Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich be-
grüße Sie herzlich.
Vor Aufrufen unseres Zusatzpunktes 1 habe ich Ihnen
bekannt zu geben, dass die Fraktionen CDU/CSU und
Bündnis 90/Die Grünen mitgeteilt haben, dass die Kolle-
gen Helmut Brandt und Wolfgang Bosbach als ordentli-
ches Mitglied bzw. als stellvertretendes Mitglied des
Vermittlungsausschusses ausscheiden. Die bisher als
stellvertretendes Mitglied berufene Kollegin Britta
Haßelmann soll als neues ordentliches Mitglied be-
stimmt werden. Ihre Stellvertretung soll die Kollegin
Renate Künast übernehmen. Als neuer Stellvertreter des
Kollegen Volker Beck ist der Kollege Jürgen Trittin be-
nannt worden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
auch deshalb besonders zu begrüßen, weil damit eine
lang schwebende Frage offensichtlich einvernehmlich
gelöst ist. Damit sind die Kollegen Britta Haßelmann als
ordentliches Mitglied und die Kollegen Renate Künast
und Jürgen Trittin als stellvertretende Mitglieder im Ver-
mittlungsausschuss bestimmt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta-
gesordnung um die Abgabe einer Regierungserklärung
durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am
Donnerstag und Freitag dieser Woche zu erweitern.
Dieser Tagesordnungspunkt soll jetzt sofort als Erstes
aufgerufen werden. – Auch dazu darf ich Ihr Einver-
ständnis feststellen. Dann ist das so beschlossen.
Somit rufe ich jetzt den Zusatzpunkt 1 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 28./29. Juni 2012 in
Brüssel
Zur Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat ist interfraktio-
nell vereinbart, dass die Aussprache im Anschluss an die
Regierungserklärung eineinhalb Stunden betragen soll. –
Das ist einvernehmlich.
Dann darf ich hiermit das Wort zur Abgabe einer Re-
gierungserklärung der Bundeskanzlerin erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Bewältigung der euro-päischen Staatsschuldenkrise bestimmt seit mehr alszwei Jahren die Agenda der Europäischen Räte. Dies giltauch für den morgen beginnenden Gipfel.Weil ich die Erwartungen und Hoffnungen kenne, diesich auch auf diesen Gipfel richten, wiederhole ichgleich zu Beginn noch einmal, was nicht oft genug ge-sagt werden kann: Es gibt keine schnellen, und es gibtkeine einfachen Lösungen. Es gibt nicht die eine Zauber-formel oder den einen Befreiungsschlag, mit dem dieStaatsschuldenkrise ein für alle Mal überwunden werdenkann. Nein, wenn es uns gelingen soll, die Krise dauer-haft zu überwinden, dann gibt es nur die Möglichkeit,diese Herausforderungen als einen Prozess aufeinander-folgender Schritte und Maßnahmen zu verstehen, der dasProblem im Übrigen an der Wurzel packt. Alles andereist von vornherein zum Scheitern verurteilt; bestenfallsist es Augenwischerei.Unser Wegweiser aus der Krise kann deshalb unver-ändert einzig die schonungslose Analyse ihrer Ursachensein: Das ist die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit eini-ger Euro-Staaten, das sind grundlegende Fehler in derKonstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion, unddas ist natürlich die massive Staatsverschuldung. DieseProbleme sind hausgemacht, und diese hausgemachtenProbleme müssen wir lösen, ohne Wenn und Aber. Dazuist es unumgänglich, nichts zu versprechen, was wirnicht halten können, und konsequent das umzusetzen,was wir beschlossen haben.
Das Ergebnis eines solchen Handelns ist Verlässlich-keit, und Verlässlichkeit ist die Voraussetzung für Ver-trauen. Dieses hohe Gut „Vertrauen“ ist seit Gründung derWirtschafts- und Währungsunion nur zu oft mit Füßen ge-treten worden. Um dieses Vertrauen wiederzugewinnen
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oder überhaupt erst zu schaffen, hat die Bundesregierungvon Anfang an dafür gearbeitet, die Wirtschafts- undWährungsunion stark und dauerhaft tragfähig zu machen.Erstens. Wir arbeiten dafür, den Teufelskreis ausSchuldenmachen und Regelverstößen zu durchbrechenund einen Rechtsrahmen zu schaffen, der die Mitglied-staaten der Euro-Zone dauerhaft zu soliden Staatsfinan-zen verpflichtet. Dazu wurde der Stabilitäts- und Wachs-tumspakt gestärkt. Der Fiskalvertrag wurde im Märzdieses Jahres unterzeichnet. Übermorgen steht er hierund im Bundesrat zur Abstimmung.Zweitens. Die Bundesregierung hat sich dafür einge-setzt, einen permanenten Krisenbewältigungsmechanis-mus zu schaffen, um zukünftige Gefahren für die Stabili-tät der Euro-Zone wirksam abwehren zu können. Auchüber den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM,der so bald wie möglich an die Stelle des temporärenRettungsschirms treten soll, wird übermorgen im Bun-destag und im Bundesrat abgestimmt.Drittens. Die Bundesregierung setzt sich für die Stär-kung der Wettbewerbsfähigkeit ein. Die Wettbewerbsfä-higkeit zu stärken, das ist die Voraussetzung für nachhal-tiges Wachstum. Diesem Ziel diente bereits der im Märzletzten Jahres beschlossene Euro-Plus-Pakt, und diesemZiel dienten die Beratungen bei allen Europäischen Rä-ten in diesem Jahr über die Frage, wie wir Wachstumund vor allen Dingen Arbeitsplätze schaffen können,ohne dass dies auf Pump geschieht.Konsolidierung und nachhaltiges Wachstum bedingeneinander. Auf Dauer ist das eine nicht ohne das anderezu haben.
Es ging und es geht also nicht um Sparen um des Spa-rens willen, sondern darum, Spielräume für eine nach-haltige Haushaltspolitik zurückzugewinnen, für eineHaushaltspolitik, die nicht auf Kosten kommender Ge-nerationen gemacht wird. Darüber – das haben die inten-siven und konstruktiven Gespräche der letzten Wochengezeigt – besteht inzwischen auch breiter und fraktions-übergreifender Konsens in diesem Hause. Dafür dankeich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen.Deutschland gibt sowohl mit einer am Ergebnis orien-tierten Diskussionskultur als auch mit dem Inhalt der Be-schlüsse, die wir vorhin im Kabinett verabschiedet ha-ben und die wir am Freitag im Bundestag und imBundesrat beschließen werden, ein starkes Signal nachinnen wie nach außen.
Es ist ein Signal der Entschlossenheit und der Geschlos-senheit, die europäische Staatsschuldenkrise zu überwin-den, und zwar nachhaltig. Genau darum, um Nachhaltig-keit, hat es zu gehen, nicht um Strohfeuer.Wenn wir morgen in Brüssel dem Fiskalvertrag einenkraftvollen Pakt für Wachstum und Beschäftigung an dieSeite stellen, dann werden deshalb ganz oben auf derWachstumsagenda auch weiterhin die Strukturreformender Mitgliedstaaten für mehr Wettbewerbsfähigkeit ste-hen. Sie sind der Schlüssel zu nachhaltigem Wachstum.Vieles ist schon auf den Weg gebracht worden. ErsteErfolge sind in einer Reihe von Mitgliedstaaten zu ver-zeichnen. Dies gilt insbesondere für die ProgrammländerIrland und Portugal, die eindrucksvoll bestätigen, wieder Ansatz aus Konsolidierung und Strukturreformen,flankiert durch solidarische europäische Unterstützung,gelingen kann.Italien hat mit Mario Monti den Weg hin zu solidenöffentlichen Finanzen, Wachstum, Beschäftigung undWettbewerbsfähigkeit eingeschlagen. Spanien hat mitMariano Rajoy und seiner Regierung im letzten halbenJahr wichtige Reformen auf den Weg gebracht. Es istrichtig, dass er für die Herausforderungen im Banken-sektor, die im Übrigen auf Fehlentwicklungen im Immo-bilienbereich in den letzten 10 bis 15 Jahren beruhen,jetzt auf die europäischen Hilfsinstrumente zurückgreift,die ja genau für diesen Zweck geschaffen wurden.Meine Damen und Herren, es steht völlig außer Zwei-fel: Alle Mitgliedstaaten, auch Deutschland, müssen ihreHausaufgaben machen, die ihnen die Europäische Kom-mission – zum ersten Mal im Übrigen im Rahmen desneuen Stabilitätspakts – in ihren Länderberichten aufge-geben hat.Dies werden wir beim Europäischen Rat zusammenmit den Partnern noch einmal bekräftigen. Ich möchteder Kommission ausdrücklich für die sehr ehrlichen undsehr spezifischen Berichte danken. Auf dieser Grundlagekann die gezielte europäische Unterstützung und Förde-rung nationaler Maßnahmen erfolgen.Ein gutes Beispiel dafür, wie beides ineinandergreifenkann, ist die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit.Ich werde auf dem Rat dafür eintreten, dass sich alleMitgliedstaaten verbindlich verpflichten, jedem Jugend-lichen binnen weniger Monate nach Schulabschluss oderJobverlust ein hochwertiges Angebot für eine neue Ar-beitsstelle, eine Aus- oder Weiterbildung oder ein Prakti-kum zu machen.Zudem sollen befristete Einstellungszuschüsse ausdem Europäischen Sozialfonds finanziert werden kön-nen. Damit sollen für Unternehmen Anreize gesetzt wer-den, Jugendliche auszubilden oder einzustellen.
Darüber hinaus sollten wir junge Menschen bei derArbeitsuche in anderen EU-Mitgliedstaaten unterstüt-zen. „Dein erster EURES-Arbeitsplatz“ – so heißt dieInitiative des Europäischen Portals für berufliche Mobi-lität, die genau das leisten will und die wir erweitern undfinanziell aufstocken sollten. Die Bundesarbeitsministe-rin wird sich auf europäischer Ebene intensiv dafür ein-setzen, dass wir neben dem Binnenmarkt auch mehr Mo-bilität auf den Arbeitsmärkten bekommen.
Außerdem werde ich mich beim Europäischen Ratweiterhin dafür starkmachen, EU-Finanzmittel insge-
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samt stärker zur Förderung von Wettbewerbsfähigkeitund Wachstum einzusetzen.Dazu gehört zum einen, noch nicht abgerufene Mittelaus den europäischen Strukturfonds – das könnten nochetwa 65 Milliarden Euro sein – rasch und gezielt für In-vestitionen einzusetzen, die ganz besonders Wachstumund Beschäftigung fördern. Laut Kommission konntenbis Mai bereits circa 7,3 Milliarden Euro für die Verbes-serung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Jugendli-che und für einen verbesserten Zugang kleiner und mitt-lerer Unternehmen zu Finanzmitteln mobilisiert werden.Die Kommission schätzt, dass davon mindestens460 000 Jugendliche und 56 000 kleine und mittlere Un-ternehmen profitieren würden.Um EU-Finanzmittel stärker zur Förderung von Wett-bewerbsfähigkeit und Wachstum einzusetzen, gehörtzum anderen auch, das Eigenkapital der EuropäischenInvestitionsbank um 10 Milliarden Euro aufzustocken.Damit könnten, so die Europäische Kommission, in dennächsten vier Jahren Kredite in Höhe von insgesamt60 Milliarden Euro zusätzlich gewährt werden.
Schließlich gehört auch die Pilotphase zu der Projekt-anleiheninitiative dazu. Sie muss zügig begonnen wer-den. Wenn es geeignete Projekte gibt, können wir sie bis2013 aufstocken. Mit einer Absicherung von 1 MilliardeEuro aus dem EU-Haushalt könnten, so die Kommis-sion, Investitionen in Höhe von bis zu 5 Milliarden Euromobilisiert werden.Insgesamt geht es bei den von mir dargestellten Maß-nahmen um 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Eu-ropäischen Union oder, anders gesagt, um etwa 130 Mil-liarden Euro, die wir zusätzlich in Wachstum investierenkönnen. Das ist ein starkes Signal.Der Gedanke von Wachstum und Beschäftigung mussuns darüber hinaus in den Verhandlungen über dennächsten EU-Finanzrahmen leiten; denn auch auf euro-päischer Ebene müssen wir dazu kommen, Wege zu fin-den, wie begrenzte Ressourcen am sinnvollsten einge-setzt werden können. Dazu hat Deutschland zusammenmit gleichgesinnten Mitgliedstaaten eine Debatte unterder Überschrift „Better spending“ eingefordert. Ziel istes also, den EU-Haushalt 2014 bis 2020, der immerhinein Volumen von rund 1 000 Milliarden Euro habenwird, eindeutig auf die Förderung von Wachstum undBeschäftigung auszurichten.Meine Damen und Herren, neben dem Pakt fürWachstum und Beschäftigung wird ein weiterer Schwer-punkt des Europäischen Rates die Finanzstabilität imEuro-Raum sein. Die Ratifikation des ESM-Vertrags inden Euro-Staaten ist weit fortgeschritten. Die Situationin Spanien zeigt, wie wichtig es ist, auch den Banken-sektor verstärkt in den Blick zu nehmen und Anste-ckungsgefahren zwischen Banken und Staatsfinanzen zuverringern. Zu diesem Zweck brauchen wir eine glaub-würdige europäische Bankenaufsicht, die objektiv agiertund auf nationale Belange keine Rücksicht nimmt.Zumindest die systemrelevanten Banken sollten künf-tig einer verstärkten gemeinsamen Aufsicht unterliegen.Hierzu müssen wir einen konkreten Fahrplan entwickelnund bald die ersten Schritte gehen.Die Verhandlungen über europäische Gesetzgebungs-vorhaben, die bereits auf dem Tisch liegen, sollten be-schleunigt werden. Diese betreffen die Sanierung unddie geordnete Abwicklung von Kreditinstituten und dieVerbesserung der nationalen Einlagensicherung zuguns-ten von Kleinanlegern und Sparern.Die Bundesregierung wird sich darüber hinaus fürweitere Schritte der Finanzmarktregulierung einsetzen,unter anderem zur Reduzierung der Systemrelevanz gro-ßer Finanzmarktakteure und zur Regulierung der Schat-tenbanken; das war auch Thema auf dem G-20-Gipfel inLos Cabos.Wir sind uns darüber hinaus fraktionsübergreifend ei-nig, die Einführung einer Finanztransaktionsteuer weitervoranzutreiben. Ich freue mich, dass beim Finanzminis-terrat in der letzten Woche die nötige Zahl von mindes-tens neun Mitgliedstaaten erreicht wurde
– der Beifall gilt dem Finanzminister; ich bedanke michin seinem Namen –,
um für dieses Anliegen eine sogenannte verstärkte Zu-sammenarbeit auf den Weg zu bringen. Heute haben wirim Kabinett beschlossen, den dazu erforderlichen Antragzu stellen. Wir erwarten, dass die Europäische Kommis-sion die erforderlichen Schritte einleitet, damit das euro-päische Gesetzgebungsverfahren möglichst bis Endedieses Jahres abgeschlossen werden kann. Uns leitet dieÜberzeugung, dass der Finanzsektor einen angemesse-nen Anteil zur Bewältigung der Kosten der Finanzkriseleisten muss. Die Finanztransaktionsteuer wird genau zudiesem Zwecke erhoben werden.Meine Damen und Herren, ein weiterer Schwerpunktdes Rates wird die Entwicklung der Wirtschafts- undWährungsunion sein. Die Staatsschuldenkrise zeigt unstäglich, dass Fehlentwicklungen in einem Land derEuro-Zone die Euro-Zone als Ganzes in Schwierigkeitenbringen können. Sie zeigt uns auch, dass nationale Ant-worten nicht ausreichen, um die Stabilität des Euro-Raums zu sichern. Länder eines gemeinsamen Wäh-rungsraums müssen fest entschlossen sein, gemeinsamvereinbarte Regeln einzuhalten und darauf hinzuarbei-ten, ihre jeweilige Wettbewerbsfähigkeit schrittweise an-zugleichen, und zwar nicht am Mittelmaß ausgerichtet,sondern an den jeweils Besten in Europa oder im welt-weiten Maßstab.
Meine Damen und Herren, ich bin fest davon über-zeugt: Es geht dabei um etwas sehr, sehr Grundsätzli-
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ches. Wir leben in sehr entscheidenden Monaten für dieZukunft Europas. In dieser Krise geht es um nicht mehrund nicht weniger als um die Frage, ob wir auch in Zu-kunft in Europa in Wohlstand leben können – angesichtseines sich weltweit völlig verändernden Wettbewerbs.Die Schwellenländer sind motiviert. Wie wir diese Frageim Zusammenhang mit der Lösung der Staatsschulden-krise beantworten, davon hängt das Leben künftiger Ge-nerationen in ganz entscheidendem Maße ab.
Vor diesem Hintergrund müssen wir uns anschauen,was seit der Einführung des Euros geschehen ist. DieUnterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit der Mitglied-staaten der Euro-Zone haben sich zum Teil über vieleJahre vergrößert, und die Kriterien, die wir uns mit demStabilitäts- und Wachstumspakt selbst gegeben haben,wurden immer wieder aufgeweicht. Es zeigte und zeigtsich immer wieder, dass es bislang keinerlei Möglichkei-ten in der Währungsunion gibt, durch Eingriffe in natio-nales Handeln die Einhaltung der selbst gesetzten Maß-stäbe durchzusetzen. Das genau sind die Fehler, die beider Einführung des Euro gemacht wurden, weil die Wirt-schafts- und Währungsunion nicht, wie ursprünglich ge-plant, mit einer politischen Union kombiniert wurde.Das hat uns inzwischen weltweit viel Vertrauen gekostet,Vertrauen von Investoren, die in europäische Staatsanlei-hen investieren sollten. Dieses Vertrauen muss jetztmühsam wiedergewonnen werden, und dies geht nur,wenn wir die Versäumnisse der Vergangenheit behebenund so die Nachhaltigkeit und Funktionsfähigkeit derWährungsunion sichern. Die Wirtschafts- und Wäh-rungsunion muss eine Stabilitätsunion werden.
Wir werden beim Europäischen Rat einen Arbeitsplanaufstellen und eine Arbeitsmethode entwickeln, wie wirdie Versäumnisse der Vergangenheit überwinden kön-nen. Ausgangspunkt unserer Diskussion wird ein Berichtsein, den der Präsident des Rates zusammen mit demPräsidenten der Kommission, dem Vorsitzenden derEuro-Gruppe und dem Präsidenten der EuropäischenZentralbank den Staats- und Regierungschefs übersandthat. Dem Parlament liegt dieser Bericht vor.Um es klar zu sagen: Ich teile die in diesem Berichtniedergelegte Auffassung, dass vier Bausteine für einezukünftige Zusammenarbeit in einer stabilen Währungs-union wesentlich sind: erstens die integrierte Zusam-menarbeit der systemrelevanten Finanzinstitute, zwei-tens eine integrierte Fiskalpolitik, drittens ein Rahmenfür eine integrierte Wirtschafts- und Wettbewerbspolitikund viertens die demokratische Legitimation einer sol-chen verstärkten Zusammenarbeit der Mitgliedstaatender Euro-Zone, was ja bekanntlich im Augenblick nur17 von 27 sind.Ich sage auch: Diese vier Bausteine gehören eng zu-sammen. Sie entfalten nur gemeinsam ihre Wirkung.Aber ebenso klar sage ich: Ich widerspreche entschie-den, dass im Bericht vorrangig der Vergemeinschaftungdas Wort geredet wird und erst an zweiter Stelle – unddas auch noch sehr unpräzise – mehr Kontrolle und ein-klagbare Verpflichtungen genannt werden.
Somit stehen Haftung und Kontrolle in diesem Bericht ineinem klaren Missverhältnis.Damit, so fürchte ich, wird auf dem Rat insgesamtwieder viel zu viel über alle möglichen Ideen für eine ge-meinschaftliche Haftung und viel zu wenig über verbes-serte Kontrollen und Strukturmaßnahmen gesprochen.
Ganz abgesehen davon, dass Instrumente wie Euro-Bonds, Euro-Bills, Schuldentilgungsfonds und vielesmehr in Deutschland schon verfassungsrechtlich nichtgehen, halte ich sie auch ökonomisch für falsch und kon-traproduktiv.
Kontrolle und Haftung dürfen nicht in einem Miss-verhältnis zueinander stehen. Kontrolle und Haftungmüssen Hand in Hand gehen. Gemeinsame Haftungkann erst dann stattfinden, wenn ausreichende Kontrollegesichert ist. Ich erinnere nur daran, dass weder Bundund Länder in Deutschland noch Staaten wie Amerikaoder Kanada eine gesamtschuldnerische Haftung für ihreaufgenommenen Anleihen kennen. Vielmehr brauchenwir, um eine Stabilitätsunion zu entwickeln, mehrDurchgriffsrechte der europäischen Ebene, wenn Haus-haltsregeln verletzt werden. Dazu verabschieden wir alsersten Schritt am Freitag den Fiskalpakt.Ich habe es hier schon früher gesagt und wiederholees noch einmal: Ich hätte mir gewünscht, dass schon frü-her bei Nichteinhaltung des Stabilitätspakts ein Eingriffin nationale Haushalte möglich ist. Auch brauchen wireine größere Verbindlichkeit in den Bereichen, die imEuro-Plus-Pakt und in der Agenda 2020 angesprochensind, angefangen bei den schon oft versprochenen Aus-gaben für Forschung und Innovation aller Mitgliedstaa-ten bis hin zu einer Angleichung der Lohnstückkosten.Ich werde deshalb in Brüssel ausloten, ob andere Mit-gliedstaaten bereit sind, einen solchen Weg inklusivenotwendiger Vertragsänderungen zu gehen.Ich werde aber auch deutlich machen: Die Zeitdrängt. Die Welt wartet auf unsere Entscheidungen.
Die Welt will verstehen – ich habe das in Los Cabos im-mer wieder gemerkt –: Wohin geht diese EuropäischeUnion, insbesondere die Euro-Gruppe? Was ist dieStruktur, in der sie verlässlich arbeiten kann?Dabei steht für mich im Übrigen außer Frage, dass eszur Angleichung der Wettbewerbsfähigkeit im Euro-Raum über die bekannten Struktur- und Kohäsionsfondsder 27 Mitgliedstaaten hinaus sicher auch unter den 17noch stärkerer Mittel der Solidarität bedarf. Zum Bei-spiel könnte man sich vorstellen, dass Einnahmen ausder Finanztransaktionsteuer genau dafür verwendet wer-den. Euro-Bonds oder, wie es im Bericht heißt, die Emis-
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sion gemeinsamer Schuldtitel halte ich jedoch für denfalschen Weg.
Es bedarf anderer Mechanismen, die an die Verbesse-rung der Wettbewerbsfähigkeit streng gekoppelt seinmüssen.Eine Währungsunion wird den Menschen in Europanur dann dienen, wenn wirklich alle Kräfte dafür einge-setzt werden, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.Nur wenn wir die besten Produkte herstellen und diebesten Dienstleistungen anbieten, werden wir auch dau-erhafte Arbeitsplätze für die Menschen schaffen können.Davon bin ich zutiefst überzeugt.
Meine Damen und Herren, ich mache mir keine Illu-sionen. Ich erwarte in Brüssel kontroverse Diskussionen.Einmal mehr werden sich dabei viele Augen aufDeutschland richten. Doch ich wiederhole hier und heutedas, was ich in diesem Haus zuletzt am 14. Juni 2012 ge-sagt habe:… Deutschland ist Wirtschaftsmotor, und … Stabi-litätsanker in Europa. …Auch Deutschlands Stärke ist nicht unendlich; auchDeutschlands Kräfte sind nicht unbegrenzt.Auch Deutschlands Kräfte dürfen wir nicht überschät-zen.Wenn wir das beherzigen, dann können DeutschlandsKräfte für unser Land und für Europa ihre volle Wirkungentfalten.
Beherzigen wir das nicht, dann wäre alles, was wir pla-nen, verabreden, umsetzen, am Ende nichts wert, weilklar wäre, dass es Deutschland überforderte, und daswiederum hätte unabsehbare Folgen für Deutschlandund Europa. Das werden wir nicht zulassen.Ich werde mich deshalb dafür einsetzen, dass wir derWährungsunion ein stabiles Fundament geben. Die Feh-ler der Vergangenheit dürfen auf keinen Fall wiederholtwerden. Gleiche Zinssätze durch Euro-Bonds politischzu erzwingen, nachdem sie schon bei den Märkten nichtgut gewirkt haben, das wäre die Wiederholung eines al-ten Fehlers und nicht die richtige Lehre aus den Erfah-rungen.
Stattdessen werde ich mich auf dem Rat dafür einsetzen,dass wir einen Zeitplan und eine Arbeitsmethode für dieaufgeworfenen Fragestellungen verabschieden. Diessollte angesichts der schwierigen Situation so anspruchs-voll wie glaubwürdig sein. Unsere Arbeiten müssen die-jenigen überzeugen, die das Vertrauen in die Euro-Zoneverloren haben – nicht durch Augenwischerei undScheinlösungen, sondern indem wir die Ursachen derKrise bekämpfen. Das meine ich, wenn ich von mehrEuropa spreche.Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich binüberzeugt, dass mehr Europa, so verstanden, eine zwin-gende Voraussetzung ist, um unser europäisches Wirt-schafts- und Gesellschaftsmodell zum Wohle unsererBürgerinnen und Bürger im globalen Wettbewerb aufDauer zu behaupten. Wir müssen uns jetzt aufmachen,das nachzuholen, was vor 20 Jahren bei der Gründungder Wirtschafts- und Währungsunion durch den Vertragvon Maastricht noch nicht möglich war: die Wirtschafts-und Währungsunion politisch zu vollenden. Dafür wirddie ganze Bundesregierung, dafür werde ich aus Über-zeugung arbeiten, auch auf dem morgigen EuropäischenRat. Ich lade Sie ein, dabei mitzutun.Herzlichen Dank.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir nehmen
den nicht enden wollenden Beifall der Koalitionsfraktio-
nen zu Protokoll.
– Ich bedanke mich für die Bestätigung meiner Proto-
kollnotiz.
Ich eröffne nun die Aussprache und erteile als Erstem
dem Kollegen Franz-Walter Steinmeier für die SPD-
Fraktion das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regie-rungsfraktionen, machen Sie sich ruhig Mut. Er könntein den nächsten Monaten nötig sein.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Zwei Regierungserklärungen in einer Woche, Sitzungenund Sondersitzungen der Fraktionen, notwendige Zwei-drittelmehrheiten, Sondersitzungen des Bundesrates,möglicherweise weitere Sondersitzungen des DeutschenBundestages über den Sommer hinweg – Frau Merkel,es geht in Europa eben nicht nur um Wachstumsraten,sondern jeder spürt: Es geht in Europa ums Ganze. Die-sem Ernst der Lage müssen Sie sich stellen und den Leu-ten in Deutschland reinen Wein einschenken. Das istAufgabe einer Kanzlerin.
Ich habe Sie eben sagen hören, es gebe keinen wirk-lich zuverlässigen Weg aus der Krise. Vor sechs Mona-ten, am 14. Dezember 2011, haben Sie – das würde ichIhnen gerne in Erinnerung rufen – sich an dieses Pult ge-stellt und mit großem Stolz verkündet – ich zitiere –:Meine Damen und Herren, wir haben in den letztenWochen die Weichen für dieses neue Europa ge-stellt, für ein Europa der Stabilität, der Solidaritätund des Vertrauens.
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Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Frau Merkel, ich weiß nicht, ob Sie das damals selbstgeglaubt haben. Aber eines weiß ich ganz gewiss: Voneinem Europa der Stabilität, der Solidarität und des Ver-trauens sind wir heute weiter entfernt denn je.
Das hat auch mit Ihnen und Ihrer Regierung zu tun,Frau Merkel: mit der Mischung aus einer Fehldiagnosevon Krisenursachen und darauf gegründeter Schulmeis-terei.
Sie waren bisher nicht Teil der Lösung, sondern Siewaren und sind Teil des Problems. Das ist die ganzeWahrheit.
Vielleicht haben Sie ja im Dezember letzten Jahreswirklich geglaubt, dass der Scheitelpunkt der Krise be-reits überschritten ist. Vielleicht dachten Sie damalstatsächlich: Wenn wir den Fiskalpakt auf den Weg brin-gen und alle gemeinsam sparen, dann kehren in Europawieder Ruhe und Ordnung ein. – Das war damals blau-äugig. Heute sind Sie durch die harte ökonomische Rea-lität in Europa schlicht und einfach überholt worden.Griechenland, Irland und Portugal sind unter dem Ret-tungsschirm. Spanien und Zypern klopfen an. Griechen-land wartet wieder vor der Tür. Die Krise schlägt doch inWahrheit eine Schneise der Verwüstung durch ganz Eu-ropa, und es ist kein Ende in Sicht. Die Krise erreichtauch uns.Wir haben Ihnen nicht nur von diesem Pult aus, son-dern immer wieder auch öffentlich gesagt: Konsolidie-rung ist ganz ohne Zweifel notwendig. Aber wir schaf-fen das nicht alleine durch Sparen. Wir müssen inEuropa auch für Wachstum sorgen. Das ist unsere eigenedeutsche Erfahrung. – Sie wollten das nicht hören. Aberich sage Ihnen: Ihre Politik ist gescheitert, meine Damenund Herren.
Weil das so ist, hätten wir von der SPD es uns leichtmachen können.
– Ich würde an Ihrer Stelle nicht lachen.
Wir hätten es uns, wie gesagt, leicht machen und sagenkönnen: Eine Regierung, die uns nach der Vereinbarungüber den Fiskalpakt auf der europäischen Ebene zehnWochen lang nicht zu Gesprächen einlädt, sondern erstdas Ergebnis der nordrhein-westfälischen Landtagswahlabwartet,
eine Regierung, mit der wir seit über zwei Jahren zuver-lässig die Erfahrung machen, dass sie zunächst allesMögliche verhindert, um es sechs oder acht Wochen spä-ter dann doch zu machen, hat kein Vertrauen und keineUnterstützung verdient.
Viele unserer Abgeordneten haben gesagt: Lasst sie dochzusehen, wie sie in der Regierung zurechtkommen. –Das kann ich dem einen oder anderen nicht einmal ver-denken.
– Es geht eben nicht um Sie; genau. Darum haben wirnicht nach diesem verständlichen Reflex gehandelt, son-dern sind einen schwereren Weg gegangen. Wir sind– anders als die Linkspartei, die hier in einer solchen Si-tuation fröhliche Zurufe macht –
einen schweren Weg gegangen. Wir haben in hartenVerhandlungen Ton und Stoßrichtung der europäischenDebatte verändert.
Die reine Austeritätspolitik ist vom Tisch. Konsolidie-rung und Wachstum, das ist der neue Zweiklang. Ihngäbe es nicht ohne Sozialdemokraten, auch nicht in die-sem Parlament.
Ich sage noch einmal in Richtung der rechten Seitedieses Parlaments: Ein Fiskalpakt allein, wie Sie ihn ur-sprünglich verhandelt haben, hätte in diesem Parlamentkeine Chance auf eine Zweidrittelmehrheit. Machen Siesich das immer wieder klar!
Die ergänzenden Wachstumsimpulse, neue Instrumentewie Projektanleihen, die Stärkung der EuropäischenInvestitionsbank und auch das Sofortprogramm gegenJugendarbeitslosigkeit sowie die Transaktionsteuermachen dieses Paket doch erst zustimmungsfähig.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22227
Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Das waren unsere Forderungen, und wir haben uns damitdurchgesetzt. Deshalb danke ich allen in meiner Frak-tion, die geholfen haben, das zu verhandeln.
Wir haben gestern in der Fraktionssitzung ausführlichüber das Verhandlungsergebnis diskutiert. Eine großeMehrheit in meiner Fraktion steht hinter den erreichtenVereinbarungen. Wenn der Europäische Rat diesem Ver-handlungsergebnis folgt, dann werde ich meiner Frak-tion am Freitag empfehlen können, dem Fiskalpakt unddem ESM zuzustimmen.Zur Wahrheit gehört aber auch: Vielen in meinerFraktion fällt die Zustimmung zu diesem Gesetz-gebungspaket nicht leicht, vor allen Dingen wegen dernicht ganz leichten verfassungsrechtlichen Fragen, diesich stellen. Wir haben diese verfassungsrechtlichen Fra-gen in mehreren Fraktionssitzungen hintereinander aus-führlich miteinander diskutiert, und wir haben versucht,so weit wie irgend möglich Antworten auf die Fragen zugeben. Vielleicht haben wir nicht jeden überzeugt; aberdas ist eben auch eine Folge der Rechtskonstruktion fürdiesen Fiskalpakt, die ja ursächlich auf die Vorschlägedieser Regierung zurückgeht. Der Pakt ist nämlich alsein völkerrechtlicher Vertrag neben und außerhalb deseuropäischen Institutionensystems konzipiert, und dasführt uns eben ganz ohne Zweifel auf schwieriges juristi-sches Terrain.Deshalb sage ich an dieser Stelle und mit Absichtheute: Das muss eine absolute Ausnahme bleiben. Hal-ten Sie sich in Zukunft an geltendes europäisches Recht!Andernfalls entsteht ein Flickenteppich, mit dem wir inZukunft umzugehen nicht mehr in der Lage sind. Das istdie schlichte Wahrheit.
– Herr Kauder, ich darf kurz zur Aufklärung beitra-gen: Die verstärkte Zusammenarbeit gehört zu den aner-kannten europäischen Instrumentarien. Das ist nichtsNeues, sondern im europäischen Recht verankert.
Zweiter Appell. Frau Merkel, es kann nicht sein, dassdas Nachdenken über die Zukunft der EuropäischenUnion und über die weitere Ausgestaltung der europäi-schen Integration allein Exekutivvertretern obliegt. Dasist ein gefährlicher Weg für uns alle und durch den Deut-schen Bundestag nicht hinzunehmen.
Deshalb ist mein Appell: Wenn Arbeitsgruppen beauf-tragt werden, müssen Vertreter der Parlamente hinzuge-zogen werden.Der morgige Gipfel mag ein Zwischenschritt auf demWeg zur Lösung der Krise sein. Vielleicht ist er ein not-wendiger Schritt, aber ich sage Ihnen voraus – und Siesehen es ja nicht anders –: Ein Ausweg aus der Krisewird dort nicht gefunden. Die Turbulenzen auf denFinanzmärkten werden nicht zu Ende sein. Das ist ja inder Tat auch der Grund, weshalb Sie schon jetzt weiter-reichende Beschlüsse für die Zukunft ankündigen.Weil Sie eben die Verhandler und die Autoren solcherPapiere auf der Brüsseler Ebene gelobt haben, sage ichIhnen: Auf den Brüsseler Fluren spricht sich etwas ganzanderes herum. Da wird eine ganz andere Geschichte er-zählt. Es wird nämlich gesagt: Statt Van Rompuy dabeizu unterstützen, mutige Integrationsschritte nach vornezu gehen, hat Berlin im Vorfeld schon den Rotstift ange-setzt, und über die Hälfte des Textes, den Van Rompuyentworfen hat, ist dem schon zum Opfer gefallen.
Deshalb ist es etwas heuchlerisch, wenn Sie sagen, dieReformkommission habe gute Arbeit geleistet. Das wirdhier bei anderer Gelegenheit, wenn wir die Texte ken-nen, noch zur Sprache kommen.Heute und zum Schluss sage ich Ihnen: Unsere Er-wartung an diese Regierung und an Sie, Frau Bundes-kanzlerin, ist: Sorgen Sie dafür, dass das Verhandlungs-ergebnis verbindlich in die Ergebnisse des EuropäischenRates eingehen wird. Nur dann wird die Zweidrittel-mehrheit hier im Deutschen Bundestag zu erreichensein.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Beim bevorstehenden Europäischen Rat am 28./29. Juni werden Entscheidungen getroffen, um daswirtschaftliche Wachstum in Europa zu stimulieren.Die Maßnahmen sind mit Blick auf die Südländerder Europäischen Union richtig, um deren Abglei-ten in eine Rezession zu verhindern oder abzumil-dern. Die Stärkung der Europäischen Investitions-bank, die Bündelung von Strukturfonds und diediskutierten Projektanleihen werden aber dasgrundlegende Problem nicht beheben: Die meisteneuropäischen Volkswirtschaften sind internationalnicht wettbewerbsfähig.Die Konjunkturprogramme werden nur zeitlichbegrenzt helfen, jedoch keines der strukturellenProbleme lösen. Die Bundeskanzlerin ist daher gutberaten, auf dem Gipfel im Gegenzug auf weitereReformen in den Mitgliedstaaten zu bestehen.
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22228 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Rainer Brüderle
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Europa braucht eine mutige Reformagenda, um dieHaushalte zu konsolidieren, die Wettbewerbsfähig-keit zu erhöhen und damit Arbeitsplätze zu schaf-fen.
Nachhaltiges Wachstum wird durch Strukturrefor-men erzielt.Ich habe eigentlich erwartet, dass jetzt die SPD inJubelstürme ausbricht. Es rührt sich jedoch keine Hand.Ich habe bisher ungekürzt und unverändert IhrenAltkanzler Gerhard Schröder zitiert.
Ich hätte hier wohl den kompletten Text aus dem Han-delsblatt vom letzten Freitag vortragen können, Sie hät-ten es nicht gemerkt.
Sie haben nicht einmal die Botschaft verstanden,
die volkswirtschaftliche nicht und die politische nicht.
Der Ratschlag an die Kanzlerin ist in Wahrheit ein Warn-schuss an die eigenen Reihen: Der SPD würde gut zuGesicht stehen, nicht den Job der französischen Sozialis-ten zu machen. Das ist Schröders Warnschuss.
Müntefering hat vor ein paar Wochen den Anfang ge-macht. Er fordert von der SPD-Führung quasi mehrSchröder und weniger Hollande. Uns müssen Schröderund Müntefering nicht von der Steigerung der Wett-bewerbsfähigkeit überzeugen. Wir sind Sachwalter inFortsetzung der Agendapolitik, von der sich HerrGabriel verabschiedet hat.
Die christlich-liberale Koalition drängt auf Struktur-reformen. Wir mahnen es bei unseren Partnern an. Wirhaben viel durchgesetzt: Stichwort „Six-Pack“, Stich-wort „Fiskalpakt“. Viele internationale Beobachter sa-gen: So viel deutsche soziale Marktwirtschaft war in derEU noch nie.
Da klingt auch ein wenig alte Befürchtung mit. Das soll-ten wir nicht vergessen. Aber es wird von uns Führungerwartet. Es ist gut und richtig, dass die deutsche Stabili-tätskultur europäisiert wird. Jedes Wachstum braucht einFundament. Schulden sind kein Fundament für eine gutewirtschaftliche Entwicklung.
Fundamente sind Wettbewerbsfähigkeit und Stabilität.Herr Steinmeier hat zu Recht darauf hingewiesen: DieSchuldenkrise ist eine Bewährungsprobe für unsere par-lamentarische Demokratie in Deutschland. Im Momenthaben viele Menschen den Eindruck, Italiener, Spanier,Franzosen wollen vor allem Deutsche anzapfen. Wir sol-len für spanische Schrottimmobilien zahlen. Wir sollenden Franzosen die Rente mit 60 finanzieren.
Wir sollen die Italiener im Allgemeinen finanzieren. Dasist das Stimmungsbild vieler in Deutschland. Das mussman einfach einmal zur Kenntnis nehmen.Die Grünen führen eine ganz andere Debatte. AmWochenende konnte man das fast greifen: Sie sind in derEuropafrage tief gespalten.
Wir Liberale haben zu dieser Frage einen Mitgliederent-scheid durchgeführt. Das war ein Kraftakt. Sie reden vonBasisdemokratie, trauen sich so etwas selber aber nichtzu. Sie halten nur Sonntagsreden, wir haben es gemacht.
Die Grünen haben den Schuldentilgungsfonds, der ihrHauptanliegen war, in den Verhandlungen nicht durch-setzen können. Das schmerzt sie, aber jeder musste Krö-ten schlucken. In Deutschland und in Europa haben sichalle politischen Kräfte bewegen müssen. Ihre Idee, alteSchulden aus Griechenland, Spanien und Italien mitdeutschen Steuergeldern zu tilgen, ist der Bevölkerungnicht vermittelbar, verfassungsrechtlich nicht konformund nicht zulässig.
Ich verstehe nicht, weshalb die Grünen sich diese Ideeauf die Fahnen geschrieben haben. Sonst reden die Grü-nen von Nachhaltigkeit und Verursacherprinzip. Bei derVergemeinschaftung von Schulden ist davon nichts zuhören. Mit einem Schuldensozialismus ist niemandemgedient.
Das Gleiche gilt für die sogenannte Bankenunion, einschönes, aber gefährliches Wort. Wir haben noch eine ei-nigermaßen funktionierende Einlagensicherung bei denSparkassen, den Genossenschaftsbanken und den priva-ten Banken. Wenn andere Mitgliedstaaten sich anstren-gen wollen, auf unser Niveau zu kommen, ist das in Ord-nung.
Bislang versteht man das in Europa unter Harmonisie-rung. Aber Harmonisierung kann nicht heißen, anderefür die eigenen Probleme zahlen zu lassen. Es ist nichtvermittelbar, dass die deutsche Oma mit ihrem Sparbuch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22229
Rainer Brüderle
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für die Schulden von Investmentbankern in anderen Län-dern haften soll. Das geht nicht an.
Manchmal habe ich den Wunsch, dass unsere Partnervielleicht mehr Fantasie in Hinsicht auf die Struktur-reformen als bezüglich der Verteilung von Finanzgeld inEuropa verwenden sollten. Gerhard Schröder hat voll-kommen recht: Man kann in den Süden Geld hinein-schütten, aber mehr als ein kleines Strohfeuer wird mandamit nicht entfachen können. Die Mitgliedstaaten imSüden müssen wirkliche Strukturreformen anpacken. Daist Schröder voll und ganz zuzustimmen.
Es geht um drei Dinge: erstens Wettbewerbsfähigkeit,zweitens Wettbewerbsfähigkeit und drittens Wettbe-werbsfähigkeit.
Wir Deutsche sind in hohem Maße solidarisch. Unseredirekten und indirekten Haftungsrisiken belaufen sichnach vielen Schätzungen auf die Größenordnung von700 Milliarden Euro. Das ist zweimal die Größe desBundeshaushaltes. Uns kann keiner vorwerfen, wir seiennicht solidarisch und wir würden nichts tun. Wir sind be-reit, Spanien zu helfen. Auch Zypern erwartet von unsSolidarität. Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße.Strukturreformen in diesen Ländern sind unabdingbar.Das gilt auch für unsere griechischen Freunde.
Weitere Unterstützung für Griechenland kann es nurgeben, wenn sich die Hellenen an die Vorgaben derTroika halten. Von getroffenen Vereinbarungen darf mannicht abrücken. Jetzt haben Van Rompuy, Barroso,Draghi und Juncker Vorschläge für eine politische Uniongemacht. Ob darin die vier Muskeltiere die Zukunft Eu-ropas sehen, muss sich noch erweisen.
Nur, mehr Europa darf nicht weniger Demokratie be-deuten. Eine Eurokratur ist nicht unser Ziel. Europamuss von den Bürgern getragen werden. Wir brauchenein verständliches Recht. Wir brauchen ein gutes Recht.Wir müssen Defizite ausgleichen. Es ist nicht in Ord-nung, dass Malta bei der Europäischen Zentralbank dasgleiche Stimmgewicht hat wie die BundesrepublikDeutschland. Es ist nicht in Ordnung, dass in Europanicht gilt: One man oder one woman, one vote. Auch dasmuss sich ein Stück weit ändern, wenn Europa eine Er-folgsstory sein soll.
Aber entscheidend ist: Damit Europa eine Erfolgs-story wird, müssen wir es schaffen, die Herzen der Men-schen zu erreichen. Davon sind wir noch ein Stück ent-fernt. Daran müssen wir alle arbeiten. Europa darf nichtdas Projekt von einigen politischen Eliten sein, sondernes muss das Projekt der Menschen sein und in den Her-zen der Menschen ankommen.
Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-deskanzlerin, Griechenland ist im fünften Jahr der Re-zession am wirtschaftlichen Abgrund, und der Bevölke-rung droht Armut. Zypern stellt als fünftes Land einenAntrag an den Rettungsschirm. Es ist nämlich von derKrise in Griechenland mit betroffen.Portugal und Irland sind ebenfalls in der Rezession,und zwar dank der Spardiktate. Italien schlittert geradein eine schlimme Krise. Spanien ist ebenfalls in der Re-zession, und es droht ein Kollaps der Banken. Deshalbhat Spanien ebenfalls einen Antrag an den Rettungs-schirm gestellt.Aber gestern – das will ich Ihnen erzählen – war derKonzernbetriebsratsvorsitzende von Iveco, einer Firmain Ulm, bei mir. Er hat mir erzählt, dass diese Firma Lkwnach Italien und Spanien verkauft. Da Italien und Spa-nien immer weniger Geld haben, werden dort immer we-niger Lkw gekauft. Deshalb hat Iveco mitgeteilt, siemüssten jetzt 670 Beschäftigte und 100 Azubis entlas-sen. Das ist ihr Plan.Nun hat der Betriebsrat Folgendes erfahren: Ivecowill in seine Firma, die es in Spanien hat, investieren,und die spanische Regierung hat zugesagt, dass sie dafür500 Millionen Euro bekommen.Jetzt müssen Sie den deutschen Steuerzahlerinnenund Steuerzahlern Folgendes erklären: Wir zahlen Geld,um den Rettungsschirm aufzustocken. Das sind Steuer-gelder der Bürgerinnen und Bürger. Spanien sagt, es seipleite. Darum braucht Spanien dringend Geld. Aberdann bezahlen sie 500 Millionen Euro, um hier 670 Ar-beitsplätze und 100 Azubistellen abzubauen. Das istdoch wohl nicht zu fassen.
Wir dürfen uns von den Unternehmen in Europa nichtlänger so vorführen und veralbern lassen.
80 Jahre nach der letzten großen Wirtschaftskrise wur-den Lehren daraus nicht beherzigt.
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Dr. Gregor Gysi
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Ich sage auch Ihnen, Herr Brüderle: Schulden lassensich weder mit Ausgabenkürzungen bei Renten, Gesund-heit und Investitionen noch mit Lohnsenkungen und derErhöhung von Verbrauchsteuern à la ReichskanzlerHeinrich Brüning bekämpfen. Denn diese Politik be-schleunigt den wirtschaftlichen Niedergang und erhöhtdie Verschuldung.
EU-Kommissar Barnier hat gesagt, dass schon4 500 Milliarden Euro für die Bankenrettung ausgege-ben worden sind: eine unvorstellbare Summe. Deshalbbleibe ich dabei: Ihr Begriff „Staatsschuldenkrise“ istfalsch; es ist eine Bankenkrise. Die Staaten sind nur des-halb so hoch verschuldet, weil sie permanent die Bankenund Hedgefonds retten.
Aber es kommt noch eine neue Dimension der Kriseauf uns zu. Bis 2014 braucht Spanien 350 MilliardenEuro und Italien 670 Milliarden Euro, nur um die altenSchulden abzulösen. Woher soll das Geld kommen?Ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass die Euro-päische Zentralbank zu 27 Prozent von den deutschenSteuerzahlerinnen und Steuerzahlern bezahlt wird. Ichbleibe bei meinem Beispiel – ich muss es wiederholen –:Die Europäische Zentralbank hat den großen privatenBanken in Europa 1 Billion Euro zur Verfügung gestellt:als Darlehen für drei Jahre zu 1 Prozent Zinsen. DieStaaten, die das Geld brauchen, bekommen es jetzt vondiesen Banken. Das heißt, wir vergeben an die großenprivaten Banken Staatsgeld zu 1 Prozent, und dann ver-langen diese von Spanien und Italien 6 Prozent Zinsenfür das Geld, das sie ihnen geben.Erklären Sie doch einmal der Bevölkerung, warumwir nicht direkt ein Darlehen an Spanien oder Italien ver-geben!
Warum müssen wir dazwischen noch die Großaktionäreder privaten Banken reich machen, und zwar zulastender Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die die Diffe-renz bezahlen müssen?
Die Mehrheit der anderen Staaten der Euro-Zone istzu einer Politik, wie sie von der Bundesregierung undFrau Merkel vorgegeben wird, nicht mehr bereit: wederdie französische noch die italienische noch die spanischeRegierung.Jetzt habe ich eine Frage an die Bundeskanzlerin undan den Bundesfinanzminister. Es ist mir sehr ernst. Siewollen doch, dass der Fiskalvertrag in diesem Jahr inKraft tritt. Dann würde er ab 1. Januar 2013 gelten.Wenn Sie das wollen, dann erklären Sie mir Folgendes:Im Fiskalvertrag steht, dass die Schulden eines Staatesauf 60 Prozent der Wirtschaftsleistung begrenzt sind.Unsere Schulden liegen heute bei 81,2 Prozent der Wirt-schaftsleistung. Dann müssen wir – das besagt der Ver-trag – 20 Jahre lang pro Jahr 5 Prozent der überschießen-den Verschuldung abbauen. Das wären zurzeit etwa25 Milliarden Euro. Ferner regelt der Vertrag, dass dieNeuverschuldung nur bei 0,5 Prozent des Bruttoinlands-produkts liegen darf. Das wären zurzeit 12,5 MilliardenEuro. Nun erklären Sie doch einmal, Herr Bundesfinanz-minister Schäuble, weshalb Sie dann für 2013 den Ent-wurf eines Haushaltsplans mit einer Neuverschuldungvon 18,8 Milliarden Euro vorlegen. Glauben Sie nichtdaran, dass der Vertrag in Kraft tritt? Hoffen Sie auf ei-nen Erfolg der Linken beim Bundesverfassungsgericht?
Oder wollen Sie ernsthaft, dass der Vertrag in Kraft tritt,und gleich mit einer Vertragsverletzung beginnen? DieFolgen wären dann übrigens verbindliche, von der EU-Kommission festzusetzende Sanktionen, die wir eben-falls bezahlen müssten. Aber Deutschland kann dochnicht den Vertrag in Kraft setzen wollen und sich gleichvon Beginn an mit einer Verletzung abfinden.Meine zweite Frage. Wenn wir dann jährlich etwa25 Milliarden Euro an Schulden abbauen müssen: Nichtsdavon ist in Ihrem Haushaltsplan vorgesehen. KönnenSie der Bevölkerung einmal erklären, wie Sie die25 Milliarden Euro eigentlich einsparen wollen? Waswollen Sie denn kürzen: die Zuschläge zur Rente,Hartz IV? Was haben Sie vor? Oder wollen Sie Steuernerhöhen, vielleicht die Mehrwertsteuer? Ich finde, dieBundesregierung ist verpflichtet, vor Beschlussfassungam Freitag der Bevölkerung Auskunft zu geben, wie die25 Milliarden Euro im nächsten Jahr eingespart werdensollen.
Ich wundere mich – das sage ich ganz klar – über SPDund Grüne, dass sie diese Frage noch nie gestellt haben.Bevor Sie Ja zum Fiskalvertrag gesagt haben, hätten Siedoch fragen müssen: Wo und wie wollt ihr im nächstenJahr die 25 Milliarden Euro einsparen? – Wir wissen esnicht. Kein Mensch weiß es. Das geht überhaupt nicht.Das ist ein Ja zu einer dunklen Zukunft ohne Auskunft.
Übrigens gibt der Multimilliardär und König derHedgefonds Soros dem Euro noch drei Monate
– den lieben Sie doch –, Christine Lagarde, die Chefindes Internationalen Währungsfonds, weniger als dreiMonate. Wenn Griechenland aus dem Euro fällt, dann– das sage ich Ihnen – wird auch Portugal herausfallen.Dann ist der Euro bald tot. Das würde die deutsche Ex-portwirtschaft so schwer treffen, dass auch wir dann ineine schwere Krise gerieten.Nun sagen Sie, Herr Brüderle, dass Sie den Schulden-sozialismus ablehnen.
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Dr. Gregor Gysi
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Jetzt muss ich Ihnen einmal etwas über den Sozialismuserklären. Passen Sie einmal auf!
– Doch, doch! – In Wirklichkeit haften wir längst für dieSchulden. Das sind unsere Steuergelder in der EZB. Sieerzählen Unsinn. Es gibt schon längst eine Schuldenhaf-tung. Aber davon abgesehen werde ich Ihnen jetzt be-weisen, dass Sie alle Sozialistinnen und Sozialisten sind,auch wenn Sie das nicht wissen, egal ob Sie der FDP, derUnion, den Grünen oder der SPD angehören.
– Zu uns komme ich noch. – Sie alle sind Sozialistinnenund Sozialisten. Wissen Sie auch, warum? Sozialismusheißt, man will vergemeinschaften. Was Sie vergemein-schaften, sind die Schulden der Banken und Hedgefonds.Diese Schulden dürfen immer alle Steuerzahlerinnenund Steuerzahler zahlen. Wir sind die Einzigen, die zu-geben, Sozialistinnen und Sozialisten zu sein. Aber wirwollen gerne die Banken vergesellschaften und damitden Profit vergemeinschaften. Das ist der gravierendeUnterschied zwischen Ihren und unseren Sozialismus-vorstellungen.
– Die Deutsche Bank hat gerade einen dicken Profit ge-macht, nachdem Sie so viel Geld hineingesteckt haben.Das stimmt gar nicht, was Sie da erzählen.Was wir wirklich brauchen, wenn wir die Krise be-wältigen wollen, ist natürlich eine einmalige Millionärs-abgabe in ganz Europa.
– Sie wollen, dass die Reichen nie etwas bezahlen müs-sen. Sie kürzen das Elterngeld der Hartz-IV-Empfänge-rinnen und -empfänger oder – besser gesagt – streichenes. Führen Sie doch einmal eine Millionärsabgabe in Eu-ropa ein! Die haben von der Krise profitiert, nicht die an-deren.
Dann brauchen wir selbstverständlich eine jährlicheVermögensteuer in Deutschland. Darf ich Ihnen etwassagen? Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung inDeutschland haben ein Geldvermögen von 3 BillionenEuro. Unsere gesamten Staatsschulden belaufen sich auf2 Billionen Euro. Selbst wenn wir das direkt miteinanderverrechneten, behielten die reichsten 10 Prozent nochimmer 1 Billion Euro. Das fordern wir gar nicht. Aberdass die Betreffenden eine angemessene Steuer zahlen,ist so etwas von selbstverständlich, dass ich mich wirk-lich wundere, wie sehr Sie sich dagegen wehren, nurweil es sich hier um die Lobbyisten handelt, auf die SieWert legen.
Ich sage Ihnen noch etwas. Zu Beginn der Krise gabes 720 000 Vermögensmillionäre in Deutschland. Jetztgibt es 951 000. Deren Zahl nimmt also zu. Die Armutwächst, und auch der Reichtum wächst. Keinen zusätzli-chen Euro Steuern verlangen Sie von ihnen. Das ist soungerecht, dass Sie das nicht durchhalten werden.Nun haben aber SPD und Grüne zwei Bedingungengestellt. Die eine Bedingung war die Einführung der Fi-nanztransaktionsteuer, die zweite Bedingung war dieForderung nach Maßnahmen zur Steigerung des Wachs-tums. Ich komme zunächst zur Finanztransaktionsteuer.Wenn ich den Bundesfinanzminister richtig verstandenhabe, dann sagt er, dass die Einführung nicht vor 2014stattfinden wird. Das geht noch langsamer als die Fertig-stellung des neuen Flughafens von Berlin, stelle ich nurfest.Aber – jetzt kommt der eigentliche Punkt – das istdoch gar keine Finanztransaktionsteuer, es ist höchstenseine Börsenumsatzsteuer; denn nach den bisherigen Vor-gaben fehlen zwei Dinge: der Derivatehandel und derHochfrequenzhandel.
Um das zu erklären: Dabei sitzt man an einem Computerund schiebt die Millionen hin und her. Nun hat der öster-reichische Ökonom Stephan Schulmeister ausgerechnet,dass die kleine Börsenumsatzsteuer, wenn sie, so wievon der EU-Kommission geplant, kommt, in Deutsch-land 2 Milliarden Euro einbringt. Wenn aber der Deriva-tehandel und der Hochfrequenzhandel hinzukämen, hät-ten wir Mehreinnahmen von 27 Milliarden Euro.
Warum lassen Sie sich denn mit 2 Milliarden Euro ab-speisen, wenn es auch 27 Milliarden Euro sein können?
Zum Wachstumspaket sage ich Ihnen Folgendes: Esgeht um 130 Milliarden Euro; das hat die Bundeskanzle-rin gerade gesagt. Es wird aber kein Euro zusätzlich be-reitgestellt, sondern es werden die von der EU schon ein-geplanten Gelder nur umgewidmet. Im Kern haben Siediesbezüglich nichts erreicht.Ich sage Ihnen eines: Der Zerfall des Euro gefährdetdie europäische Integration. Wir brauchen einen völligneuen Ansatz mit einer Angleichung von Steuern, Löh-nen und Sozialleistungen auf hohem Niveau, mit einerAbkopplung von den privaten Finanzmärkten, mit einerRückkehr zum Primat der Politik, mit mehr Sozialstaatstatt seiner Demontage und mit mehr Demokratie.
Herr Kollege.
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. – Durch den Fis-kalpakt gibt der Bundestag Befugnisse des Bundestagesab, aber nicht etwa an das Europäische Parlament, son-dern an die EU-Kommission und damit an Regierungen.Schon das ist undemokratisch. Wir stehen vor einem
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22232 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Dr. Gregor Gysi
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Scheideweg: entweder ein Europa mit strammem Spar-korsett, also unsozial, mit Fiskaldiktatur und wenigerDemokratie oder ein solidarisches Europa mit deutlichmehr demokratischen Mitwirkungs- und Entscheidungs-rechten der Bürgerinnen und Bürger. Am Freitag werdenSie es entscheiden.
Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir stehen in diesen Tagen und Wochen vor wirklichhistorischen Weichenstellungen in Europa. Wir werdenam Freitag den dauerhaften Europäischen Stabilisie-rungsmechanismus, den dauerhaften RettungsschirmESM, und in Verbindung damit den Fiskalvertrag verab-schieden. Wenn wir ein bisschen zurückdenken, dannwird uns, glaube ich, schon deutlich, dass niemand vonuns zu Beginn dieser Diskussion gedacht hat, dass es ge-lingt, auf europäischer Ebene 25 Staaten dazu zu bewe-gen, in ihren nationalen Verfassungen Schuldenbremsenzu verankern und sich damit nach dem Beispiel Deutsch-lands stabilitätskonform zu verhalten.
Es geht nicht nur um die Verankerung dieser Schul-denbremsen, sondern es sind damit auch die automati-schen Sanktionen, die Möglichkeit, Klage vor dem Euro-päischen Gerichtshof zu erheben, und vieles anderemehr verbunden. Das trägt die Handschrift Deutsch-lands, die Handschrift unserer Bundeskanzlerin und un-seres Finanzministers. Dafür danke ich herzlich.
Das ist die Grundlage für eine Stabilitätskultur in Eu-ropa. Ich weiß natürlich auch, dass solides Haushaltenalleine nicht alles ist; aber ohne solides Haushalten,meine Damen und Herren, ist alles nichts. Denn das istdie Grundlage für das Vertrauen der Finanzmärkte. Dasist die Grundlage für ein dauerhaftes, nachhaltigesWachstum der Wirtschaft und für dauerhafte Stabilität.Ohne solides Haushalten ist das alles nichts. Ohne soli-des Haushalten stellt man die Glaubwürdigkeit des eige-nen Landes infrage und verspielt damit auch die Glaub-würdigkeit auf den Märkten mit all den Konsequenzen,die wir kennen.Herr Steinmeier, Sie sagen, das alles sei nicht erfolg-reich gewesen. Ich möchte daran erinnern, dass Ihr „soli-des Haushalten“ oder, besser gesagt, Ihr nicht solidesHaushalten
während der Zeit, in der Sie Verantwortung hatten, dieUrsache dafür war, dass wir jetzt in Europa dieseSchwierigkeiten haben.
Sie haben nämlich die Kriterien, die einmal vereinbartwaren, nicht eingehalten und damit dafür gesorgt, dasssich auch andere Länder leichtfertig verhalten haben.Das war und ist eine nicht ganz unwesentliche Ursachefür die Schwierigkeiten, die wir heute haben.
Wir sagen, dass Solidarität nur in Verbindung mit So-lidität gesehen werden kann. Deshalb haben wir uns beiall den Rettungsaktionen in den vergangenen Monatenimmer an die Grundphilosophie gehalten: Unterstützungja, Hilfe ja, Solidarität ja – aber nur in Verbindung mitSolidität, mit dem Einhalten der Bedingungen bzw. Auf-lagen, sparsam zu haushalten, und mit Strukturreformen,um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Das warund ist die Grundphilosophie, die auch weiterhin trägtund erfolgreich ist.Schauen Sie zum Beispiel auf die Länder Irland undPortugal. Da sehen Sie an der Haushaltssituation, derwirtschaftlichen Entwicklung, der Entwicklung derLohnstückkosten und der Leistungsbilanzüberschüsse,dass diese Philosophie erfolgreich und richtig ist. Wiralle wissen, dass dies nicht von heute auf morgen geht,dass sich die Erfolge nicht von heute auf morgen einstel-len können. Der Weg aber ist richtig. Das, was bisher er-reicht wurde, macht deutlich, dass wir auf dem richtigenWeg sind.
Meine Damen und Herren, wir wissen auch – das istübrigens keine neue Erkenntnis –, dass zu solidem Haus-halten bzw. zu einem Konsolidierungskurs der öffentli-chen Haushalte natürlich auch Wachstumsimpulse gehö-ren. Das ist nichts Neues. Diese Erkenntnis ist übrigensauch auf den vergangenen europäischen Gipfeltreffenimmer Thema gewesen, und sie wird zu guter Letzt beider Entscheidung des europäischen Gipfels morgen undübermorgen mit berücksichtigt werden. Wir haben unsdarüber fraktionsübergreifend intensiv auseinanderge-setzt.Ich finde, es ist richtig, dass mit den Maßnahmen zurErhöhung des Kapitals der Europäischen Investitions-bank und mit den Maßnahmen bezüglich der Projektan-leihen, aber auch mit denen zur Bekämpfung der Ju-gendarbeitslosigkeit und zur Stärkung der StrukturfondsAkzente gesetzt werden. Mindestens genauso wichtig istaber das, was verhindert wurde. Es wurde nämlich eineschuldenfinanzierte Ausgabenprogrammatik verhindert.Es wurde verhindert, dass durch Schulden finanzierteAusgabenprogramme – andere wollten das – getätigtwerden.
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Gerda Hasselfeldt
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Mindestens genauso wichtig ist die Erkenntnis, dassdie eigentlichen Wachstumsimpulse nicht aus kurzfristi-gen Programmen erwachsen, sondern von grundlegen-den Strukturreformen am Arbeitsmarkt, in der Steuer-politik, in der Sozialpolitik und im Verwaltungsbereichherrühren. Dort werden die Grundlagen für nachhaltigesund dauerhaftes Wachstum geschaffen. Deshalb darf da-bei nicht nachgelassen werden.
Es gibt nach wie vor eine lebhafte Diskussion übereine Vergemeinschaftung von Haftung und von Schul-den. Eigentlich hatte man gedacht, das sei schon erle-digt. Diese Diskussion wurde nicht zuletzt durch denBericht von Van Rompuy angefacht, den die Bundes-kanzlerin angesprochen hat. Alles, was mit Euro-Bonds,mit Euro-Bills, mit Schuldentilgungsfonds verbundenist, führt uns aber nicht weiter, sondern führt uns in eineSackgasse.
Wenn über die notwendige Angleichung der Zinssätze– das ist ja meistens die Begründung dafür – diskutiertwird, dann muss man sich meines Erachtens zunächsteinmal die Frage stellen: Warum sind die Zinssätze un-terschiedlich? Sie sind doch deshalb unterschiedlich,weil die Bonität in den Ländern unterschiedlich ist undweil die Politik dort bei der Haushaltskonsolidierung,der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit versagt hat.Die Unterschiede sind die Konsequenzen aus einemFehlverhalten im politischen Handeln – und dies musskorrigiert werden.
In dem Moment, wo man durch die Vergemeinschaf-tung von Schulden, durch die Angleichung der Zinssätzediese Unterschiede nivelliert, nimmt man den Ländernjeglichen Druck, sich haushaltspolitisch solide zu ver-halten, Strukturen zu verändern, sich wieder wettbe-werbsfähig aufzustellen, Reformen durchzuführen undzu sparen. All dies ist aber dringend notwendig, um dau-erhaft und langfristig Stabilität und Wachstum zu gene-rieren.
Ganz abgesehen davon werden durch eine Verge-meinschaftung von Schulden – ich sage es einmal ganzplatt – deutsche Interessen verraten,
und zwar deshalb, weil dann wir, die deutschen Steuer-zahler, höhere Zinsen bezahlen müssten, als wir sonstbezahlen, und das konterkariert die Leistung dieses Lan-des, die Leistung der Menschen in diesem Land. Deshalbwerden wir aus diesen ökonomischen und politischenGründen bei einer Vergemeinschaftung von Schuldennicht mitmachen.
Es gibt eine Diskussion über eine weitere Vertiefungder Europäischen Union. Ich glaube, dass wir darüberernsthaft, ausgiebig und verantwortungsvoll diskutierenmüssen, weil wir alle Lehren aus der Krise der vergange-nen Monate ziehen müssen. Das berührt auch die Frage:Müssen wir Strukturen verändern? Was müssen wir ver-ändern?Ich sage Ja zu einer Vertiefung, die mehr Koordinie-rung der Wirtschafts- und Finanzpolitik bedeutet. Ichsage Ja zu verbindlichen Vorgaben. Ich sage aber auch Jazur Kontrolle der Einhaltung dieser Vorgaben. Ein ganzwesentlicher Fehler der letzten Jahre war nämlich, dasszwar Vorgaben gemacht und Vereinbarungen getroffenwurden, dass diese aber nicht eingehalten wurden. Esgeht um die Einhaltung dieser Vorgaben, um ihre Kon-trolle und die entsprechende Aufsicht, es geht um dieVerbindlichkeit dieser Vorgaben sowie um die notwendi-gen Konsequenzen daraus. Das ist die erste Aufgabe, diewir zu erfüllen haben.
Ich sage Ja zur Verbesserung und Stärkung des Funda-ments unseres europäischen Hauses.Aber alles, was mit Vergemeinschaftung von Schul-den, mit Vergemeinschaftung von Risiken, mit Verge-meinschaftung von Haftung zu tun hat, trägt nichts zurLösung der aktuellen Probleme bei; das muss klar sein.Verantwortung für das eigene Handeln und damit auchHaftung für das eigene Handeln müssen gegeben sein.Es kann nicht sein, dass die deutschen Sparer mit ihrenEinlagen für das Fehlverhalten von Banken in anderenLändern haften müssen. Das werden wir nicht zulassen.
Auch der Bericht, der vorhin angesprochen wurde,beinhaltet meines Erachtens ein Ungleichgewicht zwi-schen verbindlichen Vorgaben, zwischen Kontrolle undAufsicht auf der einen Seite und Vergemeinschaftungvon Haftung auf der anderen Seite. Meines Erachtensmüsste es umgekehrt sein: Der Schwerpunkt müsste imBereich der eigenen Verantwortung und im Bereich vonverbindlichen Vorgaben, Kontrolle und Aufsicht sein.Noch etwas ist mir bei diesem Bericht aufgefallen,meine Damen und Herren. Das ist die Frage: Müssen wirzuerst bei Institutionen und Kompetenzverlagerungenansetzen? Ist das die erste Priorität?
Es wird großer Wert auf Kompetenzverlagerungen undauf Institutionen gelegt. Meine Vision von Europa istnicht ein Europa der Institutionen, sondern ein Europader Menschen, ein Europa, in dem die demokratischeLegitimität erkennbar und immer auch Richtschnur un-seres Handelns ist.
Dafür haben wir noch viel zu tun.
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22234 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Gerda Hasselfeldt
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun dieKollegin Priska Hinz das Wort.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieKanzlerin fährt zum Gipfel und muss für diesen Gipfelbei ihrer Politik eine Kurskorrektur vornehmen.
Der Weg der einseitigen Sparpolitik geht zu Ende. ZweiJahre Ideologie, dass nämlich Wettbewerbsfähigkeit nurdurch ein Spardiktat erreicht werden kann, gehen jetzt zuEnde, und das ist richtig so. Wir haben dazu beigetragen,dass dieser Weg endlich zu Ende geht.
Schulden sind nicht mit Schulden zu bekämpfen. Dasist völlig klar.
Ich bin Haushälterin; deswegen weiß ich, wovon ichspreche.
Strukturreformen und Haushaltsdisziplin sind notwen-dig, aber die Konsolidierung von Haushalten und Staa-ten, die in der Krise sind, muss auch mit gezielten Inves-titionen begleitet werden, weil Arbeitslosigkeit undUnternehmenspleiten zu sozialen Verwerfungen undnicht zu wirtschaftlicher Gesundung führen, meineDamen und Herren.
Wir haben es in den Verhandlungen zum Fiskalver-trag geschafft, ein Investitionsprogramm durchzusetzen,das schon lange auf der Tagesordnung hätte stehen müs-sen. Investitionen in nachhaltige Wachstumsbereiche, inden Netzbereich können jetzt endlich stattfinden, unddas ist für die Krisenstaaten auch dringend notwendig,weil Sparen allein nicht hilft.
Wir haben bei diesen Verhandlungen aber auch wei-tere Reformen durchgesetzt. So soll es im Wege derverstärkten Zusammenarbeit endlich eine Finanztrans-aktionsteuer geben. Damit sollen jetzt Finanzproduktebesteuert werden und Finanzjongleure und Spekulantenendlich an den Kosten der Krise beteiligt werden.Herr Gysi, wenn Sie den Fortgang der Verhandlungennicht richtig verfolgt haben
und hier mit einem alten Dokument auftauchen, dann tutes mir leid.
Eigentlich müssten Sie diesem Verhandlungsergebniszustimmen können.
Es ist gut, dass der Teil der Koalition, der seit mindes-tens drei Jahren nur eine politische Botschaft kennt,nämlich „Steuersenkung, Steuersenkung, Steuersen-kung“, jetzt endlich eine Kehrtwende machen muss. DieKanzlerin hat offenbar begriffen, dass sie ihre Verant-wortung wahrnehmen und sich – gemeinsam mit uns –über ihren Koalitionspartner hinwegsetzen muss.
An dieser Stelle danke ich den grünen Verhandlungsleu-ten – der Kollege der SPD hat denen aufseiten der SPDseinen Dank ausgesprochen – dafür, dass sie dies durch-gesetzt haben.
Langsam wird nun ein Rahmen um den Fiskalvertraggebaut, damit die Schlagseite der Krisenpolitik beseitigtwird und das Ganze endlich wieder ins Lot gerät, meineDamen und Herren.
Aber welche Entscheidung brauchen wir jetzt eigentlichfür Europa, neben den Anbauten an den Fiskalvertrag,über die wir verhandelt haben? Frau Bundeskanzlerin,wie viel Druck von der Opposition und anderen europäi-schen Staaten brauchen Sie eigentlich noch, um sichendlich auf weitere notwendige Reformen einzulassen?Den langen Beifall heute haben Sie doch nur bekommen,weil Sie wieder mantraartig gesagt haben: Euro-Bonds,Euro-Bills, gemeinschaftliche Anleihen wird es nicht ge-ben.
Dann haben Sie heute Morgen auch noch Ihre Lebens-zeit damit verknüpft. Ich frage Sie: Was ist das denn füreine Art von Politik?
Frau Bundeskanzlerin, wir wünschen Ihnen ein sehrlanges Leben;
aber Sie sollten es wirklich nicht an die Einführung vonEuro-Bonds knüpfen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22235
Priska Hinz
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Angesichts der Tatsache, dass Sie Ihre roten Linien oftüberschritten haben, wünschen wir Ihnen etwas Besseresals das, was Sie sich anscheinend selber wünschen.Schauen Sie sich doch jetzt den Vorschlag der soge-nannten Big Four an, der auf dem Tisch liegt. Dazu ge-hört ein Altschuldentilgungsfonds, um den Zinsdruck zusenken.
Das ist jetzt notwendig. Jetzt kommen Spanien und Zy-pern unter den Rettungsschirm, Italien wankt, und wirbrauchen einen Altschuldentilgungsfonds, um den Zins-druck in diesen Staaten zu lindern.
Das sind noch keine gemeinsamen Anleihen wie Euro-Bonds. Vielmehr bürgen die Staaten für ihren Teil derSchuldentilgung. Trotzdem müssen sie natürlich Struk-turreformen vornehmen. Aber beides gehört zusammen,und das müssen Sie bitte endlich einmal verstehen.
Sie müssen diese Kurskorrektur vornehmen.Ein weiterer Vorschlag liegt auf dem Tisch: die soge-nannte Bankenunion, die Sie nicht so nennen wollen, mitBankenrestrukturierungsregelungen und einer integrier-ten Aufsicht. Wir brauchen auch einen Schuldenpakt fürEuropa, um einen Steuerwettbewerb zu verhindern.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,wir wissen: Europa funktioniert nur mit Solidität und So-lidarität; das ist auch Ihr Credo. Aber neben der Solidi-tät, die wir am Freitag einführen, muss es auch endlichdie Solidarität geben. Deswegen werden wir Sie beimAltschuldentilgungsfonds weiter treiben; wir werdennicht nachlassen. Wir haben jetzt die Big Four an unsererSeite, und Sie werden sehen: Wir werden Sie auch nochzu dieser Kurskorrektur zwingen.Danke schön.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Joachim Spatz
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Hinz, Ihre Rede sei Ihnen nachgesehen.
Wenn sie dazu dient, dass die Grünen am Freitag mitüberwältigender Mehrheit zustimmen, dann hat sie ihrenZweck erfüllt.Meine Damen und Herren, es ist schon bezeichnend,dass diejenigen, die sonst immer die Grenzen desWachstums wie ein Mantra vor sich hertragen, jetzt dieJünger nachhaltigen Wachstums sind.
Herzlich willkommen im Klub, meine Damen und Her-ren!Europa – das wird immer wieder gesagt – ist derGarant für Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstandauf unserem Kontinent. Aber ich glaube, wir müssendieser Erkenntnis, die auf die Bürgerinnen und Bürgerwahrscheinlich keine besondere Anziehungskraft mehrausübt, weil sie schon zu selbstverständlich gewordenist, auch noch hinzufügen, was die Zukunftsvision diesesEuropas ist. Da reicht ein Blick auf die Landkarte, um zusehen, dass jeder einzelne Mitgliedstaat – das gilt auchfür Deutschland, das in absehbarer Zeit nur noch 1 Pro-zent der Weltbevölkerung stellen wird – diese Stabili-täts-, Sicherheits- und Wohlstandsleistung nicht alleineerbringen kann. Deshalb sind wir dazu verurteilt, ge-meinsam Erfolg zu haben. Aber den gemeinsamen Er-folg erreichen wir sicher nicht mit falschen Rezepten.Deshalb ist der Weg der Solidität, den die Bundesregie-rung gegangen ist und für den sie in Europa einsteht, inWirklichkeit ohne realistische Alternative. Ich bin derBundesregierung dankbar, dass sie auf den Dreiklangvon Wachstumsstimulation, Solidarität, die wir durchden ESM gewähren, und Solidität, die wir allen anderenabverlangen müssen, besteht. Dies ist der richtige Weg.
Meine Damen und Herren, ich hatte mir eigentlichvorgenommen, heute keine Schärfe in die Debatte zubringen. Aber wenn derjenige, der beim Verletzen des al-ten Stabi-Pakts und bei der Aufnahme Griechenlands indie Euro-Zone im Kanzleramt saß, heute auf die Kanzle-rin zeigt und sie als Teil des Problems bezeichnet, dannmuss ich sagen: Es zeigen mindestens drei Finger auf ihnzurück.
Es ist schon sehr mutig, hier die Bemühungen derBundesregierung im Hinblick auf den Dreiklang vonWachstum, Solidarität und Solidität, den wir gegengroße Widerstände durchgesetzt haben, zu kritisieren. Esist schon sehr mutig, einen solchen Vorwurf zu machen,wenn man dafür verantwortlich ist, dass der alte Stabili-tätspakt gescheitert ist.
Wir werden noch viel Gelegenheit haben – die Kanz-lerin hat die Ausrichtung des europäischen Haushaltesangesprochen, der aktuell verhandelt wird –, dieseSchwerpunkte im Hinblick auf nachhaltiges Wachstumzu unterstützen. Ich bin gespannt, wie mutig Deutsch-
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22236 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Joachim Spatz
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land vorangeht, bei gleichzeitiger Beschränkung derEinnahmen in der Europäischen Union. Diese neuen,mutigen Weichenstellungen führen zu einer größerenUnterstützung für transnationale Netze in den BereichenVerkehr, Telekommunikation, Elektrizität und Energie-versorgung sowie zu mehr Förderung für Forschung,Wissenschaft und Bildung. Dies steht im Gegensatz zuden alten Haushalten. Ich bin gespannt, wie entschiedendie Mitstreiter vorangehen. Wir sind auf jeden Fall ander Seite derer, die das tun, und das alles, ohne dassmehr Geld nach Europa fließt. Auch die europäischeEbene muss zur Konsolidierung unserer Haushalte bei-tragen.
Es kann nicht funktionieren, wenn die Kommunen undBundesländer sich anstrengen müssen, aber auf der euro-päischen Ebene Wunschkonzert gespielt wird. Das wirdnicht funktionieren.Es muss hier ein Stück weit die Quadratur des Kreisesgelingen: neue Prioritätensetzung in Richtung nachhalti-ges Wachstum und mehr Beschäftigung bei gleichzeiti-ger Haushaltsdisziplin. Jeder ist aufgefordert, an dieserStelle mitzuhelfen. In dieser Woche werden wir unsererhistorischen Verantwortung gerecht, an die wirklichenUrsachen der Krise heranzugehen und dem Dreiklangaus Solidarität, Solidität und WachstumsstimulationGeltung zu verschaffen, indem wir dem ESM und demFiskalpakt zustimmen.
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Joachim Poß.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Merkel, Sie haben vorhin beim Verle-
sen Ihrer Erklärung vergessen, an einigen Stellen hinzu-
zufügen: Copyright SPD und Grüne.
Viele Punkte, die Sie zum Thema Wachstum erwähnt
haben, gehen eindeutig auf die Vorschläge von uns zu-
rück, die in den Gesprächen, die wir mit Ihnen geführt
haben, und im Schreiben unseres Fraktionsvorsitzenden
Steinmeier und der Fraktionsvorsitzenden der Grünen
Gegenstand waren. Für die deutsche Bevölkerung wäre
es hilfreich gewesen, wenn Sie deutlich gemacht hätten,
wie Sie sich auf uns zubewegt haben. Es ist doch so: Sie
bewegen sich und sind flexibel, und zwar immer dann,
wenn Sie unter Druck geraten, sehr geehrte Frau Merkel.
Offenkundig sind Sie jetzt unter Druck geraten. Das war
gut so, damit wir in Europa wie auch in Deutschland
nicht im Nirwana der Austerität landen.
Wir haben dafür gesorgt, dass wir eine realistische
Perspektive zur Einführung einer Finanztransaktion-
steuer bekommen haben, nachdem zweieinhalb Jahre in
dieser Frage von der schwarz-gelben Koalition nur
getrickst und getäuscht wurde. Jetzt gibt es endlich
Klarheit. Dies ist keine freiwillige Klarheit, sondern sie
entstand durch den Druck, den wir hier im Parlament
entfaltet haben. Das haben aber auch außerhalb des Par-
laments viele kirchliche und andere Gruppen getan, die
sich gesellschaftlich engagiert haben und die man hier
nicht vergessen sollte.
In diesem Zusammenhang, Frau Merkel, wäre es viel-
leicht gut, wenn Sie unter anderem mit Ihrer guten Be-
kannten Frau Lagarde die Punkte erörtern würden, die
Sie bis jetzt immer noch tabuisieren. Es gibt neben Frau
Lagarde vom Internationalen Währungsfonds kaum ei-
nen anerkannten Ökonomen auf der Welt,
der nicht sagt: Wir brauchen in dieser Frage eine Lö-
sung.
Das heißt doch nicht, dass man unbedingt irgendwel-
chen Vorschlägen folgen müsste. Das Ganze darf aber
nicht von vornherein tabuisiert werden. Man muss doch
darüber diskutieren können, was denn wirklich im deut-
schen Interesse und im Interesse der deutschen Arbeits-
plätze liegt, und darüber, welche Lösungen dabei helfen,
unseren Standort zu stabilisieren.
Ich glaube, Sie bewegen sich unter dem Druck von
FDP und einigen anderen auf dem Holzpfad. Ihnen man-
gelt es an Mut, Frau Merkel. Anstatt die Dinge offensiv
anzupacken, ducken Sie sich weg, weil es im Zuge die-
ser Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland unan-
genehm werden kann.
Kollege Poß, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Schlecht?
Ja, gerne.
Herr Kollege, Sie haben vorhin gesagt, mit dieser Re-gelung würde man das Nirwana der Austerität verlassen.Können Sie bitte einmal erklären, in welcher Weise eu-ropaweit aufgelegte Kürzungsprogramme in Höhe von600 oder 700 Milliarden Euro – aus meiner Sicht ist dasdas Nirwana der Austerität – mit dem sogenanntenWachstumspakt zusammenpassen, der sich in einer Grö-ßenordnung von 120 oder 130 Milliarden Euro bewegt?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22237
Michael Schlecht
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Dieser Wachstumspakt an sich ist bereits kritikwürdig,darauf will ich jetzt aber gar nicht eingehen.Zweite Frage. In der Regelung zur Finanztransaktion-steuer steht die wunderbare Formulierung, es müsse „aufdie Realwirtschaft Rücksicht genommen werden“. Kön-nen Sie mir bitte erklären, wie eine Finanztransaktion-steuer funktionieren soll, die die Realwirtschaft nicht be-rührt? Das ist für mich in der Tat ein Mysterium.
Sehr geehrter Herr Kollege, ich kann jetzt natürlich
nicht all Ihre Mysterien bearbeiten. Das wäre bei Ihnen
auch wirklich zeitraubend, wenn ich Ihre Äußerung rich-
tig beurteile.
Ich gehe jedoch davon aus, dass wir das Ganze im
Rahmen der Gesetzgebungsarbeit im wahrsten Sinne des
Wortes bearbeiten werden. Ebenso haben wir gesagt,
dass wir auch auf andere Dinge Rücksicht nehmen. Vie-
les wird in puncto negativer Effekte der Finanztransak-
tionsteuer falsch in die Welt gesetzt, wie beispielsweise
im Zusammenhang mit den berühmten Riester-Sparern.
Übrigens hat Herr Gysi heute Morgen erwähnt, dass bei-
spielsweise Derivate der vereinbarten Transaktionsteuer
gar nicht unterfallen würden. Das ist schlicht falsch. Ich
fordere Herrn Gysi auf, diese falsche Behauptung nicht
weiter zu verbreiten.
Wir haben die Derivate in unserem Text ausdrücklich er-
wähnt.
Zum zweiten Aspekt Ihrer Frage, Herr Kollege
Schlecht. Die Sache mit der Austerität ist doch offen-
kundig. Die Regierung, die wie Frau Merkel der Öffent-
lichkeit gegenüber bisher den Eindruck erweckt hat – je-
denfalls hat die ganze Welt sie so verstanden; vielleicht
wurde sie in den letzten Wochen aber auch immer miss-
verstanden, und alle anderen waren dumm –, dass sie
ausdrücklich und ausschließlich auf Haushaltskonsoli-
dierung setzt, musste nun aufgrund der Gespräche mit
der Opposition eine Reihe beachtlicher Wachstumsini-
tiativen in ihr Papier aufnehmen. Das bedeutet eine Än-
derung der Philosophie.
Dazu haben wir aus der Opposition heraus beigetra-
gen. Ich denke, dass die Grünen und auch die SPD allen
Anlass haben, das für den richtigen Weg zu halten. Wir
wollen nicht, dass durch überzogene Austeritätspro-
gramme in Europa das Wachstum beeinträchtigt wird, so
wie es passiert ist. Davon wollen wir weg; denn das ist
der falsche Weg.
Zur Finanztransaktionsteuer habe ich mich bereits ge-
äußert. Es ist Ihnen offenbar entgangen, was ich dazu ge-
sagt habe. Aber Sie können ja noch eine Frage nachset-
zen. Ich glaube, dass die Bundeskanzlerin gut beraten
wäre, sich den Rat ihrer Freundin Lagarde zu Herzen zu
nehmen und mit ihr und anderen anerkannten Ökonomen
in der ganzen Welt eine wichtige Frage zu erörtern, die
es jetzt zu erörtern gilt: Wie kommen wir bei der Frage
der „alten“ Verschuldung zu einer Lösung, und wie kön-
nen wir das mit dem Gedanken der Schuldentilgung ver-
knüpfen? Ich bitte Sie herzlich, das Thema nicht von
vornherein von der Tagesordnung zu nehmen; denn da-
mit würden Sie den Weg zu anderen Lösungen in der Eu-
ropäischen Union und der Euro-Zone verbauen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Meister für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auchwenn der Kollege Steinmeier schon gegangen ist,möchte ich ihm von dieser Stelle ein ganz herzlichesDankeschön zurufen; denn er hat in dieser Woche, in derwesentliche Entscheidungen zum Fiskalvertrag und zumESM anstehen, klar formuliert, dass auch die Oppositionzu ihrer europapolitischen Verantwortung steht und dieanstehenden Entscheidungen mittragen wird. Das ist eingutes Zeichen. Es zeigt, dass unser Parlament in einer sowichtigen Frage handlungsfähig ist.
Lieber Herr Poß, Sie haben eben das Thema Wachstumangesprochen. Ich beschäftige mich mit diesem Themaschon seit 2004. Ich stelle fest, dass wir eine Diskussionüber Stabilität und Wachstum schon einmal geführt ha-ben. Damals ging es um die Frage, ob der Stabilitätsver-trag von Maastricht nicht durch eine Wachstumskom-ponente hätte ergänzt werden müssen. Wir haben 2004heftigst über diese Frage gestritten. Das Resultat war,dass der Stabilitätsvertrag aufgeweicht wurde. Diese Auf-weichung des Stabilitätsvertrages hat uns die Problemebeschert, über die wir heute diskutieren. Wir sollten nichtnoch einmal denselben Fehler machen und unter demStichwort „Wachstum“ über eine Aufweichung des Stabi-litätsvertrages diskutieren.
Wir wollen Wachstum, aber nur auf dem Fundament ei-ner klaren Stabilitätskultur.
Wir sollten mit der Legendenbildung aufhören, dasswir erst seit heute, seit einigen Tagen oder Wochen überdas Thema Wachstum in Europa diskutieren. Ich erin-nere daran: Für die Jahre 2000 bis 2010 wurde die Lissa-bon-Strategie vereinbart. Sie ist krachend gescheitert.Europa sollte der dynamischste, wettbewerbsfähigsteund wachstumsstärkste Kontinent der Erde werden. Wasist dabei herausgekommen? Nichts! Das Problem istnicht etwa, dass wir nicht über Wachstum diskutieren
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Dr. Michael Meister
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oder wir uns nicht auf Maßnahmen verständigen, wieWachstum erzeugt werden soll. Das Problem ist, dasswir mehr Verbindlichkeit in der Umsetzung brauchen.Das, was wir verabreden, muss auch umgesetzt werden.Wir wollen Wachstum, und jetzt geht es darum, zu orga-nisieren, dass die Verantwortung, die wir tragen, auchwahrgenommen wird.
Ich möchte an dieser Stelle unserer BundeskanzlerinDanke sagen. Sie hat nicht nur betont, dass wir nachhal-tiges Wachstum brauchen, sie hat auch unter dem Stich-wort „Euro plus“ ausgeführt, dass wir Verfahren organi-sieren wollen, die gewährleisten, dass jeder seineVerantwortung wahrnimmt. Wir in Deutschland wissenaus Erfahrung, dass es nicht leicht ist, Arbeitsmärkte fle-xibler zu gestalten, Sozialsysteme zu reformieren undSteuersysteme zu verändern. Deshalb ist es wichtig, dasswir für mehr Verbindlichkeit sorgen und nicht nur ein-fach nach Wachstum rufen.Wir als Union gehören nicht zum Fanclub des Club ofRome. Wir haben nie bezweifelt, dass wir unseren Wohl-stand nur dann halten können, wenn wir auf dieser WeltWachstum organisieren. Ich wundere mich manchmalüber einzelne Redebeiträge. 30 bis 40 Jahre lang habenwir gehört, dass wir kein Wachstum mehr brauchen. Nunwird plötzlich so getan, als sei Wachstum die einzige Lö-sung für die großen Probleme, vor denen wir stehen.
Liebe Freunde, wir führen eine Diskussion vor demHintergrund einer vergemeinschafteten Geldpolitik. EineAntwort darauf muss sein, dass wir in Europa mehr ge-meinsame Verantwortung in der Fiskalpolitik überneh-men. Es ist aus meiner Sicht vernünftig, mit dieser Dis-kussion jetzt zu beginnen. Ein Diskussionsvorschlagliegt vor. Nun kann über die richtige Agenda gesprochenwerden. Es geht um die Frage: Was muss in diesem Kon-text getan werden?Ich möchte mich dafür bedanken, dass auf derAgenda „Mehr Demokratie für Europa“ steht. Als Parla-mentarier sage ich: Das ist auch richtig so. Bisher habenwir im Deutschen Bundestag bei allen zu ergreifendenMaßnahmen versucht, Legitimation und Kontrolle imDeutschen Bundestag zu verankern, aber das kann dochauf Dauer nicht tragen. Deshalb müssen wir dringendmiteinander darüber sprechen, wie wir Legitimation undKontrolle in Europa verankern können. Ich wünsche da-bei viel Erfolg; denn diejenigen, die das Thema auf dieAgenda gesetzt haben, sind keine Parlamentarier. DieseAufgabe muss im Interesse der Demokratie in Europaangegangen werden.
Ein weiterer Punkt. Alle rufen: Mehr Europa, mehrfiskalpolitische Union! – Ja, aber nun sind wir an einemkritischen Punkt angelangt. Es reicht nicht, zu sagen:Wir wollen mehr Europa. Vielmehr werden wir darüberdiskutieren müssen, wie dieses Europa aussehen soll.
An dieser Stelle halte ich einen konstruktiven Streit fürsinnvoll. Wir müssen tatsächlich darüber diskutieren,wie dieses Europa aussehen soll.Dazu sagen wir erstens: Da wir gesagt haben, dass wires uns in Zukunft aus ordnungspolitischen Gründennicht erlauben können, dass systemrelevante Bankendurch Steuergelder gerettet werden müssen, haben wirvor gut einem Jahr in Deutschland das Restrukturie-rungsgesetz beschlossen. Zu dem Vorschlag, dieses deut-sche Modell nach Europa zu exportieren, sage ich aus-drücklich: Ja, das ist ein vernünftiger Vorschlag. DiesenWeg sollten wir so schnell wie möglich gemeinsam ge-hen.Zweitens sagen wir – das haben wir im Zusammen-hang mit der Hypo Real Estate gelernt –: Wir brauchenmehr gemeinsame Aufsicht bei systemrelevanten Ban-ken in Europa. Wir haben selbst erfahren, dass das einvernünftiger Vorschlag ist. Die Lernkurve der EBA, diewir geschaffen haben, zeigt nach oben. Sie ist für die ge-samte EU zuständig, nicht nur für die Euro-Zone. Des-halb ist aus meiner Sicht an dieser Stelle ein Hinweis aufdie Europäische Zentralbank vernünftig. Ich traue dieserInstanz zu, eine vernünftige Finanzkontrolle in Europaaufzubauen. Wir müssen allerdings ähnlich wie bei derBundesbank darauf achten, dass die geldpolitische Unab-hängigkeit dieser Institution gewahrt bleibt. Wir dürfendiesen neuen Auftrag nicht dazu nutzen, die geldpoliti-sche Unabhängigkeit der Zentralbank infrage zu stellen.Etwas ganz anderes ist es, wenn gefordert wird, dieEinlagensicherung zusammenzuführen. Wenn wir dieEinlagensicherung zusammenführen, dann ist das einStück weit die Einführung der Umlagefinanzierungdurch die Hintertür, ohne dass die Kompetenzen in einerHand liegen. Lediglich die Haftung würde vergemein-schaftet. Deshalb bin ich der Meinung: An dieser Stellesollten wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein klares Neinformulieren. Keine gemeinsame Einlagensicherung!
Ich finde die Frage, über welche Banken wir eigent-lich reden, sehr spannend. Darüber sollten wir einmaldiskutieren. Reden wir über die systemrelevanten Ban-ken? Reden wir über die grenzüberschreitend tätigenBanken? Reden wir über alle Banken? Reden wir über inSchieflage geratene Banken? Ich glaube, auch dieseFrage müssen wir beantworten. Wir sollten vielleicht mitdem Punkt „systemrelevant“ starten, weil das der wirk-lich gefährliche Aspekt ist. Dann müssen wir uns überle-gen, ob man irgendeinen Mechanismus etablieren kann,damit sich die europäische Aufsicht einschalten kann,wenn an anderer Stelle ein Problem auftaucht; siehe Spa-nien. Das wäre vielleicht ein vernünftiger Vorschlag.Ansonsten bin ich ein Anhänger des Subsidiaritätsge-dankens. Nicht jede Sparkasse und nicht jede Volksbankin Deutschland muss von einer zentralen europäischenAufsicht beaufsichtigt werden. Das kann auch der natio-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22239
Dr. Michael Meister
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nale Aufseher in vernünftiger Weise tun, wenn er seineVerantwortung wahrnimmt.
Der Frau Kollegin Hinz, die unsere Verantwortung imZusammenhang mit der Frage der gemeinsamen Haftungangesprochen hat, möchte ich sagen: Ich persönlich haltees am heutigen Tage für verantwortungslos, eine ge-meinsame Haftung der europäischen Steuerbürger fürdie Schulden aller Euro-Staaten einzufordern.
Auf dem Fundament, das wir heute haben, ist das verant-wortungslos. Deshalb werden wir diesen Weg nicht mit-gehen.
Wir lassen uns von Ihnen auch nicht in ein verantwor-tungsloses Handeln in dieser Frage treiben. Das wäre le-diglich ein Anreiz, mehr zu konsumieren, weniger diszi-pliniert zu leben und in die falsche Richtung zu gehen.Ich verdeutliche Ihnen das am deutschen Länderfi-nanzausgleich. Dort haben wir ein Transfersystem ohneAnreize. Jetzt schauen Sie sich einmal die letzten60 Jahre an: Nur ein Bundesland hat es geschafft, vomEmpfänger zum Zahler zu werden. Alle anderen habenentweder den Status quo gehalten oder wurden vom Zah-ler zum Empfänger. Diese Geschichte zeigt, dass mit ei-nem solchen System falsche Anreize gesetzt werden.
Ein solches System führt dazu, dass man sich in dieHängematte legt und nichts tut. Was wir in Europa brau-chen, sind mehr gemeinsame Anstrengungen. Wir brau-chen das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen,damit die Europäische Union, damit das Euro-Land vo-rankommt. Wir dürfen keine Anreize setzen, die dazuführen, dass sich jeder ausruht und gleichzeitig auf denNachbarn schaut, hoffend, dass dieser im Zweifelsfallhilft.
Zum Abschluss: Hier wird über Maßnahmen disku-tiert. Aus meiner Sicht leidet die Debatte manchmal da-runter, dass vergessen wird, dabei auf die Zeitschiene zuverweisen. Es gibt einige Dinge, die man kurzfristig tunkann, andere, die mittelfristig angelegt sind, und wiederandere, die langfristig angelegt sind. Ich glaube, es wäresinnvoll, wenn man sich jenseits der Frage, was auf derAgenda steht, darauf verständigt, in welchen Zeitabläu-fen die einzelnen Projekte angegangen und wie sie abge-schlossen werden sollen. Ich glaube, das, was wir errei-chen müssen, ist nicht neues Recht in Europa – das istnur ein kleiner Teil des Ganzen –, was wir vor allem be-nötigen, ist das Vertrauen der Menschen in Europa. Auchdie Investoren jenseits Europas müssen darauf vertrauenkönnen, dass wir diese Regeln auch leben.Ich möchte Herrn Poß an dieser Stelle sagen: Wir ha-ben Anfang des vergangenen Jahrzehnts ein wirklichschlechtes Beispiel gegeben. Wir haben eine Rechtsge-meinschaft in der EU, und wir als Deutsche haben alsErste dazu aufgerufen, das Recht zu brechen.
Wenn wir das in dieser Weise leben, dann können wirnoch so oft neue Vereinbarungen treffen – solange wirdiese nicht verinnerlichen und leben, werden sie nichtfunktionieren. Deshalb kann ich nur appellieren: Esreicht nicht, neue Vereinbarungen zu treffen, sondern wirmüssen das Vereinbarte auch selbst vorbildhaft vorleben.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Der Kollege Manuel Sarrazin hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmöchte versuchen, einen anderen Aspekt in die Debatteeinzubringen. Die Kanzlerin hat gerade von einer scho-nungslosen Analyse der Krise gesprochen. Ich finde esbemerkenswert, Frau Bundeskanzlerin, dass in dieserschonungslosen Analyse die Herausforderungen, die be-züglich nationaler und europäischer Demokratie vor unsliegen, schlichtweg nicht vorgekommen sind. In der letz-ten Woche gab es ein Urteil des Bundesverfassungsge-richts. Im Feuilleton der FAZ trug ein Artikel zu demThema folgende Überschrift: „Anatomie einer Hinterge-hung“. Nicht diejenigen in diesem Haus, die am lautes-ten schreien – also die Linkspartei –, und auch nicht die-jenigen, die am dicksten mit Stabilität auftragen – alsodie Koalition –, haben der Bundesregierung die Schran-ken aufgezeigt, sondern nur die Grünen haben sich ge-gen diese Hintergehung gewehrt, für die demokratischenRechte des Bundestages gekämpft, und wir haben diesenKampf gewonnen.
Frau Bundeskanzlerin, vor diesem Hintergrund hätteich zum einen erwartet, dass Sie darstellen, dass Sie unsdankbar sind, dass wir mögliche verfassungsrechtlicheProbleme hinsichtlich der Rechte des Bundestages, dieder Fiskalvertrag hätte aufwerfen können, durch unsereKlage abgebogen haben. Zum anderen hätte ich erwartet,dass Sie jetzt endlich deutlich machen, dass sich in Eu-ropa etwas verändert und dass jetzt die Zeit ist, darüberzu reden, wie wir diese Institutionen, die gerade an- undzugebaut werden, in das europäische Haus eingliedernund mit europäischer Demokratie in Verbindung bringenkönnen.
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22240 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Manuel Sarrazin
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Ich erwarte von Ihnen, dass Sie endlich für einen eu-ropäischen Konvent streiten und nicht nur fragen, obsein Ergebnis am Ende – wir kennen es noch nicht – perVolksabstimmung oder anders legitimiert werden soll.Ich erwarte, dass Sie endlich dafür einstehen, dass dieDebatte darüber, wie der nächste Integrationsschritt aus-sehen soll, öffentlich und transparent mit den Menschen,mit den Sozialpartnern und mit der Zivilgesellschaft ge-führt wird.
In dieser Frage ist die Form sehr wichtig. Der Grund-satz parlamentarischer Öffentlichkeit, den das Verfas-sungsgericht zu einer der Grundlagen des Urteils ge-macht hat, sollte uns auch bei dem Weg zu mehr Europaanleiten. Deswegen möchte ich Sie sehr bitten: Sie wis-sen, dass wir die Integrationsschritte meistens unterstüt-zen. Aber wir wollen nicht plump einen Blankoscheckgeben. Der europäischen Demokratie könnte nichtsSchlechteres passieren, als dass diese nächsten Integra-tionsschritte genauso aufs Tapet kommen wie der Fiskal-vertrag. Wir müssen jetzt den Stil ändern, weg von denMethoden Ihrer Politik der letzten zwei Jahre und zurückzur Gemeinschaftsmethode und zur öffentlichen Debattevon Anfang an über den nächsten Schritt. Dafür ist nurein europäischer Konvent mit vorgelagerter öffentlicherDebatte geeignet.
Frau Kanzlerin, zu dieser Debatte über Euro-Bondsund Haftung haben Sie angekündigt: Euro-Bonds wirdes nicht geben, solange ich lebe. Ich habe heute im Haus-haltsausschuss der Einführung des ESM zugestimmt.Auch in dessen Rahmen werden europäische Anleihenemittiert. Da habe ich Angst um Ihre Gesundheit bekom-men.
Sie haben vorhin die Projektanleihen von 1 MilliardeEuro genannt. Da dachte ich schon – ich möchte Ihnenpersönlich wirklich nichts Böses –:
Kann ich da mitgehen, oder muss ich mir Sorgen ma-chen?
– Kollege Fricke, wissen Sie, die Modelle von Euro-Bonds, die wir hier vertreten, sehen klar gemeinschaftli-che Haftung vor,
aber sie sind mit so strengen Regeln durchsetzt, dass ichverstehe, warum Sie dagegen sind; denn Sie wollen imnationalen Haushalt mit Ihrem Gewurschtel weiterma-chen, siehe Betreuungsgeld.
Mir ist Folgendes aufgefallen: Ich bin 1982 geboren.
1998 war ich 16 Jahre alt. Ich dachte mir, wenn Helmutnoch einmal gewinnt, dann muss ich auswandern. Im Fe-bruar war ein Artikel von Helmut Kohl in der Bild-Zei-tung. Ich muss sagen: Jeder Satz stimmte. Bei der Über-schrift heute: „Keine Euro-Bonds, solange ich lebe“,habe ich wieder an den Bild-Zeitungsartikel von HelmutKohl gedacht. Dort steht:Meine Vision für Europa war und bleibt die Visionder Gründerväter Europas: Es ist die Vision des ge-einten Europas, das heißt eines immer engeren Mit-einanders auf unserem Kontinent.
Dagegen stellen Sie die Aussage: „Keine Euro-Bonds,solange ich lebe!“Vielleicht ist das Problem der deutschen Europapoli-tik komplett beschrieben,
wenn man diese beiden Sätze nebeneinanderstellt.Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Michael
Stübgen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Europäi-sche Rat tagt am Donnerstag und Freitag dieser Woche.Wie fast alle Europäischen Räte in den vergangenenzweieinhalb Jahren wird er sich im Schwerpunkt mit denFragen der Stabilisierung der Euro-Zone beschäftigen.Aber es besteht auch das Vorhaben, Ideen für die Zu-kunft, wie die Europäische Union den Herausforderun-gen der Zukunft besser gewachsen sein kann, zu entwer-fen und zu beschließen. Von den Big Four, den vierPräsidenten, ist – das ist vorhin schon genannt worden –die Losung ausgegeben worden: Wir brauchen mehr eu-ropäische Integration. Allerdings kann ich mich des Ein-drucks nicht erwehren, dass diejenigen, die im Moment
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22241
Michael Stübgen
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am lautesten nach mehr Integration rufen, am wenigstenInteresse daran haben,
die Ursachen der Verschuldungskrise in ihren Ländernan der Wurzel zu bekämpfen. Das ist menschlich nach-vollziehbar.
Die Flucht nach vorn ist auf jeden Fall ein bequemerWeg.Eines muss dabei aber klar sein: Mit der Flucht nachvorn bleiben die Probleme und deren Ursachen die glei-chen. Das gilt für die Haushaltsdefizite, das gilt für dieStaatsverschuldung, das gilt vor allem für mangelndeWettbewerbsfähigkeit, und das gilt auch für zu geringesWachstum in vielen Euro-Ländern.Ich will es noch deutlicher formulieren: Wer der Auf-fassung ist, dass man nur ausreichend Geld braucht, umWachstum zu generieren, dass man nur Schulden verge-meinschaften muss, um niedrigere Zinsen zu haben, dassein europäischer Schuldentilgungsfonds von der Rück-zahlung der eigenen Schulden entbindet
und dass eine europäische Einlagensicherung irgendwiealle Banken am Leben lässt, auch wenn sie kein Ge-schäftsmodell haben, das wettbewerbsfähig ist, auchwenn sie Opfer ihrer eigenen Spekulationen gewordensind, der begeht ökonomisch und politisch einen ver-hängnisvollen Fehler.
Am Dienstag haben wir im Bundestag die Vorschlägeder vier Präsidenten zugestellt bekommen. Trotz Aner-kennung der Tatsache, dass die Definition der vier Bau-steine durch die Präsidenten richtig ist, muss ich aberfeststellen, dass sich die Präsidenten mit ihren Vorschlä-gen leider weitgehend auf dem Holzweg befinden.
Ich will nur zwei Dinge ansprechen. Das erste ist dersogenannte integrierte Finanzrahmen. Die EuropäischeUnion soll sich dafür einsetzen, eine wirkungsvolle eu-ropäische Bankenaufsicht mit Durchgriffsrechten umzu-setzen – in der Tat absolut notwendig. Wir alle wissen,dass die bisherigen Strukturen nicht funktionieren.Gleichzeitig soll ein europäisches Einlagensicherungs-system geschaffen werden – mit dem Ergebnis, dass zumBeispiel die Sparkassen in Deutschland für waghalsigeFinanzierungen ihrer spanischen Kollegen haften müs-sen, ohne sie verhindern zu können.Zweitens möchte ich den sogenannten integriertenHaushaltsrahmen ansprechen. Nach Auffassung der vierPräsidenten soll eine gesamtschuldnerische Haftung ein-geführt werden, ein sogenannter europäischer Schulden-tilgungsfonds. Wir wissen mittlerweile, wie er ausgestat-tet werden muss: Die gesamtschuldnerische Haftung solleinen Umfang von 2,3 Billionen Euro – ich sage es nocheinmal: 2 300 Milliarden Euro – haben.
Das Europäische Parlament ist in der vergangenen Wo-che noch einen Schritt weiter gegangen. Es forderte zu-sätzlich zu diesem europäischen Schuldentilgungsfondsdie Einführung von Stabilitätsanleihen in Höhe von1 Prozent des Bruttonationalproduktes der EU 27. Dasmacht im Finanzrahmen für die nächsten sieben Jahremehr als 1 Billion Euro aus.Ich glaube, ich brauche hier nicht weiter zu vertiefen,was es im Hinblick auf die Bonität Deutschlands bedeu-ten würde, wenn Deutschland innerhalb kurzer Zeit – zu-sätzlich zu allen Bürgschaften, die wir übernommen ha-ben, und zusätzlich zu den Staatsschulden, die wirhaben – für einen Betrag von insgesamt mehr als 3 Bil-lionen Euro gesamtschuldnerisch haften müsste.
Wir würden damit keine Probleme lösen. Wir würdenaber innerhalb kürzester Zeit Zinsen wie Spanien zahlenmüssen. Innerhalb kürzester Zeit wäre Deutschland dannauch nicht mehr in der Lage, Ländern, die geradeSchwierigkeiten haben, zu helfen.
Das ist das Problem in Bezug auf die konkreten Vor-schläge der vier Präsidenten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Europa istnicht reif für die Visionen der Präsidenten. Wenn wirnoch einen Beleg dafür brauchen, dann müssen wir unsnur anschauen, wie sich verschiedene Länder und ver-schiedene Regierungen der Euro-Zone in den letztenMonaten aufgestellt haben. Wir wissen heute: Trotz desGriechenland-I-Pakets, trotz des Griechenland-II-Pakets,das über die EFSF finanziert wurde, und trotz einer mas-siven Schuldenentlastung in Höhe von über 100 Milliar-den Euro hat Griechenland bis heute leider immer nochnicht den Willen und den Mut aufgebracht, die unbe-dingt notwendigen strukturellen Reformen im Land inausreichendem Maße anzugehen.Die Regierungen von Spanien und Zypern haben sichin den letzten Wochen nahezu ausschließlich damit be-schäftigt, für ihre Banken Geld aus den Sicherungsin-strumenten, dem ESM oder der EFSF, zu bekommen.Gleichzeitig haben sie aber alles versucht – ihre gesamteEnergie haben sie hier hineingesteckt –, um dafür zu sor-gen, dass damit möglichst keine Haftung und keine ein-zuhaltenden Konditionen verbunden sind. Der Minister-präsident von Italien beschäftigt sich mehr damit, dieEinführung von Euro-Bonds einzufordern und durchzu-setzen als damit, das strukturelle Defizit in seinem Landzu bekämpfen.
Metadaten/Kopzeile:
22242 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Michael Stübgen
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sindnicht reif für die Vergemeinschaftung von Schulden. Wirdürfen nicht der Versuchung erliegen, den zweitenSchritt vor dem ersten zu tun.
Um es mit einem Bild zu sagen: Wir müssen unser Fahr-zeug erst reparieren, bevor wir auf die Autobahn fahrenkönnen. Die Reparaturarbeiten sind hier im Bundestag invollem Gange.
Ich freue mich, dass wir am Freitag mit Zustimmungvon vier Fraktionen sehr wichtige Reparaturinstrumentefür Europa beschließen werden;
dann geht es um den ESM und seine Begleitgesetze undum den Fiskalpakt. Darüber hinaus – auch das wird vonvier Fraktionen unterstützt – setzt sich Deutschland da-für ein, dass die Europäische Investitionsbank rekapitali-siert wird. Außerdem werden 10 Milliarden Euro fürProjektanleihen bereitgestellt – einige halten sie auchschon für Euro-Bonds; wir nennen sie aber Projektanlei-hen, weil sie klar definiert sind –, und im Rahmen derverstärkten Zusammenarbeit setzen wir uns für die Ein-führung einer Finanztransaktionsteuer ein. Ich glaube,dies sind die richtigen Ansätze. Diese Ansätze sollte derEuropäische Rat in den nächsten beiden Tagen beraten.Am Ende sollte er zu positiven Ergebnissen kommen,damit Europa wieder gesunden kann.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Klaus Barthel für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich darf für den Teil meinerFraktion sprechen, der heute noch nicht so weit ist, zusagen: Wir stimmen am Freitag bei der Abstimmungüber ESM und Fiskalpakt mit Ja. – Unsere Bedenkenund Einwände beziehen sich auf den Aspekt von Demo-kratie und Verfassung und auf die Fragen der Wirt-schafts- und Sozialpolitik in Europa. Sie wurden bisherleider weder in den Ausschüssen noch in dieser Plenar-debatte wirklich entkräftet. Ich will deutlich machen:Was unsere Bedenken betrifft, geht es nicht in erster Li-nie darum, ob einzelne Personen so oder so abstimmen.Vielmehr gehen diese Bedenken quer durch alle Reihen.Sie plagen uns alle.Auch diejenigen, die heute noch nicht zustimmenkönnen, halten Solidarität in Europa und gemeinsamesHandeln für zwingend geboten. Auch diejenigen, dienoch nicht dabei sind, sind der Meinung, dass wir, dieSozialdemokraten und die Grünen, mit dem Pakt fürWachstum und Beschäftigung viel erreicht haben, umdie falsche Regierungspolitik zu korrigieren.Wir haben die Finanztransaktionsteuer eingebracht,für Wachstum geworben und über die Länder die Haus-halte der Kommunen in den Blick genommen. Weder beider Bundesregierung noch bei der EU sehen wir aber einAbrücken von ihrer verheerenden Politik.Die Arbeitslosigkeit erreicht tagtäglich neue Höchst-stände und Rekorde in Europa, das Wachstum bricht ein.Das wird sich auch auf die Exporte Deutschlands undauf die Wettbewerbsfähigkeit von Arbeitsplätzen inDeutschland auswirken. Wenn wir an unserer Südgrenzeerst einmal mexikanische Verhältnisse haben, dann wirdsich der Druck auf die Arbeits- und Sozialbedingungenin Deutschland verschärfen. Als Antwort darauf hörenwir heute, dass die Dosis der gescheiterten Rezepte er-höht werden soll.Frau Merkel tut so, als ginge es ums Sparen. In Wirk-lichkeit reißt ihre Politik aber immer größere Löcher,weil das blinde Sparen die EU zu einer Rezessionsge-meinschaft macht. Hinsichtlich der Konsolidierung hebtder Fiskalpakt eben ausdrücklich nicht auf Haushalts-konsolidierung ab, sondern nur auf die Beschränkungder Ausgabenseite. Das kann man zum Beispiel in Art. 3Abs. 1 des Fiskalpakts nachlesen. Deswegen wird dieganze Situation durch diese Politik verschärft.Frau Merkel tut so, als spreche Europa Deutsch. Dashat jedenfalls Herr Kauder so gesagt. Was war denn un-ser Weg hier in der Bundesrepublik Deutschland aus derKrise? Zusammen mit den Gewerkschaften und den Be-triebsräten wurde Kurzarbeit auf der Basis gesicherterTarifautonomie vereinbart. Es gab zwei Konjunkturpa-kete in Höhe von insgesamt ungefähr 2 Prozent desBruttoinlandsprodukts und einen Rettungsschirm, denSie jetzt wieder aufgelegt haben, von rund einem Vierteldes Bruttoinlandprodukts. Das hat Entschlossenheit ge-zeigt und dazu geführt, dass die Spekulation und die Ar-beitslosigkeit bei uns nicht in die Höhe geschossen sind.
Das hat uns durch die Krise gebracht und Wachstum undBeschäftigung gesichert.Frau Merkel geht jetzt sogar so weit, hier Mindest-löhne zu fordern und die Tarifparteien zu höheren Lohn-abschlüssen zu ermuntern. In der Europäischen Unionsetzen Sie aber genau das Gegenteil von dem durch,nämlich Lohnsenkungen allenthalben, Sozialabbau, einAufbrechen des Flächentarifvertrags, den Abbau vonArbeitnehmerrechten und massive Kürzungen von öf-fentlichen Investitionen. Das ist genau das Gegenteil vondem, was uns hier den Erfolg gebracht hat.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung,das ist die internationale Strategie des Neoliberalismus,die Strategie der Zocker und Umverteiler.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22243
Klaus Barthel
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Eine Vergemeinschaftung gibt es schon längst – nur ebennicht bei der Haftung, sodass diejenigen, die das Geldhaben und die an der Krise verdient haben, herangezo-gen werden könnten, sondern eine Vergemeinschaftungdes Sozialabbaus. Die Lasten werden bei den Arbeitneh-mern, bei den Rentnern und bei den Jugendlichen abge-laden. Sie bezahlen die Zeche gemeinschaftlich.Deswegen fehlt uns der Aspekt der Einnahmeseite,zum Beispiel die Bekämpfung der Kapitalflucht, wirk-same Maßnahmen für Wachstum, die nicht durch dieverschärften Regeln des Fiskalpakts aufgezehrt werden,und soziale Mindeststandards bei Löhnen und sozialenLeistungen, damit es nicht zu dem kommt, was wir jetztin Griechenland so bitter erleben, dass nämlich die Men-schen vor den Türen der Krankenhäuser und Apothekenstehen und keine Behandlungen und Medikamente mehrbekommen, weil Sie in die Regeln für Griechenland hi-neingeschrieben haben, dass die Gesundheitsausgabenhöchstens 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragendürfen. Hier muss eine grundlegende Korrektur erfol-gen!
Kollege Barthel, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich bin beim letzten Satz, Frau Präsidentin. – Die fal-
schen Regeln, die Sie jetzt schon durchgesetzt haben,
dürfen nicht per Fiskalpakt völkerrechtlich in Beton ge-
gossen und verewigt werden. Das können Sie in Ihren
Unterlagen selber nachlesen. Ich bin sehr gespannt, wie
Sie da einmal herauskommen wollen.
Das Wort hat der Kollege Norbert Brackmann für die
Unionsfraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! In der heutigen Debatte wurde so oft von Kriseund Problemen gesprochen, dass ich zunächst einmal er-wähnen möchte, welch ein Erfolgsmodell Europa nichtnur an sich, sondern auch für die Menschen ist.
8 Prozent der Weltbevölkerung – so viele sind wirnämlich in Europa – erwirtschaften 25 Prozent des BIPs.50 Prozent der Sozialleistungen auf der ganzen Welt ste-hen den Menschen in Europa zur Verfügung. Dies ist einweltweites Erfolgsprojekt für die Menschen in Europa.Das ist wichtig zu sagen.
Über dieses Erfolgsmodell diskutieren wir, weil es inEuropa unterschiedliche Entwicklungen gibt. EinigeStaaten haben das Problem einer besonders hohenStaatsverschuldung und gleichzeitig einer besondershohen Arbeitslosigkeit. Beispielsweise hat Spanien eineArbeitslosenquote von 25 Prozent. Daneben gibt es Staa-ten wie zum Beispiel Deutschland, die eine vergleichs-weise geringe Verschuldung und eine extrem geringe Ar-beitslosigkeit – im Mai waren noch 2,86 MillionenMenschen arbeitslos – haben. Das ist doch eindeutig einHinweis darauf, dass eine solide Politik mit wenigSchulden zu einer geringen Arbeitslosigkeit und eine un-solide Politik eben zu dem Gegenteil führt.
Ich habe heute die Rezepte gehört, mit denen man dieSucht nach Geld – es ist ja eine süße Droge, Geld vomKreditmarkt aufzunehmen –, die Nöte, die es in einigenStaaten Europas gibt, bekämpft. Das ist ja fast so, alswürde man – vorhin wurde ja gefordert, die Zinsen zusenken –, weil Drogensüchtige Probleme haben, denKauf der Drogen zu finanzieren, nun eine Sammelbestel-lung aufgeben, um Rabatte auf die Gemeinschaftsbestel-lung zu bekommen. Diese Rezepte führen nicht dazu,Drogensüchtige von ihrer Droge wegzubekommen.
Es muss auch anders gehen. Herr Barthel, Sie habenvorhin darauf hingewiesen, dass die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer in unserer Gesellschaft betroffen sind.Sie reden hier immer sehr abstrakt von: „Wir müssenhelfen!“ Aber wir leisten uns doch keine Bundesdrucke-rei, die im Keller ganz eifrig Geld druckt. Weshalb sindwir denn in dieser günstigen Lage? Vergleichen Sie docheinmal die Entwicklung der Lohnstückkosten von 2000bis 2012 in Deutschland. In Deutschland sind die Lohn-stückkosten in diesen Jahren um durchschnittlich0,7 Prozent gestiegen, während die Steigerung in Europain diesem Zeitraum bei durchschnittlich 1,7 Prozent lag.Dadurch haben die deutschen Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer den Wohlstand erwirtschaftet, von demwir heute alle gemeinsam profitieren, der Sicherheit fürdie Zukunft bietet. Es sind die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in Deutschland, mit deren erwirtschafte-tem Geld Sie Gemeinschaftsanleihen finanzieren wollen.Das müssen Sie denen auch beibringen. Diese Ehrlich-keit muss man Ihnen abverlangen können.
Wir müssen aber gar nicht so weit nach Europa gu-cken. Zu Beginn der Legislaturperiode im Jahre 2009haben wir hier im Hause darüber diskutiert, wie wir mitden finanziellen Rahmendaten klarkommen. Sie habenuns vorgeworfen, als wir damals das Sparpaket aufgelegthaben, wir würden Deutschlands Zukunft kaputtsparen.Wir haben Ihnen schon damals gesagt, dass es darauf an-kommt, durch intelligentes Sparen Wachstum zu schaf-fen und die Ausgaben zu begrenzen.
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22244 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Norbert Brackmann
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Den Erfolg sehen Sie heute an den Ergebnissen, die ichIhnen vorhin vorgetragen habe. Die politische Inkonsis-tenz, zum einen von einem „blöden“ Sparen zu sprechenund zum anderen uns vorzuwerfen, wir würden nicht ge-nug sparen, kann man sich nur leisten, wenn man in derOpposition sitzt und hoffen kann, dass die Meinungs-äußerungen nicht über zwei Jahre verfolgt werden. Dieskönnen und werden wir uns nicht leisten, weil wir einegeradlinige Politik für die Menschen in Deutschland ma-chen.
Klar ist: Es ist ein schwieriger Weg, den wir inDeutschland einschlagen. Aber wenn wir die Entbehrun-gen, die wir den deutschen Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern zugemutet haben, auch allen anderen inEuropa zumuten, dann wird sich dieser Weg lohnen.Dann werden wir am Ende sehen, dass Stabilität undWachstum unverzichtbare Bedingungen für Wohlstandsind. Ihn werden wir nur so sichern.Die real existierenden Menschen in Deutschlandschauen auf unsere Bundeskanzlerin. Ich kann ihr vondiesem Pult nur zurufen: Sehr geehrte Frau Bundeskanz-lerin, viel Erfolg auf dem Europäischen Rat morgen undübermorgen. Dann werden wir am Freitag sehen, welcheErgebnisse wir haben. Sie werden gut sein.
Danke schön.
Der Kollege Michael Roth hat nun für die SPD Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute im Laufe der Debatte war viel vom Sparen dieRede: Sparen bei Sozialleistungen, Sparen bei denLöhnen. Es gibt aber auch ein Sparprogramm für die De-mokratie in Europa. Verantwortlich für dieses Sparpro-gramm sind diese Bundesregierung und diese Bundes-kanzlerin.
Die Bundeskanzlerin hat mit der viel gepriesenenUnionsmethode ein Europa der Regierungen, ein Europader Hinterzimmer zusammengebastelt. Sie hat das Euro-päische Parlament geschwächt. Sie hat die Gemein-schaftsinstitutionen geschwächt. Sie hat damit der parla-mentarischen Demokratie in der Europäischen Unioneinen Bärendienst erwiesen.
Sie hat abermals einen Verfassungsbruch vollzogen.Spätestens seit dem jüngsten Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts wissen wir: Sie tritt nicht nur die Rechteder parlamentarischen Institutionen in Brüssel mit Fü-ßen, sondern sie ignoriert auch die parlamentarischenRechte des Deutschen Bundestages. Hier müssen wiruns auflehnen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Deshalb glaube ich Ihnen auch nicht, Frau Bundes-kanzlerin, sehr geehrte Damen und Herren der Bundes-regierung, dass Sie für ein demokratischeres und solida-rischeres Europa eintreten. An den Taten wollen wir Siemessen. Ihre Taten sind aber derart mickrig und un-glaubwürdig, dass Sie darüber lieber schweigen sollten.Was ist aber jetzt in dieser schwierigen Stunde zu tun?Ich sehe im Wesentlichen zwei große Aufgaben für unsgemeinsam: Erste Aufgabe. Wenn wir über neue Zustän-digkeiten in Europa reden, sehe ich in den Augen vielerKolleginnen und Kollegen Angst und Unsicherheit. Wirmüssen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern deut-lich machen: Mehr Europa ist kein Machtverlust für uns.Wir gewinnen neue politische Handlungsfähigkeiten.Wir gewinnen politische Gestaltungskraft in einer globa-lisierten Welt zurück, in der die Nationalstaaten alterPrägung dies nicht mehr zu leisten vermögen.
Es geht also nicht um weniger Demokratie. Es geht ummehr Handlungsfähigkeit.Zweite Aufgabe. Lassen Sie uns endlich ein Europader Parlamente schaffen. Wir rennen doch den Urteilenaus Karlsruhe immer nur hinterher. Warum nutzen wirnicht endlich einmal diese Stunde und warten nicht da-rauf, was uns Gerichte mit auf den Weg geben? Warumüberlegen wir nicht: Wie können wir eine parlamentari-sche Demokratie in Europa zukunftsfest machen? Da er-öffnet uns beispielsweise der Fiskalvertrag mit Art. 13eine Option.Wir dürfen uns nicht einbilden, dass parlamentarischeDemokratie nur vom Europäischen Parlament oder vonden nationalen Parlamenten jeweils alleine gesichertwerden kann. Wir brauchen eine neue Partnerschaft derParlamente in Europa. Wir müssen das gemeinsam erle-digen, sonst schaffen wir das nicht. Insofern hoffe ich,dass wir in Europa nicht nur eine Wirtschaftsregierung,sondern auch ein Wirtschaftsparlament etablieren, dasdie Entscheidungen der Regierungen und der Staats- undRegierungschefs abzusichern versucht, auch im Dialogmit den Bürgerinnen und Bürgern.Deshalb kämpft die deutsche Sozialdemokratie ebennicht nur für ein Wachstumsprogramm für Beschäfti-gung; wir kämpfen auch für ein Wachstumsprogrammfür mehr Demokratie in Europa. Liebe Kolleginnen undKollegen, kämpfen Sie alle mit!Zum Schluss noch eine herzliche Bitte: Der Tonmacht die Musik. Vor dem Hintergrund, dass heute einBundesverkehrsminister in der Presse erst einmal 1 Mil-liarde Euro mehr für die Verkehrsinfrastruktur fordert,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22245
Michael Roth
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statt den Griechen Geld hinterherzuwerfen, und Kolle-ginnen und Kollegen davon sprechen, dass Südeuropäerin der Hängematte liegen, oder Abgeordnete und Bürge-rinnen und Bürger in Europa als Drogensüchtige be-zeichnen, bitte ich uns alle um Mäßigung. So werden wirkein solidarisches Europa schaffen.
Insofern bitte ich Sie alle: Machen Sie es besser! Re-den Sie verantwortungsbewusster, und bauen Sie keineFeindbilder auf! Wir müssen Feindbilder überwinden.Wir brauchen mehr Kooperation und Solidarität. Dazufordere ich Sie auf.
Ich schließe die Aussprache.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettsitzung mitgeteilt: 9. Bericht zur Lage der Aus-länderinnen und Ausländer in Deutschland.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat die Beauftragte der Bundesregierung für Migration,Flüchtlinge und Integration, Frau Dr. Maria Böhmer,bitte.Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregie-rung für Migration, Flüchtlinge und Integration:Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Heute Vormittag wurde der Berichtder Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integra-tion über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer inDeutschland dem Bundeskabinett vorgelegt. Anschlie-ßend konnte ich ihn dem Bundestagspräsidenten überge-ben. In guter Tradition wollen wir diesen Bericht im Ple-num debattieren. Deshalb darf ich heute eine kleineEinstimmung darauf geben.Der Bericht hat eine Kernbotschaft: Die jungen Mi-grantinnen und Migranten, die Schülerinnen und Schü-ler, holen auf. Es hat sich im Berichtszeitraum vomFrühjahr 2010 bis zum Frühjahr 2012 in der Integrationso viel bewegt wie noch nie zuvor. Das lässt sich anhandvon etlichen Daten nachvollziehen. Es lässt sich aberauch daran nachvollziehen, dass wir durch wichtige ge-setzliche Änderungen die Teilhabechancen verbesserthaben. Ich nenne dafür stellvertretend das Gesetz zurAnerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssenund das Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche.Zu den Bereichen, in denen wir mit großen gemeinsa-men Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunenund vielen Partnern im gesellschaftlichen Bereich voran-gekommen sind, gehören Sprache, Bildung, Ausbildungund Arbeitsmarkt.Wir wissen aber auch, dass Integration nicht statischist. Integration verändert sich ständig. Wir stehen vorneuen Herausforderungen. Wenn wir für diese Heraus-forderungen gut gerüstet sein wollen, dann müssen wirvon der nachholenden Integration zu einer vorausschau-enden Integrationspolitik kommen.In den vergangenen Jahren haben wir die Versäum-nisse der vergangenen Jahrzehnte aufholen müssen. Ausden Fehlern der Vergangenheit haben wir Schlussfolge-rungen gezogen. In den letzten sieben Jahren haben wirmit Maßnahmen der nachholenden Integration gerade imBereich der Sprachförderung bei Kindern angesetzt. Ichbin sehr froh, dass ich mit diesem Lagebericht zeigenkann, dass wir fast überall in Deutschland flächende-ckende Angebote zur Sprachförderung im Kindergartenhaben. Das wirkt sich auch im schulischen Bereich aus;die schulischen Ergebnisse verbessern sich. Was den An-teil der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher an-geht, zeichnet sich bei Kindern aus Zuwanderungsfami-lien ein deutlicher Rückgang ab. Es gibt Verbesserungenbei den mittleren Bildungsabschlüssen. Hier befindensich Kinder aus Zuwanderungsfamilien in etwa imGleichstand mit deutschen Kindern. Es gibt des Weitereneine klare Verbesserung bei denjenigen, die einen Hoch-schulabschluss oder einen Fachhochschulabschluss an-streben. Das sind positive Botschaften.Ich will aber nicht unerwähnt lassen, dass der Ab-stand zwischen denjenigen, die aus Zuwanderungsfami-lien kommen, und denjenigen, die aus urdeutschen Fa-milien kommen, weiterhin gegeben ist. Das heißt, wirdürfen nicht nachlassen. Aber wir wissen, dass wir denrichtigen Weg eingeschlagen haben. Deshalb wollen wiralle Kräfte verstärkt anspannen. Dafür steht der Natio-nale Aktionsplan Integration, der unter Mitarbeit der Mi-granten selbst erarbeitet und im Januar gemeinsam vonBund, Ländern, Kommunen und gesellschaftlichenGruppen verabschiedet wurde. Er enthält klare Zielvor-stellungen und sieht überprüfbare Maßnahmen vor. Die-ser Aktionsplan wird uns weiter voranbringen.Ich will einen Punkt ansprechen, der mich immer wie-der besonders umtreibt und der von entscheidender Be-deutung für die Teilhabechancen von Menschen in unse-rem Land ist: die Ausbildung bzw. die beruflicheQualifizierung. Die Ausbildungsbeteiligungsquote aus-ländischer Jugendlicher liegt nach wie vor dramatischunter der deutscher Jugendlicher. Zwar ist die Ausbil-dungsbeteiligungsquote ausländischer Jugendlicher von31,4 Prozent auf 33,5 Prozent im Jahr 2010 gestiegen.Aber bei den deutschen Jugendlichen beträgt sie65,4 Prozent. Angesichts der Arbeitsmarktsituation inDeutschland wissen wir, dass man nur mit einem gutenBildungsabschluss und einer guten beruflichen Qualifi-kation – ob eine Ausbildung im Rahmen des dualen Sys-tems oder ein Hochschulabschluss – eine echte Chanceauf dem Arbeitsmarkt hat. Deshalb müssen wir alles da-ransetzen, dass Jugendliche aus Zuwanderungsfamiliengut qualifiziert sind. Das ist Thema des Nationalen Aus-bildungspaktes. Hier üben wir den Schulterschluss mitWirtschaft und Gewerkschaften. Das muss auch einSchwerpunktthema für die Zukunft sein.Ich will diese kurze Einstimmung auf das Thema mitdem Hinweis auf einen Ansatz schließen, den die Wirt-
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22246 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Beauftragte der Bundesregierung Dr. Maria Böhmer
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schaft zunehmend verfolgt. Wir sind der Meinung: Viel-falt ist ein Gewinn. Das findet immer mehr Resonanz beiden Unternehmen. Die Unternehmen erkennen: Wennsie international wettbewerbsfähig sein wollen, müssensie Diversity praktizieren und Menschen unterschiedli-cher Herkunft als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ge-winnen. Somit können sie im Exportbereich besserpunkten und sich im Inland eher neue Kundenkreise er-schließen. Viele Unternehmen haben die Charta derVielfalt unterzeichnet. Mehr als 6,5 Millionen Menschensind von der Charta erfasst.Dazu gehört auch die Vorbildfunktion des öffentli-chen Dienstes. Hier stellen wir die Weichen mit dem Na-tionalen Aktionsplan Integration. Wir haben die Kampa-gne „Meine Stadt. Mein Land. Meine Aufgabe.“gestartet. Ich finde es richtungsweisend, dass das Bun-desinnenministerium die Internetseite „wir sind bund“geschaltet hat. Damit senden wir das klare Signal aus:Ihr seid willkommen; wir wollen euch; die Türen stehenoffen; geht durch diese Türen. – Das heißt für mich, denParadigmenwechsel hin zu einer Willkommenskultur inunserem Land zu vollziehen.Herzlichen Dank.
Herzlichen Dank. – Ich bitte nun, zunächst Fragen zu
dem Themenbereich zu stellen, über den soeben berich-
tet wurde.
Zur ersten Frage hat die Kollegin Ulla Jelpke das
Wort.
Danke, Frau Böhmer. – Wir haben erst in der letzten
Woche im Innenausschuss darüber diskutiert. Uns Abge-
ordneten liegt der Lagebericht erst seit heute Morgen vor.
Das heißt, ich kann mich auf ihn nicht konkret beziehen.
Aber ich möchte darauf hinweisen, dass Menschen mit
Migrationshintergrund im Vergleich zu Deutschen über-
all – ob es nun um die Schulabbrecherquote, die Ausbil-
dungssituation, Armut oder prekäre Beschäftigung geht –
doppelt so stark benachteiligt sind. Ich möchte mich be-
sonders auf einen Bereich beziehen, den Sie ebenfalls an-
gesprochen haben, nämlich die Integrationskurse. Ich
weiß, dass sich seit 2010 durch die Einsparungen die Si-
tuation bei den Integrationskursen verschlechtert hat. Das
betrifft zum Beispiel die Teilzeitkurse; aber auch die Zahl
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist um 20 Prozent
eingebrochen.
Sie haben die Fortschritte bei der Integration positiv
bewertet, sind aber an den Einsparungen mitbeteiligt ge-
wesen. Meine Frage lautet: Was wollen Sie tun, um der
negativen Entwicklung etwas entgegenzusetzen?
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregie-
rung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Frau Kollegin Jelpke, zunächst möchte ich festhalten,
dass das dunkle Bild, das Sie malen, nicht der Wirklich-
keit entspricht. Wir haben erhebliche Fortschritte zu ver-
zeichnen. Das ist nicht nur eine Aussage der Bundesre-
gierung; sondern auch der Wissenschaftler, die den
Zweiten Integrationsindikatorenbericht Anfang des Jah-
res präsentiert haben. Sie haben von maßgeblichen Fort-
schritten gesprochen, gerade im Bereich der Sprachförde-
rung, der frühkindlichen Bildung, der Bildungssituation
insgesamt, aber auch der Ausbildung. Gleichwohl habe
ich hier gesagt, dass wir noch lange nicht zufrieden sein
können. Der Trend ist positiv. Die Aufholjagd – so nenne
ich es einmal – vollzieht sich momentan.
Sie sagen, die Einsparungen gingen zulasten der Aus-
länder. Wir hatten die große Sorge, dass sich die Wirt-
schafts- und Finanzkrise sehr negativ auf die Beschäfti-
gung von Ausländern auswirken würde. Wir haben aber
einen Rückgang der Arbeitslosigkeit bei Ausländern von
über 200 000 Personen. Ich finde, das ist eine deutliche
Entwicklung, die sich sehen lassen kann. Die soll man
auch nicht schlechtreden, sondern man soll den Men-
schen Mut machen und zeigen, dass sie in diesem Land
vorankommen können.
Jetzt zu den Integrationskursen, die ich übrigens nicht
angesprochen habe. Ich greife aber dieses Thema natür-
lich gerne auf. Wir konnten gerade dem einmillionsten
Teilnahmeberechtigten gratulieren. Mehr als 500 000
Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben den Kurs mit
Erfolg besucht. Das sind Erfolgszahlen! Ich war immer
dankbar, dass dieses Hohe Haus, wenn es um die Finanz-
mittel für die Integrationskurse ging, die notwendigen
Mittel bereitgestellt hat. Mein Vertrauen ist bei keiner
Haushaltsberatung enttäuscht worden. Ich möchte allen
Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich dafür danken;
denn dies waren gute Investitionen. Ich bin mir sicher,
dass wir das auch in Zukunft gemeinsam so halten wer-
den.
Bevor ich dem Kollegen Frieser für die nächste Frage
das Wort gebe, ein Hinweis sowohl an die Kolleginnen
und Kollegen als auch an Frau Böhmer: Wir haben uns
in den letzten Monaten neue Regeln für die Fragestunde
und die Regierungsbefragung gegeben. Um die Fragen
und Antworten auf jeweils eine Minute zu beschränken,
haben wir ein technisches Hilfsmittel geschaffen. Wenn
an den Anzeigetafeln die Farbe Rot aufleuchtet, dann ist
die Minute abgelaufen. Ich bitte alle, diesen Hinweis zu
beherzigen. Das gilt für die Fragenden, aber auch die
Antwortenden haben die Möglichkeit, die Zeit einzuhal-
ten.
Kollege Frieser, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin, vielen herzlichen Dank. – Ich hoffe,dass der Inhalt der Fragen und auch der Antworten im-mer so simplifizierbar ist, dass er in den Zeitrahmen voneiner Minute passt.Frau Staatsministerin, herzlichen Dank für die Vor-lage. – Dies ist ein wuchtig Ding, wie man in Deutsch-land sagt, mit sehr viel Inhalt. Ich danke Ihnen auch fürden Hinweis, dass die Tendenzen, die der Integrations-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22247
Michael Frieser
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indikatorenbericht angedeutet hat, bestätigt werden undwir uns auf allen messbaren Feldern in die richtige Rich-tung bewegen. Alle Zahlen deuten in die richtige Rich-tung, wobei man anmerken muss, dass nicht alles in derIntegrationspolitik messbar ist.Es gibt natürlich noch viele Fragen, die uns alle mitei-nander besorgen. Wir sehen immer noch, dass die PolitikNachholbedarf hat, was die Ausbildungschancen vonMenschen mit Migrationshintergrund in diesem Landbetrifft. Wir sollten in unseren Bemühungen nicht nach-lassen. Meine Frage betrifft den Zugang zu den Ausbil-dungschancen. Inwieweit können wir in dieser Hinsichtnoch eine Schippe drauflegen? Welche Erfahrungen gibtes in Bezug auf die Perspektive eines Berufsabschlussesund die notwendige Einbeziehung der Eltern? Es gehtnämlich nicht nur um die Jugendlichen allein, sondernauch um die Eltern.Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregie-rung für Migration, Flüchtlinge und Integration:Ganz herzlichen Dank, Herr Kollege Frieser. – Ichglaube, dass die Frage, wie wir Eltern einbeziehen kön-nen, von entscheidender Bedeutung ist. Wir haben ge-merkt, dass vielen Eltern, die nach Deutschland gekom-men sind, das deutsche Schulsystem von seiner Strukturher fremd ist. Auch die Bedeutung der Schule und vorallen Dingen der beruflichen Qualifikation ist ihnennicht vertraut. Deshalb ist es wichtig, dass die Eltern-arbeit in der Schule anders gestaltet wird. Ein Gedanken-austausch, den ich mit der Kultusministerkonferenzhatte, zeigte, dass diese Botschaft in den Schulen ange-kommen ist.Wir machen ein Zweites, um die Erfüllung dieserAufgabe zu unterstützen: Die Integrationskurse, von de-nen eben die Rede war, können jetzt verstärkt auch imschulischen Bereich stattfinden, sodass Eltern ihreKenntnisse der deutschen Sprache verbessern, aber auchInformationen über unser Schulsystem erhalten können.Dieser Austausch ist für die Zukunft ganz entscheidend.Ich darf noch hinzufügen, dass jetzt im Rahmen desNationalen Ausbildungspaktes Elternkonferenzen durch-geführt werden, die großen Zuspruch finden.
Die nächste Frage stellt der Kollege Dr. Sascha
Raabe.
Ich habe eine Frage an die Bundesregierung. – Minis-
ter Niebel war in Paraguay. – Wir sind jetzt bei „sonsti-
gen Themen“, nicht?
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregie-
rung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Nein.
Noch nicht? – Ich hatte mich für „sonstige Themen“
angemeldet. Dann ist das ein Missverständnis.
Dann stellen wir das zurück. – Jetzt kommt die Kolle-
gin Ewa Klamt von der CDU/CSU-Fraktion.
Danke, Herr Präsident. – Frau Staatsministerin, Sie
haben die positive Entwicklung geschildert, die wir
– Gott sei Dank! – bei der frühkindlichen Bildung, aber
auch bei Bildungsabschlüssen erleben. Sie haben aber
auch gesagt, dass, wenn wir auf die Ausbildung schauen,
doch noch eine Diskrepanz besteht. Gibt es, weil sich
jetzt die Bildungsabschlüsse verbessert haben, da Hoff-
nung? Kann man das quantifizieren? Wir hatten ja bei
den ausländischen Jugendlichen eine sehr hohe Zahl von
Schulabbrechern. Können Sie sagen, um wie viel Pro-
zent sich das verbessert hat? Denn das ließe die Hoff-
nung zu, dass immer mehr Jugendliche in Ausbildungs-
berufe kommen.
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregie-
rung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Wir haben Daten vorlegen können, aus denen hervor-
geht, dass der Anteil ausländischer Jugendlicher, die die
Schule ohne Abschluss verlassen, deutlich zurückgegan-
gen ist; und zwar um 39 Prozent. Bei den deutschen Ju-
gendlichen sind es 38 Prozent. Es handelt sich also fast
um einen Gleichklang. Es gibt aber immer noch einen
Unterschied zwischen deutschen und ausländischen Ju-
gendlichen. Ich fände es spannend, Zahlen von Jugendli-
chen mit Migrationshintergrund zu erhalten. Die können
wir aber nur bedingt erlangen; denn die Schulstatistiken
unterscheiden nur zwischen deutschen und ausländi-
schen Schülerinnen und Schülern. Wenn wir erfassen
könnten, wie es bei Jugendlichen bzw. Schülern mit Mi-
grationshintergrund aussieht, wären diese Daten – das
könnte ich mir vorstellen – wahrscheinlich noch wesent-
lich besser. Wir sehen nämlich, dass sich bei der zweiten
Generation der Migranten die Bildungsergebnisse deut-
lich verbessern.
Die nächste Frage stellt der Kollege Mehmet Kilic
von den Grünen.
Herr Vorsitzender, vielen Dank. – Sehr geehrte FrauStaatsministerin, Bildung ist das Fundament aller gesell-schaftlichen Entwicklungen. Deshalb legen wir gemein-sam – gerade auch im Hinblick auf Integration – großenWert auf Bildung. Daher frage ich: Trifft es zu, dassSchülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund andeutschen Schulen durchgängig – wegen des Migra-tionshintergrunds oder auch wegen des sozialen Hinter-grunds – beim Zugang zum jeweils nächsthöheren Bil-
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Memet Kilic
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dungsabschnitt benachteiligt werden? Wenn ja, stelltdies aus Sicht der Bundesbeauftragten eine Form vonDiskriminierung dar? Wie wird diese Form der Benach-teiligung in Ihrem Lagebericht thematisiert? Was tut dieBundesregierung gegen diese Form der Diskriminie-rung?Auch zur Einbürgerung habe ich eine Frage. Dabeigeht es um rechtliche und politische Integration, die eineBrücke baut. Ist es zutreffend, dass die Einbürgerungs-zahl seit Ihrem Amtsantritt um 20 Prozent gesunken ist?Wenn ja, was wollen Sie dagegen tun? Ich meine nichtnur Appelle. Möchten Sie auch strukturell – beispiels-weise im Hinblick auf die Hinnahme von Mehrstaatlich-keit oder die Erleichterung der Einbürgerung – etwasverbessern, damit sich mehr Migrantinnen und Migran-ten einbürgern lassen?Vielen Dank.Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregie-rung für Migration, Flüchtlinge und Integration:Herr Präsident, das waren jetzt zwei Fragen. Soll ichsie zusammen beantworten oder in zwei Teilen? Ichfrage das allein wegen des Zeitbudgets.
Ich gehe einmal davon aus, dass ich zur Beantwortungder beiden Fragen jeweils eine Minute Zeit habe.Benachteiligung von Kindern in der Schule: Ich kanndas so nicht nachvollziehen. Es gibt sicherlich immersubjektive Eindrücke. Auch mir sind Einzelfälle be-kannt, in denen Eltern zu mir kommen und sagen: Abermein Junge, mein Mädchen ist benachteiligt worden. –Das wird dann auf die Zuwanderung der Eltern zurück-geführt. Wenn man nachfasst und mit der Schulleitungoder den Lehrkräften spricht, stellt sich meistens ein sehrdifferenziertes Bild heraus. Umso wichtiger ist es, un-mittelbar mit den Eltern über die Elternarbeit Kontakt zuhaben, sie mitzunehmen, wenn es um Schule geht, ihnenauch zu erklären, worauf es ankommt. Manches Mal ha-ben wir den Eindruck, dass die Eltern, wenn keine schu-lischen Empfehlungen gegeben werden, sondern sieselbst entscheiden können, viel zögerlicher sind, ihrKind auf eine weiterführende Schule zu schicken. Inso-fern stellt sich die Situation sogar umgekehrt dar. Aberich finde, wenn es Einzelfälle gibt, dann muss man je-dem von ihnen nachgehen.Das Zweite, was Sie angesprochen haben, ist die Ein-bürgerung. Lieber Herr Kilic, ich habe in diesem Lage-bericht feststellen können, dass die Einbürgerungszahlenwieder nach oben gegangen sind. Wir verzeichnen weitüber 100 000 Einbürgerungen. Dass die Zahlen schwan-ken, ist ganz normal. Wir hatten vor einiger Zeit einengroßen Einbürgerungsschub. Jetzt sind wir wieder aufeinem guten Niveau. Ich werbe immer auch für die Ein-bürgerung; denn ich meine: Wenn jemand einwandert,dann soll er bitte die vollen Rechte und Pflichten erwer-ben. Wir müssen auch deutlich machen, dass es bei derEinbürgerung, dem Erwerb der deutschen Staatsbürger-schaft, mitnichten nur darum geht, dass man Visafreiheithat und einfach in ein anderes Land reisen kann. Viel-mehr ist der große Pluspunkt der deutschen Staatsbür-gerschaft: Man kann wählen, und man kann gewähltwerden.Ich möchte Ihnen hier eines sagen: Ich bin nicht fürdas kommunale Wahlrecht. Auch wenn Sie diesesThema jetzt nicht angesprochen haben, will ich es vonmeiner Seite in dieser Deutlichkeit ansprechen, wie iches heute auch der Presse gegenüber getan habe. Ichfinde, man darf nicht auf halber Strecke stehen bleiben,sondern man muss den Einwanderern die vollen staats-bürgerlichen Rechte geben, und das heißt die deutscheStaatsbürgerschaft. Dafür werde ich mit großer Intensitätweiterhin werben.
Die nächste Frage hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit.
Verehrte Frau Staatsministerin, liebe Frau KolleginBöhmer, zunächst einmal Ihnen und Ihren Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern herzlichen Dank für dieses um-fangreiche, immerhin 728 Seiten lange Werk, das in derKürze der Zeit von mir nur punktuell hat zur Kenntnisgenommen werden können. Ich möchte jetzt eigentlichgar nicht mit bohrenden Fragen in Sie dringen, sondernmöchte Sie bitten, noch zu zwei Punkten ergänzend et-was zu sagen.Das eine sind die praktischen Probleme – vielleichtsind es auch keine Probleme – im Zusammenhang mitder Umsetzung der sogenannten Optionslösung bei den18- bis 23-Jährigen. Vielleicht könnten Sie uns dazunoch ein wenig sagen, auch dazu, was Sie zu tun planen.Das Zweite ist die Frage der stichtagsunabhängigenBleiberechtsregelung für Jugendliche, die überwiegendhier in Deutschland aufgewachsen sind. Da würde michinteressieren, welche Erfahrungen und Zahlen Sie unshierzu liefern können und ob Sie mit mir der Auffassungsind, dass wir über diese gesetzliche Neuregelung hinausweitere Maßnahmen brauchen, um zu einer stichtags-unabhängigen Altfallregelung zu kommen.Danke sehr.Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregie-rung für Migration, Flüchtlinge und Integration:Ganz herzlichen Dank. – Um mit dem letzten Punktzu beginnen: Ich glaube, es ist von allen hier als großeAnerkennung von Integrationsleistungen empfundenund sehr unterstützt worden, dass wir im Hinblick aufJugendliche, die sich gut integriert haben, die inDeutschland die Schule besucht haben und eine Ausbil-dung absolvieren, gesagt haben: Wir wollen ein von denEltern unabhängiges, stichtagsunabhängiges Bleibe-recht schaffen. Ich finde, das ist ein Signal gerade gegen-über diesen Jugendlichen, aber auch gegenüber den Mit-schülerinnen und Mitschülern, den Freunden, die damitsehen: Integration und das Hier-Ankommen in Deutsch-land werden anerkannt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22249
Beauftragte der Bundesregierung Dr. Maria Böhmer
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Ich wäre sehr erleichtert, wenn wir den nächstenSchritt vollziehen könnten. Ich sehe mich einig mit ei-nem Beschluss der Integrationsministerkonferenz. DieIntegrationsministerkonferenz hat sich für ein stich-tagsunabhängiges Bleiberecht ausgesprochen. Ich habedies durchaus begrüßt.Zu dem, was Sie zu dem Optionsverfahren angespro-chen haben: Ein Punkt ist höchst erfreulich: Bei der Eva-luierung des Optionsverfahrens haben wir feststellenkönnen, dass sich 98 Prozent derer, die optieren mussten,für die Beibehaltung der deutschen Staatsbürgerschaftentschieden haben. Ein besseres Ergebnis kann man sichkaum vorstellen: Nur noch 2 Prozentpunkte fehlen unsan 100 Prozent.Aber ich sehe, dass größere Zahlen auf uns zukom-men und Informationsbedarf besteht. Sie sehen: Ich habeeine Informationsbroschüre in der Hand, die ich jetzt andie Jugendlichen, aber auch an die Eltern verteilen lasse,um über die Regelungen des Optionsrechts aufzuklären.An manchen Stellen können wir sicherlich etwas verein-fachen, damit es leichter gelingt, die Bürokratie gemin-dert wird, die Entscheidung aber für Deutschland aus-fällt.
Vielen Dank, Frau Staatsministerin, für diese ausführ-
liche Antwort. – Das Fragerecht hat als Nächste die Kol-
legin Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke.
Frau Böhmer, ich möchte an die Frage zu den Integra-
tionskursen anknüpfen, die ich vorhin gestellt habe. Sie
haben mir hier Schwarzmalerei vorgeworfen. Was ich
gesagt habe, wird aber beispielsweise von den Lehrkräf-
ten geteilt, die dort unterrichten. Soweit mir bekannt ist,
haben Sie sich früher einmal dafür eingesetzt, dass die
Lehrkräfte besser bezahlt werden. Ich frage: Was ist da-
raus geworden? Meinen Sie, dass es der Qualität von In-
tegrationskursen dient, wenn Menschen unterrichten, die
auf Hartz-IV-Niveau bezahlt werden?
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregie-
rung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Frau Kollegin Jelpke, das ist völlig richtig: Wer gute
Arbeit leisten soll, soll auch gut honoriert werden. Es
geht uns um einen entsprechenden Qualitätsstandard bei
den Kursen. Sie wissen, dass das Bundesamt für Migra-
tion und Flüchtlinge prüfen wird, ob Dumpinglöhne ge-
zahlt werden, und dass man danach die Berechtigung für
das Durchführen von Integrationskursen aussprechen
wird oder eben nicht. Schwarze Schafe dürfen die Bil-
dungsmaßnahme „Integrationskurse“ dann nicht durch-
führen. Das halte ich auch für richtig.
Ich habe mit vielen Lehrkräften gesprochen. Es gibt
Kursträger – jetzt nenne ich einmal die Volkshochschu-
len –, die ordentlich bezahlen und bei denen ich davon
ausgehe, dass der Unterricht gut läuft. Das zeigen uns
auch die Ergebnisse. Aber wenn der eine oder andere die
Situation ausnutzt, muss man die Rote Karte zeigen.
Nächster Fragesteller ist der Kollege Josef Winkler.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Böhmer, eineNachfrage zu der Antwort zum Optionsmodell, die Siegerade gegeben haben. Sie haben gesagt, 98 Prozent de-rer, die sich zurückgemeldet hätten, hätten sich für diedeutsche Staatsbürgerschaft ausgesprochen. Da würdemich noch interessieren, wie viele sich nicht zurückge-meldet haben, weil denen, die sich dauerhaft nicht zu-rückmelden, automatisch die deutsche Staatsangehörig-keit entzogen werden wird. – Das wäre der erste Teil.Der zweite Teil: In dem Zweiten Integrationsindikato-renbericht, den wir in der Sitzung des Innenausschussesam 13. Juni miteinander diskutiert haben, war an zweiStellen die Rede davon, dass Forscher festgestellt haben:Es reicht erwiesenermaßen aus, einen ausländisch klin-genden Namen zu haben, um beim Übergang von derSchule in die Ausbildung bei gleicher Qualifikation undgleich guter Benotung gegenüber denen benachteiligt zuwerden, die einen deutsch klingenden Namen haben.Wie wird das in dem Lagebericht aufgegriffen? WelcheMaßnahmen werden Sie dagegen ergreifen?Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregie-rung für Migration, Flüchtlinge und Integration:Ich beginne mit der Evaluierung des Optionsverfah-rens. „Rückmeldung“ hieß in dem Fall: Es ist keine Ge-samtschau, sondern es ist die Zahl der Rückmeldungenim Rahmen dieses Optionsverfahrens. Die Zahlen kannich Ihnen aber gerne geben – ich habe sie jetzt nicht prä-sent –; das ist kein Problem.
Ich weiß sehr wohl, dass wir ab 2018 eine etwas an-dere Situation haben werden. Dann wird eine viel grö-ßere Zahl von Jugendlichen vor der Frage stehen, ob siesich für die Beibehaltung der deutschen Staatsbürger-schaft entscheiden. Ich hoffe, sie tun es. Aber das wirdnicht ohne Information geschehen können. Es wird sichum weit über 40 000 Jugendliche im Jahr handeln. Jetztsind es ungefähr 4 000 Jugendliche pro Jahr. Das machtschon einen Unterschied.Der Unterschied liegt auch darin begründet, dass jetztJugendliche und junge Menschen optieren, bei denensich auch die Eltern dafür entschieden haben. Wir wer-den es zukünftig also mit einer etwas anders strukturier-ten Gruppe zu tun haben. Deshalb müssen wir uns jetztüberlegen: Wie erreichen wir diese Jugendlichen? Daszu beantworten, ist nicht nur eine Aufgabe des Bundes,sondern selbstverständlich auch der Länder. Hier merkeich, dass die Länder bei der Information unterschiedlichvorgehen. Aber ich glaube, es ist wichtig, sehr frühzeitigzu informieren. Deshalb gibt es von unserer Seite eine
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Beauftragte der Bundesregierung Dr. Maria Böhmer
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Broschüre, in der wir die Regelungen in einfacher, klarerSprache erläutern. Ich habe aber die Vorstellung, dassman die Beratung vor Ort verbessern und dort viel mehranbieten muss.Zu Ihrer nächsten Frage: Benachteiligung von Jugend-lichen bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle, vorallen Dingen beim Erhalt eines Ausbildungsvertrags. Esstimmt leider, dass es an dieser Stelle immer noch Diskri-minierungsfälle gibt, obwohl wir das Problem gemeinsamnach außen hin verdeutlicht haben. Wenn ich „gemein-sam“ sage, dann meine ich die Antidiskriminierungsstelleund viele andere, die in diesem Bereich engagiert sind.Hier muss man ganz klar sagen, dass eine solche Diskri-minierung nicht sein darf. Wir haben die rechtlicheGrundlage, um dagegen vorzugehen; aber Sie wissen ge-nauso wie ich, dass manch einer zögert, seine Ansprücherechtlich geltend zu machen. Deshalb halte ich einen an-deren Ansatz für zielführend: über Diversitystrategien,über die Charta der Vielfalt, über den Nationalen Ak-tionsplan, bei dem wir die Unternehmen unmittelbar ein-binden und sie dazu bewegen, diesen Jugendlichen eineChance zu geben.
Danke. – Jetzt haben wir wieder eine Frage des Kolle-
gen Michael Frieser.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Staatsminister,
der Diskurs zum Thema Integrationskurse – die Sprache
ist eigentlich das wichtigste Element – gibt auch die Ge-
legenheit, nach den Erfahrungen mit vorintegrativen
Maßnahmen zu fragen. Es geht um unseren Ansatz, der
oftmals diskutiert und auch kritisiert wurde, zu fragen:
An welcher Stelle können wir damit rechnen, Effekte da-
mit zu erzielen, dass Menschen bereits in ihrem Heimat-
land an die deutsche Sprache herangeführt werden? –
Gibt es Erkenntnisse, die auf einen Erfolg dieses Ansat-
zes hindeuten und zeigen, dass er in die richtige Rich-
tung weist?
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregie-
rung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Ich habe eben gesagt: Um für die Zukunft gerüstet zu
sein, brauchen wir einen Paradigmenwechsel, weg von
der nachholenden, hin zur vorausschauenden Integra-
tionspolitik. Hier ist das Element der vorbereitenden In-
tegration von entscheidender Bedeutung. Die Erfahrun-
gen, die wir mit dem Spracherwerb im Herkunftsland
beim Ehegattennachzug sammeln konnten, sind sehr
positiv: Die Integration bei uns gelingt viel schneller und
besser. Als ich bei meinem letzten Aufenthalt in der Tür-
kei einen Vorintegrationskurs besucht habe, der über das
Sprachangebot hinausging und auf freiwilliger Basis
stattfand – mit Unterstützung von Organisationen für
türkischstämmige Migranten hier in Deutschland –, habe
ich an den Reaktionen der Teilnehmerinnen und Teilneh-
mer, aber auch an den Erfahrungen der Lehrkräfte ge-
merkt: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind ganz
anders darauf eingestellt, nach Deutschland zu kommen.
Sie bereiten sich nicht nur sprachlich vor, sondern wis-
sen dann auch etwas über unser Sozialsystem, unsere
Demokratie und unsere politische Verfasstheit. Das ist
eine ganz andere Ausgangssituation.
Eine weitere Frage der Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Böhmer, wir wissen seit zwei Jahren, seit dem
Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass das
Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig ist; die
Bundesregierung hat es in der Antwort auf eine Kleine
Anfrage zugegeben. Ich würde gerne wissen, was Sie in
diesen zwei Jahren getan haben, damit dieser Zustand
aufgehoben wird.
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregie-
rung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Ich habe mich sehr intensiv mit dieser Frage befasst.
Ich bin der Meinung, dass die Leistungen hier nicht auf
dem Stand bleiben können, auf dem sie sind. Ich habe
mich an die Bundesarbeitsministerin gewandt. Wir ha-
ben es zudem in der Integrationsministerkonferenz nicht
nur einmal erörtert; auf Arbeitsebene geschieht das ge-
nauso. Ich bin der Meinung: Hier muss sich etwas än-
dern.
– Da müssen Sie die Bundesarbeitsministerin fragen.
Wie Sie wissen, warten wir jetzt auf die Entscheidung
des Gerichts.
Vielen Dank. – Jetzt kommt die wohl letzte Frage,
vom Kollegen Josef Winkler. – Herr Winkler, wollen Sie
fragen?
– Herr Kilic.
Vielen Dank, Herr Vorsitzender. – Sehr geehrte FrauStaatsministerin, der diskriminierungsfreie Zugang zumArbeitsmarkt gehört zum Schutzbereich des Art. 2 unse-res Grundgesetzes, der lautet: Die Individuen sollen sichnach ihren Fähigkeiten entfalten können, und der Staatschützt dieses Recht der Individuen. – Deshalb dieFrage: Ist es zutreffend, dass ausgerechnet höher qualifi-zierte Menschen mit Migrationshintergrund am Arbeits-markt immer noch deutlich größere Probleme haben alsvergleichbare Personen ohne Migrationshintergrund?Dies steht auf Seite 14 des Berichts. Wenn ja, stellt diesaus Sicht der Beauftragten eine Form der Diskriminie-rung dar? Wie wird diese Form der Benachteiligung inIhrem Lagebericht thematisiert? Was tut die Bundes-regierung gegen diese Form der Diskriminierung?
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Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregie-rung für Migration, Flüchtlinge und Integration:Wenn ich dieses Thema nicht für extrem wichtig ge-halten hätte, dann hätten wir es nicht im Lagebericht auf-gegriffen. Diskriminierung darf nicht sein. Darin sindwir uns absolut einig. Deshalb muss man es thematisie-ren, muss es in den Blick rücken, und nicht nur in Ein-zelfällen, sondern generell. In unserem Land haben wirdazu eine entsprechende Gesetzgebung. Wie ich bereitssagte: Das eine ist, gegen Diskriminierung vorzugehen.Dafür gibt es beim Bund eine Stelle. Frau Lüders und ichsowie meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiteneng zusammen. Wir geben individuelle Unterstützungund Ratschläge. Dies gilt auch für die Leiterin der Anti-diskriminierungsstelle, Frau Lüders. Aber es ist auchwichtig, den Unternehmen deutlich zu machen: Jeman-den als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter mit einem Zuwan-derungshintergrund zu gewinnen, bedeutet für ein Unter-nehmen einen enormen Pluspunkt. Das muss sich in denKöpfen der Personalentscheider festsetzen. Sie müssenaber auch entsprechend handeln. Das bedeutet, dass wirVorbilder brauchen. Die Mitglieder der Charta der Viel-falt und die vielen Menschen, die die Charta der Vielfaltunterschrieben haben, gehen in dieser Frage voran. Ichunterstütze das Projekt mit Preisen. Dies gilt auch fürden Ausbildungsbereich. Ich habe mich bewusst dem öf-fentlichen Dienst zugewandt, weil wir natürlich auchdort die Chancen verbessern wollen. Ich sehe, dass wirmit Strategien der Werbung und Aufklärung vorankom-men können. Sich gegen Diskriminierung zu wehren undDiversity voranzubringen – das sind die beiden Seiteneiner Medaille, die an dieser Stelle meines Erachtens er-folgversprechend sind. Dies zeigt auch die Resonanz inder Öffentlichkeit.
Jetzt: Gibt es Fragen zu anderen Themen der heutigen
Kabinettssitzung? – Herr Raabe, haben Sie sich hierzu
gemeldet? – Herr Raabe, bitte schön.
Danke, Herr Präsident, dass ich die Gelegenheit be-
komme, nachdem unsere dringlichen Fragen zu dem
Komplex Paraguay mit dem Argument abgelehnt wur-
den, es gebe nicht genug öffentliches Interesse bzw. Auf-
merksamkeit der Medien. Das verwundert sehr, weil uns
heute im Ausschuss die Kollegen der FDP gesagt haben,
dass Minister Niebel sogar persönlich in den Fraktionen
von CDU/CSU und FDP dazu Stellung genommen hat.
Zumindest dort scheint es also Thema gewesen zu sein.
Ich frage nach der Haltung der Bundesregierung in
diesem Fall, weil es dazu Uneinigkeit gibt. Der Entwick-
lungsminister ist nach dem putschartigen Amtswechsel
nach Paraguay gefahren und hat als erster Staatsgast die
Hand des neuen Präsidenten geschüttelt und ihm finan-
zielle Unterstützung zugesichert und damit den An-
schein einer Anerkennung des neuen Präsidenten durch
Deutschland erweckt. Gleichzeitig haben alle anderen
lateinamerikanischen Staaten ihre Botschafter abgezo-
gen. Der neue Präsident wurde vom Mercosur-Treffen
ausgeladen. In Lateinamerika herrscht Entsetzen über
die Lage in Paraguay. Der Minister aber sagt, er glaubt
und findet: Das ist alles rechtmäßig abgelaufen. – Einen
Tag später hat sich das Auswärtige Amt von dieser Pein-
lichkeit des Ministers Niebel distanziert, aber auch nicht
in eindeutigen Worten. Ich frage jetzt: Wie ist die Hal-
tung der Bundesregierung zu diesem Vorgang in Para-
guay? Finden Sie nicht auch, wenn man gute Regie-
rungsführung und Demokratie einfordert, dann sollte
man einen solchen putschartigen Machtwechsel nicht
vorschnell unterstützen?
Frau Staatsministerin Pieper wird antworten.
C
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Abgeordneter,
die Meinung der Bundesregierung zu den Vorgängen in
Paraguay ist einheitlich; das will ich ausdrücklich beto-
nen. Ich will auch noch einmal darauf hinweisen, dass
die Bundesregierung in dieser Woche mit ihren Partnern
in der Europäischen Union Informationen und Einschät-
zungen zur Situation in Paraguay austauschen wird.
Diese ist für uns besorgniserregend. Wir werden in der
Europäischen Union gemeinsam eine Bewertung der Er-
eignisse vornehmen und möglicherweise auch Konse-
quenzen zu ziehen haben.
In der Tat ist es so, dass das Parlament in Paraguay
Präsident Fernando Lugo mit großer Mehrheit seines
Amtes enthoben hat. Dies lässt die Verfassung zu. An
der Durchführung – das haben Sie bereits erwähnt – und
dem eingeschlagenen Verfahren haben die Nachbarstaa-
ten, insbesondere Paraguays Partner im Mercosur wie
Argentinien, Brasilien und Uruguay, Kritik geübt. Dort
wird von einer Verweigerung rechtlichen Gehörs und in
diesem Zusammenhang von einem Bruch der demokrati-
schen Ordnung gesprochen.
Auch die Hohe Vertreterin der Europäischen Union
für Außen- und Sicherheitspolitik Lady Ashton hat die
Entwicklung mit großer Sorge zur Kenntnis genommen
und in dem Zusammenhang zu Respekt vor dem demo-
kratischen Volkswillen aufgerufen. Wir sind angesichts
dieser Ereignisse in der Tat besorgt.
Ich will aber noch einmal darauf hinweisen, dass der
Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Dirk
Niebel den Besuch in Paraguay am 23. Juni seit langem
geplant hatte. Er hat selbst zum Ausdruck gebracht, dass
er aus Paraguay lediglich den ersten Eindruck mitge-
nommen hat, dass der Amtswechsel nach den Regeln der
Verfassung abgelaufen sei.
Wir haben eine weitere Frage des Kollegen Niema
Movassat von den Linken.
Danke, Herr Präsident. – Frau Staatsministerin Pieperhat gerade die Reaktion von Catherine Ashton sowie dieder Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten auf denPutsch in Paraguay dargestellt. Sie hat aber nicht gesagt,
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22252 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Niema Movassat
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ob sie die Kritik, die seitens der lateinamerikanischenStaaten an diesem Putsch besteht, teilt. Wenn man dieseKritik teilt: Wäre es dann nicht vernünftig gewesen, wiedie lateinamerikanischen Staaten zunächst die Botschaf-ter zurückzubeordern und Konsultationen zu führen, be-vor ein Minister der Bundesrepublik Deutschland nachParaguay reist und die Hand des Putschisten schüttelt?
Frau Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Kopp.
Gu
Danke schön, Herr Präsident. – Herr Movassat, wie
die Kollegin Pieper gerade sagte: Minister Niebel hatte
die Reise lange geplant; ebenso war der Gesprächster-
min mit dem damaligen Vizepräsidenten Franco verein-
bart. Der Minister sah es für wichtig an, diesen vorgese-
henen Besuch durchzuführen, weil es darum ging,
bereits begonnene Projekte der ländlichen Entwicklung,
der Armutsbekämpfung und auch der Bildung mit neuen
Zusagen in Höhe von etwa 8 Millionen Euro zu verse-
hen. Dies ist für die Menschen vor Ort sehr wichtig.
Der Minister hat in dem Gespräch mit Herrn Franco
deutlich gemacht, dass er das Votum der jeweiligen Ver-
fassungsorgane zur Kenntnis genommen hat. Es gab ja
ein breites Votum für das Amtsenthebungsverfahren. In
der Kritik stand wohl die Eile, mit der dieses Verfahren
durchgezogen wurde. Das hat Herr Bundesminister
Niebel in dem Gespräch mit Herrn Franco kritisiert. Er
hat auch angemahnt, dass die jetzt im Amt befindliche
Regierung alles tun müsse, um für Frieden und dafür zu
sorgen, dass die Verhältnisse geklärt werden. Das geht
aus seiner Pressemitteilung hervor.
Es war also ein sehr konstruktives Gespräch. Es ging
überhaupt nicht um die Anerkennung von Regierungen;
denn eine solche Anerkennung erfolgt nur gegenüber
Staaten. Wie gesagt: Es war ein sehr lange geplanter Be-
such, der wichtig war gerade für die ärmsten Menschen
vor Ort.
Wir haben noch eine Frage der Kollegin Heike
Hänsel, ebenfalls von der Fraktion Die Linke.
Danke schön, Herr Präsident. – Meine Frage geht
auch zum Thema Herr Niebel in Paraguay: Kann sich die
Bundesregierung nicht vorstellen, dass das Ganze ein
außenpolitischer Affront ist? Dieses Bild ging um die
Welt: Herr Niebel schüttelt dem De-facto-Präsidenten
kurz nach einem Staatsstreich als erster europäischer
Staatsgast die Hand. Das war durchaus als Symbol zu
verstehen. Wir wissen ganz genau, welches Signal man
mit einem solchen Bild aussendet.
Meine Frage: Gab es eine Rücksprache mit dem
Auswärtigen Amt, bevor Minister Niebel den De-facto-
Präsidenten Franco getroffen hat, und was hat das Aus-
wärtige Amt Herrn Niebel geraten, wie er sich verhalten
soll? Hat Herr Niebel versucht, ein Treffen mit dem ab-
gesetzten Präsidenten Lugo zu arrangieren, um sich ein
Bild von der Lage machen zu können?
Sie sagen, dass Sie Mittel für die ländliche Entwick-
lung zur Verfügung stellen wollen. Wie schätzen Sie die
Situation ein, dass mit dem De-facto-Präsidenten Franco
wieder jene Kräfte an die Macht kommen, nämlich die
Großgrundbesitzer, die sich seit Jahren gegen Landrefor-
men für die ländliche Entwicklung und gegen die Armut
in Paraguay stemmen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Gu
Frau Kollegin, innerhalb der Bundesregierung gibt es
hier keinerlei Dissens. Vielmehr gab es einen ständigen
Austausch zwischen dem Außenministerium, dem BMZ
und Minister Niebel, und zwar auch schon vor dem
Termin.
Es ging nicht um Symbolpolitik. Es ging auch nicht
darum, uns als Deutsche zu Richtern in diesem Verfah-
ren aufzuschwingen. Ich betone noch einmal: Es gab ei-
nen Termin, den Minister Niebel seinerzeit mit dem
Landwirtschaftsminister, der für wichtige laufende
Projekte zuständig war, vereinbart hatte. Er hat sich ent-
schieden, diesen Besuch zu absolvieren, und hat inten-
sive Gespräche geführt. Er hat keinesfalls irgendwelche
Entscheidungen vorweggenommen. Wie gesagt: In der
Pressemitteilung war von einem ersten Eindruck die
Rede. Die Entscheidungen im Abgeordnetenhaus und
auch im Senat – diese Entscheidungen sind mit großer
Mehrheit zustande gekommen – hat Herr Niebel zur
Kenntnis genommen. Das war der erste Eindruck. Alle
weiteren Entwicklungen müssen wir beobachten; das hat
Frau Staatsministerin Pieper eben ausgeführt. Wir wer-
den uns als Bundesregierung auf EU-Ebene in Kürze im
Detail abstimmen.
Es gibt noch eine Frage des Kollegen Josef Winkler.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Auch ich möchte noch
einmal nachfragen: War der Bundesminister des Aus-
wärtigen vor dem Termin des Bundesministers Niebel
mit dem neu gewählten Staatspräsidenten in Paraguay
über diesen Termin informiert? Ja oder Nein?
Frau Staatsministerin Pieper, bitte.
C
Ich will klarstellen, dass dem Auswärtigen Amt dieTermine auch der Auslandsreisen der einzelnen Bundes-minister bekannt sind. Wir stellen unsere Kapazitäten für
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22253
Staatsministerin Cornelia Pieper
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Auskünfte jederzeit zur Verfügung. Das gilt übrigensnicht nur für die Regierung, sondern selbstverständlichauch für den Deutschen Bundestag und seine Abgeord-neten.
Darf ich dazu eine Nachfrage stellen?
Bitte.
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Ich habe mir
schon fast gedacht, dass die Terminplanung bekannt ist.
Aber es hat sich doch eine Veränderung der dienstlichen
Position von Herrn Franco ergeben. Der ursprünglich in
der Terminliste vorgesehene Termin war, soweit ich
weiß, mit Herrn Vizepräsidenten Franco vereinbart; der
eigentliche Termin fand aber dann mit dem Präsidenten
Franco statt. Ich frage noch einmal: War der Bundes-
außenminister – und nicht das Amt – darüber informiert,
dass der Termin stattfinden soll, obwohl eine Positions-
veränderung von Vizepräsident zu Präsident stattgefun-
den hat?
C
Wir waren über die Reise von Bundesminister Niebel
informiert. Sie können davon ausgehen, dass der Bun-
desregierung bewusst ist, dass in dieser Region, insbe-
sondere in Paraguay, viel in Bewegung ist und wir das
auch mit Sorge sehen. Dass wir – das hat Frau Kopp
schon gesagt – nicht mit Präsidenten, sondern mit einzel-
nen Staaten Kontakt haben, dürfte Ihnen bekannt sein.
Wir haben bereits das Doppelte der vorgesehenen Zeit
in Anspruch genommen. Deswegen muss ich die Regie-
rungsbefragung jetzt beenden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksache 17/10051 –
Ich rufe die Fragen auf Drucksache 17/10051, die
mündlich beantwortet werden, in der üblichen Reihen-
folge auf.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser zur Verfügung.
Die Fragen 1 und 2 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl
sollen schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 3 der Kollegin Ute Vogt auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung das Vorkommen von
Formationswasser und Lösungszutritten im Endlager Konrad
im Hinblick auf mögliche Korrosionen der Atommüllfässer
und die dadurch verursachte Freisetzung von Radionukliden
in die Biosphäre, und wie soll ein weiterer Wasserzutritt, zum
Beispiel über die darüber liegenden Tonschichten, langfristig
verhindert werden?
Bitte sehr, Frau Staatssekretärin.
Ur
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin
Ute Vogt, das Vorkommen von Formationswässern im
Endlager Konrad wurde in Langzeitsicherheitsanalysen
des Endlagers selbstverständlich berücksichtigt. Hierbei
wurde angenommen, dass unmittelbar nach Verschluss
des Endlagers Konrad Formationswässer an die endgela-
gerten radioaktiven Abfälle gelangen und Radionuklide
aus den konditionierten Abfällen in die Formationswäs-
ser übertreten, sich zunächst im Bereich des Grubenge-
bäudes ausbreiten und dann aus dem Bereich des Endla-
gers über die Geosphäre bis in die Biosphäre
transportiert werden. Eine Zerstörung der Abfallgebinde
wurde dabei unterstellt; von einer etwaigen Rückhalte-
wirkung der Abfallverpackungen bzw. Containerwand-
lungen für Radionuklide wurde kein Kredit genommen.
Die Langzeitsicherheitsanalysen zeigen, dass Einträge in
das oberflächennahe Grundwasser frühestens nach
300 000 Jahren auftreten können und dabei höchstens zu
einer zusätzlichen Strahlenexposition führen können, die
im Schwankungsbereich der natürlichen Strahlenexposi-
tion liegt.
Gibt es Nachfragen, Frau Vogt?
Ja.
Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, habe ich Sie richtig verstanden,
dass eine Korrosion dieser Behälter in Kauf genommen
wird bzw. zwangsläufige Folge ist, und können Sie uns
sagen, seit wann dieser Lösungsmittelzutritt und Wasser-
zutritt, über den jetzt auch öffentlich diskutiert worden
ist, der Bundesregierung bekannt ist?
Ur
Zum ersten Teil Ihrer Frage kann ich sagen, dass wirbei der Langzeitsicherungsanalyse den Extremfall unter-stellt haben. Das ist auch unsere Verpflichtung. Wir stel-len Ihnen sehr gerne Informationen darüber zur Verfü-gung, wie das im Analyseverfahren ausgesehen hat.Auf die zweite Frage kann ich Ihnen jetzt keine Ant-wort geben. Die Information, seit wann uns das bekanntist, reiche ich Ihnen nach. Ich kann Ihnen nur so viel sa-gen: Zurzeit werden etwa 16 Kubikmeter Wasser täglichaufgefangen.
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(C)
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Weitere Nachfrage, Frau Vogt?
Ja. – Ich wüsste gerne, wo das Wasser entsorgt wird.
Ur
Das Wasser wird kontinuierlich überwacht und in
Wassertanks sowie in Pumpsümpfen unter Tage gesam-
melt. Einen Teil nutzen die Bergleute zur Staubbekämp-
fung und zur Fahrbahnpflege unter Tage. Der Rest wird
über Tage abgeleitet.
Ich rufe die Frage 4 der Kollegin Vogt auf:
Hält die Bundesregierung weiterhin an der geplanten Inbe-
triebnahme des Endlagers Konrad ab 2019 fest, oder hält sie
weitere Untersuchungen im Hinblick auf einen möglichen
Wassereintritt und gegebenenfalls weitere Sicherungsmaßnah-
men für erforderlich?
Ur
Wir halten weiter an der geplanten Inbetriebnahme
des Endlagers Konrad fest.
Zum zweiten Teil der Frage: Aufgrund der bereits als
abdeckend betrachteten Berücksichtigung des Vorkom-
mens von Formationswässern sind weitere Betrachtun-
gen bzw. Sicherungsmaßnahmen nicht erforderlich.
Eine Nachfrage, Frau Vogt?
Ja. – Frau Staatssekretärin, gehen Sie nach wie vor
davon aus, dass das Lager ab 2019 tatsächlich in Betrieb
gehen kann, und sind Sie der Meinung, dass es ausrei-
chend groß ist, um den vorhandenen schwach- und mit-
telradioaktiven Müll aufzunehmen?
Ur
Ja und ja.
Danke schön. Ich habe keine weiteren Fragen.
Bitte schön, Frau Menzner.
Danke schön. – Ich habe an dieser Stelle noch eine
Nachfrage. Wie wir alle wissen, Frau Staatssekretärin,
befinden sich das Lager Asse und das geplante Lager
Schacht Konrad in enger räumlicher Nähe zueinander.
Die gleichen Bürgerinnen und Bürger, die von der Asse
betroffen sind, werden auch von Konrad betroffen sein.
Sie haben jetzt erfahren, dass es über Jahrzehnte man-
gelnde Transparenz bezüglich der Asse gegeben hat. Hat
das Auswirkungen auf die Entscheidungsfindung und
die Handlungsoptionen der Bundesregierung?
Ur
Das hat keine Auswirkungen. Ich weise in diesem Zu-
sammenhang darauf hin, dass es signifikante Unter-
schiede zwischen dem Endlager Konrad und der Asse
gibt. Die beiden Standorte – das wissen Sie, Frau
Menzner – weisen unterschiedliche Wirtsgesteine auf,
die bergbauliche Ausgangssituation ist unterschiedlich,
die geologischen und hydrogeologischen Gegebenheiten
sind unterschiedlich. Der entscheidende Unterschied
zwischen beiden ist – ich habe dies im Zusammenhang
mit der Frage bezüglich der Formationswässer eben aus-
geführt –, dass für Konrad ein Langzeitsicherheitsnach-
weis vor Inbetriebnahme vorliegt, was bei der Asse defi-
nitiv nicht der Fall gewesen ist. Sie wissen, dass wir bei
Konrad sehr lange Verfahren hinter uns haben, auch im
Rahmen der Planfeststellung. Es gab gerichtliche Ent-
scheidungen zu Konrad. Wir sind jetzt so weit, dass die
Genehmigungen dafür vorliegen.
Vielen Dank. – Die Fragen 5 und 6 des Kollegen
Marco Bülow sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen dann zur Frage 7 der Kollegin Cornelia
Behm:
Wird die Bundesregierung angesichts des enormen Hand-
lungsbedarfs, den der Auenzustandsbericht des Bundesamtes
für Naturschutz ausweist, ein Auenschutzprogramm auflegen,
um die zu mehr als 80 Prozent zerstörten oder gefährdeten
Auen zu schützen, und welche Maßnahmen wird die Bundes-
regierung an den Brandenburger Bundeswasserstraßen ergrei-
fen, um die Umsetzung der Europäischen Wasserrahmenricht-
linie voranzutreiben?
Ur
Sehr geehrte Kollegin Behm, mit dem Auenzustands-bericht hat die Bundesregierung die Datengrundlage füreine wirksame Auenentwicklung vorgelegt, für die alleGebietskörperschaften, vor allem die Länder undGemeinden als Flächeneigentümer und Träger der Pla-nungshoheit, verantwortlich sind. Aufgrund der verfas-sungsrechtlichen Kompetenzverteilung zwischen Bund,Ländern und Gemeinden ist ein paralleles eigenständigesAuenschutzprogramm nicht vorgesehen.Die Bundesregierung fördert allerdings im Rahmendes Bundesprogramms „Biologische Vielfalt“ Modell-projekte, mit denen die Auenentwicklung in Deutsch-land vorangetrieben werden soll. Zur Umsetzung derEuropäischen Wasserrahmenrichtlinie haben die Bun-desländer Bewirtschaftungspläne und Maßnahmenpro-gramme erarbeitet, die sich in der Umsetzung befinden.Diese schließen – ich vermute, dies ist Ihr Hauptinte-
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resse – die Bundeswasserstraßen in Brandenburg mitein.
Nachfrage, Frau Behm?
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für die Beantwor-
tung der Frage. – Ich muss sagen: Es war wirklich eine
große Leistung, diesen Auenzustandsbericht zu erstellen.
Man hat festgestellt, dass der Bund mit im Boot ist und
gemeinsam mit den Ländern Maßnahmen zur Umset-
zung formulieren muss. Bei diesem Thema kann man ja
nicht an Landesgrenzen haltmachen.
Da ein wesentliches Ziel im Zusammenhang mit dem
Auenschutzprogramm die Umsetzung der Wasserrah-
menrichtlinie bis 2015 ist, frage ich: Können Sie sagen,
wann genau das Ziel, die Umsetzung der Wasserrahmen-
richtlinie, erreicht wird? Welchen Stand der Umsetzung
haben wir in Bezug auf die Auen?
Ur
Wir haben Sachverständigengutachten in Auftrag ge-
geben. Die Sachverständigen sollen sich den Zustand ge-
nau anschauen, und zwar auch im Hinblick auf die Wirk-
samkeit von Maßnahmen, die von den Bundesländern
umgesetzt wurden. Wir erwarten die Ergebnisse Ende
dieses Jahres. Wir haben sie zum jetzigen Zeitpunkt
noch nicht; aber wir werden Sie sehr zeitnah darüber un-
terrichten.
Weitere Nachfrage, Frau Behm?
Ja. – Im Fazit des Auenzustandsberichts wird darauf
hingewiesen, dass Bund und Länder gemeinsam ein Pla-
nungs- und Finanzierungsinstrument erarbeiten sollen.
Können Sie solch ein Instrument schon vorlegen? Gibt
es schon etwas, mit dem man sich ein einheitliches Bild
davon machen kann, wann die Defizite, die wir in Bezug
auf den Zustand der Auen an deutschen Flüssen haben,
aufgearbeitet sein werden?
Ur
Wir bereiten zurzeit die Fortschreibung des Auenzu-
standsberichtes vor. Wir hoffen, dass wir damit – zusam-
men mit dem Sachverständigengutachten – zum Jahres-
ende fertig werden.
Vielen Dank.
Bitte schön, Frau Kurth.
Undine Kurth (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Frau Staatssekretärin, meine Vorrednerin hat bereits
gesagt, dass der Auenzustandsbericht eine große Leis-
tung war, dass wichtige Daten darin enthalten sind. Im
Ausblick wird klargemacht, dass dringender Handlungs-
bedarf besteht, und Sie haben eben gesagt, dass Sie an
der Fertigstellung der Fortschreibung arbeiten. Meine
Frage ist: Können wir von Ihnen mit dieser Fortschrei-
bung eine Benennung der Schwerpunkträume erwarten,
bzw. wann können wir sie erwarten? Wir wollen sie ja
beispielhaft herausnehmen, um die notwendigen defi-
nierten Maßnahmen umzusetzen.
Ur
Zu den Beispielräumen kann ich Ihnen zum jetzigen
Zeitpunkt noch nichts sagen. Das werden wir zum Ende
des Jahres, wenn die Fortschreibung und die Sachver-
ständigengutachten vorliegen, besprechen.
Undine Kurth (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Aber Sie haben im Blick, dass die Schwerpunkträume
benannt werden müssen?
Ur
Ja.
Wir kommen jetzt zur Frage 8 des Kollegen
Dr. Matthias Miersch:
Wie beurteilt die Bundesregierung rechtlich und politisch
den Vorstoß vom Bundesminister für Wirtschaft und Techno-
logie, Dr. Philipp Rösler, zur Beschleunigung des Stromlei-
tungsbaus an die Flora-Fauna-Habitat- und die Vogelschutz-
Richtlinie ranzugehen, sowie den Vorschlag, „beim Durch-
queren von Schutzgebieten einen Teil der EU-Regeln auf Zeit
außer Kraft setzen“ zu können, Frankfurter Allgemeine Zei-
tung, 14. Juni 2012?
Ur
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Miersch, die Bundes-regierung betont, dass die Energiewende und der Netz-ausbau in Deutschland mit dem Ziel und dem rechtlichenRahmen, die Natur zu erhalten und zu schützen, verein-bar sind.Die Natura-2000-Richtlinie – das sind die von Ihnenerwähnte Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie und die Vogel-schutzrichtlinie der Europäischen Union – sieht keinegenerellen Ausnahmemöglichkeiten für bestimmte Vor-habetypen wie zum Beispiel den Netzausbau vor. Auchfür Vorhaben des Netzausbaus ist es obligatorisch, eineVerträglichkeitsprüfung durchzuführen, soweit europäi-
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sche Schutzgebiete erheblich beeinträchtigt werden kön-nen. Ferner ist die Vereinbarkeit auch solcher Vorhabenmit den artenschutzrechtlichen Schutz- und Ausnahme-regelungen zu prüfen.Damit kommt allerdings dem Naturschutz kein abso-luter Vorrang zu. Das europäische Naturschutzrecht siehtInstrumente vor, um Naturschutz und Infrastrukturpla-nung miteinander zu verbinden. Sind Vorhaben mit er-heblichen Beeinträchtigungen verbunden, können diesebei vorliegenden zwingenden Gründen des überwiegen-den öffentlichen Interesses ausnahmsweise zugelassenwerden. Ausnahmegründe können die menschliche Ge-sundheit, die öffentliche Sicherheit und Gründe sozialerund wirtschaftlicher Art sein. Dementsprechend enthältdas Netzausbaubeschleunigungsgesetz aus dem letztenJahr in § 1 die ausdrückliche Regelung, dass die Reali-sierung der Stromleitungen, die in den Geltungsbereichdieses Gesetzes fallen, aus Gründen eines überragendenöffentlichen Interesses erforderlich ist. Diese Ausnahme-tatbestände lassen grundsätzlich einen Ausgleich der Be-lange der biologischen Vielfalt mit den Projektinteressenzu.Die praktische Anwendung der umweltrechtlichenRegelungen führte in der Vergangenheit jedoch mitunterzu Verzögerungen bei notwendigen Netzausbauvorha-ben, insbesondere wenn naturschutzrechtliche Aspektenicht rechtzeitig im Verfahren berücksichtigt wurden.Wir setzen uns dafür ein, dass in der praktischen Anwen-dung die Möglichkeiten der Natura-2000-Richtlinie zurLösung von Interessenkonflikten zwischen Netzausbauund Naturschutz effektiv und pragmatisch genutzt undausgebaut werden.
Nachfrage, Kollege Miersch?
Frau Staatssekretärin, vielen Dank für die ausführli-
che Beantwortung meiner Frage. – Ich möchte noch
eine, möglicherweise auch eine zweite Nachfrage stel-
len. Gehe ich richtig in der Annahme, dass die Bundesre-
gierung in Brüssel keine Bestrebungen unternimmt, an
die Rechtsgrundlagen, die Herr Dr. Rösler in seinem In-
terview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ge-
nannt hat, heranzugehen?
Ur
Ich habe vorhin schon sehr ausführlich erläutert, dass
wir der Auffassung sind, dass wir uns in dem geltenden
Rechtsrahmen sehr gut bewegen können. Sie wissen,
dass das Bundesamt für Naturschutz bereits bei der Erar-
beitung der Bundesnetzplanung, die gerade vorgestellt
wurde, mit im Boot gesessen hat und von Anfang an da-
bei gewesen ist, um auf Risiken im Bereich des Umwelt-
und insbesondere des Naturschutzes hinzuweisen.
Eine weitere Nachfrage, Kollege Miersch?
Eine letzte Nachfrage: Wäre es zu viel verlangt, wenn
das Bundesumweltministerium dem Bundeswirtschafts-
minister die Rechtslage erklärt, damit solche Interviews
zukünftig möglicherweise in einem sachlichen Zusam-
menhang abgefasst werden?
Ur
Das Bundeswirtschaftsministerium und das Bundes-
umweltministerium stehen, wie Sie wissen, in einem ste-
tigen guten und konstruktiven Austausch über alle Fra-
gen der Energiewende und des Netzausbaus.
Vielen Dank. Das musste ja noch einmal bestätigt
werden.
Die Fragen 9 und 10 des Kollegen Dirk Becker und
die Frage 11 des Kollegen Oliver Krischer werden
schriftlich beantwortet.
Nun rufe ich die Frage 12 der Kollegin Dr. Valerie
Wilms auf:
Wie bewertet die Bundesregierung den Nachhaltigkeits-
gipfel Rio+20, und welche Schlussfolgerungen leitet sie da-
raus für das eigene Handeln ab?
Ur
Sehr geehrte Frau Dr. Wilms, ich werde mich bemü-hen, die Zeit einzuhalten. Ich sage das, weil Sie eine sehrumfassende Frage gestellt haben, die zu abendfüllendenDiskussionen führen könnte.Aus Sicht der Bundesregierung sind in Rio durchauswichtige Weichenstellungen vorgenommen worden, auchwenn bei weitem nicht alle Zielsetzungen der EU durch-gesetzt werden konnten. Wir begrüßen, dass die Staaten-gemeinschaft in Rio erstmals anerkannt hat, dass dieGreen Economy ein wichtiges Mittel zur Erreichungnachhaltiger Entwicklung ist, und beschlossen hat, uni-versell gültige Nachhaltigkeitsziele ausarbeiten zu lassen.Bald 8 Milliarden Menschen werden nur dann ein men-schenwürdiges Leben führen können, wenn der Übergangzu einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise weltweit voran-getrieben und mit den kostbaren und endlichen Ressour-cen des Planeten wesentlich sorgsamer umgegangen wirdals bisher.Auch die Vereinten Nationen müssen für diese Heraus-forderungen wesentlich besser aufgestellt werden. DieBundesregierung begrüßt daher, dass in Rio beschlossenwurde, das Umweltprogramm der Vereinten Nationendurch die Einführung der universellen Mitgliedschaft undeine Verbesserung der Finanzierung zu stärken und auf-zuwerten und die seit einiger Zeit ineffizient arbeitende
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Nachhaltigkeitskommission der Vereinten Nationendurch ein höherrangiges UN-Nachhaltigkeitsforum zu er-setzen. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat darüber hi-naus, unseren Anregungen folgend, in Rio angekündigt,einen Special Representative for Future Generations ein-zusetzen. Damit wird diesem zentralen Politikfeld einGesicht gegeben.Es kommt jetzt darauf an, die Entscheidungen vonRio mit Leben zu füllen. Wir werden uns an der Konkre-tisierung der Beschlüsse der Rio-Konferenz maßgeblichbeteiligen. Ein Kernbereich unserer nationalen Anstren-gungen, was das Themenspektrum der Rio-Konferenzbetrifft, ist im Übrigen die Umsetzung der Beschlüssezur Energiewende.
Eine Nachfrage, Frau Kollegin Wilms?
Ja; herzlichen Dank. – Ich habe zwei Nachfragen,
Frau Staatssekretärin.
Sie haben eben sehr schön beschrieben, was auch
Herr Altmaier in Rio betont hat. Er hat ja versucht, den
deutschen Begriff „Energiewende“ in den englischen
Sprachgebrauch einzuführen.
Ur
Ja. Er sprach von der „Energy-Wende“.
Sie haben auch geschildert, wie die Situation global
ist. Ich möchte ein bisschen präziser werden. Meine ganz
harte Frage lautet: Welche konkreten Schritte unter-
nimmt die Bundesregierung, um nachhaltigkeitswidrige
Subventionen in Deutschland abzubauen? Ich denke
zum Beispiel an das Thema Dienstwagenbesteuerung.
Wann ist hier mit Vorschlägen der Bundesregierung zu
rechnen?
Ur
Das Thema Dienstwagenbesteuerung betrifft weniger
mich als vielmehr den Kollegen, der zu meiner Linken
sitzt
und der gleich sicherlich noch das eine oder andere dazu
sagen wird.
Ich nenne Ihnen im Hinblick auf das Thema Dienstwa-
genbesteuerung einen kleinen Aspekt, der aus unserer
Sicht wichtig ist: Wie Sie wissen, arbeiten wir gemeinsam
mit dem Verkehrsministerium daran, bei der Dienstwa-
genbesteuerung eine Änderung vorzunehmen, die ge-
währleistet, dass Elektrofahrzeuge einen anderen Stellen-
wert bekommen bzw. in anderem Umfang berücksichtigt
werden, als es bisher der Fall ist.
Das ist vielleicht nicht das, was Sie sich heute wünschen.
Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung, Frau
Dr. Wilms.
Ihre zweite Nachfrage. – Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Eben ging es mir um
nachhaltigkeitswidrige Subventionen. Jetzt frage ich Sie
nach dem Gegenteil: Welche konkreten Schritte unter-
nimmt die Bundesregierung im Hinblick auf nachhaltig-
keitsfördernde Maßnahmen? Was haben Sie sich hier
vorgenommen? Ich könnte mir da durchaus die eine oder
andere Maßnahme vorstellen.
Ur
Frau Dr. Wilms, entscheidend sind für uns alle Maß-
nahmen – sie stehen auch im Fokus unseres politischen
Handelns –, die dazu beitragen, die Energiewende zu be-
wältigen, und uns helfen, unsere Ziele zügig zu errei-
chen. Wie Sie wissen, haben wir uns vorgenommen, den
Anteil der erneuerbaren Energien an der gesamten
Stromversorgung bis 2050 auf 80 Prozent zu erhöhen.
Das ist unser Ziel. Hierauf richten wir unser politisches
Handeln aus. Wenn wir das schaffen, haben wir einen
großen Schritt getan, um die CO2-Emissionen zu redu-
zieren.
Eine andere Frage ist, wie wir es schaffen, strengere
CO2-Minderungsziele auf europäischer Ebene zu errei-
chen. Darüber diskutieren wir im Umweltausschuss hin-
länglich, und zwar zu Recht.
Mit diesen zwei Punkten konnte ich vielleicht deut-
lich machen, woran wir in Deutschland ganz konkret ar-
beiten, um ein Stück weit mehr Nachhaltigkeit zu schaf-
fen.
Vielen Dank.
Ich rufe die Frage 13 der Kollegin Dr. Valerie Wilms
auf:
Was unternimmt die Bundesregierung, um weltweite,
messbare Nachhaltigkeitsziele zu implementieren, und ab
wann sollten diese Ziele ihrer Meinung nach gelten?
Ur
Wir haben uns verpflichtet und gesagt, dass wir denProzess der Ausarbeitung der Nachhaltigkeitsziele aktivmitgestalten wollen. Das hat Peter Altmaier schon mehr-
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fach betont. Ziel ist, dass diese Nachhaltigkeitsziele abdem Jahr 2015 gelten.
Ihre Nachfrage, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich versuche, dazu et-
was Präziseres bei Ihnen herauszulocken: Wie wird die
Bundesregierung die kommende Generalversammlung
der Vereinten Nationen im September nutzen, um da
weiterzukommen und den Stein ins Rollen zu bringen?
Ur
Wie Sie wissen, nutzen wir alle Formen von Veran-
staltungen und Versammlungen – sei es auf europäischer
Ebene, sei es auf globaler Ebene –, um die Nachhaltig-
keitsthemen voranzubringen. Jetzt wird es in erster Linie
darum gehen, bei dem, was in Rio in den Bereichen
Energie, Wasser, Ressourceneffizienz, nachhaltige Land-
nutzung, Biodiversität und Meeresschutz vereinbart
wurde, voranzukommen, wobei wir im Laufe des Jahres
noch zwei weitere Konferenzen haben werden, nämlich
speziell zur biologischen Vielfalt und zu weiteren CO2-
Minderungen.
Weitere Nachfrage?
Ja, gerne. Herzlichen Dank. – Ich habe noch eine
Nachfrage. Schauen wir uns doch einmal die EU-Sub-
ventionspolitik an. Da gibt es so tolle Sachen wie künst-
liche Skipisten in Dänemark, auf Bornholm, und kaum
befahrene Straßen in Portugal, die durch die EU-Sub-
ventionspolitik gefördert werden. Was unternimmt die
Bundesregierung, um die EU-Subventionspolitik auf die
Nachhaltigkeitsziele auszurichten?
Ur
Zurzeit wird der EU-Haushalt neu verhandelt, wie Sie
wissen. Inwieweit das Teil der Diskussionen sein wird,
wird man in den nächsten Wochen sehen.
Ich rufe die Frage 14 der Kollegin Waltraud Wolff
auf:
Wie steht die Bundesregierung zur stofflichen Verwertung
von Klärschlamm angesichts der Tatsache, dass das Umwelt-
bundesamt in seiner Broschüre „Klärschlammentsorgung in
der Bundesrepublik Deutschland“ diese ablehnt, weil die Ge-
fahr, dass Schadstoffe in den Nahrungskreislauf gelangen,
nicht ausgeschlossen werden kann?
Ur
Liebe Kollegin Waltraud Wolff! Das Umweltbundes-
amt spricht sich in der Broschüre zur Klärschlammver-
wertung dafür aus, sukzessive auf die landwirtschaftli-
che Klärschlammverwertung zu verzichten, Verfahren
zur Rückgewinnung von Phosphaten aus Abwasser und
Klärschlamm weiterzuentwickeln und diese Verfahren
innerhalb von 20 Jahren flächendeckend einzuführen.
Unbestritten ist derzeit, dass schadstoffarme kommu-
nale Klärschlämme einen Beitrag zur Nährstoffversor-
gung landwirtschaftlicher Nutzpflanzen leisten können.
Die Bundesregierung hält die Verwertung von Klär-
schlämmen zu Düngezwecken daher für vertretbar, so-
fern diese nur gering mit Schadstoffen belastet sind. In
diesem Sinne enthält das am 29. Februar 2012 durch das
Bundeskabinett beschlossene Deutsche Ressourceneffi-
zienzprogramm unter anderem den Prüfauftrag – ich darf
zitieren –:
Die landwirtschaftliche und landbauliche Verwer-
tung unbedenklicher Klärschlämme sollte weiter
genutzt und ausgebaut werden, da Phosphat so ef-
fektiv dem Kreislauf zugeführt werden kann.
Voraussetzung für eine geringe Schadstoffbelastung
kommunaler Klärschlämme ist die Einhaltung der quali-
tativen Anforderungen der Klärschlammverordnung. Im
Zuge der in Vorbereitung befindlichen Novelle zur Klär-
schlammverordnung werden unter Vorsorgeaspekten die
Anforderungen an die landwirtschaftliche Klärschlamm-
verwertung nochmals verschärft.
Nachfrage, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Staatssekretärin,
das Umweltbundesamt hat Bedenken geäußert, dass hier
Schadstoffe in die Nahrungsmittel gelangen können. Sie
und ich wissen, dass in der Landwirtschaft immer wieder
darum gerungen wird, dass Klärschlämme zur Düngung
auf die Felder ausgebracht werden. Deshalb meine
Nachfrage: Wer kontrolliert die Klärschlämme? Und wie
lautet die Definition von „unbedenklichen Klärschläm-
men“?
Ur
Frau Kollegin, Sie haben völlig recht, wir diskutieren
schon seit geraumer Zeit über dieses Thema. Unsere De-
finition der unbedenklichen Klärschlämme habe ich Ih-
nen gerade mitgeteilt. Derzeit bereiten wir eine Novelle
der Klärschlammverordnung vor, die in Kürze in die Ab-
stimmungsprozesse gehen soll. Da wird es eine Reihe
weiterer Präzisierungen geben.
Bitte schön.
Metadaten/Kopzeile:
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(C)
(B)
Ich habe noch eine zweite Nachfrage. Wenn wir da-
von ausgehen müssen, dass es zu möglichen Schadstof-
fen in Lebensmitteln kommt, dann stellt sich natürlich
die Frage: Wie wollen Sie in der Zeit, bis Ihre Novelle
greift – Sie haben vorhin von einem Zeitraum von
20 Jahren gesprochen, bis so etwas umgesetzt werden
kann –, garantieren, dass keine solche Schadstoffe in Le-
bensmitteln sind? Denn die Bundesregierung hat sich ja
Lebensmittelqualität in höchster Form auf die Fahnen
geschrieben.
Ur
Ich erwarte von denjenigen, die die Klärschlämme
nutzen, auf die Felder bringen, eine Kontrolle der Klär-
schlämme, auch was den Schadstoffgehalt angeht. Die in
der Klärschlammverordnung festgelegten Schadstoff-
und Kontrollmechanismen verhindern, dass Klärschlämme
mit hohen Belastungen auf die Felder ausgebracht wer-
den.
Dann kommen wir zur Frage 15 der Kollegin
Waltraud Wolff, die sich mit der Rücknahme von Altarz-
neimitteln beschäftigt.
Welche Maßnahmen zur Rücknahme von Altarzneimitteln
wird die Bundesregierung ergreifen angesichts des vom Um-
weltbundesamt festgestellten Übergangs von Schadstoffen in
den Nahrungskreislauf, besonders durch neue Abbauprodukte
von Arzneimitteln?
Ur
Nach Auffassung der Bundesregierung sollten Altarz-
neimittel vorzugsweise über den Hausmüll und keines-
falls über die Toilette oder andere Abwasserpfade ent-
sorgt werden. Bei der Entsorgung der Altarzneimittel ist,
wie ohnehin bei der Aufbewahrung von Arznei, darauf
zu achten, dass diese nicht in die Hände Unbefugter ge-
langen.
Für die Umwelt bestehen aus Sicht der Bundesregie-
rung hinsichtlich der Entsorgung mit den Restabfällen
keine Bedenken, da Siedlungsabfälle seit dem 1. Juni
2005 nur noch nach thermischer oder mechanisch-biolo-
gischer Vorbehandlung abgelagert werden dürfen. Durch
diese Vorbehandlung werden die gegebenenfalls in Rest-
abfällen enthaltenen Reaktionspotenziale zerstört oder
inaktiviert.
Auch auf Deponien bestehen durch Ablagerung von
Medikamentenresten im Blick auf das Grundwasser
keine Gefahren. Aufwändige Deponieabdichtungssys-
teme und Sickerwassererfassung sorgen dafür, dass
Schadstoffe aufgehalten werden, sollten sich diese trotz
der Vorbehandlungsmaßnahmen noch in den abgelager-
ten Abfällen befinden.
Eine Nachfrage?
Ja, Herr Präsident, eine Nachfrage. – Frau Staats-
sekretärin, wie kontrolliert die Bundesregierung an die-
ser Stelle Deponien? Wenn nicht über eine thermische
Behandlung eine Vernichtung erfolgt, dann kann ja das
Grundwasser betroffen sein. Bezüglich der Abdichtung
von Deponien gibt es ja immer wieder Skandale. Wie
können Sie die Kontrollen gewährleisten?
Ur
Ich habe ja vorhin gesagt, dass die Schritte, wie ver-
fahren werden soll, verpflichtend sind. Wenn böser Wille
oder grobe Fahrlässigkeit vorliegt, dann muss dies natür-
lich durch spezielle Kontrollen herausgefunden werden.
Das erfolgt dann auch entsprechend. Aber es besteht na-
türlich die Verpflichtung, so zu verfahren, wie es gesetz-
lich vorgeschrieben ist.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwor-
tung der Frage 16 steht der Parlamentarische Staatsse-
kretär Thomas Rachel zur Verfügung.
Ich rufe Frage 16 der Kollegin Marianne Schieder
auf:
Welches sind die nächsten Themen, die im Rahmen des
Bürgerdialogs Zukunftstechnologien des Bundesministe-
riums für Bildung und Forschung, BMBF, bearbeitet werden
sollen, und aus welchen Gründen findet nach Ende der Dia-
loge zur Hightechmedizin und zu Energietechnologien aktuell
kein Dialog statt?
T
Herr Präsident! Frau Kollegin Schieder, ab Sommer
2011 wurden mit Bezug auf aktuelle Themen zwei Bür-
gerdialoge, dieses Mal sogar parallel, durchgeführt. Der
nächste Bürgerdialog wird im Themenfeld des kommen-
den Wissenschaftsjahres beim Thema demografischer
Wandel angesiedelt sein und im Herbst 2012 beginnen.
Im Übrigen hat das BMBF im Februar 2012 mit der Ini-
tiative „ZukunftsWerkStadt“ eine weitere, auf den Dia-
log mit Bürgerinnen und Bürgern zielende Maßnahme
gestartet.
Eine Nachfrage, Frau Schieder? – Nein.Gut, dann kommen wir zu weiteren Fragen aus die-sem Geschäftsbereich. Hier steht der ParlamentarischeStaatssekretär Dr. Helge Braun zur Beantwortung zurVerfügung. Weil Herr Brase nicht anwesend ist, werdendie Fragen 17 und 18 gemäß unserer Geschäftsordnungbehandelt.
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22260 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Wir kommen zur Frage 19 des Kollegen MichaelGerdes:Mit welchen Maßnahmen will die Bundesregierung in derAusgestaltung der gemeinsamen Förderinitiative von Bundund Ländern zur Förderung der Lehrerausbildung sicherstel-len, dass eine möglichst allen Lehramtstudierenden zugute-kommende flächendeckende Verbesserung der Ausbildung er-reicht wird?D
Herr Präsident! Lieber Herr Kollege Gerdes, zu Ihrer
Frage ist zu sagen, dass die Bundesministerin einen ho-
hen Wert auf die hervorragende Ausbildung von Lehrern
legt und deshalb in der Kultusministerkonferenz – die
wesentliche Verantwortung für die Ausbildung von Leh-
rern und für die Schulbildung liegt bei den Ländern –
eine solche Initiative vorgeschlagen hat.
Die Länder waren von dieser Initiative begeistert. Wir
haben jetzt einen Prozess organisiert, in dessen Rahmen
die Kultusministerkonferenz am 8. März ein Eckpunkte-
papier beschlossen hat, wie eine solche Initiative grob
aussehen könnte. Auf der Grundlage dieses Eckpunkte-
papiers ist jetzt eine Staatssekretärsarbeitsgruppe einge-
richtet worden, die der GWK bis zum November 2012
den Entwurf einer Bund-Länder-Vereinbarung nach
Art. 91 b Grundgesetz vorlegen soll. Da diese Staatsse-
kretärsarbeitsgruppe noch kein Ergebnis vorgelegt hat,
kann man über die Details, die alle noch in der Verhand-
lung sind, momentan wenig sagen.
Eine Nachfrage, bitte.
Ich gehe also recht in der Annahme: Die Verantwor-
tung ist jetzt auf die Länder übertragen worden. Meine
Frage ist jetzt: Welche Rolle spielt der Bund noch? Sie
haben gerade gesagt, dass noch keine konkreten Ergeb-
nisse der Arbeitsgruppe vorliegen. Werden Sie uns da-
rüber zeitnah unterrichten?
D
Immer wenn wir neue Erkenntnisse haben, werde ich
Sie gerne darüber unterrichten, weil uns am Herzen liegt,
dass diese Initiative breit getragen wird. Sie haben die
Anhörung im Deutschen Bundestag zu diesem Thema
gehört und dabei gemerkt, dass alle, die in Deutschland
mit der Lehrerausbildung zu tun haben, diese von uns
gestartete Qualitätsoffensive befürworten und sagen:
Das darf jetzt nicht scheitern. – Der Bund arbeitet in die-
ser Staatssekretärsarbeitsgruppe mit den Ländern ge-
meinsam.
Im Hinblick auf Ihre Frage, wie wir für eine flächen-
deckende Verteilung sorgen wollen, haben in der Anhö-
rung alle sehr deutlich gesagt: Hier muss ein wettbe-
werbliches Verfahren zum Tragen kommen. Das heißt,
es wird am Ende nichts nützen, wenn wir flächende-
ckend wie mit einer Gießkanne alle 120 Standorte bedie-
nen, ohne dass profilierte Konzepte vorliegen. Das Glei-
che gilt, wenn wir nicht alle fördern, sondern nur einen
kleinen Teil. Ich glaube, es sind sich alle einig, dass wir
einen erheblichen Anteil der Fachbereiche an Pädagogi-
schen Hochschulen und Universitäten fördern wollen. Es
wird eine Ausstrahlungswirkung dahin gehend geben,
dass wir mit diesen Best-Practice-Beispielen in der Lage
sind, die Qualität der Lehrerbildung in Deutschland ins-
gesamt zu verbessern.
Weitere Nachfrage? – Nein. Dann kommen wir zur
nächsten Frage des Kollegen Gerdes. Die Fragen 17 und
18 des Kollegen Brase, der zwischenzeitlich in den Saal
gekommen ist, rufe ich anschließend auf.
Ich rufe Frage 20 des Kollegen Michael Gerdes auf:
An welcher Stelle hat die Bundesregierung in welcher
Höhe im Bundeshaushalt und in der mittelfristigen Finanzpla-
nung bisher Vorsorge getroffen, um die geplante gemeinsame
Förderinitiative von Bund und Ländern zur Förderung der
Lehrerausbildung auszufinanzieren?
D
Lieber Herr Kollege, wir haben darüber gesprochen,
welche Größenordnung für eine solche Initiative unge-
fähr sinnvoll sein könnte. Wir haben aber hinsichtlich
der Finanzierung weder über die Bund-Länder-Vertei-
lung noch abschließend über die Anzahl der beteiligten
Hochschulen und die damit zusammenhängenden Sum-
men gesprochen, sodass dieses Thema derzeit nicht etat-
reif ist. Sobald über die Finanzverteilung zwischen Bund
und Ländern ein Einvernehmen gefunden worden ist,
werden wir die Finanzierung für den Bundeshaushalt an-
melden.
Nachfrage? – Nein, keine. Herr Staatssekretär, wenn
Sie nichts dagegen haben, rufe ich jetzt die Fragen des
Kollegen Brase auf.
D
Gerne.
Wir kommen jetzt zunächst zur Frage 17 des Kolle-
gen Willi Brase:
Welche konzeptionellen Ziele verfolgt die Bundesregie-
rung in den Gesprächen mit den Ländern in der Gemeinsamen
Wissenschaftskonferenz über eine gemeinsame Förderinitia-
tive zur Förderung der Lehrerausbildung auch im Hinblick auf
die Verstärkung der Praxisorientierung, der Eignung der Stu-
dienbewerberinnen und -bewerber, der Berücksichtigung der
Anforderungen einer inklusiven Bildung sowie der entspre-
chenden Beschlüsse der Kultusministerkonferenz vom
8. März 2012?
D
Ich verweise an dieser Stelle auch auf das, was icheben gesagt habe, nämlich dass eine Staatssekretärsar-beitsgruppe im Einvernehmen mit den Ländern jetzt das
Metadaten/Kopzeile:
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Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
(C)
(B)
Thema erarbeiten soll. Insofern stehen alle Überlegun-gen unter Vorbehalt.Aber schon der Eckwertebeschluss der KMK siehtvor, dass wir zum einen eine stärkere Einbindung derLehrerbildung in die Universitäten erreichen wollen. Wirsind uns darüber einig, dass nicht nur gezielt entspre-chende Fachbereiche, sondern Universitäten mit einemGesamtkonzept gefördert werden sollen, wodurch wireine verbesserte Verzahnung mit den Fachdidaktiken er-reichen wollen.Ziel der Initiative soll zum anderen sein, dass wir Pro-bleme lösen, die im länderübergreifenden Bereich lie-gen, und zwar durch die verbesserte wechselseitigeAnerkennung der Lehrerausbildung und die Vereinheitli-chung von Prinzipien und Curricula.
Nachfrage, Kollege Brase.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. Ich bin leider etwas
zu spät gekommen. – Herr Staatssekretär, ist mit diesem
Vorhaben auch ein flächendeckender Ansatz verbunden,
sodass es nicht nur in Form von Einzelprojekten für ein-
zelne Bundesländer erfolgt, sondern dass letztlich alle
16 Bundesländer etwas von der notwendigen Verbesse-
rung der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer haben?
D
Lieber Herr Kollege Brase, am Ende wird das Kon-
zept von der Arbeitsgruppe erarbeitet. Dem will ich
nicht vorgreifen, aber Ihre Sorge vielleicht schon dahin
gehend zerstreuen, dass wir uns heute schon relativ einig
darüber sind, dass dies eine große Initiative werden soll,
die in der Breite wirkt. Es geht also nicht nur darum,
drei, vier oder acht Standorte zu fördern. Dabei war viel-
leicht die anfängliche Bezeichnung Exzellenzinitiative,
die den Gedanken nahelegt, dass es sich vielleicht um
wenige Leuchttürme handelt, etwas irreführend.
Der Ansatz verfolgt vielmehr das Ziel, in der Breite
etwas für die Lehrerbildung in Deutschland zu erreichen.
Deshalb gehe ich davon aus, dass am Ende ein Drittel
der Hochschulen oder mehr – wir haben insgesamt
120 pädagogische Hochschulen oder Fachbereiche in
Deutschland – von einem solchen Programm profitiert
und dass wir damit auch eine gute Flächendeckung in
Deutschland erreichen können.
Weitere Nachfrage, Herr Brase? – Das ist nicht der
Fall.
Dann kommen wir zu Frage 18:
Durch welches Auswahlverfahren sollen nach der Vorstel-
lung der Bundesregierung die Projekte bestimmt werden, die
durch die geplante gemeinsame Förderinitiative von Bund
und Ländern zur Förderung der Lehrerausbildung gefördert
werden sollen?
D
Auch darüber ist noch nicht befunden. Aber die Bun-
desregierung hat große Sympathie für das, was auch in
der Anhörung gefordert worden ist, nämlich dass eine
Expertenjury sich mit den Anträgen befasst, die von den
einzelnen Hochschulen erarbeitet werden, sodass wir
den Bottom-up-Ansatz haben, dass Hochschulen mit
konkreten Plänen und Initiativen für sich die Exzellenz
in der Lehrerbildung definieren und dann durch eine
fachliche Bewertung daraus die entsprechende Anzahl
erarbeitet wird.
Nachfrage, Herr Brase? – Nein. Vielen Dank, Herr
Staatssekretär.
Die Fragen 21 und 22 des Kollegen Swen Schulz, die
Frage 23 des Kollegen Oliver Kaczmarek, die Frage 24
des Kollegen Kai Gehring, die Fragen 25 und 26 des
Kollegen René Röspel und die Frage 27 des Kollegen
Klaus Hagemann sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Hier steht uns wiederum die Parlamentari-
sche Staatssekretärin Gudrun Kopp zur Beantwortung
zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 28 des Kollegen Dr. Sascha Raabe
auf, die sich wiederum mit dem schon viel zitierten Tep-
pich befasst:
Wie ist der Name des Teppichherstellers und wie der des
Händlers, bei dem Bundesminister Dirk Niebel den Teppich in
der deutschen Botschaft in Kabul erworben hat, und kann er
auch ohne offensichtlich nicht vorhandene Zertifikate und
Siegel definitiv ausschließen, dass der Teppich mit Kinder-
arbeit oder unter Verletzung internationaler Standards wie den
Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation,
ILO, hergestellt wurde?
Gu
Herr Präsident, herzlichen Dank. – Sehr geehrter HerrKollege Raabe, Sie sind im letzten Moment hereinge-huscht und nicht auf dem Teppich angeflogen gekom-men.Ich antworte Ihnen auf Ihre Frage, dass es sich beidiesem Kaufvorgang um einen ausschließlich privatenKauf des Bundesministers Dirk Niebel handelt. DieBundesregierung kann – das werden Sie sicherlich ver-stehen – keinen zwingenden parlamentarischen Aus-kunftsanspruch im Zusammenhang mit Ihrer Frage nachden beiden Namen erkennen. Im Übrigen verweise ichdarauf, dass es hier um den Schutz der Persönlichkeitund möglicherweise auch um Sicherheitsaspekte geht.Auf den zweiten Teil Ihrer Frage antworte ich, dasssich Bundesminister Dirk Niebel von der deutschen Bot-schaft in Kabul einen als vertrauenswürdig und zuverläs-sig bekannten Händler hat empfehlen lassen. Bundes-minister Niebel und der Bundesregierung insgesamt
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22262 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
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liegen keine Hinweise auf eine Verletzung von Sozial-und Umweltstandards oder von ILO-Arbeitsnormen vor.
Ihre erste Nachfrage, Kollege Raabe.
Frau Staatssekretärin, Ihre Eingangsbemerkung haben
Sie schon fast dadurch widerlegt, dass Sie in Ihrer Ant-
wort auf den zweiten Teil meiner Frage gesagt haben,
dass der Teppich in der Botschaft ausgewählt wurde. Sie
sagten zuerst, es habe sich um einen privaten Kauf ge-
handelt. Wenn ich im Ausland einkaufe, dann gehe ich
normalerweise nicht zur deutschen Botschaft, lasse mir
dorthin 38 oder 40 Teppiche – ich glaube, um so viele
hat es sich gehandelt – bringen und auslegen und dann
den gekauften Teppich mit dem Bundesnachsendedienst
auf Staatskosten und mit einem Staatsflugzeug bringen.
Ich glaube, dass es sich um einen halboffiziellen Vor-
gang handelt hat, wenn ein Entwicklungsminister in ei-
ner deutschen Botschaft einen Teppich erwirbt und ihn
dann auf Staatskosten transportieren lässt.
Ich komme nun zu einer Nachfrage betreffend die
Kinderarbeit, die Sie bereits versucht haben zu beant-
worten. Es ist schon etwas anderes, ob eine Privatperson
oder der Entwicklungsminister, der auch für Entwick-
lungsprojekte zuständig ist, zum Beispiel für die Zertifi-
zierung von Teppichen, dort einen Teppich kauft. Es gibt
das GoodWeave-Siegel – als Nachfolgesiegel des Rug-
mark-Siegels –, das mit Mitteln der deutschen Entwick-
lungszusammenarbeit gefördert wird. Es gibt in Afgha-
nistan einen großen Händler, der zertifiziert arbeitet. Ich
glaube, es wäre angebracht gewesen, wenn der Entwick-
lungsminister einen fair gehandelten und anständig her-
gestellten Teppich bei einem entsprechenden Händler
oder Hersteller gekauft hätte. Ich hätte mir gewünscht,
dass sich der Minister nicht auf die Worte irgendeines
Botschaftsmitarbeiters verlassen hätte, sondern auf ein
Zertifikat. Vor dem Hintergrund, dass wir solche Zertifi-
kate fördern wollen, gibt der Minister den Bürgerinnen
und Bürgern ein schlechtes Vorbild, wenn er einkauft,
wie er gerade lustig ist, ohne daran zu denken, dass der
Teppich vielleicht unter ganz brutalen Arbeitsbedingun-
gen hergestellt wurde. Kinderarbeit ist leider sehr oft un-
trennbar mit der Herstellung von Teppichen verbunden.
Kommen Sie bitte zu Ihrer Frage.
Denn je kleiner die Knoten sind, desto besser können
es Kinder machen. Deswegen frage ich Sie noch einmal,
warum der Minister nicht bei dem besagten zertifizierten
Händler in Afghanistan eingekauft hat. Er müsste als
Entwicklungsminister doch wissen, dass es dort jeman-
den gibt, den wir unterstützen.
Gu
Herr Kollege Raabe, es ist so, dass der Minister, wenn
er unterwegs ist, auch einmal eine Besorgung machen
können muss. Den privaten Kauf eines Teppichs würde
man keinem Minister nach Abschluss seiner offiziellen
Reise verwehren wollen. Aber es ist einem Minister
nicht ohne Weiteres möglich, erst recht nicht in Afgha-
nistan – wer vor Ort gewesen ist, weiß das –, einfach ir-
gendwo einzukaufen. Das verbietet die Sicherheitslage.
Deshalb ist der Minister diesen ungewöhnlichen Weg
gegangen. Darüber haben wir, glaube ich, schon hinrei-
chend diskutiert.
Die Bundesregierung weiß gar nicht, ob der Teppich
ein Siegel trägt oder nicht. Insofern führen wir hier eine
hypothetische Debatte. Es ist aber davon auszugehen,
dass sowohl beim Minister als auch in der deutschen
Botschaft ausreichend Sensibilität vorhanden ist, wenn
es um die Frage geht, was oder wen man empfehlen
kann.
Gehen Sie bitte davon aus, dass der Minister alles ver-
sucht hat, die erwähnten Standards anzulegen und nach
diesen Kriterien einzukaufen. Ich finde, aus Sicht der
Bundesregierung sollte es damit gut sein.
Eine weitere Nachfrage. Aber bitte keinen Kommen-
tar, sondern eine Frage.
Kein Kommentar. – Ich habe nur die Bitte, dass Sie
den Minister fragen und mir die Antwort schriftlich ge-
ben; denn Sie sagten, die Bundesregierung wisse nicht,
ob der Teppich ein Siegel getragen habe.
Wir kommen zur Frage 29 des Kollegen Raabe:
Kann Bundesminister Dirk Niebel definitiv ausschließen,
dass es sich bei dem von ihm in Kabul gekauften Teppich um
afghanisches Kulturgut handelte, das nicht oder nur mit ge-
sonderter Genehmigung hätte ausgeführt werden dürfen, und
bleibt er angesichts der gegenteiligen Darstellungen des Bun-
desnachrichtendienstes, BND, bei seiner Aussage, es habe vor
dem Transport keine Festlegungen zwischen dem BND und
dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, BMZ, dahin gehend gegeben, dass alle For-
malitäten der Einfuhr des Teppichs unmittelbar durch das
BMZ zu regeln seien?
Gu
Ich antworte Ihnen auf Teil eins Ihrer Frage, dassnach den der Bundesregierung vorliegenden Erkenntnis-sen ausgeschlossen werden kann, dass es sich bei demTeppich um afghanisches Kulturgut handelte. Deshalbmusste dieser auch nicht mit einer gesonderten Geneh-migung ausgeführt werden. Was Teil zwei Ihrer Fragebetrifft: Der Bundesregierung liegen keine neuen Aussa-gen des Bundesministers vor.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22263
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Nachfrage?
Der zweite Teil meiner Frage bezieht sich sehr stark
darauf, wer für die Formalitäten bei der Einfuhr zustän-
dig war. Das hat vor dem Hintergrund Bedeutung, dass
wir heute lesen konnten, dass die Staatsanwaltschaft
kein Strafverfahren einleiten möchte. Der Kollege
Döring hat neulich in der Aktuellen Stunde hier gesagt,
dass sich streng genommen nicht Minister Niebel der
Steuerhinterziehung strafbar gemacht habe, sondern der
Präsident des Bundesnachrichtendienstes, weil er den
Teppich transportiert habe. Ich fand es sehr dreist, dass
man das ausgerechnet dem armen Herr Schindler in die
Schuhe schieben möchte. Deshalb ist die Frage zu den
Absprachen schon wichtig.
Sie sagten, es gebe keine neuen Erkenntnisse. Wir
hatten letzten Freitag eine Gremiensitzung, in der Herr
Schindler anwesend war, Herr Minister Niebel aber
nicht. Jetzt ist er aus Brasilien zurück. Vielleicht hatten
Sie Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Wer war denn
nach Ansicht des Ministers für die Entrichtung der Ein-
fuhrumsatzsteuer zuständig, Herr Schindler oder er? Wer
war für die Zollformalitäten zuständig? Welche Abspra-
chen gab es?
Gu
Herr Kollege Raabe, ich bin ständig in sehr intensi-
vem Austausch mit dem Minister. Bei der Frage, die Sie
eben angesprochen haben, muss man zwischen der juris-
tischen und der alltäglichen Auslegung unterscheiden.
Was die alltägliche Auslegung betrifft, also wer die Ein-
fuhrumsatzsteuer bezahlen muss und wie es mit der Ver-
zollung aussieht, hat der Minister ganz klar gesagt, dass
er es versäumt habe, diese Dinge in die Wege zu leiten.
Dafür hat er sich während der Aktuellen Stunde hier im
Deutschen Bundestag in aller Form entschuldigt. Ich
glaube, dass an der Stelle Klarheit geschaffen worden
ist.
Noch einmal: Dazu, dass es Absprachen über den
Transport zwischen Herrn Schindler und dem Minister
Niebel gegeben haben soll, sagt der Minister nach wie
vor, es habe keinerlei Kontaktaufnahme mit ihm im Vor-
feld gegeben. Sie wissen, dass das geheim tagende Parla-
mentarische Kontrollgremium am vergangenen Freitag
diese Fragen mit Herrn Schindler erörtert hat. Ich nehme
an, dass dies zur Zufriedenheit erörtert werden konnte
und alle Fragen beantwortet wurden. Mir jedenfalls ist
nichts anderes bekannt. Das zeigen auch die Pressever-
lautbarungen, die danach erfolgt sind.
Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat in der Tat heute
mitgeteilt, dass sie nach einer einwöchigen Prüfung von
Ermittlungen absieht. Sie hat mitgeteilt – ich zitiere das
ausdrücklich, um nicht neue Verwirrungen zu stiften –:
Die Vorprüfungen haben keine ausreichenden tatsächli-
chen Anhaltspunkte für das Vorliegen einer verfolgbaren
Straftat ergeben. § 152 Abs. 2 Strafprozessordnung. –
Ich finde, das ist auch eine wichtige Klarstellung. Im
Übrigen hat der Minister ganz klar gesagt, dass er nie-
mandem irgendeine Schuld zuschiebt. Er hat gesagt, wie
er die Dinge sieht, und dem ist nichts hinzuzufügen.
Gibt es eine weitere Nachfrage?
Ja, es stimmt. Das war Herr Döring, der das getan hat,
und nicht der Minister. – Meine Nachfrage bezieht sich
auf den zitierten Einstellungsbescheid. Der Minister
hatte hier damals im Parlament gesagt, dass er die Steuer
nachträglich entrichten möchte. Es hört sich jetzt in dem
Zitat der Staatsanwaltschaft so ein bisschen an, als hätte
er das nicht nachträglich zu machen. Ich gehe aber da-
von aus, Frau Staatssekretärin, dass er das noch nach-
träglich versteuern muss.
Die Staatsanwaltschaft sagt, das sei kein Straftatbe-
stand. Gedenkt die Bundesregierung für den Fall, dass
Normalbürger, die bis zu einer gewissen Bagatellgrenze
– das könnten ungefähr 1 000 Euro sein – Steuern hinter-
ziehen, ein Gesetz zu erlassen, nach dem das kein
Straftatbestand ist? Werden aus dem, was die Staatsan-
waltschaft sagt, Konsequenzen gezogen?
Gu
Sie sprechen von einer Straftat, die ich nicht erkennen
kann, Herr Kollege Raabe. Wir befinden uns jetzt, finde
ich, juristisch auf einem Feld, auf dem ich Sie bitte, in
aller Vorsicht zu sprechen.
Ich will noch einmal ausdrücklich betonen, dass der
Minister erklärt hat, dass er allem nachkommt, was nötig
ist. Meines Wissens hat er alle notwendigen Formalitä-
ten eingeleitet bzw. erledigt, soweit es schon erledigt
sein kann. Ich glaube, wir müssen uns da keine Sorgen
machen. Die Bundesregierung hat meines Wissens kei-
nerlei Gesetz in Vorbereitung, um irgendwelche Fälle
abzuwenden. Ich glaube, dazu besteht kein Anlass.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Ich rufe die Fra-gen 30 bis 32 – dabei handelt es sich um zwei Fragen derKollegin Karin Roth von der SPD sowie umeine Frage der Kollegin Dr. Bärbel Kofler von der SPD –auf. Sie sollen schriftlich beantwortet werden.Die Fragen 33 und 34 des Kollegen Bollmann, die ausdem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirt-schaft und Technologie kommen, werden gemäß der Ge-schäftsordnung behandelt, da der Kollege nicht anwe-send ist.Die Fragen 35 und 36 des Kollegen Frank Schwabesollen wiederum schriftlich beantwortet werden.Wir kommen dann zur Frage 37 des AbgeordnetenDr. Matthias Miersch, der anwesend ist:Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorstoß von Bun-deswirtschaftsminister Dr. Philipp Rösler, den Rechtsweg
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22264 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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2012)?Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staats-sekretär Ernst Burgbacher zur Verfügung. Es geht umdie Verkürzung des Rechtsweges zur Beschleunigungbeim Stromleitungsbau. – Bitte schön, Herr Staatssekre-tär.E
Vielen Dank, Herr Präsident. – Verehrter Herr Kol-
lege Dr. Miersch, die Bundesregierung hat bereits in
dem Regierungsentwurf zum Gesetz zur Neuregelung
energiewirtschaftlicher Vorschriften vom 26. Juli 2011
im Zusammenhang mit der Einführung des Verfahrens
zur Annahme des Bundesbedarfsplans gemäß § 12 e
Energiewirtschaftsgesetz in der diesbezüglichen Begrün-
dung auf die Möglichkeit einer erst- und letztinstanz-
lichen Rechtswegzuweisung für konkrete Höchstspan-
nungsleitungen an das Bundesverwaltungsgericht
hingewiesen.
Die Rechtswegverkürzung ist eine wesentliche Mög-
lichkeit, die Genehmigungsverfahren für Netzausbau-
projekte zu beschleunigen. Eine vergleichbare Regelung
besteht bereits gemäß § 1 Abs. 3 des Gesetzes zum Aus-
bau von Energieleitungen, dem EnLAG, für die dort ge-
regelten Prioritätenvorhaben. Das ist insofern nichts
Neues, sondern die konsequente Fortsetzung des bisheri-
gen Verfahrens.
Eine Nachfrage, Herr Miersch?
Vielen Dank. – Plant die Bundesregierung, dann auch
in dieser Form entsprechende Kapazitäten beim Bundes-
verwaltungsgericht vorzusehen?
E
Herr Kollege Miersch, dafür gibt es bisher keine An-
haltspunkte. Wir befinden uns – das wissen Sie – in ei-
nem schwierigen Prozess, was den Netzausbau betrifft.
Wir müssen jetzt jegliche Vorsorge treffen, und wir wol-
len das, von dem ich gerade sprach, jetzt umsetzen. Wir
gehen nicht davon aus, dass da größere Kapazitäten not-
wendig sind.
Eine weitere Nachfrage? – Bitte.
Sie wissen, wie teilweise vor Ort debattiert wird und
dass die Fragen der Transparenz, aber auch der mögli-
chen Überprüfbarkeit für viele Bürgerinnen und Bürger
sicherlich ein ganz wichtiges Signal des Vertrauens sein
können. Können Sie sich vorstellen, dass diese Ankündi-
gung des Bundeswirtschaftsministers eher das Gegenteil
– nämlich Misstrauen – bei den betroffenen Bevölke-
rungsgruppen hervorrufen wird?
E
Nein, das glaube ich überhaupt nicht; denn wir wer-
den das Bürgerbeteiligungsverfahren stärken. Das ist
völlig klar; das haben wir auch in allen Gesprächen ge-
sagt. Wir wollen die Bürger nicht ausschließen.
Aber, Herr Kollege Dr. Miersch, wir brauchen eine
Beschleunigung des Prozesses; denn der Netzausbau ist
unabdingbare Voraussetzung dafür, dass wir eines der
drei ganz zentralen Ziele, nämlich Energiesicherheit, er-
reichen können. Das sind wir den Bürgerinnen und Bür-
gern dieser Republik schuldig.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Hinsichtlich der
restlichen Fragen wird verfahren, wie in der Geschäfts-
ordnung vorgesehen, soweit die Fragesteller nicht anwe-
send sind.1)
Ich beende damit die Fragestunde.
Ich unterbreche die Sitzung. Sie wird um 17.05 Uhr
zur Abhandlung der Aktuellen Stunde wiedereröffnet.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Wie vereinbart – es ist 17.05 Uhr –, rufe ich jetzt den
Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Forderung von SPD und Grünen zu Tempo 30
in Städten
Erster Redner in der Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Gero Storjohann.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der Straßenverkehrs-Ordnung sollte Tempo 30als neue zulässige Höchstgeschwindigkeit in Städ-ten festgeschrieben werden.So Sören Bartol, der verkehrspolitische Sprecher derSPD, gegenüber der Welt am Sonntag. Seine Fraktions-kollegin Kirstin Lühmann glaubt – so die Welt am Sonn-tag im Artikel weiter –,1) Das gilt für die Fragen 46, 79, 82, 83 und 88 bis 94.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22265
Gero Storjohann
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dass Tempo 30 für gleichmäßig fließenden Verkehrsorge, „der im Übrigen Aggressionen mindert undAufmerksamkeit steigert“.
Der Abgeordnete Hofreiter von den Grünen hat demgleich seinen Stempel aufgedrückt und das als „moderneVerkehrspolitik“ bezeichnet.
Das war der Stand am Sonntag letzter Woche: DieSPD will Tempo 30 als innerörtliche Regelgeschwindig-keit. Doch scheinbar hatten die Verkehrspolitiker ihreIdeen nicht mit der Fraktionsführung abgestimmt; dennFraktionschef Gabriel brauchte nur zwei Tage, um aufTwitter festzustellen:… solche Fragen sollten Bundespolitiker lieber denKommunalpolitikern überlassen. Die können dasbesser beurteilen.
Gabriel hat weiter ausgeführt, er sei „viele Jahre Kom-munalpolitiker“ gewesen, und deshalb sei er „sicher,dass so etwas vor Ort besser entschieden werden kannals zentral von Berlin aus.“ – Ich verstehe gar nicht, wa-rum er unbedingt Bundespolitiker werden wollte.
War das nun eine Zurechtweisung oder eine Zustim-mung von Herrn Gabriel?
– Der Kollege Hacker hat es gerade erkannt: Es ist ehereine Zustimmung.Auch Fraktionschef Steinmeier meldete sich zu Wort.Er sagte gegenüber bild.de:Es bleibt dabei, Tempo 30 kommt nur da, wo es dieBürgerinnen und Bürger vor Ort für richtig halten.
Die SPD will kein generelles Tempo 30.
Jetzt haben wir noch den Verkehrsminister aus demSaarland. Heiko Maas führte aus:Ein generelles Tempolimit innerorts auf 30 kannkeine Antwort sein, ein solcher Vorschlag findetnicht meine Unterstützung … Deshalb kann ich mirnicht vorstellen, dass ein solcher Vorschlag amEnde im SPD-Wahlprogramm stehen wird.Tja, liebe SPD, was gilt nun? Das sollten Sie unsschon einmal genauer erklären. Deswegen findet heuteauch die Aktuelle Stunde statt. Können sich Bürgerwirklich darauf verlassen, dass eine Stimme für die SPDbei der nächsten Wahl gleichzeitig eine Stimme fürSchneckentempo und Staugefahr ist?
Die Haltung der CDU/CSU ist hier verhältnismäßigklar. Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer, heuteauch bei dieser Debatte dabei – wunderbar! –, hat gleichgesagt, mit ihm sei Tempo 30 als innerörtliche Regel-geschwindigkeit nicht zu machen. Da hat er die volleUnterstützung der Koalition, insbesondere der CDU/CSU.
Rot und Grün wollen also den Bürgerinnen und Bür-gern das Autofahren verleiden; wir wollen eher Mobili-tät ermöglichen und nicht behindern.
Gerade die Arbeitnehmer haben einen Anspruch darauf,dass sie ihren Arbeitsplatz in kurzer Zeit erreichen undnicht behindert werden.
– Dann sind wir uns ja einmal einig; dann können Siedas nachher alles klarstellen.Dort, wo es sinnvoll ist, gibt es bereits Tempo-30-Zonen, aus besonders gutem Grund vor Schulen undKindergärten und in reinen Wohnquartieren. Das istStand der Technik und allgemein anerkannt. Die CDU/CSU spricht sich aber für eine erhöhte Kontrolldichteaus, gerade im innerörtlichen Bereich, wo die Unfällepassieren. Wenn einige wenige die Geschwindigkeits-regeln nicht einhalten, müssen wir das Entsprechendetun, um sie zu fassen. Die Kollegen von Rot und Grünwissen ganz genau, dass Verkehrsregeln von Bürgerin-nen und Bürgern dann besonders befolgt werden, wennsie nachvollziehbar sind. Wenn diese Regeln nicht nach-vollziehbar sind, dann werden sie eher übertreten; unddann sind die gefährdet, die glauben, dass sich die ande-ren Verkehrsteilnehmer an die Regeln halten.
Für die willkürliche Verlangsamung des Innenstadtver-kehrs und für Schneckentempo auf dem Weg zur Arbeitgibt es kein Verständnis in der Bevölkerung.
Sollte die SPD bei ihrer Idee, die Verpflichtung auf30 km/h in allen Städten und Gemeinden in ihr Wahlpro-gramm zu schreiben, bleiben, dann – da bin ich mirziemlich sicher – wird es ein eindeutiges Votum derWähler in Deutschland geben.
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22266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
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Vielen Dank, Kollege Gero Storjohann. – Nächster
Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist der
bereits erwähnte Kollege Sören Bartol. Bitte schön,
Kollege Sören Bartol.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir von der SPD wollen eine sachliche Dis-kussion darüber führen, wie wir Verkehrssicherheit erhö-hen und wie wir unsere Straßen in den Innenstädten si-cherer für Fußgänger, Radfahrer und auch für Autofahrerselber machen. Leider geht dieses Anliegen schon zuBeginn der Debatte in der Aufregung komplett unter, dievon Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von derUnion und der FDP, auch durch bewusste Missverständ-nisse noch geschürt wird.
Wir haben uns eingehend mit dem Thema Verkehrs-sicherheit beschäftigt, haben mit Experten der Unfallver-sicherer, der Deutschen Verkehrswacht und des Deut-schen Verkehrssicherheitsrates gesprochen. Ein Ergebnisdieser Gespräche war es, den Vorschlag zu prüfen – ichbetone noch einmal, damit auch Sie es verstehen: zu prü-fen –,
ob auf dem nachgeordneten Straßennetz in geschlosse-nen Ortschaften die zulässige Höchstgeschwindigkeitauf Tempo 30 gesenkt werden sollte. Bei dieser Prüfungkann es sinnvollerweise nur um das nachgeordnete Stra-ßennetz gehen, nicht um die Hauptverkehrsstraßen.Außerdem haben wir uns sehr intensiv mit den Vor-schlägen des Wissenschaftlichen Beirates des Bundes-verkehrsministeriums auseinandergesetzt, einem Gre-mium, das von Bundesminister Peter Ramsauereingesetzt wurde und damit eigentlich unverdächtig ist,ein Think Tank der SPD zu sein.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe bisher vonIhnen – auch von Ihnen, Kollege Storjohann – kein ein-ziges vorurteilsfreies Argument gehört. Sie verweigernsich doch alle einer sachlichen Diskussion.
Sie schüren lediglich die Emotionen der Menschen, diedas Auto für das tägliche Leben, für den täglichen Be-darf brauchen.Nehmen Sie bitte einmal folgende Fakten zur Kennt-nis:Erstens. In den allermeisten Städten und Gemeindenist Tempo 30 auf vielen Straßen längst Realität. In Mün-chen gilt auf 80 Prozent der Straßen Tempo 30.
In Nürnberg gab es im Rahmen der Kampagne „Nürn-berg steigt auf“ die Debatte um Tempo 30. In Bremenbetrifft es 70 Prozent aller Straßen. Der Aufwand für dieBeschilderung ist immens, den Flickenteppich vonTempo-30-Zonen versteht niemand mehr.Zweitens. Tausende Eltern von kleinen Kindern, äl-tere Menschen, aber auch Menschen mit Behinderungenfordern in den Gemeinden eine Begrenzung der Ge-schwindigkeit für Autos: vor Schulen, vor Kindergärten,vor Altenheimen. Gemeindevertreter aller Parteien – ichbetone: aller Parteien – wollen vor Ort das Tempo desVerkehrs verringern, um am Ende Menschenleben zuschützen.
Drittens. Zum ersten Mal seit 20 Jahren ist die Zahlder Verkehrstoten im vergangenen Jahr wieder gestie-gen. Auf unseren Straßen in Deutschland kamen 4 002Menschen ums Leben. Das können wir doch in diesemHaus nicht ignorieren. Ich finde: Jeder Tote ist an dieserStelle ein Toter zu viel. Das muss man einmal so deutlichsagen.
Viertens. Der Bremsweg eines Autos mit 30 km/h istungefähr um die Hälfte kürzer als der Bremsweg einesAutos mit 50 km/h. Prallt ein Fahrzeug mit 50 km/h ge-gen einen Kinderwagen, dann ist das Kind tot, obwohlder Fahrer es vielleicht noch bemerkt hat.
Fährt es nur 30 km/h, dann könnte es das vielleicht nochüberleben, weil man es geschafft hat, vorher zu bremsen.Auch darüber sollte man nachdenken.Mit Blick auf diese Fakten sind meine Forderungen,sachlich und nüchtern gesprochen, sehr klar: Ich willerstens, dass in unseren Städten und Gemeinden in Zu-kunft weniger Menschen im Straßenverkehr sterben.Zweitens will ich eine einfache, verständliche Beschil-derung in unseren Gemeinden und drittens, dass unsereVertreter in den Stadt- und Gemeinderäten ordentlichentscheiden und den Verkehr vor Ort sicherer machenkönnen. Dazu brauchen sie vernünftige Instrumente, dieauch funktionieren.Welcher Weg der beste sein kann, müssen wir Ver-kehrspolitiker sachlich diskutieren; diese Aufgabe habenwir in unseren Fraktionen übernommen. Dieses Themadarf man nicht populistisch aufladen
und am besten noch am Stammtisch diskutieren. Ichwiederhole: Es gilt das, was Frank-Walter Steinmeier be-reits gesagt hat – danke übrigens dem KollegenStorjohann, dass er so sauber zitiert hat –:… Tempo 30 kommt nur da, wo es die Bürgerinnenund Bürger vor Ort für richtig halten.Und das gilt!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22267
Sören Bartol
(C)
(B)
Danke.
Vielen Dank, Kollege Sören Bartol. – Nächste Redne-
rin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
FDP unsere Kollegin Petra Müller. Bitte schön, Frau
Kollegin Petra Müller.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Verkehrssicherheit ist für uns alle ein wichtiges Thema.Sie haben es richtig gesagt, Kollege Bartol: Verkehrs-sicherheit entscheidet über Menschenleben. Deswegensind wir uns in diesem Hause und auch im Ausschuss beientsprechenden Themen oftmals einig. Häufig werdenAnträge sogar fraktionsübergreifend verabschiedet.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppo-sition, wenn Sie generell und dogmatisch Tempo 30 inden Städten fordern,
unabhängig von örtlichen Gegebenheiten, als Bundesge-setz übergestülpt, entgegen jahrzehntelanger Praxis,trotz Widerspruchs der Fachverbände –
dann ist es mit dem Konsens vorbei. Tut mir leid.Tempo 30 an sensiblen Stellen wie Kindergärten,Schulen oder Wohngebieten wird heute so oft wie mög-lich angewendet, und zwar dort, wo es nötig ist.
Entschieden wird dort, wo darüber entschieden werdensollte, nämlich in den Kommunen. Wenn Sie jetzt denFlickenteppich beklagen, dann sage ich Ihnen: DieserFlickenteppich führt zur Aufmerksamkeit im Verkehr,jawohl!
Die Entscheidung darüber, wo Tempo 30 angesagt ist,gehört jedenfalls in die Kommunen.
Das hält die FDP für ein bewährtes System. Wir sehenan dieser Stelle überhaupt keinen Handlungsbedarf undauch keinen Regulierungsbedarf.
Was Sie wollen, ist teuer, bürokratisch, ist eine zentra-listische Regelung, die ohne jeden Mehrwert ist. Dasmachen wir nicht mit! Es wird uns nicht gelingen, ein-fach so den Verkehr in den Kommunen zu regeln. Au-ßerdem würden sich die Kommunen massiv dagegenwehren. Vorhin haben wir all die Zitate von den Kolle-gen in der SPD gehört, die in puncto Verkehrssicherheitmit Ihnen nicht einer Meinung sind.Die Akzeptanz von Regelungen ist für uns ein wichti-ger Punkt. Ich sage Ihnen eines: Die Autofahrer würdensich massiv dagegen wehren, wenn man ihnen eine sol-che Regelung überstülpte. Ein Autofahrer ist nämlichimmer nur dann ein guter Autofahrer, wenn er die Regelakzeptiert und versteht. Darum geht es doch. In diesemZusammenhang ist das Stichwort Eigenverantwortungzu nennen. Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaftsagt: Autofahrer halten sich dann an Vorschriften, wennsie für sie nachvollziehbar sind.
Das stimmt, das ist richtig, und dem ist nichts mehr hin-zuzufügen.
Sie verbessern die Verkehrssicherheit nicht, wenn Siedie Akzeptanz von Verkehrsregeln schwächen. Sie ver-bessern die Verkehrssicherheit nicht, wenn Sie den Ver-kehrsfluss hemmen. Sie verbessern die Verkehrssicher-heit nicht, wenn Sie Staus fördern, die Verkehrswegeverlängern oder die Autofahrer behindern. So einfach istdas. Das wollen wir in der Koalition nicht.
Kollegin Lühmann sagt, Tempo 30 würde Aggressio-nen mindern. Da muss ich Sie wirklich fragen, liebe Kol-legin, ob Sie sich vorstellen, dass sämtliche deutschenStraßen voller aggressiver Autofahrerinnen – das sageich ganz bewusst – und Autofahrer sind? Sie zeichnenein Bild von einem ständig wütenden, konstant aggressivrasenden Menschen. Das ist doch nicht die Realität aufden deutschen Straßen.
Das ist doch nicht das Leben. Sie stellen die Bürger un-ter Generalverdacht. Wir von der Koalition hingegen ha-ben Vertrauen in die Bürgerinnen und Bürger. Deshalbwerden wir Ihrem Vorhaben nicht zustimmen.Ich werde den Satz, den Herr Gabriel auf Twitter ver-öffentlicht hat, nicht noch einmal zitieren, sonst wird ernoch zum Dauerbrenner in dieser Aktuellen Stunde.Aber Herr Steinmeier hat sich zu diesem Thema geäu-ßert, und übrigens auch Heiko Maas kann sich nicht vor-
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22268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Petra Müller
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stellen, eine solche Forderung zukünftig im Wahlpro-gramm der SPD unterzubringen.
Das kann ich nur unterschreiben, und ich hätte nie ge-dacht, dass ich einmal das unterschreiben würde, wasHeiko Maas sagt. Der Städte- und Gemeindebund nenntIhre Vorschläge „Gängelung“ und „Bevormundung“. Al-les richtig, alles gut.Ich schlage Ihnen vor: Treffen Sie sich zu einer inter-nen Besprechung am Runden Tisch. Unterhalten Sie sichdarüber, wie Sie sich Ihre künftige Verkehrspolitik vor-stellen. Ich hätte nichts dagegen, die FDP würde das be-grüßen; wir brauchten uns dann über dieses Thema nichtmehr zu unterhalten.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. – Nächster Red-
ner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Die
Linke unser Kollege Herbert Behrens. Bitte schön, Kol-
lege Herbert Behrens.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Tempo 30 ist sicherer, leiser und sauberer. Was wollenwir uns als Bewohnerinnen und Bewohnern von Städtenund Dörfern mehr wünschen? Darauf muss unser Um-gang mit dem Verkehr abzielen. Wenn es ein Instrumentgibt, durch das diese drei Kriterien erfüllt werden kön-nen, nämlich sicherer, sauberer und leiser zu sein, dannsollten wir es sofort nutzen.
Herr Storjohann, wir wissen, dass Sie in Ihrer Frak-tion für das Thema Verkehrssicherheit verantwortlichsind. Das Thema Verkehrssicherheit spielte bisher einesehr ungeordnete Rolle, was ich bedauere; dennTempo 30 spielt beim Thema Verkehrssicherheit eineentscheidende Rolle.Der Vorstoß der SPD und der Grünen deckt sich mitdem Vorstoß der Linken, den wir schon vor längerer Zeitgemacht haben. Wir wollen eben, dass die Lebensquali-tät in den Dörfern und Städten insgesamt besser wird.Was kann da besser sein als die Reduzierung der Ge-schwindigkeit? Wir wissen doch selber: Wenn wir alsFußgänger oder Radfahrer unterwegs sind, dann empfin-den wir schnelle Autos als störend; denn wir sind sehrunsicher, wenn wir hohen Geschwindigkeiten ausgesetztsind. Wir wissen aber auch, dass durchaus unterschiedli-che Herzen in unserer Brust schlagen. Wären wir auf dergleichen Strecke als Autofahrer unterwegs, würden wirmöglicherweise mit Ungeduld darauf warten, wiederschneller fahren zu können.Die eben genannten Zahlen belegen, dass Tempo-30-Zonen in großen Städten weit verbreitet sind; denn ge-rade dort, wo Menschen auf engem Raum wohnen, wol-len sie möglichst ruhig leben. Deshalb sind sie an ihrekommunale Vertretung herangetreten, um anzufragen,ob sich die Geschwindigkeit nicht reduzieren lässt.Nun weiß ich als Kommunalpolitiker gut, wie unend-lich schwierig es ist, Tempo-30-Zonen einzurichten.Lassen Sie mich als konkretes Beispiel eine Schule inOsterholz-Scharmbeck nennen, die an einer Kreisstraßeliegt. Es ist sehr schwierig, sich mit der Kreisverwaltungins Benehmen zu setzen, damit es dort zu einer Ge-schwindigkeitsbegrenzung kommt. In dieser Straße gibtes zwar merkwürdige Baumaßnahmen, um zwanghafteine erhöhte Verkehrsaufmerksamkeit zu erzielen, aberich empfinde diese baulichen Maßnahmen als eher stö-rend. Sie machen den Verkehr eher unsicherer als siche-rer.Wenn ich als Autofahrer, Radfahrer oder Fußgängerweiß, dass in meiner Stadt Tempo 30 herrscht, dann kannich mich darauf einstellen, egal mit welchem Verkehrs-träger ich unterwegs bin.Wir können auch von einer höheren Sicherheit ausge-hen, wenn die Differenz zwischen Fußgängern und Au-tos nicht mehr 45 Kilometer pro Stunde beträgt, sondernnur noch 25 Kilometer pro Stunde. Es führt zu einem an-deren Miteinander in den Städten und Dörfern, wenn esuns gelingt, eine erhöhte Verkehrssicherheit durch Tem-poreduzierung zu erreichen.Der Verkehr wird leiser werden. Verkehrsexperten ha-ben ausgerechnet: Eine Reduzierung des Tempos von50 km/h auf 30 km/h würde die Geräuschemission um3 dB verringern. Die Zahl klingt niedrig, aber dasentspricht der Halbierung der akustischen Belastungdurch Verkehrslärm. Das ist nicht zu unterschätzen. Wirwollen in den Städten neben der Sicherheit doch auchmehr Lebensqualität. Wir sollten darum den entspre-chenden Vorschlag, der hier von Grünen und SPD nocheinmal neu aufgegriffen worden ist, prüfen und ernstnehmen.Es ist doch nicht so, dass nun per Dekret vorgeschrie-ben werden soll, dass ab sofort flächendeckend innerortsnur noch 30 Kilometer pro Stunde gefahren werden darf.Das ist doch gar nicht Sinn und Zweck unserer Forde-rung. Unser Grundsatz lautet: Tempo 30 innerorts. Über-all dort, wo wir feststellen, dass das Tempo zu gering ist,weil wir es zum Beispiel mit Ausfallstraßen zu tun ha-ben, dann darf natürlich schneller gefahren werden. Esgeht doch nicht darum, dass wir schnelle Straßen künst-lich langsamer machen wollen, so wie wir im MomentStraßen langsamer machen, wenn wir eine Tempo-30-Zone einrichten.Insbesondere mit Blick auf die Kommunalpolitik, diehier schon erwähnt worden ist, kann ich nur sagen: Fürdie Kommunen ist es teuer, umständlich und oft nur mitgroßen Zeitverzögerungen möglich, eine Tempo-30-Zone einzurichten. Auch der Städtetag hat diesbezüglichleider hohe Hürden eingezogen.Tempo 30 ist auch sauberer. Wir werden es dann– dieser These stimme ich zu – mit einem flüssigerenVerkehrsfluss zu tun haben. Dann wissen wir nämlich,dass wir es mit großflächigen Tempo-30-Zonen zu tun
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Herbert Behrens
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haben, und durch entsprechende Maßnahmen könnenwir dafür sorgen, dass der Verkehr noch flüssiger läuft.Was ist an dem jetzigen Modell schneller? Wir dürfenzwar 50 km/h fahren, fahren laut Messungen in der Re-alität in Berlin aber nur 32 km/h im Durchschnitt. InMünchen sind es nur 27 km/h, die ich im Durchschnittfahre, obwohl ich 50 km/h fahren dürfte. Das hat mitStausituationen zu tun, die dadurch entstehen, dass derVerkehr nicht flüssig läuft, weil man an Ampeln abbrem-sen und wieder beschleunigen muss.Ich denke, um die Wohnqualität zu verbessern, müs-sen wir zu einer Temporeduzierung kommen. Das wer-den wir nicht per Dekret verordnen, sondern wir werdendarüber mit den Bürgerinnen und Bürgern zu diskutierenhaben; denn sie entscheiden letztendlich darüber, wie si-cher und sauber die Stadt sein soll, in der sie leben.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Herbert Behrens. – Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen Kollege Stephan Kühn. Bitte
schön, Kollege Stephan Kühn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir for-dern Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, weil dadurchdie Verkehrssicherheit verbessert und Lärm und Abgasereduziert werden können.Frau Kollegin Müller, wenn man sich anschaut, wasdie Fachverbände dazu sagen, stellt man fest, dass sieziemlich geschlossen dafür sind. Der Deutsche Ver-kehrssicherheitsrat hat sich dafür ausgesprochen. AuchPolizeivertreter und der Wissenschaftliche Beirat beimBMVBS sagen uns: Tempo 30 als Regelgeschwindigkeitist richtig.
Die Absenkung der Höchstgeschwindigkeit aufTempo 30 reduziert – das ist schon gesagt worden – denStraßenlärm um 2 bis 3 Dezibel. Eine Verringerung um3 Dezibel wird vom Menschen wie eine Halbierung derVerkehrsmenge wahrgenommen. Dementsprechend kön-nen wir die Lebensqualität der Menschen in unserenStädten durch eine Temporeduzierung verbessern, undnebenbei verringern wir den Ausstoß an Luftschadstof-fen.Niedrigere Geschwindigkeiten innerhalb von Ort-schaften verbessern die Situation für Fußgänger undRadfahrer, insbesondere für Kinder, ältere Menschenund Menschen mit Behinderungen. Es ist leider so, dassUnfälle von Fußgängern und Radfahrern mit motorisier-ten Verkehrsteilnehmern bei 50 km/h sehr oft tödlich en-den. Tempo 30 könnte Leben retten; das ist schon gesagtworden. Im letzten Jahr sind im Stadtverkehr – das istdie traurige Wirklichkeit – 1 200 Menschen gestorben.Das ist eine Zunahme um 10 Prozent im Vergleich zumJahr 2010. Das sollte uns alles andere als zufriedenstel-len. Wir sollten alles tun, um diese hohe Zahl getöteterVerkehrsteilnehmer deutlich zu reduzieren.
In diesem Zusammenhang ist eine Langzeitstudie ausLondon interessant. Sie kam zu dem Ergebnis, dassdurch die Einführung einer Geschwindigkeitsbegren-zung auf 32 km/h die Zahl der geschwindigkeitsbeding-ten Unfälle um 42 Prozent gesenkt werden konnte. Derstärkste Rückgang wurde bei den Unfällen mit Kindernverzeichnet. Eine sehr interessante Studie!Ich hätte mir gewünscht, dass Sie von der Koalitionheute substanzielle Vorschläge einbringen, wie Sie dieVerkehrssicherheit in unseren Städten verbessern wollen.Leider haben wir dazu gar nichts gehört.
Auch im Nationalen Verkehrssicherheitsprogramm fin-den wir außer Appellen und Kampagnen wenig.Daran, dass Verkehrsminister Ramsauer Tempo 30mit der Begründung ablehnt, dass er Mobilität ermögli-chen und nicht verhindern will, wird deutlich, dass er un-ter Mobilität nur die Mobilität der Autofahrer versteht;denn Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit würde diejeni-gen stärken, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegssind. Fahrradfahrer könnten wieder sicherer auf denStraßen unterwegs sein, weil sie vom Autofahrer früherwahrgenommen und aufgrund dessen zum Beispiel nichtmit einem zu geringen Abstand überholt würden.Die Verlängerung der Fahrtzeit bei Einführung einerRegelgeschwindigkeit von Tempo 30 liegt im Sekunden-bereich. Sie wissen alle, dass die Durchschnittsge-schwindigkeit im Stadtverkehr bei ungefähr 20 km/hliegt. Das ist die Realität.Der Flickenteppich ist angesprochen worden. Auf-grund der jetzt gültigen Rechtslage haben wir im Haupt-verkehrsnetz einen ständigen Wechsel zwischenTempo 30 und Tempo 50: 200 Meter Tempo 30, weildort eine Schule ist, dann wieder Tempo 50, und dannkommt wieder eine Geschwindigkeitsbeschränkung ausGründen des Lärmschutzes.Dieser Flickenteppich trägt nicht zu einer Verbesse-rung des Verkehrsflusses bei; im Gegenteil. Er lässt bei-spielweise auch nicht die Optimierung von Ampelschal-tungen zu. Mit der Einführung von Tempo 30 alsRegelgeschwindigkeit könnten der beschriebene Wech-sel vermieden und der Verkehrsfluss optimiert werden,weil die Ampelschaltungen verbessert werden könnten.Sie haben hier ein Schreckgespenst gezeichnet: AlleAutofahrer wären zum Schleichen verdammt, weil aufallen Straßen Tempo 30 gelten würde. Dies entbehrt jeg-licher Grundlage. Wir haben klargemacht, dass es umRegelgeschwindigkeit und nicht um Höchstgeschwin-digkeit geht. Es geht also um eine Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses. Die Beweislast wird umge-kehrt: Heute muss das Vorschreiben von Tempo 30 be-
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Stephan Kühn
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gründet werden und das Vorschreiben von Tempo 50nicht. Dies wollen wir ändern. Dadurch wäre es für dieKommunen leichter, Tempo 30 anzuordnen. Das würdeBürokratie abbauen.
Es würde übrigens auch dazu führen, dass die Entschei-dungen für die Bürgerinnen und Bürger transparenterwären.Es geht also nicht um die Verhinderung von Tempo 50,sondern um die Ermöglichung von Tempo 30. Trotz alle-dem würde auf den meisten Hauptverkehrsstraßen wei-terhin Tempo 50 gelten. Ich kann nur darum bitten, dasswir die Diskussion versachlichen. Sie haben heute dazuleider keinen Beitrag geleistet.
Vielen Dank, Kollege Stephan Kühn. – Nächster Red-
ner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Bundesregie-
rung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Andreas
Scheuer. Bitte schön, Kollege Dr. Andreas Scheuer.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Bartol, das war ja ein wirklich toller Ver-such, uns davon in Kenntnis zu setzen, dass Sie den Vor-schlag, ein Tempolimit von 30 km/h in Städten einzufüh-ren, gerade noch prüfen.
– Herr Kollege Kühn, die Prüfung hatte schon in der Zeitvon Rot-Grün im Jahr 2000 begonnen. – Herr KollegeBartol, Sie prüfen mittlerweile sehr lange; Herr Kühn hateine Steilvorlage geliefert. Damals war dieser Vorschlagvon den Kolleginnen und Kollegen der Grünen vorge-bracht worden, und er wurde dann von der Spitze derSPD torpediert. Jetzt machen Sie diesen Vorschlag er-neut.
Es ist eine alte Kamelle und nicht zeitgemäß. Die Argu-mente sind auch völlig an den Haaren herbeigezogen.Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich klar sein,dass die Union und die FDP für Freiheit und Eigenver-antwortung stehen
und Rot-Grün und Linkspartei für Gängelung, Limitie-rung und Verbote.
Sie haben das Beispiel München erwähnt, wo auf80 Prozent der Straßen Tempo 30 gilt. Dort lebt einSPD-Politiker als Oberbürgermeister vor, wie er die Bür-gerinnen und Bürger gängelt.
Zum besseren Verkehrsfluss in München führt das defi-nitiv nicht.
Wenn Sie die Städte als den Ort der meisten Unfällehervorheben, möchte ich auf unsere Berichte zur Ver-kehrssicherheit verweisen. Landstraßen sind sehr unfall-trächtig, dort sind die meisten Verkehrstoten zu bekla-gen. Deswegen hat der Bundesminister eine „AktionLandstraße“ gestartet. Da wollen wir ansetzen. Ich dankeBundesminister Ramsauer dafür, dass er den Haushalts-titel für die Verkehrssicherheit erhöht hat; der Titel istjetzt auf Rekordniveau. Damit sagen wir Ja zu einer ver-besserten Verkehrssicherheit.
Wenn Sie, Herr Kollege Kühn, das nationale Ver-kehrssicherheitsprogramm zitieren, sage ich: Ja, wir ha-ben jetzt eine politische Leitung im Bundesministeriumfür Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, die sich inhalt-lich und konzeptionell mit der Verkehrssicherheit be-schäftigt. Es geht dabei um die Aktionsfelder Mensch,Infrastruktur und Fahrzeugtechnik. Dort werden auchsehr gute Vorschläge für den Stadtverkehr gemacht.Lieber Kollege Bartol, die SPD muss ja sehr viel Ver-trauen in ihre SPD-Kommunalpolitiker haben, wenn Sievon oben dirigistisch festlegen wollen, dass nur nochTempo 30 in den Kommunen gelten soll.
Sie wollen Ihren Kommunalpolitikern befehlen, was sieim Bereich Stadtverkehr tun sollen.
Ich glaube, das ist der falsche Weg.
Die Union schätzt die politische Eigenständigkeit derKommunalpolitiker. Diese können situationsbedingt ent-scheiden, wo sie Tempo 30 vorschreiben, zum Beispielvor Kindergärten, vor Spielplätzen und in beruhigtenZonen in Wohngebieten. Sie können das bestens selbstentscheiden. Dazu brauchen sie nicht den DeutschenBundestag.
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Parl. Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer
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Zu den Punkten Bürokratie oder finanzieller Aufwandkann ich nur sagen: Wenn Sie zwischen den Hauptstra-ßen – rechtlich muss zunächst einmal definiert werden,was Hauptstraßen sind – und den beruhigten Zonen, indenen nach Ihrem Modell generell Tempo 30 gelten soll,wechseln wollen, brauchen Sie neue Schilder und habeneinen entsprechenden Aufwand für die Umschilderung.
Solch ein Schild kostet ungefähr 300 Euro. Multiplizie-ren Sie das einmal!Wir wollen einen anderen Weg gehen. Wir wollen dieKommunen mit Aktionen gegen den Schilderwald moti-vieren, die Schilder herunterzunehmen und Regelungenzu finden, die für die Bürgerinnen und Bürger transpa-renter sind. Dann ist es für die Verkehrsteilnehmer einfa-cher, nachzuvollziehen, welches Tempo sie fahren sol-len. Außerdem werden durch die Entschilderung unsererInnenstädte Kosten eingespart.Wir gehen also einen ganz anderen Weg: Abbau desSchilderwaldes, und die Kommunalpolitik soll selbstentscheiden, wo eine Tempo-30-Zonen-Regelung geltensoll.Die SPD tut sich ja immer als die Kommunalparteihervor. Sie möchte suggerieren, dass die Bürgerinnenund Bürger für die Tempo-30-Regelung sind. Ich nehmeetwas anderes wahr. Ich glaube, dass eine mangelndeAkzeptanz durch die Verkehrsteilnehmer die Verkehrs-sicherheit in den Innenstädten sogar untergräbt, weil je-der für sich entscheidet, wie schnell er auf den Straßenfährt. Ich glaube, dieser Vorstoß geht ins Leere. DieSPD-Spitze hat schon in diese Richtung argumentiert.Der Regierende Bürgermeister von Berlin war heutezum Thema Berliner Flughafen im Deutschen Bundes-tag. Er fährt – es sei ihm vergönnt, weil unsere politi-schen Mandatsträger für die Automobilindustrie eineWerbebotschaft senden – ein großvolumiges Fahrzeug,einen BMW 750 Li.
Reden und Handeln, meine Damen und Herren! 407 PS,das ist der Beitrag des Regierenden Bürgermeisters fürden Vorschlag der Tempo-30-Zonen-Regelung.
Aus den Vorlagen, die Sie uns im BMVBS hinterlas-sen haben, haben wir viel herausstreichen müssen. Ichglaube, aus der Debatte kommt heraus: Die Union unddie FDP wollen nicht Verkehre verhindern, sondern siewollen sie intelligent koordinieren. Dazu brauchen wirdie Kommunalpolitik, die immer fähig ist, vor Ort diebesten Lösungen für die Bürgerinnen und Bürger zu fin-den. Damit sagen die Kommunalpolitiker Ja zu ihrer ei-genen Verantwortung.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächste Rednerin
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der So-
zialdemokraten Frau Kollegin Kirsten Lühmann. Bitte
schön, Frau Kollegin Lühmann.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!Sehr verehrte Zuhörende! In meinem Wahlkreis in Cellehaben wir gerade eine Diskussion darüber, ob in einemStraßenabschnitt in der Innenstadt Tempo 30 kommensoll. Die Bürger und Bürgerinnen sind dafür. Die Kom-mune ist dafür. Jetzt gibt es eine Vorlage, die sich angeltendem Recht orientiert. Wie sieht diese Straße dannaus? Nach jetziger Rechtslage werden die ersten500 Meter Tempo 30 nachts – aus Lärmschutzgründen –sein. Die nächste Strecke wird Tempo 50 sein. Danachwird – aus Verkehrssicherheitsgründen – eine StreckeTempo 30 tagsüber folgen. Liebe Herren und Damen,wir sind uns wohl einig: So eine Situation ist sowohl fürdie Anwohnenden als auch für die Verkehrsteilnehmen-den absolut indiskutabel.
Ich wollte einmal genau wissen, wie die rechtlichenVoraussetzungen aussehen, und habe ein Gutachten beimWissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestagesin Auftrag gegeben. Das war nicht ganz einfach. Auchdas BMVBS hat sich schwergetan. So viel zu der Aus-sage: Das ist doch ganz einfach, die Kommunen könnendas doch locker machen.Wie sieht es denn nun aus? In der Straßenverkehrs-Ordnung gibt es viele Möglichkeiten, die Geschwindig-keit zu reduzieren. Ich habe unter anderem gefunden:Tempo 30 kann angeordnet werden, um die Flüssigkeitund Leichtigkeit des Verkehrs zu fördern.
Das heißt, der Gesetzgeber geht nicht von Staus undSchneckentempo aus, sondern der Gesetzgeber geht da-von aus, dass Tempo 30 die Flüssigkeit des Verkehrs so-gar fördern kann. Ich denke, da können wir ihm zustim-men.
Aber: Wenn eine Kommune Tempo 30 einführen will,muss sie viele andere Rechtsgebiete beachten, zum Bei-spiel die Bundes-Immissionsschutzverordnungen, dieLärmminderungspläne der EU und die Luftreinhaltungs-pläne der EU. Ich will damit sagen: Das ist ein sehr kom-plexes Rechtsgebiet.
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Kirsten Lühmann
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Das zeigen die vielen Urteile, in denen die Anordnungvon Tempo 30 durch Kommunen zurückgenommenwurde.Insbesondere bei höherklassifizierten Straßen gibt esProbleme. Wer sieht, wie sich Kreisstraßen, Landesstra-ßen und Bundesstraßen teilweise durch enge Innenstädteschlängeln, und wer erlebt, wie lange der Bau vonOrtsumgehungen dauert, der wird mir zustimmen: UnserZiel muss es sein, dafür zu sorgen, dass die Kommunenschnell und frei entscheiden können: Wo kommtTempo 30 und wo nicht?
Auch im Aktionsplan „Verkehrssicherheit“ der EUwird in Punkt 54 vorgeschlagen: In Wohngebieten undauf einspurigen Straßen ohne Fahrradwege ist Tempo 30vorzuschreiben. – Dem, meine Herren und Damen, ha-ben sogar die Abgeordneten von Union und FDP im Eu-ropaparlament zugestimmt.
Aber so weit wollen wir von der SPD gar nicht gehen,liebe Koalition.In unserem Antrag zum Thema Verkehrssicherheitheißt es:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf … zu prüfen, ob innerhalb geschlossenerOrtschaften – mit Ausnahme der Hauptverkehrs-adern – die zulässige Höchstgeschwindigkeitgrundsätzlich auf Tempo 30 gesenkt wird.Dieser Antrag wurde leider abgelehnt. Wer ihn lesen will– er enthält nämlich noch viele andere gute Vorschlä-ge –: Sie finden ihn auf Drucksache 17/5772.
Eines erstaunt mich – jetzt richte ich mich an die Ab-geordneten der Koalition, die dem Verkehrsausschussangehören; wenn die Kollegen und Kolleginnen, die un-serem Ausschuss nicht angehören, nicht jeden Antrag,den wir dort behandeln, lesen, kann ich das verstehen –:Weil wir im Verkehrsausschuss erst vor wenigen Mona-ten über den eben von mir zitierten Antrag diskutiert ha-ben, wissen alle Ausschussmitglieder, was die SPD zumThema Tempo 30 fordert. Sie wissen auch, dass es sichum einen Prüfauftrag handelt und dass es in unseremAntrag heißt: „mit Ausnahme der Hauptverkehrsadern“.Trotzdem verbreiten Sie weiter ein sinnentstellend ver-kürztes Zitat; das haben Sie auch heute Morgen getan.
Das, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist unanständig.
Zusammenfassend stelle ich fest: Wir wollen, dass dieEntscheidungsgewalt vor Ort ausgeübt wird. Die Situa-tion stellt sich zurzeit allerdings schwierig dar. Es gehtum die Fragen: Wie können wir die Situation optimie-ren? Wie können wir die Regelungen entbürokratisie-ren? Wie können wir den Kommunen die Handlungs-kompetenz geben? Es gibt zwei Möglichkeiten:Entweder belässt man die Regelgeschwindigkeit bei50 km/h, vereinfacht aber die Ausnahmen, oder manmacht Tempo 30 zur Regelgeschwindigkeit; es ist so-wieso einfacher, Ausnahmen nach oben vorzunehmen.Vielleicht gibt es ja auch eine dritte Möglichkeit, überdie wir noch nicht diskutiert haben.Wir als Bundestag haben die Verantwortung, im Inte-resse der Kommunen zu handeln und die Entscheidungs-kompetenz vor Ort zu stärken. Lassen Sie uns diese Auf-gabe endlich ernst nehmen! Lassen Sie uns vorurteilsfreiprüfen, welche Regelung die sinnvollste ist, und zwar fürdie Menschen in den Kraftfahrzeugen und für die Men-schen außerhalb der Kraftfahrzeuge.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Lühmann. – Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Werner Simmling. Bitte schön, Kollege Werner
Simmling.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Heute geht es um das ThemaTempo 30 in Städten. Lassen Sie mich mit einem Zitatdes Chefs der Deutschen Polizeigewerkschaft, RainerWendt, beginnen: Das ist „eine Schlafmützenregelung“,sagte dieser zu den Vorschlägen rot-grüner Verkehrspoli-tiker, die Geschwindigkeit innerorts per Gesetz auf30 km/h begrenzen zu wollen.
Eigentlich ist damit bereits alles gesagt.Aber im Ernst: Der Vorschlag, mit dem uns unsereKollegen, der verkehrspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Sören Bartol, und der Vorsitzende des Ver-kehrsausschusses des Deutschen Bundestages, Dr. AntonHofreiter, Bündnis 90/Die Grünen – er ist leider nichthier –, überraschten, hatte es in sich; denn dieser Ge-
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Werner Simmling
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danke war wohl zumindest innerhalb der Fraktion derSPD nicht abgestimmt.
– Ja. Ich habe Ihnen gut zugehört. – Der Aufschrei vonSigmar Gabriel, von Frank-Walter Steinmeier und vomPräsidenten des Deutschen Städtetages und MünchenerOberbürgermeister, Christian Ude, um nur einige zu nen-nen, kam postwendend und war nicht zu überhören. Alledrei erinnerten sich wohl sofort an den fatalen Fehlstartunserer Kollegin Renate Künast als Bürgermeisterkandi-datin in Berlin, die mit genau diesem Thema, Tempo 30,in Berlin punkten wollte, damit die halbe Stadt ver-schreckte und krachend einbrach. Der Wahlsieg war ver-spielt.
Seit dem 1. September 1957, also seit bald 55 Jahren,gilt Tempo 50 in den Städten. Dieses Tempolimit giltnicht nur für Autos – hier wird immer nur von Autos ge-sprochen –, sondern auch für Straßenbahnen und Busse.In vielen Wohngebieten und vor Schulen, Kindergärtenund Kliniken gilt schon lange Tempo 30. Die Entschei-dung, wo in Zukunft Tempo 30 zu gelten hat, sollte dem-nach dort gefällt werden, wo sie hingehört, nämlich inden Kommunen und nicht im Bundestag.
– Ja, genau so ist es.
Uns ist es ein großes Anliegen, die Verkehrssicherheitin Deutschland weiter zu erhöhen.
Die Erfolge der vergangenen 40 Jahre sind ermutigend.Hatten wir 1970 noch 19 193 Getötete im Straßenver-kehr zu beklagen, so ist die Zahl bis 2010 auf 3 648 Ge-tötete zurückgegangen. Innerorts ist die Zahl der Getöte-ten von 8 494 auf 1 261 in 2008 zurückgegangen.
In beiden Straßenkategorien ist die Zahl der Verkehrsto-ten also um etwa 85 Prozent zurückgegangen – und dasbei einer gleichzeitigen Verdreifachung der Zahl derKraftfahrzeuge im genannten Zeitraum von rund 15 Mil-lionen auf beinahe 50 Millionen.
– Mit einer kurzfristigen Betrachtung können Sie allesbegründen.
Trotz dieses Erfolgs ist die Anzahl der Getöteten imStraßenverkehr
– hören Sie doch einmal zu – leider noch immer viel zuhoch. Umso wichtiger ist es, dass wir mit unseren Maß-nahmen dort ansetzen, wo wir die Verkehrssicherheit tat-sächlich weiter erhöhen können, und keine Scheinmaß-nahmen verfügen, die im Zweifel sogar – auch daswurde schon gesagt – zu einer Verschlechterung der Ver-kehrssicherheit führen könnten, weil sie für die Ver-kehrsteilnehmer nicht nachzuvollziehen sind und damitzum Übertreten reizen.
Die Ausweisung von großflächigen innerstädtischenFußgängerzonen, gut ausgebaute Gehwege, bessere undübersichtlichere Straßen, mehr Radwege, aber auch eineweitere Verbesserung der Kraftfahrzeugtechnik, zumBeispiel durch weitere Fahrerassistenzsysteme, undnicht zuletzt die Intensivierung der Verkehrsschulungund ein gesteigertes Verantwortungsbewusstsein allerVerkehrsteilnehmer sind die Stellschrauben, die eineweitere Erhöhung der Verkehrssicherheit bewirken.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns also dortgemeinsam tätig werden und nicht im Boulevard mitpopulistischer Regelungswut Menschen zu gängeln ver-suchen. Viele Umfragen auf regionaler Ebene haben ge-zeigt, dass die Bürger mit der derzeitigen Regelung sehrzufrieden sind – das Beispiel Berlin zeigt es –, die sichbereits über eine lange Zeit bewährt hat.Die Entscheidung über Tempo 30 soll auch in Zu-kunft dort getroffen werden, wo sie hingehört, nämlichauf regionaler Ebene; denn was vor Ort entschiedenwird, findet auch die Akzeptanz der Betroffenen. Dafürbraucht es keine gesetzliche Vorgabe vom Bund. Hierhaben die Kollegen Gabriel und Steinmeier ausnahms-weise einmal recht gehabt.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Werner Simmling. – Nächster
Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser
Kollege Hans-Joachim Hacker. Bitte schön, Kollege
Hans-Joachim Hacker.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren,die uns zuhören und zusehen! Was für eine Aufregungund was für eine abstruse Argumentation aus der Koali-
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22274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Hans-Joachim Hacker
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tion zu diesem Thema! Das ist nicht nachzuvollziehen.Sie negieren völlig die Bedeutung der Straßenverkehrs-Ordnung als Regelinstrumentarium, das wir auszugestal-ten haben.Herr Bundesminister Ramsauer, die Bundesregierungverfolgt mit ihrem Verkehrssicherheitskonzept ein ambi-tioniertes Ziel. Sie haben sich vorgenommen – darinbekommen Sie in der Gesellschaft ja große Unterstüt-zung –, die Zahl der Verkehrstoten bis 2020 um 40 Pro-zent zu reduzieren. Über die Statistik ist hier bereits vielgesagt worden. Das will ich nicht noch einmal wiederho-len.Es ist auch schon erwähnt worden, dass wir im letztenJahr trotz aller Maßnahmen – ich nenne auch die Ehren-amtler – wieder einen Anstieg zu verzeichnen hatten: auf4 002 Getötete. Das sind genau 4 002 zu viel. Wir müs-sen schon die Frage stellen, wie wir darauf reagieren undwelche Maßnahmen wir einleiten, um das ambitionierteZiel, das hier alle vertreten, zu erreichen.Es gibt im Straßenverkehr unterschiedliche Risiko-gruppen. Dazu zählen insbesondere Jugendliche von18 bis 24 Jahren. Darüber hinaus gibt es unterschiedli-che Risikobereiche.Einer dieser Risikobereiche, der von vielen zum Teilausgeblendet wird, sind innerstädtische Verkehre. Inmeinem Land Mecklenburg-Vorpommern haben sich imJahre 2011 mehr als die Hälfte, nämlich 59 Prozent, derStraßenverkehrsunfälle mit Personenschaden und schwer-wiegendem Sachschaden innerhalb von Ortschaften ereig-net. 59 Prozent! Auf den Autobahnen sind es 7,5 Prozent.Hier müssen wir ansetzen. Jemand, der hier angesetzthat, ist der Wissenschaftliche Beirat Ihres Ministeriums,Herr Ramsauer. Dieser Beirat hat einen Katalog vonMaßnahmen vorgelegt. Eine Maßnahme ist die Einfüh-rung einer Regelgeschwindigkeit von 30 km/h. Ichfinde, das sollten Sie ernsthaft prüfen und nicht einfachabtun.Ich will deutlich sagen: Eine Regelgeschwindigkeitvon 30 km/h wäre doch kein Dogma, sondern nur dieUmkehrung der Regelgeschwindigkeitsregelung in derStraßenverkehrs-Ordnung. Wo ist da das Problem, FrauMüller? Es gibt doch gar kein Problem. Ich frage Sie:Warum sollten wir, wenn uns 17 Professoren einen sol-chen Vorschlag vorlegen, diesen nicht ernsthaft prüfen,Herr Ramsauer?Was die Bewertung angeht, stehen wir, die Verkehrs-politiker von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, und die17 Professoren nicht alleine da. Ich zitiere den Präsi-denten des Deutschen Verkehrssicherheitsrat, WalterEichendorf. Er hat vor wenigen Tagen erklärt, dassTempo 30 als Regelgeschwindigkeit in den Städten einesinnvolle Maßnahme wäre. Die Sicherheit der Radfahrerund Fußgänger würde sich erheblich erhöhen, so derDVR-Präsident.Als ehrenamtliches Mitglied der Deutschen Verkehrs-wacht sage ich: Viele Ehrenamtler sehen das genauso.Lieber Herr Storjohann, ich weiß, dass auch Sie Ehren-amtler in der Verkehrswacht sind. Fragen Sie doch ein-mal Ihre Ehrenamtler in Schleswig-Holstein, was diedazu sagen.
Ich kenne deren Meinung. Ich lade Sie zu einer Diskus-sion nach Mecklenburg-Vorpommern ein. Da können Siesich von diesen guten Argumenten überzeugen.Unverdächtig ist doch auch der Bundesvorsitzendeder Gewerkschaft der Polizei, Bernhard Witthaut. Diesererklärte kürzlich, am 18. Juni, in einem Interview mit derSchweriner Volkszeitung:Schon seit Jahren empfehlen uns Verkehrssicher-heitsexperten, dass 30 als Höchstgeschwindigkeit dieRegel sein sollte und nicht 50. Viel spricht dafür. Wirsollten diesen Vorschlag weiterverfolgen. … Nichtangepasste Geschwindigkeit ist generell eine derHauptursachen von Unfällen. Geringere Geschwin-digkeit bedeutet kürzere Bremswege, weniger Un-fälle und damit mehr Verkehrssicherheit für alle.Die seitens der Koalition hier vorgetragenen Zitatehaben Sie sich, glaube ich, vom Mond geholt, oder Siehaben nur Halbzitate gebracht.
Die Zitate, die ich aufgeführt habe, können Sie nachle-sen. Ich lege Ihnen ans Herz, das zu tun.Ich möchte neben der Verkehrssicherheit noch einenzweiten Bereich ansprechen, die Lärmbelästigung. In derStadt Ludwigslust in meinem Wahlkreis bemüht sicheine Bürgerinitiative seit Monaten darum, die Lärmbe-lästigung zu reduzieren. Die Stadt wird von mehrerenDurchgangsstraßen durchzogen. Wegen der Regelung inder Straßenverkehrs-Ordnung gibt es die Notwendigkeit,dass jede einzelne Maßnahme im Detail begründet wer-den muss. Es fällt den dortigen Verkehrsbehördenschwer, eine solche Begründung für eine Regelge-schwindigkeit von 30 km/h zu finden.
Von daher müssen wir hier die Rahmenbedingungenschaffen. Ich spreche jetzt den Herrn Bundesbauministeran: Herr Ramsauer, wir warten noch auf eine Lieferungvon Ihnen, nämlich die Baurechtsnovelle. Hiermit sindSie schon ein Dreivierteljahr im Verzug.
– Ja, ja, aber die sollte ja schon im vergangenen Jahr imPlenum sein. Wir sind der Deutsche Bundestag und nichtdas Kabinett. – Darin wollen Sie doch die Innenstädtestärken, Herr Ramsauer, mit unserem Zutun, Herr Götz.Wäre nicht eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h eindeutliches Zeichen für eine solche Innenstadtstärkung?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22275
Hans-Joachim Hacker
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Bitte liefern Sie die Baurechtsnovelle. Wir diskutierendann über diese Frage.
Herr Kollege Hacker, als Verkehrspolitiker wissen Sie
das Signal Rot zu deuten.
Das Signal des Präsidenten kann ich sehr gut deuten. –
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich appelliere
an die Koalition: Greifen Sie die Idee auf, diese Vor-
schläge ernsthaft zu prüfen. Ich glaube, wir haben einen
guten Grund, diese Fragen in den nächsten Wochen wei-
ter zu diskutieren.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Vielen Dank, Kollege Hans-Joachim Hacker. –
Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Daniela
Ludwig. Bitte schön, Frau Kollegin Ludwig.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Kollege Hacker, die Zitate Ihres Parteivorsit-zenden müssen wir nicht vom Mond holen. Wenn Sie Ih-ren Vorsitzenden aber auf selbigen geschossen haben,nehmen wir das hiermit zur Kenntnis. So viel dazu.
Wenn wir schon bei den Zitaten sind: Der Wissen-schaftliche Beirat im nun von Peter Ramsauer geführtenHaus hat die generelle Empfehlung für Tempo-30-Zonenschon unter dem Vorgänger Herrn Tiefensee ausgespro-chen. Herr Tiefensee ist dann in eine intensive Prüfungmit sich selbst und vermutlich auch mit Ihnen zu diesemThema gegangen. Das Ergebnis kennen wir, sonst hättenSie diese Forderung nicht mehr stellen müssen: keineÜbernahme der Empfehlung.Jetzt nehmen wir für uns genauso wie Herr Tiefenseein Anspruch, dass auch wir prüfen und auch wir zu ei-nem anderen Ergebnis als der Wissenschaftliche Beiratin seiner Empfehlung kommen. Darüber können wir unshier diskursartig austauschen. Damit habe ich kein Pro-blem. Aber wenn man uns, nur weil wir zu einem ande-ren Ergebnis kommen – warum, sage ich gleich –, in die-ser Sache unterstellt, wir hätten ein Problem mit derVerkehrssicherheit, wir seien gegen Verkehrssicherheitund wir wollten keine Maßnahmen zur Erhöhung derVerkehrssicherheit einleiten, finde ich das der Sache, umes einmal vorsichtig auszudrücken, nicht zuträglich;denn wir haben in dieser Legislaturperiode unter PeterRamsauer mit der Arbeitsgruppe Verkehr sowohl derFDP- wie auch der CDU/CSU-Fraktion eindrücklich dasGegenteil bewiesen.Zu den Themen Föderalismus und Subsidiarität unddie Frage, wer über Tempo-30-Zonen entscheidet, istviel gesagt worden. Das war sicherlich auch ein Grund,warum sich Ihr Kollege, der früher Oberbürgermeisterwar, gegen diese Empfehlung ausgesprochen hat; denner weiß genauso gut wie wir alle hier, dass vor Ort ambesten entschieden werden kann, auf welchen Straßendie Signalwirkung – das meine ich jetzt wirklich ganzernst – einer Tempo-30-Zone dringend gebraucht wird.Das sind tatsächlich die Straßen, die Sie, Frau KolleginLühmann – da bin ich voll bei Ihnen –, beschrieben ha-ben, also die Straßen, auf denen im Prinzip die gefährde-ten Verkehrsteilnehmer unterwegs sind: kleine Kinder,Schüler, Kindergartenkinder, ältere Herrschaften.
Das sind aber auch die Straßen, in denen wir vor Lärmganz besonders schützen wollen: Straßen in dichtenWohngebieten, vor Krankenhäusern und Seniorenhei-men.An solchen Orten hat das Tempo-30-Schild eineSignalwirkung; denn der Verkehrsteilnehmer merkt:Achtung, hier muss ich entweder aufpassen oder ichmuss in dieser Gegend etwas leiser sein. – Diese Signal-wirkung – sie ist mir sehr wichtig – würde durch eineUmkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses kom-plett verloren gehen.
Aus diesem Grunde wollen wir diese Umkehrung nicht.Nehmen Sie das einfach einmal als eines unserer Argu-mente an. Darüber können wir uns dann an andererStelle gerne auseinandersetzen. Aber das ist zunächsteinmal unsere Meinung, und an der halten wir fest.
Ich glaube tatsächlich, dass über die Einrichtung einerTempo-30-Zone am besten vor Ort entschieden werdenkann, weil es – das ist meine persönliche Empfindung;auch ich bin wie die meisten von uns kommunalpolitischtätig – funktioniert: Wenn man eine Tempo-30-Zone ein-richten will, kann man das gut begründen, und man be-kommt sie dann auch da, wo man sie will.
Alles andere spricht nur für die Regelgeschwindigkeitvon 50 km/h. Diese Regelgeschwindigkeit ist nicht perse verkehrsgefährdend, weil nicht jeder Autofahreraggressiv ist und es darauf anlegt, irgendjemanden inGefahr zu bringen. Die meisten Autofahrer sind verant-wortungsbewusst unterwegs und können ihre Geschwin-digkeit einschätzen.
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22276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Daniela Ludwig
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Da, wo es gefährlicher ist, fahren sie langsamer, weil wirdort ein Tempo-30-Schild aufstellen.
So schwierig ist das nicht. Deswegen bleibe ichschlicht und ergreifend dabei: Die Regelung ist so, wiesie jetzt ist, gut. Sie hat sich bewährt. Ich werde jetztkeine Zitate anführen, weder von Ihrer Seite noch vonunserer Seite. Die Kommunalpolitik hat in letzter Zeitdeutlich signalisiert, was sie von diesem Vorschlag hält,nämlich nicht allzu viel. Deswegen wäre ich sehr froh,wenn wir es bei der jetzigen Regelung belassen könnten.Lassen Sie das die Kommunen entscheiden. Sie sindam nächsten dran. Es macht wenig Sinn, hier den Bun-desgesetzgeber zu bemühen.
– Sie können das sehr wohl; denn die Tatsache, dass eszu der Einrichtung von Tempo-30-Zonen gekommen ist,ist ein Beweis dafür, dass es funktioniert.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollegin Daniela Ludwig. – Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Peter
Götz. Bitte schön, Kollege Peter Götz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es geht in die-ser Debatte nicht um die Frage, ob Tempo 30 sinnvoll istoder nicht. Es geht darum, wer die Entscheidung darüberzu treffen hat:
ob wir hier in Berlin oder ob die Kommunen dies zu ent-scheiden haben.
Gegen Tempo-30-Zonen ist grundsätzlich nichtseinzuwenden, aber bitte nur dort, wo diese notwen-dig sind.
Dies sagte der Vorsitzende der Deutschen Polizeige-werkschaft, Rainer Wendt, in einer Erklärung gegenüberder Augsburger Allgemeinen, Herr Kollege Hacker. DieErfahrung zeige – so Rainer Wendt weiter –, dass Auto-fahrer sich an Verkehrsvorschriften hielten, wenn diesefür sie nachvollziehbar seien. Recht hat er. Genau des-halb lehnen wir die von Rot-Grün geplante bundesweiteGängelung der Autofahrer ab.Wir haben in Deutschland gut funktionierendeTempo-30-Zonen in Wohngebieten.
Mit einem bundesweiten Tempo 30 schwächen Sie diesemassiv; denn Verkehr ist wie Wasser. Er sucht sich beigenereller Geschwindigkeitsbegrenzung den kürzestenWeg.
Ob das dann ein Beitrag zur Verkehrssicherheit wird,Herr Kollege Bartol, wage ich zu bezweifeln.
Aber es gibt noch weitere Gründe, die gegen ein ge-nerelles Tempolimit in den Städten sprechen.
Im Gegensatz zu Ihnen in der Opposition wollen wir,dass die Menschen vor Ort ihre Heimat selbst gestaltenkönnen. Dazu gehören auf der einen Seite die notwendi-gen finanziellen Spielräume der Kommunen, die wirgerade in dieser Legislaturperiode mit der Übernahmeder Kosten für die Grundsicherung im Alter, um nur einBeispiel zu nennen, erheblich verbessert haben. Dazugehört aber auch die kommunale Planungshoheit derStädte und Gemeinden.Die Verantwortlichen in den Kommunen wissen mitSicherheit besser, was für ihre Stadt gut ist und wasnicht. Sie setzen sich täglich mit den Bürgern auseinan-der und sollten deshalb selbst entscheiden können, wosie eine Tempo-30-Zone für richtig halten und wo nicht.
Wir als Kommunalpartei halten die sachgerechtenEntscheidungen, die an Ort und Stelle getroffen werden,allemal für besser.
Gerade beim innerörtlichen Verkehr lässt sich dassehr gut ablesen. Es gibt hervorragend funktionierende,von den Kommunen eingeführte Tempo-30-Zonen. Wirhaben – das wurde vorhin bereits gesagt – Geschwindig-keitsbegrenzungen vor Schulen, Kindergärten undSenioreneinrichtungen. In vielen Kommunen gibt esSpielstraßen mit Tempo 7, also Schrittgeschwindigkeit,sowie Fußgängerzonen, und das alles, ohne dass derDeutsche Bundestag irgendwann damit befasst wurde.Die ganze Palette der Verkehrsgestaltung ist ein wich-tiger Bestandteil der kommunalen Planungshoheit, der inkommunaler Verantwortung bestens aufgehoben ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22277
Peter Götz
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Nicht hierhin, sondern dorthin gehört das Thema. Wirnennen das Subsidiarität. Wir wollen, dass auf Bundes-ebene nur das geregelt wird, was vor Ort nicht eigenver-antwortlich entschieden werden kann.
Wir halten zentralistische Vorgaben des Deutschen Bun-destages für die Gestaltung unserer Städte für falsch.
Frau Lühmann, heute früh haben Sie im Unteraus-schuss Kommunalpolitik noch das Hohelied der kommu-nalen Selbstverwaltung gesungen. Aber dann, wenn eskonkret wird, hat man das Gefühl, dass genau das Ge-genteil passiert. Ich betrachte dies als scheinheilig.Die zusätzlichen sachlichen Gründe, die gegen einegenerelle Einführung von Tempo 30 sprechen,
wie die Verdrängung des Verkehrs in Wohngebiete, hö-here Umweltbelastung durch zusätzliche Stopps beiRechts-vor-links-Verkehr oder die mit einer generellenRegelung verbundene Scheinsicherheit für Radfahrerund Fußgänger, wurden von den Vorrednern bereits an-gesprochen.Lassen Sie deshalb im Sinne von Bürgernähe undkommunaler Selbstverwaltung die Städte und Gemein-den selbst entscheiden, ob und wo sie in ihrem Stadt-gebiet Tempo 30 gut finden und wo nicht. VerschonenSie die Menschen in unserem Land mit Ihren ideologischgeprägten zentralistischen Verwirrspielchen und populis-tischen Forderungen!Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Peter Götz. – Nächster Redner
für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Volkmar Vogel.
Bitte schön, Kollege Volkmar Vogel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lassen wir doch das ganze Geeiere, die Ausreden, dieErklärungen und die Dementis der Kollegen von SPDund Grünen einmal beiseite. Am Ende dieser Debattewird eines klar: Rot-Grün will nicht nur Tempo 130 aufden Autobahnen. Rot-Grün will auch Tempo 30 in allenStädten unseres Landes. Damit das hier ganz klar gesagtwird: Für mich ist das ein Angriff auf die Mobilität inunserem Land.
Es wird auch klar: Am liebsten würde Rot-Grün denIndividualverkehr ganz abschaffen, aber nicht nur das.Es kommt noch dicker – Peter Götz hat es gerade aus-führlich dargelegt –: Es wird die zentralistische Absichtverfolgt, die Selbstbestimmung der Kommunen auch indiesem Punkt einzuschränken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grü-nen, die Städte sind doch heute keine mittelalterlichenBollwerke mehr, mit vier Stadttoren und von einer Stadt-mauer umgeben. Moderne Städte von heute haben eineDienstleistungsfunktion für ihr Umland. Große Städtehaben eine Metropolfunktion auch überregional. Wennuns das bewusst ist, dann muss uns auch klar sein, dassStädte nur dann eine Chance haben, wenn sie frequen-tiert werden können. Damit sie frequentiert werden kön-nen, brauchen wir zügig fließenden Verkehr und schnelleVerbindungen. Da hilft uns Tempo 30 mit dem dann zuerwartenden Schleichverkehr im gesamten Stadtgebietüberhaupt nicht.Das Thema Verkehrssicherheit berührt uns alle. Hiermacht es sich keiner von uns leicht. Die Ergebnisseder letzten Jahre beweisen: Unsere Politik mit GeroStorjohann als unserem verkehrspolitischen Sprecher isterfolgreich. Die Verkehrsstatistiken belegen das.
Ich möchte deutlich sagen: Das Problem, vor dem wirin den Städten stehen, ist nicht Tempo 50, sondern essind diejenigen, die sich nicht an Tempo 50 halten unddurch die Städte rasen. Das bedarf hohen Kontrollauf-wands sowie Aufklärung und Beratung der Verkehrsteil-nehmer. Tempo 50 ist richtig. Aber es gibt durchausZonen, in denen diese Geschwindigkeit gesenkt werdenmuss – darauf haben meine Vorredner schon hingewie-sen –: vor Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern undsozialen Einrichtungen.
Aber die Kommunen bestimmen selbst, wo Tempo-30-Zonen eingerichtet werden sollen. Sie haben schon jetztdie Instrumente dafür.
Aus unserer Sicht sind Tempo-30-Zonen in Wohnquar-tieren, wo es richtig und wichtig ist, den Verkehr zuberuhigen, besonders geeignet.
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22278 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012
Volkmar Vogel
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Zur Umwelt. Wir alle sind Autofahrer. Was passiertdenn bei Tempo 30? Wir zuckeln hochtourig und imSchleichgang durch die Stadt. Das führt am Ende dazu,dass die Schadstoffbelastung nicht sinkt, sondern steigt.Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eines darlegen:Die Argumente von SPD und Grünen widersprechensich auch in sich. Wenn Sie behaupten, dass Tempo 30die Städte leiser, sauberer und für die Menschen sicherermacht, dann kann ich nicht verstehen, warum Sie, wennes um Entlastungsprojekte – auch im Schienenbereich –geht, die dafür sorgen, dass der überregionale Schwer-lastverkehr in den Städten verringert wird, Probleme se-hen und der Meinung sind, dass wir keine Umgehungs-straßen brauchen.Ich will es ganz deutlich sagen: Umgehungsstraßensind an erster Stelle für die Menschen gedacht.
Sie entlasten unsere Städte und sorgen für mehr Sicher-heit, nicht nur auf der Umgehungsstraße selbst, sondernauch in den Innenstädten, sowohl für Fußgänger undRadfahrer als auch für andere Verkehrsteilnehmer. Siesorgen außerdem dafür, dass der Schadstoffausstoß invertretbaren Grenzen bleibt.Wir, CDU/CSU und FDP, wollen Mobilität. Mobilitätist ein wichtiger Wachstumsfaktor in unserem Land. DieBürger wollen und die Bürger müssen heutzutage mobilsein. Unsere Pflicht ist es, dafür zu sorgen, dass den Bür-gern das möglich ist. Verkehrssicherheit, Ökologie undMobilität müssen keine Gegensätze sein. Die Kommu-nen gestalten in ihren Orten die notwendigen Regelun-gen dazu selbst. CDU, CSU und FDP sind die Bürger-parteien und die Kommunalparteien. Dabei bleibt es.Danke.
Vielen Dank, Kollege Volkmar Vogel.
Letzter Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Patrick Schnieder.
Bitte schön, Kollege Patrick Schnieder.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! DieDebatte heute im Rahmen der Aktuellen Stunde offen-bart doch einige besondere Befindlichkeiten und nötigtzu interessanten Feststellungen. Erstens. Ich bin erstauntdarüber, mit welchem Aufwand Sie, meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen von der SPD, versuchen, aus einemzunächst einmal ernstgemeinten Vorschlag jetzt nur nocheinen Prüfungsauftrag zu machen. Sie tun so, als ob mandas einfach einmal nebenbei überlegen und in dieDebatte werfen kann.
Sie, lieber Herr Bartol, zeihen uns des falschenVerständnisses dessen, was Sie vorgeschlagen haben.Zugleich ist Ihr Vorschlag eine Anklage gegen Ihren ei-genen Parteivorsitzenden und Ihren eigenen Fraktions-chef hier im Bundestag; denn sie haben das genauso wiewir verstanden und Ihnen gesagt, dass das ein Vorschlagist, der nicht machbar ist. Das müssen Sie zur Kenntnisnehmen.
Ich stelle zugleich sehr interessiert fest, dass es docheigentlich nicht darum geht, dass wir Tempo 30 dort an-ordnen, wo es die Sicherheit oder der Lärmschutz erfor-dern. Das können wir. Sie selbst haben die Zahlengenannt. In einigen Städten, auch in Großstädten, ist auf70 bis 80 Prozent der Verkehrswege Tempo 30 angeord-net. Interessant ist die Denke, die hier präsentiert wird.Es geht nämlich um das Verständnis von Verkehrspolitikund um das allgemeine Politikverständnis, das Sie mitdiesem Vorschlag an den Tag gelegt haben.Zunächst einmal scheren Sie alles über einen Kamm.Vollkommen undifferenziert soll überall zunächst einmalTempo 30 gelten. Wir wollen da, wo es möglich ist, flüs-sigen Verkehr garantieren. Wir wollen keine Schleich-verkehre in den Städten. Wir wollen aber da, wo es dieSicherheit gebietet, die Einrichtung von Tempo-30-Zonen ermöglichen. Wenn Sie auf den DeutschenStädte- und Gemeindebund gehört hätten, dann hättenSie festgestellt, dass wir gar nicht in der Lage sind,Tempo 30 überall dort zu kontrollieren, wo Sie es gerneanordnen würden. Der Kollege Volkmar Vogel hat zuRecht gesagt, dass das tatsächlich gefahrene Tempo ent-scheidend ist, und nicht das, das angeordnet wird, abernicht durchgesetzt werden kann.Zweitens. Sie offenbaren ein mittlerweile schon be-kanntes Verständnis von Verkehrspolitik, vor allem wasStraßenverkehr und Individualverkehr angeht. Sie behin-dern, Sie verhindern, Sie erschweren und Sie verzögernProjekte des Infrastrukturneubaus.
Sie wollen jetzt über eine solche Regelung Verkehre er-schweren.
– Lieber Herr Bartol, überall dort, wo Sie mit den Grü-nen zusammen regieren, in Nordrhein-Westfalen, inBaden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz und jetzt auchin Schleswig-Holstein, verhindern Sie Verkehrsinfra-strukturinvestitionen. Sie wollen Verkehre auf denStraßen verhindern. Der Vorschlag, den Sie hier gemachthaben, geht in dieselbe Richtung.
Deshalb hat der Verkehrsminister vollkommen recht:Wir wollen Mobilität ermöglichen und Mobilität fördern –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Juni 2012 22279
Patrick Schnieder
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in den Städten und überall da, wo wir flüssige Verkehrewollen und brauchen.Drittens. Auf Ihr Politikverständnis ist schon einge-gangen worden. Ich möchte das zusammenfassen. Siestehen mit Ihrem Vorschlag für Zentralismus und Bevor-mundung. Wir wollen Subsidiarität. Wir wollen keineBestrafung oder Erziehungsmaßnahmen für Autofahrer,sondern wir wollen, dass die Menschen vor Ort entschei-den, wie die Situation dort zu bewerten ist und welcheSchlüsse zu ziehen sind. Unsere Gemeinden vor Ortwissen am besten, wo sie Tempo-30-Zonen einzurichtenhaben und wo nicht.
Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen vonder SPD und den Grünen, mein Appell und meine Bitte:Wenden Sie sich doch bitte Themen zu, bei denen wirMobilität und Verkehrspolitik voranbringen und nichtMobilität verhindern. Wenden Sie sich doch nicht denBremserthemen zu, sondern den Themen, mit denen wirdie Zukunft für unser Land gut gestalten können und dieuns voranbringen.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Patrick Schnieder.
Damit sind wir nicht nur am Schluss unserer Aktuel-
len Stunde, sondern auch am Schluss unserer heutigen
Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 28. Juni 2012,
9 Uhr, ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist ge-
schlossen.