? Militär darf
kein Mittel der Außenpolitik sein; denn sonst werden die
ganzen zivilen Instrumente im Rahmen einer Strategie,
wie Rot-Grün sie hier vorschlägt, mag sie auch Friedens-
strategie heißen, zu einer Abfederung der Kriegführung
verkommen. Und folgerichtig kann sich der SPD-Antrag
noch nicht einmal zu einer konsequenten Absage an die
verhängnisvolle Strategie der vernetzten Sicherheit
durchringen. So kriegen Sie keine Kohärenz hin. So be-
steht immer die Gefahr, dass die zivilen Instrumente
dann das Desaster einfangen sollen, das mit den west-
lichen Interventionen angerichtet worden ist.
Eine wirkliche zivile Außenpolitik setzt den Verzicht
auf den Einsatz der Bundeswehr voraus. Und dann sollten
Sie vielleicht noch einmal über eine Außenwirtschafts-
politik nachdenken, die nicht vor allem darauf gerichtet
ist, die ökonomische Schwäche anderer Länder zum Nut-
zen der deutschen Industrie auszubeuten. Dadurch wäre
das Problem mangelnder Kohärenz der Außenpolitik nur
noch halb so groß. Wenn dann noch, wie von Ihnen ge-
fordert, die Instrumente der zivilen Konfliktbearbeitung
ausgebaut und verlässlich finanziert wären, egal ob sie
zivilgesellschaftlich oder staatlich getragen sind, dann
wäre die Bundesrepublik auf dem Weg zu einer fried-
lichen Außenpolitik ein großes Stück weiter.
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wenn Deutschland und die übrigen 192 UNO-
Staaten jetzt in der Generalversammlung in New York
wieder einmal über Syrien, über die Unterstützung des
arabischen Frühlings und über Reformen in der UNO
diskutieren, dann stellt sich besonders für Deutschland
als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat immer auch
die Frage: Was konkret will Deutschland dazu beitragen,
um Gewaltkrisen künftig wirksamer vorzubeugen? Das
zumindest hat sich die Bundesregierung in ihrem Kon-
zept „Globalisierung gestalten“ selbst als Schwerpunkt
auf die Fahnen geschrieben. Doch konkrete Antworten
bleibt sie weiterhin schuldig, und das, obwohl es im
Aktionsplan Zivile Krisenprävention, den wir 2004 unter
Rot-Grün auf den Weg gebracht hatten, dafür genug
Anknüpfungspunkte gibt. Seit Jahren aber macht
Schwarz-Gelb nichts zur Weiterentwicklung des
Aktionsplans, hat ihn stattdessen zur Werbebroschüre
degradiert. Den Ressortkreis und den Beirat Zivile
Krisenprävention hat die Bundesregierung ins Abseits
gestellt. Politisch hat er nichts zu melden. Stattdessen
verkauft sie altbekannte Ressortrunden als neue Ad-hoc-
Taskforces.
Der Bundesregierung reicht es offenbar, sich mit dem
Etikett „Aktionsplan“ zu schmücken, ihn allein der Form
halber zu erwähnen wie jüngst in ihren „Leitlinien für
fragile Staaten“. Eine kritische Bewertung der bisherigen
Arbeit des Ressortkreises und eine Auseinandersetzung
mit den vergangenen Krisenerfahrungen bleiben so auf
der Strecke. Die Vorschläge zur Weiterentwicklung des
Aktionsplans kommen nicht etwa von der Bundesregie-
rung, sondern vom Parlament, vom neuen Unteraus-
schuss Zivile Krisenprävention. Dieser Unterausschuss
war es, der einen Zwischenbericht vorgelegt hat und ein
neues, kritischeres Berichtsverfahren zum Aktionsplan
ausgearbeitet hat. Es ist zwar gut, dass so Bewegung in
die Sache kommt, aber das kann nicht das Handeln der
Regierung ersetzen.
Sie haben keinen Kompass für die Krisenprävention.
Deshalb irren Sie hier orientierungslos durch die Weltge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23635
(A) (C)
(D)(B)
schichte. Wozu das führt, hat uns der arabische Frühling
gezeigt: Auf die Schnelle mussten Sie mit der Transfor-
mationspartnerschaft einen neuen Experimentierkasten
zum Friedensaufbau aus dem Boden stampfen, weil man
zuvor blind die Gaddafis und Ben Alis gefördert hatte,
statt Menschenrechte und demokratische Teilhabe syste-
matisch zu stärken.
Deutliche Spuren hinterlässt diese falsche Politik je-
des Jahr auch im Haushalt. Seit Jahren fahren Titel der
Zivilen Krisenprävention Achterbahn. Auch in diesem
Jahr sind dafür wieder 26 Millionen Euro weniger im
Haushalt des AA eingestellt. Anstatt den Zivilen Frie-
densdienst auszubauen, wie es Ihre letzte Evaluierung
selbst nahelegt, stecken sie weiterhin lieber viel Geld in
fragwürdige Programme wie „weltwärts“, die meist
nicht mehr als Werbeträger für das BMZ sind. Gleichzei-
tig zerschlagen sie über Nacht bewährte Instrumente wie
die ENÜH mit einer Vereinbarung zwischen AA und
BMZ. Noch immer ist die Regierung nicht in der Lage,
im Haushalt abzubilden, was sie zur Krisenprävention
zählt, obwohl dies ODA-relevante Mittel sind, die das
BMZ zwar koordinieren soll, es aber offensichtlich nicht
richtig macht. Auf dieser Basis können Instrumente
nicht systematisch aufgebaut werden und wirken,
können Durchführungsorganisationen und NGOs nicht
planen. So kann es keine nachhaltige Präventionspolitik
geben.
Das alles zeigt: Die Bundesregierung hat keine strate-
gische Priorität für die zivile Krisenprävention. Das ist
besonders bedauerlich, da wir aktuell wieder einmal im
Sicherheitsrat sitzen, während die UNO mit ihrem „New
Horizon“-Reformprozess besonders die zivile Krisen-
prävention stärken will. Das muss sich dringend ändern.
Das sehen wir so, das sieht der Unterausschuss so, und
da stimmen wir in vielen Punkten mit den Kolleginnen
und Kollegen der SPD überein, weshalb wir heute auch
ihrem Antrag zustimmen werden.
Nur die Bundesregierung sieht das offenbar anders.
Deutschland braucht wieder einen Kompass für die Kri-
senprävention. Dazu müssen wir den Aktionsplan – ähn-
lich wie es bei der EU seit langem der Fall ist – zu einem
nationalen zivilen Planziel weiterentwickeln, das regel-
mäßig angepasst wird und sich am Bedarf von EU und
UNO orientiert. Anders können wir Konfliktländer nicht
angemessen beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und
Demokratie unterstützen. Gleichzeitig muss ein solches
Planziel aber auch klare Priorität im Rahmen einer neuen
ressortübergreifenden Friedens- und Sicherheitsstrate-
gie haben. Dafür werben wir heute auch mit unserem
zweiten Antrag um Zustimmung.
Wir müssen künftig viel stärker auf präventive Frie-
densmissionen nach Kapitel VI der UNO-Satzung zu-
rückgreifen, mehr auf Diplomatie und Vermittlung durch
Sondergesandte und auf Untersuchungsmissionen. Ent-
scheidend hierbei wird sein, dass wir schnell und im nöti-
gen Umfang auf Konfliktvermittlerinnen und -vermittler,
Polizei-, Rechts- und Verwaltungsexpertinnen und -exper-
ten zurückgreifen können. Deshalb ist der Ausbau von
Personalpools so wichtig. Dabei sollten wir auf die Er-
fahrungen des ZIF zurückgreifen.
Strategische Priorität heißt auch, dass Krisenpräven-
tion eine politische Führung erhält. Für uns heißt das:
Der Ressortkreis braucht eine politische Führung. Das
heißt, diese müsste im Range eines Staatsministers bzw.
einer Staatsministerin sein, und er braucht eigene
Finanzmittel für ressortübergreifende Projekte. Deshalb
fordern wir auch in den aktuellen Haushaltsverhandlun-
gen wieder die Zusammenlegung von mindestens
100 Millionen Euro aus dem AA, BMZ, BMVg und
BMI sowie eine generelle Anhebung der Krisenpräven-
tionsmittel. Das gebietet schon unsere völkerrechtliche
Verpflichtung zur Einhaltung des ODA-Aufholplans.
Schließlich sollten wir endlich die besondere Exper-
tise aus der Zivilgesellschaft und Wissenschaft besser
nutzen. Zivile Akteure sollten frühzeitig bei der Ausar-
beitung von Strategien und Zielen eingebunden werden.
Hierzu müssen wir vor allem den Beirat aufwerten und
eine breite Diskussion über sein Mandat anstoßen.
Wir müssen die zivile Krisenprävention wieder ins
Zentrum deutscher Außenpolitik rücken. Das ist die
Aufgabe, der wir uns stellen müssen, wenn wir Deutsch-
land ernsthaft als zivile Friedensmacht in Position brin-
gen wollen. Deshalb werbe ich heute um breite Zustim-
mung für unsere Anträge.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Energiesteuer- und des
Stromsteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 20)
Norbert Schindler (CDU/CSU): Wir befassen uns
heute erstmalig mit dem Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung zur Änderung des Energiesteuer- und Stromsteuer-
gesetzes, die zwingend notwendig ist, um eine Nachfol-
geregelung für die bestehenden Steuerbegünstigungen für
Unternehmen des Produzierenden Gewerbes zu generie-
ren. Der sogenannte Spitzenausgleich, der im Rahmen
der ökologischen Steuerreform über die Parteigrenzen
hinweg eingeführt worden ist, ist von der EU-Kommis-
sion beihilferechtlich nämlich nur bis 31. Dezember 2012
genehmigt und würde ohne Nachfolgeregelung ersatzlos
wegfallen.
Der mit dem Gesetzentwurf vorgeschlagene Schritt,
eine Nachfolgeregelung für den Spitzenausgleich, der
bisher in § 55 des Energiesteuergesetzes und in § 10 des
Stromsteuergesetzes verankert ist, einzuführen, soll die
Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in die Stetigkeit der
deutschen Politik bestärken. Auch bei dieser Regelung,
wie schon beim bisherigen Spitzenausgleich, der im Zu-
sammenhang mit der Klimaschutzvereinbarung der Bun-
desregierung mit der deutschen Wirtschaft zur Klima-
vorsorge im Jahr 2000 beschlossen wurde, ist die
Voraussetzung eine Erhöhung der Energieeffizienz des
Produzierenden Gewerbes. Diese soll nach einem in ei-
ner neuen Vereinbarung zwischen der Bundesregierung
und der deutschen Wirtschaft vom 1. August 2012 fest-
gelegten Verfahren geregelt werden.
23636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
Dafür müssen die circa 25 000 betroffenen Unterneh-
men des Produzierenden Gewerbes, wenn sie vom Spit-
zenausgleich profitieren möchten, Energie- und Umwelt-
managementsysteme einführen und die Verbesserung der
Energieeffizienz nachweisen. Um den Aufwand für klei-
nere und mittlere Unternehmen nicht ausufern zu lassen,
können diese anstelle der Managementsysteme alterna-
tive Systeme zur Verbesserung der Energieeffizienz be-
treiben, die gewissen Anforderungen nach DIN EN
16247-1 entsprechen. Ein entsprechender Aufwand in
den einzelnen Unternehmen, der in den ersten drei Jah-
ren auf jährlich 150 bis 250 Millionen Euro geschätzt
wird, armortisiert sich sicherlich innerhalb der prognos-
tizierten Laufzeit der Vereinbarung dieser Nachfolgere-
gelung für den Spitzenausgleich.
Nach der Vereinbarung mit der deutschen Wirtschaft
sollen für die Gewährung des Spitzenausgleichs die Errei-
chung des Zielpfades zur Reduzierung der Energieintensi-
tät und ab 2016 die Anwendung eines erfolgreich imple-
mentierten Energiemanagementsystems Voraussetzung
sein. Die Zielwerte der jährlichen Reduzierung des Ener-
gieverbrauchs für die Antragsjahre 2015 bis 2018 belau-
fen sich auf jeweils 1,3 Prozent, was sehr niedrig er-
scheint, aber durchaus begründbar ist: Niedrig deshalb,
weil allein der technische Fortschritt eine solche Reduzie-
rung der Energieintensität quasi vorgibt; begründbar, da
der spezifische Energieverbrauch eines Produzierenden
Gewerbes nicht allein von den getroffenen Maßnahmen
im technischen Bereich, sondern auch von anderen Fak-
toren wie Auslastungsschwankungen der Produktionska-
pazitäten, sektoralen Strukturveränderungen oder auch
sonstigen Veränderungen der Rahmenbedingungen ab-
hängt.
In der zusammenfassenden Betrachtung des Gesetz-
entwurfs und der zugrunde liegenden Vereinbarung zwi-
schen der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft
zur Steigerung der Energieeffizienz erscheinen beide ge-
eignet, einerseits die Verlagerung von Produktionen in
Drittstaaten mit weniger strengen Klima- und Umwelt-
schutzauflagen zu vermeiden oder zumindest nicht zu
forcieren. Andererseits stehen die angestrebten Maßnah-
men im Einklang mit der Nachhaltigkeitsstrategie der
Bundesregierung, indem sie Anreize zu einem schonen-
deren Umgang mit Energieressourcen bieten. Damit leis-
ten auch sie einen deutlichen Beitrag zur Energiewende.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Koali-
tionsfraktionen setzen mit diesem Gesetzentwurf einen
deutlichen Anreiz: Die gesetzlich geforderten indivi-
duellen Maßnahmen der Unternehmen haben unmittel-
bare Auswirkungen auf den Primärenergieverbrauch in
Deutschland und senken somit die Energiekosten für die
Unternehmen. Damit bleibt die Bundesregierung ihrer
Strategie, die Abhängigkeit von Öl und Gas zu reduzie-
ren, treu. Dagegen widerspricht die Kehrtwende der Eu-
ropäischen Kommission bei der Bioenergie, insbeson-
dere bei den Biokraftstoffen, den eigenen Zielen. Die
Folgen, die ein geplanter geringerer Anteil von Bioener-
gie bei den Kraftstoffen nach sich zieht, sind überhaupt
nicht absehbar!
Aber zurück zur Änderung des Energiesteuer- und
Stromsteuergesetzes. Ein Wermutstropfen hierbei ist die
ungenügende Abschätzung des Erfüllungsaufwandes bei
der Implementierung der oben angeführten Überwa-
chungssysteme bei kleinen und mittleren Unternehmen.
Sie können bei möglicher Inanspruchnahme des Spitzen-
ausgleichs erst dann abschätzen, welche zusätzlichen
Belastungen auf sie zukommen, wenn die noch zu erlas-
sende Rechtsverordnung in Kraft tritt. Aus Sicht des Ge-
setzgebers und unter dem Aspekt der Rechtssicherheit
müssten die möglichen Maßnahmen auch im Gesetz fi-
xiert sein; hier sind lediglich Kann-Regelungen vorgese-
hen. Falls dies im Gesetzgebungsverfahren nicht mehr
geändert werden sollte, muss klargestellt werden, dass
derartige Regelungen keine geringeren Anforderungen
an die Energieeffizienz beinhalten dürfen. Auch müssen
hohe Anforderungen an Messbarkeit und Vergleichbar-
keit in den Energiemanagementsystemen und unter den
Systemen gewährleistet werden.
Bei den folgenden Beratungen in den Ausschüssen
des Deutschen Bundestages werden wir die Eingaben
und Stellungnahmen, insbesondere die des Bundesrates,
intensiv beratschlagen. Gerade die Frage nach einer pro-
portional anteiligen Steuerentlastung, die derzeit nicht
vorgesehen ist, muss sicherlich nochmals diskutiert wer-
den. In den Fällen, in denen das vorgegebene Effizienz-
ziel von 92 Prozent nicht erreicht wird, gibt es danach
gar keine Entlastung. Als Vertreter der deutschen Land-
wirtschaft werde ich auch die vom Bundesrat geforderte
Gleichstellung der Schäfer mit den Imkern beim soge-
nannten Agrardiesel noch einmal thematisieren. Darüber
hinaus wird es beim Energiesteuergesetz sicherlich noch
einigen anderen kurzfristigen Änderungsbedarf geben,
der in die Gesetzgebung einfließen wird.
Insgesamt ist es aus meiner Sicht mit diesem Gesetz-
entwurf gelungen, eine Regelung einzuführen, die für
die Unternehmen, die den Spitzenausgleich in Anspruch
nehmen wollen, fordernd, aber nicht überfordernd ist!
Ein größerer Beitrag der besagten Unternehmen am Vo-
lumen der Energiesteuern kann nicht verlangt werden,
da sie beim Haushaltsbegleitgesetz 2011 bereits ihren
Beitrag geleistet haben. Gleichzeitig müssen sie sich
aber zu deutlich mehr betrieblicher Energieeffizienz, die
insgesamt zu Energieeinsparungen des Staates führen,
verpflichten, um steuerlich auf dem bisherigen Niveau
zu verbleiben. Dies ist eine ausgewogener und gelunge-
ner Schritt zum Erhalt der internationalen Wettbewerbs-
fähigkeit energieintensiv produzierender Unternehmen
in Deutschland.
Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD): „Energie“,
sprach der Kapitän der „Enterprise“ und das Schiff flog.
So einfach wünschen wir uns das, ein Kommando und
Energie fließt. Ohne Sorgen um die Herkunft der Ener-
gie oder des Stroms und ohne die Befürchtung, dass
Energiequellen endlich sein könnten.
Die Realität sieht anders aus: Mit Energie müssen wir
sparsam umgehen. Mit Strom müssen wir sparsam um-
gehen. Deshalb haben wir uns Ziele gesetzt, die wir
weltweit, europaweit und bundesweit erreichen wollen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23637
(A) (C)
(D)(B)
Gut ist, wenn wir solche Ziele auch für uns privat haben.
Können wir diese Ziele erreichen? Hat Deutschland
seine Hausaufgaben gemacht? Haben wir die notwendi-
gen Maßnahmen getroffen? Sind diese Maßnahmen tat-
sächlich geeignet oder sind sie nur weiße Salbe?
Um dies zu beurteilen, schauen wir auch auf die vor-
liegende Drucksache. Ernüchterung macht sich breit.
Denn der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Energiesteuer- und Stromsteuergesetzes ist kein am-
bitioniertes Projekt zum Erreichen der Energiesparziele.
Das können wir sogar schon vor dem Fachgespräch fest-
halten.
Ein Vergleich zu dem ursprünglichen Referentenent-
wurf des Bundesministeriums der Finanzen zeigt, dass
Teile der Bundesregierung zumindest mehr für möglich
gehalten hätten, als die Bundesregierung nach dem Wil-
len des Wirtschaftsministeriums jetzt vorschlägt.
Immerhin enthält der Gesetzentwurf des BMWi die
Forderung nach Energiemanagementsystemen, die Un-
ternehmen künftig einzurichten haben. Auch die Berück-
sichtigung der Interessen der kleinen und mittleren Un-
ternehmen durch alternative Systeme ist dabei zu loben.
Und die vorgesehene Evaluierung im Jahr 2017 ist si-
cherlich auch sinnvoll. Wenn es aber um die Reduzie-
rung der Energieintensität geht, kommt mir das Lob
nicht mehr über die Lippen.
Das Produzierende Gewerbe soll jährlich 1,3 Prozent
weniger energieintensiv arbeiten. Der Vergleichsmaß-
stab dazu sind die Jahre 2007 bis 2012. Das heißt, schon
bei 1,3 Prozent Steigerung der Energieeffizienz bleibt
den Unternehmen der Spitzenausgleich erhalten. Es ent-
steht bei mir der Eindruck, dass auf jeden Fall eine Si-
tuation verhindert werden soll, in der der Spitzenaus-
gleich wegfallen würde.
Nicht dass Sie mich falsch verstehen: Den Spitzen-
ausgleich gibt es, weil Unternehmen Energie brauchen,
um ihr Produkt zu erzeugen, und ohne den Ausgleich
wären die Produkte sicherlich teurer. Dies würde zwei-
felsohne für den Wettbewerb unserer Unternehmen mit
den Unternehmen aus anderen Ländern ein Handycap
bedeuten. Deshalb ist eines klar: Sie brauchen den Spit-
zenausgleich um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies ist
weithin anerkannt. Und der Spitzenausgleich ist richtig.
Aber dennoch bleibt ein schaler Geschmack im Mund
zurück.
Ich kann mich des Eindrucks nicht verwehren, dass
der Spitzenausgleich für das BMWi so wichtig ist, dass
die Energiesparziele dahinter zurücktreten. Bei mir regt
sich das Unbehagen, dass sich die Industrie vielleicht gar
keine Gedanken über den Spitzenausgleich machen
muss, weil sie das Sparziel des Gesetzentwurfes erreicht,
ohne dass sie aktiv Maßnahmen zur Effizienzsteigerung
ergreifen muss. Ist es vielleicht tatsächlich so, dass das
Sparziel des Gesetzentwurfes allein durch den techni-
schen Fortschritt und damit ohne eine einzige Sparmaß-
nahme erreicht wird? Ein wenig ambitionierter dürfte es
von daher schon sein.
Alternativen gibt es mehrere: So zum Beispiel eine
Rückkehr zu dem ursprünglichen Referentenentwurf und
den Einsparzielen für jedes einzelne Unternehmen. Da-
bei wäre sicherlich das konkrete Einsparpotenzial des
einzelnen Unternehmens zu berücksichtigen.
Denkbar wäre es auch, sich auf Branchen innerhalb
des Produzierenden Gewerbes zu beziehen und für diese
unterschiedliche Sparziele festzulegen. Nach meiner
Auffassung müsste die Industrie dies auch beim vorlie-
genden Gesetzentwurf tun, wenn sie sein Sparziel tat-
sächlich umsetzen will. So muss doch eine gewisse Kon-
trolle stattfinden, welches Unternehmen dem Sparziel
zuträglich ist und wo noch Nachholbedarf besteht. Die
Industrie täte sicherlich gut daran, sich hierüber Gedan-
ken zu machen.
Denkbar wäre es auch, sofern es bei der Glockenlö-
sung, also bei der Einsparung für das gesamte Produzie-
rende Gewerbe, bleibt, dass das Sparziel in der Höhe an-
gepasst wird. Wären nicht vielleicht auch 1,6 Prozent
jährlich durch die Industrie erreichbar, ohne sie in exis-
tenzielle Nöte zu stürzen? Für diesen Fall könnte man
auch über Warnstufen nachdenken, die vor einem Weg-
fall des Spitzenausgleichs zum Tragen kommen. Wird zu
wenig gespart, könnte man beispielsweise fürs nächste
Jahr ein erhöhtes Ziel festlegen.
Unser Fachgespräch wird zu solchen Fragen sicher-
lich Aufklärung bringen. Will die Koalition als diejenige
in die Geschichte eingehen, die bei den Energiesparzie-
len knauserig war und diese dann nicht einmal erreicht
hat?
Dr. Birgit Reinemund (FDP): Mit dem vorliegen-
den Gesetz zur Änderung des Energiesteuer- und des
Stromsteuergesetzes führen wir exakt die bestehenden
steuerlichen Regelungen für die energieintensiven pro-
duzierenden Unternehmen wie 1999 beschlossen und
2010 angepasst auch ab 2013 weiter – für den gleichen
Kreis der Begünstigten und im gleichen Entlastungs-
volumen. Diese Gesetzesänderung beruht keinesfalls auf
inhaltlichem Änderungsbedarf, sondern resultiert alleine
aus dem Auslaufen der beihilferechtlichen Genehmigun-
gen der EU zum Ende des Jahres 2012. Um diese Stär-
kung unserer Unternehmen weiterhin beihilferechtlich
zu ermöglichen, sind die Entlastungen für die energiein-
tensiven produzierenden Betriebe künftig verknüpft mit
der verpflichtenden Einführung von Energiemanage-
mentsystemen und dem Nachweis der Effizienzsteige-
rung über alle produzierenden Unternehmen und deren
regelmäßige Evaluation. Eine sinnvolle und notwendige
Lösung für unseren Industrie- und Produktionsstandort
Deutschland und für die Umwelt!
Diese Weiterführung des Spitzenausgleichs gibt es so-
mit nicht zum Nulltarif. Dass die Fortsetzung des Spit-
zenausgleiches zeitlich mit der Diskussion um steigende
Energiepreise zusammenfällt, ist eher Zufall.
Der Spitzenausgleich für energieintensive produzie-
rende Unternehmen wurde 1999 parallel zur Einführung
der Ökosteuer beschlossen – von der damaligen rot-grü-
nen Bundesregierung. Natürlich können wir über Sinn
und Unsinn dieser Ökosteuer grundsätzlich diskutieren,
das steht allerdings – leider – heute nicht zur Debatte.
23638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
Solange wir jedoch die europaweit und international
überdurchschnittliche Belastung durch die Ökosteuer ha-
ben, so lange brauchen wir die Entlastung durch den
Spitzenausgleich, um die Wettbewerbsfähigkeit des Pro-
duktionsstandorts Deutschland und damit dessen Ar-
beitsplätze nicht zu gefährden. Darin waren sich 1999
bereits fraktionsübergreifend alle einig.
Was damals richtig war, gilt heute umso mehr. Die
Preise für Industriestrom in Deutschland bewegen sich
im internationalen Vergleich am oberen Ende. Das Argu-
ment der Opposition, Industriestrom werde günstiger, ist
fadenscheinig. Richtig: An der Strombörse zeigen die
Preise derzeit eine leicht fallende Tendenz. Doch wel-
ches produzierende Unternehmen, welcher Mittelständ-
ler kauft schon an der Börse ein? In der Regel schließen
Unternehmen längerfristige Abnahmeverträge ab und
profitieren nicht direkt von günstigeren Tageskursen.
Zusätzlich wird die Wettbewerbsfähigkeit unserer
Unternehmen durch die Zusatzbelastung durch EEG-
Umlage und Zertifikatehandel geschwächt.
Von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des
Industriestandorts Deutschland hängen immerhin
600 000 Arbeitsplätze direkt ab und insgesamt 2,5 Mil-
lionen Arbeitsplätze in der Wertschöpfungskette.
Das heißt im Klartext: Mit der Weiterführung des
Spitzenausgleichs handeln wir durchaus im Sinne unse-
rer Wirtschaft, genauso allerdings im Sinne der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer – ein Gebot des sozialen
Friedens und der volkswirtschaftlichen Vernunft.
Daher ist der Versuch der Opposition, Industrie und
private Stromkunden gegeneinander auszuspielen, zum
Beispiel mit dem heute Nachmittag behandelten Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Unberechtigte
Privilegien der energieintensiven Industrie abschaffen
– Kein Sponsoring der Konzerne durch Stromkunden“,
nicht nur Unsinn, sondern unverantwortlicher Populis-
mus, gefährdet den Wirtschaftsstandort Deutschland und
somit Arbeitsplätze. Die Sorge um Arbeitsplätze treibt
die Menschen in diesem Land mindestens ebenso um –
bei derzeit unter 3 Millionen Arbeitslosen vielleicht et-
was weniger als unter Rot-Grün damals, wie die Sorge
um bezahlbare Energiepreise.
Als Folge der fraktionsübergreifenden Entscheidung
zum Ausstieg aus der Kernkraft, der von einer überwälti-
genden Mehrheit der Menschen unseres Landes so
gewollt war, stehen wir heute vor dem – damals abseh-
baren und angekündigten – Problem steigender Energie-
preise für Privathaushalte und für die deutsche Wirt-
schaft, ungeachtet der heutigen Debatte um die
Fortführung des Spitzenausgleichs.
Für uns Liberale gilt nach wie vor: Energie muss ver-
sorgungssicher, klimafreundlich und bezahlbar sein und
bleiben. Dazu hat die FDP in dieser Woche als erste
Partei ein Modell entwickelt, wie wir den Strompreis für
die Menschen moderat halten wollen:
Wir wollen das heutige EEG in drei Stufen überfüh-
ren in ein Mengensystem, um die erneuerbaren Energien
marktfähig zu machen und die Kosten durch Einspeise-
vergütung und EEG-Umlage zu deckeln.
Der Fiskus soll nicht überproportional am Zubau der
erneuerbaren Energien mitverdienen, weshalb die
Stromsteuer aufkommensneutral abgesenkt werden soll,
mit dem Ziel einer Absenkung auf das europäische Min-
destniveau. Auch die Länder müssen sich an der Rück-
gabe der Mehreinnahmen an den Steuerzahler beteiligen
und sich daher im Bundesrat auf die Zustimmung zur
steuerlichen Entlastung der Bürger bei der energetischen
Sanierung von Gebäuden einigen.
Die Förderung der erneuerbaren Energien muss neu
geordnet werden. Nur so verhindern wir, dass die Kosten
für die Bürgerinnen und Bürger aus dem Ruder laufen.
Gleichzeitig garantieren wir den weiteren Ausbau der er-
neuerbaren Energien.
Sie sind herzlich eingeladen, diesen Weg mit uns ge-
meinsam zu gehen.
Dorothée Menzner (DIE LINKE): Vor einigen Ta-
gen berichtete die Financial Times Deutschland darüber,
dass der norwegische Aluminiumhersteller Norsk Hydro
Teile seiner Produktion von Australien nach Deutsch-
land verlegen will. In dem Artikel heißt es, das Unter-
nehmen hoffe darauf, dass Deutschland noch in diesem
Jahr eine EU-Richtlinie zur CO2-Kompensation umset-
zen werde, durch die der Industrie bestimmte Kosten er-
lassen werden können.
Nun behandeln wir hier einen Gesetzentwurf, der die
fortführende Befreiung der energieintensiven Industrie
von der Strom- und Energiesteuer zum Gegenstand hat.
Der energieintensiven Industrie werden jährlich mehr als
9 Milliarden Euro an Energiekosten erlassen, von der
EEG-Umlage bis zur Energiesteuer. Diese Kosten tragen
kleine und mittlere Unternehmen und die privaten Haus-
halte. Bislang erhielten die Großen die Befreiung von
der Energie- und Stromsteuer für lau. Jetzt will die Bun-
desregierung diese Vergünstigungen an Energieeffizi-
enzziele knüpfen. Für sich betrachtet klingt das gut, doch
sogar die Deutsche Umwelthilfe spricht von einer Mo-
gelpackung. Ich möchte ausführen, warum sie recht hat.
Seit Inkrafttreten der europäischen Energieeffizienz-
richtlinie scheut sich die Bundesregierung, diese mit
konkretem Leben zu erfüllen. Sie vermeidet es tunlichst,
greifbare und vor allen Dingen verbindliche Vorgaben
zur Steigerung der Energieeffizienz zu erlassen. Stattdes-
sen setzt sie auf Eigenverantwortung und Marktregulie-
rung. Gleichzeitig muss sie aber das bevorstehende Ver-
fehlen der nationalen Effizienzziele einräumen, wie etwa
im Frühjahr dieses Jahres bei der Novellierung des Ge-
setzes zur Kraft-Wärme-Kopplung. 20 Prozent mehr
Energieeffizienz bis 2020 – dieses Ziel der Bundesregie-
rung ist alles andere als ambitioniert. Doch wie will man
es erreichen, wenn man, anstatt der Industrie verbindli-
che Vorgaben zu machen, einen Belohnungskatalog ent-
wirft, bei dem schon jene in den Genuss von Vergünsti-
gungen kommen, die weniger als die Hälfte des absolut
Notwendigen tun? Hinzu kommt, dass sich ein Teil der
Effizienzmaßnahmen wegen des weiteren Ausbaus der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23639
(A) (C)
(D)(B)
erneuerbaren Energien ohnehin automatisch einstellen
wird. Faktisch will die Bundesregierung hier also
2,3 Milliarden Euro jährliche Steuerbefreiungen für die
Industrie beschließen, die im Gegenzug nur eine margi-
nale Gegenleistung zu erbringen hätte. Das hat mit Ener-
giewende nichts zu tun, sondern ist ein gezieltes Lobby-
programm für die Großindustrie.
Wir können festhalten: Mittlerweile sind in Deutsch-
land die Energie- und Klimakosten für energieintensive
Industrien im internationalen Vergleich so gering, dass
es lukrativ wird, solche Produktionen nach Deutschland
zu verlagern. Die Befreiung der energieintensiven Indus-
trie beläuft sich jährlich auf über 9 Milliarden Euro.
Diese 9 Milliarden Euro müssen kleine und mittlere Un-
ternehmen und die privaten Haushalte stemmen. Das al-
les zeigt nicht nur, welchen Rang der Klimaschutz bei
der Bundesregierung einnimmt, sondern auch, was sie
unter sozialer Umverteilung versteht. Es ist bemerkens-
wert, in welchem Maße gerade bei diesen Kosten umver-
teilt wird, und zwar gänzlich in die falsche Richtung. Die
Linke lehnt den Gesetzentwurf deshalb ab. Stattdessen
fordern wir, die Privilegierungen der energieintensiven
Industrie auf ein sozialverträgliches Maß herunterzufah-
ren und statt fragwürdiger Effizienzmaßnahmen konse-
quentes Energiesparen einzufordern.
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bun-
desregierung hat bei der Reform des Spitzenausgleichs
die Chance auf eine gründliche Neuregelung vertan.
Während Haushalte und Dienstleistungsunternehmen
den vollen Steuersatz auf Strom und Gas bezahlen müs-
sen, will die Regierung weiterhin 2,3 Milliarden Euro an
Subventionen an die Industrie verschenken – und das of-
fenbar, ohne ernst zu nehmende Gegenleistungen von
den Unternehmen zu verlangen.
Es ist mittlerweile Allgemeingut, dass ein zentraler
Baustein der Energiewende darin besteht, Energie einzu-
sparen. Auch die Regierung betont das gerne. Doch
wenn es konkret wird, lässt die Regierung wirklich jede
Gelegenheit aus, für echte Anreize zum Stromsparen zu
sorgen. Dieses Gesetz ist ein weiterer Beleg dafür, dass
die Energiewende mit dieser Regierung nichts wird.
Dem Umweltminister scheint dies schon zu dämmern.
Denn Herr Altmaier hat am Tag der Veröffentlichung
dieses Gesetzes öffentlich daran gezweifelt, dass
Deutschland seine Stromsparziele erreichen wird. Dies
liegt jedoch auch an ihm selbst – er hätte sich im Kabi-
nett ja für ein besseres Gesetz stark machen können.
Dieses bessere Gesetz gibt es übrigens schon – es
liegt in der Schublade des Finanzministers und ist der
erste Referentenentwurf dieses Gesetzentwurfs. Im Ge-
gensatz zum vorliegenden Gesetzestext basierte die erste
Version nämlich auf fundierter wissenschaftlicher Ex-
pertise; das Wissen aus ausführlichen Gutachten floss
darin ein. Doch dann schalteten sich die Industriever-
bände und ihr Cheflobbyist Herr Rösler ein. Nach mona-
telangem Stillstand in der Gesetzgebung kam dann die-
ses dreiste Geschenk an die Industrie heraus.
Kern der vorliegenden Novelle des Energie- und
Stromsteuergesetzes ist, dass ungefähr 25 000 Unterneh-
men weiterhin Steuerrabatte bekommen, wenn zwei Be-
dingungen erfüllt sind:
Als erste Bedingung müssen alle Unternehmen des
Produzierenden Gewerbes zusammen ein jährliches
Energieeffizienzziel erfüllen. Das bedeutet im Detail,
dass ungefähr 400 000 überwiegend sehr kleine Un-
ternehmen, etwa aus der Baubranche, dafür verant-
wortlich sind, 25 000 Unternehmen satte Rabatte auf
ihre Energie- und Stromsteuerrechnungen zu ermögli-
chen. Hier liegt ohne Zweifel ein Anreiz zum Trittbrett-
fahrerverhalten vor. Die 25 000 Unternehmen, die vom
Spitzenausgleich profitieren, müssen noch nicht einmal
selbst etwas leisten, um Energie zu sparen – es reicht,
wenn ihre Kollegen aus anderen Unternehmen das tun,
die in der Regel sowieso schon weniger energieintensiv
sind. Richtig wäre es gewesen, von jedem Unternehmen,
das von Steuersubventionen profitiert, einen individuel-
len Energieeinsparnachweis zu verlangen. Dass Unter-
nehmen aus jeder Branche fähig sind, ihren individuel-
len Energiesparbeitrag zur Energiewende beizutragen,
zeigt etwa die Studie, die der Finanzminister selbst zu
diesem Thema in Auftrag gegeben hat.
Leider konnte die Regierung bisher den Verdacht
nicht ausräumen, dass es die Wunschzahlen der Indus-
trieverbände waren, die das Finanzministerium unge-
prüft ins Gesetz geschrieben hat. Denn bisher hat die
Bundesregierung nicht offengelegt, wie sie auf ihre Zah-
len gekommen ist.
Man muss ernsthaft an der Seriosität der Arbeit des
Finanzministeriums zweifeln, wenn es sich auf Anfrage
weigert, nachvollziehbar das Ziel zu begründen, warum
das Produzierende Gewerbe seine Energieeffizienz zu-
nächst um 1,3 Prozent pro Jahr verbessern soll und für
das Jahr 2016 eine Steigerung von 1,35 Prozent vorgege-
ben ist.
Es ist absurd, dass die Bundesregierung in ihren Ge-
setzentwürfen Zielvorgaben auf zwei Nachkommastel-
len genau festlegt, aber in der Antwort auf eine Kleine
Anfrage unserer Fraktion nicht darlegen kann, wie sich
die Energieeffizienz des Produzierenden Gewerbes in
den letzten Jahren überhaupt entwickelt hat. Dies wäre
ein erster Anhaltspunkt, um beurteilen zu können, ob
diese Vorgaben nun wirklich so ambitioniert sind, wie es
die Regierung vorgibt, oder ob dieses Ziel sich nicht
vielmehr wie von selbst erfüllen wird.
Dass Letzteres eher der Fall ist, legt jedenfalls eine
Statistik der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen nahe,
nach der sich die Energieeffizienz der deutschen Indus-
trie in den vergangenen 20 Jahren um mindestens
1,4 Prozent pro Jahr verbessert hat.
Was wir jetzt schon aus dem Gesetzentwurf lesen
können, ist, dass sich die Bundesregierung die Effizienz-
verbesserungen der Industrie schönrechnet. Die Bundes-
regierung weiß, dass Atom- und Kohlekraftwerke in der
Statistik deutlich weniger effizient sind als Wind- und
Solaranlagen. Steigt der Anteil der Erneuerbaren, ver-
bessert sich so auf dem Papier die Effizienz der deut-
schen Industrie, ohne dass diese etwas dafür leisten
muss. Diesen Rechentrick nutzt die Regierung dreist aus
23640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
und versucht der Öffentlichkeit vorzugaukeln, dass sie
der Industrie ambitionierte Energieeinsparungen abver-
langt.
Bis die Regierung den Gegenbeweis liefert, können
wir also davon ausgehen, dass die Vorgabe, jährlich
1,3 Prozent energieeffizienter zu werden, ein Geschenk
an die Industrie ist.
Als zweite Bedingung müssen die Unternehmen
Energiemanagementsysteme oder sogenannte alternative
Systeme einführen, damit sie weiterhin Steuersubventio-
nen erhalten.
Hier verschenkt die Regierung eine Möglichkeit,
Deutschlands Industrie zu einem echten Energiesparvor-
bild zu machen. Leider gilt die Einführung von echten
Energiemanagementsystemen nur für große Unterneh-
men. Dies sind 5 000 der 25 000 Unternehmen im Spit-
zenausgleich. Für die 20 000 übrigen mittleren Unterneh-
men und kleinen Unternehmen gelten deutlich weniger
ambitionierte Anforderungen. Dazu kritisieren wir die
langen Übergangsfristen, die den Unternehmen zur Ein-
führung von Energiemanagementsystemen gewährt wer-
den.
Kurz gesagt, ist dieses Gesetz also ein weiterer Beleg
für die Klientelpolitik der Bunderegierung. Anstatt einen
mutigen Schritt zu machen, um die Energiewende voran-
zubringen, kuschen Finanz- und Umweltminister vor der
Industrielobby.
Richtig wäre es gewesen, die Novellierung des Geset-
zes für einen Neuanfang zu nutzen. Dies hätte bedeutet,
die in die Jahre gekommene Übergangsregelung des Spit-
zenausgleichs abzuschaffen und durch eine gerechte Här-
tefallregelung zu ersetzen. Diese könnte so aussehen, dass
nur Industrieprozesse, die nachweislich besonders ener-
gieintensiv sind, Ausnahmen bekommen, um zu vermei-
den, dass Unternehmen in Länder mit weniger strengen
Umweltauflagen abwandern. Damit nicht Verschwen-
dung und technologischer Stillstand subventioniert wer-
den, müsste auch diese Unterstützung an individuelle Ef-
fizienznachweise geknüpft werden.
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Das Bundeskabinett hat am
1. August 2012 den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergeset-
zes beschlossen, den ich Ihnen im Weiteren gerne vor-
stelle.
Mit diesem Gesetzesvorhaben verfolgt die Bundesre-
gierung das Ziel, auch in der Zukunft die Wettbewerbs-
fähigkeit von Unternehmen des Produzierenden Gewer-
bes am Wirtschaftsstandort Deutschland zu erhalten.
Zugleich sollen diese Unternehmen Anreize erhalten, ih-
ren Energieeinsatz noch effizienter zu gestalten.
Der Hintergrund der vorgeschlagenen Regelung ist in
Grundzügen folgender: Mit der aktuellen sogenannten
Spitzenausgleichsregelung bei der Energiesteuer und der
Stromsteuer wird Unternehmen des Produzierenden Ge-
werbes eine Steuerentlastung in Höhe von bis zu
92,5 Prozent des in diesen Steuern rechnerisch enthalte-
nen Ökosteueranteils gewährt. Der Spitzenausgleich
wurde im Zuge der ökologischen Steuerreform einge-
führt, um energieintensiv produzierende Unternehmen
im internationalen Wettbewerb nicht übermäßig zu be-
lasten.
Der Spitzenausgleich kann nach geltender Rechtslage
jedoch nur bis zum Ende dieses Jahres – 2012 – gewährt
werden, weil die von der Europäischen Kommission
dazu erteilte beihilferechtliche Genehmigung zu diesem
Zeitpunkt ausläuft.
Die Bundesregierung hat sich mit dem im Herbst des
Jahres 2010 beschlossenen Energiekonzept dazu be-
kannt, auch über das Jahr 2012 hinaus die Wettbewerbs-
fähigkeit der vom Spitzenausgleich betroffenen Unter-
nehmen zu unterstützen. Zugleich sollen die Unter-
nehmen als Gegenleistung dazu verpflichtet werden, ei-
nen Beitrag zu Energieeinsparungen zu leisten.
Die Bundesregierung geht dabei davon aus, dass die
Energieeffizienz in Zukunft ein noch wichtigerer Maß-
stab für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der In-
dustrie und auch ihrer Innovationskraft sein wird. Des-
halb möchte sie mit der nunmehr vorgeschlagenen
Neukonzeption des Spitzenausgleichs die Unternehmen
dazu anregen, ihre Effizienzpotenziale eigenständig zu
realisieren und umzusetzen.
Energiemanagementsysteme sind dabei eine wichtige
Möglichkeit, Effizienzpotenziale aufzuzeigen. Diese
sind inzwischen durch internationale Normen anerkannt
und bedeuten im Kern die regelmäßige Erfassung der
Energieströme und der Minderungspotenziale in den
Produktionsprozessen. Diese Normen schreiben keine
Maßnahmen vor, sondern überlassen es den Unterneh-
men, zu entscheiden, welche wirtschaftlichen und Effi-
zienz steigernden Maßnahmen sie umsetzen wollen.
Schon heute werden Energiemanagementsysteme bzw.
Energieaudits in vielen Unternehmen genutzt, um syste-
matisch Verbesserungschancen in betrieblichen Energie-
versorgungssystemen zu identifizieren und unter Be-
rücksichtigung der jeweiligen Kosten zu erschließen.
Dabei geht es um ein kostengünstiges Konzept, das ins-
besondere kleine und mittlere Unternehmen nicht über-
fordert und dennoch systematisch die Verbesserungs-
chancen offenlegt.
Geleitet von diesen Prämissen hat die Bundesregie-
rung den Entwurf für ein Zweites Gesetz zur Änderung
des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes für eine
Nachfolgeregelung zum Spitzenausgleich ab dem Jahr
2013 beschlossen, dessen Grundzüge sich wie folgt dar-
stellen: Das bisherige steuerliche Entlastungsvolumen –
rund 2,3 Milliarden Euro jährlich – und der Kreis der
Begünstigten sollen unverändert beibehalten werden.
Die Nachfolgeregelung soll den Unternehmen mit ei-
ner zehnjährigen Laufzeit Planungssicherheit gewähren
und für die Jahre 2013 bis 2022 gelten.
Dafür sind von allen rund 25 000 Unternehmen, die
den Spitzenausgleich zukünftig in Anspruch nehmen
wollen, verbindlich Energiemanagement- oder Umwelt-
managementsysteme einzuführen. Das Offenlegen noch
vorhandener Einsparpotenziale wird – vor allem bei klei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23641
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(D)(B)
nen und mittleren Unternehmen – zu Investitionen zur
Verbesserung der Energieeffizienz beitragen. Kleinen
und mittleren Unternehmen soll außerdem die Möglich-
keit eröffnet werden, alternativ weniger kostenintensive
Auditverfahren zu betreiben.
Darüber hinaus wird die Bundesregierung überprüfen,
ob die Unternehmen im Zuge dieser Maßnahmen insge-
samt ihre Energieintensität tatsächlich reduzieren. Dafür
sieht der Gesetzentwurf konkrete Effizienzziele vor. Zur
Überwachung der Zielerreichung soll eine Art „Glocke“
gebildet werden, die sowohl die Unternehmen des Pro-
duzierenden Gewerbes als auch der Energiewirtschaft
umfasst und unter der die Effizienzverbesserungen die-
ser Unternehmen gesammelt erfasst werden.
Dazu hat die Bundesregierung am 1. August 2012 die
Vereinbarung zur Effizienzsteigerung mit der deutschen
Wirtschaft abgeschlossen. In dieser Vereinbarung wird
das Monitoringverfahren zur Ermittlung der Effizienz-
verbesserungen im Detail geregelt. Damit ist es gelun-
gen, ein Verfahren zu entwickeln, das die von den be-
günstigten Branchen tatsächlich erzielten Effizienz-
steigerungen erfasst und belohnt. Zugleich konnte es
aber vermieden werden, ein bürokratisches Monstrum zu
erschaffen, das insbesondere kleine und mittlere Unter-
nehmen überfordern würde.
Aus Sicht der Bundesregierung ist es mit dem Gesetz-
entwurf gelungen, eine ausbalancierte Lösung zu entwi-
ckeln, die es ermöglicht, den Unternehmen die auch zu-
künftig im internationalen Wettbewerb dringend benötigten
Entlastungen zu gewähren. Wie wichtig der Erhalt der
internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist, können wir
derzeit auf beeindruckende Weise erleben.
Zugleich können damit aber Anreize für einen effi-
zienteren Energieverbrauch gesetzt werden, um die kli-
mapolitischen Ziele der Bundesregierung weiter voran-
zubringen, ohne die Unternehmen damit zu überfordern.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Ergänzung des Geldwäschegesetzes (GwGErgG)
(Tagesordnungspunkt 22)
Peter Aumer (CDU/CSU): Die Bekämpfung von
Geldwäsche ist eine wichtige Angelegenheit. Vor allem
die organisierte Kriminalität versucht, durch die Einbrin-
gung illegal erwirtschafteten Geldes zum Beispiel aus
Drogen-, Waffen- oder Menschenhandel in den Finanz-
und Wirtschaftskreislauf die Herkunft dieser Gelder zu
verschleiern. Dies spielt ebenfalls eine große Rolle im
Bereich der Finanzierung terroristischer Aktivitäten.
Durch die Bekämpfung von Geldwäscheaktivitäten soll
unsere Volkwirtschaft von Schaden bewahrt werden und
zur nationalen und internationalen Sicherheit beigetra-
gen werden.
In den vergangenen Jahren haben wir bereits mehrere
Gesetze zur Prävention von Geldwäsche auf den Weg
gebracht. Unsere Gesetze wurden und werden dabei
maßgeblich von europäischen und internationalen Stan-
dards geprägt, wie sie zum Beispiel die Financial Action
Task Force on Money Laundering, FATF, vorgibt. Zu-
letzt sind wir mit dem Gesetz zur Optimierung der Geld-
wäscheprävention, welches wir mit fraktionsübergrei-
fender Mehrheit im letzten Jahr verabschiedet haben,
einen weiteren wichtigen Schritt hin zu einer effektiven
Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Ter-
rorismus gegangen, indem wir diesem Personenkreis die
Möglichkeiten zur Legalisierung ihrer illegal erwirt-
schafteten Gelder deutlich erschwert haben.
Zur weiteren Fortführung und Verbesserung der Geld-
wäschebekämpfung setzen sich die Berichterstatter aller
Fraktionen seit der Einführung des Gesetzes im „Forum
für Geldwäscheprävention“ beim Bundesministerium
der Finanzen ein. Dort konnten wir dieses Jahr mit Ex-
perten über einige Probleme diskutieren.
Mit der heutigen ersten Lesung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Er-
gänzung des Geldwäschegesetzes zeigen wir, dass die
Geldwäschebekämpfung weiterhin ein sehr wichtiges
Thema der christlich-liberalen Koalition darstellt.
Durch das Gesetz soll der Verpflichtetenkreis zukünf-
tig auf die Veranstalter und Vermittler von Glücksspielen
im Internet ergänzt werden. Der Markt für Onlineglücks-
spiel hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt. Die
Europäische Kommission schätzt die Einnahmen der
Anbieter von Internetglücksspielen auf über 6 Milliarden
Euro im Jahr 2008, wobei die Dunkelziffer der illegalen
Anbieter dabei noch nicht berücksichtigt wurde. Die
Zahlen für 2012 dürften noch deutlich über diesem Wert
liegen. Im Rahmen des Gesetzes werden für den Betrof-
fenenkreis spezifische Sorgfaltspflichten geschaffen, die
das Risiko für Geldwäsche im Zusammenhang mit dem
Spielbetrieb von Onlineglücksspielen durch strikte An-
forderungen an die Transparenz von Zahlungsströmen
minimieren sollen.
Der Gesetzentwurf sieht darüber hinaus Sorgfalts-
pflichten für Kredit- und Zahlungsinstitute vor, die in die
Zahlungskette zwischen dem Spieler sowie dem Ver-
pflichteten im Rahmen von Kreditkartenzahlungen ein-
gebunden sind. Zur Bekämpfung sowie Verhinderung
des illegalen Onlineglücksspiels sollen die zuständigen
Länderaufsichtsbehörden zudem mit weiteren Kompe-
tenzen und Auskunftsrechten ausgestattet werden. Hier-
durch sollen die Aufsichtsbehörden in die Lage versetzt
werden, Finanzströme des Glücksspiels von legalen oder
illegalen Betreibern wirksam nachzuverfolgen und im
Falle der Feststellung eines Verstoßes und Illegalität
diese zu unterbinden.
Mit vorliegendem Gesetzentwurf verfolgen wir wei-
terhin den Präventionsansatz von Geldwäsche. Wir wer-
den uns auch im Rahmen der Verhandlungen zur Überar-
beitung der dritten EU-Geldwäscherichtlinie für eine
Implementierung unseres Ansatz einsetzen. Wie schon
beim Gesetz zur Optimierung der Geldwäscheprävention
sind wir auch beim vorliegenden Gesetzentwurf auf die
Mitarbeit der zuständigen Länderbehörden angewiesen.
Ich hoffe, dass dort das Bewusstsein für dieses wichtige
23642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
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Thema ebenso vorhanden ist und wir gemeinsam an ei-
nem Strang ziehen werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein weiterer wich-
tiger Schritt zur Bekämpfung von Geldwäsche in
Deutschland. Am 22. Oktober werden wir zu dem Ent-
wurf eine öffentliche Anhörung durchführen und den
Entwurf anschließend im Finanzausschuss beraten und
beschließen.
Martin Gerster (SPD): „Wer sich an die Vergangen-
heit nicht erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wie-
derholen“. Die Worte des spanischen Philosophen
George de Santayana erinnern mich stark an das zur
Beratung anstehende Gesetz und die Art, wie es im par-
lamentarischen Verfahren behandelt wird.
Es ist erst einige Monate her, dass dieses Parlament
massiv in der Kritik stand, weil wir die Debatte über das
Meldegesetz mit Reden zu Protokoll abgehandelt haben.
Auch wenn die Berichterstattung oft überzogen und in
der Sache nicht immer von der notwenigen Kenntnis
parlamentarischer Abläufe geprägt war: Wir tun uns kei-
nen Gefallen, unliebsame Themen, bei denen es aus
Sicht internationaler Beobachter in Deutschland „fünf
vor Zwölf“ ist, tatsächlich im Plenum auf solche Uhrzei-
ten abzuschieben und letztlich schriftlich abzuhandeln.
Ich kann mir aber vorstellen, dass es aufseiten min-
destens eines Koalitionspartners nachvollziehbare
Gründe gibt, das Thema nicht allzu prominent zu disku-
tieren. Insofern bin ich froh, dass wir überhaupt auf die-
sem Wege Stellung zum vorliegenden Gesetzentwurf
nehmen können. Denn auch hier gilt es zurückzublicken
und Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen.
Das Grundanliegen des Gesetzes teilen wir uneinge-
schränkt. Onlineglücksspiel stellt ein Einfallstor für Kri-
minelle dar, die die Spuren ihrer Gelder aus Drogen,
Menschenhandel, Internetbetrug und anderen Straftaten
verwischen wollen. Um dem zu begegnen, müssen die
am Spiel teilnehmenden Personen identifizierbar bleiben
und die entsprechenden Geldströme transparent gemacht
werden.
Darauf zielt ab, was im jetzt vorliegenden Gesetzent-
wurf steht. Das ist sinnvoll und richtig – leider hat die
Bundesregierung zu lange gezögert, statt rechtzeitig zu
handeln. Schon im vergangenen Jahr, als wir das Gesetz
zur – offenbar nur vermeintlichen – „Optimierung“ der
Geldwäscheprävention beraten haben, hatte ich darauf
hingewiesen, dass mit dem Ausscheren des damals
schwarz-gelb regierten Bundeslandes Schleswig-Hol-
stein aus dem gemeinsamen Glücksspielstaatsvertrag der
Länder ein Deichbruch in Sachen Geldwäscherisiko dro-
hen würde. Die Bundesregierung verwies damals auf die
angeblich hinreichenden Landesregelungen und sah
keine Notwendigkeit, vorbeugend tätig zu werden. Erst
jetzt, nachdem in Schleswig-Holstein die ersten Konzes-
sionen vergeben wurden, hat diese Regierung den Hand-
lungsbedarf erkannt. Man wird abwarten müssen, ob hier
nicht bereits die Büchse der Pandora geöffnet wurde.
Spannender als das, was der Entwurf fordert, ist
jedoch, was nicht mehr in dem Gesetz auftaucht: Seit
Jahren gibt es im Bereich der Geldspielhallen massive
Vorbehalte hinsichtlich der Manipulationsanfälligkeit
der Spielgeräte. Es existieren deutliche Hinweise, dass
eine ganze Reihe von Automatencasinos der organisier-
ten Kriminalität zuarbeiten.
Wagen wir auch hier den Blick zurück: Im Herbst des
vergangenen Jahres fragte ich bei der Bundesregierung
schriftlich nach, wie sie dieses Gefahrenpotenzial bewer-
tet. Am 26. September 2011 antwortete mir der zustän-
dige Staatssekretär im FDP-Wirtschaftsministerium: „Im
Hinblick auf Geldwäsche geht nach Einschätzung der
Bundesregierung von gewerblichen Spielhallen kein
spezifisches Gefahrenpotenzial aus.“
Eine Einschätzung, die ich angesichts der Aussagen
einer Reihe von Sachverständigen, die an der Überprü-
fung von Geldspielgeräten beteiligt sind, nicht teilen
kann. Von deren Seite heißt es in einem ebenfalls 2011
veröffentlichten Positionspapier: „Es ist für die Autoren
vollkommen unverständlich, warum jede moderne elek-
tronische Registrierkasse eine bessere Nachvollziehbar-
keit der erfolgten Einnahmen, Ausgaben und Umsätze
bietet als Geldspielgeräte. Dies führt direkt dazu, dass
Steuerbehörden und Aufstellern ein transparenter Ein-
blick verwehrt bleiben muss. … Es ist unverständlich,
warum wiederholt ‚Technische Richtlinien‘ erarbeitet
und umgesetzt werden, die offensichtlich billigend in
Kauf nehmen, dass Manipulationen, Betrug und Geld-
wäsche nicht erkannt oder nachgewiesen werden kön-
nen, und somit die Steuerhinterziehung im großen Stil
ermöglicht wird.“
Bemerkung am Rande: Die für die angesprochenen
technischen Richtlinien zuständige Physikalisch-Techni-
sche Bundesanstalt, PTB, untersteht dem FDP-geführten
Bundeswirtschaftsministerium.
Als Berichterstatter meiner Fraktion habe ich diese
Problematik wiederholt angesprochen. Umso erfreulicher
war es, dass auch dieses Thema im Mai Gegenstand un-
serer gemeinsamen Beratungen im Forum Geldwäsche-
prävention beim Bundesministerium der Finanzen war.
Den dort anwesenden Abgeordneten wurde angekündigt,
man werde sich dem Problem näher widmen. Der kurz
darauf folgende Referentenentwurf des BMF klang viel-
versprechend: Ein eigener Paragraf sollte die „geld-
wäscherechtliche Aufsicht über den Betrieb von Spiel-
banken“ regeln. Doch in der Ressortabstimmung flog
der § 16 a zur Spielhallenregulierung aus dem Regie-
rungsentwurf. Augenscheinlich wurde er nach eiliger
Intervention der Automatenlobby gestrichen – im Zuge
der Rückkopplung mit dem Wirtschaftsministerium.
Setzt man dies in Zusammenhang mit den jüngsten
Berichten über die fragwürdigen Deals zwischen der
Gauselmann-Gruppe und der FDP, wird die Sache – ge-
linde gesagt – höchst suspekt.
Da hilft auch das im Regierungsentwurf enthaltene
Überbleibsel zur Änderung der Gewerbeordnung nichts,
mit dem Sie Personen das Aufstellen von Geldspielauto-
maten untersagen wollen, wenn diese in den vergange-
nen drei Jahren wegen Geldwäsche verurteilt worden
sind. Das dürfte die laufenden Wäschereigeschäfte
kaum ausbremsen. Schon gar nicht, wenn Sie andere
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23643
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Ansätze – wie die Einführung personengebundener
Spielerkarten – im Zuge der ebenfalls anstehenden Än-
derung der Gewerbeordnung nicht aufgreifen wollen.
In seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf hat der
Bundesrat darum gebeten, einen Punkt wieder in Angriff
zu nehmen, der mir sehr viel dringender erscheint. Be-
reits seit geraumer Zeit wird kritisiert, dass besonders im
Nichtfinanzsektor bei Unternehmen und Personen, die
das GwG zu besonderer Vorsicht im Umgang mit ihren
Kunden und deren Geldern verpflichtet, keine effiziente
Aufsicht stattfindet. Genau das fordern jedoch die bei
der OECD angesiedelte Financial Action Task Force on
Money Laundering, FATF, und die EU-Kommission.
Die in diesem Bereich beklagten Defizite bringt
Rüdiger Zuck in der Europäischen Grundrechte-Zeit-
schrift vom August 2011 auf den Punkt: „Die Geld-
wäscheprävention im Nicht-Finanz-Sektor macht nach
ihrem bisherigen Stand die Bundesrepublik weitgehend
zu einem Geldwäscheparadies. Das betrifft zum einen
den Online-Sektor bei den Spielbanken. Es betrifft aber
vor allem die Inhalte der Aufsicht. Unter dem Druck von
Vertragsverletzungsverfahren durch die EU hat die Bun-
desrepublik inzwischen zwar nach jahrelangem (unver-
ständlichen) Zögern ein lückenloses Kompetenz-Instru-
mentarium geschaffen. Niemand weiß aber, wie diese
Kompetenzen sachgerecht gehandhabt werden sollen.“
Wenn mit dem vorliegenden Gesetzentwurf den Lan-
desbehörden nun auch die Zuständigkeit für die Beauf-
sichtigung der Geldwäscheprävention beim Online-
glücksspiel übertragen werden soll, stellt sich das
angesprochene Problem umso gravierender dar. Bereits
2010 attestierte das Bundesfinanzministerium dem Fi-
nanzausschuss in einem Bericht, „die Bundesländer set-
zen die geldwäscherechtlichen Vorschriften im Nicht-
finanzbereich nicht um.“
Obwohl darin ein zentraler Grund für die Nichtüber-
einstimmung mit internationalen Empfehlungen zur
Geldwäscheprävention erkannt wurde, ist es bislang
nicht gelungen, tragfähige Lösungen zu entwickeln.
Nach Aussagen der Bundesregierung lagen ihr noch in
der zweiten Augusthälfte 2012 „keine Bewertungen der
Länder dahin gehend vor, dass sie mit ihren Kompeten-
zen überfordert seien“. Da halte ich Zweifel für ange-
bracht.
Mit Blick auf die Zukunft muss es unser Ziel sein, die
Länder in die Lage zu versetzen, ihren Verpflichtungen
effektiv und effizient nachzukommen. Hier sehen wir die
Bundesregierung in der Pflicht, im „Bund-Länder-Aus-
tausch Geldwäscheprävention“ zeitnah die notwendige
Kreativität zu entwickeln und mit Vorschlägen aufzu-
warten, die Deutschland international aus dem Faden-
kreuz von Geldwäschern und Präventionsexperten brin-
gen.
Björn Sänger (FDP): Wir sind noch nicht am Ziel –
bei weitem nicht! Geldwäsche ist weiterhin ein großes
Problem, vor allem weil die illegalen Geschäfte und Ma-
chenschaften auf einem großen Feld stattfinden, auf dem
sich in großen Teilen immer noch viele undurchsichtige
und unbekannte Stellen auftun.
Und das sind unglaubliche Summen, um die es da
geht: Allein in Deutschland werden jährlich circa 30 bis
100 Milliarden Euro an kriminellen Geldern gewaschen.
Weltweit geht es nach Schätzungen des IWF sogar um
jährlich circa 590 bis 1 500 Milliarden Euro.
Wenn man ehrlich ist, ist Geldwäsche das Folgepro-
blem einer noch größeren Unbekannten – der organisier-
ten Kriminalität. Aber wo sich Probleme auftun, sollte
man nach Lösungen suchen, und so soll die Ergänzung
des Geldwäschegesetzes als solche auch dazu dienen.
Das Problemfeld Internet ist groß und vor allem gren-
zenlos, aber eines darf das Internet nicht: Schlupflöcher
für Geldwäsche bieten.
Nicht zu unterschätzen ist nämlich die wirtschaftliche
Bedeutung des Onlineglückspielsektor. Es handelt sich
um einen bedeutsamen und rasch wachsenden Markt.
Schätzungen zufolge lagen die Einnahmen der Online-
glücksspielanbieter innerhalb der Europäischen Union
im Jahr 2008 bei über 6 Milliarden Euro. Dabei ist aber
zu berücksichtigen, dass viele Anbieter bisher illegal
operieren und die tatsächlichen Beträge entsprechend
höher ausfallen werden. Nach Einschätzung der Euro-
päischen Kommission ist der Onlinemarkt das Segment
im Glücksspielwesen, das das stärkste Wachstum auf-
weist und seinen Umfang in den nächsten fünf Jahren
– ausgehend von Schätzungen aus dem Jahr 2008 – ver-
doppeln wird. Insofern besteht Handlungsbedarf.
Bisher war das Glücksspiel im Internet in Deutsch-
land ausnahmslos verboten. Es war also gar nicht erfor-
derlich, auf Schlupflöcher zu achten oder diese zu ver-
hindern. Mit Auslaufen des Staatsvertrages zum Glücks-
spielwesen haben die Länder im Anschluss daran die
Möglichkeit für das legale Anbieten von Glücksspielen
im Internet durch Staatsvertrag geschaffen. Um effektive
Geldwäscheprävention zu betreiben, brauchen wir diese
Gesetzesänderung bzw. Ergänzung. Um das illegale
Treiben des Geldwäschesektors am Onlinemarkt einzu-
dämmen, erscheint es nur logisch, das Geldwäschegesetz
nun auch auf die Onlinevarianten des Glücksspiels zu er-
strecken und Veranstalter und Vermittler von Glücks-
spielen im Internet in den verpflichteten Kreis des Geld-
wäschegesetzes einzubeziehen. Die Lösung heißt damit
also: Betreiber von Glücksspielen im Internet sollen
Sorgfaltspflichten nach dem Geldwäschegesetz erfüllen.
Da dies eine Prävention im Onlinesegment nicht aus-
reichend gewährleitstet, sollen die bestehende Geldwä-
scherisiken zusätzlich durch strikte Anforderungen an
die Transparenz der Zahlungsströme minimiert werden.
Veranstalter und Vermittler von Glücksspielen im Inter-
net sollen künftig erhöhte Sorgfalts- und Organisations-
pflichten und Anforderungen an das interne Risikoma-
nagement erfüllen sowie interne Sicherungsmaßnahmen
treffen müssen. Gleichzeitig werden Vorgaben zur Spie-
leridentifizierung sowie Anforderungen an die Errich-
tung eines Spielerkontos und zur Herstellung von Trans-
parenz der Zahlungsströme zwischen Onlineglücksspiel-
anbieter und Spieler eingeführt. Ferner werden die Kom-
petenzen und Auskunftsrechte der zuständigen Glücks-
23644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
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spielaufsichtsbehörden der Länder zur Verhinderung des
illegalen Onlineglücksspiels gestärkt.
Wenn man genauer schaut, machen mir als Liberalem
erneut datenschutzrechtliche Erhebungen im Zusam-
menspiel mit dem Ziel Geldwäscheprävention Bauch-
schmerzen. Spielanbietern ist es ausdrücklich erlaubt,
personenbezogene Daten von Kunden zur Erfüllung der
Verpflichtungen des GWG zu sammeln, wenn dies erfor-
derlich ist. Aber personenbezogene Daten müssen fünf
Jahre nach dem Ende der Geschäftsbeziehung gelöscht
werden. Genauso müssen die lizenzierten Glücksspiel-
anbieter den Spieler vor der Registrierung und Erstel-
lung eines Spielerkontos als auch vor der Teilnahme an
Glücksspielen identifizieren. Die Identifikation eines
Spielers erfordert die folgenden Angaben: Name, Ge-
burtsort, Geburtsdatum, Adresse, Nationalität, oder im
Falle von juristischen Personen: Name, Rechtsform, Re-
gisternummer, Sitz und Name der gesetzlichen Vertreter.
Während das Vorhandensein eines wirtschaftlich Be-
rechtigten möglich ist, muss es ausgeschlossen sein, dass
der Spieler im Auftrag eines Dritten handelt. Folglich
muss der Anbieter die zuständige Behörde über alle wirt-
schaftlich Berechtigten informieren, um jeder Art von
Strohmannverhältnissen entgegenzuwirken. Dies wiede-
rum kann nur meinen Zuspruch finden. Hier erfolgt ef-
fektive Geldwäscheprävention.
Sehr streng sind die Anforderungen an den Zahlungs-
verkehr. Erlaubt ist pro Spieler nur ein Konto je Anbie-
ter. Dieses Spielerkonto muss mit einem Konto des re-
gistrierten Spielers bei einer Bank oder einem Finanz-
institut verbunden sein. Transaktionen auf ein Spieler-
konto dürfen nur zum Zwecke des Spiels erhalten wer-
den. Darüber hinaus werden Transaktionen vom Konto
eines Spielers zum Anbieter/Spielerkonto und umge-
kehrt nur über die Transaktionsmethoden Lastschriftver-
fahren, Überweisung, Kreditkarte oder Debitkarte er-
laubt. Dies bedeutet, dass alle anderen Methoden für
eine Transaktion nicht erlaubt sind. Hier sehe ich noch
Handlungsbedarf und präferiere die Einführung von
Schwellenwerten. Geldwäsche wird praktisch doch nun
mal mit hohen Summen betrieben. Eine harte Beschrän-
kung der Zahlungsmethoden erscheint mir hier praxis-
fern.
Ich sehe mithilfe dieser Maßnahmen jedoch trotzdem
eine reelle Chance, die Schlupflöcher im Onlineglücks-
spiel schließen zu können, und begrüße den Gesetzent-
wurf. Ich denke, wir werden im Verlauf der weiteren Be-
ratungen und auch der anstehenden Anhörung noch die
eine oder andere Unebenheit in diesem Entwurf glätten
und ihn damit handhabbar machen, soweit er es noch
nicht ist. Denn Handhabbarkeit ist die entscheidende Vo-
raussetzung für Akzeptanz. Und nur akzeptierte Rege-
lungen werden uns dazu bringen, dass wir die Verpflich-
teten als Verbündete gegen die Geldwäsche bekommen.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Bei einem Gesetz
zur Ergänzung eines bestehenden Gesetzes erwartet man
eine Schließung der zahlreichen Lücken, die entweder
bei der Verabschiedung des Gesetzes schon bestanden
hatten oder die im Laufe der Zeit neu hinzugekommen
sind.
Doch die Bundesregierung bleibt ihrem Prinzip der
kleinen Tippelschritte treu, auch bei dem Gesetz zur
Ergänzung des Geldwäschegesetzes: Zwar wird durch
die Einbeziehung von Glücksspielen im Internet eine
wesentliche Lücke für die Verhinderung von Geldwä-
sche geschlossen, doch die zahllosen anderen Baustellen
bleiben offen.
Insbesondere an das Kernproblem der Geldwäschebe-
kämpfung in Deutschland traut sich die Bundesregierung
weiterhin nicht: die völlig unzureichende Durchführung
der Geldwäscheaufsicht und -kontrollen im Nicht-
bankensektor – trotz Kritik von vielen Seiten, zum Bei-
spiel von dem Bund Deutscher Kriminalbeamter oder
der Financial Action Task Force, FATF, die die interna-
tionalen Standards festlegt und zu deren Umsetzung sich
die Bundesrepublik verpflichtet hat.
Im Nichtfinanzsektor liegt die Zuständigkeit für die
Aufsicht bekanntlich bei den Bundesländern. Viele Län-
der gaben sie an die Kommunen weiter. Mit der Zustän-
digkeit der Länder und Kommunen ging allerdings keine
finanzielle Unterstützung einher. Insbesondere die Kom-
munen blieben auf sich allein gestellt. Darüber hinaus
kommt es zu großen Abstimmungs- und Koordinie-
rungsproblemen, wenn in mehreren Bundesländern zu
ermitteln ist.
Die meisten Mitarbeiter in den Kommunalverwaltun-
gen, die zur Bekämpfung der Geldwäsche eingesetzt
werden, haben keine einschlägige Ausbildung, erst recht
keine Erfahrung. Es wurden sogar beispielsweise Be-
schäftigte des Standesamtes eingesetzt.
Doch selbst wenn die eingesetzten Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter bisher in der Gewerbeaufsicht tätig sind,
können sie ihre Aufsichtsaufgaben nicht wahrnehmen,
weil weiterhin sowohl Ausbildung als auch Kapazitäten
fehlen. Geldwäschekontrollen sind etwas völlig anderes
als Hygienekontrollen. Da muss Mann oder Frau über
umfangreiche, langjährige Kenntnisse und Erfahrungen
in der Buchhaltung und im Steuerrecht verfügen, um den
Tricks der Geldwäscher auf die Spur zu kommen.
Seit der letzten Novelle des Geldwäschegesetzes 2011
sind zusätzlich noch die Versicherungsvertreter und
Versicherungsmakler, der Einzelhandel, der Großhandel
sowie die Immobilienmakler zu überwachen, ob sie die
Vorschriften des Geldwäschegesetzes umgesetzt haben.
Wie soll das funktionieren? Bereits vorher war die
Gewerbeaufsicht in Deutschland völlig unzureichend
ausgestattet.
Auch die Zersplitterung auf die örtlichen Ordnungs-
behörden erleichtert es den Tätern ungemein, ihr aus
kriminellen Geschäften erzieltes Geld in Deutschland
risikolos in den legalen Geldkreislauf einzuführen,
sofern das nicht über Banken erfolgt. Wie soll da eine
Bekämpfung der Geldwäsche gelingen, die auch nur im
Ansatz das Wort „Bekämpfung“ rechtfertigen würde?
Das sind auch keine Anlaufschwierigkeiten mehr. Es
ist nicht die noch fehlende Ausbildung und Schulung der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23645
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insbesondere von den jeweiligen Kommunalverwaltun-
gen eingesetzten Bediensteten, es sind nicht die noch
fehlenden personellen Ressourcen und Kapazitäten
aufseiten der Länder und Kommunen, sondern es ist der
falsche Ansatz, der den Geldwäschern in Deutschland
Tür und Tor geöffnet hat.
Wie bei den Banken muss die Kontrolle der Geld-
wäschevorschriften eine Bundesaufgabe werden. Das
empfehlen nicht nur die Fachleute, sondern auch der
Bundesrat. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Ergänzung des Geld-
wäschegesetzes ist ein weiterer Schritt in einer Serie von
kleinen Anpassungen des Geldwäschegesetzes. Das Ge-
setz zur Optimierung der Geldwäscheprävention, das Ge-
setz zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche
und Steuerhinterziehung und das Gesetz zur Umsetzung
der Zweiten E-Geld-Richtlinie wurden allein im Jahr
2011 verabschiedet.
Jedes Mal war bei der Gesetzgebung bereits klar, dass
eigentlich ein umfassenderer Ansatz nötig wäre, nämlich
eine Bestandsaufnahme der Defizite bei der Geld-
wäschebekämpfung von der Gesetzgebung bis hin zur
Umsetzung vor Ort.
Wir hatten deshalb vorgeschlagen, dass wir uns im
Finanzausschuss einmal der Gesamtthematik Geld-
wäsche widmen. Die Koalition hat das abgelehnt und
verzögert. Der Grund ist klar: Eine ehrliche Bestands-
aufnahme hätte gezeigt, wie dramatisch groß der Kor-
rekturbedarf in Deutschland ist, wie hilflos diese Regie-
rung den internationalen Normen und Empfehlungen
hinterherläuft, wie eine plausible Gesamtstrategie zur
Überwindung der Defizite fehlt.
Das zeigt sich auch bei der vorliegenden Novelle. Sie
war bereits absehbar, als wir im vergangenen Dezember
das letzte Mal das Geldwäschegesetz geändert haben.
Zusätzliche Dynamik hat die nun anzugehende Einbezie-
hung des Onlineglücksspiels in das Geldwäschegesetz
bekommen, weil der Glücksspielstaatsvertrag aufgelau-
fen ist und die mittlerweile abgewählte schwarz-gelbe
Koalition in Schleswig-Holstein sich intensiv für die
schnelle Legalisierung des Onlineglücksspiels vor den
letzten Wahlen engagiert hatte. Aber auch das war be-
reits bei der letzten Novelle nur eine Frage der Zeit.
Leisten wir nun diesmal das Nötige? Nein.
Erstens. Es hakt nach wie vor an der Umsetzung. Wir
sollten nicht abwarten, bis sich die internationalen Prüf-
kriterien für die Geldwäscheprävention und -bekämp-
fung weniger an der formalen Erfüllung und mehr an der
Effizienz der Umsetzung orientieren. In den Empfehlun-
gen der Ausschüsse des Bundesrates findet sich unter der
Nummer vier ein grundsätzlicher Kritikpunkt, den ich
vor weniger als einem Jahr bereits hier im Bundestag
vorgetragen habe. Die Ausschüsse der Länder fordern
den Bund auf, zu einer bundeseinheitlichen Aufsicht
über den Nichtfinanzsektor – analog zur BaFin für den
Finanzsektor – überzugehen. Genau das wäre nötig.
Die Aufsicht darf unserer Meinung nach nicht als Kos-
tenfaktor wie ein Schwarzer Peter zwischen den Ebenen
hin und her geschoben werden. In einem eindrücklichen
Monitor-Bericht in der ARD vor wenigen Wochen wurde
eine Standesbeamtin einer schleswig-holsteinischen Ge-
meinde porträtiert, der kurzerhand die Funktion der Geld-
wäscheaufsicht übertragen wurde – ohne Fortbildung und
ohne zusätzliche Ressourcen. Das ist kein Einzelfall,
sondern nur die Spitze des anhaltenden Missstandes.
Geldwäsche steht im Zusammenhang mit transnational
organisierter Kriminalität. Eine effektive Aufsicht kann
sinnvollerweise nur auf Bundesebene organisiert wer-
den – um diese Aussage des Bundesrates kann sich die
Bundesregierung nicht drücken.
Um die Lücken in der Prävention und Aufsicht zu
schließen, ist es unabdingbar, die Umsetzung des Geset-
zes zu gewährleisten. In den 20 Jahren seiner Existenz
ist das beim Geldwäschegesetz nicht gegeben, und die
Einbeziehung des Onlinebereichs reicht bei weitem nicht
aus. Wir erwarten von der Bundesregierung – im jetzi-
gen Gesetzgebungsverfahren und bei zukünftigen No-
vellen –, die effektive Umsetzung stärker in den Fokus
zu rücken und die Arbeit des Geldwäschepräventionsfo-
rums beim Bundesministerium der Finanzen zu versteti-
gen. Bei einem geschätzten Geldwäschevolumen in
Deutschland von 50 Milliarden Euro jährlich können wir
es uns nicht leisten, kritischen Einwänden an der Praxis
der Geldwäscheprävention in Deutschland keine Konse-
quenzen folgen zu lassen.
Zweitens. Das Thema Spielhallen: Auch hier möchte
ich auf eine Empfehlung des Bundesrates verweisen.
Der Bundesrat schlägt vor, den die Spielhallen betreffen-
den Passus, der im Referentenentwurf des Bundesminis-
teriums der Finanzen noch enthalten war, wieder einzu-
fügen. Das unterstützen wir Grünen ausdrücklich.
Offensichtliche Gründe für die Streichung der Normen
für Spielhallen liegen meiner Ansicht nach nicht vor.
Der Passus würde mit einem neuen § 16 a im Geld-
wäschegesetz Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Auto-
matenspielkasinos eröffnen, sofern dort geldwäscherele-
vante Vorgänge nachgewiesen werden können. Das
theoretische Risiko lässt sich nicht bestreiten, über die
Praxis haben wir in den bisherigen Beratungen mindes-
tens widersprüchliche Angaben erhalten. Der Entwurf
des § 16 a sieht eine spezielle Adressierung der Spielhal-
len vor und greift damit die Bedenken auf, die vor einem
Jahr gegen die Aufnahme der Spielhallen in den Ver-
pflichtetenkatalog sprachen.
Im Zusammenhang damit steht ein dritter Punkt, der
nicht den vorliegenden Gesetzentwurf, sondern die
Spielordnung betrifft. Diese soll ja ebenfalls novelliert
werden. Doch das Anliegen der Geldwäscheprävention
scheint dabei weniger wichtig zu sein als die Interessen
der Automatenlobby. Denn die unabhängigen Kontrollen
der Spielgeräte vor Ort sollen abgeschafft werden.
Ist es nicht grotesk? Wir passen – in Bezug auf das
Onlinespiel – das Geldwäschegesetz an den technischen
Fortschritt an, und gleichzeitig sollen in der Spielverord-
nung nach dem Willen des Bundeswirtschaftsministe-
riums die Kontrollen der Spielgeräte vor Ort abgeschafft
23646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
werden, als handele es sich dabei nicht um manipula-
tionsanfällige, softwaregestützte Geräte, sondern um
Einarmige Banditen aus dem Technikmuseum. Es ent-
steht der Eindruck, dass hier das Wegsehen des Staates
bei der Geldwäsche rechtlich verankert werden soll.
Eine ernstzunehmende Strategie gegen Geldwäsche
sieht anders aus.
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminsiter der Finanzen: Nach den Schätzungen der
Europäischen Kommission lagen die Einnahmen der On-
lineglücksspielanbieter innerhalb der EU bereits im Jahr
2008 bei über 6 Milliarden Euro. Dabei ist das Dunkel-
feld noch nicht berücksichtigt. Viele Anbieter operieren
illegal. Deshalb sind die tatsächlichen Volumina weit hö-
her. Onlineglücksspiel ist ein Wachstumsmarkt. Die Ein-
nahmen aus dem Onlineglücksspiel dürften sich in den
nächsten fünf Jahren – ausgehend von den erwähnten
Schätzungen aus dem Jahr 2008 – verdoppeln.
Bei Onlineglücksspielen sind auch die Risiken für
Betrug und Geldwäsche besonders hoch, weil Spieler
leichter anonym oder mit gefälschten Identitäten auftau-
chen können. Dies geschieht zum Teil im Zusammen-
wirken zwischen Spielern sowie dem Betreiber des On-
lineglücksspiels und meistens zulasten anderer Spieler.
Die illegale Herkunft der in den Spielbetrieb eingebrach-
ter Gelder kann durch Transaktionen über mehrere Spie-
lerkonten und Konten der Betreiber bestens verschleiert
werden. Da der Spieler nicht physisch präsent ist und die
Verifizierung der Identität des Spielers in vielen Staaten
nur unzureichenden Anforderungen unterliegt, bleibt
vielfach die handelnde Person oder der wirtschaftlich
Berechtigte im Dunkeln. Illegal erlangte Vermögens-
zuwächse können durch Teilnahme am Spiel als Spiel-
gewinn deklariert werden. Erleichtert werden Geldwäsche
und Betrug zusätzlich dadurch, dass im Spiel eingesetzte
Gelder durch neue Zahlungsmethoden, etwa durch die
Nutzung von elektronischem Geld, an oder vom Glücks-
spielbetreiber transferiert werden, ohne eine Datenspur
zu hinterlassen.
Deshalb besteht im Bereich des Onlineglücksspiels
Handlungsbedarf für den Gesetzgeber. Mit dem Gesetz-
entwurf sollen die Betreiber von Glücksspielen im
Internet in den Kreis der Verpflichteten des Geldwäsche-
gesetzes mit einbezogen werden. Die Glücksspielauf-
sichtsbehörden der Länder sollen in die Lage versetzt
werden, Finanzströme des von legalen oder illegalen
Betreibern angebotenen Onlineglücksspiels wirksam
nachzuverfolgen und im Falle der Illegalität auch zu
unterbinden.
Dieses Ziel lässt sich nur erreichen, wenn die Nach-
vollziehbarkeit aller Zahlungsströme zwischen dem
Spieler und dem Betreiber gewährleistet ist. Der Herstel-
lung von lückenloser Transparenz bei den Zahlungs-
strömen gilt deshalb ein besonderes Augenmerk. Neue
Zahlungsprodukte wie elektronisches Geld in der Form
der anonymen Prepaid-Karte oder Zahlungskarten, die
nicht zwingend über ein Referenzkonto – Girokonto –
genutzt und von dort gespeist werden, erschweren der
verunmöglichen die Verfolgung von Zahlungsströmen
und die eindeutige Zuordnung von Zahlungen an be-
stimmte Auftraggeber oder Empfänger. Intransparente
Zahlungsproduktformen wie auf Prepaid Cards gespei-
chertes elektronisches Geld oder Bargeld können des-
halb im Onlineglücksspiel nicht verwendet werden. Die
Identifizierung und Verifizierung des Spielers wird den
strengen Anforderungen unterworfen, die in Deutsch-
land bereits für Kreditinstitute bei der Eröffnung eines
Kontos gelten und ohnehin im Vollzug höheren Anforde-
rungen als in vielen Staaten unterliegen.
Gegenüber Betreibern und Spielern soll eine wirk-
same Kontrolle und Nachvollziehbarkeit der Finanz-
ströme sichergestellt werden. Circa 80 Prozent der
Spielereinsätze werden weltweit über Kreditkartenzah-
lungen, der Rest weitgehend über nicht nachvollziehbare
E-Geld-Zahlungen erbracht. Kreditkartentransaktionen
lassen sich vom pflichtigen Institut, das die Kreditkarte
emittiert, sowie von den Glücksspielaufsichtsbehörden
schwerer als etwa Überweisungen nach Auffälligkeiten
kontrollieren. Hier müssen durch technische und organi-
satorische Vorgaben für Kreditkartenzahlungen und
sonstige Transaktionen Parameter geschaffen werden,
die es sowohl den in der Zahlungskette eingeschalteten
Kredit- und Zahlungsinstituten als auch den Glücks-
spielaufsichtsbehörden, Letzteren durch Auskunfts- und
Prüfungsrechten, ermöglichen, einschlägige Transaktio-
nen abzuprüfen.
Vor diesem Hintergrund sieht der Entwurf unter ande-
rem folgende Maßnahmen vor:
Einbeziehung von Veranstaltern und Vermittlern von
Onlineglücksspielen als Verpflichtete in das Geld-
wäschegesetz (§ 2 Absatz 1 GwG-E)
Besondere Sorgfalts- und Organisationspflichten un-
ter Berücksichtigung der spezifischen Geldwäsche-
risiken des Onlineglücksspiels (§§ 9a bis § 9d GwG-E)
Interne Sicherungsmaßnahmen und Anforderungen
an das interne Risikomanagement für Onlineglücks-
spielanbieter (§ 9a GwG-E)
Auskunftsrechte der zuständigen Glücksspielauf-
sichtsbehörden der Länder gegenüber Finanzinstituten
zur Verhinderung des illegalen Onlineglücksspiels (§ 9a
GwG-E)
Vorgaben zur Spieleridentifizierung, Anforderungen
an die Errichtung eines Spielerkontos und Herstellung
von Transparenz der Zahlungsströme zwischen Online-
glücksspielanbietern und Spielern (§§ 9b, 9c GwG-E)
Neue Sorgfaltspflichten für die in die Zahlungswege
eingebundenen Kredit- und Zahlungsinstitute bei der
Nutzung von Zahlungskarten (§ 9d GwG-E)
Anpassung der Bußgeldtatbestände (§17 GwG-E)
Bisher war in Deutschland das Glücksspiel über das
Internet oder andere elektronische Fernkommunikations-
mittel – sogenanntes Onlineglücksspiel – ausnahmslos
verboten. Demzufolge war eine Einbeziehung dieser
Form des Glücksspiels in den Verpflichtetenkreis des
Geldwäschegesetzes obsolet. Mit Auslaufen des Staats-
vertrags zum Glücksspielwesen in Deutschland aus dem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23647
(A) (C)
(D)(B)
Jahr 2007 und den in die Zuständigkeit der Länder fal-
lenden Neuregelungen hat sich hier eine grundlegende
Änderung ergeben. Schleswig-Holstein hat mit dem Ge-
setz zur Neuordnung des Glücksspiels vom 20. Oktober
2011 Regelungen für legales Glücksspiel im Internet er-
lassen. Die übrigen Bundesländer haben mit dem Ersten
Staatsvertrag zur Änderung des Staatsvertrages zum
Glücksspielwesen in Deutschland vom 15. Dezember
2011 die Möglichkeit zur Erlaubnis des Eigenvertriebs
und der Vermittlung von Lotterien sowie die Veranstal-
tung und Vermittlung von Sportwetten im Internet ge-
schaffen.
Deshalb ist es erforderlich geworden, das Geldwä-
schegesetz der neuen Situation anzupassen und die
Onlinevarianten des Glücksspiels in die präventiv
wirkenden Regelungen des Geldwäschegesetzes einzu-
beziehen und dem spezifischen Geldwäscherisiko an-
gemessene Sicherungsmaßnahmen und Organisations-
pflichten für diesen Wirtschaftsbereich zu schaffen.
Eine Einbeziehung des Glücksspiels im Internet ist
auch aus europarechtlichen Gründen erforderlich: Der
Erwägungsgrund 14 der Richtlinie 2005/60/EG besagt,
dass diese auch für die über das Internet ausgeübten Tä-
tigkeiten der dieser Richtlinie unterliegenden Institute
und Personen gelten solle. Nach dem Bericht der Euro-
päischen Kommission an das Europäische Parlament
und den Rat über die Anwendung der Richtlinie 2005/
60/EG vom 11. April 2012 wird die Aufnahme einer um-
fassenderen Definition des Begriffs „Glücksspiel“ unter
Ausweitung des Geltungsbereichs über die derzeit
Verpflichteten hinaus generell befürwortet. Auch der
Deutsche Bundestag hat sich im Bericht des Finanzaus-
schusses vom 1. Dezember 2011 zu dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur
Optimierung der Geldwäscheprävention für solche regu-
latorischen Maßnahmen ausgesprochen.
Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass der Ge-
setzentwurf aufgrund seiner beschränkten Reichweite
nicht alle Probleme beseitigen kann. Deutschland kann
den legalen und illegalen Glücksspielmarkt nur regulie-
ren, soweit deutsche Konzessionäre, von Deutschland
aus agierende Spieler oder über deutsche Institute abge-
wickelte Finanzströme betroffen sind. Für legale oder
illegale Glücksspiele, die weltweit für das internationale
Publikum von einem Betreiber mit Sitz im Ausland
online – in Europa insbesondere über die nicht zur EU
gehörenden Kanalinseln – angeboten werden, gilt dies
nicht. Der Schwarzmarkt bei Onlinesportwetten wird
sich deshalb nur wirksam zurückdrängen lassen, wenn
rechtsverbindliche internationale Standards über die
Genehmigungsanforderungen an die Konzessionäre ge-
schaffen und umgesetzt werden. Dies ist auch für eine
harmonisierte Strafverfolgung zwingend. Die Umset-
zung der harmonisierten geldwäscherechtlichen Anfor-
derungen der 3. Geldwäscherichtlinie im europäischen
Onlineglücksspielsektor und ihre Erweiterung, die Ge-
genstand der Diskussion über die 4. EU-Geldwäsche-
richtlinie sein werden, wäre ein wichtiger erster Schritt.
Mit dem im Gesetzentwurf verfolgten Präventionsan-
satz wird nicht nur der derzeit in der Europäischen
Union verbindliche Standard zur Verhinderung der Geld-
wäsche eingehalten, sondern dieser qualitativ fort-
geschrieben. Die Bundesregierung wird sich im Rahmen
der Verhandlungen der kommenden 4. EU-Geldwäsche-
richtlinie dafür einsetzen, dass dieser qualitative Ansatz
in der neuen Richtlinie für den gesamten Onlineglücks-
spielsektor in der Europäischen Union übernommen
wird.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung und Vereinfachung der Unterneh-
mensbesteuerung und des steuerlichen Reise-
kostenrechts (Zusatztagesordnungspunkt 9)
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Nach dem
Steuervereinfachungsgesetz von 2011, das wesentliche
Erleichterungen zugunsten der Bürgerinnen und Bürger
brachte, sollen nun in einer zweiten „Vereinfachungs-
welle“ Neuerungen beschlossen werden, die Vereinfa-
chungen für Betriebe und Unternehmen bringen.
Wir haben grundsätzlich ein wettbewerbsfähiges Unter-
nehmensteuerrecht. Dennoch wollen wir weiter an einem
international wettbewerbsfähigen Unternehmensteuerrecht
arbeiten. Mit dem vorliegenden Gesetz sollen das steuerli-
che Reisekostenrecht und die Besteuerung verbundener
Unternehmen vereinfacht werden. Beim Verlustrücktrag
soll der internationalen Entwicklung Rechnung getragen
werden.
Im Einzelnen sind folgende Maßnahmen vorgesehen:
Erstens. Im steuerlichen Reisekostenrecht werden
viele Abgrenzungsfragen und Probleme bei der Ausle-
gung beseitigt, indem wir auf vergleichbare Lebenstatbe-
stände – soweit möglich – gleiche Regeln und Berech-
nungsmethoden anwenden.
Bei den Pauschalen für die Verpflegungsmehraufwen-
dungen, die in der Steuererklärung angesetzt werden
können, werden die maßgeblichen Mindestabwesen-
heitszeiten verringert, und die niedrigste Pauschale ent-
fällt. Durch die verbleibende zweistufige Staffelung der
Pauschalen (im Inland 12 und 24 Euro) wird die steuerli-
che Berücksichtigung der Aufwendungen einfacher. Zu-
dem wird auch die Reisekostenabrechnung handhab-
barer und der Verwaltungsaufwand für alle Beteiligten
reduziert.
Im Bereich der Fahrtkosten und bei der Besteuerung
von Dienstwagen bei Fahrten zur sogenannten regelmä-
ßigen Arbeitsstätte wird es zukünftig in bedeutendem
Maß mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit geben.
Die wesentlichen Punkte werden nun gesetzlich fixiert.
Der Begriff der regelmäßigen Arbeitsstätte wird dabei
durch den der ersten Tätigkeitsstätte ersetzt. Ausgefüllt
wird dieser zukünftig durch den Arbeitgeber, subsidiär
anhand quantitativer Elemente. Das Anknüpfen an ar-
beits- und dienstrechtliche Festlegungen oder Weisun-
gen bringt deutliche Erleichterungen bei der Anwendung
23648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
und Nachweisführung. Für alle Beteiligten bedeutet dies
mehr Planungs- und Rechtssicherheit.
Die Ermittlung der Aufwendungen für eine zusätzli-
che Unterkunft bei doppelter Haushaltsführung wird ver-
einfacht. Statt der bisher komplizierten Ermittlung eines
Durchschnittsmietzinses wird zukünftig auf die tatsäch-
lich entstandenen Aufwendungen abgestellt. Diese kön-
nen bis zu einem Höchstbetrag von 1 000 Euro vom Ar-
beitnehmer angesetzt werden.
Eine weitere Vereinfachung – wiederum durch Ver-
einheitlichung – bringt die Angleichung der reisekosten-
rechtlichen Auslandstagegelder und der steuerlichen
Pauschalen für Verpflegungsmehraufwendungen. Für
Tätigkeiten im Ausland gelten zukünftig ebenfalls nur
noch zwei Pauschalen und dies zu den gleichen Voraus-
setzungen wie im Inland. Damit werden alle beruflich
veranlassten auswärtigen Tätigkeiten den gleichen Re-
geln und Berechnungsmethoden unterworfen und damit
generell vereinfacht.
Zweitens. Steuerpolitik ist immer auch Standortpoli-
tik. Unternehmen vergleichen und der Wechsel an einen
anderen Standort ist nur allzu leicht. Wir brauchen in
Deutschland ein einfaches, gerechtes und zeitgemäßes
Unternehmenssteuerrecht, Planungssicherheit durch
Rechtssicherheit und gleichzeitig Raum für effektive
Weiterentwicklung. Nur so bieten wir Unternehmen die
Voraussetzungen für einen in Europa und der Welt wett-
bewerbsfähigen Standort. Mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf soll die Besteuerung verbundener Unternehmen
deshalb weiter vereinfacht und rechtssicherer gemacht
werden.
Bei der ertragsteuerlichen Organschaft wird die Erfül-
lung der Voraussetzungen für die Anerkennung der Or-
ganschaft erleichtert. Erforderlich für die Verlustver-
rechnung innerhalb eines Konzerns ist ein wirksamer
Gewinnabführungsvertrag. Formelle Fehler führten bis-
lang zu einem Wegfall der Organschaft. Künftig gibt es
die Möglichkeit, fehlerhafte Bilanzansätze, die auf die
tatsächliche Durchführung des Gewinnabführungsver-
trags durchschlagen, sowie formelle Fehler des Gewinn-
abführungsvertrags hinsichtlich der Vereinbarungen zur
Verlustübernahme nachträglich zu korrigieren.
Für mehr Verfahrensökonomie und Rechtssicherheit
im Rahmen der Besteuerung wird ein Feststellungsver-
fahren zur gesonderten und einheitlichen Feststellung
insbesondere des dem Organträger zuzurechnenden Ein-
kommens der Organgesellschaft eingeführt.
Abermals mehr Rechtssicherheit schafft auch die An-
passung an Vorgaben der Europäischen Kommission und
die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs. Der soge-
nannte doppelte Inlandsbezug entfällt. Damit können
EU/EWR-Gesellschaften mit einem Verwaltungssitz in
Deutschland Organgesellschaft sein.
Drittens. Einen weiteren Schritt für mehr Wettbe-
werbsfähigkeit gehen wir beim Verlustrücktrag. Das
deutsche System des den Veranlagungszeitraum über-
greifenden Verlustabzugs entspricht internationalen
Standards. Wir wollen aber, dass unsere kleineren und
mittleren Unternehmen hier in Deutschland genauso
gute Bedingungen haben wie anderswo in Europa. Mit
der Anhebung des Höchstbetrags beim Verlustrücktrag
auf 1 Million Euro bzw. 2 Millionen Euro – Einzel- bzw.
Zusammenveranlagung – folgen wir dem Beispiel des
französischen Steuerrechts. In Krisenzeiten können die
Unternehmen durch den erweiterten Verlustrücktrag
kurzfristig erhöhte Liquidität gewinnen und sind da-
durch in der Lage, die Krise besser zu überstehen.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Mit der An-
kündigung eines Gesetzes der Koalition zur Vereinfa-
chung der Unternehmensbesteuerung und des steuer-
lichen Reisekostenrechts verbinde ich Erwartungen, nicht
meine Erwartungen, aber wenigstens jene im lauthals
verkündeten Koalitionsvertrag. Was war das nicht für
eine gewaltige Ankündigung – gerade in der Finanzpoli-
tik. Wir lesen dort: Wir wollen „das Unternehmensteuer-
recht weiter modernisieren und international wettbe-
werbsfähig gestalten. Aufkommensneutralität sollte
gewahrt bleiben. Unternehmerische Entscheidungen
sollten sich – unabhängig von Rechtsform, Organisation
und Finanzierung – in erster Linie nach wirtschaftlichen
Gesichtspunkten und nicht nach steuerlichen Aspekten
richten.
Auch der Holdingstandort Deutschland soll gestärkt
werden. Ansatzpunkte für eine Prüfung sind: eine Neu-
strukturierung der Regelungen zur Verlustverrechnung,
die grenzüberschreitende Besteuerung von Unterneh-
menserträgen, die Einführung eines modernen Gruppen-
besteuerungssystems anstelle der bisherigen Organ-
schaft.“
Und so weiter und so weiter. So liest sich das im Ko-
alitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP. Einfach,
niedrig und gerecht – seit drei Jahren versucht sich die
schwarz-gelbe Regierung mit dem Regieren: Wir erin-
nern uns auch an die zweijährige Steuererklärung – die
nicht kam –, an die Ergebnisse der „Kommission zur Er-
arbeitung von Vorschlägen zur Neuordnung der Ge-
meindefinanzierung“ – die es nicht gibt –, an die „noch
in dieser Legislaturperiode allen Bürgern auf Wunsch …
vorausgefüllte Steuererklärung“ –, auf die manche heute
noch warten.
Die von der Bundesregierung nun entworfene Mini-
Unternehmensteuerreform, die unter anderem Änderun-
gen bei der Verlustverrechnung, der Organschaft und
dem steuerlichen Reisekostenrecht umfasst, zeigt einmal
mehr, dass das von der schwarz-gelben Bundesregierung
vollmundig angekündigte System einfacher, niedriger
und gerechter Steuern an der Realität scheitert.
Ein wenig mehr hätten die Unternehmen selbst unter
Schwarz-Gelb verdient, weil starke Unternehmen, Ar-
beitsplätze und gute Arbeit auch von politischen Rah-
menbedingungen abhängen. Wir werden sehen, wie sich
die Politik der vergangenen drei Jahre in der näheren Zu-
kunft bewährt, wenn die Zeit noch ein wenig fortge-
schritten ist und die schwarz-gelbe Politik zu wirken be-
ginnt.
Wir hätten wenigstens Verbesserungen im Umwand-
lungssteuerrecht erwartet. Auch der grenzüberschrei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23649
(A) (C)
(D)(B)
tende Verlustausgleich verdient nach der Rechtsprechung
des EuGH zur Einkommensteuer, Körperschaftsteuer
und Gewerbesteuer angepackt zu werden. Oder denken
Sie an die Fragen rund um grenzüberschreitende Ge-
winnausschüttungen von hybriden Gesellschaftsformen.
Es bleibt viel zu tun, und wir konstatieren steuerpolitisch
drei verlorene Jahre.
Die wenigen Regelungen bei den Verpflegungsmehr-
aufwendungen, bei den Fahrtkosten, den Unterkunfts-
kosten oder die Verdoppelung des Höchstbeitrages beim
Verslustrücktrag rechtfertigen die Überschrift des Geset-
zes nicht und strafen die Koalitionsvereinbarung Lügen.
Die zu erwartenden Steuermindereinahmen des Ge-
setzentwurfs beziffert die Bundesregierung selbst mit
jährlich 290 Millionen Euro. Angesichts der schwierigen
Haushaltslage von Bund, Ländern und Kommunen über-
legen wir, die Rechtsänderungen in der jetzt vorgeschla-
genen Form abzulehnen. Unser abschließendes Urteil
werden wir nach dem Beratungsgang erarbeiten. Gerade
vor dem Hintergrund der in dieser Woche vorab bekannt
gewordenen Ergebnisse des vierten Armuts- und Reich-
tumsberichts der Bundesregierung ist es nicht verant-
wortlich, die öffentlichen Haushalte leichtfertig finan-
ziell weiter zu schwächen.
Eine besondere Prüfung verdienen die Regelungen
zum Gewinnabführungsvertrag. Ich bin gespannt, ob mit
dem Gesetz die gravierenden Probleme beim EAV, Er-
gebnisabführungsvertrag, hinsichtlich seiner Fallbeilwir-
kung für Organschaften bei kleinen Formulierungs- oder
Schreibfehlern beseitigt werden.
Alles konnten wir noch nicht reflektieren – war die
Einbringung dieses Gesetzes doch auch wieder eher ein
Überraschungsangriff – nach dreijähriger gespannter
Wartezeit auf eine Unternehmensteuerreform. Wir müs-
sen morgen früh zwischen sieben und acht Uhr in einer
Sondersitzung des Finanzausschusses das Verfahren
wieder geradebügeln. Mit solcher Zeitplanung ist eine
seriöse Gesetzgebung kaum möglich – dies alles zeigt
ein wenig, in welchem Zustand sich Regierung und Ko-
alition befinden. Der Parlamentarismus wird zum wie-
derholten Male gestresst.
Ziel einer vernünftigen Unternehmensteuerpolitik
muss es sein, die Zukunft gerade auch der kleinen und
mittelständischen Unternehmen – und damit auch der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – zu sichern und
dabei die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden
zu stärken. Von diesem Ziel sind die auf ein Minimum
gestutzten Pläne der schwarz-gelben Koalition zur Un-
ternehmensbesteuerung weit entfernt. Schade, eine wei-
tere Chance wurde vertan.
Holger Krestel (FDP): Die Stärke und Stabilität der
deutschen Wirtschaft – der Finanzkrise zum Trotz– fun-
diert zu einem nicht unerheblichen Maß auf der Export-
stärke deutscher Unternehmen. Zahlreiche Joint Ven-
tures und Zusammenarbeiten über Landesgrenzen hinweg
sorgen zudem für Technologieaustausch, neue Beziehun-
gen und Absatzmärkte. Die informationstechnisch weit
fortgeschrittene Umwelt, in der wir leben, unterstützt
diese Entwicklung. Trotzdem bleibt das persönliche Ge-
spräch mit einem Geschäftspartner eine vertrauensbil-
dende Basis, auf die in der Praxis nicht verzichtet wer-
den kann. Genauso wichtig sind Begutachtungen und
Bewertung der Lage vor Ort, um sich gegen böse Über-
raschungen zu wappnen und Möglichkeiten frühzeitig zu
erkennen. Regelmäßig reisende Mitarbeiter sind daher
eine unentbehrliche Säule für Geschäftsbeziehungen und
deren Aufbau sowie deren Abwicklung und Koordina-
tion im Ausland.
Insbesondere für mittelständische Unternehmen ohne
große Steuerabteilungen bedeutet die komplexe Abrech-
nung der Reisekosten stets einen großen Aufwand. Mit
einem ständigen Innovationsprozess bleibt der deutsche
Mittelstand international wettbewerbsfähig und bildet so
das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Damit auf die-
sem Wege weiterhin Wohlstand in Deutschland garan-
tiert und Arbeitsplätze gesichert werden können, müssen
wir genauso innovativ sein und stets Rahmenbedingun-
gen anbieten, welche der globalen Dynamik gerecht
werden. Hierzu gehört vor allem ein modernes, gerech-
tes und einfaches Steuerrecht, welches einheimischen
Unternehmen keine Steine durch zu viele Sonderrege-
lungen in den Weg legt und trotzdem zielgenau bleibt.
So haben wir in dem Gesetzentwurf die Verfahren zur
Abrechnung von Dienstreisen im Bereich von Verpfle-
gungsmehraufwendungen, Fahrtkosten, Übernachtungs-
kosten sowie der Dienstwagenbesteuerung deutlich ver-
einfacht und aktuellen Gegebenheiten angepasst. Dadurch
wird Unternehmen als auch den Finanzämtern unnötiger
Aufwand in der Verwaltung erspart. Das Gleiche gilt für
Mehraufwendungen für berufsbedingte doppelte Haus-
haltführung, welche nun pauschal mit bis zu 1 000 Euro
berücksichtigt werden und nicht mehr über die Größe
der Wohnung mit komplizierten Ermittlungsverfahren
für Vergleichsmieten.
Auch bei der Vereinfachung der Unternehmensbe-
steuerung haben wir der internationalen Entwicklung
Rechnung getragen. Hierzu wurde der Höchstbetrag
beim Verlustrücktrag von derzeit 511 500 Euro auf
1 Million Euro beziehungsweise auf 2 Millionen Euro
bei zusammen veranlagten Ehegatten angehoben, um
das deutsche und französische Steuerrecht zu harmoni-
sieren. Zudem werden die Regelungen zur steuerlichen
Organschaft vereinfacht und an aktuelle Rechtsprechung
angepasst. Dies betrifft sowohl die Durchführung als
auch die formalen Voraussetzungen bei dem Abschluss
eines Gewinnabführungsvertrags, der Voraussetzung ist
für eine Verlustverrechnung innerhalb eines Konzerns.
Außerdem wird, wie in der Praxis schon längst gehand-
habt, die ertragsteuerliche Organschaft nun auch gesetz-
lich an die Vorgaben der Europäischen Kommission und
die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs angepasst.
Wenn sie einen Verwaltungssitz in Deutschland haben,
können Gesellschaften aus der EU/EWR nun auch Or-
gangesellschaft sein und damit Teil eines Gewinnabfüh-
rungsvertrags.
Im Großen und Ganzen schaffen wir also eine Moder-
nisierung und Entbürokratisierung des Steuerrechts, das
deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb
23650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012
(A) (C)
(D)(B)
dabei helfen wird, ihre starke Position zu verteidigen,
und Ressourcen in der Verwaltung freisetzt. Wir schaf-
fen eine jährliche Entlastung von bis zu 290 Millionen
Euro, die den hart arbeitenden Männern und Frauen im
deutschen Mittelstand zugutekommen und helfen, ihre
Arbeitsplätze zu sichern. Wir schaffen eine internatio-
nale Harmonisierung und Umsetzung europäischer Vor-
gaben, welche die Barrieren in unserem wichtigsten Ab-
satzmarkt weiter schrumpfen lassen.
Ich bitte daher um Ihre Zustimmung für den vorlie-
genden Gesetzentwurf.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der vorliegende Ge-
setzentwurf zur Reform der Unternehmensbesteuerung
sowie des steuerlichen Reisekostenrechts wurde uns erst
am 24. September 2012 in den Abendstunden zugeleitet,
soll aber bereits heute – drei Tage später – im Plenum in
die erste Lesung gehen. Das ist keine hinnehmbare par-
lamentarische Verfahrensweise; das möchte ich festhal-
ten. Denn in der kurzen Zeit ist es unmöglich, sich mit
einem sehr ins Detail gehenden Gesetzentwurf zu befas-
sen, übrigens auch vor dem Hintergrund, dass die Bun-
desregierung seit Beginn der Legislaturperiode eine sol-
che Reform angekündigt hatte. Es ist daher mehr als
unverständlich, warum das jetzt alles im Hauruckverfah-
ren über die Bühne gehen soll.
Auch stelle ich beim Lesen des Gesetzentwurfes fest,
dass von den großspurigen Ankündigungen der Bundes-
kanzlerin – ich erinnere an den gemeinsamen Brief vom
17. August 2011 von Frau Merkel und Sarkozy an den
Präsidenten des Europäischen Rates Hermann Van Rom-
puy – zur Reform der Unternehmensbesteuerung nicht
viel übrig geblieben ist. Erinnern wir uns: Es gab eine
gemeinsame deutsch-französische Initiative von Angela
Merkel und Nicolas Sarkozy für einen Vorschlag einer
gemeinsamen Unternehmensteuer in beiden Ländern, ein-
schließlich der Harmonisierung der Bemessungsgrund-
lage und der Steuersätze. Doch aus der Initiative, den
großen Versprechungen und Ankündigungen zu Fragen
der Neustrukturierung der Regelungen bei der Verlust-
verrechnung, der Einführung eines modernen Gruppen-
besteuerungssystems sowie der grenzüberschreitenden
Besteuerung von Unternehmenserträgen ist nichts ge-
worden. Übrig blieb nur dieser kleine Gesetzentwurf,
verbunden mit einer längst überfälligen Vereinfachung
des steuerlichen Reisekostenrechts.
Woran das liegt, möchte ich von der Bundesregierung
wissen, auch ob das jetzt Ihre großangekündigte Unter-
nehmensteuerreform war.
Die Bundesregierung hatte beim Bundesfinanzminis-
terium extra eine Arbeitsgruppe „Verlustverrechnung
und Gruppenbesteuerung“ eingerichtet, die diese Fragen
klären sollte. Ihr Ergebnis, das sie im Februar 2012 in ei-
nem Grünbuch der Deutsch-Französischen Zusammen-
arbeit veröffentlichte, zeigte jedoch, dass die Pläne der
Koalition nicht aufkommensneutral umgesetzt werden
können. Das Ergebnis ist sicherlich mit ursächlich, wa-
rum hier seitens der Bundesregierung weiter nichts pas-
sierte.
Zum ersten Punkt im Gesetzentwurf. Sie schlagen
Vereinfachungen im steuerlichen Reisekostenrecht bei
Regelungen zu Verpflegungsmehraufwendungen und
Fahrtkosten vor. Die Linke fordert hier bereits seit lan-
gem eine Vereinfachung, für die Steuerverwaltung und
die Unternehmen. Daher begrüßen wir, dass die Bundes-
regierung das Thema endlich anpackt.
Ein zweiter Punkt im Gesetzentwurf ist die Vereinfa-
chung bei der Unternehmensbesteuerung, schwerpunkt-
mäßig der Bereich Verlustrücktrag sowie Regelungen
zur steuerlichen und ertragsteuerlichen Organschaft. Das
Thema Verlustverrechnung sollte für die Bundesregie-
rung oberste Priorität haben, denn diese bergen für die
öffentlichen Haushalte ein enormes steuerliches Ausfall-
risiko. Wir reden hier von körperschaftsteuerlichen Ver-
lusten in Höhe von 605 Milliarden Euro im Jahr 2006
(bis zum Jahr 2004 bei der Gewerbesteuer angehäufte
Verlustvorträge in Höhe von 569 Milliarden Euro).
Diese Verlustvorträge sind übrigens stark konzentriert,
was wiederum das Risiko eines plötzlichen Ausfalles in
einem Jahr erhöht; denn die potenziellen Steuerausfälle
übersteigen das jährliche Aufkommen aus diesen Steuer-
arten um ein Vielfaches. Ich machte Sie bereits im Fe-
bruar 2011 mit einer Kleinen Anfrage auf der Drucksa-
che 17/4279 auf diese Problematik aufmerksam. Daher
hätte ich mir hier von der Bundesregierung endlich eine
Lösung gewünscht. Doch nichts dergleichen. Stattdessen
wollen Sie den Höchstbetrag für Verlustrückträge noch
erhöhen. Sie können nicht die Augen schließen und den-
ken, die Probleme seien dann weg. Das Thema Verlust-
verrechnung wird uns irgendwann einholen.
Wir fordern Sie daher noch einmal auf: Schränken Sie
die Verlustverrechnung ein, und sichern Sie somit Steuer-
einnahmen und machen Sie Vorschläge, wie mit den
massiven angehäuften Verlusten umgegangen werden
kann. Wir fordern von Ihnen: Legen Sie einen Gesetz-
entwurf vor, der die Möglichkeit des interperiodischen
steuerlichen Abzugs von Verlusten vom Gesamtbetrag
der Einkünfte nach § 10 d des Einkommensteuergesetzes
und § 8 des Körperschaftsteuergesetzes sowie vom maß-
gebenden Gewerbeertrag nach § 10 a des Gewerbesteu-
ergesetzes auf die fünf folgenden Veranlagungszeit-
räume beschränkt. Außerdem ist der steuerliche Abzug
so zu regeln, dass er vorhandene Verlustvorträge in der
zeitlichen Reihenfolge ihres Anfalls mindert. Eine ange-
messene Übergangsregelung ist natürlich zu berücksich-
tigen.
Wir haben demnächst die Beratungen im Finanzaus-
schuss sowie eine Anhörung. Dort bleibt hoffentlich
noch genügend Zeit, Änderungen bzw. Ergänzungen
vorzunehmen.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wir beraten heute in erster Lesung über ein Ge-
setz zur Unternehmensbesteuerung der Koalition. Darin
sollen drei durchaus sinnvolle Themen neu geregelt wer-
den: Änderung des steuerlichen Reisekostenrechts, Än-
derung des Verlustrücktrags und eine Überarbeitung der
Regelung der steuerlichen Organschaft. So weit, so gut.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. September 2012 23651
(A) (C)
(D)(B)
Aber man muss diese Gesetzesinitiative doch verglei-
chen mit dem, was die Koalition sich für diese Legislatur
vorgenommen hatte: „Wir wollen das Unternehmen-
steuerrecht weiter modernisieren und international wett-
bewerbsfähig machen“, so im Koalitionsvertrag. Und
weiter heißt es: „Aufkommensneutralität sollte gewahrt
bleiben.“ Und was ist daraus geworden? Eine Milliar-
densubvention für die Hotels, ein zweijähriges Gezerre
und Verhandeln hinter verschlossenen Türen über eine
Gewerbesteuerreform, die dann sang- und klanglos beer-
digt wurde, und ein 12-Punkte-Programm zur Unterneh-
mensteuer in diesem Februar, das eingestampft wurde,
ehe die Tinte des Papiers trocken war. Jetzt kommt ein
dürftiges 3-Punkte-Papierchen, von dem der Obmann
der Unionsfraktion meinte, man könne das doch bitte
schön in zwei Wochen durchs Parlament winken. Bera-
tung überflüssig. Das Gesetz ist noch nicht mal aufkom-
mensneutral ausgestaltet, sondern verursacht knapp
300 Millionen Euro Steuerausfälle im Jahr. Wer so mit
den durchaus vorhandenen Baustellen im Bereich des
Unternehmensteuerrechtes umgeht, hat nur eines bewie-
sen: Er kann es nicht.
Wir Grüne wollen, dass Reformen im Bereich der Un-
ternehmensbesteuerung drei Zielen genügen – nachhal-
tig, gerecht und europäisch. Deutschland ist aktuell ein
attraktiver Wirtschaftsstandort. Es fließt mehr Kapital
nach Deutschland rein, als aus Deutschland raus. Die
Besteuerung von Unternehmen ist mit rund 30 Prozent
im weltweiten Vergleich wettbewerbsfähig. Das sieht ja
wohl die Koalition genauso. In Hinblick auf die Haus-
haltskonsolidierung muss deshalb das Ziel bei allen
Maßnahmen zur Veränderung der Steuerstruktur die
Aufkommensneutralität sein. Wir sehen keinen Spiel-
raum für Reformen im Unternehmensteuerbereich, der
zu Einnahmeminderungen führt. Mit der Finanzkrise
sind die Schulden in Deutschland nochmals dramatisch
angewachsen, und das vor dem Hintergrund strukturell
unterfinanzierter Haushalte der öffentlichen Hand. Das
hatte Schwarz-Gelb offensichtlich erkannt; denn im so-
genannten 12-Punkte-Plan zur Unternehmensbesteue-
rung der Koalition von Februar dieses Jahres gab es Vor-
schläge mit dem Schließen von Steuerschlupflöchern
zum Beispiel bei der Problematik von „weißen Einkünf-
ten“ bei der Dividendenbesteuerung, die zu Einnahme-
verbesserungen geführt hätten. Diese sinnvollen Maß-
nahmen sind jedoch einfach im Nirwana verschwunden.
Bei der Reform der Organschaft bin ich froh, dass die
Koalition hier nun auf einen Kurs eingeschwenkt ist, den
wir Grüne schon am Anfang der Diskussion gefordert
haben, nämlich eine Nachbesserung des Gewinnabführ-
vertrages und keine großen Reformen. Diese sind nicht
machbar, solange sie nicht aufkommensneutral umge-
setzt werden können, und auch dann grundsätzlich nur,
wenn sie einer europäischen Harmonisierung der Unter-
nehmensbesteuerung dienen. Ob die Vorschläge zur Ver-
besserung der Rechtssicherheit so weit sinnvoll ausge-
staltet sind, wird sich in der Anhörung im Finanz-
ausschuss zeigen. Gerade in diesem Punkt dürfen wir
nicht mit einer unausgegorenen Regelung möglicher-
weise den Zustand der Rechtsunsicherheit verlängern
oder verlagern. Die Koalition hat drei Jahre Zeit gehabt,
und jetzt kommen Sie mit einer entsprechenden Geset-
zesvorlage und wollten das in zwei Wochen abhaken.
Wie heißt es so schön in jeder zweiten Ihrer Verlautba-
rungen in diesen Tagen bezüglich der Bankenunion in
Europa: „Sorgfalt vor Geschwindigkeit“. Richtig, und
genau das fordern wir hier ein.
Noch kurz zu den beiden weiteren Punkten des Ge-
setzentwurfes: Mit der Verdoppelung des Verlustrück-
trags auf 1 Million Euro greifen Sie ein Element zur
europäischen Harmonisierung der Unternehmensbesteu-
erung auf. Genau dies hatten wir Grüne gefordert. Diese
Regelung ist so gut wie aufkommensneutral und bringt
Liquidität für kleinere und mittlere Unternehmen in Kri-
senzeiten. Das hätte man schon früher entscheiden kön-
nen.
Die Reform des steuerlichen Reisekostenrechts ist
von der Zielrichtung der Vereinfachung, Entbürokrati-
sierung und Rechtssicherheit insbesondere für kleinste,
kleine und mittlere Unternehmen grundsätzlich zu be-
grüßen. Hier müssen wir aber die Aufkommenswirkung
berücksichtigen: Die Maßnahme wird 220 Millionen
Euro im Jahr kosten. Die Kritik bleibt deshalb bezüglich
der damit verbundenen Steuerausfälle. Hier hätte die
Koalition entweder auf eine aufkommensneutrale Aus-
gestaltung achten oder – vielleicht noch sinnvoller – an
anderer Stelle im Unternehmensteuerbereich gegen-
finanzieren müssen. Sie hatten doch wichtige Elemente
noch im Frühjahr aufgeführt, die nicht nur mehr Steuer-
gerechtigkeit, sondern auch eine Einnahmeverbesserung
gebracht hätten. Es ist absolut unerträglich, wenn Sie
heute hier einen Gesetzentwurf vorlegen, der 300 Millio-
nen Euro kostet und sich mit dem Thema Aufkommens-
neutralität – Ihrem eigenen im Koalitionsvertrag formu-
lierten Anspruch! – überhaupt nicht beschäftigt.
Eigentlich ist fast wichtiger festzustellen, was nicht in
diesem Gesetz steht. Es gibt aktuell noch so viele ent-
scheidende Baustellen bei der Unternehmensbesteue-
rung, für die die Koalition einfach keine Lösungen vor-
legt.
Aber wir können definitiv nicht damit rechnen, dass
diese Koalition überhaupt noch etwas Vernünftiges zu-
stande bringt. Machen wir das Beste draus und versu-
chen, mithilfe des Struckschen Gesetzes „Kein Gesetz
verlässt das Parlament so, wie es hineingegeben wurde“
wenigstens die drei genannten Punkt so weit zu bringen,
dass sie zustimmungsfähig werden. Dann ist wenigstens
etwas gewonnen. Das werden wir in den Beratungen und
den Anhörungen in den nächsten Wochen versuchen mit
dem Ziel, dass wir zumindest bei den vorliegenden drei
Themen eine gesetzliche Regelung erarbeiten, die den
Unternehmen hilft. In diesem Sinne hoffe ich auf eine
fruchtbare Arbeit im Ausschuss.
195. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3Mietrecht
ZP 3, TOP 4 bVermögensabgabe
TOP 47, ZP 4Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 48Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 5Aktuelle Stunde zu unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Koalition
TOP 5, ZP 6Beitrag in der gesetzlichen Rentenversicherung
TOP 6Kinder- und Jugendpolitik
TOP 7Geringfügige Beschäftigung
TOP 8Begünstigung der energieintensiven Industrie
TOP 9Jahresbericht 2011 des Wehrbeauftragten
TOP 10Barrierefreier Zugang zu Kultur und Medien
TOP 11Tätigkeitsbericht 2011 des Petitionsausschusses
TOP 12Verjährung bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger
TOP 18, ZP 7EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetz
TOP 14Ausbeuterische Kinderarbeit
TOP 15Entwicklungsorientierte Wirtschaftstätigkeit
TOP 16Israelisch-palästinensischer Konflikt
TOP 17Bundes-Immissionsschutzgesetz
ZP 8Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs
TOP 19Zivile Krisenprävention
TOP 20Energie- und Stromsteuergesetz
TOP 21Glücksspielsucht
TOP 22Geldwäschegesetz
TOP 23Forschung und Lehre nur für zivile Zwecke
TOP 24Neuordnung der Postbeamtenversorgungskasse
TOP 25Humanitäre Katastrophe in der Sahel-Region
TOP 26Berufsqualifikationen
TOP 27Angemessenheit der Kosten für Unterkunft/Heizung
TOP 28Gemeinsame europäische Fischereipolitik
TOP 29Lebenspartnerschaft im öffentlichen Dienstrecht
TOP 30Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur
TOP 31Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen
TOP 32Energiewirtschaftsrechtliche Vorschriften
TOP 33Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU
TOP 34Partnerschaftsgesellschaften mit beschränkter Haftung
TOP 35Seehandelsrecht
TOP 36Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr
TOP 37Patentrechtliche Vorschriften
TOP 38Regelung des Assistenzpflegebedarfs
TOP 39Kulturelle Bildung Kinder und Jugendlicher
TOP 40SGB IX (unentgeltliche Beförderung)
ZP 9Unternehmensbesteuerung
Anlagen