Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Der Zusatzpunkt 7, die von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP verlangte Aktuelle Stunde mit dem Titel„Konjunkturprognose bestätigt: Deutschland weiterhinim Aufschwung“, wird heute abgesetzt. Sind Sie damiteinverstanden? – Das scheint der Fall zu sein. Dann istdas so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 a und b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richt-linie der Europäischen Union– Drucksache 17/8682 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 17/9436 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff
Petra PauMemet Kilicb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten DanielaKolbe , Rüdiger Veit, PetraErnstberger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDProgramm zur Unterstützung der Sicherungdes Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Auf-enthaltsrechts– zu dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic,Tabea Rößner, Brigitte Pothmer, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENFachkräfteeinwanderung durch ein Punkte-system regeln– Drucksachen 17/9029, 17/3862, 17/9436 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff
Petra PauMemet KilicZu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt einEntschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt esWiderspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann istauch das beschlossen.Dann eröffne ich jetzt die Aussprache und erteile alserstem Redner dem Bundesinnenminister Dr. Hans-PeterFriedrich das Wort.
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Noch niemals zuvor waren so viele Menschen inDeutschland in sozialversicherungspflichtigen Arbeits-verhältnissen beschäftigt. Die Wirtschaft in unseremLande ist – trotz des schwierigen konjunkturellen undgesamtwirtschaftlichen Umfelds in der Welt und in Eu-ropa – leistungs- und wettbewerbsfähig. Wir müssen ge-meinsam dafür sorgen, dass das so bleibt.Da gibt es eine Reihe von Herausforderungen. Einedavon hat in dieser Woche eine besondere Rolle gespielt,auch bei der Kabinettssitzung: die demografische Ent-wicklung. Die Menschen in Deutschland werden weni-ger, vor allem die jungen Menschen werden weniger. EinRückgang der Zahl der Auszubildenden und Studenten
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heute bedeutet weniger Fachkräfte morgen. Wir brau-chen Fachkräfte: Schon heute haben wir in einigen Be-reichen die Situation, dass sich der Fachkräftemangelwachstumshemmend auswirkt.Deswegen hat sich die in dieser Woche vorgestellteDemografiestrategie auch mit der Frage beschäftigt: Wiekönnen wir unter diesen Bedingungen die Wettbewerbs-fähigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Wirt-schaft aufrechterhalten? Wichtigste Antwort: indem wirdafür sorgen, dass sich die Menschen entfalten können,dass das Potenzial, das wir im Lande haben, ausge-schöpft wird. Ich glaube, da sind wir alle in diesem Hausuns einig: Die Bildung unserer jungen Menschen, dieFort- und Weiterbildung, die Gestaltung einer Arbeits-welt, in der sich jeder optimal nach seinen persönlichenMöglichkeiten einbringen kann, das ist die wichtigsteAntwort überhaupt.
Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Menschen in die-sem Lande einbringen können, auch in die Gestaltungder Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft.
Zweitens. Deutschland ist attraktiv, als Land, als Le-bensstandort, als Arbeitsmarkt, attraktiv für viele jungeMenschen in Europa. Wir haben in Europa eine durchausheterogene Situation: Die Jugendarbeitslosigkeit in Spa-nien liegt über 45 Prozent, in Italien liegt sie über35 Prozent. In anderen Ländern, zum Beispiel Portugal,gibt es viele Hochschulabsolventen, die nach Arbeits-stellen, nach angemessener Beschäftigung suchen. De-nen sagen wir: Wir müssen Europa als eine gemeinsameEinheit sehen. Es muss innerhalb Europas selbstver-ständlich sein, von einem Land zum anderen zu ziehen,so wie es heute selbstverständlich ist, in Deutschlandvon einem Bundesland zum nächsten zu ziehen. DieseMöglichkeit müssen wir schaffen und attraktiv halten.Ich bin sehr froh, dass sich sowohl die Bundesanstaltfür Arbeit, Frau Kollegin von der Leyen, als auch die Ar-beitgeberverbände sehr bemühen, insbesondere den jun-gen, qualifizierten Menschen überall in Europa zu sagen:Ihr werdet gebraucht. Wir müssen gemeinsam dafür sor-gen, dass unser Euro, dass das Euro-Land wettbewerbs-fähig bleibt. Jeder junge Mann und jede junge Frau, deroder die sich in Deutschland in den Arbeitsmarkt ein-bringen kann, statt in Italien arbeitslos zu sein, ist eineEntlastung für den Euro, ist ein Beitrag zur Wettbe-werbsfähigkeit Euro-Lands.Drittens. Deutschland ist immer schon ein weltoffe-nes Land gewesen. Wir sind Exportweltmeister, keineFrage. Handel und Wandel rund um den Globus, das istschon immer – man kann fast sagen: seit Jahrhunderten –deutsches Prinzip gewesen. Es ist normal, dass junge,qualifizierte Menschen aus Deutschland ihr Glück in derWelt suchen. Von Kanada bis Australien gibt es deutscheMänner und Frauen, die ihr Glück suchen, und sie findenes auch. Umgekehrt wird es immer junge und auch alteMenschen geben, die ihr Glück in Europa, in Deutsch-land suchen wollen. Deswegen ist es notwendig undrichtig, dass wir uns um das Thema Bevölkerungswan-derung in der Welt kümmern.Heute geht es um die Frage: Wie gewinnen wir fürunser Land die Hochqualifizierten, die wir brauchen?Was können wir dafür tun, damit sie zu uns kommen?Erstens. Wir müssen sicherstellen, dass sie qualifiziertsind, also leistungsfähig, und dass sie auch Leistungbringen wollen. Zweitens. Wir müssen für attraktive Be-dingungen für ihre Lebensgestaltung sorgen, damit siezu uns kommen wollen. Deswegen kommt in der Umset-zung der Bluecard-Richtlinie der Europäischen Union,die wir heute beraten, deutlich zum Ausdruck: Wenn je-mand 45 000 Euro Gehalt geboten bekommt, dann istdas zum einen ein klares Zeichen dafür, dass er von ei-nem Arbeitgeber gebraucht wird, und zum anderen, dasser leistungsfähig ist; denn sonst würde man ihm ein sol-ches Angebot nicht machen. Bei Mangelberufen gehtman sogar von einem geringeren Mindestlohn von35 000 Euro aus, wobei das nicht heißt, dass dieser Min-destlohn der Preis ist, zu dem Ingenieure und Ärzte zuuns kommen, sondern es ist eine in der Richtlinie festge-legte Untergrenze; ich glaube, das muss man dazusagen.Was bieten wir den jungen Menschen, die zu unskommen? Wir bieten ihnen nach drei Jahren – bei guterIntegration nach zwei Jahren – eine unbefristete Nieder-lassungserlaubnis in Deutschland. Wir bieten ihnen – dasist in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehen –, dass sieihre Familien, ihre Frauen, ihre Männer, ihre Kinder,mitbringen können. Ich glaube, das ist ein wichtiges Kri-terium.
Ein Ingenieur aus Indien hat keine Lust, seine Kinder zu-rückzulassen und alleine nach Deutschland zu kommen.Deshalb müssen wir ihm eine entsprechende Perspektivebieten. Auch das ist im Gesetz vorgesehen.Wir haben im Gesetz also folgenden Dreiklang fürDeutschland vorgesehen: Geringqualifizierte erhalteneine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Hochqualifi-zierte erhalten nach drei Jahren, manche nach zwei Jah-ren, ein Aufenthaltsrecht und Niederlassungsrecht.Höchstqualifizierte – also Nobelpreisträger – unterliegenkeinen Einschränkungen; sie erhalten sofort die unbe-fristete Niederlassungserlaubnis.
Ich komme zu Ihren Anträgen, die sich mit demPunktesystem auseinandersetzen. Welche Systematik hatdas Gesetz, welche Systematik hat unser Ansatz? Wir sa-gen: Du kannst kommen, wenn du einen konkreten Ar-beitsplatz in Aussicht hast. – Mit dem Punktesystem, dasviele Experten diskutieren und loben und das in vielenLändern funktioniert, verfolgt man einen anderen An-satz: Wir holen Menschen, die bestimmte Eigenschaftenhaben, und geben ihnen für diese Eigenschaften Punkte.Die Frage ist, nach welchen Kriterien das geschieht. Ichhabe gelernt: Es gibt eine zentrale Planungskommission,die diese Kriterien festlegen soll. Wenn die Menschendie Punkte haben, dann kommen sie. Die in dieser Wo-che behandelte Demografiestrategie zeigt aber, dass das
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nicht bedeutet, dass die Menschen da hingehen, wo wirsie zwingend brauchen. Sie steigen erst einmal in Mün-chen, Stuttgart oder Frankfurt aus dem Flugzeug, unddann ist noch lange nicht gesichert, dass sie im Erzge-birge, im Bayerischen Wald oder im Harz, wo sie in denmittelständischen Unternehmen gebraucht werden, an-kommen.Deswegen ist für uns der entscheidende Ansatz: Fürdie Möglichkeit, hierherzukommen, muss ein konkreterArbeitsplatz mit einem bestimmten Mindesteinkommennachgewiesen werden. Wir steuern die Zuwanderungnach Deutschland also nicht durch eine zentrale Pla-nungskommission, sondern jeder Arbeitgeber, jeder, dereinen Betrieb unterhält und Fachkräfte braucht, hat dieMöglichkeit, diese Leute zu holen.
Das bedeutet natürlich nicht, dass der Mittelständlernur in der Welt herumfährt, zum Beispiel nach Ägyptenoder Indien, und nach Ingenieuren sucht, sondern dasmuss durch die Wirtschaft, die über ihre Verbände vieleinternationale Kontakte hat, organisiert werden. Zudemwollen wir die Möglichkeit schaffen, dass junge Männerund Frauen – damit sie nicht mit einem Drei-Monats-Touristenvisum hier herumfahren und nach einem Ar-beitsplatz suchen müssen – ein halbes Jahr Zeit haben,zu schauen, ob sie in diesem Land gebraucht werdenbzw. ob ihnen jemand ein Angebot macht und bereit ist,für das, was sie bieten und leisten können, 45 000 Eurozu zahlen. Es ist also ein sechsmonatiges Visum zur Ar-beitsuche vorgesehen. Auch das ist, glaube ich, einwichtiger Punkt in diesem Gesetz.
Ich komme zum letzten Punkt: Hochschulabsolven-ten. Wenn jemand in Deutschland mit deutschen Steuer-geldern eine Universität besucht hat, dort ausgebildetwurde, gut integriert ist, Deutsch kann und einen Hoch-schulabschluss hat, müssten wir verrückt sein, wenn wirdem sagen würden: Jetzt gehst du aber bitte wieder dahinzurück, wo du hergekommen bist. Vielmehr brauchenwir diese Leute. Wir wollen sie für unseren Arbeitsmarktauch haben. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir indiesem Gesetz auch Erleichterungen für diejenigen vor-sehen, die hier studiert und ihren Abschluss gemacht ha-ben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamtgeht es jetzt darum, dass auch die Arbeitgeber aktiv wer-den. Die Zeiten sind vorbei, in denen man alles auf demSilbertablett geliefert bekam. Vielmehr muss man etwastun. Man muss sich darum kümmern, dass man die Men-schen, die man für seinen Betrieb, für sein Unternehmenbraucht, auch bekommt. Wir schaffen die rechtlichenVoraussetzungen bzw. den Rahmen dafür. Ich denke,dass das ein guter Ansatz ist, und ich hoffe, dass diesesGesetz hier mit großer Mehrheit angenommen wird.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Fachkräftesicherung auch durch Zuwande-rung, das ist ein immer wichtiger werdendes Thema fürunsere Volkswirtschaft. Das hat auch die Koalition er-kannt. Dazu erst einmal herzlichen Glückwunsch – undfast noch mehr dazu, dass Sie sich bei diesem Thema tat-sächlich zusammengerauft haben.Zur Ehrlichkeit gehört aber dazu, dass Sie erst durchdie Bluecard-Richtlinie der Europäischen Union zumHandeln gezwungen worden sind. Sie haben AnfangMärz mit einem Jahr Verspätung ein Gesetz zur Umset-zung vorgelegt. Man kann sagen: Die EuropäischeUnion hat hier ein gutes Werk getan und Schwarz-Gelbzum Jagen getragen.
Ein Teil des Lobes geht also an die Europäische Union.Wenn man den Gesetzentwurf, der hier am 1. Märzberaten worden ist, mit dem heute hier vorgelegten Ge-setzentwurf vergleicht, kann man sagen: Glücklicher-weise hat das Struck’sche Gesetz Wirkung gezeigt. DasStruck’sche Gesetz – für die, die es nicht kennen – lau-tet: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es in ihnhineingekommen ist. Das hat dem Entwurf wirklich gut-getan. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist einanderer und besserer als der vom 1. März.
Bevor ich zum Gesetz selber komme, erwähne ich ei-nen mindestens genauso wichtigen, wenn nicht sogarnoch wichtigeren Aspekt: Es lohnt sich, die Wirkmäch-tigkeit dieses Gesetzes anzuschauen und sie einzuschät-zen. Was kann ein solches Gesetz beitragen, um denFachkräftemangel in unserem Land wirklich abzumil-dern? Wenn man Herrn Friedrich zuhört, hat man denEindruck, dass die gutqualifizierten Fachkräfte draußenvor dem Tor stehen und nur warten, dass die Bundesre-gierung endlich ein Gesetz einbringt, damit sie alle zuuns kommen können. Ich meine, dass die Erwartungen,die die Bundesregierung weckt, deutlich überzogen sind.Die Änderungen des bestehenden Zuwanderungsge-setzes sind moderat. Sie sind zum Großteil wirklich be-grüßenswert, aber eine Revolution ist das beileibe nicht.Um einem Fachkräftemangel vorzubeugen, wäre eswichtig, die Potenziale, die wir im Lande haben, zu he-ben, zum Beispiel im Bereich des Bildungssystems. HerrFriedrich, Sie haben dieses Thema zwar angesprochen,aber auf Aktivitäten, die dazu beitragen, dass in diesemLand wirklich jeder einen Schulabschluss macht, gege-benenfalls im zweiten oder dritten Anlauf, müssen wirlange warten. Im Gegenteil: Sie marschieren in die an-dere Richtung.
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Zur Vorbeugung eines Fachkräftemangels gehörtauch, die Potenziale der hier lebenden Migrantinnen undMigranten in den Blick zu nehmen. Man darf nicht im-mer nur auf die gut Ausgebildeten im Ausland schielen.
Auch in dieser Hinsicht gilt bei Ihnen bisher: kompletteFehlanzeige.
Noch wichtiger ist Folgendes: Wenn das Gesetz Wir-kung entfalten soll, wenn Hochqualifizierte wirklichnach Deutschland zuwandern sollen, dann brauchen wireine lebendige Willkommenskultur. Das wird auch vonIhnen häufig angesprochen.
Zu einer Willkommenskultur gehört aber mehr als einSektempfang für die neue Kollegin aus Kanada. Auf-grund dieses Gesetzes sollen Menschen aus der ganzenWelt zu uns kommen. Eine Willkommenskultur wäreeine Kultur, die Vielfalt als Bereicherung begreift, eineKultur, die Einwanderung als Bereicherung begreift, undzwar unabhängig von der ökonomischen Verwertbarkeitder Menschen, die zu uns kommen. Dabei geht es zumBeispiel auch um die Familienangehörigen. Es bedarf ei-ner Kultur, die Andersartigkeit als gleichwertig begreift.
Es bedarf einer Kultur weit ab von jeder Leitkultur-debatte.„Willkommenskultur“, das ist ein Wort, das geradeSie sehr häufig im Munde führen.
Wir werden das in der heutigen Debatte von Ihrer Seitenoch häufig zu hören bekommen.
Ehrlich gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen von derKoalition: Damit geben Sie wirklich ein reichlich schrä-ges Bild ab. Hier hören wir Willkommenskulturforde-rungen en masse. Auf der anderen Seite haben wir einenHerrn Kauder, der über den Islam dampfplaudert, dassman vor lauter Kopfschütteln ein Schleudertrauma be-kommt,
und einen Innenminister, der uns jenseits aller Fakten er-klärt, wie schlimm die muslimische Jugend sei, und alsWahlkampfhilfe für Sarkozy gleich die europäischenGrenzen innen und außen dichtmachen will. Hinzu kom-men unsägliche Debatten über die doppelte Staatsange-hörigkeit.
Das ist absurdes Theater, das hier zur Aufführungkommt.
Das Klima, das die Bundesregierung produziert, scha-det der Sache viel mehr, als drei solcher Gesetze wieder-gutmachen können. Ich finde, Herr Friedrich alleineschadet der Sache mehr, als es dieses Gesetz gutmachenkann. Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften nachDeutschland ist längst kein Selbstläufer mehr. Die gut-qualifizierten Menschen entscheiden selbst, ob sie nachDeutschland kommen wollen.Max Frisch sagte einst, als wir schon einmal Fach-kräfte nach Deutschland gerufen haben, den wunderba-ren und emotionalen Satz: Wir riefen Arbeitskräfte, undes kamen Menschen. – Wenn aus diesem Satz nicht wer-den soll: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kam nie-mand“, dann haben gerade Ihre Parteien noch ein ganzschön großes Stück Arbeit vor sich.
Wir beraten heute einen Gesetzentwurf, der sich seitder ersten Lesung verbessert hat. Es freut uns, dass derGesetzentwurf sich ein ganzes Stück dem SPD-Antraggenähert hat.
Der Gesetzentwurf sieht vor, die Situation für Bildungs-ausländer, gerade für Studierende aus Drittstaaten undAzubis, zu verbessern
– natürlich; lesen Sie unseren Antrag – und ihre Arbeit-suche in Deutschland zu erleichtern. Grundsätzlich posi-tiv ist, dass eine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsu-che eingeführt wird. Wir hätten gerne ein Punktesystemzur Zuwanderung eingeführt bzw. ein entsprechendesModellprojekt aufgelegt, weil ein solches Modell aus an-deren Ländern bekannt
und potenziellen Zuwanderern daher leichter zu vermit-teln ist. Ein solches Modell sendet das ganz klare Signalaus, dass wir Einwanderung wollen. Die von Ihnen vor-gesehene Erlaubnis zur Arbeitsuche ist aber ein Schrittin die richtige Richtung.Ausdrücklich loben möchte ich, dass Sie einen ganzpragmatischen Vorschlag aus unserem Antrag übernom-men haben, nämlich dass ein Antrag auf Vorrangprüfungfür einen Arbeitnehmer, der bereits einen Arbeitsplatz inDeutschland gefunden hat, nach einer gewissen Zeit alsgenehmigt gilt,
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auch wenn die zuständige Behörde noch nicht beschie-den hat. Genau diese Prüfung ist in der Tat für vieleUnternehmen und viele Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer ein ganz langwieriges Prozedere, das sie nichteinschätzen können. Daher stellt sie ein großes Hinder-nis bei der Zuwanderung dar. Diese Entscheidungs-fiktion ist richtig. Sie setzen dafür einen Zeitraum vonzwei Wochen an. Das ist aus unserer Sicht allerdings einwenig zu kurz. Insgesamt haben wir also relativ vielÜbereinstimmung hinsichtlich des Gesetzentwurfs.In einem Punkt widersprechen wir aber, und dieserbetrifft das Herz Ihres Gesetzentwurfs: die Umsetzungder Bluecard-Richtlinie. Es geht um die Frage, wie vielein Zuwanderer mindestens verdienen muss, um eineBluecard zu erhalten. Für Mangelberufe schlägt die Bun-desregierung eine Schwelle von etwa 34 000 Euro Jah-resverdienst vor. Da können wir aus zwei Gründen nichtmitgehen:Erstens ist dies europarechtswidrig niedrig. Ich habedas in der ersten Lesung hier vorgetragen, und in der An-hörung wurde dem wenig Stichhaltiges entgegengesetzt.Ich möchte uns warnen, ein Gesetz, das möglicherweiseeuroparechtswidrig ist, zu verabschieden.Zweitens ist diese Schwelle arbeitsmarktpolitisch zuniedrig. Wir sprechen über Fachkräfte, über Ingenieure,über Physikerinnen und Physiker, über Mathematikerin-nen und Mathematiker. 34 000 Euro Jahresgehalt bedeu-tet in diesen Branchen auch für BerufseinsteigerLohndumping. Zum Vergleich: Das Einstiegsjahresge-halt im öffentlichen Dienst beträgt in TVöD 13 etwa40 000 Euro. Damit wir uns nicht falsch verstehen: DieSPD will qualifizierte Zuwanderung, aber wir wollenkein Lohndumping.
Ich fasse zusammen: Der Gesetzentwurf geht in dierichtige Richtung. Er enthält viele positive Aspekte. Dieangesetzte Mindestverdienstgrenze halten wir jedochpolitisch und rechtlich für zu niedrig angesetzt. Deshalbwerden wir uns in der Abstimmung über den Gesetzent-wurf enthalten. Damit dieses Gesetz, dem wir in derGrundintention zustimmen, wirklich wirkt, damit alsoqualifizierte Menschen nach Deutschland kommen,muss sich an ganz anderer Stelle etwas ändern. Zuge-wanderte müssen wissen, dass sie – das muss gelebteRealität sein – in deutschen Unternehmen, Behörden undauf der Straße erwünscht und willkommen sind undwertgeschätzt werden. Bis wir diese Haltung durchge-setzt haben, ist es noch ein weiter Weg, gerade für dieseKoalition.Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Volker Kauder.
Frau Kollegin Kolbe, Sie hatten wohl den Eindruck,Sie müssten eine Aussage von mir in einer Art undWeise qualifizieren, die ich in aller Form zurückweise.Bevor Sie eine solche Qualifizierung vornehmen, solltenSie einmal ein bisschen nachdenken.
Ich habe wörtlich gesagt, dass der Islam nicht zuDeutschland gehört, dass aber Muslime zu Deutschlandgehören.
Diese Aussage wurde von prominenten Personen unter-stützt, die Sie ebenfalls der Dampfplauderei bezeichnen,obwohl sie geistig wahrscheinlich schon mehr geleistethaben, als Sie aufgrund Ihres Alters bisher leisten konn-ten.
– Sie alle sollten die neueste Ausgabe von Cicero lesen,in der sehr schön beschrieben wird, dass es in dieser Re-publik einige gibt, die meinen, wir seien eine Recht-haberrepublik.
Ich habe das Recht, meine Meinung klar und deutlich zuformulieren.Jetzt möchte ich noch etwas sagen, und zwar in allerRuhe. Wissen Sie, auch das zeichnet Leute, die so argu-mentieren wie Sie, aus: Sie nehmen für sich in An-spruch, die Wahrheit zu sagen, aber hören anderen garnicht mehr zu. Das ist nicht in Ordnung; das muss maneinmal klar und deutlich sagen.
Meine Aussage wurde von Martin Mosebach, Dampf-plauderer, Monika Maron, Dampfplauderer, und HeinerGeißler unterstützt.
Dass die Zustimmung in der Bevölkerung riesengroß ist,wird Sie wahrscheinlich nicht erstaunen. Ich möchtetrotzdem noch einmal klar und deutlich sagen: Dass derIslam nicht zu Deutschland gehört, hat etwas mit Tradi-tion und Identitätsbildung in diesem Land zu tun. DieMenschen gehören zu uns. Von dieser Aussage habe ichnichts zurückzunehmen.
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Zur Erwiderung, bitte, Frau Kolbe.
Sehr geehrter Herr Kollege Kauder, nichts liegt mir
ferner, als Ihnen Ihr Recht auf freie Meinungsäußerung zu
nehmen. Ich nehme mir jedoch das Recht heraus – auch in
meinem jungen Alter, auf das ich sehr stolz bin –,
Sie darauf hinzuweisen, dass Ihre Aussagen natürlich
auch eine Wirkung entfalten. Sie können sagen, was Sie
wollen. Aber: Sie sind Vorsitzender einer großen – leider
der größten – Fraktion dieses Hauses. Sie haben mit Ih-
ren Aussagen einen gravierenden Einfluss auf die Stim-
mung in diesem Land, auf das Zusammenleben in die-
sem Land. Ich möchte diesen Hinweis auch an Herrn
Friedrich adressieren, der im Hinblick auf die Studie zu
jungen Muslimen in diesem Land Aussagen getroffen
hat, die für unser Zusammenleben schädlich sind.
Das ist für die Menschen, die hier leben, ein Problem,
und es ist im Zusammenhang mit der Zuwanderung qua-
lifizierter Fachkräfte ein Problem. In ein Land, in dem
man immer wieder als andersartig bezeichnet wird,
möchte man eben nicht gerne einwandern. In Ländern, in
denen jeder, welcher Religion auch immer er oder sie an-
gehört, herzlich willkommen ist, aufgenommen wird und
leben darf, wie er oder sie es möchte,
ist das eine ganz andere Geschichte. Fahren Sie einmal
in die USA – Sie waren sicherlich schon dort –, und
überlegen Sie, warum so viele Menschen gerade in die-
ses Land, das die rigideste Einwanderungspolitik macht,
wollen.
Jetzt fahren wir in der Debatte fort. Das Wort hat derKollege Hartfrid Wolff von der FDP-Fraktion.
Hartfrid Wolff (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichglaube, es ist sinnvoll, dass wir zum Thema zurückkom-men.
Es ist nämlich nicht ganz von der Hand zu weisen, dassdie Sozialdemokraten den großen Erfolg der Koalitiongerade in diesem Bereich niederreden wollen, indem sieeinen Nebenkriegsschauplatz eröffnen.
Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist, die Chan-cen der Zuwanderung für unser Land besser zu erschlie-ßen und den Zusammenhalt unserer durch Zuwanderungbereicherten Gesellschaft zu stärken. Wenn wir heute ge-meinsam den vorliegenden Gesetzentwurf der Koali-tionsfraktionen verabschieden, dann vollenden wir dashochambitionierte Programm, das wir uns in der christ-lich-liberalen Koalition vorgenommen haben.
Am Anfang dieser Wahlperiode, im Herbst 2009,habe ich an dieser Stelle gesagt: Deutschland verändertsich. Die neue Bundesregierung wird diese Veränderunggestalten. Migration und Integration stellen Deutschlandvor neue Herausforderungen. Sie bieten aber auch neueChancen. Die Koalition hat sich auf eine konsequenteSteuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eineaktive Integrationspolitik geeinigt.Heute wird diese neue Zuwanderungssteuerung imBundestag verabschiedet. Wir verbinden die wirksameIntegration mit der aktiven Steuerung von Zuwanderung,ökonomische Vernunft und Fairness, Offenheit und Klar-heit, Fördern und Fordern. Dieser rote Faden zieht sichdurch die christlich-liberale Integrations- und Migra-tionspolitik.Man schaue sich die schon erreichten Erfolge an: Wirhaben die Visa-Warndatei eingeführt. Wir erleichtern soden für ein weltoffenes Industrieland wie Deutschlandunverzichtbaren internationalen Reiseverkehr und stär-ken zugleich die Sicherheit unseres Landes, ohne aus-ufernde Datenerfassung und unter Wahrung der Bürger-rechte.
Wir haben den Einstieg in eine dauerhafte bundesge-setzliche Bleiberechtsregelung geschaffen. Erstmals wurdefür minderjährige, heranwachsende geduldete Ausländerein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Blei-berecht in einem Bundesgesetz geschaffen. Das ist huma-nitäre Rechtssicherheit.Wir haben die Übermittlungspflichten zugunsten vonKindern abgeschafft und die Residenzpflicht für dieAusbildung und Bildung gelockert.Wir haben die Stabilisierungszeit für Opfer von Men-schenhandel auf drei Monate ausgedehnt und sind damiteinem Petitum von Opferverbänden und der Polizei ge-folgt.Wir haben die Bedingungen für die Abschiebehaft si-gnifikant verbessert.Und wir haben ein eigenständiges Wiederkehr- undRückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangsver-heiratungen geschaffen und den eigenständigen Straftat-bestand der Zwangsheirat eingeführt. Das ist aktiver Op-ferschutz, verbunden mit dem klaren Appell, unserefreiheitliche Werteordnung zu achten.
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Andere reden, meine Damen und Herren, wir habenes gemacht. Die Koalition aus Union und FDP hat tat-sächlich eine neue Zuwanderungs- und Integrationspoli-tik auf den Weg gebracht, die sich vom ideologischenBallast links-rot-grüner Utopien befreit hat.Eine effiziente und interessengeleitete Steuerung vonZuwanderung ist das Gebot der Stunde. Statt bürokrati-sche Hemmnisse aufzubauen, wollen wir die Zuwande-rung sinnvoll und interessengeleitet steuern. Die EU-Richtlinie zur Zuwanderung von Hochqualifizierten undzur Blauen Karte bietet jetzt Anlass, den nächsten, wei-tergehenden Schritt zur Umsetzung des Konzepts derKoalition zu tun, und wir gehen deutlich über die Richt-linie hinaus.Die Einstellung von ausländischen Hochqualifiziertenund Fachkräften sorgt für weitere Investitionen in Ar-beitsplätze und ist für die Wettbewerbsfähigkeit unsererUnternehmen wichtig.
Deutschland braucht qualifizierte Fachkräfte, For-scher und Entwickler und auch Unternehmer aus demAusland. Diese brauchen klare, transparente und einfa-che Regeln. Diese schaffen wir mit dem vorliegendenGesetz.Wichtig ist zudem, dass im Ausland für den Ausbil-dungs-, Forschungs- und Wissenschaftsstandort Deutsch-land geworben wird. Auch deshalb müssen die aufent-halts- und arbeitsmarktrechtlichen Hürden zum Beispielfür Studenten aus Drittstaaten oder eben auch für Hoch-qualifizierte deutlich abgebaut werden. Dabei stehen dieEU-Mitgliedstaaten gegenseitig in einem starken Wett-bewerb um die klügsten Köpfe. Diesen Wettbewerb neh-men wir heute mit einer verbesserten Zuwanderungs-steuerung auf.Wir werden mit dem vorliegenden Gesetzentwurf dieZuwanderung von Hochqualifizierten entbürokratisie-ren, beschleunigen und vereinfachen. Wir wollen zu-gleich zusätzliche Integrationsanreize schaffen. Wir mo-dernisieren das deutsche Zuwanderungsrecht und passenes den Bedürfnissen einer global vernetzten Gesellschaftan. Schnelle behördliche Entscheidungen schaffen Klar-heit. Dabei achten wir darauf, dass die Öffnung fürHochqualifizierte nicht missbraucht wird.Zusätzlich zielt der Gesetzentwurf darauf ab, dieMöglichkeiten zur Beschäftigungsaufnahme von auslän-dischen Absolventen deutscher Hochschulen und dendauerhaften Zuzug von Fachkräften, für die auf demdeutschen Arbeitsmarkt ein Bedarf besteht, zu erleich-tern. Die bürokratische Vorrangprüfung entfällt in we-sentlichen Bereichen.Um den dauerhaften Zuzug von Hochqualifiziertennach Deutschland attraktiver zu gestalten, senken wir dieGehaltsschwelle deutlich. Für Beschäftigte aus Mangel-berufen ist der Zuzug signifikant vereinfacht worden.Entscheidend ist zudem: Wir schaffen den Paradig-menwechsel in der Arbeitsmigration. Wir kommen aus-länderrechtlich von einer Nachfrage- hin zu einer Ange-botsorientiertheit. Der befristete Zuzug zur Arbeitsuche,also ohne bestehenden Arbeitsvertrag, ist ein wesentli-cher Schritt, der dies deutlich macht.
Anders als es manchmal in der Öffentlichkeit darge-stellt wird, hat diese Koalition zu einem sehr konstrukti-ven und sehr fortschrittlichen Verhandlungsprozess inder Zuwanderungspolitik gefunden. Lieber ReinhardGrindel, wir machen noch weiter, nicht?
Diese Koalition hat einen entscheidenden Kurswechselin der Zuwanderungspolitik umgesetzt: mit Fördern undFordern, ohne ideologische Scheuklappen, integrations-und arbeitsmarktorientiert.
Die Koalition setzt Zug um Zug eine konsequenteSteuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eineaktive Integrationspolitik um. Wir wollen eine neue Kul-tur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungenauf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen undPerspektiven eröffnet.
Wir halten es nicht, wie die Grünen oder die Linken,für unzumutbar, Deutsch zu lernen, sondern wollen An-reize dafür setzen.
Statt des Verzichts auf Integrationsanforderungenmuss Deutschland in der Integrationspolitik endlichpositiv und aktiv denken. Ich erwarte – Frau KolleginAndreae, das ist damit gemeint –, dass wir durch service-orientierte Behörden auch im Vollzug vor Ort, zum Bei-spiel bei Frau Öney in Baden-Württemberg, die in unse-rem Gesetz angelegten Anforderungen in täglich gelebteWillkommenskultur umsetzen.
Meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft, dieganze Nation, wird durch Zuwanderung bereichert. Wis-sen ist längst international. Arbeit ist längst internatio-nal. Forschung und Entwicklung machen eben nicht vorGrenzen halt. Die deutsche Wirtschaft ist auf allenMärkten der Welt aktiv. Der Arbeitsmarkt für Fachkräfteist längst international. Zuwanderung von Hochqualifi-zierten schafft Arbeitsplätze und weitet gesellschaftlichden Horizont.Deutschland verändert sich. Wir gestalten mit derchristlich-liberalen Bundesregierung diese Veränderun-gen – ohne ideologischen Ballast und vorurteilsfrei.
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Jetzt hat der Kollege Jörn Wunderlich von der Frak-
tion Die Linke das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Um eines vorweg klarzustellen: Die Linke warschon immer für Einwanderungserleichterungen, aller-dings nicht, wie es in dem vorliegenden Gesetzentwurfvorgesehen ist, ausschließlich nach Nützlichkeitserwä-gungen der reichen Industrienationen,
sondern im Sinne von Menschenrechten und im Inte-resse der Menschen. Wir möchten keine Politik unter-stützen, die Menschen zu trennen versucht nach denen,die uns nützen, und denen, die uns vermeintlich ausnüt-zen.Manchmal habe ich den Eindruck, dass dieses Anwer-ben von Fachkräften aus dem Ausland schon so ein biss-chen in die Nähe von Neokolonialismus kommt.
Wir bedienen uns nicht nur der Rohstoffe von Drittlän-dern, sondern auch ihres „Humankapitals“, wie es einSachverständiger in der Anhörung am Montag aus-drückte; ein Wort, das ich ausgesprochen schrecklichfinde; es war im Übrigen auch Unwort des Jahres 2004.Neben diesen grundsätzlichen Bedenken gibt es im De-tail weitere Defizite im Gesetzentwurf. Ich möchte aufzwei eingehen:Zunächst – das ist schon angesprochen worden – diemangelhafte Umsetzung der EU-Richtlinie in einem zen-tralen Punkt. Ich sage Ihnen: Die Berechnung der Ge-haltsschwellen für Fachkräfte aus dem Ausland unterEinbeziehung der Löhne von Menschen in Teilzeit undin prekärer Beschäftigung verstößt eindeutig gegen dieEU-Vorgaben.
Das haben in der Anhörung am Montag auch gleich dreiSachverständige bestätigt.
Die anderen haben sich dazu nicht konkret geäußert.Nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie muss die Erteilung derBluecard davon abhängig gemacht werden, dass die Ge-haltshöhe dem 1,5- bzw. 1,2-Fachen des durchschnittli-chen Bruttojahresgehalts des betreffenden Mitgliedstaa-tes, also in diesem Fall Deutschland, entspricht. Das istdas Mindestniveau.Ich unterstelle einfach einmal, dass die Bundesregie-rung weiß, dass sie die Richtlinie in diesem Punkt falschumsetzt. Wie anders ist zu erklären, dass im Gesetzent-wurf jede nachvollziehbare Darlegung der Berechnungdes Bruttojahresgehalts fehlt? Selbst auf Nachfrage mei-ner Fraktion wurden die Zahlen verweigert. Das wundertnicht; denn selbst wenn man die Zahlen der volkswirt-schaftlichen Gesamtrechnung zugrunde legt – dies ist janach Auskunft von unserem Staatssekretär Ole Schröderdie einzig mögliche und von der Bundesregierung ge-wählte Bezugsgröße –, werden die Vorgaben der Richtli-nie nicht erfüllt. Wir müssen auch nicht groß rechnen,um den Trick der Bundesregierung zur möglichst effekti-ven Absenkung der Mindestgehaltsschwelle zu durch-schauen. Dieser besteht, wie gesagt, darin, nicht nur dieGehälter der Vollzeitbeschäftigten heranzuziehen, son-dern auch die Löhne von Teilzeit- und geringfügig Be-schäftigten, Minijobbern, Schülern, Rentnern mit Aus-hilfstätigkeiten usw.Ich bitte Sie: Es geht hier um die Beschäftigung vonHochqualifizierten, und Sie berechnen deren Mindestge-halt mithilfe der häufig nicht einmal existenzsicherndenLöhne in prekären Beschäftigungen, für deren zahlen-mäßige Vermehrung Sie im Übrigen verantwortlich sind!Wenn Hochqualifizierte teilzeitbeschäftigt werden sol-len, finde ich das okay. Dann können sie sich mehr umdie Familie kümmern; ich bin ja auch Familienpolitiker.Dann ziehen Sie aber auch nur für diese die Löhne derTeilzeitbeschäftigten heran.Warum bezieht sich die Bundesregierung nicht auf dieZahlen von Eurostat, wie es in der Richtlinie vorgesehenist? Einfach deshalb, weil sich diese Zahlen auf Vollzeit-arbeitskräfte beziehen. Das Statistische Bundesamt hatEurostat deshalb zuletzt einen Wert von 42 100 EuroBruttojahresgehalt geliefert. Das anderthalbfache davonsind 63 150 Euro. Das müsste nach der Richtlinie dasMindestgehalt sein. Das sind aber fast 20 000 Euromehr, als von der Bundesregierung vorgesehen. Sehen-den Auges nimmt diese Regierung lieber ein Vertrags-verletzungsverfahren in Kauf, als von dem durchsichti-gen Versuch, die Löhne zu drücken, abzulassen. Zu denmaßgeblichen Hintergründen wird nachher meine Kolle-gin Krellmann noch Stellung nehmen.Der zweite Punkt betrifft die Verhinderung des soge-nannten Braindrain, also des Talentschwunds in denLändern, aus denen die Fachkräfte kommen. Auf dieFrage, ob eine Verordnung geplant ist – das ist ja vorge-sehen –, um ein Ausbluten der Herkunftsländer bezüg-lich der von ihnen ausgebildeten Fachkräfte zu verhin-dern, und welche Kriterien eine solche Verordnung oderListe haben müsste, konnte die Bundesregierung amMontag in der Anhörung keine Antwort geben. Viel-leicht kann im Verlauf dieser Debatte noch jemand dazuAuskunft geben. Denn ansonsten gehe ich davon aus,dass es eine solche Verordnung nicht geben wird unddiese Bestimmung ein bloßes Feigenblatt darstellt. Aberselbst wenn es eine solche Vorschrift geben sollte, be-stünde nach wie vor noch die Möglichkeit, Fachkräfteüber § 18 Aufenthaltsgesetz einwandern zu lassen, ohneauf die möglichen negativen Folgen in den Herkunfts-ländern zu achten.Von all dem abgesehen gilt – das ist schon angespro-chen worden; Sie und ich wissen das auch –, dass dieFachkräfte im Ausland, egal welche Gesetze wir hier er-lassen, gewiss nicht nach Deutschland strömen werden,
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Jörn Wunderlich
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solange wir ein gesellschaftliches Klima haben, welchesnicht gerade der Migration zuträglich ist.
Wir konnten es gerade wieder live erleben, was für einKlima hier in Deutschland herrscht. Hören Sie endlichauf, von Integrationsverweigerern und Einwanderern indie Sozialsysteme zu schwadronieren! Wenn das aufhört,würde das die Bereitschaft von Fachkräften, nachDeutschland zu kommen, in der Tat fördern. Dann könn-ten wir wirklich eine vernünftige Einwanderungspolitikmachen.
Diesen Gesetzentwurf müssen wir ablehnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Memet Kilic von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Zuwanderungsgesetz hat sich zu einemParagrafendschungel entwickelt. Anstatt den Paragra-fendschungel zu lichten, wurschtelt die Bundesregierungdarin weiter und erreicht nur eine Verdunkelung.Die Bundesregierung hat in der ersten Plenardebattezur Hochqualifizierten-Richtlinie reumütig angekün-digt, ihren mangelhaften Gesetzentwurf zu verbessern.Allerdings hat sie mit ihren Änderungen nur für mehrVerwirrung und weniger Transparenz gesorgt. Die Ein-wanderungsmöglichkeiten für Hochqualifizierte hat sieteilweise sogar verschlechtert. Der Teufel steckt hier imDetail, Herr Bundesinnenminister.
Spezialisten und leitende Angestellte sollen in Zu-kunft nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis für dreiJahre erhalten. Bisher haben diese Personen eine Nieder-lassungserlaubnis, also ein unbefristetes Aufenthalts-recht, bekommen. Glaubt die Bundesregierung ernsthaft,dass sie mit einem befristeten Aufenthaltsrecht die klu-gen Köpfe aus dem Ausland locken kann? Denken Siewirklich, dass diese Leute mit einer befristeten Aufent-haltserlaubnis ihre Zukunft in Deutschland planen wer-den? Natürlich werden sich die Hochqualifizierten liebereinen Staat aussuchen, der ihnen einen sicheren Aufent-haltsstatus gibt. Die Bundesregierung verpasst hier lei-der Chancen. Das geht nicht an.
Der Regierungsvorschlag, die Vergabe einer unbefris-teten Aufenthaltserlaubnis für Hochqualifizierte von denDeutschkenntnissen abhängig zu machen, ist fatal. EinInformatiker, für dessen Tätigkeit die englische Spracheentscheidend ist, sollte nicht aufgrund geringer deut-scher Sprachkenntnisse ausgeschlossen werden. Ansons-ten kann Deutschland nur noch auf die klugen Köpfe ausÖsterreich und der deutschsprachigen Schweiz hoffen.Allerdings verlieren wir gerade selbst hochqualifizierteFachkräfte an diese Nachbarstaaten. Das ist doch hirnris-sig, meine Damen und Herren.
Die Frist für die Umsetzung der Bluecard-Richtlinielief am 19. Juni letzten Jahres aus. Die Bundesregierungist nicht nur im Verzug, sondern setzt manche Vorgabender europäischen Richtlinie gar nicht um. Ein Beispieldafür ist die Festlegung der Gehaltsgrenze für hochquali-fizierte Fachkräfte. Diese bemisst sich nach dem Gesetz-entwurf der Bundesregierung an der Beitragsbemessungs-grenze der allgemeinen Rentenversicherung. Hierzu istzum einen festzustellen, dass wir in Deutschland zweiBeitragsbemessungsgrenzen haben, nämlich für Ost undWest, und zum anderen, dass die europäische Richtlinievorschreibt, dass die Gehaltsgrenze sich am durch-schnittlichen Bruttojahresgehalt im jeweiligen Landorientieren muss. Sie haben insofern einen mangelhaftenGesetzentwurf vorgelegt, den Sie lieber zurückziehensollten. Wer die Blaue Karte EU so schlecht und schlam-pig umsetzt wie die Bundesregierung, der verdient nureine Rote Karte, meine Damen und Herren.
Schwarz-Gelb beschränkt den Kreis der Begünstigtenauf Hochschulabsolventen. Menschen mit langjährigerBerufserfahrung, deren Niveau mit einem Hochschulab-schluss vergleichbar ist, werden nicht berücksichtigt.Das sorgt für Streit innerhalb der Koalition. Der Gesund-heitsminister Daniel Bahr gibt sich mit den geplantenÄnderungen nicht zufrieden. Er fordert, die Einwande-rungsbedingungen für Pflegekräfte zu lockern. Währendsich die Koalition streitet, entgeht uns das großen Poten-zial an Fachkräften. Wenn die Bundesregierung es ernstmeint mit der Anwerbung von klugen Köpfen aus demAusland, muss sie endlich umdenken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fasse zusam-men: Bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung istder große Wurf leider ausgeblieben.
Trippelschritte im Zuwanderungsrecht reichen nicht aus,zumal es auch teilweise Rückwärtsschritte sind. Der Ge-setzentwurf ist nicht nur kleinteilig und bürokratisch,sondern enthält sogar Vorschriften zur Verschärfung derderzeitigen Rechtslage. Insgesamt ist dieses halbherzigeVorgehen ein falsches Signal an diejenigen Fachkräfte,denen man angeblich attraktive Einwanderungsbedin-gungen bieten möchte.Im Gegensatz zur Bundesregierung arbeiten wir kon-struktiv. Deshalb haben wir zu unseren Kritikpunkten ei-nen sinnvollen und lösungsorientierten Entschließungs-antrag eingebracht. Hier kann die FDP endlich über
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20888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Memet Kilic
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ihren eigenen Schatten springen, eine letzte gute Tat tunund unserem Antrag zustimmen.Wir müssen dringend das deutsche Einwanderungs-recht grundlegend und umfassend reformieren. Die Leit-gedanken sollten dabei sein: erstens Vereinfachung,zweitens mehr Systematik und Transparenz sowie drit-tens weniger Bürokratie. Das kann man am besten mitder Schaffung eines sogenannten Punktesystems reali-sieren. Dazu haben wir bereits einen Antrag eingebracht,der heute auch zur Abstimmung steht. Neben dem DGB,den Arbeitgeberverbänden und der Wissenschaft strebenauch SPD und FDP ein Punktesystem an. Die Linkespielt dabei mit der Union die Dagegenpartei und blo-ckiert die notwendige Modernisierung. Dafür bekom-men beide null Punkte.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Grindel von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Kolbe, Sie haben es für notwendig erach-tet, diese Debatte zu einem Angriff auf unseren Frak-tionsvorsitzenden zu nutzen.
Ich finde, Sie sollten darüber nachdenken, ob man nichtausländische Mitbürger auch dadurch verunsichert, dassman Äußerungen des politischen Gegners bewusst fehl-interpretiert.
Unsere Mitbürger muslimischen Glaubens gehören zuuns und zu unserem Land. Wir führen mit ihnen den Dia-log.
Aber wer den Dialog führt, der muss seine eigene Identi-tät, seine eigene Geschichte und seine eigene Herkunftkennen. Sonst kann kein ehrlicher Dialog geführt wer-den.
Dazu hat sich Volker Kauder geäußert. Sie sollten nichtmit Fehlinterpretationen unsere ausländischen Mitbürgerverunsichern und damit politische Spielchen treiben. Soerreichen Sie genau das, was Sie meinten, Volker Kaudervorwerfen zu müssen. Das ist nicht in Ordnung, FrauKollegin.
Mit unserem Gesetzentwurf kommen wir einem im-mer wieder gerade auch von der Wirtschaft vorgetrage-nen Wunsch nach, nämlich den Zugang von ausländi-schen Fachkräfte zu erleichtern, ohne allerdings auf einenotwendige Steuerung der Zuwanderung zu verzichten.Wir beseitigen bürokratische Hürden und erleichtern esden Unternehmen gerade aus dem Mittelstand, gegenden Fachkräftemangel anzugehen.Ich will jedoch gleich eines festhalten: Beim Kampfum die klugen Köpfe reicht es nicht aus, allein für einetransparente und nachvollziehbare rechtliche Grundlagezu sorgen. Jetzt ist die Wirtschaft gefragt, selbst substan-zielle Beiträge zu leisten und Deutschland attraktiver fürkluge Köpfe zu machen, die aus aller Welt zu uns kom-men sollen. Eines müssen wir uns ja vor Augen führen:Leider verlassen Deutschland immer noch mehr Fach-kräfte, als neue zu uns kommen. Das kann ersichtlichnicht am Ausländerrecht liegen.
Seit der Öffnung der Grenzen für Arbeitskräfte aus denzehn neuen EU-Beitrittsländern sind gerade einmal60 000 Arbeitnehmer aus diesen Staaten zu uns gekom-men. Mit bis zu einer halben Million hatte man gerech-net. Deutschland muss insgesamt attraktiver werden.Das geht über die rechtlichen Rahmenbedingungen hi-naus.Ausländischen Fachkräften muss schlicht und ergrei-fend eine bessere Bezahlung angeboten werden. Auslän-dische Studienabsolventen, in die wir gerade viel inves-tiert haben, dürfen nicht mit Praktika oder kurzfristigenZeitverträgen abgespeist werden, sondern sie müsseneine ordentliche Anstellung bekommen. Und unsere Un-ternehmen müssen mehr in die Sprachkompetenz ihrerMitarbeiter investieren. Das ist genau das, was wir mitWillkommenskultur meinen. Es müssen diejenigen, dienicht zuletzt zu unserem Wohlstand beitragen, die not-wendigen Rahmenbedingungen vorfinden, um sich inunserem Land wohlfühlen zu können.
Ich will deutlich hervorheben, dass die Koalitions-fraktionen substanzielle Veränderungen des ursprüngli-chen Gesetzentwurfs der Bundesregierung vorgenom-men haben. Unsere Änderungen haben das Gesetz bessergemacht. Das ist uns in einer bei dieser ausländerrechtli-chen Thematik ungewöhnlichen Breite von den Sachver-ständigen bei der Anhörung am Montag bestätigt wor-den. Deswegen wird sich die SPD, auch wenn man esnach der Rede von Frau Kolbe kaum glauben kann,heute hier wie im Innenausschuss enthalten.Wenig Verständnis habe ich angesichts dieser Diskus-sionslage dafür, dass ausgerechnet der Deutsche Indus-trie- und Handelskammertag größter Kritiker unseres
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Reinhard Grindel
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neuen Gesetzes ist, noch dazu mit Argumenten, die vonSachkenntnis völlig ungetrübt sind. Ich will hier einesdeutlich betonen: Es wäre auch Aufgabe des DIHK mitseinen Außenhandelskammern gewesen, also den Ver-tretungen in den Ländern, in denen die klugen Köpfesind, die zu uns kommen sollen, mehr zu tun, um Fach-kräfte für den Arbeitsplatzstandort Deutschland zu inte-ressieren. Da hat es in der Vergangenheit erhebliche Ver-säumnisse gegeben. Ich rufe uns alle auf, Politik, aberauch Wirtschaft, gemeinsam mehr zu tun, wo immer wirkönnen, gerade auch im Ausland, um dafür zu werben,hier in Deutschland sein Glück zu machen und hier sei-nen Arbeitsplatz zu wählen. Die notwendigen Rahmen-bedingungen haben wir dafür jetzt geschaffen.
In Zukunft gibt es einen einheitlichen Aufenthaltstitelfür ausländische Fachkräfte. Wer sagt, lieber Herr Kol-lege Kilic, wir hätten den Dschungel noch vergrößert,
der rennt als Schwarzmaler mit einer Sonnenbrille durchden Dschungel. Das kann man so nicht stehen lassen.Nach drei Jahren Beschäftigung gibt es jetzt für alle eineNiederlassungserlaubnis. Wir glauben, dass man in derTat von einer Integration in den Arbeitsmarkt ausgehenkann. Wenn der betroffene ausländische Arbeitnehmerbesonders gute Deutschkenntnisse nachweist, dann kanner schon nach zwei Jahren die Niederlassungserlaubniserlangen.Ich will hier – auch der Bundesinnenminister hat dasdankenswerterweise schon getan – noch einmal beson-ders hervorheben: Erstmals verknüpfen wir im Aufent-haltsrecht eine Integrationsleistung mit einer Verbesse-rung des Aufenthaltsstatus. Das ist der eigentlicheParadigmenwechsel in diesem neuen Gesetz: Die aufent-haltsrechtliche Situation des Ausländers verbessert sich,je mehr er selbst für seine Integration leistet. Das halteich für die wegweisende Neuorientierung. Wir solltenüberlegen, das auch an anderen Stellen des Ausländer-rechts zu machen. Wer Ja zu unserem Land sagt, wersich selbst um die Integration bemüht, wer gute Sprach-kenntnisse erwirbt,
der bekommt auch schneller einen gesicherten Aufent-haltsstatus. Das ist kluge Integrationspolitik.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kilic?
Wenn er nicht wieder irgendwelche Karten zeigt und
Noten gibt, ja.
Lieber Herr Kollege Grindel, stimmen Sie mir zu,
dass Sie in § 19 Abs. 2 Nr. 3 eine Regelung streichen?
Bisher bekommen die dort genannten Spezialisten und
leitenden Angestellten eine Niederlassungsgenehmi-
gung. Sie werden im Zuge der Bluecard-Regelung jetzt
in den neu geschaffenen § 19 a geschoben. Dadurch er-
reichen Sie nur Verwirrung.
Stimmen Sie mir auch zu, dass die Hochqualifizierten
gemäß § 19 ihre Ehegatten nachziehen lassen und mit-
nehmen konnten, ohne dass sie deutsche Sprachkennt-
nisse hatten, und diese eine eigenständige Niederlas-
sungsgenehmigung und Arbeitsgenehmigung bekommen
haben, jetzt aber, wo sie in den § 19 a geschoben werden,
die Ehegatten die Niederlassungsgenehmigung nicht au-
tomatisch bekommen, es sei denn, sie sind Bluecard-In-
haber oder Pflegekräfte, und sie ihre Ehegatten nur dann
mitnehmen können, wenn die Ehe bereits bestanden hat,
aber nachziehende Ehegatten dann doch deutsche
Sprachkenntnisse nachweisen müssen?
Ist das eine Vereinfachung, oder wie soll man das ver-
stehen? Können Sie mir erklären, wieso ich mich ange-
sichts dessen wie mit einer Sonnenbrille im Dschungel
bewegen soll?
Was meinen Sie wohl, was die Zuschauer, die unsjetzt über Phoenix zuschauen, bei Ihrer Frage eben ge-dacht haben? Die haben nichts verstanden.
Ihre Frage zeigt, dass Sie das Gesetz nicht verstandenhaben.
Es gibt jetzt einen einheitlichen Aufenthaltstitel für alleund damit natürlich auch für die Gruppe, die Sie ange-sprochen haben. Es wäre doch völlig widersinnig, wennwir einen Aufenthaltstitel für Bluecard-Inhaber und dannnoch einen Aufenthaltstitel für leitende Angestellte undSpezialisten hätten. Wir schaffen eine einheitliche Rege-lung beim Ehegattennachzug; das haben wir Ihnen ge-sagt. Die Spezialisten und Fachleute werden jetzt ge-nauso behandelt wie alle anderen Bluecard-Inhaber. Siewerden eine dauerhafte Perspektive in Deutschland ha-ben, wenn sie so qualifiziert sind, wie sie es nach der ge-setzlichen Grundlage sein müssen. Das ist ja gerade,wenn Sie so wollen, das Anti-Dschungel-Instrument die-ses Gesetzes: ein Aufenthaltstitel für alle ausländischenFachkräfte, die zu uns kommen wollen. Ich halte das fürtransparent, für nachvollziehbar, und das wird hoffent-lich erfolgreich sein, wenn man nicht mit solchen ver-wirrenden Zwischenfragen Unruhe und Unfrieden stif-tet, Herr Kollege Kilic.
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20890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Reinhard Grindel
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Ich will nur noch auf einen Punkt hinweisen, bei demes um eine Frage der inhaltlichen Sichtweise von Politikgeht. Sie haben im Innenausschuss einen Änderungsan-trag zu der Regelung eingebracht, die ich gerade genannthabe: Rund drei Jahre guter Aufenthalt mit Beschäfti-gung in Deutschland führt zur Niederlassungserlaubnis;wenn man gute Deutschkenntnisse hat, gibt es die Nie-derlassungserlaubnis schon nach zwei Jahren. Das woll-ten Sie streichen. Sie schreiben zur Begründung IhresÄnderungsantrages – das muss man sich wirklich auf derZunge zergehen lassen –:Mit dem Änderungsantrag wird darüber hinaus diePflicht, Deutschkenntnisse nachzuweisen, gestri-chen.
Das ist der Unterschied zwischen Grünen und CDU/CSU: Wir prämieren, wenn man Deutsch lernt. Sie wol-len prämieren, wenn man nicht Deutsch lernt.
Das ist der Unterschied in der Integrationspolitik. Ichhalte den Weg, den Sie da beschreiten, Herr KollegeKilic, für einen ziemlichen Irrweg.
Ich kann auch beim besten Willen nicht nachvollzie-hen, wie Sie uns hier Lohndumping vorhalten können;denn gerade Lohndumping und ausbeuterische Arbeits-bedingungen werden mit dem Bluecard-Gesetz verhin-dert. Die von uns gewählten Einkommensgrenzen sorgengerade dafür, dass tatsächlich nur qualifizierte Fach-kräfte in unser Land kommen. Kein einheimischer Ar-beitsloser muss befürchten, durch das Bluecard-Gesetzins Hintertreffen zu geraten. Gleichzeitig sehen wir beiden Mangelberufen, bei denen die Einkommensgrenzenetwas niedriger liegen, sogenannte Vergleichbarkeitsprü-fungen vor, die eben für faire Arbeits- und Entlohnungs-bedingungen sorgen. Unser Gesetz sorgt gerade nicht da-für, dass Arbeitslosen in Deutschland Konkurrenz durchwillige und billige Arbeitskräfte aus dem Ausland ent-steht. Das wollen wir als CDU/CSU gerade nicht, liebeKolleginnen und Kollegen.
Wir wollen auch, dass es dabei bleibt, dass derjenige,der als Deutscher oder Ausländer bei der Bundesagenturals Arbeitsloser gemeldet ist und in genau der gleichenWeise qualifiziert ist wie eine ausländische Fachkraft,die in unser Land kommen soll, grundsätzlich Vorranghat, wenn es darum geht, einen Arbeitsplatz zu besetzen.Daran wird nicht gerüttelt. Es bleibt beim Vorrang unse-rer einheimischen Arbeitslosen. Es gibt jetzt die Ver-pflichtung – Kollege Wolff hat zu Recht darauf hinge-wiesen –, dass die Bundesagentur innerhalb von zweiWochen entscheidet; sonst gilt die Zustimmung als er-teilt. Aber es bleibt eben beim Vorrang.Schlusssatz, Herr Präsident: Mit unserem Gesetz zurZuwanderung von ausländischen Fachkräften machenwir den Arbeitsplatz- und auch den StudienstandortDeutschland attraktiver. Die Politik hat die notwendigenRahmenbedingungen geschaffen. Jetzt ist die Wirtschaftan der Reihe, ihren Beitrag zu leisten, damit unser Landden Kampf um die klugen Köpfe gewinnt.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat der Kollege Swen Schulz von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschlandmuss ein offenes Land werden – offener, als es heute be-reits ist, ein Land, das Menschen einlädt, zu uns zu kom-men und hier mitzuhelfen, mitzutun. Es ist wichtig, dassDeutschland ein Land wird, das Menschen Chancen gibt,auch Anerkennung gibt – unabhängig von ihrer Her-kunft.
Das ist wichtig für unsere Gesellschaft. Das ist wichtigfür die Entwicklung von Wirtschaft und Arbeit und auchfür die Finanzierung von sozialer Sicherheit.Die gute Nachricht von heute – bei allen Unterschie-den in der Debatte – ist, dass alle Fraktionen bekundethaben, dass sie das vom Grundsatz her genauso sehen.Das war aber in der Vergangenheit mitnichten immer derFall. Wir erinnern uns noch sehr genau daran, wie eswar, als Rot-Grün unter Bundeskanzler GerhardSchröder ein Zuwanderungsgesetz vorgelegt hat. Eswurde insbesondere von der CDU/CSU nachgerade mitdem Messer zwischen den Zähnen bekämpft. Wir wissendas noch sehr genau.
Aber Sie sind inzwischen ein gutes Stück weit auf unszugekommen. Das will ich hier auch einmal positiv her-vorheben. Dies zeigt sich auch bei der Umsetzung derHochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union.Es hat lange gedauert; es war mühsam; es bedurfte desAnschubs der Europäischen Union. Aber jetzt gab es im-merhin dann doch den Gesetzentwurf der Bundesregie-rung.Was mich heute Morgen ganz besonders mildestimmt, ist Folgendes: Die Koalitionsfraktionen sind aufVerbesserungsvorschläge eingegangen. Wir haben unter
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20891
Swen Schulz
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anderem beantragt, dass die Zuverdienstmöglichkeitenausländischer Studierender verbessert werden und dassdie Frist für die Arbeitsplatzsuche von Absolventen ver-längert wird. Dem sind Sie gefolgt.
Die Beratungen haben also etwas gebracht. Das will ichhier auch einmal ausdrücklich loben, meine sehr verehr-ten Damen und Herren.
Bevor Sie jetzt aber vor lauter Komplimenten vonmeiner Seite rot werden, will ich doch noch auf einigeFehlstellen hinweisen.Im Gesetz werden beruflich Qualifizierte schlechtergestellt als Akademiker. Das ist ein Problem. Auch beider Definition der Angemessenheit der Arbeit hätte esVereinfachungen geben sollen. Grundsätzlich wäre esbesser gewesen, ein reformiertes Zuwanderungsrecht zuschaffen, anstatt an einzelnen Stellen herumzuschrau-ben. Erst mit einem neuen Punktesystem aus einem Gusskommen wir wirklich auf einen internationalen Stan-dard, der uns voranbringt. Aber da waren offenbar dieEinwände und die Vorbehalte bei der Union zu groß.Es gibt noch andere Themen, die die Koalition nichtim Blick hat. So ist die Frage der Fachkräfte eine The-matik nicht nur des Zuwanderungs- und des Aufenthalts-rechts. Da braucht es eine Politik, in der die Zahnräderineinandergreifen und sich sozusagen ergänzen. Daslässt die Koalition leider schmerzlich vermissen. Ich willhierzu nur einige Stichworte aus dem Bereich der Bil-dungspolitik nennen.Nach einer aktuellen Studie bekunden 80 Prozent derausländischen Studierenden, dass sie nach ihrem Ab-schluss hierbleiben wollen; aber nur 26 Prozent schaffendas tatsächlich. Das ist selbstverständlich auch eineFrage des Aufenthaltsrechts, aber eben nicht nur. Dageht es auch um weitere Rahmenbedingungen.An dieser Stelle will ich auf einige Punkte hinweisen.Menschen, die hier arbeiten wollen und Familie haben,nützt eine Diskussion um das Betreuungsgeld überhauptnichts. Sie brauchen Betreuungsangebote, meine sehrverehrten Damen und Herren.
Sie brauchen gute Schulen mit den entsprechendenGanztagsangeboten. Für ausländische Absolventen be-nötigen wir auch mehr Studienplätze. Da ist eine Aufsto-ckung der Mittel des Hochschulpaktes erforderlich. Anallen diesen Stellen herrscht bei der Regierungskoalitionleider Fehlanzeige.Ganz wichtig ist, dass natürlich auch und vor allemdie Menschen, die bereits hier leben, in der Bildung undim beruflichen Bereich unterstützt und gefördert werden.Da ist das Betreuungsgeld genau falsch; es ist kontrapro-duktiv.Außerdem brauchen wir endlich bessere Schulen. Damuss der Bund dann auch den Ländern helfen.
Aber Sie von der Regierungskoalition verweigern sich jader Aufhebung des Kooperationsverbotes im Bildungs-bereich.
Zudem brauchen wir mehr Studienplätze. Aber die Fi-nanzplanung der Bundesregierung sieht nach der Bun-destagswahl 2013 eine Kürzung im Bildungsbereich vor.CDU/CSU und FDP setzen den Rotstift an der Bildungan, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist ge-nau der falsche Weg.
– Schauen Sie sich doch die mittelfristige FinanzplanungIhrer Bundesregierung an. Was passiert denn nach 2013?2014 bis 2016 sind über eine halbe Milliarde Euro weni-ger vorgesehen. Das ist die bittere Wahrheit. Sie solltensich einmal mit Ihren eigenen Vorlagen beschäftigen,liebe Kollegen.
Bei allem Lob, das ich Ihnen zu Beginn der Rede fürVerbesserungen an dem Gesetzentwurf gezollt habe, fälltdie Bilanz insgesamt also ziemlich durchwachsen aus.Ordentlich voran kommen wir wohl erst bei einem Re-gierungswechsel nach den nächsten Wahlen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich glaube, es ist heute ein guter Tag; denn wirbrauchen in Deutschland dringend mehr Zuwanderung.Ich bin froh darüber, dass hierin offenbar zwischenzeit-lich Einigkeit besteht.Die Lage ist klar. Schauen wir uns die demografischeEntwicklung an: Im Jahr 2025 werden wir in Deutsch-land 6,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alterweniger haben als heute. Negative Auswirkungen sindschon heute absehbar. Wenn ich mit mittelständischen
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20892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Johannes Vogel
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Unternehmen meines Wahlkreises im Sauerland rede,zum Beispiel mit Unternehmen der Automobilzuliefer-industrie, dann sagen die Unternehmer: Wenn wir in Zu-kunft Ingenieurstellen nicht mehr besetzen können, dannwird das auch die Arbeitsplätze der Angestellten in derProduktion gefährden. Umgekehrt gilt: Wenn wir guteund hochqualifizierte Ingenieure finden, dann ist sicher-gestellt, dass wir auch in Zukunft innovative Produkteentwickeln und weitere Arbeitsplätze schaffen können. –Deswegen müssen wir alles tun, um auf den demografi-schen Wandel zu reagieren.
Das heißt zuvorderst, sich den inländischen Potenzia-len zu widmen. Es geht natürlich um die Älteren amArbeitsmarkt, um Frauen am Arbeitsmarkt, um Weiter-bildung, Qualifikation und lebenslanges Lernen, um dieAnerkennung von Abschlüssen und um die Bekämpfungder Arbeitslosigkeit. All diesen Themen widmet sich diechristlich-liberale Koalition bereits sehr erfolgreich.Aber all das zusammen wird nicht reichen. Auch wennin allen Bereichen alles gelingt: Ohne mehr Zuwanderungwird es nicht gehen. Deshalb ist es richtig, dass wir unsauf die erfolgreiche Zuwanderungstradition in Deutsch-land berufen. Man muss noch einmal klar sagen: InDeutschland ist die Zuwanderung eine Erfolgsgeschichte.Vor 300 Jahren sprach ein Viertel der Einwohner in Berlinfließend Französisch. Vor 100 Jahren sprachen eine halbeMillion Menschen im Ruhrgebiet fließend Polnisch.Heute sprechen zwei Millionen Menschen in diesemLand fließend Türkisch, weil sie türkische Wurzeln ha-ben. All diese Zuwanderer in der Vergangenheit habennicht nur unsere Gesellschaft bereichert, sondern auch diewirtschaftliche Erfolgsgeschichte in Deutschland mitge-schrieben. Das muss man klar sagen.
Deshalb müssen wir uns auf diese Tradition besinnen;denn heute – das müssen wir ehrlich anerkennen – sindwir nicht gut im Wettbewerb um die klugen Köpfe aufdem globalen Arbeitsmarkt. Das hat Gründe. Diese lie-gen auch in unserem Zuwanderungssystem. Wir müssenuns folgende Situation vergegenwärtigen: Wenn sichbeispielsweise ein gut ausgebildeter junger Mensch vonden Philippinen überlegt hat, sein Land zu verlassen undin Deutschland zu arbeiten, dann musste er Deutschsprechen lernen – das ist richtig und muss auch so blei-ben –, weil hier nicht allein die Weltsprache Englisch ge-sprochen wird. Aber außerdem musste dieser jungeMann, der sich vom Ausland aus auf eine Stelle bewarb,in Deutschland eine langwierige Vorrangprüfung durchdie Bundesagentur für Arbeit durchlaufen, oder ermusste sehr viel verdienen, was für die meisten Berufs-einsteiger völlig unrealistisch ist.In Kanada beispielsweise kann jemand innerhalb we-niger Minuten im Internet ermitteln, ob er zuwanderndarf. Ist das der Fall, dann bekommt er die Genehmigungzur Einreise. Danach kann er sich innerhalb eines Jahresin Ruhe um einen Arbeitsplatz kümmern. Man muss sichalso nicht wundern, dass das bisherige System inDeutschland nicht wettbewerbsfähig war. Es ist gut, dasssich die christlich-liberale Koalition die Aufgabe stellt,das zu reformieren. Das ist ein Erfolg für unser Land.
Schauen wir uns an, was durch den Gesetzentwurf er-reicht werden soll. Die Vorrangprüfung für Mangelbe-rufe wird ausgesetzt. Eine Genehmigungsfiktion bei derVorrangprüfung wird eingeführt. Die Gehaltsgrenzen fürMangelberufe werden auf ein realistisches Maß zurück-geführt. Wir geben den Menschen, die hier studiert ha-ben und sich danach einen Arbeitsplatz suchen wollen,bessere Voraussetzungen als bisher. Hier wünsche ichmir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-tion, angesichts dieses Paradigmenwechsels mehr Aner-kennung.
Ich habe mich über Ihr Lob gefreut. Aber eines habenSie unterschlagen: Durch die Einführung des Arbeit-suchvisums kommen wir erstmalig von der zwingendenVoraussetzung des Vorliegens eines Arbeitsplatzes weg,auf den man sich vom Ausland aus bewerben muss. Dasist ein entscheidender Paradigmenwechsel. Diese Sys-temveränderung leiten wir ein. Das ist gut für unserLand. Das ist die entscheidende Reform, über die wiruns heute alle freuen können.
Richtig ist natürlich: Es kann nicht nur bei einem Sys-tem bleiben. Ein wettbewerbsfähiges modernes Zuwan-derungssystem ist ein entscheidender Faktor im Wettbe-werb um die klugen Köpfe. Das ist aber nicht dereinzige.Wir brauchen drei Dinge, drei Ws: Zunächst benöti-gen wir ein wettbewerbsfähiges System; das führen wirheute ein. Hiermit schaffen wir den entscheidendenSchritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus müssen– und da wird die Wirtschaft in der Tat besonders gefor-dert sein – die deutschen Unternehmen um die klugenKöpfe im Ausland werben; sie müssen eine ganz kon-krete Anwerbungspolitik betreiben. Außerdem – ichfreue mich, dass auch darüber heute Konsens herrscht –brauchen wir eine Willkommenskultur. Das halte ich imÜbrigen für eine überparteiliche Aufgabe. In der Vergan-genheit ist hier in allen politischen Bereichen viel schief-gelaufen. Wir – das heißt die deutschen Behörden, wirals Politiker und die deutsche Gesellschaft – braucheneine gemeinsame Willkommenskultur.Ich will mit gutem Beispiel vorangehen und möchtein diesem Zusammenhang den neuen BundespräsidentenGauck zitieren. Zum Thema Willkommenskultur hatnicht nur der vorherige Bundespräsident kluge und wich-tige Dinge gesagt, sondern gestern in der Paulskirche inFrankfurt auch der neue Bundespräsident Gauck. Ersprach zu jungen Migrantinnen und Migranten, alsoMenschen mit ausländischen Wurzeln, die im Rahmen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20893
Johannes Vogel
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eines Stipendienprogramms, das vor zehn Jahren einge-führt wurde, gefördert werden. Er hat etwas gesagt, wasder Grundsatz einer Willkommenskultur sein sollte undwas wir denjenigen Menschen, die noch nicht inDeutschland leben, ebenfalls sagen sollten. Ich zitiereden Bundespräsidenten:Wir glauben an Euch! Nicht nur als Fachkräfte vonmorgen, sondern als Bürger, Menschen an unsererSeite, hier in diesem unserem Land!Dem ist nichts hinzuzufügen. Das ist der Geist unsererPolitik.Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Krellmann von
der Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich freue mich auf die Zuwanderung von vie-len Menschen aus dieser Welt. Allerdings finde ich, dassdieser Gesetzentwurf nichts anderes ist als wieder ein-mal der Versuch, Lohndumping in dieser Republik zubefördern.
Sie wollen die Mindestgehaltsgrenzen für die Ertei-lung der Aufenthaltsgenehmigung von Beschäftigten ausaußereuropäischen Ländern deutlich unter den bestehen-den Tarifentgelten ansetzen.
– Jetzt rede ich, danach dürfen Sie. – Das ist unverant-wortlich, sowohl gegenüber den zuwandernden wie auchgegenüber den einheimischen Arbeitskräften. Die Be-schäftigten werden gegeneinander ausgespielt. Der Wertvon Tarifverträgen für Hochqualifizierte wird von derPolitik infrage gestellt. Wo bleibt eigentlich Ihr Auf-schrei bei diesem politischen Angriff auf die Tarifauto-nomie?
Sie präsentieren sich an anderer Stelle, insbesonderewenn es um Mindestlöhne geht, als die großen Hüter.Und jetzt? Anscheinend gilt Ihre Sorge um die Tarifauto-nomie nur dann, wenn Sie die Interessen von Arbeitge-bern schützen können.Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meinem Bundesland,aus Niedersachsen: Nach den Vorstellungen der Koali-tion soll ein hochqualifizierter Ingenieur aus einemNicht-EU-Staat in Zukunft hierzulande für ein Entgeltvon 34 000 Euro im Jahr arbeiten können. Derzeit be-läuft sich dieser Schwellenwert auf 66 000 Euro proJahr. Ein Ingenieur oder eine Ingenieurin mit Fachhoch-schulausbildung verdient in Niedersachsen nach Tarif-vertrag 47 000 Euro pro Jahr, ein Diplomingenieur odereine Diplomingenieurin 53 000 Euro. Es liegt auf derHand, dass bei der beabsichtigten Absenkung der Min-destgehaltsgrenze Ingenieure und Ingenieurinnen ausdem Nicht-EU-Ausland dazu missbraucht werden kön-nen, um das derzeitige Einkommensniveau der heutigenIngenieure unter Druck zu setzen.
Das ist nicht hinnehmbar!
Die Linksfraktion lehnt diesen Gesetzentwurf deshalbentschieden ab. Wir lehnen es ab, dass sich die Unter-nehmen hemmungslos auf dem weltweiten Arbeitsmarktgünstig bedienen können, statt für gute Jobs, für Qualifi-kation ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und für ge-nügend Ausbildungsplätze zu sorgen.Sie, meine Damen und Herren von der Koalition,schieben den Fachkräftemangel doch nur vor. Es gibt er-hebliche Zweifel über das Ausmaß des Fachkräfteman-gels. Ich erinnere nur daran, dass beispielsweise dasDIW, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, ei-nen nennenswerten Ingenieurmangel bestreitet. Fürmeine Region kann ich nicht behaupten, dass es keineProbleme gäbe. Bei uns klagen Betriebe durchaus überIngenieurmangel, insbesondere im Bereich Elektrotech-nik. Die Unternehmen klagen aber nicht über die Höhedes Schwellenwertes, sie fordern auch nicht die Absen-kung, sondern ihr Ziel ist die Einstellung von Fachkräf-ten. Sie bieten freiwillig gute Bedingungen und gutesGeld.
Wenn Sie etwas gegen den Fachkräftemangel indiesem Land tun wollen, dann erweisen Sie diesemAnliegen mit Ihrem Gesetzentwurf regelrecht einen Bä-rendienst. Lohndrückerei hat mit nachhaltiger Beschäfti-gungspolitik und Qualitätssicherung nichts zu tun. Waswir eigentlich brauchen, ist ein umfassendes Maßnah-menpaket. Wir brauchen gute Tarifverträge, gute Ausbil-dungs- und Arbeitsbedingungen, den Abbau von Bil-dungshürden und die langfristige Förderung undWeiterbildung der Menschen hier in diesem Land.
Die IG Metall, Bezirk Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, hat am vergangenen Montag ein solides Konzeptmit Maßnahmen für die Fachkräftesicherung im Inge-nieursbereich vorgelegt. Ich kann Ihnen die Lektüre die-ses Konzepts nur wärmstens empfehlen.Die Linke fordert: Streichen Sie die Anstiftung zumLohndumping aus diesem Gesetzentwurf. Das wäre ganzeinfach: Sie müssten einfach nur die Vorgaben der EU-Richtlinie umsetzen.
Mein Kollege Wunderlich hat das hier schon dargelegt.
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20894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Jutta Krellmann
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Orientieren Sie die Mindestgehaltsgrenze am durch-schnittlichen Bruttojahresgehalt eines Vollzeitbeschäf-tigten und lassen Sie uns dann darüber sprechen, wie wirdie Fachkräftesituation verbessern können, und zwar imInteresse der zuwandernden und der einheimischen Be-schäftigten.Vielen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die
Kollegin Kerstin Andreae.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die wichtigste Ressource unserer Wirtschaftsind die Köpfe gut ausgebildeter Fachkräfte. Der VDIsagt: Uns fehlen derzeit 110 000 Ingenieure; damit ein-her geht ein Wertschöpfungsverlust von 8 MilliardenEuro. Deutsche Schlüsselindustrien wie Maschinenbau,Elektrotechnik, Fahrzeugbau und Telekommunikationsind massiv betroffen. Aber auch in anderen Branchenfehlen Fachkräfte; etwa im Pflegebereich gibt es 42 000offene Stellen.Deshalb brauchen wir eine bessere Aus- und Weiter-bildung von Jugendlichen und von älteren Beschäftigtenund natürlich die Integration der Frauen in den Arbeits-markt. Darüber hinaus sind deutlich attraktivere Be-dingungen für qualifizierte Spezialisten und Hoch-schulabsolventen aus dem Ausland und derenFamilienangehörige vonnöten. Ich betone: Es bedarfdeutlich besserer Bedingungen. Diese beiden Aspekte– Bildung hier, Zuwanderung dort – dürfen wir nicht ge-geneinander ausspielen; wir brauchen beides.
Die Umsetzung der EU-Hochqualifizierten-Richt-linie wäre eine Chance für eine neue Willkommenskul-tur. Aber Sie verstecken sich hinter dieser Richtlinie, an-statt sie als Türöffner zu nutzen. Viele Regelungen indiesem Gesetzentwurf sind kleinteilige Ausnahmen, diemanches eher erschweren. Damit bauen Sie Hürden auf.Die in Sonntagsreden geforderte Willkommenskulturwird genau damit nicht geschaffen. Sie verstecken sich.Sie springen halb, aber keineswegs ganz, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren von der Koalition.
Ich möchte ein Beispiel nennen. Herr Vogel hat vonder arbeitsplatzunabhängigen Einwanderung von Hoch-schulabsolventen gesprochen. Gute Idee! Hochschulab-solventen können für sechs Monate – nach unserer Auf-fassung wäre ein Zeitraum von einem Jahr bessergewesen – hierherkommen; das ist okay. Um kommenzu dürfen, müssen sie keinen Job vorweisen, sondern esreicht, wenn sie sich darum bemühen. Wunderbar! Wa-rum steht im Gesetzentwurf, dass diese Regelung nachvier Jahren ausläuft? Das ist doch keine Willkommens-kultur, mit der Sie signalisieren: Klar, wir machen etwasfür euch. Stattdessen schaffen Sie eine weitere Hürde.Wovor haben Sie denn Angst?
– Natürlich können Sie nach vier Jahren eine bessere Re-gelung schaffen.
Entschuldigung, Gesetze verabschiedet man nicht mitder Absicht, irgendwann einmal bessere zu verabschie-den. Stattdessen bringt man das Bestmögliche auf denWeg, und wenn man weiß, wie es besser geht, dann setztman es gleich um. Mit dem, was Sie tun, signalisierenSie nur – darauf bezieht sich doch der Streit zwischen Ih-nen –, dass Sie nicht wirklich wollen, dass wir uns hierals offene, moderne Gesellschaft präsentieren.
Immer wieder tragen Sie Scheuklappen, und immerwieder nähern Sie sich der Sache mit Angst vor zu vielZuwanderung.
Stattdessen sollten Sie einfach sagen: Ja, ausländischeHochschulabsolventen, wir sehen es gern, dass ihr zuuns kommt. – Das ist die Botschaft, die Sie senden soll-ten. Wovor haben Sie eigentlich Angst?
Dass uns jetzt eine große Anzahl von ausländischenFachkräften Arbeitsplätze wegnimmt, das ist doch nichtdie Realität.
Wir müssen eine Willkommenskultur schaffen und denausländischen Hochschulabsolventen sagen: Ja, kommtzu uns! Unser Fachkräftemangel ist allein national nichtzu bewältigen.
Um damit fertigzuwerden, brauchen wir auch Hoch-schulabsolventen aus dem außereuropäischen Ausland.
Dann müssen Sie aber vor allem auch bessere Rah-menbedingungen für die Familienangehörigen schaffen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20895
Kerstin Andreae
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Herr Vogel, der von Ihnen erwähnte Philippiner ist dochvielleicht ein junger Mann, der Familie hat. Für ihn wirdrelevant sein: Was ist mit meinen Familienangehörigen?Können sie mitkommen?
Wir müssen uns fragen: Was müssen wir ihnen anbieten?Wie sind die Regeln für einwanderungswillige Fach-kräfte? Wie werden ihre Familienangehörigen hier auf-genommen? Mit dem vorliegenden Regelwerk bauen Siekeine Brücken; Sie haben Hindernisse aufgestellt. DasEntscheidende ist, dass wir bessere Rahmenbedingungenfür Familienangehörige schaffen.
– Nein, das steht leider auch noch im neuen Entwurf.Sie könnten aber auch andere Sachen machen: dieVereinfachung der Einreisebürokratie. Laut Normenkon-trollrat dauert es sechs Wochen und länger, bis ein Vi-sum erteilt wird. Die reine Bearbeitungszeit beträgt ei-nen halben Tag. Sie könnten außerdem ein zentralesInformationsportal auf Deutsch und Englisch ins Internetstellen.Jetzt noch die Sache mit den Deutschkenntnissen: DieSprache der Wirtschaft wird mehr und mehr Englisch.Wenn wir hier immer wieder sagen, dass Deutschkennt-nisse für die Vergabe einer unbefristeten Aufenthaltser-laubnis verpflichtend sind, dann sind wir nicht am Welt-markt und an einer modernen Zukunft orientiert, dannsind wir nicht an einer Wirtschaft orientiert, die auf demWeltmarkt bestehen muss. Die Bindung der Aufenthalts-erlaubnis an Deutschkenntnisse ist realitätsfremd. Dassollten Sie hier ändern.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Andreae. Sie
sind schon anderthalb Minuten drüber.
Fazit: Wir kommen an einer grundlegenden Neuaus-
richtung der Zuwanderungspolitik nicht vorbei, aus hu-
manitären Gründen, aber auch weil wir sonst nicht nur
den Kampf um die kreativsten Köpfe, sondern auch die
Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft verlieren. Hö-
ren Sie mit diesem ideologischen Klein-Klein auf und
entwickeln Sie eine Willkommenskultur, die tatsächlich
ihren Namen verdient.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr ge-ehrte Kollegen! Das Gesetz, das wir heute debattieren,ist in einem Gesamtzusammenhang zu sehen. Es ist indem Gesamtzusammenhang zu sehen, dass wir aufgefor-dert sind, den sich weiterhin zuspitzenden Fachkräfte-mangel zu bekämpfen. Eines muss aber auch klar sein:Der Schwerpunkt muss weiterhin auf der Pflege und derHebung des inländischen Potenzials liegen.Es geht auch in Zukunft darum, mehr für die Siche-rung der Beschäftigung für die schon aktiv im Arbeitsle-ben stehenden Menschen zu tun. Es wird in Zukunft ver-stärkt darum gehen, mehr für die Integration vonArbeitsuchenden, auch für die Integration von Arbeitsu-chenden mit Handicaps, in den ersten Arbeitsmarkt zutun. Wir müssen weiterhin die Bildungschancen auch derBenachteiligten von Beginn an erhöhen. Es wird in Zu-kunft verstärkt darum gehen, mehr in die Qualifizierungvon Jugendlichen und Arbeitsuchenden zu investieren,insbesondere in die Aus- und Weiterbildung.Es wird, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-gen, auch darum gehen, sich noch mehr der Vereinbar-keit von Beruf und Familie zuzuwenden. Dazu gehörenDinge wie der vollkommen richtige Ausbau von Kinder-krippen und Kinderbetreuungseinrichtungen für unterDreijährige. Hier investiert die christlich-liberale Koali-tion insgesamt 4 Milliarden Euro. Das ist richtig und gut.Genauso richtig ist, dass auch das Betreuungsgeldkommt. Das eine schließt das andere nicht aus. Der Staathat hier nicht die Aufgabe und auch nicht das Recht, eineLebensform der anderen vorzuziehen und sie vorzugs-würdig zu behandeln. Wir müssen beides tun – nicht daseine tun und das andere unterlassen –: sowohl in den Be-reich der Kinderkrippen und Kinderbetreuungseinrich-tungen investieren als auch denjenigen etwas zuteilwer-den lassen, die nicht von den Kinderkrippen Gebrauchmachen, aus welchen Gründen auch immer. Der Staathat nicht das Recht, hier diskriminierend vorzugehen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dasGesetz, das heute verabschiedet wird, schafft keingrundlegend neues Zuwanderungsrecht; aber es ist einezeitgemäße und moderne Anpassung an die Bedürfnisseder Arbeitswelt und an die wirtschaftliche Situation. Ichkann durchaus verstehen, meine sehr verehrten Kolle-ginnen und Kollegen von der Opposition, dass Sie sichechauffieren; denn Sie sind orientierungslos.
Die SPD – liebe Frau Kollegin Kolbe, Sie haben es an-gekündigt – wird sich kraftvoll enthalten. Allein dieszeigt schon: Es klappt nicht mehr, mit den alten Stig-
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20896 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Stephan Mayer
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mata, Klischees und Allgemeinplätzen zu agieren, dieSie uns bei derartigen Diskussionen immer um die Oh-ren hauen wollten. Es heißt dann, wir seien rückwärtsge-wandt, wir wollten nur einer Wagenburgmentalität Vor-schub leisten, wir wollten die Schotten dichtmachen.Wir handeln tatsächlich. Sie haben in Ihrer Regierungs-zeit immer nur geredet. Aber wir tun mehr für die Zu-wanderung von Hochqualifizierten nach Deutschland.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen vonden Grünen, auch Sie haben sich im Innenausschusskraftvoll enthalten. Lieber Herr Kilic, liebe FrauAndreae, Sie müssen schon einmal erklären, was dennnun gilt. Gilt die Aussage von Herrn Wieland im Innen-ausschuss, der klargemacht hat, dass sich die Grünenenthalten werden? Oder gilt Ihre Rote Karte, Herr Kilic?Ich war zunächst erschrocken, als Sie uns die Rote Kartegezeigt haben; als überzeugter Anhänger des FC BayernMünchen habe ich sofort gedacht: Nicht noch eineSperre für das Champions-League-Finale; es reichtschon, wenn drei Stammspieler am 19. Mai gesperrtsind. Aber wir haben dann festgestellt: Ihre Rote Karte,Herr Kilic, ist vollkommen wirkungslos.
Wir werden weiterhin erfolgreich regieren. Wir werdenim September oder Oktober nächsten Jahres eine Ver-tragsverlängerung von den Wählerinnen und Wählern inDeutschland bekommen. Wir werden trotz Ihrer RotenKarte wieder aufgestellt, weil wir handeln und nicht nurreden.
Der Grundsatz im Bereich der Zuwanderung Hoch-qualifizierter muss sein, dass wir uns verstärkt denjeni-gen zuwenden, die sich bereits in Deutschland befinden.Es ist leichter, diejenigen zum Bleiben zu bewegen, diebereits in Deutschland sind, als diejenigen, die nochnicht in Deutschland sind, zu motivieren, nach Deutsch-land zu kommen.Es mag durchaus sein, dass viele ausländische Hoch-schulabsolventen bisher den abstrakten Wunsch hatten,in Deutschland zu bleiben. Aber wir mussten feststellen,dass nur etwa 25 Prozent von dieser Möglichkeit Ge-brauch gemacht haben. 75 Prozent der ausländischenHochschulabsolventen haben Deutschland nach demAbschluss wieder verlassen. Interessanterweise sind diemeisten nicht in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt,sondern in andere, vermeintlich attraktivere Länder wiedie USA, Frankreich, Großbritannien oder die skandina-vischen Länder gegangen.
Es gilt, sich diesem Personenkreis in Zukunft verstärktzuzuwenden. Es ist deshalb richtig, dass wir die Frist fürdie Suche nach einem Arbeitsplatz von 12 auf 18 Mo-nate verlängern. Das ist ein ganz wesentlicher Schritt inRichtung der so vielzitierten Willkommenskultur.
Es ist auch richtig, dass wir die Frist für einen Aufent-halt von Hochschulabsolventen aus Nicht-EU-Ländernvon drei auf sechs Monate verlängern. Voraussetzungdabei ist, dass sie nachweisen können, dass ihr Lebens-unterhalt gesichert ist. Dies ist aber – auch das möchteich vermerken – kein Einstieg in das Punktesystem. DasVisum, das in Zukunft für sechs Monate ausgereichtwird, ist wie bisher nachfrageorientiert, das heißt, esmuss ein konkreter und der geforderten Qualifikationentsprechender Arbeitsplatz bei der späteren Arbeitsauf-nahme nachgewiesen werden. Das Verfahren ist wesent-lich unkomplizierter und unbürokratischer als ein Punk-tesystem und macht dieses aus meiner Sicht schon alleindeshalb überflüssig. Ein Punktesystem wäre ein bürokra-tisches Monster, starr und unflexibel, weil nur irgend-welche abstrakten, möglicherweise gar nicht benötigtenQualifikationen ohne einen konkreten Arbeitsplatznach-weis bewertet werden müssten.Ich möchte auf das Beispiel Kanada, insbesondere aufdie Provinz Quebec verweisen, die immer als Beispieleiner Vorzeigeprovinz herangezogen wird. Fahren Sieeinmal dorthin. Die Arbeitslosigkeit in Quebec ist höherals in Deutschland. Die Begeisterung über das dort prak-tizierte Punktesystem ist beileibe nicht so groß, wie unshier von mancher Seite weiszumachen versucht wird.Ein Punktesystem ist starr, unflexibel, und es bedeutet,dass jeder, der die Punkteanzahl einfach nur von derQuantität her erfüllt, eine Niederlassungserlaubnis inKanada erhält, ohne dass er einen konkreten Arbeitsplatznachweisen muss, was zur Folge hat, dass viele entwedersofort oder zumindest sehr schnell in die Arbeitslosigkeitrutschen.
Es ist außerdem richtig, dass die Neuregelung auf dreiJahre befristet ist, aber das heißt nicht, dass sie nichtfortgesetzt wird; das möchte ich in aller Deutlichkeit sa-gen, Frau Kollegin Andreae. Wenn ein neues Instrumenteingeführt wird, dann ist es aus meiner Sicht richtig, dreiJahre abzuwarten, die Erfahrungen zu evaluieren unddann ganz offen darüber zu debattieren, ob es richtig ist,die Regelung nach Ablauf der drei Jahre fortzusetzen.
Genauso richtig ist es, dass die Niederlassungserlaub-nis zunächst nicht als unbefristete, sondern als befristeteAufenthaltsgenehmigung gewährt wird. Dadurch bestehtdie Möglichkeit, Anreize zu schaffen. Wer einen ent-sprechenden Nachweis über Deutschkenntnisse derStufe B 1 erbringen kann, erhält einen Bonus von einemJahr, das heißt, dass schon nach zwei Jahren die unbe-fristete Niederlassungserlaubnis in Deutschland gewährtwird. Das zeigt, dass wir Ernst machen mit einer erfolg-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20897
Stephan Mayer
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reichen Politik der Integration in die deutsche Gesell-schaft.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von derOpposition, es hat überhaupt nichts mit Zwangsgermani-sierung und Deutschtümelei zu tun, wenn wir Anreizeschaffen, Deutsch zu lernen.
Es ist nun einmal so, Frau Kollegin Andreae: Wenn mansich in Deutschland aufhält, muss man Deutsch könnenund sich in der deutschen Gesellschaft bewegen können,obwohl die Lingua franca im Wirtschaftsleben mittler-weile Englisch ist.Lieber Herr Kollege Beck, Sie haben gerade auf meinIdiom Bezug genommen. Ich möchte dazu sagen, dass eseine neue Studie im Zusammenhang mit der Evaluationaller 16 Bundesländer gibt, was die Deutschkenntnisse,das Sprachverständnis, die Orthografie usw. anbelangt.Erstaunlicherweise hat Bayern – für die kundigen The-baner ist das aber gar nicht so erstaunlich – am bestenabgeschnitten.
Wenn die Baden-Württemberger zu Recht behaupten:„Wir können alles, außer Hochdeutsch“, dann kann Bay-ern mittlerweile sagen: Wir können alles, auch Hoch-deutsch.
Abschließend darf ich noch sagen, dass wir einendeutlichen Fortschritt in Sachen Entbürokratisierung undSchaffung von Rechtssicherheit erreichen, indem wir ei-nen langgehegten Wunsch der Wirtschaft in die Tat um-setzen, dass nämlich bei der Vorrangprüfung mit einerGenehmigungsfiktion gearbeitet wird. Nach zwei Wo-chen gilt die Vorrangprüfung als erfüllt.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, insgesamtkann man festhalten: Wir schaffen mit dieser Neurege-lung ein intelligentes und interessengeleitetes Zuwande-rungsrecht, das auch dem Gedanken des Humanismusund des christlichen Menschenbildes Rechnung trägt.Derjenige, der verfolgt wird, dessen Leib und Leben be-droht sind, hat immer die Möglichkeit, in DeutschlandZuflucht zu finden.Betonen möchte ich zuletzt: Nach der Beschlussfas-sung über dieses Gesetz sehe ich die Wirtschaft verstärktin der Verantwortung, dieses Gesetz sinnvoll anzuwen-den und aktiv mehr für die Anwerbung von ausländi-schen Fachkräften zu tun, damit diese nach Deutschlandkommen.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Gabriele Lösekrug-Möller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für dieSPD-Fraktion möchte ich Herrn Kollegen Mayer und an-deren sagen: Wir bleiben trotz einiger Ihrer Wortbeiträgebei Enthaltung. Das fällt uns nach anderthalb StundenDebatte mit Positionierungen, die teilweise kaum zu er-tragen waren, jedoch ein wenig schwerer. Ich will dasbegründen. Worum geht es uns?Wir haben schon jetzt die Sorge, dass wir zu wenigFachkräfte haben. Der Bedarf wird möglicherweise stei-gen. Wir werden ihn aber nur schwer decken können.Nach den anderthalb Stunden frage ich mich angesichtsder Themen, die wir hier behandelt haben: Wie würdenes eigentlich Interessierte, die aus dem Ausland zu unskommen wollen, einschätzen, wie willkommen sie sind,wenn sie hören, wie wir hier debattieren? Ich glaube, dawar mehr Abschreckung im Spiel als tatsächliche Einla-dung.
Wie würden Menschen, die schon hier sind und einenMigrationshintergrund haben und deren Motivation undPotenziale durch Ihre Politik überhaupt nicht abgeholtwerden, diese Debatte von anderthalb Stunden verste-hen? Weiter frage ich: Wie verstehen eigentlich die Bil-dungsverlierer, von denen wir in Deutschland viele ha-ben, unsere Diskussion?
Wenn wir über Fachkräfte und Bedarfssicherung re-den, brauchen wir einen Dreiklang von Bildungs-, Ar-beitsmarkt- und Innenpolitik. Wenn ich auf Ihre Politikschaue, gibt es da keine Harmonie. Ich höre da einenMissklang nach dem anderen.
Denn wir tun zu wenig für die Menschen in Deutsch-land, die wir entwickeln wollen, damit sie gute Fach-kräfte werden. Wir haben Bildungsverlierer ohne Ende.
Wir sind stolz darauf – jedenfalls einige von Ihnen –,dass wir jährlich nur noch 53 000 Schülerinnen undSchüler ohne Abschluss haben. Was machen wir mitüber 7 Millionen funktionalen Analphabeten, die er-werbsfähig sind? Wir lassen sie allein. Es gibt bei unsauf dem Arbeitsmarkt Potenziale ohne Ende, die abernicht Ihr Interesse für politische Aktion auslösen.
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Gabriele Lösekrug-Möller
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Deshalb sage ich: Wir erkennen die Schritte an, dieSie jetzt auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts unter-nommen haben. Seien Sie aber ehrlich: Wären Sie ohnedie EU-Richtlinie da hingekommen? Ich gehe gernenoch einmal auf den ausgezeichneten Wortbeitrag mei-ner Kollegin Kolbe ein. „Mit großer Verspätung“ und„zum Jagen getragen“, das waren ihre Worte. Dazu kannich nur sagen: Das unterschreiben die Sozialdemokratensofort, weil sie leider recht hat.
Kommen wir zu dem Thema gute Arbeit: Ist es ei-gentlich attraktiv, zu uns zu kommen, wenn man weiß,dass wir mehr Teilzeit- und befristete Stellen als Voll-zeitstellen und unbefristete Arbeitsverhältnisse haben?Steht das auf der Einladungskarte als Plus? Steht als Plusauf der Einladungskarte an diejenigen, die wir habenwollen: „Wir machen Betreuungsgeld statt Krippenaus-bau“? Ist es einladend, wenn wir sagen: „Ja, wir küm-mern uns auch um diejenigen, die in der Grundsicherungsind. Wir erhöhen die Hinzuverdienstgrenzen, aber, ehr-lich gesagt, um existenzsichernde sozialversicherungs-pflichtige Beschäftigung kümmern wir uns nicht“? Istdas einladend? Kommen die Leute aufgrund dieses Kli-mas gerne nach Deutschland?Man gewinnt den Eindruck, dass Sie sich geradezuwehren müssen, weil Millionen von Menschen an unse-ren Grenzen darauf warten, endlich nach Deutschlandkommen zu können, dass sich dort regelrecht Schlangenbilden. Und dann sagen wir ihnen noch: Sie sind unswillkommen, wenn Sie hochqualifiziert sind. Dann kön-nen Sie gerne – allerdings mit vielen Einschränkungen,über die heute schon gesprochen wurde – Ihre Familiemitbringen. – Wissen Sie, das ist ein wenig halbherzig.Ich glaube, diese Halbherzigkeit spüren alle, um die wireigentlich werben. Wir sind doch nicht die einzige Na-tion, die um Hochqualifizierte wirbt. Viele Staaten, nichtnur europäische, sagen: Wir brauchen das für unsereEntwicklung.Herr Kollege Mayer, die kanadische Provinz Quebecist ein schlecht gewähltes Beispiel. Ihre Sachkenntnisscheint nicht tief genug zu gehen. In dieser Provinz, inder Französisch gesprochen wird, wird Kompetenz infranzösischer Sprache besonders hoch bepunktet. Dievon Ihnen angesprochene Schieflage ist typisch für dieseeine Provinz. Deshalb taugt Quebec nicht als Beispiel. –Ich habe leider recht, auch wenn Sie mit dem Kopfschütteln.
Ich komme auf unseren Antrag zurück, den ich we-sentlich zukunftsweisender finde. Wir sagen: An einemPunktesystem ist vermutlich viel Gutes. Es lohnt, es aus-zuprobieren. Es lohnt, die Sache zu überprüfen und sienicht gleich in Bausch und Bogen abzulehnen. Denn ei-nes ist klar: Neben den mangelhaften Regelungen, dieSie zur Umsetzung der Richtlinie vorschlagen und diewir heute den Bundestag passieren lassen, haben Sienichts im Köcher, was echte Zuwanderung möglichmacht. Deshalb werden die in Deutschland lebendenAusländer sagen: Die Willkommenskultur ist nochmächtig ausbaufähig. – Dafür sollten wir eine Mengetun.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Tankred Schipanski
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das heutevorliegende Gesetzespaket bezieht sich auf eine typischeQuerschnittmaterie zwischen den Bereichen Inneres,Bildung und Arbeit. Ein ganz herzliches Dankeschön andie involvierten Arbeitsgruppen. Ein herzlicher Dank andie vielen Abgeordneten, die an der Vorbereitung diesesGesetzespakets mitgearbeitet haben. Im Bildungsbereichwaren das unser Sprecher Albert Rupprecht und von derFDP Patrick Meinhardt. Im innenpolitischen Bereichwaren das der Kollege Grindel und der Kollege Wolff.Als Forschungs- und Bildungspolitiker der Koalitionkann man nur sagen: Es hat sich gelohnt. Die Anhörungam 23. April dieses Jahres hat von allen Sachverständi-gen viel Lob und Anerkennung gebracht.
Die Sachverständigen der Bundesagentur für Arbeit, dessächsischen Innenministeriums, des Sachverständigen-rats deutscher Stiftungen für Integration und Migration,ein Richter vom Verwaltungsgericht in Darmstadt unddie Sachverständigen unserer Verbände, des Wirtschafts-rats, des BVMW, des Hochschulverbands und der BDA,alle waren sich einig: Dieses Gesetz ist ein großer Wurf.
Der Kollege Stephan Mayer hat zu Recht festgestellt:Das Verhalten der SPD, ihre Enthaltung heute, ist ein-fach nicht nachvollziehbar.
Die SPD hat, wie bei der ersten Lesung, keine einheitli-che Position. Frau Kolbe schürt hier gemeinsam mit denLinken Angst vor Lohndumping. Das ist billiger Popu-lismus.
Im Kern dieses Gesetzespakets geht es um Hochqua-lifizierte; daran möchte ich in dieser Debatte noch ein-mal erinnern. Heinrich Alt von der Bundesagentur für
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20899
Tankred Schipanski
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Arbeit hat in der Anhörung ebenso wie Reinhard Grindelheute hier im Plenum richtigerweise festgestellt: InDeutschland haben wir bei den Hochqualifizierten im-mer noch eine negative Wanderungsbilanz. Das heißt, esgibt mehr Hochqualifizierte, die Deutschland verlassen,als solche, die zuziehen.
Genau da setzt die christlich-liberale Koalition, insbe-sondere in der Bildungspolitik, an, und zwar nicht nurmit diesem Gesetz, sondern auch, wie gestern Abendhier behandelt, mit einem Antrag zum wissenschaftli-chen Nachwuchs, mit dem sehr ambitionierten Berufsan-erkennungsgesetz, das wir im September 2011 hier be-schlossen haben,
und mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz, über welcheswir in Kürze in diesem Hohen Hause debattieren wer-den.
Heute sprechen wir über Änderungen des Aufent-haltsgesetzes und der damit verbundenen Verordnungen.Das alles sind ganz konkrete Maßnahmen, die die Will-kommenskultur in Deutschland etablieren. Es ist schonverwunderlich, welche Seiten des Hohen Hauses heutedie Willkommenskultur etabliert haben möchten. FrauKolbe, Sie haben versucht, diesen Begriff zu interpretie-ren. Ich kann Ihnen sagen: Das ist nicht nötig; denn wir,die Koalition, haben diesen Begriff bereits klar besetzt.Wir setzen mit diesem Gesetz nicht irgendwelcheForderungen aus einem SPD-Antrag um, sondern Forde-rungen der Bologna-Konferenz des vergangenen Jahres.Wir setzen Ideen um, die wir durch intensive Gesprächemit den Studierenden und den Lehrenden an den Hoch-schulen entwickelt haben,
aber auch durch Gespräche mit Unternehmern vor Ort.Diese Koalition ist eben nah an den Menschen und kannzuhören.
Blicken wir einmal auf die neuen Regelungen für aus-ländische Studenten. Ich nenne dazu immer die entspre-chenden Paragrafen, damit Kollege Kilic die Systematikdieses Gesetzes versteht. § 16 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz:Die Begrenzung der Beschäftigung in einem Nebenjobwird von bisher maximal 90 Tagen auf 180 Tage proJahr erweitert.
§ 16 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz: Ausländische Hoch-schulabsolventen, die in Deutschland ihren Abschlusserworben haben, konnten bislang nur zwölf Monate beiuns bleiben, bevor sie eine Anstellung gefunden habenmussten. Diese Orientierungsphase verlängern wir auf18 Monate. Ähnliches gilt für einen neuen Aufenthaltsti-tel, § 18 c Aufenthaltsgesetz, den wir für ausländischeAbsolventen eingeführt haben. Das sind wirkungsvolleMaßnahmen.Es geht auch darum, junge Unternehmer zu gewin-nen. Wir erleichtern Unternehmungsgründungen bzw.Selbstständigkeit über § 21 des Aufenthaltsgesetzes undergänzen somit die Entrepreneurship-Studiengänge anden Hochschulen.Sie sollten also keine Schwarzmalerei betreiben.Wenn Sie an die Hochschulen gehen, werden Sie fest-stellen, dass man sich dort über das Gesetz freut. In Ge-sprächen an meiner Heimathochschule in Ilmenau – dortgibt es etwa 800 ausländische Studierende – wurde deut-lich, dass die ausländischen Studierenden begeistert vondiesem Gesetz und dankbar dafür sind. Wir gehen weitüber die Umsetzung der EU-Richtlinie hinaus.
Herr Kollege Schipanski, erlauben Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Kilic?
Nein, ich habe nur noch eine halbe Minute Redezeit.
Die Redezeit wird dafür angehalten.
Er kann ja nach meiner Rede eine Kurzinterventionmachen.Ich darf gerade den Grünen noch ein Sahnehäubchenpräsentieren; dies haben sie wahrscheinlich nicht gese-hen. § 3 der Beschäftigungsverfahrensverordnung wirdebenfalls geändert.
Die Ehepartner ausländischer hochqualifizierter Fach-kräfte dürfen in Deutschland künftig eine Beschäftigungausüben, ohne dass dies zuvor von der Ausländerbe-hörde genehmigt werden muss. Für die Betroffenen istdies ein Meilenstein.
Abschließend darf ich sinngemäß die Aussage einesSachverständigen der Universität Konstanz wiederge-ben, der am Montag feststellte: Man hat mit dem vorlie-genden Gesetzentwurf für die betroffenen Gruppen allesgemacht, was man machen kann.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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20900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Tankred Schipanski
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Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Dr. Matthias Zimmer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Ar-
beitsmarktpolitiker muss ich sagen: Für den deutschen
Arbeitsmarkt ist die Umsetzung der Hochqualifizierten-
richtlinie eine gute Nachricht. Die vorgeschlagenen
Maßnahmen helfen uns, Arbeitsplätze zu sichern und
Arbeitsplätze neu zu schaffen. Das betrifft nicht nur den
Bereich der Hochqualifizierten, sondern ich sehe auch
indirekte positive Wirkungen für die weniger Qualifi-
zierten, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben. Da-
mit kommen wir unserem Ziel näher, gerade auch diesen
Menschen eine Arbeitsperspektive zu bieten. Sosehr ich
diese Debatte über die Wettbewerbsfähigkeit der deut-
schen Wirtschaft verstehe – sie ist richtig –: Es geht auch
um den Erhalt und Ausbau von Beschäftigungschancen
derjenigen, die nicht unter diese Richtlinie fallen. Das
hat Kollege Vogel in aller Deutlichkeit gesagt.
Ich sage sehr deutlich: Das darf keine isolierte Maß-
nahme sein. Wir müssen dafür sorgen, dass die Anzahl
derjenigen abnimmt, die ohne Schulabschluss und Aus-
bildung sind. Wir müssen die Erwerbsbeteiligung Älte-
rer fördern und für eine bessere Vereinbarkeit von Fami-
lie und Beruf sorgen. Diese unterschiedlichen Bausteine
gehören zusammen und ergänzen sich.
Besonders gefreut hat mich – der Kollege Schipanski
ist darauf eingegangen –, dass wir die Anreize für aus-
ländische Studenten, neben dem Studium zu arbeiten,
verbessert haben und ihnen auch eine längere Frist ein-
geräumt haben, nach dem Studium hier eine Arbeit zu
finden. Ich habe es immer als widersinnig betrachtet,
junge Menschen aus dem Ausland hier bei uns zum Stu-
dium zuzulassen und es ihnen nach dem Studium so
schwer zu machen, bei uns eine dauerhafte Perspektive
zu finden. Seien wir ehrlich: Wir können doch um jeden
guten Studenten froh sein, der nicht in die USA oder
nach Kanada geht, sondern sich für eine deutsche Uni-
versität entscheidet.
Die neue Regelung erleichtert den beruflichen Einstieg
in Deutschland und ist auch ein Stück praktischer Inte-
grationspolitik.
Die Kollegin Kolbe hat ein Zitat von Max Frisch an-
geführt: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen
Menschen.“ Wir sind es den Menschen, die wir rufen,
schuldig, sie nicht nur als Arbeitskräfte anzusehen. Dazu
gehören meines Erachtens zwei Dinge: dass wir ihnen
auf der einen Seite sehr deutlich sagen, was wir von ih-
nen erwarten, etwa was Sprachkenntnisse oder die Be-
reitschaft angeht, sich mit unserer Gesellschaft und unse-
rer Kultur auseinanderzusetzen, dass wir auf der anderen
Seite aber gleichzeitig eine Willkommenskultur der aus-
gestreckten Hand praktizieren. Hier können wir von klas-
sischen Einwanderungsländern wie Kanada und Austra-
lien einiges lernen; die Kollegin Lösekrug-Möller hat das
richtigerweise angesprochen.
Meine Damen und Herren, wir sind aber auch im
Wandel zu einer Arbeitnehmergesellschaft. Die Knapp-
heit von Arbeitskräften führt dazu, dass wir auch in der
Arbeitswelt über ein neues Miteinander nachdenken
müssen. Ich finde deshalb die Idee sehr reizvoll, durch
einen Ausbau der Mitarbeiterbeteiligung den Graben
zwischen Kapital und Arbeit zu überbrücken und neue
Formen des partnerschaftlichen Arbeitens zu etablieren.
Das könnte ein Alleinstellungmerkmal werden, das uns
für hochqualifizierte Arbeitskräfte auch international at-
traktiv macht.
Gute Standards für gute Arbeit durch mitarbeiter-
orientierte Personalpolitik und eine gute Unternehmens-
kultur sind dabei auch eine Bringschuld der Wirtschaft.
Die Forderung nach olympiareifen Arbeitnehmern, die
billig sind, ist ein Irrweg. Der Mensch kommt nicht als
Produktionsfaktor zur Welt, und er verlässt sie auch
nicht als solcher. Nichts rechtfertigt die Annahme, er
könne dazwischen darauf reduziert werden.
Wer in Arbeit nur einen Produktionsfaktor sieht, ver-
grault am Ende vielleicht diejenigen Menschen, die drin-
gend gebraucht werden. Dann sucht sich der Produk-
tionsfaktor nämlich eine Umgebung, in der er als Mensch
ernst genommen wird und besser gedeihen kann.
Deutschland für Fachkräfte attraktiver zu gestalten
und Abwanderung zu stoppen, ist also nicht nur eine
Frage des Zugangs und der guten Bezahlung, sondern es
bedarf auch einer neuen Form des Miteinanders, am Ar-
beitsplatz wie in der Gesellschaft. Dies zu leisten, ist
häufig jenseits unserer Möglichkeiten als Gesetzgeber.
Es ist aber in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset-zung der Hochqualifizierten-Richtlinie der EuropäischenUnion. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe aseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9436,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-che 17/8682 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20901
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion DieLinke und Enthaltung von SPD und Grünen angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9437.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-ßungsantrag ist abgelehnt.Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/9436 fort.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Innenausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion der SPD auf Drucksache 17/9029 mit dem Titel„Programm zur Unterstützung der Sicherung des Fach-kräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen und der Linken gegen die Stimmen von SPDund Grünen.Schließlich empfiehlt der Innenausschuss unter Buch-stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/3862 mit dem Titel „Fachkräfteeinwanderungdurch ein Punktesystem regeln“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Auch diese Beschlussempfehlung ist an-genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Grü-nen und Enthaltung der SPD-Fraktion.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 a bis c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. KarlLauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDPraxisgebühr abschaffen – Hausärztinnen undHausärzte stärken– Drucksache 17/9189 –b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldWeinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEZuzahlungen für Patientinnen und Patientenjetzt abschaffen– Drucksache 17/9067 –c) Beratung des Antrags der Abgeordneten BirgittBender, Maria Klein-Schmeink, ElisabethScharfenberg, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENZusatzbeiträge aufheben, Überschüsse für Ab-schaffung der Praxisgebühr nutzen– Drucksache 17/9408 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt esWiderspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann istdas so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach von derSPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Es ist Teil der Wahrheit: Die Praxisgebühr, die wirheute besprechen, ist damals von uns mit Unterstützungder Union, die im Vermittlungsausschuss den Vorschlagdurchgesetzt hat, eingeführt worden. Wir müssen fest-stellen, dass wir, die SPD, die Praxisgebühr damals fürrichtig gehalten haben.Der Hintergrund ist ganz klar: Wir haben uns davonerwartet, dass es zu einer Reduktion der Zahl der Arztbe-suche kommt. Wir haben damals erwartet, dass die haus-ärztliche Versorgung im Vergleich zur fachärztlichenVersorgung besser angesteuert werden kann, und wir ha-ben damals ebenfalls davon erwartet, dass es ein höheresKostenbewusstsein geben wird.Alle drei Erwartungen haben sich nachweislich nichterfüllt: Die Zahl der Arztbesuche ist nicht gesunken.Nach dem, was wir wissen, gilt dies insbesondere auchfür die Zahl der überflüssigen Arztbesuche. Es konntenicht erreicht werden, dass Hausärzte im Vergleich zuFachärzten einfacher angesteuert werden können, und esgibt auch kein gestiegenes Kostenbewusstsein, wie jederder täglichen Praxis, den Studien und der Berichterstat-tung entnehmen kann. Somit kann man sagen: Die Pra-xisgebühr hat enttäuscht. Sie hat, wenn man so will, ver-sagt und gehört daher abgeschafft.
Das ist insbesondere deshalb so, weil die Praxisge-bühr auch unerwartete Nebenwirkungen mit sich bringt.Wir wissen, dass die Praxisgebühr Obdachlose, Einkom-mensschwache, Arbeitslosengeldempfänger und Men-schen mit Migrationshintergrund und mit geringen Ein-künften auch dann vom Arztbesuch abhält – oft imÜbrigen ohne tatsächlichen Grund; denn oft sind sie vonder Zuzahlung der Praxisgebühr gar nicht direkt betrof-fen –, wenn er sinnvoll ist. Das ist natürlich eine gravie-rende Nebenwirkung.
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20902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Dr. Karl Lauterbach
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Ich spitze es zu: Man kann sagen, die Praxisgebühr istungerecht, weil sie Arme und Einkommensschwache be-lastet. Sie hat keine positive Wirkung. Eine Nebenwir-kung ist, dass sie Einkommensschwache von nötigenArztbesuchen abhält. Sie ist im Prinzip eine Arznei nurmit negativen Wirkungen und keiner positiven Wirkungund gehört daher vom Markt genommen. Es muss sozu-sagen der Rote-Hand-Brief verschickt werden, meinelieben Genossinnen und Genossen.
– Ich glaube, dass wir in dieser Frage, Herr Zöller, allehier im Saal Genossinnen und Genossen sind; denn hierkann ja nicht über die Inhalte gestritten werden. SelbstHerr Bahr stimmt mir in dieser Sache ausnahmsweisezu.Jetzt muss man sich die Frage stellen: Wieso lehnt dieUnion weiterhin die Abschaffung der Praxisgebühr ab?Sie ist heute hier im Plenum die einzige Partei, die diePraxisgebühr weiter verteidigt. Ich kann es Ihnen sagen:Es geht um Ideologie. Es kann keine Sachgründe geben,sondern ihre Ideologie ist: Je mehr Zuzahlungen und jemehr direkte Belastungen es für den Versicherten und fürden Patienten gibt, desto besser ist das Gesundheitssys-tem.
Hier zeigt sich noch einmal die alte Zuzahlungsideologieder Union. Diese Ideologie wird heute von den Bürgern,von den Patienten und von allen anderen Fraktionen hierim Saal abgelehnt.
Es ist eine konservative Ideologie, die darauf hinaus-läuft, dass man Dinge macht, auch wenn man weiß, dasssie nicht richtig sind, weil man glaubt, damit eine altekonservative Idee verteidigen zu können. Wir erlebendas Gleiche derzeit beim Erziehungsgeld, oder, genauergesagt, beim Nichterziehungsgeld. Mit dem Nichterzie-hungsgeld soll ein Anreiz gegeben werden, damit Ein-kommensschwache ihre Kinder nicht in die Kita brin-gen. Das ist Unsinn!
Bei der Praxisgebühr soll ein Anreiz gesetzt werden, da-mit Einkommensschwache nicht zum Arzt gehen. Auchdas ist Unsinn. Somit ist es nichts anderes als eine Be-strafung und im Prinzip eine Sanktion gegen die Bedürf-tigen und aus meiner Sicht somit eine Politik gegen Vor-beugung und gegen Prävention.Wir müssen daher heute gemeinsam betonen, was wirgelernt haben. Wir werden gleich von den Kollegen vonder Linkspartei das hören, was wir immer hören: DieLinkspartei hat das schon immer gewusst, zum Beispielbei der Finanzkrise.
Es gibt kein Thema, bei dem Sie es nicht vorher schonbesser gewusst haben; das wissen wir.
– Ja, ganz genau.Aber nichtsdestotrotz ist der Punkt heute der, dass wiraus gemachten Fehlern lernen. Wir sind gewählt, um zuregieren, um etwas gebacken zu bekommen. Was wirderzeit bei der Regierungskoalition sehen, zeigt: Die Re-gierungskoalition bekommt nichts gebacken. Es gibtkein noch so kleines Thema, bei dem Sie etwas geba-cken bekämen. Selbst bei der Praxisgebühr sind Sie zer-stritten. Minister Bahr von der FDP hat recht, wenn ersagt: Die Praxisgebühr hat keinen Wert. Auch die FDPkann einmal recht haben.
Nur weil die FDP einen Vorschlag unterstützt, ist ernicht automatisch falsch.
Aber was immer gilt, ist: Diese Regierung bekommtnichts mehr gebacken. Es gibt kein Thema, bei dem nochetwas entschieden werden könnte.
Daher sage ich Ihnen: Nehmen Sie sich zurück. Be-achten Sie: Der Wähler kann das nicht mehr ertragen.Der Wähler will, dass wir handlungsfähig sind. DerWähler will, dass wir in der Sache streiten, nicht überIdeologien. Der Wähler will nicht, dass wir mit jederSachfrage Wahlkampf machen.
Das ist eine Tatsache.Wenn es so ist, dass Sie eine Position nicht verteidi-gen können, dass Sie keinen einzigen Vorteil für die Pra-xisgebühr anführen können, dann, meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen und Nicht-Genossen von derUnion, sage ich Ihnen: Nehmen Sie davon Abstand. Ma-chen Sie das, was der Bürger will. Machen Sie das, wasuns die Sachverständigen sagen. Machen Sie, wofür Siegewählt sind.Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort der Kollege Jens Spahn für dieCDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20903
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-nosse Lauterbach, ich erinnere mich an die Debatten, diewir vor zwei Jahren geführt haben, übrigens auch vor ei-ner Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Sie verliefendamals nach dem Motto Und täglich grüßt das Murmel-tier, und genau so machen Sie es jetzt sitzungswöchent-lich auch.Wir haben damals übrigens – das ist ganz spannend –regelmäßig in Aktuellen Stunden über Ihren Vorwurfdiskutiert, wir würden im Gesundheitswesen nicht genugsparen. Das haben Sie 2010 gesagt: Wir sollten mehrsparen. Bei Ärzten, Krankenhäusern, Apothekern undder Pharmaindustrie sollten wir endlich einmal richtighinlangen.Nun – zwei Jahre später – kann Ihnen, der Oppositioninsgesamt, das Geldausgeben nicht schnell genug gehen.
Sie wollen alle Zuzahlungen – das sind 5 MilliardenEuro – abschaffen.
Sie wollen mehr Geld für die Krankenhäuser. FrauKollegin Bunge hat gestern angedeutet, sie könne sichbis zu 600 Millionen Euro mehr für die Apotheker vor-stellen.Sie wollen also mehr für Ärzte und Krankenhäuserund im Zweifelsfall die Zuzahlungen streichen, ohneauch nur einen Satz darüber zu sagen, wie das gegenfi-nanziert werden soll. Das macht, wie übrigens Ihreganze Rede, einmal mehr den Unernst deutlich, mit demSie diese Diskussion führen.
Ihnen geht es an dieser Stelle nicht um die Sache, son-dern schlicht und ergreifend um die Landtagswahlen inNordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein.Es ist bemerkenswert, dass nach dem Spruch „Curry-wurst ist SPD“, den ich für den Höhepunkt des Unerns-tes im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen gehaltenhabe, Frau Kraft und Frau Löhrmann vor dem Landtagin Nordrhein-Westfalen, einem Ort, an dem eigentlichüber die Fragen der Landespolitik diskutiert werdenmüsste – in Nordrhein-Westfalen gäbe es viel zu disku-tieren, was die Verschuldung angeht; das kann ich alsWestfale sagen –, plakatieren: Die Praxisgebühr mussweg.Wenn es noch eines Beispiels bedurfte, dass es Ihnennicht um die Sache, sondern um Klamauk und Wahl-kampf geht, dann ist das an dem Tag deutlich geworden.
Schade ist daran, dass Sie es am Ende nicht mehr hinbe-kommen, zu dem zu stehen, was Sie selber beschlossenhaben, und zwar aus guten Gründen. Sie sind in Ihrerganzen Rede, die auch von Klamauk und Witzemachengeprägt war, nicht bereit gewesen, sich ernsthaft mit denganzen Fragen auseinanderzusetzen.
SPD und Grüne haben 2004 aus guten Gründen diePraxisgebühr zusammen mit anderen Zuzahlungen mitunserer Zustimmung eingeführt.
Zuzahlungen und Eigenbeteiligung sind nämlich auchein Ausdruck von Solidarität.Wir haben eines der besten Gesundheitswesen derWelt.
Wir bieten flächendeckend in allen Regionen des Landeseine Gesundheitsversorgung auf einem Niveau, wie esdas in keinem anderen Land der Welt gibt, und jeder hatunabhängig vom Einkommen Zugang dazu. Ich be-haupte, wir haben das beste Gesundheitssystem derWelt.Wir haben 2004 gemeinsam gesagt, dass sich derje-nige, der von diesem hervorragenden Gesundheitssys-tem profitiert – das auch ein teures ist, aber wir wollendas –, im Rahmen seiner Möglichkeiten mit der Eigen-beteiligung auch ein Stück weit mit einbringen soll. Dasist auch Solidarität damit, dass wir ein so tolles Systemzur Verfügung stellen, auf das man auch unabhängigvom Einkommen und dem, was man nötig hat, zugreifenkann.
Bei der Eigenbeteiligung durch Zuzahlungen und Pra-xisgebühren gibt es aber Einkommensgrenzen. Ein chro-nisch Kranker muss nicht mehr als 1 Prozent seines Ein-kommens insgesamt für Zuzahlungen und Praxisgebühraufbringen, die anderen nicht mehr als 2 Prozent. Dassind bei 800 Euro Rente oder Einkommen im Monat8 Euro monatlich, die man im Fall der Fälle maximal anZuzahlungen aufbringen muss.
Ich finde, das ist am Ende ausgewogen und ein Aus-druck von gegenseitiger Solidarität. Es bringt zum Aus-druck, dass man bereit ist, für den Nutzen des guten Ge-sundheitssystems auch etwas mit einzubringen, dassaber gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass niemand über-fordert wird.
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20904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Jens Spahn
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Sie machen sich nicht einmal die Mühe, auch nur an-satzweise zu erklären, warum das 2004 eingeführt wor-den ist und warum auch das einen vernünftigen Kernhatte. Sie geben sich nur dem Wahlkampf hin, weil esviel einfacher ist, alles zu vergessen, was man einmal fürrichtig gehalten hat.
Hinzu kommt die Frage der Finanzlage der gesetzli-chen Krankenversicherung.
Ihnen kann es mit Hinweis darauf, dass unsere Finanz-lage so gut ist wie seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehn-ten nicht mehr, nicht schnell genug gehen, das Geldschnellstmöglich auszugeben, ohne zu sagen, wie dasmittel- und langfristig sauber finanziert werden soll.
Es ist erst einmal etwas Schönes – ich jedenfalls freuemich darüber –, dass es die Politik dieser christlich-libe-ralen Koalition geschafft hat, dass wir zum ersten Malseit vielen Jahren in der Gesundheitspolitik nicht überDefizite, Sparmaßnahmen und Kostendämpfungen redenmüssen, wie noch 2004, als wir etwa Brillen aus der Er-stattung ausgegliedert haben. Wir haben aufgrund derguten wirtschaftlichen Entwicklung und der Spargesetzedieser Koalition für 2011und 2012
für Solidität und eine gute Finanzlage in der gesetzlichenKrankenversicherung gesorgt, wie es sie seit vielen Jah-ren nicht mehr gegeben hat. Ich finde, wir sollten uns zu-erst einmal über die gute wirtschaftliche und finanzielleLage freuen.
Sie erwecken den Eindruck, als wäre nun alles egal,weil es gut läuft. Mehr Geld für Krankenhäuser, Ärzteund Apotheker sowie Abschaffung der Zuzahlungen, je-der bekommt das, was er sich wünscht.
Sie können mir glauben: Wir würden das ebenfalls gernemachen. Aber wir sind der Meinung, dass wir auch Ver-antwortung für die langfristige Finanzierbarkeit der ge-setzlichen Krankenversicherung haben. Wir alle wissen,dass sich die Gesundheitsversorgung in einer älter wer-denden Gesellschaft und in einem System, in das wirmedizinischen Fortschritt integrieren wollen – wir wol-len doch, dass die Menschen auch in Zukunft von demprofitieren, was die Medizin ermöglicht – verteuernwird.
Daher macht es doch Sinn, in guten Zeiten Rücklagenaufzubauen und diese dann in den Zeiten, in denen esteurer wird und wirtschaftlich nicht mehr so gut läuft wieim Moment, zu nutzen. Jedenfalls wäre es fatal, in einerbeginnenden Wirtschaftskrise wie in den Jahren 2004,2005 oder 2008 als Erstes die Krankenversicherungsbei-träge erhöhen oder ein massives Sparprogramm auflegenzu müssen; das wäre das Schlechteste.Alles, was wir vorschlagen und worüber wir diskutie-ren – zum Beispiel zusätzliche Leistungen oder gerin-gere Einnahmen –, muss dauerhaft finanziert sein. Dasist es nicht, wenn man wie Sie kurzfristig auf 5 Milliar-den Euro verzichtet. Sie machen die Praxisgebühr nichtumsonst zum Thema in einem Landtagswahlkampf;denn Sie wissen, dass man für die Forderung nach Ab-schaffung dieser Gebühr zuerst Applaus erntet.
Aber wir meinen, dass es zwar unpopulär, aber der Sa-che wert ist, sachlich zu argumentieren und darauf zuverweisen, dass die Praxisgebühr eine Komponente derSolidarität und der zukünftigen finanziellen Tragfähig-keit darstellt. Wir wollen deshalb an der Praxisgebührfesthalten und die Rücklagen in der gesetzlichen Kran-kenversicherung für schlechte Zeiten aufheben. Das istzwar nicht populär, liegt aber im Interesse der Menschenund ist für eine medizinische Versorgung auch in Zu-kunft das Richtige und das Verantwortbare.
Das Wort hat für die Fraktion Die Linke der Kollege
Klaus Ernst.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Die Anträge, mit denen wir uns heute befassen,sind höchst erfreulich. Aber ich kann nicht glauben, HerrLauterbach,
dass ihr die unerwünschten Nebenwirkungen der Praxis-gebühr erst nach sechs Jahren bemerkt haben wollt. Dahättet ihr ein wenig schneller sein sollen.
Sie alle haben die bundesrepublikanische Bevölkerungeigentlich einem Feldversuch ausgesetzt. Dieser istgründlich gescheitert. Es ist erfreulich, dass Sie, meineDamen und Herren von der SPD, nun zur Vernunft kom-men. Von Ihnen, Herr Spahn, kann man das nicht be-haupten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20905
Klaus Ernst
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Die Praxisgebühr war von Anfang an grober Unfug.Es war von Anfang an klar, dass es den Menschen an dieGeldbörse geht und dass Arztbesuche nicht mehr in demMaße stattfinden, wie es notwendig wäre. Die Bürokra-tie wurde aufgebläht, und das ausgerechnet durch Sie,die Sie sich sonst immer gegen Bürokratie wenden. DieParität bei der Finanzierung der Gesundheitsversorgungwurde weiter ausgehöhlt. Im sogenannten Zuzahlungs-bericht des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassenheißt es – das müsste Ihnen wirklich zu denken geben,auch Ihnen Herr Spahn, der Sie über alles Mögliche re-den, nur nicht über die Patienten – zur Praxisgebühr:
Allerdings hat sie insbesondere bei einkommens-schwachen Versicherten zu einer Verzögerung oderVermeidung von subjektiv notwendigen Arztbesu-chen beigetragen.Das sagen nicht wir, sondern die gesetzlichen Kranken-kassen. Wenn Sie sich weiterhin weigern, die Praxisge-bühr abzuschaffen, sind Sie persönlich für den sich ver-schlechternden Gesundheitszustand dieser Menschenmitverantwortlich, Herr Spahn.
Jetzt könnte man sagen: Die FDP macht es richtig.Fünf stellvertretende Ministerpräsidenten der Länder ha-ben sich gegen die Praxisgebühr ausgesprochen. Es wa-ren Heiner Garg, Martin Zeil aus Bayern – bei dem hates mich besonders gewundert –, Jörg-Uwe Hahn, JörgBode und Sven Morlok. Alle sagen, dass die Praxisge-bühr als Steuerungsinstrument versagt hat. Das Zah-lungsausfallrisiko liegt bei den Ärzten, die Belastung fürdie Praxen ist hoch, und es gibt weitere Argumente. Dasist vollkommen richtig.In der gemeinsamen Erklärung der FDP-Ministerheißt es dann – ich zitiere –:Die stellvertretenden Ministerpräsidenten der FDPerwarten von der Bundesregierung, dass die Versi-cherten der Gesetzlichen Krankenversicherungnicht länger mit der Erhebung einer Praxisgebührbelastet werden.Richtig. Da haben sie ausnahmsweise einmal recht.Auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn.
Nur, ich sage Ihnen: Wir müssen uns natürlich dieFrage stellen, warum wir die Praxisgebühr noch haben,wenn die Oppositionsparteien und auch die FDP gegendie Praxisgebühr sind. Warum existiert sie eigentlichnoch?
Wir kommen nicht daran vorbei, dass die Linke imJahr 2006 die Abschaffung der Praxisgebühr geforderthat. Wer hat die Abschaffung der Praxisgebühr durchsein Nein hier im Bundestag verhindert? Das waren dieCDU/CSU, die SPD, die FDP und die Grünen. ImJahr 2011 haben wir erneut einen Versuch unternommen,die Praxisgebühr abzuschaffen. Wer war dagegen? DieCDU/CSU, die SPD, die FDP und die Grünen. Wir wa-ren die Einzigen, die die Abschaffung gefordert haben.Jetzt wird es spannend. Was treiben Sie von der FDPeigentlich hier? Wir haben im Jahr 2012, vor kurzem,hier einen Vorschlag zur Abschaffung der Praxisgebührvorgelegt und gesagt: Lasst uns sofort darüber abstim-men. – Wie haben Sie sich verhalten? Bei der Abstim-mung darüber hat die CDU/CSU natürlich mit Nein ge-stimmt, auch die SPD hat mit Nein gestimmt – imJahr 2012, wohlgemerkt –, auch die FDP hat mit Neingestimmt. Jetzt machen Sie den doppelten Rittbergerund stellen sich an die Spitze der Bewegung. Das glaubtIhnen von der FDP doch kein Schwein mehr in diesemLand, um das einmal deutlich zu sagen.
Die Grünen haben schon richtigerweise mit uns ge-stimmt.Die Gründe sind spannend. Die SPD hat ihre Ableh-nung immer damit begründet, die Abschaffung sei nichtfinanzierbar. Die Grünen sagten früher, es fehle an Bele-gen, die eine Abschaffung rechtfertigten. Die FDP argu-mentierte, es fehle an Alternativen, wie die Anzahl derArztbesuche begrenzt werden könne. Das waren Ihre Ar-gumente. Es hat sechs Jahre gedauert, von 2006 bis2012, bis einige zur Vernunft kamen – einige. Die CDU/CSU ist noch weit von der Vernunft entfernt. Herr Spahnhat das gerade unter Beweis gestellt.Aber was Sie, Kolleginnen und Kollegen von derFDP, zurzeit treiben, ist der Hammer. Weshalb? Weil wirheute über einen Antrag der Linken entscheiden und diePraxisgebühr abschaffen könnten, wenn Sie nicht imAusschuss die Behandlung unseres Antrags verhinderthätten, sodass er heute nicht zur Abstimmung steht.
Das ist die Wahrheit.
Ich kann Ihnen nur sagen: Was Sie treiben, schlägt demFass wirklich den Boden aus.
Sie rennen durch die Gegend, Ihre Vizeministerpräsiden-ten machen schöne Erklärungen, und wenn es zumSchwur kommt, dann machen Sie den schlanken Hasen.Sie laufen doch schneller rückwärts, als Sie nach vornedenken können. Das ist Ihr Problem, wenn es konkretwird.
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20906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Klaus Ernst
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Deshalb sage ich Ihnen: Was wir brauchen, ist eineGesundheitspolitik im Interesse der Bürger. Sie führendie Leute hinter die Fichte. Sie tun so, als ob Sie etwasändern wollten, aber in Wirklichkeit verhindern Sie dieAbschaffung der Praxisgebühr. Das ist die Wahrheit. Daslassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Christine
Aschenberg-Dugnus das Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir beraten heute über zwei Anträge zur Praxis-
gebühr. Ich habe schon beim letzten Mal gesagt: Es ist
doch schön, dass wir hier solche Luxusdebatten führen
können; denn es geht auch darum, dass wir Überschüsse
im System der gesetzlichen Krankenversicherung haben.
Herr Lauterbach, ich bin richtig begeistert. Allein die-
ser Debatte heute zu folgen, war es schon wert, hier zu
sein.
Sie als reumütigen, irregeleiteten Menschen zu erleben,
der endlich zugibt, dass er unrecht gehabt hat, ist ein
Grund, das heutige Datum im Kalender anzustreichen.
Aber das nimmt Ihnen hier in diesem Saale überhaupt
niemand ab.
Das Konzept der Praxisgebühr geht nämlich auf einen
Vorschlag des Sachverständigenrats für die Konzertierte
Aktion im Gesundheitswesen zurück. In dem Vorschlag
heißt es:
In diesem Zusammenhang steht auch die Erhebung
einer sog. Praxisgebühr … zur Diskussion.
Dann werden viele Worte über die positiven Effekte ei-
ner finanziellen Schwelle gegenüber sogenannten Baga-
tell-Inanspruchnahmen geschrieben. Also, es wird die
Praxisgebühr befürwortet.
Nun dürfen Sie mal raten, wer einer der Sachverstän-
digen war, der diesen Vorschlag verfasst und unter-
schrieben hat!
Na?
Richtig! Es war Karl Lauterbach, Institut für Gesund-
heitsökonomie, Universität Köln.
All die Jahre haben Sie so getan, als stünden Sie da-
hinter, lieber Herr Kollege Lauterbach, und jetzt auf ein-
mal tun Sie so, als hätten Sie es schon immer gewusst.
Das nimmt Ihnen niemand ab.
– Das haben Sie gesagt, und das kann auch niemand
wegschieben.
Tatsache ist: Rot-Grün hat diese Praxisgebühr einge-
führt. Nicht die FDP, sondern Rot-Grün war es, und das
kann man hier gar nicht oft genug wiederholen.
Wenn Sie jetzt im NRW-Wahlkampf die Abschaffung
der Praxisgebühr fordern, dann ist das absolut unglaub-
würdig und unredlich. Es ist unseriös, weil Sie nämlich
für diese Praxisgebühr verantwortlich sind. Wir werden
nicht müde werden, das immer und immer wieder zu
wiederholen. Ich sage es noch einmal: Ihren Sinneswan-
del jetzt nimmt Ihnen sowieso niemand ab.
Sicher ist es müßig, darüber zu streiten, wer wann zu-
erst geahnt hat, dass mit der Praxisgebühr vielleicht
nicht das erreicht werden kann, was erreicht werden
sollte. Aber ich finde es ganz wichtig, dass wir hier Er-
kenntnisse darüber gewinnen, was die Praxisgebühr aus-
macht, was sie anrichtet, und diese Erkenntnisse dann in
unsere Beratungen einzuführen.
Kollegin Aschenberg-Dugnus, gestatten Sie eine
Frage oder Bemerkung des Kollegen Lauterbach?
Aber gern doch, Herr Kollege.
Frau Dugnus, erinnern Sie sich daran, dass wir dieAbschaffung der Praxisgebühr bereits gefordert haben,als noch gar nicht klar war,
dass Ihnen durch ein Missgeschick die Neuwahl in NRWdroht?
Wir waren keine Hellseher. Ein Blick auf die Terminewird Ihnen zeigen: Nur die Linkspartei hat möglicher-weise schon gewusst, dass es zu Neuwahlen kommt, undauch die Grünen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20907
Dr. Karl Lauterbach
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Stimmen Sie mir somit zu, Frau Dugnus, dass wirdies schon gefordert haben, als wir von der Neuwahlnoch nichts wussten, und dass Ihr Vorwurf daher nichtredlich ist? Wir haben Ihnen nicht vorgeworfen, dass Siesich dieser Forderung jetzt im Wahlkampf NRW an-schließen.
Das habe ich der FDP nicht vorgeworfen, weil ich dasauch nicht unterstellen möchte. Wieso – das ist meineFrage – werfen Sie uns etwas vor, was nachweislich sonicht stimmen kann, derweil Sie sich selbst diesem Ver-dacht doch aussetzen? Das ist unredlich.
Herr Kollege Lauterbach, Sie meinen sicher Schein-
anträge wie die, die heute vorliegen, in denen es über-
haupt nicht um die Praxisgebühr, sondern um andere
Dinge geht, zum Beispiel um die Bürgerversicherung.
Das nimmt Ihnen ja auch niemand ab.
Wir werden in der Koalition ganz in Ruhe darüber
diskutieren. Wir legen hier unsere Argumente auf den
Tisch und werden im Gesundheitsausschuss mit unserem
geschätzten Koalitionspartner diskutieren und die Argu-
mente austauschen; dafür sind wir da.
Daran lassen wir die Öffentlichkeit teilnehmen.
Wir hatten immer eine klare Positionierung zur
Praxisgebühr. Insofern haben wir uns da nichts vorzu-
werfen. Aber ich kann den Ball an Sie zurückgeben. Bei
Ihnen sieht das, glaube ich, ein bisschen anders aus.
Ich würde jetzt gern in meiner Rede fortfahren und
auf die Sachargumente zu sprechen kommen. – Die
Steuerungseffekte, derentwegen die Praxisgebühr einge-
führt wurde, sind – das wissen wir alle; das wurde be-
reits erwähnt – überhaupt nicht eingetreten. Die Gebühr
hat die Zahl der sogenannten Bagatell-Inanspruchnah-
men – darum geht es ja – nicht nennenswert verringert.
Wo die Praxisgebühr allerdings unschlagbar ist – das ist
unser Credo als FDP –, ist der unnötige Bürokratieauf-
wand, der dadurch erzeugt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Praxisgebühr in
Höhe von 10 Euro wurde nach Angaben der KBV, der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung, im Jahr 2010
156 Millionen Mal erhoben. Das muss man sich einmal
auf der Zunge zergehen lassen.
Kollegin Dugnus, es gibt einen weiteren Wunsch,
eine Frage zu stellen oder eine Zwischenbemerkung zu
machen, nämlich vom Kollegen Harald Weinberg.
Jetzt würde ich gern meine Ausführungen zu Ende
bringen, –
Gut.
– und nachher können wir gern weitermachen.Geht man bei der Praxisgebühr von einem Bearbei-tungsaufwand von nur vier Minuten aus, kommen wir imJahr auf stolze 624 Millionen Minuten administrativenAufwand insgesamt. Das entspricht über 10 MillionenStunden, die in deutschen Arztpraxen für die Erhebungder Praxisgebühr aufgewendet werden.
Bei 87 000 Arztpraxen macht das pro Jahr und Praxis ei-nen Durchschnittswert von ungefähr 119 Stunden, dieeinfach so für die Erhebung der Praxisgebühr draufge-hen. Hinzu kommen 1,4 Millionen Mahnverfahren. Inder Summe sprechen wir von Verwaltungskosten inHöhe von 360 Millionen Euro.Wen wir auch nicht vergessen dürfen, sind die Patien-ten. Sie haben ebenfalls einen Aufwand, etwa wenn siesich von der Praxisgebühr befreien lassen wollen. Siemüssen Belege sammeln und das Ganze einreichen. Undwenn sie die 10 Euro nicht in der Tasche haben, müssensie noch einmal in die Praxis gehen und die Praxisgebührnachbezahlen.Im Ergebnis ist klar: Die Praxisgebühr ist ein Büro-kratiemonster, und zwar eines, das keinerlei Steuerungs-wirkung entfaltet hat.
Jetzt komme ich zu den lieben Kolleginnen und Kol-legen der Opposition. Wie ich eben schon angedeutethabe, ist in den Überschriften Ihrer Anträge die Forde-rung nach Abschaffung der Praxisgebühr natürlich teil-weise enthalten. Sie versuchen hier heute vergeblich, ei-nen vermeintlichen Widerspruch zwischen unsererAblehnung Ihrer Anträge und unserer Forderung nachAbschaffung der Praxisgebühr herzustellen.Die Wahrheit ist aber, dass Ihre Anträge Mogelpa-ckungen sind; denn Ihnen geht es doch gar nicht um dieAbschaffung der Praxisgebühr. Im Kern wollen Sie alleauf der linken Seite eine, wie auch immer geartete, Bür-gerversicherung einführen
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20908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Christine Aschenberg-Dugnus
(C)
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– sehen Sie; Sie geben es ja zu –; eine Bürgerversiche-rung, in die jede noch so kleine Sparbucheinlage undjede noch so kleine Mieteinnahme einfließen.
Kollegin Aschenberg-Dugnus, gestatten Sie eine
Frage oder Bemerkung des Kollegen Klaus Ernst?
Nein, danke; ich würde gerne zu Ende kommen.
– Jetzt geht es nämlich gegen Sie. Das müssen Sie sich
erst noch einmal anhören. Im Gewand eines Antrags auf
Abschaffung der Praxisgebühr präsentieren Sie uns näm-
lich in drei unterschiedlichen Varianten den gleichen Un-
sinn der Bürgerversicherung. Deswegen werden wir Ihre
Anträge auch ablehnen.
Die FDP plädiert für die Abschaffung der Praxisge-
bühr. Wir plädieren aber auch für eine sachliche Debatte
über den Weg, auf dem wir dahin kommen.
Wir widmen uns den tatsächlichen Herausforderun-
gen des Gesundheitssystems. Wir haben es in der Koali-
tion in kürzester Zeit geschafft, die Finanzen auf eine
stabile Grundlage zu stellen. Wir haben dafür gesorgt,
dass die Menschen auch im ländlichen Raum beste me-
dizinische Versorgung erhalten. Jetzt sorgen wir dafür,
dass die Pflegeversicherung zukunftsfest gemacht wird.
Zudem haben wir noch ein Plus in den Kassen. Ich
denke, dass sich das alles sehen lassen kann.
Stellen Sie ruhig weiter Ihre Schaufensteranträge. Wir
arbeiten ganz in Ruhe an der Sache. Wir führen diese
Sachdebatte da, wo sie hingehört, nämlich im zuständi-
gen Gremium des Deutschen Bundestages, also im Ge-
sundheitsausschuss.
Was wir nicht tun, ist, Ihren Schaufensteranträgen und
Ihren Mogelpackungen zuzustimmen.
Danke sehr.
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Weinberg
das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich habe mich zu
dieser Kurzintervention gemeldet, weil die Kollegin ge-
rade zunächst einmal sehr gute Argumente gegen die
Praxisgebühr vorgebracht hat, dann allerdings an einer
Stelle eindeutig die Unwahrheit gesagt hat. Unser An-
trag trägt nämlich, um das ganz deutlich zu sagen, die
Überschrift „Zuzahlungen für Patientinnen und Patien-
ten jetzt abschaffen“ und hat den Text:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
rung auf, unverzüglich einen Gesetzentwurf zur
Abschaffung sämtlicher Zuzahlungen in der gesetz-
lichen Krankenversicherung vorzulegen.
Es geht um die Praxisgebühr und gibt keinen einzigen
Hinweis auf die Bürgerversicherung, wie Sie behauptet
haben.
Sie müssten auch noch einmal folgenden Wider-
spruch aufklären: Die FDP sammelt sowohl im schles-
wig-holsteinischen Wahlkampf als auch im NRW-Wahl-
kampf Unterschriften gegen die Praxisgebühr. Auf der
Website der FDP hat sie eine Umfrage zur Praxisgebühr
gestartet, an der inzwischen über 6 000 Personen teilge-
nommen haben. Über 80 Prozent sind übrigens dagegen,
um das ganz deutlich zu sagen. Das finde ich auch sehr
gut. Schaufenstersachen macht die FDP also in einer
sehr ausführlichen Art und Weise.
Gleichzeitig verhindert sie allerdings den Beschluss
unseres Antrags. Außerdem wird sie nachher hier mit Si-
cherheit auch die Sofortabstimmung über die Praxisge-
bühr verhindern. Woher kommt diese Schizophrenie?
Das müssen Sie mir einmal erklären.
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Ja, ich werde versuchen, Ihnen diesen Passus zu zei-gen. Sie wollen die Zuzahlung und bestimmte Dinge ab-schaffen. Das sind Teile der Bürgerversicherung.
Falls ich mich geirrt haben sollte, entschuldige ich michjetzt schon einmal dafür.
Ich glaube, dass in anderen Anträgen die Bürgerversi-cherung erwähnt wurde. Herr Kollege, wir können unsdarüber gerne noch einmal in Ruhe unterhalten.Ich sehe keinen Widerspruch. Ich habe schon wieder-holt erläutert: Die FDP hat sich von Anfang an gegen diePraxisgebühr gewandt. Ich kann Ihnen viele Veranstal-tungen nennen, bei denen ich das öffentlich gesagt habe.
Deswegen ist es in Ordnung, dass wir so argumentieren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20909
Christine Aschenberg-Dugnus
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Ich bin zum Beispiel seit 28 Jahren verheiratet. Wasmeinen Sie, wie oft ich mit meinem Mann unterschiedli-cher Meinung war? Zum Wohle der Familie haben wiruns trotzdem immer geeinigt. So gehen wir auch in derKoalition vor.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ich möchte im Urlaub nachSylt fahren und mein Mann möchte nach Bayern fahren.Wir einigen uns dann auf einen Urlaub in Deutschland.
Nun kommt der Nachbar und sagt: Ich fahre mit dir nachSylt. – Ich werde dann sicher nicht mit dem Nachbarnnach Sylt fahren, sondern mich mit meinem Mann da-rüber einigen, wohin wir gemeinsam in den Urlaub fah-ren.
Ich hoffe, Sie haben mit diesem Bild meine Intentionverstanden. Über den Antrag unterhalte ich mich nachder Debatte gerne mit Ihnen. Dann können wir in denDialog treten, auch darüber, was ich über die Bürgerver-sicherung behauptet habe. Ich nehme jedoch zur Kennt-nis, dass Sie nicht für die Bürgerversicherung sind.
Vielen Dank, Herr Kollege.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun dieKollegin Maria Klein-Schmeink das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute an dieser Stelleüber Szenen einer Ehe rede statt über ein ganz klares An-liegen: über Praxisgebühr, Zuzahlung und Zusatzbei-träge.
Das ist heute das Thema. Dazu sind drei verschiedeneAnträge gestellt worden. Den Antrag der Linken gab estatsächlich schon vor der Osterpause. In diesem geht esum die Abschaffung der Praxisgebühr. Sie hätten jeder-zeit die Möglichkeit gehabt, der Diskussion dieser For-derung im Ausschuss tatsächlich einen angemessenenRahmen zu geben.
Weder vor den Osterferien noch in dieser Woche ist erdiskutiert worden. Dabei haben Sie gesagt, Sie wolltendiesem Anliegen einen Raum verschaffen. Es war nichteinmal eine Diskussion möglich. Er wurde von der Ta-gesordnung gestrichen. So viel zur Seriosität, zur Red-lichkeit, zur Verantwortlichkeit.
Ich muss sagen: Wir haben ganz andere Anliegen.
Dazu, dass Sie dann als Krönung der SPD und denGrünen in NRW und in Schleswig-Holstein vorwerfen,sie würden dieses Thema instrumentalisieren, sage ichIhnen: Es ist ein legitimes Anliegen, einem Thema, dasin weiten Teilen der Gesellschaft debattiert worden ist,zum Durchbruch zu verhelfen und zu verdeutlichen, dassSie dies auf der einen Seite zum Thema gemacht, aberauf der anderen Seite Versprechungen gemacht haben,die Sie überhaupt nicht realisieren wollen. Darum gehtes.
Das treibt auch die Kollegen von der Union auf diePalme. Es geht darum, dass Sie eine Forderung erheben,die erstens dem Koalitionsvertrag widerspricht und diesich zweitens in Ihrem Wahlprogramm so nicht wieder-findet.
Sie haben dort immer von einer unbürokratischen Formder Selbstbeteiligung geredet. Sie haben aber nie dieSelbstbeteiligung an und für sich infrage gestellt. Esging Ihnen immer nur um den bürokratischen Aufwand,der damit verbunden war. Das noch einmal zur Klarstel-lung.Dann führen Sie die Union vor und überlassen derUnion die anderen Dinge, die in diesem Zusammenhangzu klären sind,
nämlich dafür sorgen, dass es für die Abschaffung derPraxisgebühr eine entsprechende Gegenfinanzierunggibt. Das ist der einzige Punkt, bei dem Jens Spahn vor-hin recht hatte.
Natürlich muss man für eine Gegenfinanzierung sorgen,wenn man den Krankenkassen 2 Milliarden Euro weg-nimmt.
– Ganz genau.
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Maria Klein-Schmeink
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Aber es kommt noch mehr. Unser Antrag, der Ihnenheute vorliegt, enthält drei Elemente: Wir haben Ihnenerstens geraten, die Praxisgebühr abzuschaffen, zweitenshaben wir Ihnen geraten, die Zusatzbeiträge abzuschaf-fen, und drittens haben wir Ihnen geraten – als wichtigesElement –, den Krankenkassen die Beitragsautonomiezurückzugeben.Das ist doch der wahre Knackpunkt in diesem Spiel.Sie haben mit der Gesundheitsreform 2010 ein Systemgeschaffen, in dem für die Krankenversicherung zentra-listisch ein Einheitsbeitrag festgesetzt wurde. Das führtedazu, dass es bei den Krankenkassen keine wirklicheSteuerung gibt, sondern diese in irgendeiner Weise mitden Beiträgen zurechtkommen müssen. In diesem Fallhatten Sie großes Glück; denn Konjunktur und Arbeits-marktlage waren gut.
Deshalb gibt es bei den Krankenkassen und im Gesund-heitsfonds einen immensen Überschuss.
Dieser Überschuss aber – das muss man ganz klarsagen – gehört den Versicherten.
Er gehört nicht den Krankenkassen. Die Krankenkassensind zu Recht keine Sparkassen; vielmehr haben sie einedefinierte Liquiditätsreserve, die aber längst überschrit-ten ist. Darum ist jetzt der richtige Zeitpunkt, in die Dis-kussion über die Abschaffung der Praxisgebühr einzu-steigen.Ein weiterer Punkt. Ich habe aus Ihren Reihen nichtsgehört zur inhaltlichen Auseinandersetzung um die Pra-xisgebühr und die Zuzahlungen.
Genau darum geht es aber im Wesentlichen. Alle dreiElemente bedeuten zusätzliche unsolidarische Belastun-gen, die einseitig nur die Versicherten treffen.
Das führt dazu, dass die von Ihnen genannten sozial Be-nachteiligten eben keine gerechte Teilhabe an der ge-sundheitlichen Versorgung erfahren.Hier müssen wir gegensteuern. Darum geht es unsheute. Wir wissen, dass wir gegensteuern müssen. Essind die 20 oder 25 Prozent der immer wieder beschwo-renen sozial Benachteiligten und der bildungsschwachenHaushalte, die gesundheitlich schlecht versorgt sind, die,wie Studien nachgewiesen haben, wegen der Praxis-gebühr und wegen der Zuzahlungen nicht oder zu spätzum Arzt gehen. Das ist Ihnen bekannt; man kann das inArzneimittelreporten oder Gesundheitsreporten nachle-sen.
Das ist der Sachstand. Heute ist es an der Zeit, endlichgegenzusteuern.
– Es ist in der Tat so, dass die Grünen die Praxisgebührim Zusammenhang mit dem Gesundheitsmodernisie-rungsgesetz mit eingeführt haben, und zwar auf Betrei-ben der Union, das ist ja klar.
Es hat immer schon große Vorbehalte gegeben, aberman ist auch ein Stück weit dem Rat der Sachverständi-gen gefolgt.
– Hören Sie mir mal zu? Haben Sie keine Lust mehr, zu-zuhören? Wir führen heute eine Debatte, die Sie draußenin der Bevölkerung ereilen wird. Sie werden also schonzuhören müssen.
– Ja, genau so wird es sein. – Bei genauerem Hinsehenwerden Sie feststellen, dass man für die Praxisgebührnicht wirklich weiterhin werben kann. Man kann nichtdafür einstehen, außer es geht um die Frage der Finan-zierung. Dann müssen Sie sich aber fragen lassen, wieinsgesamt eine nachhaltige Finanzierung in der Gesund-heitspolitik aussehen soll.Sie haben mit dem Zusatzbeitrag ein Konstrukt ge-schaffen, angesichts dessen Sie sich heute eigentlich ent-setzt abwenden müssten; denn Sie fürchten ja selbst dieFolgen dieser Zusatzbeiträge. Sie müssen heute dafürsorgen, dass es auf keinen Fall zur Einführung der Zu-satzbeiträge kommt. Sie müssen für eine Liquiditäts-reserve sorgen, ein Sicherheitspolster, das Sie sicherüber die nächsten Wahltermine und bis 2013 bringt.Darum geht es doch. Darum kämpfen Sie, JensSpahn, für dieses Sicherheitspolster, weil Sie genau wis-sen, dass Sie ansonsten in die Lage geraten, die Zusatz-beiträge wirklich einzuführen. Und was wäre dann?
Es gäbe einen bürokratischen Aufwand ohne Ende.Schauen Sie sich die Regelungen im SGB V an: Sie um-fassen sieben Absätze mit zahlreichen Formulierungenund Regelungen, die in den Unternehmen und anderswozu großem bürokratischen Aufwand führen werden. Soverhält es sich doch. Gleichzeitig ist es eine Tatsache: Eswird zu einer zusätzlichen Belastung ausschließlich der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20911
Maria Klein-Schmeink
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Versicherten kommen. Auch das ist etwas, was Sieheute, vor den Wahlen, nicht an die Oberfläche kommenlassen wollen. Darum geht es im Kern. Darum kämpfenSie vonseiten der Union.Klar ist natürlich auch, dass Sie darüber einen Ehe-zwist haben. Ich hätte an Ihrer Stelle ebenfalls keineLust, allein für die Folgen einer solchen verfehlten Poli-tik einzustehen; auch darum geht es. Da macht sich dieFDP nämlich in der Tat einen schlanken Fuß. Sie hatsich im Februar überlegt: Ach ja, die Abschaffung derPraxisgebühr, das wäre populär. Das ist ein schönesSignal an die Ärzteschaft. –
Es ist gleichzeitig ein Signal, dass die FDP in der Lageist, ein wärmendes, soziales Mäntelchen zu tragen. Da-rum geht es.Schauen wir uns jetzt einmal Folgendes an: Sie habenschon heute die Möglichkeit, über den Antrag der Lin-ken abzustimmen. Sie haben in den nächsten Wochen dieMöglichkeit, über die in unseren verschiedenen Anträ-gen enthaltenen Regelungen abzustimmen. Wir werdenerleben: Nichts davon wird kommen. Aber es wird wahr-scheinlich etwas anderes kommen. Es wird zu einer ArtEintrittsgebühr beim jeweiligen Arztbesuch kommen.Darüber haben Sie nämlich schon Ende letzten Jahresnachgedacht.
– Herr Lanfermann, noch Ende Dezember haben Sie da-von gesprochen, dass gegen eine kleine Selbstbeteili-gung, die unbürokratisch ausgestaltet ist, nichts einzu-wenden ist. Ich glaube, das zeigt sehr deutlich, wessenGeistes Kind sämtliche Anliegen der FDP sind.
Ich habe jedenfalls größere Schwierigkeiten, zu glauben,dass Sie tatsächlich für Ihre Forderungen einstehen wer-den.Vielen Dank.
Der Kollege Stephan Stracke hat für die Unionsfrak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegin Klein-Schmeink, Sie setzen da-
rauf, dass wir für jeden Arztbesuch eine Art Eintrittsge-
bühr einführen wollen. Sie können davon ausgehen, dass
Ihre Vermutung ins Leere laufen wird. Das ist reine Spe-
kulation.
Reine Spekulation ist auch das, was Sie uns in Bezug
auf das Thema Zusatzbeiträge unterstellen. Die wirt-
schaftliche Entwicklung in diesem Land ist so hervorra-
gend, dass es weder in diesem Jahr noch im nächsten
Jahr Zusatzbeiträge im Rahmen der gesetzlichen Kran-
kenversicherung geben wird. Also behaupten Sie nichts,
was sich aufgrund der gegenwärtigen Lage als irreal he-
rausstellt. Deutschland geht es gut, und die Menschen
profitieren davon. Die Beschäftigung in Deutschland be-
findet sich auf Rekordhöhe. In Deutschland sind mehr
Menschen als je zuvor in Lohn und Brot, und die Ar-
beitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jah-
ren. Das ist das Ergebnis christlich-liberaler Politik, und
das ist das Ergebnis einer Politik für Wachstum, Stabili-
tät und Beschäftigung in diesem Land.
Der Rückgang der Arbeitslosigkeit und die Tatsache,
dass die Effektivlöhne steigen werden, zeigen, dass der
Aufschwung bei den Menschen tatsächlich ankommt.
Wir sorgen dafür, dass die Menschen auf breiter Front
entlastet werden. Die CDU/CSU hat dafür gesorgt, dass
die Bürger ab dem Jahr 2009 um 24 Milliarden Euro ent-
lastet wurden. Beispielsweise hat das Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz durch die Erhöhung des Kindergel-
des und eine Ausweitung des Kinderfreibetrags zu
Entlastungen in Höhe von über 4,3 Milliarden Euro ge-
führt.
Kollege Stracke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Ich möchte im Zusammenhang ausführen. Danachkann Herr Ernst gern eine Zwischenfrage stellen.Das zeigt, wir entlasten die Bevölkerung hier auf brei-ter Front, und das gilt auch für die Sozialversicherungs-systeme.
Beispielsweise sinkt der Rentenversicherungsbeitrag um0,3 Prozentpunkte. Das ist insgesamt eine Entlastungvon 3 Milliarden Euro.
Bei der Arbeitslosenversicherung hat es im Vergleich zu2005 Entlastungen von insgesamt rund 28 MilliardenEuro jährlich gegeben; auf die Arbeitnehmerschaft ent-
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20912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Stephan Stracke
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fallen dabei 14 Milliarden Euro. Das ist das Ergebnischristlich-liberaler Politik. Das trägt, und das wirkt auchin die Bevölkerung hinein.
Jetzt zum Thema Praxisgebühr. Es geht tatsächlichdarum, wie die gesetzliche Krankenversicherung nach-haltig finanziert wird.
Wir haben einen Finanzierungsmix aus Beiträgen, ausstaatlichen Zuschüssen und aus Zuzahlungen. Die Zu-zahlungen belaufen sich auf insgesamt 5 MilliardenEuro. Ich glaube, das ist ein sozial ausgewogenes Kon-zept.Wenn es darum geht, wie die Gegenfinanzierung derAbschaffung der Praxisgebühr aussehen soll, dannkommt aus dem Bereich der Linken natürlich wie immerüberhaupt kein Vorschlag.
Ich habe mir Ihren Antrag nämlich tatsächlich ange-schaut. Sie versprechen hier wie immer den Himmel aufErden, und in der Realität – das hat die Vergangenheitgezeigt – ist es oftmals die Hölle.Ich komme zur SPD und zu den Grünen. Wenn es umdie Gegenfinanzierung geht, sagen sie zunächst einmal:Wir haben ja die Rücklagen. – Ja, wir haben die Rückla-gen; aber wir wissen auch, dass diese Rücklagen nurüber einen gewissen Zeitraum bestehen werden, weil esaufgrund der demografischen Entwicklung eine Steige-rung der Ausgaben im Gesundheitssystem um 60 Europro Jahr und Versichertem gibt. Das zeigt: Seriöse Poli-tik muss auch darauf achten, dass langfristig und gut fi-nanziert wird.Dann wird immer das Stichwort Bürgerversicherungin den Raum geworfen. Das Stichwort Bürgerversiche-rung ist eigentlich das Ü-Ei, das Überraschungsei derSozialdemokratie und vor allem der Grünen.
Da locken Sie zunächst einmal mit Verführerli und sa-gen: Wir schaffen die Praxisgebühr ab oder sorgen fürandere Wohltaten. – Wenn man sich das Überra-schungsei Bürgerversicherung genauer anschaut, wennman es auspackt, dann findet man einen Zettel.
Dort liest man: „Ätsch, reingefallen! Ihre SPD undGrüne.“
Das ist das Ergebnis; das macht die Bürgerversicherungtatsächlich aus. Denn die Bürgerversicherung trifft zu-nächst einmal in ganz breiter Front die Mittelschicht unddie Leistungsträger in diesem Land.Wenn man sich beispielsweise die Vorschläge derGrünen vergegenwärtigt: Sie wollen – –
Kollege Stracke, könnten Sie mir ein Zeichen geben?
Ich habe jetzt mehrere Meldungen zu Zwischenfragen
oder -bemerkungen.
Das machen wir am Schluss.
Irgendwann ist die Redezeit um. Ich sage es Ihnen
nur.
Dann machen wir keine Zwischenfragen. – WelcheGegenvorschläge werden hier im Zusammenhang mitder Bürgerversicherung vorgelegt? – Erhöhung der Bei-tragsbemessungsgrenze um 47 Prozent. Das trifft vor al-lem 4,5 Millionen gesetzlich Versicherte, nicht, wie im-mer behauptet wird, vor allem die Privatversicherten.
Das trifft vornehmlich die breite Mittelschicht in diesemLande und damit diejenigen, die in der gesetzlichenKrankenversicherung versichert sind.Dann wollen Sie Mieten, Pachten und Zinsen einbe-ziehen. Das ist nichts anderes als eine zweite Einkom-mensteuer. Hier wollen Sie rund 4 Milliarden Euro gene-rieren.Dann wollen Sie auch noch die beitragsfreie Fami-lienversicherung für Ehegatten einschränken. Hier kas-sieren Sie noch einmal 1 Milliarde Euro ein.
Das, was Sie als vermeintliche Wohltaten in Aussichtstellen, wird also zunächst einmal an anderer Stelle ein-kassiert und dann verteilt. Das ist nicht seriös; die Bür-gerversicherung verspricht keine seriöse Politik. DieBürgerversicherung ist in Wahrheit ein ganz faules Ei,das Sie der Bevölkerung unterschieben wollen. Deswe-gen machen wir das nicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20913
Stephan Stracke
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Wir sagen: Seriöse Politik zeichnet sich dadurch aus,dass wir die Rücklagen, die die Versicherten mit ihrenGeldern angespart haben, zunächst einmal aufbewahren,weil wir ganz genau wissen, dass es aufgrund der demo-grafischen Entwicklung Ausgabensteigerungen in dergesetzlichen Krankenversicherung geben wird. Das istseriöse, nachhaltige Politik; das ist die Politik der CDU/CSU.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Klaus
Ernst das Wort.
Lieber Kollege Stracke, ich möchte eine Feststellung
treffen: Sie haben sich so intensiv mit dem Vorschlag der
Opposition auseinandergesetzt, dass sie in den ersten
zwei Minuten Ihrer Rede über den Arbeitsmarkt und die
Arbeitslosenversicherung geredet haben.
Da würde ich erst einmal sagen: Thema total verfehlt.
Das muss ich einfach sagen.
Zweiter Punkt. Sie haben dann gesagt, wir – da meine
ich die gesamte Opposition – hätten keine Vorschläge
zur Gegenfinanzierung gemacht; aber dann setzen Sie
sich den Rest Ihrer Rede mit der Bürgerversicherung
auseinander, nicht mit dem eigentlichen Thema. Auch
das ist ein interessanter Punkt.
Ich möchte zudem feststellen, dass Herr Spahn von
Solidarität gesprochen hat. Für Sie, Herr Spahn, und für
die CDU/CSU ist es offensichtlich der stärkste Ausdruck
der Solidarität, dass wir mit dem System der Praxisge-
bühr Menschen ganz bewusst vom Zugang zu einem
Arztbesuch ausgrenzen. Das ist offensichtlich Ihr Begriff
von Solidarität.
Ich finde das verwerflich. Das möchte ich in aller Klar-
heit sagen.
Wenn wir von Solidarität sprechen, dann möchte ich
einen Punkt in Bezug auf die Bürgerversicherung an-
sprechen. Die Bürgerversicherung ist tatsächlich eine so-
lidarische Bürgerversicherung, und zwar deshalb, weil
alle prozentual von ihren Einkommen den gleichen Bei-
trag in die Versicherung einzahlen würden. Die Beiträge
könnten sinken, und es wäre nicht so, dass die Sekretärin
letztendlich prozentual mehr für die Gesundheit ausge-
ben muss als ihr Chef; denn das ist zutiefst unsolida-
risch. Das System muss geändert werden, deshalb wol-
len wir die Bürgerversicherung. Das ist übrigens unsere
Finanzierung, darauf möchte ich Sie aufmerksam ma-
chen.
Kollege Stracke hat das Wort zur Erwiderung.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Kollege Ernst,
Ihre Ausführungen hatten einen sehr lehrerhaften Ton.
Da kann man nur sagen: Solche Lehrer brauchen wir
nicht in unserem Land.
Auch in der Sache liegen Sie falsch. Die Praxisgebühr
und alle Zuzahlungen sind sozial ausgewogen. Sie wis-
sen ganz genau, dass wir beispielsweise im Rahmen der
Chroniker-Richtlinie die Grenze bei 2 Prozent des Ein-
kommens festgelegt haben,
– Bei 1 Prozent. 2 Prozent sind es bei denjenigen, die
von ihrer Einkommenslage her nicht so gut gestellt sind.
Es ist also ganz klar, dass wir im Rahmen unseres Zu-
zahlungssystems durchaus die soziale Balance einhalten.
Ein zweiter Punkt. Herr Ernst, in Ihrem Antrag be-
schäftigen Sie sich mit keinem Wort mit der Gegenfinan-
zierung.
Das ist der eigentliche Skandal: Sie stellen Versprechen
in den Raum.
Sie sagen, Sie wollen die Beiträge zurückführen, aber
Sie sagen mit keinem Wort, wie Sie das finanzieren wol-
len.
Das ist Ausdruck Ihrer Politik. Sie sagen einfach: Wir fi-
nanzieren das. Wir wissen zwar noch nicht genau wie,
aber wir versprechen es schon einmal. Das ist nicht die
Form von seriöser Politik, wie wir sie betreiben.
Zu einer weiteren Kurzintervention hat der KollegeSpahn das Wort.
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20914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich möchte das Wort
ergreifen, weil der Kollege Ernst mich direkt angespro-
chen hat. Er hat auch Bezug auf das genommen, was
Stephan Stracke gesagt hat.
Zum Thema Solidarität. Ich bin der festen Überzeu-
gung: Die größte Solidarität, die wir leisten können, ist
die, dass wir insbesondere kranken Menschen und Men-
schen mit geringem Einkommen ein Gesundheitssystem
in der Qualität und in der Dichte auch in den ländlichen
Regionen zur Verfügung stellen, wie wir es in Deutsch-
land tun. Ein solches System, das die sofortige Teilhabe
am medizinischen Fortschritt möglich macht, etwa bei
neuen Medikamenten gegen Krebs, MS oder Parkinson,
das die Kosten sofort erstattet, gibt es in keinem anderen
Land der Welt. Das ist der größte Ausdruck von Solida-
rität, den es geben kann, und genau die wird in der deut-
schen gesetzlichen Krankenversicherung gelebt. Das ist
mein erster Punkt.
Zum Zweiten. Es gehört zu unserem Verständnis dazu
– Solidarität ist keine Einbahnstraße –, dass man sich im
Rahmen seiner Möglichkeiten ein Stück weit an den
Kosten beteiligt.
Sie wissen genau, was das heißt – den Teil lassen Sie im-
mer weg –: Ein chronisch Kranker muss maximal 1 Pro-
zent seines Einkommens zuzahlen: für Medikamente, für
Praxisgebühr und alle anderen Dinge zusammen. Diese
Regelung führt dazu, dass niemand durch Zuzahlung
und Praxisgebühr überfordert wird.
Wir finden schon – anders als Sie vielleicht, Sie sind
groß im Verteilen des Geldes anderer Leute –, dass zur
Solidarität beide Seiten beitragen müssen.
Ich möchte einen dritten Aspekt nennen. Zur Solida-
rität gehört es auch, dafür zu sorgen, dass das Gesund-
heitswesen, das das beste auf der Welt ist, auch mittel-
fristig solide bleibt. Das Schlechteste, was wir
insbesondere für kranke Menschen tun könnten, ist, ein
Gesundheitssystem anzubieten, das nicht auf soliden fi-
nanziellen Beinen steht, sodass wir früher oder später
über Ausgliederung, über Senkungen, über Sparmaßnah-
men und über Kostendämpfung reden müssten. Das
wäre das Schlechteste. Deswegen sagen wir: Gerade im
Interesse von kranken Menschen wollen wir die solide
finanzielle Basis der gesetzlichen Krankenversicherung
beibehalten.
Da springen Sie leider zu kurz. Sie sagen an einer Stelle
immer nur: Abschaffen, abschaffen, abschaffen. An an-
derer Stelle aber sagen Sie: Mehr Geld, mehr Geld, mehr
Geld. Wie es aber finanziert werden soll, sagen Sie nicht.
Da lassen wir Sie aber nicht heraus. Die größte Solidari-
tät besteht in einer guten Finanzlage.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss jetzt erst
einmal ein paar geschäftsleitende Bemerkungen machen.
Bei mir wurde, was jederzeit möglich ist, eine Kurzinter-
vention des Kollegen Spahn aus der Unionsfraktion an-
gemeldet. Auch wenn sich hier eine muntere Debatte
zwischen Kollegen entfaltet hat, die schon gesprochen
haben oder noch sprechen wollen, besagt unsere Ge-
schäftsordnung, dass nur der Kollege Stracke auf diese
Kurzintervention antworten kann. Ich habe kein Signal
gesehen, dass er das jetzt vorhat. Das heißt aber auch,
dass die weiteren Wortmeldungen, die ich hier wahrge-
nommen habe, in ein anderes Format umgewandelt wer-
den müssten. Wir haben aber noch ein wenig Debatten-
zeit; das bekommen wir sicherlich hin.
Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen-Claudio
Lemme für die SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Herr Gesundheits-minister Bahr! Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz!Meine Fraktion freut sich, dass es heute hier im Hausdoch eine Mehrheit für die Abschaffung der Praxisge-bühr gibt. Es gibt allerdings zwei Probleme und auchzwei Verlierer bei dieser Mehrheit. Das ist zum einen dieFDP, die gegen ihren eigenen Parteitagsbeschluss han-delt. Zum anderen ist es die CDU/CSU, die die Patien-tinnen und Patienten in unserem Land nicht entlastenwill. Das ist kein gutes Zeichen für unsere parlamentari-sche Demokratie.
Warum ist das so? Wir debattieren hier heute über eingesundheitspolitisches Steuerungsinstrument, das ein-fach nicht mehr der Realität unserer Krankenversiche-rungslandschaft entspricht. Grundsätzlich gilt, dass jedepolitische Mehrheitsentscheidung auch immer Kind ih-rer Zeit ist. Es ist unsere Aufgabe als politische Ent-scheidungsträger, Regelungen zu überprüfen und auchveränderte Rahmenbedingungen zu überdenken. Das istnun auch im Falle der Praxisgebühr notwendig gewor-den. Wir müssen feststellen, dass sie klar hinter der er-warteten Steuerungswirkung zurückbleibt und nur un-zureichend zur finanziellen Entlastung des Systemsbeiträgt. Hier müssten wir eigentlich gemeinsam han-deln.Ich erinnere aber auch daran, dass es in der Vergan-genheit wiederholt zu anderen Einschätzungen der Sach-lage gekommen ist. Deshalb will ich uns kurz noch ein-mal die Entstehung und Entwicklung der Praxisgebührins Gedächtnis rufen. Wie mein Kollege Karl Lauterbachbereits ausgeführt hat, ist die derzeitige Ausgestaltung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20915
Steffen-Claudio Lemme
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Kompromissen geschuldet, die wir Sozialdemokratenseinerzeit im Vermittlungsausschuss gegenüber CDUund CSU machen mussten.Die Union wollte damals mit ihrer Praxisgebühr vonden Patientinnen und Patienten noch wesentlich höhereZuzahlungen, während wir mit unserer Abgabe nur beimFacharzt die hausarztzentrierte Versorgung stärken woll-ten.
Hierzu stehen wir auch heute. Wir halten weiter an un-serer Überzeugung der Notwendigkeit einer hausarzt-zentrierten Versorgung fest.Wir mussten damals, in den Jahren 2003/2004, dafürSorge tragen, dass sich die Defizite in der gesetzlichenKrankenversicherung – damals betrug der Fehlbetrag be-reits drei Jahre in Folge durchschnittlich 1 MilliardeEuro pro Jahr – nicht fortsetzten. Das ist uns damalsauch gelungen. Die Praxisgebühr war nur ein Bausteinvon vielen zur Stabilisierung der gesetzlichen Kranken-versicherung.Für uns Sozialdemokraten war, ist und bleibt es zwin-gend, dass gerade bei der Finanzierung der gesetzlichenKrankenversicherung sauber gearbeitet wird. Schnell-schüsse zahlen sich für die Versicherten nie aus. Sie wir-ken sich zu einem späteren Zeitpunkt negativ aus.Die ersten Gutachten zur Praxisgebühr – etwa desWissenschaftlichen Instituts der AOK, des Zentralinsti-tuts für die kassenärztliche Versorgung oder des Deut-schen Instituts für Wirtschaftsforschung – zogen einedurchweg positive Steuerungsbilanz.Zweistellige Fallzahlenrückgänge bei Augenärzten,Chirurgen oder Orthopäden sprachen damals eine deutli-che Sprache. Auch die Akzeptanz des immer wieder dis-kutierten Instruments wuchs in der Bevölkerung rasch.So sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage desWissenschaftlichen Instituts der AOK im Jahre 2010 an-nähernd 70 Prozent der Befragten dafür aus, die Gebührunverändert beizubehalten.Nichtsdestotrotz verweisen andere Studien, zum Bei-spiel die Studie des Helmholtz-Zentrums München ausdem Jahr 2008, die zusammen mit der Bertelsmann-Stif-tung herausgegeben wurde, auf negative Steuerungs-effekte. Danach würden junge und gesunde Menschennotwendige Arztbesuche dreieinhalbmal häufiger ver-schieben als ältere Menschen, Geringverdiener immer-hin zweieinhalbmal häufiger als Besserverdienende.Hierauf machen insbesondere Sozial- und Wohlfahrts-verbände und Gewerkschaften aufmerksam. Sie betoneninsgesamt die negativen Auswirkungen für ältere Men-schen und Geringverdiener. Das sind Hinweise, die wirnicht ignorieren können; denn wir alle wissen: Präven-tionsmaßnahmen und die frühzeitige Behandlung vonKrankheiten helfen, hohe Folgekosten zu vermeiden.Kurzum: Die Praxisgebühr wurde seit ihrer Einfüh-rung unterschiedlichen Zeugnissen unterworfen undblieb stets Gegenstand kontroverser Debatten.Letztlich macht die Gebühr nur einen Bruchteil derFinanzierungsgrundlage aus. Sie trägt nicht nachhaltiggenug zur Konsolidierung der gesetzlichen Krankenver-sicherung bei. Hören Sie: Ich habe im Petitionsausschussbei Entscheidungen zur Praxisgebühr wiederholt daraufhingewiesen, dass ein finanzieller Spielraum Vorausset-zung für die Abschaffung der Praxisgebühr ist. Die Ko-alition hat sich aber allen konstruktiven Vorschlägen zurBeschaffung der notwendigen Mittel, zum Beispieldurch Einführung einer effektiveren Kosten-Nutzen-Be-wertung von Arzneimitteln, verweigert.
Diese Wahlperiode bot bisher keine finanziellenSpielräume für Entlastungen. Aber die Rahmenbedin-gungen haben sich mittlerweile durch die gute Konjunk-tur verbessert. Wir sollten diesen Spielraum nutzen. Ichfordere Sie daher auf: Stimmen Sie der Abschaffung derPraxisgebühr zu, und sorgen Sie für eine Entlastung derPatientinnen und Patienten.
Neben der Abschaffung der Praxisgebühr wird lang-fristig jedoch nur eine Stärkung der Solidarität in derGKV eine umfassende Entlastung für die Versichertenbringen. Die Rückkehr zur Parität, die Abschaffung vonZusatzbeiträgen und letztendlich die Einführung der so-lidarischen Bürgerversicherung müssen folgen; denn nurso wird unsere gesetzliche Krankenversicherung zu-kunftsfest gemacht.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Heinz
Lanfermann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da ha-ben wir sie wieder gehört, die Heilserwartungen, die mitder Bürgerversicherung verbunden werden. Aber dazuist ja schon einiges gesagt worden.Die Aufforderung aus den Reihen der Opposition, dieuns gleich mit drei Anträgen beglückt hat, die FDP mögeihrer Forderung nach Abschaffung der Praxisgebührnachkommen, ist absolut scheinheilig. Das kann manschon an den Überschriften der drei Anträge erkennen.Das wird erst recht deutlich, wenn man die Anträge liest.
Bei den Grünen zum Beispiel geht es um Änderungenbei der Beitragssatzautonomie, dabei geht es – das habenwir ja gehört – in Richtung Bürgerversicherung. DieSPD hat gleich auch noch ihr Hausarztmodell mit dazu-gepackt. Das ist Ihr gutes Recht, aber dann tun Sie nicht
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20916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Heinz Lanfermann
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so, als gehe es hier nur um die Praxisgebühr. Die Linkenrufen in der Tat nach Abschaffung aller Zuzahlungen alsVorstufe zum Heil. Das ist sozusagen eine Eintrittskartein den Himmel der Bürgerversicherung. Herr Weinberg,ich kann verstehen, dass man frustriert ist, wenn dieselbsternannten Gesundheitsexperten der Fraktionsspitzehier sprechen. Gestern hatten wir die „hälftige Fraktions-vorsitzende“ Künast als Pflegeexpertin, die hier ihre Un-kenntnis ausgebreitet hat. Heute hat Herr Ernst hiergesprochen. Ich sage: Überlassen Sie das den Fachpoliti-kern. Die Debatten sind dann etwas besser.
Herr Kollege Weinberg, Sie haben der KolleginAschenberg-Dugnus einen falschen Vorhalt gemacht undgesagt, sie hätte hier etwas Unwahres gesagt, als siemeinte, in Ihrem Antrag sei von der Bürgerversicherungdie Rede, auf die Sie hinaus wollten. Sie haben hier lautgerufen: Dann zeigen Sie es mir doch einmal. – Sie hatIhnen angeboten, sich zu entschuldigen, sollte sie sichgeirrt haben. Hören Sie mir jetzt bitte genau zu, damitSie gleich die richtigen Worte gegenüber der Kolleginfinden. In Ihrem Antrag steht:Die Abschaffung der Zuzahlungen ist damit zumin-dest für 2012 gegenfinanziert.Jetzt kommt der Blick in die Zukunft:Langfristig ist für eine gerechte und stabile Finan-zierung der gesetzlichen Krankenversicherung einesolidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherungeinzuführen.
Sind wir nun diejenigen, die nicht lesen können, odersind Sie es, Herr Kollege Weinberg?
Wir haben hier – das war etwas kleinkariert – gehört,dies sei eine Wahlkampfdebatte. Die Zuhörer merken,wer hier in der Sache argumentiert
und wer nervös ist.
Kollege Lanfermann.
Nein, danke.
Das Spiegelbild der Debatte sind die Umfragen. Ent-gegen Ihren Erwartungen steigen in Schleswig-Holsteinund Nordrhein-Westfalen die Umfragewerte der FDP,während die Umfragewerte der Linken sinken – und dasdramatisch. Auch die Grünen verlieren Wähler, undzwar an die Piraten. Inwieweit Sie daraus Schlussfolge-rungen ziehen, mögen Sie unter sich ausmachen.
Wir haben gerade eine weitere Falschaussage gehört.Es wurde behauptet, wir würden gegen Parteitagsbe-schlüsse verstoßen. Wenn Sie sich – ich hätte Ihnen dasempfohlen – auf Phoenix den Parteitag der FDP inKarlsruhe angesehen haben, dann haben Sie gehört, wiebegeistert dort die Delegierten gesagt haben: Ja, wir, dieFDP – es ging bei diesem Parteitag um uns als Partei –,sind für die Abschaffung der Praxisgebühr.
Wir haben übrigens in dieser Debatte die Gründe dafürdargestellt. Kollegin Aschenberg-Dugnus hat sie aufge-führt. Alle reden davon, man soll nicht polemisch seinund Sachdebatten führen, aber wer nennt einmal dieGründe, die dafür und dagegen sprechen?
Sie hat die Gründe genannt. Kollege Spahn hat auf diefinanziellen Fragen hingewiesen – völlig zu Recht.Ferner: Es hat niemals in der FDP die Auffassung gege-ben, dass wir diese Gebühr behalten wollen.Sie sagen – das war eine weitere Äußerung hier –, dassei gegen den Koalitionsvertrag. Das ist natürlich wiedereinmal nur so dahergeredet.
Im Koalitionsvertrag steht – ich darf wörtlich zitieren –:„Wir wollen die Zahlung der Praxisgebühr in ein unbü-rokratisches Erhebungsverfahren überführen.“
Erstens ist das finanzneutral ausgedrückt; denn die Fi-nanzfrage ist wichtig. Zweitens ist der Vorschlag – erwurde übrigens im Wesentlichen von mir auf den Weggebracht – allgemein gemacht worden und hat Fahrt auf-genommen, als die Finanzlage der Krankenversicherun-gen, also Gesundheitsfonds plus Rücklagen der Kassen,nach den entsprechenden Berichten in die Diskussionkam.
Dann sind in diese Diskussion auch andere eingestiegen,die sich jetzt hier als Väter und Mütter dieser Idee auf-spielen. In Wirklichkeit sind sie nur Mitläufer und versu-chen, einen Keil zwischen uns zu treiben, nur weil wirgesagt haben: Das ist unser Vorschlag. Jetzt lasst unsdoch einmal darüber diskutieren und Argumente austau-schen. Das tun wir natürlich erst einmal innerhalb derKoalition. Das hat mit Wahlkampf nichts zu tun.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20917
Heinz Lanfermann
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Denn ich rechne nicht damit, dass sich die Union bisMitte Mai eines anderen besinnt. Aber ich weiß, dass wirdafür werben können und dass die Argumente nachMitte Mai vielleicht etwas mehr Gehör finden.Sie können sich selbst im Ausschuss helfen. Dass IhreForderungen scheinheilig und ein Trick sind, zeigt sichdaran, dass in allen drei Anträgen die Praxisgebühr nurein Nebenthema ist. In Wirklichkeit haben Sie andereAnliegen. Sie wollen über diese Anträge weder unter-einander noch mit den anderen Fraktionen im Ausschussdiskutieren. Wie kämen Sie sonst auf die seltsame Idee,hier Anträge vorzulegen, die nicht einmal in allen Punk-ten ordentlich ausformuliert sind und zu denen es vieleNachfragen gibt?Uns werfen Sie hier vor – dabei handelt es sich umein ganz normales parlamentarisches Verfahren –, dasswir für die Überweisung stimmen. Wir wollen heute we-der Bürgerversicherung noch Zuzahlungsbefreiung ab-lehnen. Vielmehr wollen wir Ihnen die Chance geben, imAusschuss darüber zu diskutieren. Verweigern Sie dasnicht. Sie können auch die öffentliche Diskussion wei-terführen und Ihre Argumente nennen, warum man diePraxisgebühr abschaffen oder warum man sie durch einanderes Instrument ersetzen sollte.
Kollege Lanfermann, ich verrate Ihnen ein Geheim-
nis: Sie haben gleich noch die Chance, auf eine Kurz-
intervention zu erwidern. Aber Sie müssen bitte zum
Ende kommen.
Ja. Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Es gibt eine
breite Palette von Möglichkeiten, wie man Zuzahlungen,
Eigenbeteiligungen oder Ähnliches regeln kann. Sie sind
eingeladen, darüber zu diskutieren, und zwar ergebnisof-
fen und unvoreingenommen. Ich bitte Sie, dies zum Ge-
genstand und zur Richtlinie Ihrer Beiträge zu machen.
Herzlichen Dank.
Bevor ich dem Kollegen Weinberg das Wort zu einer
Kurzintervention gebe, weise ich darauf hin, dass unsere
Regelung in der Geschäftsordnung heißt: Der Präsident/
die Präsidentin kann das Wort zu Kurzinterventionen er-
teilen. – Das impliziert auch eine andere Möglichkeit.
Ich werde im weiteren Verlauf der Debatte natürlich da-
rauf achten, dass die Proportionen eingehalten werden.
Bitte, Kollege Weinberg.
Vielen Dank. – Herr Spahn, auch Sie haben Ihre Re-
dezeit durch Ihre Kurzintervention etwas verlängert. Das
war meines Erachtens zumindest inhaltlich durchaus
problematisch.
Ich bin von Herrn Lanfermann in Bezug auf meine
Bemerkung zu den Aussagen der Kollegin Aschenberg-
Dugnus angesprochen worden. Ich möchte darauf hin-
weisen: Die Kollegin Aschenberg-Dugnus hat auf die
Anträge zur Praxisgebühr Bezug genommen – nicht auf
die Anträge auf Abschaffung der Zuzahlungen, sondern
auf die Anträge zur Praxisgebühr; dazu liegt auch ein
Antrag von uns vor. Sie hat ausgeführt, in diesen Anträ-
gen sei jeweils ein Bezug zur Bürgerversicherung ent-
halten, de facto seien es also verkappte Anträge zur Bür-
gerversicherung. Daraufhin habe ich gesagt: In unserem
Antrag zur Praxisgebühr mit der Überschrift „Praxisge-
bühr abschaffen“ steht kein einziges Mal das Wort „Bür-
gerversicherung“. Kein einziges Mal! Insofern habe ich
versucht, dies richtigzustellen. Es ist nach wie vor so,
wie ich es gesagt habe, nicht anders.
– Ich kann Ihnen auch die Drucksachennummer sagen;
sie lautet: 17/9031.
Jetzt möchte ich noch ganz kurz auf das Argument
von Herrn Lanfermann im Hinblick auf die Diskussion
im Ausschuss eingehen. Wir haben in der letzten Aus-
schusssitzung beantragt, über diesen Antrag zu diskutie-
ren und ihn abzuschließen. Mit den Stimmen der Koali-
tion ist verhindert worden, dass er abgeschlossen wird
und dass er heute Gegenstand im Plenum sein kann. Ich
wiederhole: mit den Stimmen der Koalition, auch und
gerade mit den Stimmen der FDP. Die FDP hat verhin-
dert, dass er hier wieder zur Diskussion stehen kann. Ich
habe in der Ausschusssitzung am Mittwoch dazu einen
Wortbeitrag geleistet. Die Vertreter der Koalitionspar-
teien haben mit Hinweis auf die heutige Debatte auf Dis-
kussionsbeiträge ihrerseits verzichtet. Also: Sie sollten
nicht so tun, als sei die Diskussionskultur im Ausschuss
besonders ausgeprägt, was das betrifft.
Vielen Dank.
Kollege Lanfermann, Sie haben das Wort zur Erwide-
rung.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Es ist schon einrechtes Verwirrspiel, das der Kollege Weinberg hier auf-zuziehen versucht.
Ich darf es für alle vielleicht kurz erklären.
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20918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Heinz Lanfermann
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Die Linken haben, um dieses Verwirrspiel zu inszenie-ren, zwei Anträge gestellt. Den einen haben sie vor eini-gen Wochen gestellt. Über ihn ist damals hier im Plenumdiskutiert worden. Er ist auch mit erstaunlicher Ge-schwindigkeit im Ausschuss aufgesetzt und diskutiertworden. Dann haben sie aber schon mit den nächstenAnträgen vor der Tür gestanden. Darüber diskutieren wirheute. Die Linke hat das Thema „Praxisgebühr“ sozusa-gen zweimal vermarkten wollen. Heute geht es um denAntrag, auf den sich Herr Weinberg gerade zu beziehenversucht hat. Der andere Antrag steht heute nicht auf derTagesordnung. Heute steht der Antrag auf der Tagesord-nung, aus dem ich zitiert habe. Darin wird auf die Bür-gerversicherung verwiesen. Deswegen bleibt es nachwie vor Ihre Aufgabe, Herr Weinberg, dies gegenüberder Kollegin Aschenberg-Dugnus klarzustellen.Zum Zweiten. Ich habe Ihnen auch im Ausschuss aus-drücklich gesagt: Wir können über alles reden. – Wir ha-ben bewusst darauf verzichtet, den Antrag, der zumzweiten Mal innerhalb kürzester Zeit auf der Ausschuss-tagesordnung stand, von der Tagesordnung abzusetzen.Ich habe auf die entsprechende Frage der Vorsitzendengesagt: Wir können heute beraten. Aber wir wollen nichtabschließen. Denn zwei Tage später kommen aus demPlenum weitere Anträge in den Ausschuss. Alle Anträgekönnen dann gemeinsam beraten werden. – Also: Sie ha-ben alle Zeit der Welt, diese Anträge im Ausschuss zuberaten. Deswegen: Tun Sie nicht so, als sei hier irgend-ein Recht der Opposition unterdrückt worden. Mit unse-rem Abstimmungsverhalten wollten wir dafür sorgen,dass Sie mehr Gelegenheiten zum Diskutieren haben.Stellen Sie das hier bitte nicht anders dar.
Nun hat die Kollegin Dr. Martina Bunge für die Frak-
tion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich frage mich: Was findet hier statt?
Die Faktenlage ist eindeutig und erdrückend, aber nichtspassiert. Die Praxisgebühr bringt Belastungen, sie hatkeinerlei Steuerungswirkungen, und sie verursacht Büro-kratie. Also in Summe: Die Praxisgebühr ist unsinnig,unsozial und ungesund.
Faktisch verstößt Deutschland mit der Praxisgebührgegen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation.In ihrem Bericht vom letzten Jahr bekräftigte die WHO– ich darf zitieren –:Direkte Zahlungen haben ernste Auswirkungen aufdie Gesundheit. Menschen im Moment der Inan-spruchnahme bezahlen zu lassen, schreckt sie davorab, Leistungen in Anspruch zu nehmen.Eine Ratsuchende oder einen Hilfesuchenden eineEintrittsgebühr zum Arzt zahlen zu lassen, macht Ge-sundheit zur Ware. Das widerspricht dem Willen derMehrheit der Bevölkerung, und deshalb ist die Zustim-mung in der Bevölkerung dafür so groß, dass die Praxis-gebühr und andere Zuzahlungen, durch die die Krankenjährlich mit insgesamt 5 Milliarden Euro belastet wer-den, endlich weg müssen.
Der Zeitpunkt dafür, diese Praxisgebühr abzuschaffen,war nie günstiger. Zu dem, was wir in den letzten Wo-chen hier in der Politik beobachtet haben, sagen mir aberviele: Das ist doch ein Schmierentheater. So empfindenwir das. – Alle Oppositionsfraktionen wollen die Praxis-gebühr abschaffen, der Bundesgesundheitsminister unddie FDP-Fraktion – allen voran der Fraktionschef – spre-chen davon, und auch seitens der Union gibt es solcheMeinungen. Der Patientenbeauftragte hat Ende März ge-sagt: Ich würde die Praxisgebühr gerne abschaffen.Daraufhin hat die Kanzlerin ein Machtwort verkün-den lassen. Ich denke, damit hat sie die Katze aus demSack gelassen. Kollegin Klein-Schmeink, Sie haben völ-lig recht gehabt: Die Kanzlerin hat am 13. April 2012verkünden lassen, es sei im Moment kein Thema, diePraxisgebühr abzuschaffen, es käme darauf an, das Geldder Beitragszahler zusammenzuhalten; denn künftigmüssten neue Zusatzbeiträge verhindert werden.Ja, das offenbart, warum Versicherten und Krankendas Geld vorenthalten wird: Die Kanzlerin möchte dasWahljahr 2013 schonen und schützen und ein Polsteraufbauen, damit es nicht massenhaft zu Zusatzbeiträgenkommt. Wir sagen dazu: Damit wird die Kopfpauschaledurch die Hintertür eingeführt. Diese soziale Grausam-keit soll vom Wahljahr ferngehalten werden. Ich nennedas Angst vor dem Fluch der eigenen bösen Tat.
Aber das Machtwort ist verpufft. Wir diskutieren wei-ter. Natürlich erreichen wir das auch mit unseren Anträ-gen. Wir wollen, dass das Geld endlich zu denen fließt,denen es gehört. Es ist von den Kranken genommenworden, und dorthin muss es zurückfließen. Deshalb ha-ben wir den Antrag heute auch ergänzt und sagen: DieZuzahlungen müssen weg.Wenn heute abgestimmt werden würde, was Sie javerhindern – das ist hier ausreichend erläutert worden –,dann könnte und müsste die Bundesregierung endlichhandeln. Wissen Sie, wie es mir vorkommt, dass das nunverhindert wird, während die FDP trotzdem will – wirhaben das auf Ihrer Internetseite gelesen, und auch derMinister wird morgen garantiert wieder davon reden –,dass die Praxisgebühr abgeschafft wird? Das ist wie ein
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20919
Dr. Martina Bunge
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kleiner Hund, der laut bellt, aber nur so lange, wie er ander Leine des großen Herrchens ist.
Fakt ist, dass für die Abschaffung der Praxisgebührund der Zuzahlungen ein Zukunftskonzept für das Ge-sundheitssystem nötig ist. Das hat die Regierung nicht.Das beweist ja die Angst der Kanzlerin vor den Zusatz-beiträgen. Bei der Opposition sieht das mit den Model-len für eine Bürgerversicherung anders und günstigeraus. Aber Sie von CDU/CSU und FDP diffamieren alldiese Alternativen nur.Unser Konzept, das konsequenteste von allen, tun Sie,Herr Spahn – ich sehe ihn jetzt gar nicht mehr –, nur alsSchlagwort ab. Schauen Sie einmal auf die Internetseiteunserer Fraktion. Dann werden Sie sehen, dass diesesModell durchgerechnet ist. – Ich finde es toll, dass HerrSpahn jetzt nicht da ist. Ich wollte ihm nämlich geradedas Wesen der Bürgerinnen- und Bürgerversicherung er-läutern: Wir beteiligen alle Bürgerinnen und Bürger nachihren Möglichkeiten an der Finanzierung des Gesund-heitssystems und nicht die Kranken nach ihren Möglich-keiten an den Behandlungskosten. Das unterscheidet unsin Bezug auf unser Verständnis von Solidarität. Ichdenke, über diesen grundlegenden Unterschied solltenwir einmal reden. Dann werden wir hier auch weiter-kommen.
Der Kollege Dietrich Monstadt hat für die Unions-
fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Das Thema Praxisge-bühr zum wiederholten Male in diesem Hohen Haus!Gott sei Dank, Frau Kollegin Bunge, sind wir hier nichtim Zoo. Ihre Ausführungen sprechen für sich.Die SPD begründet ihre heutige Forderung mit deraus ihrer Sicht diffusen Steuerungswirkung der Praxis-gebühr und mit der aktuell positiven finanziellen Situa-tion der gesetzlichen Krankenversicherung. Zur Praxis-gebühr fällt mir spontan etwas ein, was mit ihruntrennbar verbunden ist: Einführung durch Rot-Grün,durch die damalige Ministerin Ulla Schmidt, auch wennbei Ihnen, verehrte Damen und Herren von der SPD, dieMinisterin wohl nicht mehr so bekannt sein dürfte. Abernicht nur ich, sondern auch die Wählerinnen und Wählerim Land, vor allem die in NRW und Schleswig-Holstein,verbinden die Praxisgebühr mit Ihrer Partei, auch wennSie, Herr Kollege Dr. Lauterbach, Ihr Produkt jetzt nichtmehr so attraktiv finden.Sie wissen, dass wir zu Beginn dieser Legislatur-periode zunächst die Finanzlage der GKV stabilisierenmussten. Bitte erinnern Sie sich an die düsteren Zu-kunftsszenarien für die gesetzliche Krankenversicherungzu Beginn dieser Legislaturperiode. Damals wurden für2011 Milliardendefizite vorausgesagt; damals kamenvon der Opposition Rufe nach Spargesetzen. Mit mehre-ren Gesetzen, dem GKV-Änderungsgesetz, dem GKV-Finanzierungsgesetz und dem Arzneimittelneuordnungs-gesetz, haben wir ein Paket geschnürt, das alle Seiten anden Lasten beteiligt: Leistungserbringer, Arbeitgeber,gesetzliche Krankenkassen, die Mitglieder der Kranken-kassen, pharmazeutische Industrie, Großhandel undApotheken.Damit kann man den Unterschied zwischen der Ge-sundheitspolitik der SPD und der der christlich-liberalenKoalition in Euro berechnen: Das sind 30 MilliardenEuro. Denn anstelle des erwarteten Defizits von 10 Mil-liarden Euro schreibt der Gesundheitsfonds nun wiederschwarze Zahlen. Bei Krankenkassen und Gesundheits-fonds können wir uns über ein Plus von circa 20 Milliar-den Euro freuen. Damit können wir heute feststellen:Diese Gesetze haben die erhoffte Wirkung gehabt.Durch diese Gesetze konnten erhebliche Einsparpoten-ziale in der gesetzlichen Krankenversicherung realisiertwerden. Erstmals seit Jahren wird wieder mehr Geld fürdie ambulante Versorgung als für Arzneimittel aufge-wendet. Ohne diese erfolgreichen Gesetze würden wirdie heutige Debatte überhaupt nicht führen bzw. führenkönnen. Ihre heute formulierten Begehrlichkeiten wür-den völlig ins Leere laufen.Natürlich weckt die aktuelle Situation Begehrlichkei-ten bei allen, die damals einen Teil der Lasten zu über-nehmen hatten, erstaunlicherweise wohl auch bei denheutigen Antragstellern. So erleben wir, dass die Linke,die SPD und die Grünen – ich räume ein, mit jeweils et-was anderer Argumentation – mit dem Füllhorn durchsLand ziehen und die Praxisgebühr als Wahlkampfge-schenk abschaffen wollen.
Interessant ist, welche Patienten von der Abschaffungder Praxisgebühr profitieren würden. Das sind jedenfallsnicht die chronisch Kranken mit niedrigem Einkommen.Beispielsweise hätte ein verheirateter, kinderloser, chro-nisch kranker Versicherter mit einem Jahreshaushaltsein-kommen von circa 18 000 Euro eine Zuzahlungsgrenzevon etwa 133 Euro pro Jahr. Als chronisch Krankernimmt unser Patient regelmäßig Medikamente, zum Bei-spiel Cholesterinsenker, Betablocker oder Blutverdün-ner. Dafür muss er pro Verordnung im Quartal 10 Eurozuzahlen. Das wären 160 Euro im Jahr. Seine Zuzah-lungsgrenze liegt aber bei 133 Euro. Es kommt für ihnalso nicht mehr darauf an, ob er theoretisch beim Haus-arzt pro Quartal 10 Euro Praxisgebühr oder beim Zahn-arzt weitere 10 Euro zahlen müsste. Denn er zahlt sienicht, weil sie oberhalb seiner Zuzahlungsgrenze liegt.
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20920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Dietrich Monstadt
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Deshalb kann ihn die Abschaffung der Praxisgebührnicht entlasten.Umgekehrt hätte ein verheirateter, kinderloser, gesun-der Versicherter mit einem Jahreshaushaltseinkommenvon 39 000 Euro eine entsprechend hohe Zuzahlungs-grenze von etwa 636 Euro pro Jahr. Ihm würde die Ab-schaffung der Praxisgebühr unmittelbar zugutekommen.Meine Damen und Herren von der Opposition, HerrDr. Lauterbach, so viel zu Ihren sozialen Ungerechtig-keiten.Bei der Praxisgebühr geht es um eine Einnahme inHöhe von circa 2 Milliarden Euro. Wie soll ihre Strei-chung – das ist schon mehrfach angesprochen worden –langfristig gegenfinanziert werden? Wer aufgrund derguten aktuellen Situation eine Einnahmequelle dauerhaftabschafft, der muss sagen, woher das Geld im Zweifels-fall kommen soll,
insbesondere dann, wenn die Rahmenbedingungen vonKonjunktur und Arbeitsmarkt einmal nicht mehr sogünstig sind wie heute.Dazu schweigen sich die Antragsteller – das ist nach-vollziehbar – aus.
Meine Damen und Herren von der Opposition, erklä-ren Sie bitte klar und unmissverständlich den Wählerin-nen und Wählern vor allem aktuell in NRW und Schles-wig-Holstein diese Politik!Sparen ist nicht vergnügungssteuerpflichtig, wie esunser verehrter Herr Bundesfinanzminister vielleichtausdrücken würde. Aber die Beitragszahler haben einAnrecht darauf, dass die von ihnen eingezahlten Mittelsparsam und effizient eingesetzt werden. Sie haben auchAnspruch auf Nachhaltigkeit in der gesetzlichen Kran-kenversicherung,
die es erst ermöglicht, dass sie im Krankheitsfall Leis-tungen in Anspruch nehmen können und die Kranken-kassen sie bezahlen, dass sie am medizinisch-techni-schen Fortschritt teilhaben und dass die Strukturen dermedizinischen Versorgung zum Beispiel angesichts derdemografischen Herausforderungen nachhaltig weiter-entwickelt werden.Gerade die von dieser Koalition durchgeführte Kon-solidierung hat den Spielraum eröffnet, sich mit denGrundsatzfragen der medizinischen Versorgung zu be-fassen. So gehört das Versorgungsstrukturgesetz zu denganz wenigen Gesetzen der letzten zehn Jahre im Ge-sundheitsbereich, die nicht Kostendämpfung betreiben.Vielmehr befasst es sich mit der über den Tag hinausnachhaltigen Weiterentwicklung der Versorgungsstruk-turen in diesem Land.
In diese Richtung der Nachhaltigkeit sollten wir vor-anschreiten. Die vorliegenden Anträge leisten dazu lei-der keinen Beitrag.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Edgar
Franke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich glaube, ich kann die heutige Debatte, jeden-falls bis jetzt, folgendermaßen zusammenfassen: Wirsind uns mit Ausnahme der Union inhaltlich zumindestin der Analyse einig. Bei der FDP scheitert es wahr-scheinlich ein bisschen an der Umsetzung, FrauAschenberg-Dugnus.
Aber wir sind uns einig, dass die Praxisgebühr abzu-schaffen ist,
weil sie als Steuerungsinstrument versagt hat, weil siesozial ungerechtfertigt ist und weil man damit nur Büro-kratie geschaffen hat. Darin sind wir uns hoffentlich ei-nig, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Das wird von sehr vielen Menschen so gesehen, na-türlich auch in Nordrhein-Westfalen. Denn die überwie-gende Zahl der Menschen sagt: Die Praxisgebühr mussabgeschafft werden. – Deshalb sind alle Anträge, die indiese Richtung gehen, richtig und gut.Herr Ernst hat gesagt, ob eine Steuerungswirkung ein-tritt, hätte man schon früher sehen können. Sie haben,glaube ich, gesagt, wir hätten einen Feldversuch ge-macht. Aber was wollten wir ursprünglich? Wir wolltenklarmachen, dass Arztbesuche Geld kosten und sozusa-gen einen geldwerten Vorteil haben. Wir wollten vor al-len Dingen klarmachen, dass Facharztbesuche sehr teuersind, und zwar für die Solidargemeinschaft. Das war derUrsprungsgedanke. Man wollte vor allen Dingen dasDoktorhopping vermeiden, Herr Ernst. Das sind, glaubeich, ehrenwerte Motive. Frau Ferner hat mir eben bestä-tigt, dass die Praxisgebühr anfangs Erfolge gezeitigt hat.Zu Beginn gab es weniger Arztbesuche. Aber in denletzten Jahren ist die Zahl der Arztbesuche nicht mehrzurückgegangen. Deswegen ist es richtig, glaube ich, diePraxisgebühr nun abzuschaffen.
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Kollege Franke, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Vogler?
Ja.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr
Kollege Franke, ich kann mich noch gut daran erinnern,
dass wir im März dieses Jahres, als wir unseren Antrag
auf Abschaffung der Praxisgebühr auf die Tagesordnung
dieses Hauses gesetzt hatten, von Ihnen zu hören beka-
men, diese Forderung sei populistisch und sei nicht ge-
genfinanziert. Deswegen war auch Ihre Fraktion damals
dagegen, mittels Sofortabstimmung – diese haben Sie
nun für Ihren heutigen Antrag beantragt – über unseren
Antrag zu befinden. Wir hätten also schon im März die-
ses Jahres auf dem gleichen Erkenntnisstand wie heute
mittels Sofortabstimmung die Abschaffung der Praxis-
gebühr beschließen können. Da Sie noch im März dieses
Jahres unsere Forderung, die Praxisgebühr abzuschaffen,
für nicht gegenfinanziert hielten, finde ich es erstaunlich,
warum Sie heute einen Antrag vorlegen, durch den,
wenn ihm gefolgt wird, noch mehr finanzielle Belastun-
gen auf die Krankenkassen zukommen. So wollen Sie
den Hausärzten mehr Geld geben, um die hausarzt-
zentrierte Versorgung zu stärken. Mich interessiert, wie
Sie das mit der Gegenfinanzierung heute sehen und wa-
rum sich Ihre Auffassung gewandelt hat. Ich war relativ
überrascht, nun in Zeitungen und im Internet zu lesen,
dass SPD und Grüne die Abschaffung der Praxisgebühr
zum Wahlkampfthema in Nordrhein-Westfalen machen.
Die Abschaffung der Praxisgebühr sollte hier im Deut-
schen Bundestag Thema sein. Das gehört hierhin und
nicht in den Landtag von NRW.
Das sage ich, obwohl wir Linke jederzeit bereit sind, al-
les zu unternehmen, um diese unsinnige Gebühr abzu-
schaffen.
Liebe Frau Vogler, ich beantworte Ihre Frage sehrgerne. Sie haben damals Ihren Antrag auf Abschaffungder Praxisgebühr im Zusammenhang mit einem Antragauf Abschaffung aller Zuzahlungen gestellt. Das hätteinsgesamt 5 Milliarden Euro gekostet. Sie wollten dieseSumme durch eine – so haben Sie es formuliert – pau-schalierte Umverteilung locker gegenfinanzieren. Das istaus meiner Sicht ein Kritikpunkt, dem man sich stellenmuss; denn die Frage nach der Gegenfinanzierung wirdsich spätestens 2013 stellen. Dann ist der Überschuss inHöhe von 20 Milliarden Euro aufgebraucht. Insofern istdie Gegenfinanzierung der entscheidende Punkt. Manmuss die Abschaffung der Praxisgebühr in ein seriös ge-genfinanziertes Konzept einpassen. Vor diesem Hinter-grund ist meine Kritik am damaligen Antrag der Linkenzu sehen.
– Ich komme gleich dazu.Frau Präsidentin, ich fahre jetzt fort. – Ich möchtenoch auf Herrn Monstadt und Frau Aschenberg-Dugnuseingehen, die gesagt haben, dass die Praxisgebühr untereiner SPD-Ministerin eingeführt wurde. Jeder hier imSaal, der länger dabei ist, weiß, dass die Praxisgebührein Ergebnis der Verhandlungen zwischen der damaligenRegierung und Horst Seehofer ist. Horst Seehofer hatdamals auf einer Pressekonferenz gesagt, dass das dieschönste Nacht seines Lebens war. Was wollte HorstSeehofer in dieser schönsten Nacht? Er wollte, dass je-der Arztbesuch mit einer Gebühr belegt wird. Das ist dieWahrheit; das muss man hier auch sagen. Die Praxisge-bühr ist nichts anderes als ein Kompromiss, der damalsgeboren wurde.
Festzuhalten bleibt, dass die Praxisgebühr nur nochein Finanzierungsinstrument und kein Steuerungsinstru-ment mehr ist. Dafür war sie nicht gedacht. Deshalb ge-hört sie abgeschafft.Des Weiteren werden Kranke und Einkommens-schwache durch die Praxisgebühr besonders belastet. Ih-nen steht dadurch weniger Geld zur freien Verfügung.Deswegen ist die Praxisgebühr unsozial. Sie ist auch un-sozial – darin werden Sie mir zustimmen, Herr Ernst –,weil sie nicht paritätisch finanziert ist.
– Dann können Sie auch einmal klatschen.
– Ich bedanke mich für den Applaus der Linken.Ich komme ursprünglich aus dem Bereich der Prä-vention und der Unfallversicherung. Wenn Sie mit Zahn-ärzten sprechen, dann erfahren Sie, dass Kontrollunter-suchungen – Stichwort Prophylaxe – oftmals vonEinkommensschwächeren nicht wahrgenommen wer-den, weil für solche Leute die Praxisgebühr im wahrstenSinne eine Eintrittsgebühr bedeutet.Einen weiteren Punkt darf man nicht vergessen. DiePraxisgebühr hat zu erheblichen Bürokratie- und Ver-waltungskosten geführt. Wenn man mit Ärzten spricht,dann geißeln diese in schillernden Farben die Dokumen-tationspflichten und die Bürokratie. Aber auch der Nor-menkontrollrat hat festgestellt, dass wir 300 MillionenEuro Bürokratiekosten durch die Praxisgebühr haben.Wenn wir diese abschaffen können, dann ist das vernünf-tig; denn das ist letztendlich nicht nur gut für die Patien-
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20922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Dr. Edgar Franke
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ten, sondern auch die Ärztinnen und Ärzte profitieren,wenn sie dieses Geld einsparen.Frau Vogler, ergänzend zu dem, was ich auf IhreFrage geantwortet habe: Die Praxisgebühr können wirnur dann abschaffen, wenn wir 2 Milliarden Euro gegen-finanzieren und eine konzeptionelle Anpassung vorneh-men. Nur dann erreichen wir, dass das System sich selbstausbalanciert, wenn die Überschüsse nicht mehr da sindund die Konjunktur nicht mehr so gut läuft.Ein Argument wird immer wieder von der Koalitionvorgebracht. Ich sehe gerade, dass auch Herr Brüderle,der Fraktionsvorsitzende der FDP, da ist. Auf dem Par-teitag haben Sie, Herr Brüderle, gesagt, dass Sie für diegute Konjunktur verantwortlich sind. Wer hat aber diegute Konjunktur wirklich geschaffen? Warum haben wirRücklagen in der Krankenversicherung, Herr Brüderle?Warum haben wir so gute Arbeitsmarktzahlen? Warumhaben wir so gute Wirtschaftsdaten? All das ist das Er-gebnis der Strukturreformen von Rot-Grün, das ist nichtauf diese Regierung zurückzuführen.
Das muss man ganz klar sagen, um der Geschichtsklitte-rung, die gerne gemacht wird, entgegenzuwirken. AuchSie, Herr Brüderle, haben das rhetorisch geschickt – dasmuss ich zugeben – auf dem Parteitag gemacht.Was ist zu tun? In der Gesundheitspolitik dürfen nichtallein die gesetzlich Versicherten, dürfen nicht allein diePatienten die Zeche zahlen. Das ist der entscheidendePunkt. Herr Stracke hat vorhin gesagt, wir hätten immerdas Überraschungsei Bürgerversicherung. Die Bürger-versicherung ist kein Überraschungsei. Das Konzept derBürgerversicherung besagt, dass wir eine nominelle Pa-rität zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber brauchen.Das bedeutet die Bürgerversicherung, und das ist ge-recht. Das sehen alle Menschen in unserem Land so.
Meine lieben Linken, wie wäre es mit Beifall? Der hatsich wohl an der einen Stelle erschöpft.Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wissenaber auch, dass wir den Faktor Arbeit nicht so stark be-lasten dürfen. Das weiß die FDP anscheinend nicht;denn sie hat die Beiträge erhöht, was zu den Rücklagenin der Krankenversicherung geführt hat. Wir brauchen– das sage ich abschließend der FDP – Beitragsautono-mie. Dann balanciert sich das System selber aus. Wirbrauchen Effizienzsteigerungen, innovative und inte-grierte Versorgungssysteme und eine hausarztzentrierteVersorgung. Dann können wir unser Gesundheitssystemnachhaltig finanzieren.Im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik muss immerder Patient, der Mensch stehen. Letztlich brauchen wireine solidarisch finanzierte Versorgung für die Men-schen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die
Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Wir sind für die heutige Debatte sehr dankbar,weil sie uns die Möglichkeit gibt, zwei Stunden über dieErfolge dieser Koalition in der Gesundheitspolitik zu re-den.
Die Gesundheitsausgaben in Deutschland hatten imJahr 2010 ein Rekordniveau erreicht. Sie betrugen nachden neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes ins-gesamt 287,3 Milliarden Euro. Der Anstieg der Ausga-ben gegenüber dem Vorjahr betrug damit 8,9 MilliardenEuro oder 3,2 Prozent. Damit entsprach der Zuwachs derGesundheitsausgaben in 2010 in etwa dem durchschnitt-lichen jährlichen Wachstum zwischen 2000 und 2009 inHöhe von 3 Prozent.Warum stelle ich das an den Beginn meiner Ausfüh-rungen? Weil wir nicht so tun dürfen, als ob wir mit demgegenwärtigen Finanzpolster in der gesetzlichen Kran-kenversicherung leichtfertig umgehen können, und weilwir der Versuchung widerstehen sollten, kurzfristig Bei-fall einzuheimsen auf Kosten einer stabilen und über denTag hinaus soliden Finanzierung unseres Gesundheits-systems!
Deshalb lehnt die CDU/CSU-Fraktion die geforderte er-satzlose Abschaffung der Praxisgebühr ab.Wir sind uns dabei der Tatsache bewusst, dass diePraxisgebühr keine optimale Lösung ist. Ihre Steue-rungswirkung ist beschränkt. Tatsache ist aber auch, dassdie Gebühr für die Arztbesuche den Krankenkassen der-zeit rund 1,5 Milliarden Euro im Jahr einbringt, die Pra-xisgebühr für Besuche beim Zahnarzt noch einmal rund400 Millionen Euro.Zuzahlungen sind in unserem Gesundheitswesen kei-neswegs unüblich. Ich erwähne die Zuzahlungen imKrankenhaus, die jährlich etwa 700 Millionen Euro er-bringen, und die Zuzahlungen bei Arzneimitteln, die sich2010 auf knapp 1,7 Milliarden Euro beliefen.
Insofern fällt es nicht aus dem Rahmen, dass seit demJahr 2004 gesetzlich Versicherte beim ersten Arztbesuchim Quartal 10 Euro bezahlen müssen. Beschlossenwurde das – das ist schon mehrfach erwähnt worden – inZeiten der rot-grünen Regierung. Ich betone das deshalb,weil Sie auch in anderen Fragen von Ihrem eigenen Re-
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Erwin Rüddel
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gierungshandeln nichts mehr wissen wollen, seit Sie inder Opposition sind.Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass wirdie Zahlung der Praxisgebühr in ein unbürokratischesErhebungsverfahren überführen wollen. Dass die Praxis-gebühr angesichts der unbefriedigenden Steuerungs-funktion überprüft werden sollte, liegt auf der Hand. Al-lerdings bleibt die Frage, wie diese Einnahmequelle imGesundheitssystem – wir sprechen von 2 MilliardenEuro – ersetzt werden kann.„Wenn man die Praxisgebühr abschaffen will, mussman über eine alternative Einnahmequelle reden“, hatFrau Pfeiffer vom Spitzenverband der gesetzlichenKrankenkassen festgestellt.
Dem stimmen wir zu. Ich bin der Meinung, dass wir dieGebühr nur abschaffen können, wenn wir gleichzeitigdie Einnahmen sichern, eine bessere Steuerungswirkungerreichen und Bürokratie abbauen können, ohne chro-nisch kranke Menschen zu überfordern.Aus diesem Grund wehren wir uns dagegen, wegeneines vielleicht populären, aber nur einmaligen Effektsdie finanziellen Grundlagen der gesetzlichen Kranken-versicherung in Not zu bringen. Denn wer sagt uns, dassdie gegenwärtig sehr positive wirtschaftliche Entwick-lung über Jahre hinweg unverändert anhalten wird? Des-halb wollen wir die beim Gesundheitsfonds liegendenRücklagen auch als Vorsorge für wirtschaftlich schlechteZeiten betrachten.
Ich wundere mich sowieso über Ihre Spendierfreudig-keit. Wir erinnern uns noch gut daran, wie Sie in IhrerRegierungszeit fortwährend nach zusätzlichen Einnah-mequellen im Gesundheitswesen gesucht haben. Wir ha-ben auch nicht vergessen, dass wir nach Bildung derchristlich-liberalen Koalition vor der Situation standen,ein drohendes Defizit der GKV in zweistelliger Milliar-denhöhe abwenden zu müssen. Verglichen mit Ihrer Re-gierungszeit haben wir es jetzt fast mit einem Luxuspro-blem zu tun, dies aber nur deshalb, weil wir erstmals seitvielen Jahren für eine mittelfristig stabile und verlässli-che Finanzierung unseres Gesundheitssystems gesorgthaben.
Meine Damen und Herren, den einzelnen Kassensteht es doch frei, zumindest Teile ihrer Rücklagen inForm von Prämien oder Erstattungen an ihre Versicher-ten zurückzugeben. Das wäre im Übrigen durchaus sys-temkonform; denn wo es Zuzahlungen gibt, da sollte esauch Prämien und Erstattungen geben. Und wir sprechennicht ohne Grund davon, dass wir im Gesundheitswesenmehr Wettbewerb wollen. Was hindert die Kassen alsodaran, in diesem Sinne tätig zu werden?Die CDU/CSU-Fraktion ist stolz darauf, dass unserGesundheitssystem endlich einmal solide durchfinan-ziert ist. Das war – ich habe eben darauf hingewiesen –in der Vergangenheit keineswegs immer der Fall. Diegute Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherungist deshalb ein wichtiger Erfolg dieser Koalition.
Sie ist das Ergebnis der überaus positiven wirtschaftli-chen Entwicklung in Deutschland und unserer klugenGesundheitspolitik der vergangenen zwei Jahre. Dassollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist sehr gut, dass
Sie so zahlreich zu dieser Debatte und auch zur nachfol-
genden Abstimmung erschienen sind. Ich bitte aber die
Kolleginnen und Kollegen sowohl auf der Regierungs-
bank als auch auf der von mir aus rechten Seite des Hau-
ses, dafür zu sorgen, dass wir der Kollegin Karin Maag
aus der Unionsfraktion jetzt auch folgen können. – Sie
haben das Wort.
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen, liebe Kollegen! Ein guter Schluss sichert alles. Des-wegen zitiere ich einfach einmal das Bundessozialge-richt:Zuzahlungen sind ein zweckmäßiges und tauglichesMittel zur Erhaltung der Effektivität und Effizienzder Leistungen der GVK, aber auch ihrer Qualitätund Finanzierbarkeit.Das ist zwar nicht mein Satz; ich habe ihm aber nur we-nig hinzuzufügen.
Ich will gerne darüber reden, wie wir – das ist das An-gebot an die FDP – die Praxisgebühr vereinfachen kön-nen.Dem Antrag der Linken, der SPD und der Grünen, sieabzuschaffen, werden wir natürlich auch im dritten An-lauf – und in allen weiteren Anläufen, merke ich vor-sorglich einmal an – nicht zustimmen.Wir haben in dieser Koalition mit nachhaltigen Refor-men – viele Redner haben es erwähnt – dafür Sorge ge-tragen, dass unser Gesundheitssystem auch in Zukunftträgt, dass es bei einer guten medizinischen Versorgungbleibt und dass alle am medizinischen Fortschritt teilha-ben können.
Wir haben mit unseren nachhaltigen Gesetzen vor al-lem dazu beigetragen, dass ein prognostiziertes Defizit
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20924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Karin Maag
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von 9 Milliarden Euro – so haben wir das Ganze über-nommen – nicht nur vermieden werden konnte, sonderndass heute die meisten Kassen – aber nicht alle Kassen;das ist mir wichtig – Rücklagen bilden konnten.Aber – jetzt bin ich bei den sehr einfachen Finanzie-rungsvorschlägen, insbesondere von den Linken – beiden Kassen werden keine Vermögen angehäuft, die jetztals Spielmasse in einem Wahlkampf verschleudert wer-den können.
Auch wenn wir im Boomjahr 2011 einen Überschussfür alle Kassen – jetzt bin ich wieder bei allen Kassen –von rund 4 Milliarden Euro hatten, muss man doch diffe-renziert jede einzelne Kasse betrachten. Schließlich gibtes viele Kassen, die bisher noch nicht über ausreichendBetriebsmittel und Rücklagen verfügten und die ihre Fi-nanzsituation jetzt endlich erstmals verbessert haben.
Diese Kassen würden Sie doch wieder in die Übernah-mesituation treiben. Das wollen wir nicht.
Zumindest meine Fraktion erwartet von den Kassenein nachhaltiges Wirtschaften. Wie soll das denn funk-tionieren, wenn wir diese Einnahmen der Kassen jetztwieder der Beliebigkeit aussetzen? Mit uns wird so et-was nicht funktionieren.
Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, sieben Kassenhaben es derzeit richtig gemacht – sieben Kassen, denenes gut geht. Sie geben nämlich ihren Versicherten einenTeil der Beitragsleistung in Form von Prämien zurück.Das ist aus meiner Sicht der einzig richtige Weg. AndereKassen – auch das ist für mich beispielgebend – gehen indie Leistungsverbesserung. So etwas dürfen wir dochnicht verhindern.Im Gesundheitsfonds hat sich 2011 ein Überschussvon 5 Milliarden Euro angesammelt. Das sind 2 bis3 Prozent der jährlichen Ausgaben der gesetzlichen Kas-sen.
Können Sie sich vorstellen, wie schnell ein solches Pols-ter in Zeiten der zurückgehenden Konjunktur vervespertist?Es gibt den schönen Satz: Spare in der Zeit, dann hastdu in der Not. – Daran richten wir unsere Politik aus. Fürdas Jahr 2012 – das will ich auch einmal deutlich sagen –liegen noch keine Abrechnungs- und Finanzdaten vor,und Sie geben die Milliarden bereits aus. Ich habe michgestern beim Schätzerkreis informiert: Für das Jahr 2012reden wir von einem Überschuss – Gott sei Dank – von350 Millionen Euro.Frau Klein-Schmeink, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von den Grünen, nur am Rande: Wir haben mit denguten Daten der Kassen eindeutig bewiesen, dass es zueiner Konsolidierung der Finanzen sicher keiner Bürger-versicherung bedarf.
Wir haben bewiesen, dass mit der Hebung von Effizienz-reserven und einer mittelguten Wirtschaftslage, für diediese Regierung auch steht, in den bestehenden Verhält-nissen noch ganz gute Ergebnisse erzielt werden können.
Wenn Sie mittelfristig Ihre Bürgerversicherung als Fi-nanzierungsinstrument anbieten: Wie finanzieren Sie diekurzfristige Abschaffung der Praxisgebühr? Das allespasst nicht zusammen.
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie sagen,wir haben genügend Geld im System. Die Grünen unddie SPD behaupten, in den kommenden Jahren sei miteinem dramatischen Anstieg der Beitragsbelastung derVersicherten zu rechnen. Hier setzen Sie uns ein großesFragezeichen vor die Nase. Was gilt denn nun? Auf dereinen Seite fallen Weihnachten und Ostern offensichtlichzusammen, und auf der anderen Seite wird bei derselbenDebatte von der übrigen Opposition eine Notlage herbei-geredet. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie denMenschen erklären wollen.
Der GKV-Spitzenverband hat jedenfalls in der Anhö-rung ausgeführt, ohne die Zuzahlungen fehlten den ge-setzlichen Kassen rund 5 Milliarden Euro. Von diesen5 Milliarden Euro entfallen 2 Milliarden Euro auf diePraxisgebühr. Wenn wir in Beitragssatzpunkten rechnen:Die Summe von 5 Milliarden Euro entspricht konstant0,5 Beitragssatzpunkten. Wenn es dann tatsächlich nichtmehr reicht, was ich eingangs dargestellt habe, dannfrage ich Sie: Wollen Sie dann die Beiträge entsprechenderhöhen? Oder woher nehmen Sie sonst das Geld?Uns wurde gestern in der Pflegedebatte vorgeworfen,wir hätten angeblich nur – die Betonung liegt auf: nur –1,1 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt und keine6 Milliarden Euro, die angeblich notwendig wären.
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Karin Maag
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Auch das würden wir nur mit einer Erhöhung der Bei-träge schaffen.
So viel Ehrlichkeit muss sein. Es ist Ihre und nicht un-sere Politik. Wir versuchen eine nachhaltige Gestaltung.
Das werden uns die Wählerinnen und Wähler danken.Jetzt möchte ich noch zwei Punkte zur angeblich feh-lenden Steuerungswirkung nennen: Die Begründung imJahr 2003 für die Praxisgebühr war vor allem, dass einBeitrag zur Konsolidierung der Finanzen geleistet wer-den sollte. In einem zweiten Schritt sollten die Zahlender ärztlichen Konsultationen reduziert werden. Heuteschämen Sie sich offenbar dafür, dass die Versichertenzu zusätzlichen Leistungen herangezogen wurden. Daswerfe ich Ihnen gar nicht vor. Damals waren Sie in derRegierung. Damals ging es darum, sich um die Bezahl-barkeit zu kümmern. Es ist Regierungsverantwortung,dass Sie Antworten auf solche Fragen geben.
Natürlich hat sich die direkte Steuerungswirkung abge-flacht. Die Versicherten haben sich tatsächlich daran ge-wöhnt. Dass Zuzahlungen aber generell steuern können,sieht man auf dem Arzneimittelmarkt, wo beispielsweisedie Generika von der Zuzahlung befreit und deswegenauch stark nachgefragt sind.Ich möchte noch einen letzten Aspekt erwähnen. Esgeht um die Bindung an den behandelnden Arzt durchdie Praxisgebühr. Sie haben die Hausarztverträge er-wähnt. Ich teile Ihre Ansicht nicht. Die Hausarztverträgewerden mit der Praxisgebühr unterstützt. Sie setzen diesleichtfertig aufs Spiel und damit die Option, weitereWirtschaftlichkeit ins System zu bringen. Die Hausarzt-verträge funktionieren nur dort, wo Versicherungen An-reize bieten. Dazu gehört die Befreiung von der Praxis-gebühr.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit und kom-
men zum Schluss.
Ich achte auf die Zeit und komme zum Schluss. – Es
gilt das Erstgesagte: Wir werden auch künftigen Anträ-
gen nicht zustimmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit auch am
Ende der Debatte.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Anträgen auf Drucksachen 17/9189,
17/9067 und 17/9408. Die Fraktionen der SPD, die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen wünschen jeweils
Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/
CSU und FDP wünschen jeweils Überweisung, und
zwar federführend an den Ausschuss für Gesundheit und
mitberatend an den Ausschuss für Wirtschaft und Tech-
nologie, an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und
an den Haushaltsausschuss.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über die
Anträge auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage des-
halb: Wer stimmt für die beantragten Überweisungen? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann sind
die Überweisungen so beschlossen, und wir stimmen
heute noch nicht in der Sache ab.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Stabilisierungs-
mechanismusgesetzes
– Drucksache 17/9145 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses
– Drucksache 17/9435 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider
Otto Fricke
Dr. Dietmar Bartsch
Priska Hinz
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es enttäuscht mich
jetzt ein wenig, dass sich die Reihen aus für mich nicht
gerade erklärbarer Ursache so sehr lichten. Vor allen
Dingen bitte ich Sie aber, wenn Sie jetzt anderen Ver-
pflichtungen nachgehen müssen, dafür zu sorgen, dass
wir hier ordnungsgemäß weitertagen können. Ich bitte
Sie also, die notwendigen Gespräche vor der Tür des
Plenarsaals zu führen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich nehme
an, dass die Geräusche hier neben mir rechts keinen Wi-
derspruch bedeuten.
– Zustimmung. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Norbert Barthle für die Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Mit dem vorliegenden Gesetz passen wir die Re-gelungen zur Beteiligung des Deutschen Bundestagesam temporären Rettungsschirm EFSF an die Vorgabendes Bundesverfassungsgerichts an.
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Norbert Barthle
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Die Tatsache, dass wir einen fraktionsübergreifendenKompromiss gefunden haben, zeigt, dass wir als Parla-ment die Ausgestaltung unserer Rechte verantwortungs-bewusst und gemeinsam in die Hand nehmen. Wir brin-gen damit auch unseren Respekt vor dem oberstenGericht zum Ausdruck. Ich möchte daher allen Beteilig-ten ganz herzlich dafür danken, dass wir das Gesetzheute so beschließen können.
Auch mit Blick auf unsere europäischen Partner so-wie zur Minimierung von Unsicherheiten an den Finanz-märkten ist es meiner Ansicht nach wichtig, dass wirhinsichtlich möglicher Anwendungen des Rettungs-schirms für entsprechende Rechtssicherheit sorgen. Wirgeben mit diesem Gesetz nahezu alle Entscheidungsbe-fugnisse über die Vereinbarung neuer Hilfsprogrammean das Plenum des Deutschen Bundestages. Damit ge-währleisten wir ein Maximum an parlamentarischer Mit-bestimmung.Es bleibt nur eine Ausnahme: Mögliche Anträge zuSekundärmarktaktivitäten, die einer besonders vertrauli-chen Behandlung bedürfen, werden zukünftig im soge-nannten Neunergremium behandelt. Das Neunergre-mium wird dann sowohl die Mehrheitsverhältnisse imDeutschen Bundestag widerspiegeln als auch demGrundsatz der Spiegelbildlichkeit entsprechen. Es wirdzudem in geheimer Wahl mit der Mehrheit des Bundes-tages gewählt und damit zusätzlich legitimiert. Außer-dem erhöht die Wahl von Stellvertretern die Legitima-tion und Beschlussfähigkeit. Ich bin davon überzeugt,dass wir damit eine vernünftige sowie verfassungsrecht-lich sichere Regelung gefunden haben.Diese Regelung ist sachlich von großer Bedeutung,um das Instrument der Sekundärmarktankäufe nicht imVorhinein zu lähmen. Das betone ich besonders, da dieeinstweilige Verfügung, die erwirkt wurde, mögliche Be-schlüsse durch das Neunergremium noch komplett un-tersagt hatte. Das Gericht hat dann aber klargestellt, dassder Grundsatz der Funktionsfähigkeit des Bundestagesprinzipiell rechtfertigen kann, dass der Bundestag zu-mindest in Fällen besonderer Vertraulichkeit die Rechtedes Plenums an ein kleineres Gremium delegieren kann.Ich will an dieser Stelle mögliche Kritikpunkte von-seiten der SPD-Kollegen vortragen, insoweit als man siein den Protokollen der Sitzungen des Haushaltsausschus-ses nachlesen kann. An dieser Stelle zeigt sich, dass auchder von der SPD vorgelegte Vorschlag zur Änderung desStabMechG verfassungsrechtlich problematisch war,dass sie das Neunergremium allein aus Gründen beson-derer Eilbedürftigkeit etablieren wollte. Genau diesenGrund hat das Verfassungsgericht nicht akzeptiert. Füreilbedürftige und vertrauliche Fälle wollte die SPD denHaushaltsausschuss entscheiden lassen. Wie gesagt, dieEilbedürftigkeit in diesen Fällen, so das Bundesverfas-sungsgericht, wird auch vom gesamten Plenum zu ge-währleisten sein.Mit dem jetzt vorliegenden Entwurf eines Änderungs-gesetzes legen wir etwas vor, was den Vorgaben des Ver-fassungsgerichts vollumfänglich entspricht. Deshalbsollten wir dieses gemeinsam erzielte Ergebnis, diesenKompromiss, nicht zerreden, was dadurch geschieht,dass sich einzelne Fraktionen als klüger darstellen alsandere. Wir sollten gemeinsam auf dieses Ergebnis stolzsein. Ich will an dieser Stelle ganz bewusst unseremBundestagspräsidenten Norbert Lammert danken, dersich mit seiner Expertise eingebracht hat. Außerdem willich unserem Parlamentarischen Geschäftsführer PeterAltmaier danken, der den Diskussionsprozess moderierthat.In der Diskussion über die Ausgestaltung unserer Par-lamentsbeteiligung sind wir einen guten Schritt vorange-kommen. Wie so oft liegt das beste Ergebnis tendenziellin der goldenen Mitte. Wir dürfen die fundamentalen,durch die Verfassung geschützten Rechte einzelner Ab-geordneter durch eine eilige Kriseninterventionspolitiknicht aufs Spiel setzen. Genauso wenig dürfen wir unse-ren Wunsch nach Mitsprache übertreiben; wir dürfennicht bei allem und jedem mitbestimmen wollen. Wirmüssen immer auch die Grenzen zwischen exekutivenund parlamentarischen Zuständigkeiten klar ziehen.Meine Damen und Herren, wenn wir die Parlaments-beteiligung überziehen, blockieren wir nämlich letztlichdie Funktionsfähigkeit des Rettungsschirms und behin-dern seinen Zweck. Dann dürfen wir uns nicht wundern,wenn die eigentlichen Aufgaben des Rettungsschirmszum Beispiel von der EZB übernommen werden.
Diese Lehre sollten wir auch für die Regelung derjetzt anstehenden Parlamentsbeteiligung beim Europäi-schen Stabilitätsmechanismus im Hinterkopf behalten.In Bezug auf die Frage der Eilbedürftigkeit haben wiruns im Hinblick auf das StabMechG darauf geeinigt,keine gesonderte Regelung vorzunehmen. Ich kann die-sen Kompromiss gut mittragen. Wir müssen uns aberauch bewusst sein, dass wir, und zwar das gesamte Haus,dann gegebenenfalls extrem schnell zusammenkommenmüssen. Die Praxistauglichkeit dieser Regelung wirdsich zeigen, sollte sie tatsächlich zur Anwendung kom-men.Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass wirmit diesem Gesetz die Möglichkeit schaffen, im Haus-haltsausschuss eine Anhörung zu Anträgen und Vorlagender Bundesregierung in Bezug auf den Rettungsschirmdurchzuführen. Das gab es zu Zeiten der alten Gesetzes-regelung in dieser Form nicht. Diese Neuregelung um-fasst den Inhalt des Änderungsantrags, den wir gemein-sam erarbeitet haben. Wir, das Parlament, der DeutscheBundestag, haben die Aufgabe, das Ganze zu regeln,selbst in die Hand genommen. Das war richtig so und istgut so.Ich freue mich, dass mit dieser Änderung die Rechteder Mitglieder des Deutschen Bundestages insgesamtgestärkt werden und dass damit die Vorgaben des Verfas-sungsgerichts vollumfänglich erfüllt sind. Ich bitte Sie,alle Fraktionen dieses Hauses, um Zustimmung zu die-sem Gesetz. Damit würden wir das Vorhandensein eines
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20927
Norbert Barthle
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rechtsfreien Raums beenden und demonstrieren, dasswir handlungsfähig sind.Danke sehr.
Das Wort hat der Kollege Rolf Schwanitz für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren!Budgetrecht und haushaltspolitische Gesamtverant-wortung des Deutschen Bundestages werden grund-sätzlich durch Verhandlung und Beschlussfassungim Plenum wahrgenommen. … Vor diesem Hinter-grund ergibt sich der Grundsatz der Budgetöffent-lichkeit aus dem … Öffentlichkeitsprinzip der De-mokratie …So das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom28. Februar 2012 zur Klagesache unserer KollegenDr. Peter Danckert und Swen Schulz.Meine Damen und Herren, wir beschließen heute einGesetz zur Parlamentsbeteiligung beim Euro-Rettungs-schirm, das diesen Anforderungen endlich, und zwar imvollen Umfang, gerecht wird, und das ist gut so.
Damit findet auch ein Emanzipationsprozess des Parla-ments, der sich über fast zwei Jahre hingezogen hat, seingutes Ende. Ich will noch einmal daran erinnern.Als die Bundesregierung den befristeten Euro-Ret-tungsschirm, EFSF, auf den Weg gebracht hat, ging siedavon aus, dass der Deutsche Bundestag dabei genausowenige Mitwirkungsrechte bekommen muss wie bei al-len klassischen Euro-Angelegenheiten. Da wird über Fi-nanzgipfel auf Europaebene in der Regel nur informiert,und das war es dann auch. Natürlich war klar, dass derGewährleistungsrahmen der EFSF insgesamt per Gesetzgenehmigt werden musste. Aber für das laufende Ret-tungsgeschehen sah das Beteiligungsgesetz vom Mai2010 deshalb nur vor – ich darf zitieren –:Vor Übernahme von Gewährleistungen … bemühtsich die Bundesregierung, Einvernehmen mit demHaushaltsausschuss … herzustellen.Zu mehr waren die Bundesregierung und die sie tra-gende Koalition damals nicht bereit.Das änderte sich erst durch das Urteil des Bundesver-fassungsgerichts zur EFSF und zur Griechenland-Hilfe.Nun war klar, dass wir auch beim laufenden Rettungsge-schehen im Kernbereich des parlamentarischen Budget-rechts sind und die Handlungen der Bundesregierungauch auf der übernationalen Ebene des Euro-Rettungs-schirms der Zustimmung des Deutschen Bundestagesbedürfen. Dass wir dieses Urteil nicht bereits im Sep-tember 2011 mit einem adäquaten, verfassungsfestenBeteiligungsgesetz umgesetzt haben, meine Damen undHerren, ist kein Ruhmesblatt der deutschen Parlaments-geschichte. Allerdings haben die Fraktionen darandurchaus unterschiedlichen Anteil. Das will ich anspre-chen.Die Sozialdemokraten müssen sich vorhalten lassen,dass sie im Herbst letzten Jahres bei der Schlussabstim-mung im Plenum unter dem Druck des Faktischen undaufgrund eines Loyalitätsgefühls gegenüber einer letzt-endlich an dieser Stelle falschen Staatspraxis der Forde-rung der Koalition nachgegeben haben und zunächst einverfassungswidriges Beteiligungsgesetz mit beschlos-sen haben. Allerdings hatte die SPD zuvor im Haushalts-ausschuss Änderungsanträge eingebracht, die genau dieschwierigen Stellen markierten,
und die mögliche Verfassungswidrigkeit im Ausschussthematisiert, und zwar in Bezug auf die Stellen, die spä-ter bei dem Urteil eine zentrale Rolle spielten. Das giltfür die exzessive Verweisung von Beratungsgegenstän-den an das damalige Neunergremium: Wir wollten schondamals, dass hier nur Sekundärmarktkäufe erfasst wer-den und nicht mehr.
Das gilt auch für die von der Koalition gewollte Regel-vermutung der besonderen Eilbedürftigkeit: Man wollteviele Beratungsgegenstände unter diesem Rubrum erfas-sen, was das Verfassungsgericht später bekanntermaßenkassierte.So wie ich die Verantwortung der SPD thematisiere,will ich auch ausdrücklich sagen: Es liegt in der Verant-wortung der anderen Fraktionen – die Linke, die hier an-ders votiert hat, ausgenommen –, dass diese Vorschlägedamals im Haushaltsausschuss abgelehnt worden sindund wir erst durch eine neue Verfassungsklage hier zu ei-nem Umdenkungsprozess gekommen sind.
An dieser Stelle, meine Damen und Herren, will ichden Kollegen Peter Danckert und Swen Schulz meinenausdrücklichen Dank und Respekt aussprechen, die mitihrer Verfassungsklage letztendlich den Weg zu unsererheutigen Gesetzesänderung eröffnet haben. Das ist keinleichter Gang und alles andere als eine Selbstverständ-lichkeit, wenn zwei Kollegen sich aufmachen und vordem Bundesverfassungsgericht quasi ihr eigenes Parla-ment verklagen. Das ist für beide Kollegen nicht leichtgewesen. Ich bin froh, dass wir in einem Land leben, indem das rechtlich möglich ist. Ich finde, beide Kollegenhaben Respekt für diesen Vorgang verdient.
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20928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
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Herr Kollege Schwanitz, darf der Kollege Willsch Ih-
nen eine Zwischenfrage stellen?
Nein, ich möchte bitte weiter vortragen.
Was wir heute am Gesetz ändern, sorgt für eine Parla-
mentsbeteiligung, die der Stellung des Budgetrechts als
Königsrecht des Parlaments wirklich gerecht wird. Die
SPD findet ihre Vorschläge, die sie hier mit eingebracht
hat, nahezu vollständig wieder.
Alle Entscheidungen über Hilfsmaßnahmen und ihre
Änderungen werden künftig im Plenum des Deutschen
Bundestages, das heißt von allen Abgeordneten und im
Lichte der Öffentlichkeit, entschieden. Das gilt für Dar-
lehen, für Ankäufe am Primärmarkt und für vorsorgliche
Maßnahmen ebenso wie für Kredite zur Rekapitalisie-
rung von Finanzinstituten; es gilt aber auch für Leitlinien
und für sogenannte Hebel, über die viel diskutiert wor-
den ist, und schlussendlich auch dann, wenn sich die Be-
dingungen für finanzielle Instrumente geändert haben.
Im Haushaltsausschuss werden künftig auch bei Re-
gierungsvorlagen Minderheitenrechte für Anhörungen
bestehen. Damit wird der unwürdige Zustand beendet,
dass die Opposition bei der Befassung und bei der Orga-
nisation fachlicher Expertise im Ausschuss von der
Gnade der Mehrheit abhängig ist und dass die Koalition
eine solche Anhörung mit ihrer Mehrheit schlicht und
einfach verhindern kann. Damit haben wir in den zu-
rückliegenden Monaten hinreichend Erfahrung sammeln
müssen.
Das Sondergremium wird sich künftig ausschließlich
mit Sekundärmarktkäufen befassen. Die exzessive Zu-
ordnung von Vorlagen und das überdimensionierte Agie-
ren hinter verschlossenen Türen werden aus dem Gesetz
gestrichen. Das Sondergremium wird durch Stellvertre-
ter vergrößert und durch geheime Wahlen im Plenum des
Deutschen Bundestages mit der Mehrheit der Mitglieder
dieses Hauses ordentlich demokratisch legitimiert.
Auch die Auszahlung der Hilfstranchen, also dort, wo
quasi richtiges Geld fließt, wird künftig nur nach vorhe-
riger Beteiligung des Haushaltsausschusses erfolgen.
Seine Stellungnahmen müssen von der Bundesregierung
berücksichtigt werden. Das ist richtig so; denn auch mit
der Auszahlung von Teilbeträgen können politische Fra-
gen von erheblicher Bedeutung verbunden sein. Deshalb
ist es richtig, dass wir von einer bloßen Kenntnisnahme
zu einem echten Beteiligungsrecht des Haushaltsaus-
schusses kommen.
Mit den Änderungen im vorgelegten Gesetzentwurf in
Bezug auf den befristeten Euro-Rettungsschirm EFSF
wird es eine Weiterentwicklung von einer partiellen zu
einer umfassenden Parlamentsbeteiligung und -entschei-
dung geben. Künftig gilt auch hier das Plenarprinzip:
Alle wichtigen Entscheidungen können in Zukunft im
Plenum von allen Abgeordneten im Lichte der Öffent-
lichkeit entschieden werden.
Das Budgetrecht des Parlaments wird damit faktisch auf
das Agieren der Bundesregierung in Bezug auf den Euro-
Rettungsschirm erstreckt – ein Standard, der sicherlich
auch beim dauerhaften Rettungsschirm ESM nicht mehr
infrage gestellt werden wird.
Meine Damen und Herren, die heutige Entscheidung
markiert ein gutes Stück Parlamentsgeschichte in
Deutschland. Die Entscheidung ist wichtig für die Ak-
zeptanz und Legitimation des Rettungsgeschehens und
auch für die Akzeptanz und das Funktionieren unserer
Demokratie in Deutschland. Deswegen bitte ich um eine
breite Zustimmung.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Willsch
das Wort.
Herr Kollege Schwanitz, ich hätte Ihnen gerne eine
Zwischenfrage gestellt, aber nun muss ich mein Anlie-
gen in einer Kurzintervention darstellen.
Man wird mir ohne Weiteres abnehmen, dass es in
meinem Interesse liegt, dass eine Verhandlung dieser
Angelegenheiten im Parlament und damit in der Öffent-
lichkeit erfolgt. Die Union wirkt ja bei der Gesetzesän-
derung mit. Wenn es aber Ausweis der Bedeutung ist,
die die Mitglieder des federführenden Ausschusses,
nämlich des Haushaltsausschusses, dieser öffentlichen
Debatte beimessen, dass heute von zehn Mitgliedern der
SPD dieses Ausschusses gerade zwei anwesend sind,
dann will ich meine Sorge zum Ausdruck bringen, was
das für die Zukunft der Parlamentsbeteiligung in diesen
Fragen bedeutet.
Nächster Redner ist der Kollege Otto Fricke für die
FDP-Fraktion.
Geschätzter Herr Präsident! Meine Kolleginnen undKollegen! Man sollte in den Vordergrund stellen, dassfür das Gesetz drei Dinge maßgeblich waren: erstens dieVorgaben des Zweiten Senats des Bundesverfassungsge-richts eins zu eins umzusetzen; ich glaube, wir haben siesogar übererfüllt; zweitens – das ist das Schwierigere –die Handlungsfähigkeit der EFSF zu erhalten; und drit-tens die von uns gerade dargestellte interfraktionelleÜbereinkunft zu erreichen.
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Otto Fricke
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Im Einzelnen und zum Verständnis: Worum geht esheute eigentlich? Geht es heute um die Frage der Euro-Rettung als solche? Nein, es geht um eine Grundfragevon Demokratie, um die Grundfrage, wie wir in Staatenmiteinander umgehen. Wenn man so will, geht es umLocke und Montesquieu, um Gewaltenteilung.Faktisch ist es hier doch so: Wir haben eine Regie-rung, die auf europäischer Ebene handeln will und muss,und wir haben ein Parlament, das die Haushaltsverant-wortung hat. Übersetzt heißt das: Das Parlament hat dieVerantwortung, zu bestimmen, wann und unter welchenBedingungen die andere Gewalt, die Regierung, konkretüber wie viel Geld entscheiden kann und wie weit wirdabei ins Detail gehen.Die dritte Gewalt, die Rechtsprechung, versucht auchwieder, die unterschiedlichen Gewaltenstränge einiger-maßen in Übereinstimmung zu bringen. Wenn wir vorfünf Jahren – das müssen wir erkennen – gesagt hätten,dass wir in diesem Bundestag wiederholt darüber ent-scheiden müssen, was der richtige Weg ist, dann hättenwir Stimmen gehört – diese gibt es weiterhin –, die ge-sagt hätten: Eigentlich sollte das Parlament überhauptnicht darüber entscheiden; das ist eine reine Exekutivent-scheidung. – Ich glaube, dass die Lösung, die wir jetztgefunden haben, vertretbar ist. Ob sie die richtige ist,wird die Zeit erweisen. Ich halte sie jedenfalls für einegute.Ich sage das unumwunden: Wir alle – alle Parteien,die Regierung und übrigens auch das Verfassungsgericht –haben jeweils Veränderungen unserer Positionen vorge-nommen. Die Regierung hat erkennen müssen, dass esein selbstbewusstes Parlament gibt. Sie hat erkennenmüssen, dass das nicht nur im Haushaltsausschuss so ist,sondern dass das gesamte Parlament – wie auch die ge-samte Bevölkerung – Interesse an diesem wichtigenThema hat. Das ist nicht nur deshalb so, weil es um soviel Geld geht, sondern auch, weil es darum geht, wieEuropa eigentlich aussehen soll.Das Verfassungsgericht hat in seiner ersten Entschei-dung gesagt – das war für uns maßgeblich –: Wir habeneine Vorstellung davon, wie ihr das machen könnt. Eshat dann aber einen weiteren Satz gesagt, der für unsalle, damals übrigens auch für die SPD und die Grünen,durchaus sehr prägend war. Die ursprüngliche Entschei-dung des Verfassungsgerichts – daran möchte ich immerwieder erinnern – war nämlich: In Eilfällen kann die Re-gierung, die exekutive Gewalt, das allein machen.Ich hätte mir sehr gewünscht, dass sich das Bundesver-fassungsgericht in seinem neuen Urteil mit diesem Satzauseinandergesetzt hätte. Dass es jetzt anders entschiedenhat, haben wir auch den beiden Abgeordneten zu verdan-ken, die von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben. Sogehört sich das auch. Ich bin nicht immer derselben Mei-nung wie der Kollege Danckert gewesen. Auch der Kol-lege Danckert – er kann heute wahrscheinlich leider nichtkommen; das ist aber okay – muss anerkennen, dass seineVorstellung – er meinte, der Haushaltsausschuss müssedie wesentlichen Dingen entscheiden – nicht umgesetztwurde. Vielmehr machen wir das jetzt im Plenum.Den Kolleginnen und Kollegen, die nicht im Haus-haltsausschuss sind, will ich eines deutlich sagen: JederAbgeordnete muss sich darüber klar sein, dass, wenn esfür Europa notwendig ist – mit Blick auf die Stabilisie-rung des Kontinents, aber auch auf die Stabilisierung un-seres Staates, unserer Sozialsysteme, unserer Altersvor-sorge; denn wir brauchen Europa –, die gefundeneLösung notfalls bedeutet, dass am Pfingstsonntag ebennicht nur der Heilige Geist über ihn kommt, sondernauch eine notwendige Abstimmung. Für meine Fraktionsage ich: Wenn es für Europa, für unsere Bürger, für un-sere Altersvorsorgesysteme usw. notwendig ist, werdenwir am Pfingstsonntag hier sein. Da werden wir weitereErfahrungen sammeln; aber nach dem, was ich erlebthabe, werden wir auch Gemeinsamkeiten finden.Wir als FDP haben an bestimmten Stellen zurückste-cken müssen. Das ist der kleine Wasseranteil, den ich inden Wein gieße; Sie haben das ja auch gemacht. Aber,Kollege Schwanitz, ich muss auch sagen: Auch bei derSPD hat es durchaus kleinere Änderungen gegeben. Ichhabe mir noch einmal Ihren Gesetzentwurf vom Septem-ber angesehen. In dem hieß es noch: Über Eilfälle soll ineinem Neunergremium beschleunigt entschieden wer-den; aber in Vertraulichkeitsfällen sei das eigentlichnicht notwendig. Das Verfassungsgericht hat das umge-kehrt gesehen. Wir sind zu neuen Erkenntnissen gekom-men, und das ist auch in Ordnung.Mit dem, was wir heute zur EFSF beschließen – dabeigeht es um den temporären Schutzschild des Euro –, ge-hen wir sehr viele Punkte an, die mit Blick auf eine Par-lamentsbeteiligung beim ESM schon die Richtung wei-sen. Zwei Umstände sehe ich allerdings durchaus alsschwierig an. Einen hat der Kollege Barthle schon deut-lich gemacht. Wenn wir unsere Parlamentsbeteiligungdestruktiv wahrnehmen und nicht klarmachen, unter wel-chen Bedingungen der Finanzminister im Gouverneurs-rat handeln kann, und wenn es daraufhin zu einer Hand-lungsunfähigkeit der Stabilitätsmechanismen kommt,dann wird die Europäische Zentralbank, bei der wir keinVetorecht haben, sagen: Na, dann noch eine „dickeBertha“. Übersetzt heißt das: noch einmal 500 MilliardenEuro, und zwar ohne Bedingungen und ohne der Politikin anderen Ländern sagen zu können: Ihr müsst Refor-men machen.Ich will einen zweiten Punkt deutlich ansprechen:Wenn wir das Neunergremium in der geplanten Ausge-staltung haben, sind wir uns dann sicher, dass es nur inFällen von Sekundärmarktaktivität tätig wird, weil nur indiesen Fällen Vertraulichkeit notwendig ist, um einenEffekt zu erzielen? Deswegen will ich für meine Frak-tion sagen: Die Handlungsfähigkeit wird auch davon ab-hängen, dass nicht gesagt wird: Da man das nicht ver-traulich machen kann, müssen wir das Ganze jetzt leiderüber die EZB machen. – Ich bitte darum, dass wir alleuns das sehr genau anschauen; denn wir wollen doch er-reichen, dass parlamentarische Beteiligung, wo sie not-wendig ist, von dem richtigen Gremium wahrgenommenwird.Wir haben jetzt diese Verteilung. Wir alle werdenweiter lernen. Wir alle haben schon hinzugelernt. Inso-fern ist dies wirklich ein guter Tag für die Gewaltentei-
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20930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Otto Fricke
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(B)
lung und für die Demokratie. Manchmal sollte es ebenauch so im Parlament ablaufen.Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende.
Das schöne Wochenende wird noch einen Augenblick
auf sich warten lassen müssen, aber die Wünsche kön-
nen ja schwerlich zu früh kommen.
Jetzt hat der Kollege Steffen Bockhahn für die Frak-
tion Die Linke das Wort.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Worum geht es heute? Wir müssenklären, wie der Deutsche Bundestag künftig bei denMaßnahmen, die im Zusammenhang mit dem europäi-schen Rettungsschirm notwendig sind, mitentscheidensoll. Momentan geht es noch um den temporären Ret-tungsschirm, also um die EFSF. De facto reden wir aberauch schon über das, was künftig mit dem ESM passie-ren soll. Dabei geht es dann um 700 Milliarden Euro.22 Milliarden Euro sind von Deutschland bar einzule-gen, und 168 Milliarden Euro muss Deutschland jeder-zeit als abrufbares Kapital zur Verfügung stellen. Wir re-den also über Summen, die mehr als die Hälfte desgesamten Bundeshaushalts eines Jahres ausmachen.Nun geht es um die Frage: Bei welchen Maßnahmenwird sich das Parlament wie einbringen? Ja, es ist gut,dass geklärt ist, dass der Bundestag im Grundsatz imPlenum in Gänze zu entscheiden hat. Es gibt aber eineAusnahme, nämlich die sogenannten Sekundärmarkt-käufe. Das heißt, über den Ankauf von Staatsanleihen,die schon im Umlauf sind, die also eine Bank hat und dievon anderen gekauft werden sollen, nämlich vom ESM,hat das sogenannte Neunergremium zu entscheiden. Esheißt, solche Fälle bedürften einer besonderen Vertrau-lichkeit, und deshalb könne man darüber nicht offen imPlenum entscheiden. In solchen Fällen soll das soge-nannte Neunergremium, über das wir hier reden, aktivwerden.Es geht um Transparenz und Beteiligung. Ich gebe zu:Ich bin ein wenig irritiert ob einiger Sätze, die ich heutegehört habe. Es heißt, wenn der Deutsche Bundestagseine Rechte zu sehr in Anspruch nähme, würde er letzt-lich den Europäischen Stabilitätsmechanismus gefähr-den.
Das ist für mich unter demokratietheoretischen Aspekteneine sehr problematische Auslegung.
Ich sage Ihnen auch, warum: weil es suggeriert, dass eskeine Möglichkeit gäbe, dass der Deutsche BundestagDinge vertraulich behandelt. Nehmen Sie das Grundge-setz: Art. 42 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes sieht vor,dass der Deutsche Bundestag im Plenum in geschlosse-ner Sitzung tagen darf. Es liegt an uns, diese Rechte inAnspruch zu nehmen oder nicht. Ich finde, angesichtsder Summen, über die wir hier reden, sind wir nicht nuraufgerufen, sondern sogar verpflichtet, diese Verantwor-tung wahrzunehmen. Wir reden wahrscheinlich übermehrere Milliarden Euro. Ich finde, diese Verantwortungkann man nicht Einzelnen überlassen. Dafür sind wiralle zusammen zuständig.
Schauen wir uns einmal an, was in den vergangenenWochen und Monaten noch so alles passiert ist. Bei derAbstimmung über das zweite Griechenland-Rettungs-paket war keine Kanzlermehrheit vorhanden.
Angesichts dessen verstehe ich nicht, warum SPD undGrüne diesem Gesetzentwurf jetzt zustimmen. Damitentlasten Sie die Koalition, die offensichtlich nicht mehrin der Lage ist, bei Entscheidungen, bei denen es um dieeuropäische Stabilität geht, eine eigene Mehrheit herzu-stellen.
Durch Ihre Zustimmung ermöglichen Sie es, dass dieKoalition treue Kolleginnen und Kollegen in das Neu-nergremium entsendet. Dort hat die Koalition dann eineeigene Mehrheit und ist auf Sie gar nicht mehr angewie-sen. Im Plenum sähe die Sache anders aus. Dort müssteunter Umständen auch anders verhandelt werden, weildie Mehrheitsverhältnisse im Plenum offensichtlichnicht so sind, wie sie im Neunergremium schnell herzu-stellen sind. In das Neunergremium kann ich zwei, dreiLeute schicken, auf die ich mich verlassen kann. Im Ple-num habe ich es mit der Gesamtheit des Parlaments unddamit mit der Gesamtheit der politischen Ansichten zutun. Das ist zwar komplizierter, aber es ist ehrlicher, undes ist auch verantwortungsvoller gegenüber dem Haus-halt.
Sie mögen das jetzt so interpretieren, dass wir eigent-lich nur wieder einen Grund gesucht haben, um Nein zusagen. Aber es ist ausdrücklich nicht so. Uns geht es da-rum, dass wir über Beträge reden, die sich niemand mehrvorstellen kann. Wir sprechen bei diesem Thema überZahlen mit neun Nullen. Diese Zahlen sind jenseits vonGut und Böse, niemand versteht sie. Allein die 22 Mil-liarden Euro Bareinlage, die wir im ESM zu zahlen ha-ben, über die ich persönlich sage: „Ja, wir haben hiereine Verantwortung“, sind mehr als das Doppelte derHaushaltsmittel, die das Bundesinnenministerium unddas Bundesfamilienministerium im ganzen Jahr haben.Ich finde, über diese Mittel müssen wir alle zusammentransparent entscheiden. Niemand von Ihnen würde ak-zeptieren, dass über einen Einzelplan des Haushaltsnicht im Plenum, sondern in einem Neunergremium ent-schieden wird.Danke.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20931
Steffen Bockhahn
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(B)
Die Kollegin Priska Hinz hat nun das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Bockhahn, es geht heute nicht um die Parla-
mentsbeteiligung für den ESM, den ständigen Rettungs-
schirm. Heute geht es ausdrücklich um die Parlaments-
beteiligung für den vorläufigen Rettungsschirm, die
EFSF. Ich finde, das muss man auseinanderhalten.
Zu dem anderen Gesetzentwurf werden wir erst noch
eine Anhörung durchführen.
Im Lichte dieser Anhörung werden wir dann darüber dis-
kutieren, wie man eine gute Parlamentsbeteiligung hin-
bekommen und gleichzeitig – das ist ein Balanceakt –
den ständigen Rettungsschirm funktionsfähig machen
und halten kann. Das wird für uns alle eine schwierige
Aufgabe,
wenn wir tatsächlich an der Euro-Rettung interessiert
sind.
Zum Zweiten. Die Parlamentsbeteiligung im Rahmen
dieses Gesetzes hat sich – genauso wie das Gesetz – wei-
terentwickelt. Das muss man so sagen. Ich habe jetzt
keine Lust auf das Schwarzer-Peter-Spiel, hin und her,
wer hat was wann eingebracht.
Das kann draußen an den Bildschirmen sowieso nie-
mand nachvollziehen. Ich glaube, wichtig ist, dass wir
heute feststellen, dass wir das zweite Urteil des Verfas-
sungsgerichts nicht nur umsetzen, sondern teilweise da-
rüber hinausgehen.
Das will ich nachdrücklich festhalten. Deswegen werden
wir diesem Gesetzentwurf heute zustimmen.
Die Formulierungen des Gesetzes sind klarer gewor-
den, und die Rechte der Abgeordneten wurden gestärkt,
weil jetzt weitestgehend alle Entscheidungen vom Bun-
destag in Gänze getroffen werden müssen. Das ist zum
Beispiel hinsichtlich der Leitlinien wichtig. Ich erinnere
an den Streit, den wir über die Frage der Hebelung ge-
führt haben. Die Koalition wollte nicht, dass wir über
diese Frage hier im Bundestag diskutieren und entschei-
den. Letztendlich haben wir dann hier darüber diskutiert.
Insofern war die Öffentlichkeit beteiligt und die Ent-
scheidung transparent. Künftig wird es generell so sein.
Das halten wir in diesem Fall für richtig.
Das Sondergremium kann nach dem Urteil des Ver-
fassungsgerichts für die Sekundärmarktankäufe weiter
bestehen. Alle anderen Aufgaben, die das Sondergre-
mium laut dem ursprünglichen Gesetz hatte, sind jetzt
auf das Plenum übertragen worden. Ich verhehle nicht,
dass ich die Stellvertreterregelung für problematisch
halte. Ich bin nicht sicher, ob dies insgesamt praktikabel
sein wird und das Gremium jemals tagen wird. Aber wir
alle lernen mit diesen Gesetzen dazu. Die Staatsschul-
denkrise dauert Gott sei Dank noch nicht so lange an,
dass wir schon alle parlamentarischen Erfahrungen da-
mit hätten machen können. Wir werden sehen, ob es sich
bewährt oder ob die EZB künftig auch in dieser Frage
einschreiten muss. In diesem Lichte müssen wir dann
noch einmal über die Aufgaben des Sondergremiums
diskutieren.
Das Gleiche gilt für die Eilfälle. Die Eilfallregelung
wurde nicht mehr in den Gesetzentwurf aufgenommen,
weil SPD und Grüne dagegen waren, dass die Regierung
entscheidet, was ein Eilfall ist,
und weil wir auch nicht akzeptieren wollten – entschul-
digen Sie bitte –, dass der Bundestagspräsident allein
entscheidet, was ein Eilfall ist. Auch dies fanden wir un-
parlamentarisch.
Was im Übrigen, wie Sie wissen, auch nicht vorgese-hen war.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Von daher gibt es jetzt im Gesetzentwurf keine Rege-lung für Eilfälle. Das heißt, das Plenum muss zusam-mentreten, wenn es einen Eilfall gibt, notfalls auch in dersitzungsfreien Zeit in der Sommerpause. Auch damitwerden wir Erfahrungen sammeln müssen, um beurtei-len zu können, ob das praktikabel ist oder ob man imHinblick auf Eilfälle, in denen das nicht funktioniert, et-was im Gesetz ändern muss.Wo wir als Grüne, als es um dieses Gesetz ging, leidernicht durchgedrungen sind, ist das Thema Anhörung.Eine Anhörung zu beantragen, wird auch für eine Min-derheit ermöglicht. Allerdings wollten wir gerne die Re-gelung, dass entweder zwei Fraktionen oder 25 Prozentder Mitglieder des Haushaltsausschusses eine Anhörungbeantragen können. Die Mehrheit des Hauses wollte dasnicht akzeptieren. Das finden wir bedauerlich, weil dasim Zweifel natürlich uns als kleinere Fraktion betreffenwürde.
Aber daran wollen wir das Gesetz nicht scheitern lassen.
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20932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Priska Hinz
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Sinnvoll wäre aus unserer Sicht gewesen, eine Anhö-rung zu diesem neuen Gesetzentwurf am 7. Mai durch-zuführen, wenn auch eine Anhörung zum ESM und zumFiskalpakt stattfindet. Aus Zeitgründen ist von derMehrheit darauf verzichtet worden. Das finden wir wirk-lich nicht sinnvoll. Uns wäre es wichtig gewesen, eineAnhörung durchzuführen. Aber davon machen wir un-sere Entscheidung nicht abhängig, weil wir es für sach-lich gerechtfertigt halten, die starke Parlamentsbeteili-gung, die im Gesetz verankert ist, jetzt zu vollziehen.Danke schön.
Nun hat der Kollege Bartholomäus Kalb das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
nen und Kollegen! Als letzter Redner, der feststellen
kann, dass wir uns weitestgehend einig sind, könnte ich
mit Karl Valentin sagen: Es ist schon alles gesagt, nur
noch nicht von jedem. – Aber gerade aus Gründen des
Respekts vor dem Bundesverfassungsgericht und aus
Gründen der Selbstachtung des Parlaments
ist es geboten, diese Debatte sehr ernsthaft und seriös zu
führen.
Wir tragen mit dieser Gesetzesänderung den Vorga-
ben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Rechnung. Dieses hat mit seinem Urteil die haushalts-
politische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundes-
tages gestärkt und damit auch die Zuständigkeiten des
sogenannten Neunergremiums auf Sekundärmarktakti-
vitäten begrenzt. Damit ist klargestellt, dass dieses
Gremium, das eingerichtet werden soll, ein Spiegelbild
der Mehrheitsverhältnisse sein muss. Die Parlamenta-
rischen Geschäftsführer haben – dafür darf ich mich
ganz herzlich bedanken – unter der Führung von Peter
Altmaier, wie ich glaube, eine sehr gute Lösung gefun-
den,
sodass wir jetzt zu einer einvernehmlichen Regelung und
Entscheidung kommen und den Vorgaben des Bundes-
verfassungsgerichts in vollem Umfang Rechnung tragen
können.
Ich habe bereits gesagt, dass die Zuständigkeiten des
sogenannten Neunergremiums auf Sekundärmarktakti-
vitäten begrenzt werden. Ich halte das für dringend
geboten. Denn wenn durch Indiskretionen irgendetwas
herauskäme, könnten Deutschland und allen anderen
Mitgliedstaaten der Europäischen Union milliarden-
schwere Schäden entstehen.
Das Thema Eilbedürftigkeit will ich nicht weiter ver-
tiefen. In der Zukunft hat das Plenum des Deutschen
Bundestages die Gesamtverantwortung. Das heißt, dann
muss das Plenum in allen Fällen entscheiden. Ich glaube,
von der Kollegin Hinz ist schon gesagt worden: Das
kann durchaus eine sportliche Veranstaltung für das Ple-
num des Deutschen Bundestages werden. Wenn wir aber
die Wahrung der Parlamentsrechte bzw. des Budget-
rechts in vollem Umfang gewährleisten wollen, dann ge-
hört dazu auch, dass wir zur Stelle sind, wenn dies gebo-
ten ist.
Der Kollege Riegert möchte und darf offenkundig
eine Zwischenfrage stellen. – Bitte sehr.
Herr Kollege Kalb, mit „sportliche Veranstaltung“ ha-
ben Sie mir gerade ein Stichwort gegeben. Sie haben ja
von der Stabilität der Währung gesprochen. Unser Saal-
diener Hermann Rost hat als Zeugwart für stabile Ver-
hältnisse in der Bundestagsfußballmannschaft gesorgt.
Er hat heute seinen letzten Arbeitstag, ist bis zuletzt an
seinem Platz und bringt uns das köstliche Wasser.
Sind Sie nicht wie ich der Meinung, dass wir ihn mit ei-
nem herzlichen Dankeschön und dem Wunsch eines sta-
bilen Alters und einer stabilen Pension verabschieden
sollten?
Herr Kollege Riegert, ich freue mich ganz ausdrück-lich über diese Zwischenfrage, weil sie mir Gelegenheitgibt, den Dank, den Sie schon ausgesprochen haben,auch meinerseits – ich denke, auch für die vielen Kolle-ginnen und Kollegen – zum Ausdruck zu bringen. Ichkenne Hermann Rost schon seit 25 Jahren, und ich durfteauch einmal ein bisschen in der Fußballmannschaft desBundestages mitspielen.
Herzlichen Dank und alle guten Wünsche an HermannRost!Herr Präsident, wenn Sie einverstanden sind, danndarf ich dies zum Anlass nehmen, Hermann Rost auchstellvertretend für die vielen zu danken, die uns hier imPlenum des Deutschen Bundestages, in den Ausschüssenusw. mit voller Hingabe tagtäglich treu zur Seite stehenund unsere Arbeit ermöglichen. Herzlichen Dank an alleund alles Gute für Hermann Rost im Ruhestand.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20933
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Das Präsidium schließt sich diesen guten Wünschen
ausdrücklich und gerne an. Sie hätten auch in keiner pas-
senderen Debatte als in dieser vorgetragen werden kön-
nen.
Ich vermute, dass nur deswegen darauf verzichtet wurde,
das auch in den Gesetzentwurf einzufügen, weil wir von
der Sicherheit der Rechtsansprüche der Beamtenpension
ohnehin fest überzeugt sind.
Herr Präsident, es steht mir nicht zu, Ihre Worte zu
kommentieren, aber wenn es notwendig gewesen wäre,
dann hätten wir es tatsächlich fertiggebracht, das in die-
sem Gesetzentwurf auch noch festzuschreiben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin jetzt
in meinem Redefluss natürlich etwas unterbrochen wor-
den.
Ich will nun auf das Thema zurückkommen.
Wir befassen uns jetzt mit der Mitwirkung und Betei-
ligung des Parlaments am temporären Rettungsschirm in
Europa. Wir sind im Moment parlamentarisch auch da-
bei, den dauerhaften Rettungsschirm für Europa, den Eu-
ropäischen Stabilitätsmechanismus, zu beraten. Hierbei
wollen wir – ich glaube, Kollege Fricke hat es schon
zum Ausdruck gebracht – die Parlamentsbeteiligung und
die Parlamentsrechte ebenso stark berücksichtigt finden.
Darüber beraten wir gerade. Ich bin davon überzeugt,
dass uns auch das gelingen wird.
Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass es sich
bei den Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen, nur um
Maßnahmen handelt, um unsere parlamentarischen Mit-
wirkungsrechte zu stärken und die Rettungsschirme
funktionsfähig zu machen. Das entbindet aber keinen
Mitgliedstaat in der Europäischen Währungsunion, seine
Hausaufgaben zu machen, eine solide Haushaltspolitik
zu betreiben und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Wir haben bereits gestern darüber debattiert. Das wird
die Kernaufgabe schlechthin sein.
Es wird somit auf der einen Seite darauf ankommen,
dass sich alle in Europa entsprechend anstrengen, damit
diese Vorgaben, die wir im Fiskalpakt vereinbart haben,
eingehalten werden. Auf der anderen Seite wollen wir si-
cherstellen, dass kein Mitgliedsland der Euro-Zone in
existenzielle Probleme gerät; denn ganz gleich, welches
Land in Schwierigkeiten käme und Finanzierungs- bzw.
Refinanzierungsprobleme hätte: Es würde natürlich an-
dere mitziehen, und es würde Rückstoßeffekte für uns
alle geben. Es ist also – der Kollege Fricke und der Kol-
lege Barthle haben schon darauf hingewiesen – in unse-
rem und im Interesse unserer Bürger, dass wir für stabile
Verhältnisse in Europa, in der Europäischen Union und
insbesondere in der Währungsunion sorgen.
Herzlichen Dank, alles Gute, schönes Wochenende!
Ein zweites Mal hat sich der Kollege Kalb leider nicht
stoppen lassen, und nach Überschreiten der Redezeit
können keine weiteren Zusatzfragen angenommen wer-
den.
Bevor wir jetzt zu den Abstimmungen kommen, hat
der Kollege Ströbele um eine Erklärung zur Abstim-
mung gebeten. Dazu hat er jetzt Gelegenheit. Danach
stimmen wir über den Gesetzentwurf ab.
Ich danke, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mir ist dieses allgemeine Schulterklopfen in
dieser Debatte etwas unangenehm. Deshalb habe ich
mich hier zu Wort gemeldet.
Bei der Verabschiedung des Stabilisierungsmechanis-
musgesetzes habe ich damals nicht zugestimmt, weil ich
die gleichen Bedenken hatte, die dann die Kollegen von
der SPD beim Bundesverfassungsgericht vorgetragen
haben. Ich fand es vom Kollegen Schwanitz etwas wohl-
feil, hier nun die Kollegen dafür zu loben, dass sie zum
Bundesverfassungsgericht gegangen sind. Ich fand das
richtig, hätte es auch gerne getan. Ich war aber nicht so
schnell und hatte keinen so guten Rechtsrat. Aber wir
dürfen nicht vergessen: Die SPD hat damals diesem of-
fensichtlich in Teilen verfassungswidrigen Gesetz zuge-
stimmt.
Herr Kollege Ströbele, Sie wollten aber eigentlich
eine Erklärung zu Ihrem Abstimmungsverhalten abge-
ben.
Ja, natürlich. Das ist eine Erklärung zur Abstimmung.
Das muss ich allerdings entscheiden, ob es das istoder nicht.
Herr Präsident, ich will erklären, warum ich heute wieabstimme.
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20934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
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Na gut.
Ich fange damit an, dass ich sage: Beim letzten Mal,
als es um das Gesetz ging, habe ich nicht zugestimmt.
Jetzt geht es um die Änderung dieses Gesetzes. Ich kriti-
siere, dass fast alle Fraktionen dieses Hauses ein in Tei-
len verfassungswidriges Gesetz beschlossen haben, und
appelliere an dieses Haus, in Zukunft vielleicht auch die
Bedenken einzelner Abgeordneter schon bei der Debatte
in den Ausschüssen, aber auch hier im Plenum ernst zu
nehmen.
Ich habe damals auch in meiner persönlichen Erklä-
rung zur Abstimmung genau die Punkte, um die es heute
geht und um die es beim Bundesverfassungsgericht ging,
genannt. Ich bin deshalb auch nach Karlsruhe gefahren
und habe mir dort die Verhandlung angeschaut. Ich habe
auch versucht, bei der Verhandlung des Bundesverfas-
sungsgerichts mitzureden.
Den vorliegenden Gesetzentwurf mit den vorgeschla-
genen Änderungen sehe ich als einen positiven Schritt
an. Das Bundesverfassungsgericht hat ja geklärt, was
verfassungswidrig war, nämlich dieses Neunergremium,
das bei Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit ein sehr
weitgehendes Recht hier im Deutschen Bundestag be-
kommen hatte. Dass das nun korrigiert werden soll, ist
richtig und in Ordnung. Mir geht das aber nicht weit ge-
nug.
Ich habe mir natürlich genau überlegt: Wie soll ich
heute abstimmen? Ich kann nicht übersehen – das sage
ich auch zur Linken –, dass in das geltende Gesetz, das
nicht in Gänze aufgehoben worden ist, deutliche Verbes-
serungen aufgenommen werden sollen. Ich habe lange
geschwankt, um deutlich zu machen, dass ich immer
noch nicht zufrieden bin. Die Kollegin Hinz hat dazu ei-
nige wichtige Aspekte genannt. Ich werde aber trotzdem
zustimmen, weil ich sage: Es ist besser, dass das vorhan-
dene schlechte Gesetz nun konkret verbessert wird und
die verfassungsrechtlichen Bedenken, die wir hatten und
die das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat, jeden-
falls in Teilen aufgenommen werden, als das alte Gesetz
ohne diese Änderungen fortgelten zu lassen, wenn ich
Sie davon hätte überzeugen können, nicht zuzustimmen.
Ich frage vor diesem Hintergrund die Linke: Warum
stimmen nicht auch Sie zu? Sie sehen doch deutlich
– das haben Sie offenbar auch im Haushaltsausschuss
klargemacht – die Verbesserungen, die dieses Gesetz
bringt. Wenn aus einem schlechten Gesetz ein besseres
Gesetz wird, dann kann man eigentlich nicht dagegen
sein.
Deshalb werde ich heute zustimmen – trotz Bauch-
schmerzen. Ich appelliere aber an dieses Haus, die Ver-
fassung in Zukunft ernster zu nehmen.
Vielen Dank. – Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes. Der
Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf der Drucksache 17/9435, den Gesetzentwurf
auf der Drucksache 17/9145 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in dieser Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der
Fraktion Die Linke, die dagegen gestimmt hat, ange-
nommen.
Wir rufen nun die
dritte Beratung
und Schlussabstimmung auf. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Gesetzentwurf mit den gerade schon vorgetragenen
Mehrheitsverhältnissen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 37 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Kampfkraft der Gewerkschaften stärken –
Anti-Streik-Paragraphen abschaffen
– Drucksache 17/9062 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Meine Gewerkschaft, die IG Metall, steht mitten ineiner Tarifrunde in der Metallindustrie. Die IG Metallfordert 6,5 Prozent mehr Lohn, „Gleicher Lohn für glei-che Arbeit!“ – auch für Leiharbeitnehmer –,
den Ausbau der Mitbestimmung von Betriebsräten beimEinsatz von Leiharbeit und die unbefristete Übernahmealler Auszubildenden. Diese Forderungen sind richtig
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20935
Jutta Krellmann
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und lösen Probleme, die von dieser Regierung nicht ge-löst wurden.Die Tarifverträge sind zum 31. März ausgelaufen. Ei-gentlich sollte in der vierwöchigen Friedenspflicht einneuer Tarifvertrag gefunden werden. In den letzten Ver-handlungen kamen die Arbeitgeber mit einem Angebotum die Ecke: Sie bieten 2,57 Prozent mehr Lohn fürzwölf Monate und – man höre – eine Arbeitszeitverlän-gerung.
Bis zu 30 Prozent der Beschäftigten sollen künftig nachdem Vorschlag der Arbeitgeber 40 Stunden pro Wochearbeiten.
– Genau, um Gottes willen. – Das ist kein Angebot; dasist eine Frechheit.
– Wissen Sie, derzeit arbeiten sie 35 Stunden, und künf-tig sollen sie 40 Stunden arbeiten. Das ist der Unter-schied.
Würden Sie die Tarifverträge ein bisschen kennen undsich daran erinnern, was die Forderungen und Bedingun-gen der IG Metall an dieser Stelle sind, dann wüssten Siedas.Ab nächster Woche wird die IG Metall versuchen, mitWarnstreiks Druck auf die Arbeitgeber auszuüben. Wenndas nicht klappt, sind Urabstimmung und Streik geboten.
Streik ist unsere schärfste Waffe. Dem Streik der Be-schäftigten dürfen die Arbeitgeber Aussperrung entge-gensetzen. So will es die Rechtsprechung.
Streikrecht ist aber ein demokratisches Grundrecht.
Aussperrung ist Richterrecht.
Mit einer Aussperrung verweigern die Arbeitgeber ihrenBeschäftigten Arbeit, Lohn und Zutritt zum Betrieb.Die Gewerkschaft ist klipp und klar gegen jede Formvon Aussperrung. Im Tariflexikon der IG Metall heißt es– ich zitiere –:Aussperrung ist ein willkürliches Kampfmittel derArbeitgeber. Sie stellt das Streikrecht in Frage undmuss solidarisch bekämpft werden. Sie ist Unrechtund gehört verboten.
Die Arbeitgeber hingegen können heiß und kalt aussper-ren.Eine heiße Aussperrung betrifft Beschäftigte, die imbestreikten Tarifgebiet in Betrieben arbeiten, die geradenicht zum Streik aufgerufen sind. Eine kalte Aussper-rung bedeutet, dass auch Beschäftigte ausgesperrt wer-den, die im Zweifel gar nichts mit dem Streik zu tun ha-ben. Sie dürfen als Streik- bzw. Aussperrungsfolge nichtmehr arbeiten.Wenn Beschäftigte infolgedessen keine Arbeit haben,war das früher ein klassischer Fall von Kurzarbeit. Daswurde 1986 mit dem Anti-Streik-Paragrafen abgeschafft.Bei kalter Aussperrung stehen die Beschäftigten im Re-gen und bekommen nichts. Das ist ungerecht und unso-zial.
Das treibt einen Keil zwischen Streikende und heiß Aus-gesperrte und kalt Ausgesperrte.Die Arbeitgeber ihrerseits bekamen durch den Anti-Streik-Paragrafen ein zweites Kampfmittel in die Hand.Sie können Hunderttausende Beschäftigte und ihre Fa-milien ohne jegliche Unterstützung vor der Türe stehenlassen.
Damit muss Schluss sein. Wenn die IG Metall im Mai ineinen Streik gehen sollte, dann darf es nicht sein, dassdie Arbeitgeber Beschäftigte willkürlich kalt aussperrenkönnen.
Meine Damen und Herren, es ist und bleibt höchsteZeit, dieses ungerechte und undemokratische Gesetz zukippen. Aussperrung gehört verboten.
Peter Weiß ist der nächste Redner für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Nächste Woche ist der 1. Mai, der Tag der Arbeit.
Er ist Anlass für eine Bestandsaufnahme darüber, wiesich die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer bei uns in Deutschland entwickelt. An diesem1. Mai kann man seit langem wieder einmal feststellen:
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20936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Peter Weiß
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Die Bilanz für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerin unserem Land entwickelt sich bislang gut, und daswird in diesem Jahr voraussichtlich auch so bleiben.
Nach Zeiten der Massenarbeitslosigkeit mit über5 Millionen Arbeitslosen im Frühjahr 2005 ist die Ar-beitslosenzahl Ende März dieses Jahres auf 3,028 Mil-lionen zurückgegangen. Das bedeutet im Vergleich zumVorjahr einen Rückgang von 182 000; das stellt denniedrigsten Märzwert seit 20 Jahren dar. Die Konjunk-turdaten mit einem prognostizierten Wachstum um 0,7bis 0,9 Prozent in diesem Jahr machen Hoffnung,
dass sich diese Entwicklung fortsetzt. Die Tarifverhand-lungen im öffentlichen Dienst sind vor diesem Hinter-grund zu einem, wie ich finde, guten und befriedigendenErgebnis gekommen. Es ist davon auszugehen, dassauch die Tarifverhandlungen im Bereich der Metall- undElektroindustrie zu einem ähnlichen Ergebnis kommenwerden, übrigens ohne Mithilfe einer Bundestagsde-batte, allein durch das engagierte Verhandeln auf Ge-werkschafts- und Arbeitgeberseite.
Im Vorfeld des Maifeiertages steht nicht mehr so sehrdie Sorge um den Arbeitsplatz im Vordergrund wie zuZeiten von Rot-Grün.
Vielmehr diskutieren wir lebhaft über gute Arbeit, bes-sere Bezahlung und die Notwendigkeit, mehr Fachkräftezu gewinnen. Ich finde, das ist ein Fortschritt, der sichauch im 1.-Mai-Motto, das die Gewerkschaften ausgege-ben haben, widerspiegelt: „Gute Arbeit für Europa – Ge-rechte Löhne, Soziale Sicherheit“.
Ich finde, dieses Motto können wir auch über unser Re-gierungshandeln schreiben. Das ist ein gutes 1.-Mai-Motto, das unsere Unterstützung hat.
Ich finde es sehr verwunderlich, dass der Linken in ei-ner solchen Situation nichts anderes zum 1. Mai einfällt,als eine alte Klamotte aus der Kiste herauszuholen, diekaum noch jemandem in Erinnerung ist.
Seit 26 Jahren gelten die derzeitigen Regelungen zumStreikrecht. Ich gebe ehrlich zu, dass auch ich damals dieentsprechenden Änderungen für problematisch gehaltenhabe. Aber nach 26 Jahren, in denen weder den Sozial-demokraten noch den Grünen – diese haben ja in letzterZeit auch regiert – noch der FDP noch uns eine Initiativein den Sinn gekommen ist, die darauf abzielt, die beste-henden Regelungen zu ändern,
muss man sagen: Das Problem, das die Linken auftun,ist eigentlich keines; denn wir können feststellen, dassdie Gewerkschaften unter den Bedingungen des gültigenStreikrechts sehr wohl erfolgreiche Tarifpolitik inDeutschland betreiben konnten, notfalls auch durchWahrnehmung dieses Rechts.Ich empfinde das, was die Linke vorträgt, eigentlichals einen Angriff auf die IG Metall.
Wenn eine Gewerkschaft erfolgreich gezeigt hat, dass siedie Interessen ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer durchsetzen kann, dann ist es die IG Metall, die üb-rigens die weltgrößte Einzelgewerkschaft ist. Deswegenbetrachte ich Ihre Aussage, Frau Krellmann, die IG Me-tall brauche die Hilfestellung der Linken in Form einesAntrags zur Änderung von bestehenden Gesetzen, umTarifrunden erfolgreich zu bestehen, als einen Anschlagauf das erfolgreiche Verhandeln der IG Metall. Die Ge-werkschafter bekommen das auch ohne Änderungsan-trag der Linken sehr gut hin.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, entscheidend istdoch nicht, wie viele Tage für ein Tarifergebnis gestreiktworden ist, sondern entscheidend ist, welche Qualität derTarifvertrag hat, der unter dem geltenden rechtlichenRahmen erzielt wurde. Wenn die Ergebnisse stimmenund wir zugleich in Europa zu den Ländern gehören, diedie wenigsten Ausfalltage durch Streiks haben, sprichtdas doch letztlich für ein gutes Streikrecht und nicht fürein schlechtes Streikrecht. Die daraus resultierendenStandortvorteile der deutschen Wirtschaft sind nicht zuunterschätzen, und sie wirken sich direkt positiv auf denArbeitsmarkt und zugunsten der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer aus.
Herr Kollege Weiß, darf der Kollege Ernst eine Zwi-
schenfrage stellen?
Bitte schön.
Herr Weiß, danke für die Möglichkeit, Ihnen eineFrage stellen zu dürfen. Es wird wirklich eine Frage.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20937
Klaus Ernst
(C)
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Erstens. Können Sie sich vorstellen, dass die Tatsa-che, dass wir in der Bundesrepublik mit die wenigstenStreiktage haben – nur der Vatikanstaat und die Schweizhaben noch weniger –, etwas damit zu tun hat, dass dieLöhne in der Bundesrepublik Deutschland, gemessen anunseren europäischen Partnern, prozentual in den letztenJahren deutlich gesunken sind?
Zweitens. Können Sie sich vorstellen, dass die Tatsa-che, dass während des Streiks 1984 in der Metallindus-trie in Hessen und in Baden-Württemberg die Regelungzum Kurzarbeitergeld verändert wurde, was zur Folgehatte, dass von kalter Aussperrung betroffene Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer plötzlich kein Kurzarbeiter-geld mehr erhalten haben, maßgeblich die Stärke derIG Metall geschwächt und damit das Ergebnis der Ver-handlungen negativ beeinflusst hat? Können Sie sich dasvorstellen?Die dritte Frage, die ich anschließen möchte, lautet:Glauben Sie wirklich, dass die Tatsache, dass das Streik-recht unter Ihrer Regierung – Herr Blüm war damalsMinister – verändert wurde und für rechtens erklärtwurde, was das Bundessozialgericht vorher monierthatte – das Vorgehen des damaligen Präsidenten derBundesanstalt für Arbeit, Herrn Franke, ist ja vom Bun-dessozialgericht für rechtswidrig erklärt worden –, ohneEinfluss auf die Kampfkraft der Gewerkschaften geblie-ben ist? Ob Sie das glauben, möchte ich gerne von Ihnenhören.
Verehrter Herr Kollege Ernst, ich finde, dass Sie
Rückschlüsse ziehen, die nicht zutreffen. Umgekehrt ist
es richtig.
Das Problem niedriger Entlohnung haben wir in all den
Bereichen, in denen wir leider keine Tarifbindung haben
oder nicht mehr haben, wo also gar nicht gestreikt wird,
weil keine Tarifverhandlungen stattfinden. Da liegt das
Problem.
In den Bereichen, wo wir starke Gewerkschaften ha-
ben, gerade im Metall- und Elektrobereich oder im Be-
reich der Chemie, haben wir in Deutschland beste
Löhne, die sich auch im internationalen Vergleich sehen
lassen können. Das zeigt: Meine Behauptung stimmt.
Dort, wo Tarifverhandlungen stattfinden und eine Tarif-
bindung vorhanden ist, wo die Bereitschaft von Arbeit-
gebern und Arbeitnehmern besteht, Tarifverträge zu un-
terschreiben, haben wir in Deutschland eine gute
Entlohnung. Unser Problem ist vielmehr, dass wir in vie-
len Bereichen eine zu geringe Tarifbindung haben. Des-
wegen wäre es eigentlich notwendig, Initiativen für
mehr Tarifbindung zu starten, statt eine Initiative zur
Änderung des Streikrechts.
– Herr Ernst, Sie wissen, dass letztendlich die entspre-
chenden Klagen, die bis vor die obersten Gerichte gin-
gen, abgewiesen wurden und die Regelung von 1986 für
nicht rechtswidrig oder gar verfassungswidrig erklärt
wurde. Deshalb finde ich es müßig, dass Sie solche Fra-
gen stellen.
Ich will zum Schluss zusammenfassen. Wenn man
sich die Geschichte unseres Landes und die Geschichte
der Tarifauseinandersetzungen anschaut, dann sieht man,
dass die Fakten für sich sprechen. Wir haben ein gutes
und funktionierendes Streikrecht. Das Streikrecht ist in
der Tat ein Grundrecht der Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer, mit dem sie ihre Interessen kraftvoll durch-
setzen können.
Unionsgeführte Bundesregierungen sind und bleiben
der beste Garant dafür, dass wir in Deutschland ein faires
Streikrecht, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie ha-
ben.
Wir wünschen denen, die verhandeln, viel Erfolg. Wir
sind uns als Politik, als Bundestag und – das darf ich
auch sagen – als die die Regierung tragende Koalition ei-
nig: Wir wollen an dem bewährten Streikrecht festhal-
ten. Wir halten an der Tarifautonomie fest. Wir glauben,
das ist der beste Weg zu guten Löhnen. Dazu braucht es
keine politische Einmischung.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Ottmar Schreiner für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Die Debatte erinnert sehr stark anähnliche Vorgänge in Studentenparlamenten, wie ich siefrüher gewohnt war. Dort lernt man, entweder am Themastrikt vorbeizureden oder ein Thema taktisch zu miss-brauchen.
Beides kann man dort von der Pike auf lernen. Im Bun-destag sollte man vielleicht nicht so umfänglich davonGebrauch machen.
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20938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Ottmar Schreiner
(C)
(B)
– Herr Kolb, was Sie bieten werden, kann ich Ihnen jetztschon sagen. Sie werden gleich bieten, dass das ganzeElend der Republik, soweit es noch welches gebensollte, auf Rot-Grün zurückzuführen ist.
Das ist Ihre Meisterarie, die Sie von morgens bis abendssingen. Sie stehen sogar nachts um drei auf, um sie zusingen.
Insofern können Sie eigentlich sitzen bleiben und mirIhre Redezeit zur Verfügung stellen. Ich würde sie ver-mutlich etwas sinnvoller gebrauchen.
Herr Kollege Weiß, Sie haben im ersten Abschnitt Ih-rer Rede die Grundregel jedes Studentenparlamentsmeisterhaft befolgt, nämlich am Thema vorbeizureden.Sie haben den Arbeitsmarkt über den grünen, roten undgelben Klee gelobt. Sie haben gesagt, nicht mehr dieSorge um den Arbeitsplatz stehe an diesem 1. Mai beiden Menschen im Mittelpunkt, sondern möglicherweiseandere Sorgen.Ich kann Ihnen sagen: Nicht nur in den Betrieben undin vielen Unternehmungen, sondern auch an den Hoch-schulen ist die Sorge um den Arbeitsplatz die Hauptsorge.Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Ich war am Montagvoriger Woche auf Einladung eines Kollegen an der Uni-versität Mannheim und habe dort mit Studenten disku-tiert. Das, was den Kern dieser Debatte ausmachte, wardie Sorge der Studentinnen und Studenten, dass sie nacheinem erfolgreichen Abschluss, wenn es gut geht, nur ei-nen zeitlich befristeten Job bekommen, vielleicht für einoder zwei Jahre, dann vielleicht eine Verlängerung oderauch nicht, und, wenn es schlecht geht, einen miserabelbezahlten Praktikantenjob bekommen.Das heißt, die Prekarisierung von Arbeit, instabile,unsichere und ungeschützte Arbeit treibt die Menschenwirklich um. Wie soll denn ein 30-jähriger junger Mannoder eine 28-jährige junge Frau sich verantwortungsvollfür Kinder entscheiden können, wenn sie nicht wissen,ob sie in zwei Jahren das Kind noch angemessen kleidenund ernähren können?
Sie können hier nicht sagen: Die Sorge um den Arbeits-platz ist gewissermaßen aus dieser Republik vertrieben. –Dem ist nicht so.Richtig ist der Hinweis, dass wir einen Rückgang derArbeitslosigkeit haben. Das begrüßen wir; das ist auchanzuerkennen. Im Übrigen sollte man sich die Statisti-ken aber einmal etwas näher angucken. Nicht ganz zu-fällig werden ja zwei Statistiken geführt, nämlich die Ar-beitslosenstatistik, die sehr stark beschönigt, und dieStatistik der Unterbeschäftigung, die näher an den Reali-täten ist als die erste.Dann, Herr Kollege Weiß – das kann ich Ihnen auchnicht so ganz ersparen –, wünschten Sie den Verhandeln-den – ich nehme an: im Metallbereich – viel Erfolg. Wirwünschen ausdrücklich der IG Metall viel Erfolg. Das istder Unterschied.
Es gibt einen handfesten Nachholbedarf der Arbeitneh-merschaft in Sachen Lohn. Wenn Sie sich die europäi-schen und die internationalen Statistiken anschauen,stellen Sie fest: In keinem anderen Land hat es eine ver-gleichbar zurückhaltende – um es freundlich zu formu-lieren – Lohnentwicklung gegeben wie in Deutschland.Wir haben über die letzten 10 oder 15 Jahre im Durch-schnitt stagnierende Löhne.
Vielleicht sollten Sie mal wieder die Grundprinzipiender sozialen Marktwirtschaft studieren. Dass ich aufmeine älteren Tage mal zum Fan von Ludwig Erhardwerden würde, hätte ich nie geglaubt. In dem Buch Wohl-stand für Alle – der Titel heißt übrigens ausdrücklichnicht „Wohlstand für wenige Reiche“, Herr KollegeKolb, sondern Wohlstand für Alle – steht bereits auf denersten Seiten, dass die jährliche Steigerung der Arbeits-löhne entsprechend der steigenden Arbeitsproduktivitätein unabdingbarer Bestandteil der sozialen Marktwirt-schaft ist. Lieber Kollege Weiß, ich würde Ihnen drin-gendst empfehlen, neben Ihrer üblichen Lektüre gele-gentlich mal wieder Ludwig Erhard zur Hand zu nehmen.
Was den Antrag der Linkspartei anbelangt, kommtauch nicht so richtig Freude auf; denn mein Eindruck ist,dass der Antrag nicht wirklich ernst gemeint ist. Das hatjetzt nichts mit Ihrem Namen zu tun, Herr Kollege Ernst,sondern das hat mit der Art und Weise zu tun, wie Siemit diesem Antrag umgehen.
Der Antrag wurde ja nicht ins normale parlamentarischeVerfahren gebracht. Da hätte man darüber reden können,ob sich seit 1986 Dinge so geändert haben, dass mögli-cherweise die Bewertung der Vorgänge etwas andersausfallen müsste, oder ob sie sich nicht geändert haben.Diesen Weg wählen Sie ja nicht. Sie wollen keine gründ-liche Beratung im Ausschuss. Sie verzichten auf eineAnhörung von Sachverständigen. Hier wird ein Schnell-schuss abgefeuert, der den Eindruck nahelegt: Es handeltsich um ein taktisches Manöver. Es geht in erster Linienicht um die Sache, sondern darum, irgendwo im Vor-feld des 1. Mai Punkte zu gewinnen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20939
Ottmar Schreiner
(C)
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– Ja, dieser Eindruck drängt sich auf. – Deshalb wird esSie nicht verwundern, dass wir Ihrem Antrag nicht zu-stimmen. Für diese taktischen Vorgänge habe ich wenigVerständnis.In der Sache haben wir keinen Grund, unsere Positionzu verändern. Es wäre hilfreich gewesen, wenn man dasnormale parlamentarische Verfahren angewandt hätteund wir in Ruhe hätten beraten können, um dann eineangemessene Bewertung der Vorgänge abgeben zu kön-nen. Wir werden uns deshalb der Stimme enthalten.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Volksmund sagt: Alles neu macht der Mai.
Das mag im Großen und Ganzen gelten. Für die Anträge
der Linken gilt es jedenfalls nicht. Sie bleiben bei ihrer
Linie und bei ihrem alten Paradigma: Die Welt ist
schlecht, die Unternehmen und die Arbeitgeber sind
schlecht, und alles wird nur zulasten der Arbeitnehmer
gemacht.
Aber dieses Paradigma ist von der Realität unendlich
weit entfernt, Herr Kollege Ernst.
Ich habe mich wie der Kollege Schreiner gefragt – es
ist das Überraschende bei der heutigen Debatte, dass wir
da durchaus zum gleichen Ergebnis gekommen sind –:
Was soll dieser Antrag eigentlich? Ich habe mir einmal
die Mühe gemacht, die Zahlen zu den Streiks und Aus-
sperrungen der letzten 60 Jahre heranzuziehen. Wenn
Sie in die Statistik schauen, werden Sie feststellen, dass
wir vor 1986 eine große Zahl aufgrund von Aussperrun-
gen ausgefallener Arbeitstage hatten. Zur Zeit der Gel-
tung des alten Rechts, das Sie wieder einführen wollen,
gab es also viele aufgrund von Aussperrungen ausgefal-
lene Arbeitstage. Seitdem wurde nur noch marginal von
dem Mittel der Aussperrung Gebrauch gemacht. Deswe-
gen ist auch die Frage des Kollegen Lindner berechtigt,
wann überhaupt das letzte Mal ausgesperrt worden ist.
– Das ist die Statistik; Statistisches Taschenbuch des
BMAS auf der Basis der Zahlen des Statistischen Bun-
desamtes. Suchen Sie sich diese Statistik bitte heraus.
Dann werden Sie feststellen: Das Phänomen Aussper-
rung ist in Deutschland real praktisch nicht existent.
Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ernst?
Ja.
Bitte schön.
Herr Dr. Kolb, das ist doch jetzt wirklich nicht Ihr
Ernst. Sie bemängeln, wenn ich es richtig verstehe, dass
wir seit der Änderung des Streikrechts weniger Aussper-
rungstage haben.
– Okay; er stellt fest, dass wir weniger Aussperrungstage
haben. – Wollen Sie tatsächlich behaupten, dass die Ar-
beitgeber doch bitte schön auch hätten aussperren kön-
nen, obwohl gar nicht gestreikt wurde? Dann stellen Sie
jetzt doch etwas auf den Kopf. Darauf möchte ich aus-
drücklich hinweisen. Sie äußern sich dahin gehend, dass
Aussperrung als Angriffsaussperrung nicht mehr statt-
findet. Das wäre aber nun wirklich das Letzte, was diese
Republik vernünftigerweise vertragen könnte. Deshalb
finde ich dieses Argument in der Debatte absolut abwe-
gig.
Sie müssten darauf hinweisen, dass insbesondere in
der Metallindustrie – die IG Metall hat diese Änderung
des Streikrechts ganz besonders getroffen, weniger Verdi
oder andere Gewerkschaften, weil die Fernwirkung in
der Metallindustrie logischerweise höher ist als in ande-
ren Bereichen – Folgendes gilt: Man darf zwar noch
streiken, tut es aber nicht, weil es für die Mitglieder pro-
blematisch wird. Ich will das mit einem Vergleich ver-
deutlichen: Wenn Sie den Menschen sagen, dass sie nach
wie vor von einem Zehnmeterbrett ins Schwimmbecken
springen dürfen, dann können sie von dieser Möglichkeit
Gebrauch machen. Wenn Sie aber vorher das Wasser aus
dem Schwimmbecken herausgelassen haben, empfiehlt
es sich nicht, hinunterzuspringen. Genau diese Situation
besteht im Zusammenhang mit dem Streikrecht in der
Bundesrepublik Deutschland.
Herr Kollege Ernst, da Sie umfassend gefragt haben,darf ich umfassend antworten. Wenn Sie sich die Zahlennoch einmal anschauen, werden Sie feststellen, dass dieVeränderungen im Streikgeschehen nicht so gravierendsind.
– Das sind die gesamtwirtschaftlichen Zahlen.
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20940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Dr. Heinrich L. Kolb
(C)
(B)
Sie werden vielmehr feststellen, dass das Streikgesche-hen im Verlauf der Jahre doch ziemlich gleich gebliebenist – wenngleich wir feststellen können, dass wir in denletzten Jahren doch relativ wenige Streiks in Deutsch-land hatten, was vielleicht auch mit der Wirtschafts- undFinanzkrise zu tun hat. Über lange Zeiträume gesehen istmeine Aussage aber richtig. Vor 1986 hatten wir vieleStreiks und viele Aussperrungen. Nach 1986 hatten wirweiterhin viele Streiks, aber keine Aussperrungen.Ich versuche ja nur, Ihren Ansatz zu verstehen. Wenndas, was Sie offensichtlich umtreibt, richtig wäre,müsste man doch sagen: Nachdem 1986 das Recht ge-ändert worden war – aus Ihrer Sicht zulasten der Ge-werkschaften –, haben die Gewerkschaften irgendwanneinmal versucht, zu streiken, und sind dann von flächen-hafter Aussperrung der Arbeitgeber getroffen worden.Weil sie sich das nicht leisten konnten, sind sie zurück-geschreckt und haben es fortan nicht mehr probiert.Dies spiegelt sich aber nicht in den Statistiken wider.Mit der Ersetzung des § 116 AFG durch den jetzigen§ 160 SGB III ist erreicht worden, dass die Spieße wie-der gleich lang sind. Ich finde, dass wir eine ausgewo-gene Verteilung der Kampfkraft zwischen Gewerkschaf-ten und Arbeitgebern in Deutschland vorfinden. Dieseausgewogene Verteilung hat zu entsprechenden Ergeb-nissen geführt.Ich möchte Ihnen noch ein Zweites sagen. Vorhin gabes einen Zwischenruf, dass wir so niedrige Löhne haben,weil die Gewerkschaften so selten streiken. Es müsstedoch eigentlich umgekehrt sein: Wenn wir niedrigeLöhne haben, dann müssten die Gewerkschaften dochoft streiken. Aber offensichtlich gibt es bei uns Gewerk-schaften, die Gott sei Dank wissen, was gesamtwirt-schaftlich geboten ist, und die sich in den letzten Jahrenmit ihren Forderungen am Bereich des Möglichen orien-tiert haben.
– Herr Ernst, versprochen, ich schicke Ihnen die Zahlenins Büro. Schauen Sie sich diese in Ruhe an. Wenn der1. Mai vorbei ist und Sie in sich gehen, werden Sie fest-stellen, dass das, was ich gesagt habe, gar nicht so ver-kehrt ist. Ihre Ansätze kann man nur schwer nachvollzie-hen.Ich will darauf hinweisen, dass im alten wie im neuenRecht, also sowohl in § 116 AFG als auch in § 160SGB III, der Kernsatz stand:Durch die Leistung von Arbeitslosengeld darf nichtin Arbeitskämpfe eingegriffen werden.Dazu gehört auch die Leistung von Kurzarbeitergeld.
Das ist ein wichtiger Punkt. Der Staat darf die Unterneh-men nicht subventionieren, wenn sie zum Beispiel in-folge wirtschaftlicher Probleme Umsatzeinbußen erlei-den oder wenn sie bestreikt werden. Aber der Staat darfauch nicht mit Mitteln der Beitragszahler – das war da-mals die Diskussion – Unterstützung für streikende Ar-beitnehmer leisten. Im Kern geht es um die Neutralitäts-pflicht des Staates in Auseinandersetzungen zwischenTarifpartnern.Hier muss ich mich wiederholen: Im aktuell gelten-den Recht ist es in vorbildlicher Weise gelungen, dieseNeutralität zu gewährleisten. Praktisch geschieht diesauf der Basis von Richterrecht; auch das hat die KolleginKrellmann kritisiert. Das ist einfach Ausfluss der Tat-sache, dass wir im Bereich des Tarifvertragsrechts aufeine Normierung im Gesetz – unabhängig davon, wer indiesem Land regiert hat – weitgehend verzichtet haben.In Einzelfallentscheidungen zeigte sich, was geht undwas nicht geht.Wir sind insgesamt auf einem guten Weg. Ich glaube,dass die Arbeitnehmer in Deutschland – in der Debatteist der wichtige Aspekt Arbeitsplatzsicherheit genanntworden – gerade in dieser schwierigen Zeit, gerade auchim internationalen Vergleich sagen können: Wir habeneine stabile Wirtschaftsordnung und stabile Unterneh-men in Deutschland. – Das kommt gerade den Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern zugute.
– Bei guter Bezahlung. Danke für den Zwischenruf. Ichwill gerne noch ausführen: Es gibt eine gute Bezahlung,weil wir gute Gewerkschaften haben.Einen anderen Aspekt will ich noch nennen: Gott seiDank ist es so, dass entgegen vielen Unkenrufen die pre-käre Beschäftigung in Deutschland nicht der Normalfallist. Der Normalfall ist immer noch ein Vollzeitarbeits-verhältnis mit einer guten Absicherung und einer gutenEntlohnung durch Tarifverträge. 60 Prozent der Arbeit-nehmer sind direkt tarifgebunden, 20 Prozent sind durchBezugnahme auf Tarifverträge tarifgebunden; das sindinsgesamt 80 Prozent, also vier Fünftel der Arbeitneh-mer.Das zeigt: Unser System ist gut. Den Handlungsbe-darf, den Sie in Ihrem Antrag mühsam zu konstruierenversuchen, gibt es nicht. Die schon lange zurückliegendeÄnderung des § 116 AFG hat nicht annähernd die Fol-gen gezeigt, die Sie hier beschreiben. Aussperrungensind aus anderen Gründen aus dem Rahmen des Arbeits-kampfes herausgefallen. Die Gewerkschaften und dieArbeitgeber führen ihre Verhandlungen anders, aber im-mer zum Wohle unserer Volkswirtschaft. Ich hoffe, dasbleibt auch so.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Es waren die Streiks um die 35-Stun-den-Woche, die zum Antistreikparagrafen geführt haben,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20941
Beate Müller-Gemmeke
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und es war Norbert Blüm, der das gegen den erbittertenWiderstand der Gewerkschaften durchgedrückt hat. Derdamalige schwarz-gelbe Angriff auf die Streikfähigkeitwar heftig und hat insbesondere die IG Metall und dieIG BCE getroffen. Aber das Vorhaben ist missglückt.Die Gewerkschaften haben sich auf die neue Situationeingestellt, und sie sind heute noch immer hervorragendorganisiert. Dieser Leistung gebührt unsere Anerken-nung und unser Respekt.
Heute aber kommt die Linke und zaubert diese Ver-gangenheit aus dem Hut. Ich bin wahrlich viel mit denGewerkschaften im Gespräch. Ich kann jedoch keinenaktuellen Anlass ausmachen, dieses Thema auf die Ta-gesordnung zu setzen, es sei denn, man möchte währendder laufenden Tarifrunde und vor dem 1. Mai einen sym-bolischen Antrag stellen.
Das wird aber – das möchte ich mit aller Deutlichkeit sa-gen – diesem ernsten Thema nicht gerecht.
Für uns Grüne ist die Tarifautonomie ein hohes Gut.Die Tarifautonomie funktioniert natürlich nur dann,wenn ein Gleichgewicht der Kampfmittel gegeben ist. Indiesem Sinne ist die damalige Änderung natürlich unzu-reichend; denn mit der kalten Aussperrung – eben ohneKurzarbeitergeld – wurde die Arbeitgeberseite zulastender Gewerkschaften gestärkt. Herr Kolb, es stimmt ein-fach nicht, dass – so wie Sie es ausgedrückt haben – dieSpieße gleich lang sind. Deshalb hat das Bundesverfas-sungsgericht den § 146 SGB III als „gerade noch verfas-sungsgemäß“ bezeichnet. Es hat zwar nicht die Rote,aber doch die Gelbe Karte gezogen.Heute fordert die Linke einfach nur die Wiedereinfüh-rung der alten Regelung. Wenn wir aber Chancengleich-heit, Kampfparität und auch Neutralitätspflicht der Bun-desagentur für Arbeit herstellen wollen, dann müssenwir angesichts unserer verflochtenen Wirtschaft die mit-telbare Streikbetroffenheit sowie die kalte Aussperrungbeurteilen und definieren. Es müssen also Kriterien ent-wickelt werden, die auch zeitgemäß sind.Eine solche Auseinandersetzung ist in der Tat nichteinfach. Sie müsste im parlamentarischen Verfahren aus-führlich mit den Sozialpartnern, das heißt mit den Ge-werkschaften und mit der Wirtschaft, geführt werden.Diese spannende Diskussion soll jedoch nach dem Wil-len der Linken nicht stattfinden, da wir heute sofort ab-stimmen werden. Ich sagte es schon einmal: Das wirddiesem komplexen Thema nicht gerecht.
Der Antistreikparagraf und die veränderten Kräfte-verhältnisse waren für die Gewerkschaften selbstver-ständlich eine große Herausforderung. Insbesondere dieIG Metall musste ihre Streikstrategie verändern und zu-nehmend die immer stärkeren Verflechtungen, die lan-gen Lieferketten und eventuelle Fernwirkungen beimArbeitskampf beachten. Und doch haben gerade dieIG Metall und die IG BCE stets gute Lohnabschlüsse er-zielt,
aber, Herr Kolb, sie haben in den letzten zehn Jahren denverteilungsneutralen Spielraum oft nicht ausschöpfenkönnen.Jetzt stellt sich die Frage: Liegt das ausschließlich amAntistreikparagrafen, oder gibt es auch andere Gründe?Die Antworten auf diese Fragen sind notwendig, wennman die Gewerkschaften stärken will. Auch diese inhalt-liche Diskussion können wir wegen der anstehenden So-fortabstimmung nicht führen. Wieder muss ich sagen:Eine ernsthafte Debatte sieht anders aus.Mein Fazit lautet: Für dieses Thema wäre ein norma-les parlamentarisches Verfahren mit Anhörung angemes-sen gewesen. Das Thema ist komplex und übrigens auchhochspannend, zumal der Antistreikparagraf damals ge-sellschaftlich extrem umstritten war und die Gemüter be-wegt hat. Sie, die Linke, machen aus all dem leider nurein Spektakel. Deshalb werden auch wir Grünen uns ent-halten. Wir wollen bei diesem Spiel nämlich nicht mit-machen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Liebe Frau Krellmann, ich habe mitdem Weltbild der Linken immer wieder meine Schwie-rigkeiten. Sie haben in Ihrer Eingangsrede ausgeführt:Streikrecht ja, Aussperrungsrecht nein. Das heißt, bei Ih-nen geht Arbeitskampf so: Der eine kämpft mit Waffen,der andere ist unbewaffnet. Wenn das ernsthaft Ihr Welt-bild sein soll, liebe Frau Krellmann, dann zeigt das, wieweit Sie von einem fairen Arbeitskampf entfernt sind.
Frau Krellmann und Herr Birkwald, Sie können esnicht wissen, aber von Herrn Ernst hätte ich erwartet,dass er es weiß: Am 8. März 2006, also in der letztenWahlperiode, hatte die Linke, ebenfalls im Vorfeld des1. Mai, den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desDritten Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 16/856,eingebracht, wobei der Inhalt absolut gleich mit dem desheute diskutierten Antrags ist.
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20942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Paul Lehrieder
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Und täglich grüßt das Murmeltier, sage ich da nur, HerrErnst. Letztendlich kommt nichts dabei herum, wenn Siespätestens alle sechs Jahre die alte Soße aufwärmen, nurum als Gewerkschafter ein Thema für eine Auseinander-setzung vor dem 1. Mai zu haben.Aus fachlicher Sicht, lieber Herr Ernst, besteht eben-falls keine Notwendigkeit, die Regelungen zur Neutrali-tätspflicht der Bundesagentur im Arbeitskampf zu verän-dern. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1995 diegeltende Regelung für verfassungsgemäß erklärt; Ent-scheidung vom 4. Juli 1995, Aktenzeichen 1 BvF 2/86;vielleicht möchten Sie das nachlesen. Das Gericht hatdabei gefordert, dass der Gesetzgeber Maßnahmen zurWahrung der Tarifautonomie treffen muss, wenn sichzeigen sollte, dass in der Folge dieser Regelung struktu-relle Ungleichheiten der Tarifvertragsparteien auftreten,die ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeits- undWirtschaftsbedingungen nicht mehr zulassen und durchdie Rechtsprechung nicht ausgeglichen werden können.Dafür gibt es keinerlei Hinweise.Die immer wiederkehrende Diskussion um den soge-nannten Streikparagrafen – ich verweise auf Ihren heuti-gen Antrag – hat Züge einer ideologischen Debatte;nichts anderes ist das, was Sie heute hier aufführen. Dietatsächlichen Ergebnisse der Arbeitskämpfe seit 1986hingegen zeigen, dass die Schlagkraft der Gewerkschaf-ten von der gesetzlichen Regelung nicht beeinträchtigtwird. In der in erster Linie betroffenen Metall- und Elek-troindustrie – Frau Krellmann, jetzt müssen Sie tapfersein – beklagen regelmäßig die Arbeitgeber, dass die Ta-rifergebnisse tendenziell zu ihren Lasten gehen. HerrSchreiner, Sie sind der Auffassung, es sei zu wenig Lohnausgehandelt worden. Auch in der Metallindustrie be-steht durchaus die Tendenz, die in den letzten Jahren ge-mäßigte Lohnzurückhaltung zumindest zum größten Teilaufzugeben.Pünktlich zum 1. Mai – ich habe es bereits ausgeführt– präsentieren Sie uns einen Antrag, mit dem Sie von derBundesregierung fordern, lieber Herr Ernst, einen Ge-setzentwurf vorzulegen, mit dem § 146 SGB III denWortlaut des früheren § 116 Arbeitsförderungsgesetz inder Fassung von 1969 erhält. Die 1986 von der unions-geführten Bundesregierung beschlossene Änderung des§ 116 AFG ordnet das Ruhen des Anspruchs auf Kurz-arbeitergeld dann an, wenn streik- und aussperrungsbe-dingte Produktionsausfälle dazu beitragen, dass in einemnicht umkämpften Betrieb die Arbeit ebenfalls ruhenmuss. Die Ansprüche der Versicherten ruhen also, wennund soweit durch die Gewährung von Leistungen der Ar-beitsförderung in den Arbeitskampf eingegriffen würde.Das ist unser Verständnis von Parität, von Ausgewogen-heit, von Waffengleichheit im Arbeitskampf.Der Leistungsanspruch ist im Grundsatz ausgeschlos-sen, wenn die Arbeitnehmer erwarten dürfen, am Ergeb-nis des Arbeitskampfes zu partizipieren. All dies hätteIhnen bei Durchsicht der gesetzlichen Bestimmungendurchaus auffallen können. Hierdurch sollen gerade dasGleichgewicht der in einem Arbeitskampf wirkendenKräfte nicht gestört und die Chancengleichheit der Tarif-vertragsparteien in dieser Auseinandersetzung gewahrtwerden. Die Regelung des § 160 SGB III, liebe Kolle-ginnen und Kollegen der Linken, ist kein weiteresKampfmittel der Arbeitgeber zur Beschneidung derStreikmöglichkeiten der Gewerkschaften, wie Sie esgerne darstellen, sondern sie sichert vielmehr die Neu-tralität des Staates und der Bundesagentur für Arbeit beiArbeitskämpfen und folgt somit dem Gebot aus Art. 9Abs. 3 Grundgesetz.Lieber Kollege Ottmar Schreiner, in diesem Fall teileich Ihre Auffassung – sonst sind wir nicht immer einerMeinung –, dass der heute zur Abstimmung stehendeAntrag, der inhaltlich gar nicht beraten werden soll,letztendlich nur dazu dient, ein Buhei um den 1. Mai zumachen. Lieber Klaus Ernst, es wird Sie nicht überra-schen, dass wir diesen Antrag ablehnen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wün-sche Ihnen einen guten Nachhauseweg.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9062 mit
dem Titel „Kampfkraft der Gewerkschaften stärken –
Anti-Streik-Paragraphen abschaffen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei
Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Erweiterung der jugendgerichtli-
chen Handlungsmöglichkeiten
– Drucksache 17/9389 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Jörg
van Essen für die FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben heute die erste Lesung eines Gesetzentwurfs zurErweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmög-lichkeiten. Die Überschrift ist schon Programm: Es solleine Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungs-möglichkeiten sein.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20943
Jörg van Essen
(C)
(B)
Wenn ich mir die drei Elemente des Gesetzentwurfsanschaue, habe ich das Gefühl, dass das Element derVorbewährung in der juristischen Diskussion weitge-hend unkritisch betrachtet wird. Wir haben da sehr unter-schiedliche Handhabungen durch Jugendgerichte. Beidiesem Instrument, zu dem es bisher keine rechtlicheRegelung im Jugendgerichtsgesetz gibt – es wird manch-mal zur Abschreckung angewandt, manchmal anders –,ist es, wie wir wissen, wichtig, klare Leitlinien und Be-stimmungen zu haben. Ich denke, dass das mit diesemVorschlag erreicht wird: Es wird klargemacht, wo dieVorbewährung, von der die Jugendgerichte jetzt schonGebrauch machen, angewandt werden kann und wo dasnicht zulässig ist.Der zweite Punkt ist dann schon strittiger: die Frageder Anhebung der Höchststrafe bei Straftaten von Ju-gendlichen und Heranwachsenden. Eine Anhebung istimmer wieder gefordert worden, auch – das muss mansagen – von Gerichten. Insbesondere wenn bestialischeMordtaten begangen worden sind, haben die Gerichtegesagt, dass die bisherige Höchststrafe im Jugendrecht,nämlich eine Freiheitsstrafe von 10 Jahren, der Schuldnicht angemessen ist.Ich glaube, dass wir mit dem, was wir hier vorschla-gen, einen sehr vernünftigen Mittelweg gehen:
Wir heben die Freiheitsstrafe für die Jugendlichen nichtan; entsprechende Forderungen hat es auch gegeben.Das heißt, bei Jugendlichen bleibt es bei der bisherigenHöchststrafe von zehn Jahren. Dass das richtig ist, kön-nen Sie folgender Überlegung entnehmen: Unser jetztgeltendes Jugendrecht stammt aus den 20er-Jahren. Da-mals galt in Deutschland noch die Todesstrafe, und trotz-dem hat sich der Gesetzgeber damals für eine Höchst-strafe bei Jugendlichen von 10 Jahren ausgesprochen; erhat sie für angemessen gehalten. Wenn das schon unterden damaligen Umständen richtig und vernünftig war,dann gilt das heute sicherlich auch.Was die Heranwachsenden anbelangt, wenden dieGerichte, wie wir wissen, in vielen Fällen, in denen siesich nicht sicher sind, wie ein junger Mensch einzustu-fen ist – bei Heranwachsenden kann man je nach derEntwicklung entweder Jugendrecht oder Erwachsenen-recht anwenden –, das Jugendrecht an. Ich halte auch dasfür richtig. Aber wenn das Jugendrecht angewendetwird, dann – darauf haben Kammern hingewiesen –reicht der mögliche Strafausspruch von 10 Jahren Frei-heitsentzug bei besonders schweren Taten oft nicht aus.Hier räumen wir jetzt die Möglichkeit ein, bis zu 15 Jah-ren Freiheitsstrafe zu verhängen.Das wird im Übrigen nach meiner Auffassung nichtdazu führen, dass wir jetzt ganz viele Urteilssprüche miteiner Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren haben werden,sondern es wird dazu führen, dass die Gerichte die bishe-rige Höchststrafe von 10 Jahren tatsächlich einmal ver-hängen. Bisher sehen wir, dass die Strafaussprüche inganz vielen Fällen erheblich unter der aktuellen Höchst-grenze von 10 Jahren Freiheitsstrafe bleiben. Insofernsind wir hinter den Forderungen zurückgeblieben, diezum Teil in der Öffentlichkeit und auch von Länderseiteerhoben worden sind. Ich glaube, dass das, wie gesagt,ein sehr vernünftiger Vorschlag ist.Was insbesondere in der interessierten Öffentlichkeitden meisten Widerspruch hervorgerufen hat, ist derWarnschussarrest. Das wundert mich wirklich sehr; dennwir verlassen nicht die pädagogische Ausrichtung desJugendrechts. Es bleibt bei der bisherigen und, wie ichfinde, bewährten pädagogischen Ausrichtung des Ju-gendrechts.Dass sie richtig, gut und vernünftig ist, sehen wir anfolgendem Umstand: Ein ganz großer Teil der Jugendli-chen, die vor Gericht stehen, stehen nur ein einziges Malvor Gericht, danach nie wieder. Das zeigt: Was von denJugendrichtern als Maßnahme ausgesprochen wird, ver-fehlt seine Wirkung offensichtlich nicht. Das spricht imÜbrigen auch für unsere Jugend; das zeigt nämlich, dasssie lernfähig ist. Wenn jemand einmal einen Fehler ge-macht hat, dann nimmt er es sich zu Herzen und begehtden Fehler nicht ein zweites Mal.Ein Problem sind die Intensivtäter; mit ihnen müssenwir uns befassen. Es hilft nicht, zu betonen, dass dieZahl der jugendlichen Straftäter zurückgegangen ist;denn es wäre auch ein Wunder, wenn es nicht so wäre.Wir haben nämlich immer weniger junge Menschen, undwenn wir weniger junge Menschen haben – wir wissendas –, dann geschehen natürlich auch weniger Straftaten.
Dieses Argument kann man also wirklich nicht anfüh-ren. Ich bin immer wieder überrascht, dass es Juraprofes-soren gibt, die das an den Beginn ihrer Ausführungenzum Warnschussarrest stellen. Natürlich ist es so, dasswir weniger Jugendliche haben und damit – Gott seiDank – weniger Straftaten. Aber die Zahl der Intensiv-straftäter bleibt weiterhin hoch. Deshalb müssen wir unsGedanken darüber machen, wie wir mit ihnen umgehen.Ich bin in meiner Anfangszeit als Staatsanwalt in ei-ner Gruppe gewesen, in der wir schwierige Entscheidun-gen mit den Jugendlichen selbst besprochen haben. Ichhabe bei dieser Gelegenheit immer wieder den Vorwurfgehört, sie hätten es lieber gehabt, wenn man ihnen frü-her einen Warnschuss verpasst hätte; so wurde das zumTeil ausgedrückt. Das macht die Verantwortung deutlich,die wir haben. Unser Vorschlag zum Warnschussarrestbeinhaltet nicht den Zwang, irgendetwas zu tun. Viel-mehr ist es so: Zu der Klaviatur, auf der der Jugendrich-ter spielen kann, um eine pädagogisch angemesseneMaßnahme zu ergreifen, fügen wir eine Taste hinzu.Nichts anderes tun wir.Ich sehe, dass meine Redezeit abgelaufen ist, daherkomme ich zu meiner letzten Bemerkung. Auch die Län-der tragen Verantwortung. Das ganze Vorhaben machtnur Sinn, wenn der Arrest pädagogisch vernünftig voll-zogen werden kann und wenn es nicht zu lange dauert,
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20944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Jörg van Essen
(C)
(B)
bis jemand den Arrest antreten kann. In diesem Bereichgibt es erhebliche Fehlentwicklungen. Ich hoffe, dass dieJugendrichter von dieser zusätzlichen Taste nur dannGebrauch machen, wenn die Länder die Voraussetzun-gen für den Arrest erheblich verbessern. Die tatsächli-chen Voraussetzungen können nur von den Ländern ge-schaffen werden – sie haben den Warnschussarrestimmer wieder gefordert –, wir können nur die rechtli-chen Voraussetzungen schaffen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Jugend-kriminalität lässt sich nicht mit dem Warnschuss be-kämpfen.“
Ein kluger Satz, aber er stammt leider nicht von mir,sondern von unserer derzeitigen Bundesjustizministerin.Gesagt hat sie ihn im Jahr 2008. Damals war sie nochnicht Bundesjustizministerin, sie saß noch in der Oppo-sition und wusste anscheinend noch, was in der Rechts-politik richtig und falsch ist.Noch ein paar Sätze gefällig? Am 24. September2009, also drei Tage vor der letzten Bundestagswahl,wurde die damalige Oppositionsabgeordnete FrauLeutheusser-Schnarrenberger von einem Bürger überabgeordnetenwatch.de gefragt, was sie von einer Herauf-setzung der Höchststrafe für Jugendliche und Heran-wachsende hält.
Die Antwort:Die FDP lehnt eine Verschärfung des Strafmaßesentschieden ab. Ein Strafrahmen im Gesetzbuch hatkeine abschreckende Wirkung.
Einige Tage zuvor, nämlich am 16. September, führteFrau Leutheusser-Schnarrenberger im Deutschlandfunkzur gleichen Thematik aus – ich darf noch einmal zitie-ren –:Wir halten auch nicht wirklich viel davon, … jetztwieder über eine schon lange im Raum stehendeVerschärfung von Strafrahmen nachzudenken, denndas ist nicht das eigentliche Problem. Es könnenheute schon hohe Strafen verhängt werden und dieschrecken dumme Menschen nicht ab.Was wir heute debattieren, ist ein dummer Gesetzent-wurf. Es bleibt der fade Beigeschmack, dass die Bundes-justizministerin und die FDP wieder einmal eingeknicktsind, sonst könnten wir uns nämlich die heutige Debatteersparen.
Diese Debatte und insbesondere der vorliegende Ge-setzentwurf sind vollkommen unnötig; denn sie weisenin die falsche Richtung. Die Heraufsetzung der Höchst-strafe von 10 auf 15 Jahre ist reine Augenwischerei. Siezielt in der Praxis nur auf Tötungsdelikte ab. Die sindaber in den vergangenen Jahren um 30 Prozent zurück-gegangen.
Im Übrigen werden jedes Jahr nur 90 Jugendliche undHeranwachsende zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, diezwischen 5 und 10 Jahren liegt. 0,09 Prozent der Jugend-lichen und Heranwachsenden werden also verurteilt. Nureine Handvoll hiervon – nämlich circa 6 bis 7 pro Jahr –erhalten die Höchststrafe von 10 Jahren. Darauf zieltaber Ihr Gesetzentwurf. Sie machen in diesem Fall einGesetz für sechs bis sieben Heranwachsende. Das istdoch keine effektive Bekämpfung der Jugendkriminali-tät, sondern nur der blanke Aktionismus.
Auch der Warnschussarrest, Herr van Essen, ist nunwirklich nichts Neues. Die Idee gibt es schon seit überzehn Jahren. Übrigens wurde diese Idee in der Fachweltschon damals einhellig abgelehnt: vom Richterbund, vonden Jugendrichtern, von der Polizeigewerkschaft, vonden Strafverteidigern, von den Bewährungshelfern undeben auch von Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Diegehört heute aber nicht mehr zu den Kritikern, was die-sen Gesetzentwurf aber nicht wirklich besser macht. Alldie Argumente, die seit Jahren gegen den Warnschussar-rest angeführt werden, gelten unvermindert fort. Der Ju-gendarrest, den wir schon heute haben und der bis zuvier Wochen dauern kann, ist das wohl wirkungslosesteInstrument, das wir überhaupt im Jugendstrafrecht ken-nen.
Fast 70 Prozent der Jugendlichen – damit muss man sicheinmal beschäftigen, Herr van Essen – werden nämlichnach der Verbüßung eines Arrests wieder straffällig.Denn hier gilt eine alte Binsenweisheit: Wer Jugendlichefür ein paar Wochen mit Kriminellen zusammensperrt,produziert keine rechtschaffenen Bürger, sondern fördertnur kriminelle Karrieren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20945
Burkhard Lischka
(C)
(B)
Viele Jugendliche kommen da doch erst so richtig mit ei-nem Milieu in Kontakt, das ihre Läuterung überhauptnicht fördert. Sehen Sie sich die Zahlen an: Viele Ju-gendliche werden im Knast nicht abgeschreckt, sondernerst richtig angesteckt.Dass man hier nach außen hin auf Härte setzt, magauf den ersten Blick populär erscheinen; aber Herr vanEssen, Sie müssten es eigentlich wissen: Beim Jugend-strafrecht geht es nicht um Milde oder Härte, sondernum Wirksamkeit. Und da hat der Warnschussarrest über-haupt nichts zu bieten. Das, was Sie hier wollen, ist keinWarnschuss, sondern ein Rohrkrepierer. So bekämpftman kriminelle Karrieren nicht.
Stattdessen ist es wichtig, dass wir das Risiko des Er-wischtwerdens hochhalten. Wichtig ist, dass die Strafeder Tat auf dem Fuße folgt. Was nutzt es eigentlich,wenn jemand ein Jahr nach seiner Tat in irgendeinenWarnschussarrest einrückt? Wir müssen durch ganzklare und konsequente Interventionsmaßnahmen an dasverfestigte Problemverhalten einiger krimineller Jugend-licher heran. Das ist vielleicht weniger cool und auch an-strengender als ein paar Tage Stubenarrest, aber es lohntsich. Über solche Modelle sollten Sie nachdenken; aberSie zeigen in der Rechtspolitik nicht klare Kante, son-dern nur dicke Lippe.
Herr Kollege – –
Auf unsere Unterstützung werden Sie dabei verzich-
ten müssen.
Danke.
Herr Kollege, bleiben Sie noch einen Moment stehen.
Sie können Ihre Redezeit verlängern, wenn Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Kauder erlauben – eine
Nachfrage in diesem Fall.
Ja, das mache ich.
Also, bitte schön.
Siegfried Kauder (CDU/
CSU):
Herr Kollege, können Sie mir bitte erklären, wie ein
Warnschussarrest eine kriminelle Karriere fördern kann?
Sitzen in der Arrestanstalt die Schwerkriminellen oder
die, die auch einen Warnschussarrest verbüßen?
Nein, aber da sitzen Jugendliche, die meist schon ei-
niges an Kriminalitätserfahrung haben.
Es ist so, dass jemand, der zu einer Freiheitsstrafe auf
Bewährung verurteilt wird, schon einiges hinter sich hat.
Der hatte übrigens auch schon seinen Warnschuss; er hat
ihn nur überhört. Deshalb frage ich mich, was da ein
zweiter Warnschuss soll, Herr Kauder.
Das Wort hat nun Ansgar Heveling für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Kollege Lischka, die Bundesjustizministerinmag es möglicherweise bedauern, dass die FDP nichtnur aus ihr besteht, sondern eben auch aus vielen ande-ren Kolleginnen und Kollegen
und dass bei uns in der Regierungskoalition die Weltbunter ist als in der SPD. Jedenfalls haben wir innerhalbder Koalition in den letzten Wochen sehr fruchtbare Dis-kussionen geführt. Insbesondere haben wir uns darüberauf Berichterstatterebene mehrfach mit dem Herrn Kol-legen van Essen, der gerade gesprochen hat, unterhalten.Ich kann nur sagen: Über das Ziel waren wir uns rechteinig.
Ich finde, es ist ein sehr einfacher Weg, hier einzelnePersonen herauszugreifen.
Ich glaube, auch die SPD besteht aus mehr Personen undnicht nur aus Ihnen. Aber vielleicht sehen Sie ja auch dasanders.Interessant ist, dass Sie die Wirkung eines Instru-ments, das es noch gar nicht gibt, schon kennen.
Sie haben sehr deutlich gesagt, was das Ergebnis derEinführung des Warnschussarrests sein wird. Ich bin dainteressierter und offener. Wenn wir das Instrument ha-ben, werden wir es irgendwann bewerten können und si-cherlich auch bewerten müssen. Die dafür notwendigeZeit sollten wir uns aber nehmen.
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20946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Ansgar Heveling
(C)
(B)
Es wirkt geradezu wie ein unglaublicher Zufall, dassvor einigen Tagen im Fernsehen des WestdeutschenRundfunks eine Talkshow zum Thema „Berufe und Be-rufung“ ausgestrahlt wurde. Darin kam ein pensionierterPolizeibeamter zu Wort, der zu seiner Berufung zumPolizeibeamten sinngemäß erklärte, er sei zur Polizei ge-kommen, weil er selbst als Jugendlicher einmal im Ar-rest gesessen habe.Die Geschichte, die er dazu erzählte, war diese: Er seiwegen einer Rauferei unter Jugendlichen vom Gerichtverurteilt worden.
– Herr Kollege Montag, es ist ja schön, dass Sie versu-chen wollen, mich zu verstehen. Hören Sie aber am bes-ten zu. Dann mag das auch gelingen.
Er sagte, er sei wegen einer Rauferei unter Jugendli-chen vom Gericht verurteilt worden, eine Geldstrafe zuzahlen. Damit sei seine Mutter nicht einverstanden ge-wesen. Sie habe beim Richter vorgesprochen und ihn ge-fragt, ob das nicht in einem Arrest münden könne. Die-ser habe der Bitte entsprochen, und nach ein paar Tagenhabe er sich gesagt: Da will ich nie mehr hin. – Statt ei-ner Karriere als Krimineller wurde er also Kriminaler.
Das ist eine beinahe unglaubliche Geschichte, die ei-nen schmunzeln lässt, selbst den Kollegen Montag. Vormehr als 50 Jahren war es offensichtlich einfacher mög-lich, mit mütterlichen Bitten vor Gericht durchzudrin-gen.
Nun hat sich das Jugendstrafrecht in den letzten Jahr-zehnten richtigerweise weiterentwickelt. Es ist gut, dassder Erziehungsgedanke ganz deutlich im Vordergrundsteht. – Warum sind Sie jetzt so still, Herr Montag?
Es ist gut, dass mit Freiheitsentziehung im Jugend-strafrecht eher restriktiv umgegangen wird. Aber wirmüssen auch sehen, dass wir es mit unterschiedlichstenTäterpersönlichkeiten zu tun haben und sich die Persön-lichkeitsstrukturen der jugendlichen Täter mit der Zeitebenfalls gewandelt haben. Zunehmende Aggressivitätund Brutalität sind ein Ausdruck davon, und das ist keinquantitatives Merkmal.Wir wollen deshalb die bestehenden jugendstrafrecht-lichen Sanktionsmöglichkeiten ergänzen. Damit reagie-ren wir auf eine Entwicklung, die sich bei immer mehrjugendlichen Tätern beobachten lässt. Eine Bewährungwird oftmals als Freispruch zweiter Klasse empfunden.Spürbare Konsequenzen sind mit einer Verurteilungnicht verbunden. Ja, mancher Täter sieht sich sogar be-stätigt und erlangt Anerkennung bei seinen Freunden,die vor dem Gerichtssaal warten. Damit sendet derRechtsstaat aber völlig falsche Signale an die Jugendli-chen und ihr Umfeld. Es kann nicht sein, dass kriminelleoder gar gewalttätige Jugendliche mit ihren Straftatenauch noch prahlen können.Dem wollen wir durch die ergänzende Möglichkeitdes sogenannten Warnschussarrests begegnen. Wir ge-ben damit den Jugendgerichten eine weitere Sanktions-möglichkeit bei kriminellen Jugendlichen an die Hand.Damit schaffen wir eine weitere erzieherisch wirkendeMaßnahme im Jugendstrafrecht.Ich bin mir sicher, dass die Jugendgerichte mit dieserneuen Möglichkeit sehr verantwortungsvoll und zielge-nau umgehen werden. In der Regel kennt der Jugend-richter seine – ich sage es einmal salopp – Pappenheimerund deren Umfeld sehr genau. Sie können gut einschät-zen, ob vorherige Verwarnungen einen jungen Menschennicht erreicht haben. Bevor ein jugendlicher Straftäterfür mehrere Monate in die Haft geht – auch das sieht dasJugendstrafrecht vor –, sind maximal vier Wochen Ar-rest sicherlich ein effektives Mittel, um dem jungenMenschen die Konsequenzen seines Handelns vor Au-gen zu führen. Die Geschichte des Polizisten ist dafürein Beispiel.Klar ist, dass dieses Mittel allerdings nur Sinn macht,wenn der Warnschuss tatsächlich rasch zum Tragenkommt. Nur dann kann das Instrument seine Wirkungentfalten. Deshalb ist im Gesetzentwurf eine klare zeitli-che Begrenzung vorgesehen, in welcher Zeit der Warn-schussarrest angetreten sein muss. Klar ist auch, dasssich die Jugendstrafvollzugseinrichtungen auf den Warn-schussarrest erst noch einstellen müssen. Das wird eineganze Reihe von Veränderungen mit sich bringen; dassteht außer Frage. Aufgrund der Länderzuständigkeitsind die Bundesländer für den Vollzug zuständig; auchsie müssen sich sicherlich noch darauf einrichten. Aberich bin sicher, dass dies den Landesjustizbehörden gelin-gen wird und sie einen guten und sinnvollen Weg findenwerden, den Warnschussarrest praktisch und erfolgreichmit Leben zu füllen.Natürlich wird es uns mit dem Instrument des Warn-schussarrests nicht gelingen, alle jugendlichen Straftäterpassgenau zu erreichen. Aber mit jedem Einzelnen, denwir vor einer weiteren kriminellen Karriere bewahrenund dem wir eine Perspektive für die Zukunft geben, ge-hen wir einen Schritt in die richtige Richtung. Das lohntsich; das wollen wir mit diesem Gesetzentwurf errei-chen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Jörn Wunderlich für die FraktionDie Linke.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20947
(C)
(B)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist mal wieder so weit: Die Debatte über die Verschär-
fung des Jugendstrafrechts ist nicht neu, zuletzt haben
wir hier 2008 darüber debattiert. Geändert hat sich an
den Grundlagen allerdings nichts.
Zum sogenannten Warnschussarrest – leider hat mir
Herr Lischka schon all die entsprechenden Zitate von
Frau Leutheusser-Schnarrenberger geklaut –:
Selbst in der Problemschilderung zum vorliegenden Ge-
setzentwurf wird beschrieben – ich zitiere einmal –: „…
wird seit längerem immer wieder die … Möglichkeit zur
Verhängung eines Jugendarrests … gefordert.“ Ja, es
wird immer wieder gefordert, aber dort steht nicht, wer
das fordert. Die am Jugendstrafverfahren Beteiligten,
also Verteidiger, Rechtspfleger, Jugendgerichtshilfe, Be-
währungshelfer, Jugendstaatsanwälte und -richter, for-
dern das jedenfalls nicht.
Die Lösung des Problems besteht auch nicht in höheren
Strafen oder im Warnschussarrest. Darüber besteht doch
unter allen Fachleuten Einigkeit.
Zum Warnschussarrest in Verbindung mit der Jugend-
strafe – ich habe es schon einmal gesagt –: Es gibt Er-
ziehungsmaßnahmen und Zuchtmittel, zum Beispiel
Rasenmähen, Einkaufshilfe, gemeinnützige Arbeit, Geld-
auflagen, das Verbot des Zutritts zu bestimmten Gast-
stätten oder des Kontakts zu bestimmten Personen. Das
Spektrum ist groß. All diese Maßnahmen sind kombi-
nierbar, auch mit Zuchtmitteln, auch mit dem Arrest.
Wenn das alles nicht mehr wirkt, wenn das alles nicht
mehr ausreicht, um auf den Jugendlichen einzuwirken,
dann kommt die Jugendstrafe. Jetzt soll also die Jugend-
strafe mit einer Maßnahme kombiniert werden, die ei-
gentlich nicht mehr ausreicht.
Das kann kein Mensch nachvollziehen. Jedenfalls ist es
nicht logisch, juristisch auch nicht; dies ist ja meist iden-
tisch.
Im Übrigen sind Arrest und Jugendstrafen nach wie
vor die Maßnahmen, bei denen es die höchsten Rückfall-
quoten gibt. Diese liegen bei 60 bis 70 Prozent.
– Genau, Herr van Essen. Jetzt sollen aber zwei Maßnah-
men, die schlecht sind, kombiniert werden, damit etwas
Besseres dabei herauskommt. Großartig!
Ich dachte, Sie waren Oberstaatsanwalt.
– Das wollen wir nicht vertiefen. – Die Idee, zwei
schlechte Maßnahmen zu kombinieren, damit etwas Gu-
tes dabei herauskommt, kann – ich versuche, höflich zu
bleiben – nur einem schlichten Gemüt entspringen.
Für erfolgreiche Maßnahmen wie Täter-Opfer-Aus-
gleich, Trainingskurse und Antiaggressionskurse fehlen
die Mittel und das Personal. Auch das ist schon ange-
sprochen worden: Es bringt doch nichts, wenn man ei-
nen Arrest verhängt, und diese Strafe erst nach einem
Jahr angetreten wird. Es muss in Personal investiert wer-
den. Mittel müssen investiert werden, damit Maßnahmen
überhaupt umgesetzt werden können. Man muss hier
präventiv tätig werden und nicht mit Strafen drohen.
Die Anhebung der Jugendstrafe von 10 auf 15 Jahre
ist auch nicht sinnstiftend. Aber na gut, wann kommt
hier schon einmal etwas Sinnstiftendes? Die Verhängung
der Höchststrafe von 10 Jahren ist bei weniger als
0,1 Prozent der zu Jugendstrafe Verurteilten erfolgt.
Dazu hat Frau Leutheusser-Schnarrenberger im Spiegel
2008 gesagt – dies wurde noch nicht zitiert –: Das be-
dingt überhaupt keinen Änderungsbedarf. – Da hat sie
recht; diese Äußerung gilt nach wie vor.
Insoweit freue ich mich – wie auch schon zuvor – auf
die Beratungen im Rechtsausschuss. Dort sitzen ver-
nünftige Kollegen. Ich bin gespannt, wann dieser Ge-
setzentwurf auf den berühmt-berüchtigten guten Weg
der Regierung gebracht wird, auf dem er dann im Nir-
wana verschwindet, wie schon so viele Male zuvor. Und
mit was? Mit Recht.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Jerzy Montag für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdiskutieren heute über den Entwurf eines Gesetzes zurVerschlechterung des Jugendstrafrechts.
Ich kann nur wiederholen, was die Kollegen vor mirschon gesagt haben: Praktisch alle namhaften Krimi-nologen in Deutschland lehnen den Warnschussarrest ab.Praktisch alle Jugendstrafrechtler lehnen ihn ab, vonProfessor Ostendorf über Professor Kreuzer bis hin zu
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20948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Jerzy Montag
(C)
(B)
Professor Pfeiffer. Praktisch alle Bewährungshelfer leh-nen ihn ab.Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Der Deut-sche Richterbund, die größte Organisation der Richterund Staatsanwälte, lehnt Ihre Vorschläge ab. Der Deut-sche Anwaltverein lehnt sie ab. Die Deutsche Vereini-gung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen lehntsie ab.
Die Gewerkschaft der Polizei lehnt sie ab. Lieber Kol-lege Geis, auch die Katholische Bundes-Arbeitsgemein-schaft Straffälligenhilfe, Ihre Herz-Jesu-Sozialisten,lehnt sie ab.
Ich sage Ihnen in vollem Ernst: Unter denen, die sich mitden Problemen ernsthaft beschäftigen, gibt es nieman-den, der für Ihren Gesetzentwurf streitet.
Mein größter Vorwurf im Zusammenhang mit diesemGesetzentwurf richtet sich an das Bundesjustizministe-rium. Seit 10, 15 Jahren führen wir eine Debatte überdiese Vorschläge, und es findet eine angeregte und um-fangreiche wissenschaftliche Diskussion darüber statt.Aber nichts davon wird in dem Gesetzentwurf referiert.Nichts, absolut nichts, nicht eine einzige Fundstelle!
Dafür gibt es gute Gründe: Sie wollen die Kritik nichthören.
Neben einigen wenigen Fundstellen – eine gewisse FrauWerwigk-Hertneck und eine Frau Müller-Piepenkötter,die sich bisher nicht als Wissenschaftlerinnen, sondernals Exlandesjustizministerinnen hervorgetan haben –gibt es nur eine Fundstelle von Belang: Herrn ProfessorVerrel. Seine Stellungnahme habe ich mir genau durch-gelesen. Sie ist für Sie, meine Damen und Herren vonder Koalition, verheerend. Sie interpretieren sie zwar zuIhren Gunsten. Aber als Erstes schreibt Verrel: Die An-hebung der Jugendstrafe auf 15 Jahre bei Mord für He-ranwachsende ist ein riesiger Fehler. – Er lehnt das voll-ständig ab.Das ist im Übrigen auch denklogisch falsch. WennSie Heranwachsende wie Jugendliche behandeln – Stich-wort „Reifeverzögerungen“ – und einem 18-jährigenMörder 15 Jahre geben können wollen, warum dannnicht auch einem 17-jährigen Mörder, der ja auch ein Ju-gendlicher ist?
Das ist absolut unlogisch, was Sie da sagen. Auch Verrellehnt das ab.Was schreibt Verrel zum Warnschussarrest? Ein prä-ventiver Effekt des Arrests ist nicht nachweisbar, ob-wohl sich die Wissenschaft seit Jahrzehnten um eineEvaluation bemüht. Die Rückfallzahlen sprechen eherdagegen.Der Warnschussarrest ist keine rasche Reaktion. EinGericht braucht zur Absetzung eines Urteils mindestenseinen Monat, wenn keine Rechtsmittel eingelegt werden,also im besten Fall. Meine Fraktion hat gestern ein Fach-gespräch zu diesem Problem durchgeführt. Wir habenPraktiker, Staatsanwälte und Richter, die auf dem Gebietdes Jugendstrafrechts tätig sind, eingeladen und sie ge-beten, uns zu informieren. Sie haben uns gesagt: Egal obin Süd- oder Norddeutschland, man braucht mindestensdrei, vier Monate, bis man überhaupt einen Platz in einerArrestanstalt bekommt. – Bremen hat seit neuestemüberhaupt keine Arrestanstalten mehr.
Aber Sie schicken einen Gesetzentwurf in den Gesetzge-bungsprozess, in dem Sie sagen: Wenn der Arrest nichtspätestens drei Monate nach der Verurteilung angetretenwird,
dann kann er nicht mehr angetreten werden. – Das, wasSie uns hier vorgelegt haben, ist der organisierte Unsinn.
Verell, Ihr Kronzeuge, sagt unterm Strich: Die Ziel-gruppe, die überhaupt infrage kommt, ist so klein unddie Gefahr der Ausdehnung der Maßnahme über dieseZielgruppe hinaus so groß, dass er davon abrät, denWarnschussarrest einzuführen. Er plädiert dafür, die an-deren Möglichkeiten des Jugendgerichtsgesetzes zu för-dern.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Deswegen werde ich jetzt meinen letzten Satz zitie-ren. Es ist ein Zitat der Gewerkschaft der Polizei. DieGewerkschaft der Polizei hat zu diesem Gesetzentwurfgesagt:Der Warnschussarrest für jugendliche Straftäter istnicht mehr als ein bisschen politische Spachtel-masse. Damit kann der … zunehmend breiter wer-dende Riss zwischen Union und FDP jedenfallsnicht repariert werden.Hier hat die Gewerkschaft der Polizei recht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20949
(C)
(B)
Das Wort hat Norbert Geis für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich beschränke mich auf die beiden Themen, die
hier sehr strittig sind, nämlich auf die Vorrats – –
– Nein, nein, das war eine Freud’sche Fehlleistung. – Es
geht um den Warnschussarrest und die Erhöhung des
Höchstmaßes der Jugendstrafe.
Die Diskussion über diese Dinge existiert schon sehr
lange. Wir haben diese Diskussion schon in der ersten
Hälfte der 90er-Jahre geführt. Wir, die Unionsfraktion,
haben dies schon damals gefordert. Als wir damals das
Verbrechensbekämpfungsgesetz verabschiedet haben,
haben wir auch darüber verhandelt. Das durchzusetzen,
war aber nicht möglich. Wir haben diese Forderung dann
weiterhin erhoben. Die Länder, die ja die Praxis zu ver-
antworten haben, haben uns entsprechende Vorschläge
gemacht und entsprechende Gesetzesanträge gestellt, die
alle bislang nicht zum Erfolg geführt haben.
Nun haben wir diesen Erfolg. Wir sind uns einig, und
wir wollen den Warnschussarrest und die Erhöhung der
Jugendstrafe einführen.
– Sie natürlich nicht, aber die Koalition ist sich einig.
Darauf hat Herr Lischka ja angespielt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
dass der Warnschussarrest eine wichtige Erweiterung
des Instrumentariums ist, das einem Richter zur Verfü-
gung stehen sollte. Reden Sie mit Jugendrichtern!
Noch heute Morgen habe ich mit einem Jugendrichter te-
lefoniert und die Sache mit ihm besprochen. Es war ein
junger Jugendrichter. Er sagte: Ich brauche die Möglich-
keit einer solchen Reaktion auf jugendliche Straftäter.
Warum? Es ist doch eigentlich ganz greifbar, warum.
Das ist unsere Überlegung:
Erstens. Wenn Sie einen Jugendlichen verteidigen,
der zu einer Jugendstrafe, aber nicht zu einem Arrest
verurteilt wird, dann können Sie als Verteidiger erleben
– Sie sind, so wie ich, noch im Geschäft; wir gehen auch
noch vor Gericht –, dass er hinausgeht und sagt: Das ist
ein Freispruch zweiter Klasse. Sein Verteidiger freut sich
darüber, und seine Eltern und seine Freundin, die dabei
sind, freuen sich natürlich auch darüber. Der Mann
kommt nicht hinter Schloss und Riegel. Einen solchen
„Freispruch“ zweiter Klasse steuern die Jugendlichen
an, und sie lachen dann.
Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wunderlich?
Ja, bitte, wenn es schnell geht.
Vielen Dank, Herr Kollege. Ich gebe mir Mühe.
Sie sprachen gerade im Zusammenhang mit der Ju-
gendstrafe von der Notwendigkeit eines solchen Arrests.
Stimmen Sie mir zu, dass die Vollstreckung der Jugend-
strafe nur unter der Voraussetzung zur Bewährung aus-
gesetzt wird, dass der Richter bzw. das Gericht davon
überzeugt ist, dass dem Jugendlichen die Verurteilung
als solche schon zur Warnung ausreicht
und er künftig auch ohne den Vollzug oder die Vollstre-
ckung der Strafe einen rechtschaffenen Lebenswandel
führen wird?
Natürlich.
Das ist die Voraussetzung zur Aussetzung der Voll-
streckung der Jugendstrafe. Jetzt sagt man aber: Ich gehe
zwar davon aus, dass er keinen Vollzug braucht, aber ein
bisschen Vollzug ist vielleicht doch nötig. – Ist das nicht
in sich widersprüchlich?
Nein.
Wird da § 16 a JGG bzw. der ergänzende Absatz nicht
nur eingeführt, um das ein bisschen zu kaschieren?
Herr Kollege, ich kann Ihnen diese Frage beantwor-ten. Die Jugendstrafe ist eine ganz andere Maßnahme alsder Jugendarrest.
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20950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Norbert Geis
(C)
(B)
Das wissen Sie und ich. Deswegen können Sie nicht bei-des in den gleichen Topf werfen.
Das ist der Unterschied. Das ist meine Antwort.Zweitens. Ein weiterer Grund für den Jugendarrest istfolgender: Wenn zum Beispiel ein Täter wegen schäd-licher Neigungen zu einer Jugendstrafe verurteilt wird– aber auf Bewährung –, dann geht er als freier Mannaus dem Gerichtssaal. Gegenüber einem anderen wirdein Zuchtmittel ausgesprochen, weil keine schädlichenNeigungen festgestellt werden, weil er sich also imSinne des Strafrechts nicht so schwer schuldig gemachthat. Der bekommt Jugendarrest und damit Freiheitsent-zug. Der andere aber geht letztlich ohne Strafe aus demGerichtssaal. Diesen Widerspruch verstehen die Jugend-lichen nicht.
Drittens. Ich möchte noch Folgendes anführen: Es istvielleicht gar nicht schlecht, wenn ein solcher Jugend-licher auch einmal, wenn auch nur für kurze Zeit, ausseiner gewohnten Umgebung genommen wird, HerrWunderlich.
– Nein,
ich bin wieder bei meiner eigentlichen Rede. – Oft ist esso: Ein Jugendlicher kommt vor Gericht, weil er in sei-ner Umgebung mit anderen Jugendlichen zusammen ist,die das Gesetzbuch und das Strafrecht nicht so ernst neh-men und deswegen straffällig werden. Es ist nichtschlecht, wenn ein Jugendlicher einmal aus einer sol-chen Umgebung für kurze Zeit von seinen Kameradenabgesondert wird und vielleicht mithilfe seines Bewäh-rungshelfers dazu kommt, darüber nachzudenken, wohindies weiter führen würde. Deswegen, so meinen wir, istder Warnschussarrest die richtige Maßnahme.Ein anderer Punkt ist die Erhöhung des Höchstmaßesder Jugendstrafe; Herr van Essen hat darauf schon hinge-wiesen. Wir unterscheiden hier zwischen Jugendlichenund Heranwachsenden. Für die Heranwachsenden sehenwir die Erhöhung des Höchstmaßes vor. Das geltendeHöchstmaß für Jugendliche sind eigentlich 5 Jahre,wenn es sich nicht um Verbrechen handelt. Wenn es sichum Verbrechen handelt, sind es 10 Jahre. Für Heran-wachsende gibt es dieses Höchstmaß von 5 Jahren nicht,sondern da ist von vornherein ein Höchstmaß von10 Jahren angesetzt. Hier gibt es keine Unterscheidung.Nun wollen wir Folgendes: Wir wollen das Höchst-maß der Strafbarkeit von 10 auf 15 Jahre anheben. Dasist eine alte Forderung – so darf ich sagen – meiner Frak-tion und auch einiger Bundesländer bzw. des Bundes-rates. Nun sind wir uns in dieser Frage einig geworden,hier den entscheidenden Schritt zu tun.Warum? Weil ich glaube, dass der Richter die Mög-lichkeit haben muss, entsprechend zu reagieren, wenn essich um eine Straftat wie Mord handelt. Genau das neh-men wir in den Fokus. Es geht hier nicht um andereStraftaten, obwohl man darüber streiten kann, ob mandas nicht auch hier tun sollte. Andere Straftaten, diebeim Erwachsenenstrafrecht ebenfalls mit „lebensläng-lich“ bestraft werden können, nehmen wir heraus. Wirnehmen nur die schwerste Straftat, die jemand begehenkann, nämlich einen anderen Menschen zu ermorden.Ihm sagen wir: Du musst unter Umständen, wenn du He-ranwachsender bist, mit einer Strafe von 15 Jahren rech-nen.Ich nenne ein Beispiel: In einer Jugendbande ist derHaupttäter ein Heranwachsender, der Mitläufer, der sichgenauso strafbar gemacht hat, ist über 21 Jahre alt. Letz-terer bekommt wegen eines Mordes „lebenslänglich“,der andere 10 Jahre.Ich meine, das ist nicht gerecht. Hier muss ein Gleich-klang hergestellt werden. Das ist unser Anliegen. Des-halb glaube ich, dass wir mit unserem Gesetzentwurfrichtigliegen. Ich bitte um Ihre Zustimmung.Danke schön.
Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ichkann meinen geschätzten Kollegen Vorrednern Lischka,Montag und vor allen Dingen Wunderlich nur recht ge-ben: Der Warnschussarrest als Zugabe, Herr van Essen,zur Bewährungsstrafe für Jugendliche ist aus meinerSicht wirklich der falsche Weg. Man hat so ein bisschenden Verdacht, dass das Symbolpolitik ist, dass man hiersymbolisch etwas aussagen will.Wenn man jugendlichen Straftätern oder Intensivtä-tern einen Warnschuss geben will, dann muss man – dassagen nach meinen Erkenntnissen alle Praktiker – Fol-gendes machen: eine schnelle Verurteilung. Das ist daseigentliche Problem.
Herr Wunderlich ist – das wurde eben angesprochen –12 Jahre Jugendrichter gewesen und hat langjährige Er-fahrung. Er hat gerade das Instrumentarium, das einemJugendrichter zur Verfügung steht, anhand von Beispie-len dargestellt. Das Jugendstrafrecht ist nämlich sehrbreit angelegt.In meinen Gesprächen mit Jugendstaatsanwaltschaf-ten wurde mir gesagt: Es gilt das alte Sprichwort: „DieStrafe muss auf dem Fuße folgen“. Wenn man den Warn-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20951
Dr. Edgar Franke
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schussarrest einführen würde, würde auch dieser – damüssen Sie mir recht geben, Herr van Essen – erst nachdem Urteil erfolgen.
Das heißt, der Warnschuss käme erst dann, wenn das Ur-teil ergangen ist. Insofern würde der Warnschuss wegendieses zeitlichen Ablaufs aus meiner Sicht nichts brin-gen.Praktiker sehen ein großes Problem darin, dass dieJustiz lange braucht, um Urteile zu fällen und dass dieArrestzellen voll sind, sodass die betroffenen Jugendli-chen gar nicht einziehen können und man keine Mög-lichkeiten hat, Strafen zu vollziehen. Das ist ein reinpraktisches Problem. Aus meiner Sicht muss man vor al-len Dingen bei diesem Punkt ansetzen.Ein weiterer Punkt ist die Heraufsetzung der Höchst-strafe für Heranwachsende von 10 auf 15 Jahre. HerrGeis hat dazu Ausführungen gemacht. Ich glaube, dieHeraufsetzung der Höchststrafe würde nichts bringen.Das muss man ganz klar sagen.Ich habe meine Mitarbeiter gebeten, herauszufinden,welche Studien es in diesem Bereich gibt. Sie habennichts gefunden. Herr Montag hat das auch gesagt. Esgibt in der Fachöffentlichkeit niemanden, der sagt: Dasbringt etwas.
Herr Lischka hat von sieben Fällen pro Jahr gesprochen.Ich habe in dem Bereich auch nichts gefunden:
In den Entscheidungsgründen hat kein Gericht ausge-führt, dass die Strafe zu gering sei.Insofern ist der Gesetzentwurf vielleicht mehr alsSymbolpolitik: Es ist vielleicht sogar ein Wahlkampf-thema, und es ist ein Thema für den Boulevard und dieÖffentlichkeit.
Der Gesetzentwurf ist aber, glaube ich, nicht zur Verbes-serung der Sicherheit der Bevölkerung geeignet. Im Ge-genteil, der Volksmund sagt: Wer in den Knast kommt,kommt krimineller heraus, als er hineingegangen ist.In diesem Sinne sollte man, glaube ich, diesen Ge-setzentwurf ablehnen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9389 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:
Beratung des Berichts des Ausschusses für Ver-
kehr, Bau und Stadtentwicklung
gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des
Deutschen Bundestages
– zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen neuen Infrastrukturkonsens –
Schutz der Menschen vor Straßen- und
Schienenlärm nachdrücklich verbessern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bürgerinnen und Bürger dauerhaft vom
Bahnlärm entlasten – Alternative Güterver-
kehrsstrecke zum Mittelrheintal angehen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz vor Bahnlärm verbessern – Veralte-
tes Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaf-
fen
– Drucksachen 17/5461, 17/6452, 17/4652,
17/9257 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt
dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Anton Hofreiter für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich bin in der interessanten Rolle, als Aus-schussvorsitzender berichten zu dürfen, warum der Ver-kehrsausschuss die Anträge von Bündnis 90/Die Grünenund SPD nicht fristgerecht behandelt hat. Es geht beidiesen Anträgen um das wichtige Thema Bahnlärm.Wir haben diese Anträge mehrmals auf die Tagesord-nung gesetzt, so unter anderem in der 49. Sitzung am21. September 2011 – das ist also schon relativ langeher –, dann wieder am 26. Oktober und zuletzt am 9. No-vember. Die Beratung der Anträge ist auf Wunsch dergeschäftsführenden Mehrheit immer wieder vertagt wor-den.
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20952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Dr. Anton Hofreiter
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So weit sozusagen der Bericht. Wir haben die Anträgeimmer wieder aufgesetzt. Aber die Beratungen darüberwurden immer wieder vertagt.Worum geht es in den Anträgen? Sowohl in den SPD-Anträgen als auch im Antrag der Grünen geht es um ei-nen besseren Schutz der Menschen vor Bahnlärm. Esgeht insbesondere darum, das Lärmprivileg „Schienen-bonus“ abzuschaffen. Worum handelt es sich beimLärmprivileg „Schienenbonus“? Es handelt sich letzt-endlich um einen Malus für die Betroffenen. Dieses Pri-vileg bedeutet, dass Züge um 5 dB(A) – das macht einenerheblichen Unterschied aus; denn es handelt sich umeine logarithmische Skala – lauter sein dürfen als andereVerkehrsträger. Das hat zur Folge, dass die Menschenstark belastet sind. Das ist allerdings auch für uns vongroßer verkehrspolitischer Bedeutung; denn die Belas-tung hat an manchen Strecken solche Ausmaße ange-nommen, dass die Menschen massiv protestieren, inmanchen Regionen überparteilich. Es gibt zum Beispielan der Rheinschiene Regionen, in denen sich Vertreteraller Parteien massiv gegen die Lärmbelästigung vor Ortwenden. Wir müssen daher dringend etwas tun.
Warum kommt es nicht zur abschließenden Beratungüber die Anträge? Der Grund ist ganz einfach – dieseBewertung nehme ich nicht als Ausschussvorsitzender,sondern als Abgeordneter der Grünen vor –: Die Koali-tionsfraktionen wollen die Anträge von SPD und Grünennicht ablehnen, weil sie den Protest vor Ort fürchten. Siekönnen aber auch keine eigenen Vorlagen einbringen,weil sie sich untereinander nicht einigen können, wie mitdiesem schwierigen Problem umgegangen werden soll.Das ist eigentlich nichts Ungewöhnliches. Bei den Ko-alitionsfraktionen gibt es einen ganzen Strauß an The-men, über die sie sich nicht einigen können. MancheThemen sind prominenter, andere Themen weniger pro-minent in den Medien vertreten. Bahnlärm ist in den Me-dien lediglich regional prominent vertreten. Ich sage alsGrüner: Einigen Sie sich – das wäre positiv – im Sinneder Menschen auf eine vernünftige Reduktion des Bahn-lärms! Dann könnten wir die Beratungen über diesesThema im Ausschuss endlich zum Abschluss bringen.
Wenn Sie sich aber schon nicht einigen können, dannsollten Sie wenigstens die Traute haben, die Anträge ab-zulehnen.
Dann können wir die Beratungen über diesen Tagesord-nungspunkt abschließen. Dann muss dieses Thema nichtimmer wieder aufscheinen. Dann hätten wir alle Klar-heit, und dann wüssten auch die Betroffenen vor Ort,woran sie sind.
Ich bitte Sie, sich zu einigen. Das ist positiv für diebetroffenen Menschen. Wenn Sie sich aber nicht einigenkönnen, dann lassen Sie uns die Sache zum Abschlussbringen. Dann wissen die Menschen wenigstens, woransie sind.Danke.
Das Wort hat nun Steffen Bilger für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasThema Lärm ist derzeit in der politischen Debatte in derTat nicht zu überhören. Ob an Flughäfen, bei der Straßeoder der Schiene, landauf, landab wird bei vielen Infra-strukturprojekten gestritten und diskutiert. Auf der einenSeite stehen die Bedürfnisse der Anwohner, für die wiralle großes Verständnis haben. Auf der anderen Seitesteht unser Interesse, Mobilität zu ermöglichen, einefunktionsfähige Infrastruktur zu haben und nicht zuletztunseren Beitrag zum Erfolg unserer Wirtschaft und zumErhalt von Arbeitsplätzen in Deutschland zu leisten.Hier müssen wir zu einem ausgewogenen Ausgleichkommen.
– Dazu komme ich noch.Heute diskutieren wir gleich über drei Anträge, diesich alle in erster Linie mit dem Thema Schienenlärmbefassen. Ich habe für viele Forderungen in diesen An-trägen durchaus Sympathie.
Lärm ist wahrlich eine Plage. Sicherlich steigt heutzu-tage auch die Sensibilität der Bevölkerung für solche Be-lastungen und dadurch begründete Gesundheitsgefahrenan. Daher ist das richtig, was in den Oppositionsanträgenzum Lärm an sich steht. Es ist vollkommen unstrittig,dass wir Anwohner vor Lärm schützen müssen und esunsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass Lärm mög-lichst erst gar nicht entsteht, sondern schon an der Quellebekämpft wird.
In den Debatten über den SPD-Antrag zum Mittel-rheintal und den Koalitionsantrag zur Rheintalbahn ha-ben wir deutlich gemacht, wie sehr wir als Unionsfrak-tion die Bedürfnisse der lärmgeplagten Bevölkerung zuunserem Anliegen gemacht haben. Wir stehen zu unse-rem Bekenntnis im Koalitionsvertrag: Mehr Schutz vor
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20953
Steffen Bilger
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Lärm! – Besonders das gerade von Toni Hofreiter ange-sprochene Lärmprivileg der Schiene, das dazu führt,dass an Schienenstrecken mehr Lärm geduldet wird alsan anderen Stellen, ist nicht mehr vertretbar und mussdaher abgeschafft werden.
Die Abschaffung des sogenannten Schienenbonus isterklärte Sache der christlich-liberalen Koalition. Dazubekennen wir uns mit Nachdruck, so auch heute und inder Zukunft bei den weiteren Beratungen im Verkehrs-ausschuss. Wir sind die erste Regierungskoalition, diesich darauf verständigt hat, den Schienenbonus abzu-schaffen,
und damit nun ernst macht.
Wie sich alle Abgeordneten, die schon unter früherenRegierungskonstellationen hier mitgearbeitet haben unddie es nicht so weit gebracht haben, dieses Thema anzu-packen – manche haben sich das noch nicht einmal vor-genommen –, denken können, war es nicht ganz einfach,bei der Abstimmung zwischen den verschiedenen betei-ligten Politikern voranzukommen. Aber am Ende zähltdas Ergebnis. Diese Woche, meine Damen und Herrenvon der Opposition, wurde die Ressortabstimmung zurAbschaffung des Schienenbonus förmlich eingeleitet.
– Jetzt hätte ich von der Opposition mehr Anerkennungund Applaus erwartet.Zugegeben, auch wir hätten nichts dagegen gehabt,wenn es etwas schneller zu Ergebnissen gekommenwäre.
Nicht zuletzt hatten wir mit den Stimmen der Union undder FDP bereits vor einem Jahr, im März, in Zusammen-hang mit dem Thema Rheintalbahn im Deutschen Bun-destag die Forderung nach Abschaffung des Schienenbo-nus bekräftigt und die Bundesregierung aufgefordert, diedafür notwendigen Schritte zu unternehmen. Wir stehenzu unserem Wort und nehmen die Bundesregierung indie Pflicht, den Entwurf zur Änderung des betreffendenGesetzes und der dazugehörigen Verordnung vorzule-gen.
Der Schienenbonus wird abgeschafft. Das ist erst ein-mal eine gute Nachricht für die Menschen in Deutsch-land. Wir halten Wort. Gerne können wir in einer dernächsten Verkehrsausschusssitzungen ins Detail gehenund über einen eigenen Antrag unserer Fraktion beraten.
– Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass die Ressortab-stimmung bereits eingeleitet ist. Hätten Sie es hinbe-kommen, als Sie noch an der Regierung waren, dannbrauchten Sie jetzt nicht so große Reden zu schwingen.
Wenn aber der Schienenbonus abgeschafft ist, dannheißt das nicht, dass alle Schienenlärmprobleme besei-tigt wären; denn die Abschaffung des Schienenbonus be-trifft die Zukunft. Für bestehende oder bereits im Baubefindliche sowie planfestgestellte Schienenstreckenbrauchen wir andere Lösungen. Wichtig ist dabei, dasswir im gesamten Schienennetz durch unterschiedlicheMaßnahmen die Lärmemissionen nachhaltig reduzieren.Innovative Maßnahmen am Fahrweg, andere Bremssys-teme, verbesserter Lärmschutz durch bauliche Maßnah-men und auch Vereinbarungen über ein – das wird auchim Antrag der Grünen gefordert – lärmabhängiges Tras-senpreissystem – das alles sind Beispiele für weitereMöglichkeiten der Lärmreduktion, die ein Lärmprivilegder Schiene endgültig unnötig machen.Das große und bedeutende Projekt Rheintalbahn, überdas wir schon mehrfach im Deutschen Bundestag disku-tiert haben, ist zudem ein gutes Beispiel für andere Mög-lichkeiten der Politik. Da haben sich alle Beteiligten –Kommunen, Land, Bund, Bürgerinitiativen und DeutscheBahn – zusammengesetzt und sind zu Lösungen gekom-men. In diesem konkreten Fall gab es Zugeständnisse so-wohl des Landes als auch des Bundes, vertreten durch denStaatssekretär Scheuerle, die es unnötig machen, auf dieAbschaffung des Schienenbonus zu warten. Es wird viel-mehr durch Vereinbarungen erreicht, dass Lärmschutzdurch andere Maßnahmen umgesetzt wird, ohne dass wirdie Abschaffung des Schienenbonus hier im Bundestagbeschließen müssten. Dabei muss uns Politikern klar sein,dass es nicht ausreicht, immer nur nach dem Bund zu ru-fen; vielmehr müssen sich alle Beteiligten in die Pflichtnehmen lassen.Sie haben in Ihren Anträgen aber auch andere The-men angesprochen. Im SPD-Antrag zum Infrastruktur-konsens werden aus unserer Sicht in erster Linie Maß-nahmen aus dem nationalen Verkehrslärmschutzpaket IIaufgegriffen, die ohnehin realisiert werden oder in ande-rem Zusammenhang bereits geprüft werden. Auch hierhätte sicher manches schneller und weiter gehen können.Allerdings dürfen wir bei dieser ganzen Diskussion nichtvergessen, dass es immer um Geld geht.
Das fehlt an allen Ecken und Enden für die Infrastruktur.Dieses Geld müssen wir erst einmal zur Verfügung stel-len können.
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20954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Steffen Bilger
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Nichtsdestotrotz können wir festhalten: Es tut sich et-was.
Wir machen viel für mehr Schutz vor dem Schienenlärm.Ergänzend zu dem, was wir in Deutschland beschließenkönnen, wäre es bei einem mittlerweile kontinenteüber-greifenden Schienenverkehr sicherlich sinnvoll, wennwir auf europäischer Ebene zu gemeinsamen Lösungenkommen könnten und die EU mittelfristig nur noch leiseGüterzüge in Europa zulassen würde. Auch hier solltenwir und die Bundesregierung aktiv bleiben. Ich freuemich auf weitere Fortschritte, die wir gemeinsam errei-chen können.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Gustav Herzog für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, insbesondere im Mit-telrheintal! Herr Kollege Bilger, ich weiß nicht, ob ichmich über Ihre Rede aufregen soll
oder einfach nur Mitleid haben soll mit Ihnen, die Sieauf dieser Seite des Hauses sitzen.
Ich werde versuchen, im Laufe meiner Rede eine Ant-wort zu geben.Um das Groteske an der Situation deutlich zu ma-chen, will ich noch einmal die Gemeinsamkeiten fest-stellen, die hier im ganzen Hause – vielleicht bis auf denTeil der Bundesregierung – bestehen. Wir stellen fest,dass Millionen von Menschen durch Lärm von Straße,Schiene und Luftverkehr beeinträchtigt sind. Hundert-tausende sind schwersten Belastungen ausgesetzt. Sie er-leben in der Nacht Güterzüge, die mit über 100 Dezibelan ihren Häusern vorbeifahren. Das ist wie ein Pressluft-hammer hier vor dem Rednerpult, vor den Reihen derKoalition. Hunderttausende von Menschen erwarten vonuns eine Lösung. Auch die Volkswirtschaft wird im Um-fang von über 10 Milliarden Euro im Jahr geschädigt.Wir sind uns hier im Hause darüber einig, dass wirden Schienenbonus abschaffen wollen, dass wir lärm-abhängige Trassenpreise brauchen,
dass eine ganze Reihe von wirksamen Baumaßnahmen,die wir mit dem Projekt „Leiser Rhein“ oder dem Kon-junkturprogramm eingeleitet haben, umgesetzt werdenmüssen. Wir sind uns weiter darüber einig, dass wir dieGüterverkehrswagen umrüsten wollen. Diese gemein-same Position vertreten wir auch vor Ort. Ich sehe hierden Kollegen Michael Hartmann, der das Mittelrheintalaus eigenem Erleben und eigenem Hören sehr gut kennt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch mehrGemeinsamkeiten. Im rheinland-pfälzischen Landtagder letzten Wahlperiode und auch der neuen Wahlpe-riode wurden einstimmige Beschlüsse gefasst, also mitder Union, mit der FDP, in denen all das vom Bund ge-fordert wird.
Jetzt ist die spannende Frage: Warum geht es nichtvoran, lieber Kollege Bilger? Weil wir hier die Koalitionder Verweigerung und der Vertagung haben! Sie kriegenes nicht auf die Reihe. Jetzt ist Schluss mit lustig! DerKollege Hofreiter hat ja schon erwähnt: Es gibt sehrviele Themen – von der Vorratsdatenspeicherung bis hinzum Betreuungsgeld –, bei denen Sie keine Problem-lösung finden.
Für die Frage, um die es hier geht, die die Menschen be-trifft, hätten wir eine Mehrheit im Deutschen Bundestag.Ich sage Ihnen, wo das Problem sitzt: hier auf der Regie-rungsbank, vielleicht noch etwas um die Ecke. Herr Kol-lege Bilger, ich darf zitieren, was KanzleramtsministerPofalla gesagt hat. Ich zitiere die Rheinische Post vom21. April dieses Jahres:Die Bundesregierung wird nicht am Schienenbonusrütteln.
Ein weiteres Zitat:In dieser Legislaturperiode werden wir den Schie-nenbonus nicht anpacken.
Das sagt Ihr Kanzleramtsminister. Und was sagt dieKoalition?
Haben Sie in diesen Reihen hier überhaupt noch etwaszu sagen? Ich denke, bei Ihnen muss etwas passieren.
Sie können nicht weiterhin versuchen, das Problem aus-zusitzen oder auf die lange Bank zu schieben. Ich weiß,dass wir ab September 2013 das Problem anpacken wer-den.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20955
Gustav Herzog
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Aber schöner wäre es natürlich für die Menschen, wennwir die gemeinsame Position hier vorher beschließenkönnten und Sie sich nicht hinter der Entscheidung IhrerRegierung und Ihrer Haushälter verstecken würden.Wenn ich Ihre Reihen hier sehe, frage ich mich, wo dieKolleginnen und Kollegen von der Union sind, die imMittelrheintal immer so tun, als wären sie die großenMacher in Sachen Schienenlärm.
Wo sind die Kollegen Granold, Bleser und der GeneralSchnieder, der Generalsekretär Schnieder? – Aber jederhat so seine Prioritäten.
Herr Kollege Bilger, Sie haben die Kosten angespro-chen. Vielleicht werden Sie sich in Ihren Reihen aucheinmal darüber einig, um welche Kosten es geht. DerBundesminister sagt: Jedes Dezibel beim Schienenbonuskostet mich 1 Milliarde Euro. Ihr Kanzleramtsministerspricht in der Rheinischen Post von 15 Milliarden Euro.Vielleicht können Sie innerhalb der Bundesregierungeinmal eine Abstimmung herbeiführen.Ich sage Ihnen etwas zum Thema Geld. Es war für Siein den ersten Tagen der Koalition doch kein Problem,den Mehrwertsteuersatz für die Hotelübernachtungenherabzusetzen
und 1 Milliarde Euro jedes Jahr zum Hotelfenster hi-nauszuwerfen, wo wir doch die Hotelfenster im Mittel-rheintal schließen müssen, weil es zu laut ist.
Herr Kollege Döring, es ist intellektuell unwürdig,dass Sie zwar in Ihren Reihen anerkannt haben,
dass es eine falsche Entscheidung war, aber nicht genugMumm in den Knochen haben, um diesen Fehler zu kor-rigieren.
Ich sage Ihnen: Die Sache mit der Mehrwertsteuerkriegen Sie bei jeder Rede von mir auf den Tisch gelegt –bis zum Ende der Wahlperiode.
Es gibt eine zweite Geldquelle, die man anzapfenkönnte. Sie hätten auch unsere Zustimmung, Herr Bun-desminister, wenn Sie die Zwangsdividende der DB AGvielleicht auch dafür verwenden würden, dem Unterneh-men beim Umrüsten zu helfen.
Es gibt klare Forderungen der SPD. Wir würden Sieauch jederzeit hier im Deutschen Bundestag dabei unter-stützen, das Umrüsten der Güterwagen jetzt und nichterst dann vorzunehmen,
wenn die LL-Sohle in zwei oder drei Jahren zugelassenist. Das würde 10 Dezibel bringen – eine Verminderungdes Lärms um die Hälfte.
Sie haben von uns eine klare Zustimmung zur Ab-schaffung des Schienenbonus.Als letzten Punkt will ich noch die AlternativtrasseMittelrheintal ansprechen.
Herr Bundesminister, Sie haben auf der Verkehrsminis-terkonferenz Äußerungen gegenüber dem rheinland-pfälzischen Verkehrsminister gemacht,
die über die Presse unterschiedlich weitergegeben sind.Aber vielleicht kann der Kollege Holmeier, der gleichfür die CSU sprechen wird, noch erklären:
Sind Sie nun dafür, dass eine solche alternative Trasseim Rahmen des Bundesverkehrswegeplans geprüft wird,oder nicht? Wollen Sie nicht oder können Sie nicht denLärm bei den Menschen reduzieren? Geben Sie daraufeine Antwort.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Werner Simmling für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Verehrte Zuschauer! Liebe Kollegen Dr. Hofreiter undHerzog! Sie kennen alle die Sprichwörter „Gut Ding will
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20956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Werner Simmling
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Weile haben“ und „Rom wurde auch nicht an einem Tagerbaut“.
Wie vorhin schon festgestellt wurde, hat diesesschwierige Thema ja weder ein SPD-Verkehrsminister– das waren immerhin elf Jahre – noch ein grüner Um-weltminister – sieben Jahre – in Angriff genommen.
Insofern sollten Sie, meine ich, auch 2013 keine Chancemehr haben, dieses Thema noch einmal aufzugreifen;denn dann ist es schon erledigt.Die christlich-liberale Koalition ist sich längst einig– das wissen Sie auch –, den Schienenbonus von5 dB(A) schrittweise zu reduzieren – mit dem Ziel, ihnin dieser Legislaturperiode ganz abzuschaffen. Das ha-ben wir so in unserem Koalitionsvertrag festgelegt.
Wir haben inzwischen Schritte unternommen. Das wis-sen Sie auch. Wir haben im Deutschen Bundestag denAuftrag an die Bundesregierung gegeben, einen entspre-chenden Gesetzentwurf vorzubereiten.Natürlich hätten wir uns gewünscht, dass wir schonweiter wären – das Thema ist aber, wie gesagt, sehrschwierig – und heute einen entsprechenden Entwurfhier vorliegen hätten. Manchmal sind die Dinge aber so,wie sie sind. Und auch in einer schwarz-gelben Bundes-regierung kann es vorkommen, dass die Mühlen einerMinisterialbürokratie langsam – vielleicht etwas sehrlangsam – mahlen.
Aber noch einmal, damit hier keine Zweifel aufkom-men: Für die Koalition bleibt die Abschaffung desSchienenbonus in dieser Legislaturperiode eines ihrerzentralen verkehrspolitischen Anliegen.
Unser Ziel ist, dass alle Planfeststellungsverfahren ab2016 ohne die einseitige und nicht mehr tragfähige Be-vorteilung der Schiene geplant werden. Was wir abernicht wollen, ist, in bestehende Planfeststellungsverfah-ren einzugreifen.
Deshalb wollen wir die gesetzgeberisch deutliche Linie2016. Nur so gibt es Klarheit und Planungssicherheit füralle Seiten.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ge-nerell Folgendes anmerken: Wir müssen den Lärmschutzan der Schiene verbessern; denn nur so erhalten wir diefür den dringend benötigten Infrastrukturausbau notwen-dige Akzeptanz in der Bevölkerung.
Wir brauchen die Schiene als modernen, leistungsfä-higen und umweltschonenden Verkehrsträger. Ich kanndie Menschen gut verstehen, die das Mehraufkommenvon Verkehr auf der Schiene und den damit in Zusam-menhang stehenden Lärm in ihren Wohnungen und Häu-sern nicht mehr hinnehmen wollen. Um diese Balanceund Akzeptanz zu erhalten, ist die Abschaffung desSchienenbonus unerlässlich.
Der Schienenbonus ist angesichts der hohen Zu-wächse beim Schienengüterverkehr und neuerer Er-kenntnisse heute nicht mehr gerechtfertigt.
Von mancher Stelle hört man, dass die Abschaffungdes Schienenbonus zu teuer sei und Schienenprojektedurch Umplanungen verzögert würden. Das ist nichtrichtig; denn laufende Planfeststellungsverfahren, wiebereits gesagt, sind nicht betroffen. Umplanungen sinddaher auch nicht erforderlich. Richtig ist aber, dass alleab dem Jahr 2016 neu geplanten Projekte durch mehrund bessere Lärmschutzmaßnahmen teurer werden.
Dies bedeutet im Gegenzug aber nicht, dass wir wegender Abschaffung des Schienenbonus eine höhere Haus-haltslinie benötigen.Wir müssen uns immer vor Augen halten: Wenn derSchienenbonus bestehen bleibt und wir Anwohnern vonzukünftigen Bahnstrecken keinen angemessenen Lärm-schutz bieten können, dann werden wir bald gar nichtmehr bauen können.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Wilms?
Bitte.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20957
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie reden hier so voll-
mundig, als ob das Gesetz bis zum Ende der Wahlpe-
riode schon in Kraft treten könnte. Sehen Sie sich einmal
an, wie viel Zeit wir noch bis 2013 haben. Dann reden
Sie davon, dass der Schienenbonus stufenweise abge-
schafft werden soll.
Vollständig, sagte ich.
Sie haben aber vorher „stufenweise“ gesagt. Sie wi-
dersprechen sich.
Nein, nein, stufenweise und vollständig in dieser Le-
gislatur.
Das passt nicht zusammen. Liefern Sie endlich!
Sie werden sich wundern, was wir in der verbleiben-
den Zeit noch alles leisten können.
Beim Lärmschutz an Bahnlinien handelt es sich nicht
nur um eine Einzelmaßnahme. Die Abschaffung des
Schienenbonus ergänzt die Gesamtkonzeption des Bun-
des zur Lärmbekämpfung im Schienenverkehr. Wesentli-
cher Inhalt ist die Lärmreduzierung an der Schallquelle.
Dies wird insbesondere durch die von der Bundesregie-
rung bereits angestoßenen Einführung eines lärmabhän-
gigen Trassenpreissystems und durch die Umrüstung
von Güterwagen auf die lärmarme K-Sohle, genannt die
Flüsterbremse, erreicht. Allein diese Maßnahme – ich
glaube, Herr Herzog sagte es – führt zu einer Reduzie-
rung des Lärms um 10 dB(A) und damit zu einer Halbie-
rung des subjektiven Lärmempfindens.
– Sehen Sie.
Mit einem Zitat von Goethe – Sie sehen, ich will auch
kritisch sein –, gerichtet an die Regierungsbank, will ich
enden: Der Worte sind nun genug gewechselt, lasst uns
endlich Taten sehen!
Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Sabine Leidig für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor25 Jahren hat der Sachverständigenrat für Umweltfragendie damalige CDU-FDP-Bundesregierung umfassendüber die schädliche Wirkung von Lärm unterrichtet. In-zwischen ist die Kernbotschaft vielfach bestätigt wor-den: Lärm macht krank – vor allem, wenn er den Nacht-schlaf stört.Schallpegel von mehr als 60 Dezibel am Tag und50 Dezibel in der Nacht müssen als gesundheitliche Be-drohung angesehen werden. Das heißt für unsere Bevöl-kerung: Fast ein Drittel ist Tag und Nacht von Straßen-lärm bedroht. Beim Schienenlärm sind es tagsüber rund9 Prozent und nachts über 20 Prozent.Wenn Sie im Rheintal unterwegs sind, dann könnenSie es körperlich spüren, wie der höllische Krach alleskaputt machen kann. Die Güterzüge, die mitten durchdie Ortschaften fahren, werden immer mehr. Sie fahrenvor allem in der Nacht. Sie werden immer schneller undimmer schwerer beladen. Oft sind die Waggons alt unddie Gleise ungepflegt. 110 Dezibel – der Kollege Herzoghat es gerade geschildert – sind keine Seltenheit. Dasentspricht dem Lärm von Kettensägen und Pressluftham-mern. Dass der Gesetzgeber, also die Mehrheit in diesemParlament, dieser Art von fahrlässiger Körperverletzungnicht Einhalt gebietet, ist ein Skandal.
Es ist doch verrückt, dass die Straßenbahnen und Per-sonenzüge inzwischen ziemlich leise fahren, weil die öf-fentlichen Auftraggeber darauf Wert legen. Aber dort,wo private Unternehmen, vor allem große Konzerne,ihre Produkte zwischen den Standorten in ganz Europatransportieren, um mehr Gewinn zu machen, bleibt eslaut,
ohne Rücksicht auf Verluste. Das ist nicht akzeptabel.
Es fehlt nicht an konkreten Möglichkeiten, wie man dieAnwohnerinnen und Anwohner entlasten kann, wie maneine moderne Güterbahn mit Ausbauperspektive schaf-fen und dabei noch die Volkswirtschaft von unnötigen,auf Lärm zurückzuführende Krankheitskosten entlastenkann.Wir haben bereits vor einem Jahr einen 14 Punkteumfassenden Antrag eingebracht. SPD und Bündnis 90/Die Grünen reichen schon seit längerem Anträge mitsehr guten Vorschlägen ein,
und es gibt sehr kompetente Forderungen seitens derBürgerinitiativen. Nur von der Regierungskoalitionkommt fast gar nichts.Sie stellen jetzt die lärmabhängigen Trassenpreise inden Mittelpunkt und wollen die Sache damit im Grundedem Markt überlassen. Aber der Markt wird es nicht
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20958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
Sabine Leidig
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richten, jedenfalls nicht vor dem Sankt-Nimmerleins-Tag.
Es geht hier um die Gesundheit und Lebensqualität vonrund 16 Millionen Menschen in Deutschland. Für diemuss der soziale Staat, muss eine gute Regierung undmuss dieses Parlament Verantwortung übernehmen, undzwar jetzt.
Sorgen Sie dafür, dass die Graugussbremsen alsschlimmste Lärmquelle verboten werden, so wie es dieSchweiz vormacht.
Investieren Sie in besseren Bahnverkehr. Nicht nur anneuen, sondern auch an den bestehenden Streckenbraucht es Lärmschutz. Schaffen Sie schließlich den un-sinnigen Schienenbonus ab; lasten Sie alle gesellschaftli-chen Kosten den Verursachern an, beim Straßen- undFlugverkehr genauso wie bei den Güterzügen.
Das Wort hat nun Karl Holmeier für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Frau Leidig, wenn es nach Ihnen gehen würde, dann
würden wir alle in Deutschland wieder zu Fuß gehen,
und niemand hätte mehr ein Fahrzeug.
– Das wäre Ihnen recht. – Zunächst möchte ich allen ein
herzliches Dankeschön dafür sagen, dass wir im Grunde
alle der gleichen Meinung sind: Verkehrslärm ist für die
Menschen ein großes Problem und eine Belastung. Darin
sind wir uns einig. Damit bin ich mit meiner Freude aber
leider schon am Ende.
Sehr verehrte Oppositionskollegen, Sie machen mit
den hier zur Debatte stehenden Anträge zwar viel Lärm,
nennenswerte Lösungsansätze oder gar Vorschläge zur
Finanzierung einzelner Forderungen kann ich in den An-
trägen bedauerlicherweise aber nicht finden.
Stattdessen greifen Sie vielfach nur Maßnahmen aus
dem Nationalen Verkehrslärmschutzpaket II auf, die be-
reits realisiert sind oder die sich noch in der Prüfung be-
finden, und satteln noch einmal drauf.
Zunächst möchte ich an dieser Stelle einmal Folgen-
des klarstellen: Wenn wir über Lärmbelastung der Men-
schen sprechen, dann ist es aus meiner Sicht und aus der
Sicht der christlich-liberalen Koalition vollkommen
egal, von welchem Verkehrsträger der Lärm ausgeht.
Ihre Oppositionsanträge widmen sich ausschließlich
dem Straßen- und dem Schienenverkehrslärm. Ich sage
aber ganz klar, und dazu stehen wir als Koalition: Unsere
Aufgabe ist es, alles dafür zu tun, Belastungen durch
Verkehrslärm jeglicher Art so gering wie möglich zu hal-
ten. Genau das tun wir.
Das bereits erwähnte Nationale Verkehrslärmschutz-
paket II enthält erstmals klare Vorgaben, in welchem
konkreten Maß die Belastungen durch Verkehrslärm ge-
mindert werden sollen.
– Was hat denn der Tiefensee gemacht? Nichts hat er
gemacht.
In diesem Konzept ist vorgesehen, bis zum Jahr 2020
den Flugverkehrslärm um 20 Prozent zu verringern.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Willsch?
Gerne, ja.
Lieber Herr Kollege Holmeier, durch den Zwischen-ruf des Kollegen Herzog bin ich angeregt, Ihnen eineFrage zu stellen. Da geht einem wirklich die Hutschnurhoch. Mein Wahlkreis ist der Rheingau, wo jeden Tag250 schwere Güterzüge durchdonnern. Seit 1998, seit-dem ich in diesem Parlament bin, beschäftige ich michmit diesem Thema. Jedes Jahr gab es bei euch einen an-deren Verkehrsminister. Ich habe selten eine Antwortvon dem Verkehrsminister bekommen, an den ich ge-schrieben habe.
Weil hier die Haushälter beschimpft werden, möchteich sagen: Wir haben in 2008 für den Haushalt 2009durchgesetzt, dass eine Umrüstung des rollenden Ge-rätes aus den Haushaltsmitteln möglich ist. Dann hatTiefensee geschlafen und das Notifizierungsverfahren
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20959
Klaus-Peter Willsch
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nicht vorangetrieben. In 2010 ist der Bescheid endlichübergeben worden. Damit kann die Bahn umrüsten. Dasmuss auch endlich geschehen. Dabei muss die Bahn einbisschen schneller werden. Meine Frage ist, ob Sie demzustimmen. Das, was wir politisch ermöglicht haben,muss die Bahn nun endlich umsetzen.Es ist nicht akzeptabel, dass in Assmannshausen inmeinem Wahlkreis jeden Tag Güterwaggons mit einerLautstärke von bis zu 103 Dezibel vorbeifahren und dieSchranke in Rüdesheim am Tag acht bis zehn Stundenheruntergelassen ist. So kann es nicht gehen.
Wir wissen, die Koalition kümmert sich um dieses
Thema. Wir wollen den Fluglärm um 20 Prozent redu-
zieren und den Schienenlärm um 50 Prozent. Damit ist
natürlich die Umrüstung der Wägen verbunden. Wir
können heute nur deutsche Wägen umrüsten. Angesichts
dessen wäre es vielleicht sinnvoll, ein europäisches För-
derprogramm zu schaffen, damit die Wägen in den Län-
dern der Europäischen Union umgerüstet werden kön-
nen. – Vielen Dank, Herr Kollege.
Herr Kollege, die Kollegin Wilms möchte eine Zwi-
schenfrage stellen.
Leider kann ich sie nicht beantworten. Wenn Sie mei-
nen Flieger stoppen können, dann lasse ich auch diese
Frage zu.
Das erklärt Ihre Antwort.
Hinzu kommen im Koalitionsvertrag beschriebeneMaßnahmen wie die Einführung einer lärmabhängigenTrassenpreisgestaltung bei der Bahn und die Änderungdes Fluglärmschutzgesetzes, damit Anwohner an Mili-tärflughäfen gleiche Ansprüche auf Erstattung vonLärmschutzkosten haben wie die Anwohner von Ver-kehrsflughäfen. Sie sehen: Uns geht es um die Men-schen, die von Verkehrslärm betroffen sind, ungeachtetder Lärmquelle. Denn den Menschen ist es egal, woherder Lärm kommt.Mit Blick auf die lärmabhängigen Trassenpreise willich noch einmal betonen, dass wir es waren, die diesesThema aktiv angegangen sind. Bereits in unserem An-trag zur Rheintalbahn vom Frühjahr letzten Jahres habenwir die Bundesregierung aufgefordert, hierzu eine ent-sprechende Regelung zu treffen. Unser VerkehrsministerPeter Ramsauer hat angekündigt, das Trassenpreis-system noch heuer zum Fahrplanwechsel 2012/2013 ein-zuführen. Wir halten keine Sonntagsreden, wir handeln,meine sehr verehrten Damen und Herren von der Oppo-sition.In dem eben erwähnten Antrag vom vergangenen Jahrhaben wir im Übrigen auch die Bundesregierung dazuaufgefordert, den Schienenbonus abzuschaffen. Trotzvieler Probleme bei diesem Thema – das wurde bereitseinige Male angesprochen –, gerade was den Transitver-kehr auf der Schiene betrifft, ist unter CSU-Verkehrsmi-nister Ramsauer Bewegung in diese Sache gekommen.Die Bundesregierung hat jetzt die Ressortabstimmungzur Änderung der erforderlichen gesetzlichen Grundla-gen eingeleitet, um den Schienenbonus tatsächlich abzu-schaffen. Hier zeigt sich also wieder: Wir handeln. DieVorgängerregierungen mit SPD-Verkehrsministern ha-ben zehn Jahre lang nichts zustande gebracht.Wir kümmern uns natürlich auch um die Menschenim Mittelrheintal, zu dem Sie extra einen Antrag einge-bracht haben. Auch hier finde ich erstaunlich, dass Siebis Herbst 2009 über zehn Jahre lang Zeit hatten, sichunter sozialdemokratischer Regentschaft im Bundesver-kehrsministerium um das Mittelrheintal zu kümmern.Nichts ist passiert.Da musste erst ein CSU-Minister in das Haus ein-ziehen, um festzustellen, dass für den gesamten Eisen-bahnkorridor Mittelrheinachse/Rhein/Main–Rhein/Ne-ckar–Karlsruhe geeignete verkehrliche Konzeptionenfehlen. Kaum ist dies geschehen, springen Sie auf denZug auf und machen Lärm. Auf Initiative von Verkehrs-minister Dr. Ramsauer wurde nun eine entsprechendeStudie für den Eisenbahnkorridor Mittelrheinachse aus-geschrieben.
Die dabei zu ermittelnden Optimierungsmaßnahmen sol-len nach den Plänen des Ministers noch im Vorfeld desBundesverkehrswegeplans 2015 angegangen werden.
Hierbei werden sicher auch alternative Streckenführun-gen für den Güterverkehr geprüft werden.Was die Forderung nach kurz- und mittelfristigenMaßnahmen angeht, so weise ich nur auf das Pilotpro-jekt „Leiser Rhein“ hin, mit dem das Verkehrsministe-rium die Umrüstung von bis zu 5 000 Güterwägen auflärmarme Bremssohlen fördert. Zudem hat auch dieBahn angekündigt – hören Sie gut zu! –, mithilfe einessogenannten Lärmbeauftragten einen Ansprechpartnerfür alle Fragen zu Lärmbelästigungen, Lärmbelastungenund Lärmschutz an Schienenwegen zu schaffen. Damitkönnen Aufgaben und Kompetenzen besser gebündeltund Probleme einfacher angegangen werden.Sie sehen also, meine sehr verehrten Damen und Her-ren, die christlich-liberale Koalition packt an. Sie tuttatsächlich etwas für den Schutz der Menschen vorVerkehrslärm. Die vorliegenden Oppositionsanträge ma-chen hingegen viel Lärm um nichts.Danke. Schönes Wochenende!
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20960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012
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Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-
gin Valerie Wilms.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Holmeier, jetzt
werden Sie vielleicht doch noch Ihren Flieger verpassen.
Aber kommen wir schnell zur Sache: Ich sehe beim bes-
ten Willen nicht, dass Sie da auf irgendeine Art und
Weise in Gang gekommen sind. Schauen Sie sich doch
einmal an, was dort bislang läuft. Die Trassenpreiskon-
struktion – das lärmabhängige Trassenpreissystem, das
Sie jetzt einführen wollen – funktioniert doch gar nicht.
Sie setzen bei der LL-Sohle auf ein System, das nicht zu-
gelassen ist. Niemand weiß, ob es überhaupt jemals zu-
gelassen wird. Das, was funktioniert, was in der Schweiz
vorhanden ist, können Sie mit dem lärmabhängigen
Trassenpreissystem als Anreiz gar nicht finanzieren.
Sie machen hier also wirklich viel Lärm um nichts.
Sie haben uns eben etwas über Fluglärm erzählt. Der
steht hier überhaupt nicht zur Debatte. Also tun Sie jetzt
wirklich einmal Butter bei die Fische und schaffen Sie
endlich den Schienenbonus ab. Denn das wäre etwas,
das bei jedem neuen Projekt sofort wirksam würde, weil
dann der Vorteil der Bahn – Stichwort 5 dB – endlich
wegfällt.
Kollege, wollen Sie reagieren? – Bitte schön.
Wir sind jetzt dabei, den Schienenbonus abzuschaf-
fen, und bringen es auf den Weg. Die Vorgängerregie-
rungen hatten Zeit: Die SPD hat zehn Jahre lang einen
Verkehrsminister gestellt; passiert ist nichts. Die rot-
grüne Regierung hatte Zeit; passiert ist nichts. Wir wer-
den es auf den Weg bringen; wir werden ab Herbst die
lärmabhängigen Trassenpreise haben. Ich glaube, das ist
ein guter und richtiger Weg; das wird ein erfolgreicher
Weg sein.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 38:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Thomas Jarzombek, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian
Bernschneider, Nicole Bracht-Bendt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eigenständige Jugendpolitik – Mehr Chancen
für junge Menschen in Deutschland
– Drucksache 17/9397 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Die Fraktionen haben vereinbart, dass die Reden zu
Protokoll gegeben werden. Das haben folgende Kolle-
ginnen und Kollegen getan: Ingrid Fischbach, Stefan
Schwartze, Florian Bernschneider, Diana Golze, Ekin
Deligöz, Peter Tauber, Sönke Rix.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9397 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 9. Mai 2012, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen ein heiteres Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.