Protokoll:
17176

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 176

  • date_rangeDatum: 27. April 2012

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:42 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/176 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 176. Sitzung Berlin, Freitag, den 27. April 2012 I n h a l t : Absetzung des Zusatztagesordnungspunktes 7 Tagesordnungspunkt 34: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Euro- päischen Union (Drucksachen 17/8682, 17/9436) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig), Rüdiger Veit, Petra Ernstberger, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Pro- gramm zur Unterstützung der Si- cherung des Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts – zu dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Tabea Rößner, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Fachkräfteeinwanderung durch ein Punktesystem regeln (Drucksachen 17/9029, 17/3862, 17/9436) Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 35: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Praxisgebühr abschaffen – Haus- ärztinnen und Hausärzte stärken (Drucksache 17/9189) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zuzahlungen für Patientinnen und Patienten jetzt abschaffen (Drucksache 17/9067) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 20879 A 20879 B 20879 B 20879 D 20881 C 20883 C 20884 A 20884 B 20886 A 20887 A 20888 B 20889 C 20890 C 20891 D 20893 A 20894 A 20895 C 20897 C 20898 C 20900 A 20901 B 20901 B Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 NEN: Zusatzbeiträge aufheben, Über- schüsse für Abschaffung der Praxisge- bühr nutzen (Drucksache 17/9408) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen-Claudio Lemme (SPD) . . . . . . . . . . . Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dietrich Monstadt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 6: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (Drucksachen 17/9145, 17/9435) . . . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Rolf Schwanitz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Erklärung nach § 31GO) Tagesordnungspunkt 37: Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kampfkraft der Gewerkschaften stärken – Anti-Streik-Paragraphen abschaffen (Drucksache 17/9062 (neu)) . . . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 36: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung der jugend- gerichtlichen Handlungsmöglichkeiten (Drucksache 17/9389) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen-Schwen- ningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 39: Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gemäß § 62 Abs. 2 der Ge- schäftsordnung des Deutschen Bundestages – zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für einen neuen Infrastruk- turkonsens – Schutz der Menschen vor Straßen- und Schienenlärm nachdrück- lich verbessern 20901 B 20901 C 20903 A 20904 D 20906 A 20906 D 20908 B 20908 D 20909 B 20911 B 20913 A 20913 C 20914 A 20914 C 20915 D 20917 B 20917 D 20918 B 20919 B 20920 C 20921 A 20922 C 20923 C 20925 C 20925 D 20927 A 20928 C 20928 D 20930 A 20931 A 20932 A 20932 C 20933 C 20934 D 20934 D 20935 D 20936 D 20937 D 20939 A 20939 C 20940 D 20941 D 20942 D 20942 D 20944 A 20945 B 20945 C 20947 A 20947 D 20949 A 20949 C 20950 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 III – zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bürgerinnen und Bürger dau- erhaft vom Bahnlärm entlasten – Alter- native Güterverkehrsstrecke zum Mit- telrheintal angehen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schutz vor Bahnlärm verbessern – Ver- altetes Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen (Drucksachen 17/5461, 17/6452, 17/4652, 17/9257) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Bilger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 38: Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Thomas Jarzombek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian Bernschneider, Nicole Bracht-Bendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Eigenständige Jugendpolitik – Mehr Chancen für junge Menschen in Deutsch- land (Drucksache 17/9397) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Eigenständige Jugendpolitik – Mehr Chancen für junge Menschen in Deutschland (Tagesordnungspunkt 38) Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Neuabdruck einer zu Protokoll gegebenen Rede zur Beratung des Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrecht- licher und anderer Vorschriften (175. Sitzung, Tagesordnungspunkt 15) Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Anlage 4 Neuabdruck einer zu Protokoll gegebenen Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Umsetzung von Basel III: Finanzmärkte stabilisieren – Realwirtschaft stärken – Kommunalfinanzierung sichern – Besonderheiten der nationalen Finanz- märkte bei Umsetzung von Basel III be- rücksichtigen (175. Sitzung, Tagesordnungspunkt 27) Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20951 C 20951 D 20952 C 20954 A 20955 D 20957 A 20957 C 20958 B 20958 D 20960 A 20960 B 20960 C 20960 D 20961 A 20962 A 20963 A 20964 A 20964 D 20965 C 20966 B 20966 D 20967 D 20969 B 20970 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20879 (A) (C) (D)(B) 176. Sitzung Berlin, Freitag, den 27. April 2012 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20961 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Aigner, Ilse CDU/CSU 27.04.2012 Bär, Dorothee CDU/CSU 27.04.2012 Bareiß, Thomas CDU/CSU 27.04.2012 Becker, Dirk SPD 27.04.2012 Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.04.2012 Brandner, Klaus SPD 27.04.2012 Dr. Braun, Helge CDU/CSU 27.04.2012 Brinkmann (Hildes- heim), Bernhard SPD 27.04.2012 Burkert, Martin SPD 27.04.2012 Crone, Petra SPD 27.04.2012 Ebner, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.04.2012 Fischer (Karlsruhe- Land), Axel E. CDU/CSU 27.04.2012* Freitag, Dagmar SPD 27.04.2012 Friedhoff, Paul K. FDP 27.04.2012 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 27.04.2012 Gabriel, Sigmar SPD 27.04.2012 Gerdes, Michael SPD 27.04.2012 Groschek, Michael SPD 27.04.2012 Grund, Manfred CDU/CSU 27.04.2012 Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.04.2012 Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.04.2012 Jelpke, Ulla DIE LINKE 27.04.2012 Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 27.04.2012 Kolbe, Manfred CDU/CSU 27.04.2012 Korte, Jan DIE LINKE 27.04.2012 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.04.2012 Kurth (Quedlinburg), Undine BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.04.2012 Dr. Lötzsch, Gesine DIE LINKE 27.04.2012 Dr. Luther, Michael CDU/CSU 27.04.2012 Dr. de Maizière, Thomas CDU/CSU 27.04.2012 Möller, Kornelia DIE LINKE 27.04.2012 Müller (Aachen), Petra FDP 27.04.2012 Dr. Neumann (Lausitz), Martin FDP 27.04.2012 Nord, Thomas DIE LINKE 27.04.2012 Pflug, Johannes SPD 27.04.2012 Röspel, René SPD 27.04.2012 Dr. Röttgen, Norbert CDU/CSU 27.04.2012 Roth, Michael SPD 27.04.2012 Rupprecht (Tuchen- bach), Marlene SPD 27.04.2012* Schäffler, Frank FDP 27.04.2012 Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 27.04.2012 Schlecht, Michael DIE LINKE 27.04.2012 Schneider, Ulrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.04.2012 Dr. Schockenhoff, Andreas CDU/CSU 27.04.2012 Dr. Schwanholz, Martin SPD 27.04.2012 Süßmair, Alexander DIE LINKE 27.04.2012 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 27.04.2012 Werner, Katrin DIE LINKE 27.04.2012 Dr. Westerwelle, Guido FDP 27.04.2012 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 27.04.2012 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 20962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 (A) (C) (D)(B) Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Eigenständige Ju- gendpolitik – Mehr Chancen für junge Men- schen in Deutschland (Tagesordnungspunkt 38) Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Als letzten Tages- ordnungspunkt debattieren wir heute den Antrag von CDU, CSU und FDP zur eigenständigen Jugendpolitik. Der christlich-liberalen Koalition geht es dabei um mehr Chancen für junge Menschen in Deutschland. Wir werden gemäß dem Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP eine eigenständige Jugendpolitik, eine starke Jugendhilfe und eine starke Jugendarbeit eta- blieren, die junge Menschen teilhaben lässt und ihre Potenziale fördert und ausbaut. Eine eigenständige Ju- gendpolitik, für die wir uns mit diesem Antrag einsetzen, ist gesellschaftlich relevante Zukunftspolitik. Sie ver- langt eine unverzweckte Betrachtung der Jugendphase. Wichtig war uns in diesem Zusammenhang, mit Ju- gendlichen ins Gespräch zu kommen. Wie wollen Ju- gendliche heute partizipieren? Bewusst haben wir uns mit dieser Frage an die Jugendlichen selbst gewandt – und weniger an die „Berufsjugendlichen“, auch wenn diese in den Jugendverbänden sehr wertvolle Arbeit leis- ten. Unser Ziel ist es, dass sich Jugendliche entsprechend ihren eigenen Interessen und Stärken weiterentwickeln können, dass sie bei aller Frühförderung, den stetig an- steigenden Anforderungen an Wissen und Kompetenz, der Beschleunigung und Verdichtung von Bildungsbio- grafien Raum für sich selber haben, dass sie Kompeten- zen für eine soziale, kulturelle und politische Teilhabe erlernen können, dass sie selbstbestimmt und demokra- tisch handeln können, dass sie in Freiheit und Verant- wortung nachhaltige Entscheidungen für die Zukunft treffen können. Diese Fähigkeiten werden vor allem in nichtformalen und informellen Zusammenhängen, jenseits formaler Leistungsanforderungen, gelernt: in der Gruppe mit Gleichaltrigen und in der Auseinandersetzung mit den eigenen Interessen und Bedürfnissen. Daher kommt neben der formalen Bildung der nonformalen und kultu- rellen Bildung eine immens wichtige Bedeutung zu. Ins- besondere die Jugend(verbands)arbeit ist ein Ort nonfor- malen Lernens, den CDU, CSU und FDP stärken wollen. Unser Ziel ist es auch, dass sich Jugendliche gesell- schaftlich engagieren können. Dies ist uns mit dem Er- folgsmodell des Bundesfreiwilligendienstes und der Stärkung der Jugendfreiwilligendienste gelungen. Im neuen Bundesfreiwilligendienst engagieren sich auch nach der Aussetzung des Zivildienstes sehr viele Jugend- liche; hier sind seit dem Start im Juli 2011 inklusive Ab- brechern – die Quote liegt bei zwölf Prozent – über 40 000 Verträge zustande gekommen. Aktuell leisten über 33 000 Frauen und Männer einen Bundesfreiwilli- gendienst. Bei 35 000 verfügbaren Plätzen ist dieser Be- werberandrang enorm – und Beleg für die erstklassige Arbeit der christlich-liberalen Koalition. Um die eigenständige Jugendpolitik auch gesell- schaftlich zu verankern, wollen wir unter Federführung des BMFSFJ eine „Allianz für die Jugend“ gründen. Ein solches breites Bündnis mit Vertretern der Kinder- und Jugendhilfe und Akteuren, die in der Lebensphase Ju- gend relevant sind, ist Voraussetzung für die Entwick- lung weiterer konkreter Beiträge. All diese Maßnahmen zeugen von einer modernen Ju- gendpolitik. Dafür steht die Union, dafür steht die christ- lich-liberale Koalition. Alles andere als eine moderne Jugendpolitik haben wir unter Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen erlebt – nämlich gar keine! Zwar hat die Minderheitsregierung, wie es ihre Masche war, munter nach Übernahme der Regierungsgeschäfte Geld verteilt – für den Jugendför- derplan gab es da mal eben 20 Millionen Euro mehr –, aber das Geld wurde, wie üblich, ohne Sinn und Ver- stand verteilt. Kein Konzept! Keine Idee! Keine Innova- tion! Nichts! Nur verantwortungsloses Schuldenmachen. Das ist die Politik, die Nordrhein-Westfalen seit 2010 beglückt. Kein Konzept in der Jugendpolitik! Nichts passiert in fast zwei Jahren. Jugendpolitik in Nordrhein-Westfalen unter Rot-Grün findet unterhalb der Wahrnehmungs- grenze statt. Jugendministerin Ute Schäfer ist gleichzeitig auch zu- ständig für die Bereiche Kunst und Kultur. Die FAZ schreibt am 16. März 2012: „Es war die Regierung mit der kürzesten Amtszeit in der Geschichte Nordrhein- Westfalens, sie hat den Haushalt mit der höchsten Neu- verschuldung belastet und wie keine vor ihr die Kultur- politik vernachlässigt.“ Immerhin hat Schäfer sich be- müht, gegen diese Wahrnehmung anzukämpfen. Sie hat in ihrer Amtszeit über 150 Pressemitteilungen zu Kunst und Kultur veröffentlicht. Trotzdem kommt die Presse zu dem fatalen Ergebnis, dass nichts passiert ist. Aber in der Jugendpolitik hat sie noch nicht einmal das versucht. Die gerade 45 Pressemitteilungen des Ju- gendministeriums – ganze 70 Prozent weniger als im nicht wahrnehmbaren Kulturbereich – in 21 Monaten dokumentieren diese Taten- und Hilflosigkeit in der Ju- gendpolitik in Nordrhein-Westfalen: Kein neues Kon- zept. Keine zündende Idee. Keine Innovation. Nichts! Weder in der Jugendpolitik noch in der politischen Bil- dung oder im Medienschutz. Der angekündigte Jugend- medienschutz-Staatsvertrag ist gescheitert. Nichts ist passiert. Und dort, wo die rot-grüne Minderheitsregierung ver- sucht, Prioritäten zu setzen, bleibt sie hinter ihren An- kündigungen zurück. Man versucht den Eltern in NRW ein ums andere Mal zu erklären, warum man immer noch Schlusslicht beim Ausbau von U-3-Plätzen ist, und freut sich über den angeblich so großen Zuwachs von 16 000 neuen Plätzen im laufenden Jahr. Gleichzeitig sagt man, dass bis zum 1. August 2013 – also bis zur Umsetzung des Rechtsanspruchs – noch 27 000 Plätze fehlen. Wenn 16 000 Plätze schon Anlass zur Freude Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20963 (A) (C) (D)(B) sind, wie will Rot-Grün 27 000 Plätze in einem Jahr schaffen? Zumal jetzt schon klar ist, dass auch diese nicht reichen werden, um den tatsächlichen Bedarf zu decken. Das ist nichts, und das wird auch nichts mehr. Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen macht keine Ju- gendpolitik, zu wenig für unsere Kleinsten und hinter- lässt der Jugend stattdessen einen immer größeren Schuldenberg. Das ist die Jugendpolitik in Nordrhein- Westfalen, das ist die verantwortungslose Regierungs- bilanz, die wir nach den Wahlen ändern werden. Einen erfreulichen Vorgeschmack hierauf gibt Norbert Röttgen: Er hat als Bundesumweltminister er- reicht, dass Kinderlärm kein Grund mehr zur Klage sein kann. Wir gehen als sehr gutes Beispiel im Bund voran – für die Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Mit dem vorliegen- den Antrag der christlich-liberalen Koalition betreten wir ein gutes Stück jugendpolitisches Neuland. Über viele Jahre haben wir Politik für Jugendliche hauptsäch- lich aus einer Perspektive heraus betrachtet, bei der ein problemzentrierter Ansatz vorherrschte. Jugendpolitik wurde hauptsächlich als Instrument genutzt, um im Um- gang mit „problematischen“ Jugendlichen Antworten zu liefern. Dies hat vielfach sicherlich seine Berechtigung. Aber dieser Ansatz zeichnet ein sehr unvollständiges Bild von Jugendlichen mit ihren individuellen Interessen und Problemlagen. Was antworten wir der großen An- zahl von Jugendlichen, die nicht durch Gewalt, Extre- mismus, Suchterfahrungen oder Armut in unseren Fokus rücken, sondern sich ganz unauffällig auf den Weg bege- ben, ihr zukünftiges Leben zu gestalten? Welche Per- spektiven geben wir, um sie auf ihrem Weg zu unterstüt- zen? Es ist der christlich-liberalen Koalition ein großes Anliegen, genau diese Gruppe in den Blick zu nehmen und ihnen Angebote machen zu können. Wir sind der Meinung: Auch die „ganz normalen“ Jugendlichen ha- ben Anspruch auf einen Politikansatz, der auch sie ein- bezieht. Wir sind dem Ministerium in diesem Zusammenhang sehr dankbar, dass viele Punkte unseres Antrags auf sehr fruchtbaren Boden gefallen sind. Eine Reihe bereits lau- fender Initiativen wie die Allianz für die Jugend zeigen ja bereits, dass dieser Ansatz geteilt wird. Ein ganz zentraler Punkt ist dabei aus meiner Sicht die Beteiligung der jungen Menschen an der Gestaltung des für sie relevanten Umfelds. Wir sind der Meinung, dass Partizipation, das heißt die Beteiligung, der Jugend- lichen an für sie wichtigen Entscheidungen größer ge- schrieben werden muss als bislang. Klar ist, dass kon- krete Partizipation häufig vor Ort gestaltet wird. Zentral sind dabei immer auch die örtlich handelnden Personen. Wir müssen darauf achten, dass Partizipation keine Flos- kel in Sonntagsreden ist, sondern durch gelebtes Han- deln unterlegt wird. Wir müssen den Jugendlichen zei- gen: Wir nehmen euch ernst, es ist uns wichtig, was ihr denkt, wir entscheiden nicht über eure Köpfe hinweg. Dies ist ein Querschnittsprozess auf allen Ebenen. Umso wichtiger ist es, dass auch der Rahmen, den der Bund dafür schaffen kann, eindeutig ist. Der vorliegende An- trag leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Ein wichtiger Ansatzpunkt für die Einbeziehung von Jugendlichen ist der Kinder- und Jugendplan des Bundes als das zentrale Förderinstrument für Kinder und Ju- gendliche. Wir wollen, dass junge Menschen zukünftig besser in die entsprechenden Planungen eingebunden sind. Dazu ist es notwendig, den Kinder- und Jugendplan gerade für seine Adressaten transparenter zu gestalten, um eine Grundlage für Partizipation zu schaffen. Manch eine bestehende Struktur im KJP muss dabei sicherlich auch hinterfragt werden. Ich bin dem Familienministe- rium in diesem Zusammenhang sehr dankbar, dass die zuständigen Mitarbeiter sehr behutsam und vertrauens- voll mit den Trägern zusammenarbeiten und ein sehr sachbezogener Dialog gerade im Zusammenhang mit der Evaluation des bestehenden Plans auf den Weg gebracht werden konnte. Ich bin mir sicher, dass die daraus resul- tierenden Ergebnisse sehr positive Auswirkungen auf unseren Ansatz haben werden. Aus meiner Sicht gibt es keinerlei Zweifel daran, dass junge Menschen heute die Bereitschaft mitbringen, ihr Umfeld mit Engagement und viel individuellem Einsatz zu gestalten. Einen Hinweis darauf gibt bereits der fan- tastische Erfolg, den wir mit dem Bundesfreiwilligen- dienst auf den Weg bringen konnten. In großer Zahl be- teiligen sich junge Menschen an der Gestaltung der sozialen Wirklichkeit und übernehmen ganz individuell Verantwortung für ihr Umfeld. Dass die vom Bund ge- förderten Plätze nicht ausreichen, um die komplette Engagementbereitschaft der jungen Generation aufgrei- fen zu können, zeigt nicht nur, dass die Opposition mit ihrer Schwarzmalerei völlig danebenlag. Es zeigt vor al- len Dingen, dass junge Menschen ihr Umfeld gestalten wollen, wenn sie die Gelegenheit dazu erhalten. Ein wichtiger Aspekt, mit dem wir uns auseinander- gesetzt haben, ist die Frage, welche Antworten Jugend- politik auf die Frage der Digitalisierung unserer Gesell- schaft geben muss. Ein nicht zu unterschätzender Teil der Lebenswelt junger Menschen spielt sich heute in sozialen Netzwerken ab. Längst ist das Internet keine Spielerei von einer kleinen Gruppe mehr, sondern kon- stituierender Bestandteil des Aufwachsens einer ganzen Generation. Dies darf nicht spurlos an unseren jugend- politischen Vorstellungen vorbeigehen. Uns ist aufgetra- gen, die Digitalisierung in unseren Sätzen mit zu beden- ken. Mit einer ganzen Reihe von Vorschlägen tun wir dies in diesem Antrag. Ein Vorschlag, der mir in diesem Zusammenhang be- sonders wichtig ist, ist die Forderung, zukünftig für jede Schülerin und jeden Schüler ein Laptop bereitzustellen, damit die jungen Menschen gleichberechtigt und auf Au- genhöhe Erfahrungen mit der multimedialen Welt sam- meln und Medienkompetenz in der Schule erlangen können. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, Schule als eine analoge Welt zu betrachten und uns mit ein paar Stunden Informatikunterricht zufriedenzugeben. Denn Medienkompetenz darf nicht zu einer zufälligen Frage oder gar zu einer Frage der Generationen werden. 20964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 (A) (C) (D)(B) Wichtig ist mir an dieser Stelle, darauf hinzuweisen, dass erfolgreiche Jugendpolitik individuell gestaltet sein muss. Wer dem Glauben unterliegt, man könne mit stan- dardisierten Strategien und Angeboten die Lebenswirk- lichkeit von jungen Menschen treffen, wird scheitern. Dies gilt sowohl auf das Alter als auch auf die einzelnen Interessenslagen innerhalb einer Altersgruppe bezogen. Hier liegt im Kinder- und Jugendplan, der die Flexibili- tät bietet, auf die heterogenen Lebenswirklichkeiten jun- ger Menschen Antworten zu geben, eine erhebliche Strahlkraft. Wichtig ist aber auch: Wir brauchen Men- schen, die in den Strukturen Verantwortung haben und Beteiligung leben. Die Beteiligung von Jugendlichen kann man nicht staatlich verordnen; da braucht es auf den einzelnen Ebenen eine Sensibilität, nach dem Motto: Lasst die jungen Leute machen. Wir müssen also Ju- gendlichen die Chance geben, Verantwortung zu über- nehmen. Und ich bin der festen Überzeugung, dass diese junge Generation es schafft, sich selbst etwas aufzu- bauen und etwas zu erreichen. Wir müssen ihnen dafür nur die Gelegenheit geben. Auch das will eigenständige Jugendpolitik erreichen. Das ist aus meiner Sicht die große Herausforderung. Und das ist ein langer Prozess. Wir haben noch ein paar Schritte vor uns, doch wir sind zum Glück auch schon einige gegangen. Der vorliegende Antrag, für den ich Sie um Ihre Zustimmung bitte, ist dabei ein wichtiger An- satz. Stefan Schwartze (SPD): Die SPD begrüßt aus- drücklich die Absicht, eine eigenständige Jugendpolitik zu entwickeln. Im Sommer 2011 hatte die Bundesregierung Eck- punkte dafür vorgelegt. Seither war nicht mehr viel zu hören. Wir haben daher in dieser Woche eine Kleine An- frage auf den Weg gebracht, um zu erfahren, wie es um die Umsetzung steht. Schwarz-Gelb legt nun einen Antrag zur eigenständi- gen Jugendpolitik vor. Er greift Punkte auf, die die SPD begrüßt. Gegen einen Preis „Jugendfreundlichste Ge- meinde Deutschlands“ ist nichts einzuwenden. Auch das Ziel, das Projekt „U18-Wahl“ im Haushalt 2013 finan- ziell abzusichern, ist gut. Das hatte die SPD schließlich schon für den Haushalt 2012 gefordert. Bei unseren Anträgen ist Kopieren ausdrücklich er- laubt. Das Wichtigste ist aber, das wir endlich gemeinsam über eine eigenständige Jugendpolitik diskutieren. Leider nimmt Ihr Antrag nur einen Teil der Jugend- politik in den Blick. Er beschränkt sich auf Partizipation, Zusammenarbeit mit den Ländern und Kommunen, kul- turelle Bildung und Medien. Auch die Forderungen zu den einzelnen Teilbereichen sind nicht der große Wurf. So soll zum Beispiel die kulturelle Bildung verbessert werden, in dem als einzige Maßnahme ein „Praxishand- buch Kulturelle Bildung“ erstellt wird. Die SPD will eine eigenständige Jugendpolitik the- matisch breiter aufstellen. Entscheidend ist, dass Jugend- politik sich als Interessenvertretung für junge Menschen versteht. Sie muss ressortübergreifend gedacht werden. Die SPD will weder eine defizitorientierte noch eine elitefixierte Politik. Unsere Leitbilder sind Chancen- gleichheit und Inklusion. Wir wollen alle befähigen, ihre Talente zu entdecken und ihre Persönlichkeit zu entwi- ckeln. Wir wollen allen jungen Menschen Aufstieg durch gleiche Chancen und echte Teilhabe ermöglichen. Im Bildungssystem brauchen junge Menschen auch zweite und dritte Chancen. Es muss möglich sein, sich auszuprobieren und auch mal Fehler zu machen. Jugend braucht Freiräume. Junge Menschen brauchen Unterstüt- zung beim Übergang von Schule in den Beruf. Sie brau- chen einen Rechtsanspruch auf einen Schulabschluss und eine Berufsausbildung. Wir dürfen keinen jungen Menschen zurücklassen. Zur Jugendbildung gehören neben der kulturellen Bil- dung auch die politische Bildung, die sportliche Bildung und die informelle und nonformale Bildung. Hier darf nicht gekürzt werden, wie Sie es zum Beispiel bei der politischen Bildung tun. Diese Bereiche müssen vom Bund gefördert und weiterentwickelt werden. Dazu in Ihrem Antrag kein Wort! Eine eigenständige Jugendpolitik ist mehr als das, was hier auf dem Tisch liegt. Sie braucht das notwendige Geld, das in Ihren An- trägen bislang gar keine Rolle spielt. Nehmen Sie unsere Vorschläge ernst, und lassen Sie uns diskutieren. Sönke Rix (SPD): Die Koalitionsfraktionen haben die Kritik von Organisationen, Verbänden, Wissenschaft und nicht zuletzt der Opposition ernst genommen. Unter dem Titel „Eigenständige Jugendpolitik – Mehr Chancen für junge Menschen in Deutschland“ soll die Phase der Jugend in den Fokus gerückt werden und eine eigenstän- dige Jugendpolitik formuliert werden. In dem Antrag wird angekündigt, politisch nicht nur auf sogenannte Problemgruppen eingehen zu wollen, sondern alle Ju- gendlichen zu berücksichtigen. Diese Herangehensweise begrüßen wir. Es ist heute wichtiger denn je, junge Men- schen zwischen 14 und 25 im Blick zu haben, ihnen gute Rahmenbedingungen zu bieten, ihnen ein sicheres und gerechtes Aufwachsen zu ermöglichen; denn der Druck auf diese Gruppe wächst, wie wir alle wissen, stetig. Allerdings habe ich noch Zweifel daran, dass Union und FDP tatsächlich ihr Bild von der Jugend gerade- rücken wollen. Ich erinnere an dieser Stelle an den soge- nannten Warnschussarrest, den der Koalitionsausschuss Anfang März beschlossen hat. Wieder einmal ging es da um kriminelle Jugendliche. Für eine populistische For- derung sind Jugendliche und ihr Fehlverhalten anschei- nend nach wie vor immer mal wieder gut. Ihr Antrag ist meiner Ansicht nach kein großer Wurf. Zwar werden wichtige Elemente einer guten, eigenstän- digen Jugendpolitik genannt, wie beispielsweise Partizi- pation, Medienkompetenz und kulturelle Bildung. Aber: Wichtige Bereiche fehlen oder tauchen nur in schwam- migen oder nebulösen Ankündigungen auf. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20965 (A) (C) (D)(B) Als zuständiger Berichterstatter kann ich nicht umhin, Ihren Beitrag zum Bundesfreiwilligendienst zu kom- mentieren. Sie schreiben: Der von CDU/CSU und FDP beschlossene qualita- tive wie quantitative Ausbau der Jugendfreiwilli- gendienste und der Aufbau des neuen Bundes- freiwilligendienstes haben in diesem Sinne die Bildungsfähigkeit junger Menschen gestärkt und zusätzliche Angebote zur persönlichen Entwick- lung geschaffen. Wenn man sich aber nun genauer mit der Schaffung des Bundesfreiwilligendienstes befasst – und das ist ja alles noch nicht allzu lange her –, ging es Ihnen doch im Kern nicht darum, eine neue Engagementmöglichkeit für Ju- gendliche zu schaffen. Vielmehr sollte ein Ersatz für den Zivildienst geschaffen werden, der Ihnen relativ überra- schend abhandengekommen ist. Dabei ging es Ihnen in erster Linie um die Arbeit, die die Zivildienstleistenden übernommen haben, und nicht um die Jugendlichen selbst. Deshalb: Verdrehen Sie hier bitte nicht die Tatsa- chen! Wäre es Ihnen um die Jugendlichen und ihre hohe Engagementbereitschaft gegangen, hätten Sie unseren Vorschlag zu einer massiven Ausweitung der Jugendfrei- willigendienste aufnehmen können. Klar: Diese haben Sie auch gestärkt, weil die Träger ansonsten den BFD nicht akzeptiert hätten. Aber tun Sie doch bitte nicht so, als ob die Einführung des BFD eine jugendpolitische Maßnahme gewesen wäre! Sie widmen in Ihrem Antrag ein Kapitel auch der Ju- gendpolitik im nationalen und europäischen Kontext. Das ist ein wichtiges Thema. Ich gebe Ihnen recht, wenn Sie schreiben: „Eine moderne Jugendpolitik kann an na- tionalen Grenzen keinen Halt machen. Der Erhalt eines eigenständigen Jugendprogramms der Europäischen Union ist deswegen von zentraler Bedeutung.“ Beim Le- sen des Antrags habe ich mir aber immer wieder die Frage gestellt, welchen Stellenwert eine andere wichtige politische Ebene von Ihnen erfährt: Die Kommune. Im Forderungsteil wird zwar kurz erwähnt, dass die Kom- munen darin bestärkt werden müssten, die Verantwor- tung für die Koordinierung und Vernetzung zwischen al- len Beteiligten und Angeboten vor Ort wahrzunehmen. Aber was bedeutet das konkret? Wir haben in den letzten Jahren erlebt, mit welchen Schwierigkeiten die Kommunen zu kämpfen haben. Da- bei sind sie für eine gute, eigenständige Jugendpolitik essenziell: Die Kommune spielt bei der Gestaltung von Jugendpolitik eine entscheidende Rolle: Hier wachsen die Jugendlichen auf, hier werden Entscheidungen ge- troffen, die Jugendliche sofort und unmittelbar spüren und die sie – sofern es ausreichend Partizipationsmög- lichkeiten gibt – beeinflussen können. Insofern ist die Auszeichnung einer in diesem Feld vorbildlichen Kommune, wie Sie es vorschlagen, ein sinnvoller Baustein. Jedoch muss dafür gesorgt sein, dass die Kommunen ihren Aufgaben auch gerecht wer- den können. Kürzungen, wie sie Schwarz-Gelb in den letzten Jahren vorgenommen hat, zum Beispiel beim Programm „Soziale Stadt“, sind da ganz und gar nicht hilfreich gewesen. Dort, wo soziale Infrastruktur weg- bricht, werden antidemokratische Strukturen gestärkt. Wir meinen: Kommunen müssen als Lebensorte wei- ter gestärkt werden. Die öffentliche Daseinsvorsorge muss mit Leben erfüllt werden. Städte und Gemeinden müssen mit soliden finanziellen Mitteln ausgestattet werden. Dazu verlieren Sie in Ihrem Antrag kein Wort. Florian Bernschneider (FDP): Dass wir heute die Gelegenheit haben, mit dem vorliegenden Antrag über Jugendpolitik zu diskutieren, ist – im Rückblick auf die letzten Legislaturperioden – leider keine Selbstverständ- lichkeit. Dass das so ist, hat zweifelsohne auch gesell- schaftliche Gründe: Wir alle wissen, dass in den letzten Jahren in der Familienpolitik vor allem Kinder im Fokus standen. Zum Beispiel bei Diskussionen um den Ausbau von Kita- und Krippenplätzen, schrecklichen Fällen von Kindesvernachlässigungen oder der frühkindlichen Bil- dung. All diese Diskussionen, sie waren und sind richtig und wichtig. Und trotzdem darf das nicht dazu führen, dass wir die Belange Jugendlicher aus dem Blick verlie- ren. Und wenn in den letzten Legislaturperioden mal über Jugendliche diskutiert wurde, dann ging es in der Regel um Verbote: Beispielsweise um Flatratepartyver- bote, weil Jugendliche angeblich zu viel trinken, oder um Killerspielverbote, weil sie angeblich zu viele und die falschen Computerspiele spielen. Und so muss man selbstkritisch festhalten, dass auch solche Diskussionen leider zu dem in den Medien häufig gezeichneten Zerrbild Jugendlicher beigetragen haben, einem Zerrbild, wonach die Jugendlichen nicht in der Lage wären, die nötige Verantwortung für sich und un- sere Gesellschaft zu tragen. Den Gegenbeweis haben wir bereits mit der Reform der Freiwilligendienste angetreten: Denn hier beweisen Jugendliche tagtäglich, von Flensburg bis Konstanz, dass sie ohne jeden staatlichen Zwang bereit sind, Ver- antwortung für sich und andere zu übernehmen, und das in einem Ausmaß, das selbst die optimistischste Progno- sen von uns allen übertrifft. Dass CDU, CSU und FDP auch hier die klassische Verantwortung der Jugendpolitik, nämlich die Unterstüt- zung und Förderung Schwächerer, nicht aus dem Blick verloren haben, beweist die zusätzliche Förderung bei besonderem pädagogischen Bedarf. Trotzdem muss es unser Anspruch sein, mit einer eigenständigen Jugend- politik alle junge Menschen in den Blick zu nehmen und diese mehr als früher als Querschnittaufgabe zu verste- hen. Dass wir diesen Weg verfolgen, sehen Sie zum Bei- spiel daran, dass wir die Mobilitätsherausforderungen, vor denen Jugendliche stehen, nicht nur mit dem Pro- gramm „Auswärts zuhause“ ernst nehmen, sondern auch in der Verkehrspolitik mit dem Führerschein ab 17. Mit dem vorliegenden Antrag nehmen wir uns aber weiterer Herausforderungen an. Zum Beispiel im Be- 20966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 (A) (C) (D)(B) reich der Partizipation. Das Lieblingswort eines jeden Jugendpolitikers, das in keiner Sonntagsrede fehlen darf. Überall wird mehr Partizipation gefordert. Aber wenn es dann konkret wird, ziehen wir uns als Bundespolitiker gerne aus der Verantwortung und erklären, dass die poli- tische Beteiligung Jugendlicher ja primär in den Kom- munen gelebt und umgesetzt werden müsse. Das ist un- befriedigend, und hier wollen wir ansetzen. Deshalb streben wir in diesem Antrag ein ganzes Bündel an Maß- nahmen an, wie der Bund in Kooperation mit Ländern und Kommunen mehr Partizipation und Beteiligung jun- ger Menschen gewährleisten kann. Diese Vorschläge er- strecken sich über die Erarbeitung von Beteiligungs- instrumenten in Zusammenarbeit mit den kommunalen Spitzenverbänden bis hin zur Reform des zentralen mo- netären Instruments des Bundes in der Kinder- und Ju- gendpolitik, des Kinder- und Jugendplans. Wer die Jugendpolitik voranbringen will, muss sich aber auch an der Lebensrealität junger Menschen in un- serem Land orientieren. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Lebensrealität sind die neuen Medien, deren Chancen, zum Beispiel zur Partizipation, wir mit einer stärkeren Förderung der Medienkompetenz nutzen wol- len. Zugleich dürfen wir die Augen vor den Herausforde- rungen, die die neuen Medien mit sich bringen, aber nicht verschließen. Deswegen unterbreiten wir mit dem vorliegenden Antrag Vorschläge, wie auf eben diese He- rausforderungen vonseiten des Bundes und in Koopera- tion mit den Ländern – Stichwort Lehreraus- und -fort- bildung – adäquat reagiert werden kann. In diesem Sinne freue mich auf Ihre Anregungen und auf eine hoffentlich konstruktive Antragsberatung. Diana Golze (DIE LINKE): Nun endlich liegt er vor, der lange angekündigte Antrag der Regierungsfraktionen zur eigenständigen Jugendpolitik. Im Koalitionsvertrag von 2009 hatte man sich auf Aktivitäten dazu verstän- digt, inzwischen schreiben wir das Jahr 2012. Bislang widmete sich die Bundesregierung, wenn überhaupt, nur den Problemen, die Jugendliche machen, und nicht den Problemen, die Jugendliche haben. Schauen wir uns also Ihre Vorhaben mal genauer an. Ich zitiere aus dem Antrag: „Eigenständige Jugend- politik bedeutet auch, gleiche Chancen am Start zu schaffen, ohne Ergebnisgleichheit am Ziel zu verordnen. Sie unterstützt Jugendliche, wo es nötig ist, und befähigt sie, ohne zu bevormunden.“ Und weiter: „Junge Men- schen mit sozialen Benachteiligungen oder individuellen Beeinträchtigungen haben oftmals einen besonderen Un- terstützungsbedarf, dem durch passgenaue Maßnahmen Rechnung getragen werden muss, um gerechtere Start- chancen für diese jungen Menschen zu schaffen.“ Zitat Ende. Doch was tun Sie stattdessen? Sie kürzen beim Pro- gramm „Jugend stärken“. Sie kürzen im Bereich der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Gerade ges- tern haben Sie unseren Antrag abgelehnt, die diskrimi- nierenden Regelungen bei jungen Erwachsenen unter 25 Jahren im SGB II zurückzunehmen. Dort steht: Ein Erwachsener muss ein Amt um Erlaubnis bitten, wenn er bei seinen Eltern ausziehen und eigenständig leben möchte. Der Regelsatz für Jugendliche in Bedarfsge- meinschaften beträgt nur 80 Prozent von dem eines al- leinstehenden Erwachsenen. Sind Jugendliche keine ganzen Menschen? Ist das etwa Ihre eigenständige Ju- gendpolitik? Auch in anderen Politikbereichen setzt sich die Gän- gelung der Jugendlichen fort. So müssen zum Beispiel Jugendvereine ausgerechnet beim Bundesprogramm für Toleranz und Vielfalt eine sogenannte Extremismusklau- sel unterzeichnen, wenn sie Fördermittel bekommen wollen. Sie werden damit unter einen Generalverdacht gestellt, und eigenständige Entscheidungen werden ih- nen abgesprochen. Immer wieder sind Gerichtsentscheidungen notwen- dig, um die Bundesregierung an die Rechtsstaatlichkeit ihrer Politik zu erinnern. Gerade in dieser Woche über- gab das Sozialgericht Berlin die Frage der Höhe der Re- gelsätze im SGB II an das Bundesverfassungsgericht. Das Verwaltungsgericht Dresden beanstandete die Extre- mismusklausel. Ist das Ihre Art der Demokratiebildung, die Sie in Ihrem Antrag fordern? Heute Nachmittag haben hier im Plenum die Regie- rungsfraktionen dem Bundestag begründet, warum sie das Jugendstrafrecht verschärfen wollen, indem Sie den Warnschussarrest für jugendliche Straftäter ermöglichen. Von Förderung und Prävention war dabei keine Rede. Ist das der ganzheitliche Ansatz für diesen Lebensabschnitt, von dem im Antrag die Rede ist? Das Wort „Jugendarmut“ fehlt in Ihrem Antrag kom- plett. Wenn man dieses zunehmende Problem junger Menschen jedoch ausblendet, hilft auch eine „Allianz für Jugend“ nicht, denn wer das Problem nicht zur Kenntnis nehmen will, wird auch keine Lösungsansätze dafür ent- wickeln. Zusammenfassend lässt sich also feststellen: Nach der langen Phase der Ankündigung dieses Antrags hätte ich mir wahrlich mehr Interesse für die Lebenswirklichkeit junger Menschen in unserem Land gewünscht und, da- raus abgeleitet, mehr und qualifiziertere Initiativen der Bundesregierung. Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist gut, die Jugendpolitik als eigenständigen Politikbereich hier im Deutschen Bundestag zu debattieren. Das ge- schieht viel zu selten. Es ist aber auch kein Wunder: denn die Impulse und Maßnahmen der Bundesregierung und der Koalition waren und sind wirklich bescheiden. Im vorgelegten Antrag geht es um einen eigenen Quer- schnittbereich Jugend. Das ist ein richtiger, notwendiger Ansatz. Das ist auch deshalb wichtig, weil jugendpoliti- sche Anliegen zu oft eben nur im Kontext eines anderen, dann übergeordneten Sachverhalts, wie etwa Bildungs- oder Arbeitsmarktpolitik, behandelt werden. Allerdings wird nach Lektüre des Antrags klar, dass es nach wie vor keine schwarz-gelbe Konzeption gibt, das Ziel einer ei- genständigen Jugendpolitik praktisch zu erreichen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20967 (A) (C) (D)(B) Im Antrag werden einige Facetten der Jugendpolitik zunächst völlig unsystematisch nebeneinandergestellt. Dann folgen eine Reihe von Absichtserklärungen. Die lesen sich zunächst ganz nett. Aber sie bleiben inhaltlich weitgehend unbestimmt. Sie fügen sich nicht in eine Ge- samtkonzeption, sondern sind eher wahllos aneinander- gereiht. In der Sache selber sind sie außerordentlich un- ambitioniert. Und bei fast allen dieser Punkte muss man fragen: Wieso schafft die Koalition diesen Aufschlag erst nach zweieinhalb Jahren Amtszeit? Und warum kommt dann nur so etwas Zaghaftes und Unfertiges dabei heraus? Ein schönes Beispiel, wie lange der jugendpolitische Schlaf der Koalition schon andauert: Im Antrag wird als erstes: „Die Festlegung im Koalitionsvertrag…eine eigenstän- dige Jugendpolitik…zu etablieren…“ begrüßt. Klartext: Wir nehmen jetzt in 2012 der Vertrag von 2009 zur Kenntnis. Na wunderbar! Wenn es im Antrag mal konkret wird, werden die Dinge beschönigt: Entgegen der Feststellung im Antrag hat die Bundesregierung eben noch nicht dafür gesorgt, „dass Kinderlärm kein Grund mehr zur Klage sein kann“. Da ist zwar ein Verfahren im Gange. Aber das ist eben noch nicht abgeschlossen. Und es ist derzeit wohl leider auf einem schlechten Weg, wenn man sich den Re- ferentenentwurf zum Baugesetz anschaut! Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Das Deutschlandstipendium – 10. – ist ein totaler Flop und keine jugendpolitische Er- rungenschaft. Auch der Forderungsteil stimmt unzufrieden. Irgend- wann soll wohl eine „Allianz für Jugend“ initiiert wer- den. „Wenn’s nützt“ möchte man sagen. Natürlich kann so eine Maßnahme nicht schaden; der üblicherweise le- diglich anregende, appellative Charakter solcher Allian- zen ist aber bei Weitem nicht ausreichend. Diesem Punkt schließt sich die Forderung an, es sollten dazu bisherige Erfahrungen aus der EU-Jugendstrategie genutzt wer- den. Die Koalition hat offenbar so wenig auf der Pfanne, dass sie absolute Selbstverständlichkeiten zu eigenen Forderungspunkten aufbauscht. Natürlich wird man jed- wede fundierte Erfahrung sinnvoll zu nutzen versuchen. Ähnlich substanzarm wird es an der Stelle, an der die Koalition empfiehlt, eine „querschnittliche Jugendpoli- tik“ zu entwickeln. Das ist doch klar, dass das nur als Querschnittsaufgabe funktionieren kann. Gespannt darf man auf die Umsetzung einer solchen Querschnittpolitik durch die Bundesregierung sein. Wir haben ja jüngst beim dringlichen Kinderschutz gesehen, dass BMFSFJ und BMG schlichtweg nicht kooperationsfähig waren. Da möchte ich mal sehen, wie Frau Schröder demnächst mit Herrn Bahr und Frau von der Leyen einvernehmlich Jugendpolitik macht. Es geht im Antrag dann weiter mit Forderungen nach Impulsen, Erprobungen und vielem mehr, was Zeit braucht und unverbindlich ist. Hinsichtlich der Partizipa- tion wird man jedoch ein wenig „konkreter“: Es soll eine Studie her. Und mit den Kommunen sollen mal Beteili- gungsinstrumente überlegt werden. Das, was die Koali- tion hier auftischt, ist doch reine Augenwischerei. Die Instrumente gibt es, sie funktionieren, sie müssen nur endlich umgesetzt werden. Dazu muss ein glaubhaftes Konzept her. Und es fehlen wichtige Punkte, die ich hier nur kurz anreißen kann. Ganz wichtig ist dabei die Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen im Grundgesetz. Wir brauchen klar geregelte, verbindliche Beteili- gungsrechte in Jugendinstitutionen. Wir brauchen die verbriefte Berücksichtigung von Ju- gendbelangen in den Gemeindeordnungen. Wir müssen die Diskussion über Ombudschaften in der Jugendhilfe führen. Und die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahren wäre zeitgemäß und überfällig. Das wäre die wirksame Alternative zu Ihrem Alibi-Projekt „U18-Wahl“, Forde- rung 20. Aber all diese Bereiche bleiben eine Leerstelle der Koalition. Deswegen muss man abschließend festhalten: Mit diesem Antrag und der Debatte hakt Schwarz-Gelb mut- und kraftlos ein Thema ab, mit dem es sich noch nie richtig anfreunden konnte. Das ist mehr als bedauer- lich. Anlage 3 Neuabdruck einer zu Protokoll gegebenen Rede zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- setzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (175. Sitzung, Tages- ordnungspunkt 15) Michael Hennrich (CDU/CSU): Wir haben uns heute zur ersten Lesung des Entwurfs eines Zweiten Ge- setzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften versammelt. Es ist ein Gesetz, das nach dem AMNOG das zweite große gesetzgeberische Vorha- ben auf dem Arzneimittelsektor ist. Alles in allem lässt sich feststellen, dass es im Arzneimittelbereich gut und ruhig verläuft. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren sind bisher auch keine Entschließungsanträge der Oppo- sition eingegangen. Ich verstehe das so, dass Sie, werte Damen und Herren von der SPD, den Grünen und der Linken, mit unserer Arzneimittelpolitik durchaus zufrie- den sind. Anders, ich erinnere mich lebhaft, war das noch beim AMNOG vor gut eineinhalb Jahren. Bei der Verabschie- dung des AMNOG waren Sie noch nicht ganz so weit, und Sie haben damals bei der namentlichen Abstimmung – die übrigens bezeichnenderweise am 11.11. stattfand – geschlossen mit Nein gestimmt. Heute haben sich die Zeichen gewendet, wie ich erst neulich auf einer Veran- staltung des BPI feststellen konnte. Frau Bender von den Grünen ist im Hinblick auf das AMNOG so etwas wie der Lordsiegelbewahrer, der bereit ist, in die Bresche zu springen, wenn es Überlegungen gibt, das Gesetz zu ver- ändern. Aber in der Tat, wir können mit der Arzneimittelpoli- tik der Koalition zufrieden sein. Die mit dem GKV- 20968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 (A) (C) (D)(B) Finanzierungsgesetz verabschiedete Erhöhung des Her- stellerabschlags zeigt Wirkung. In der Folge konnten die Arzneimittelausgaben – übrigens als einziger Teilbereich des öffentlichen Gesundheitssystems – deutlich reduziert werden. Auch mit dem AMNOG haben wir Maßnahmen auf den Weg gebracht, die zu einer Stabilisierung der Arzneimittelausgaben führen. Einen wesentlichen Bei- trag hierzu leisten zweifelsohne der Apothekenabschlag und die Großhandelsvergütung. Die frühe Nutzenbewer- tung stellt in Bezug auf die Effektivität der Arzneimittel- versorgung einen wahren Quantensprung dar, und zwar ohne dass den Menschen in Deutschland der Zugang zu Innovationen verkürzt wurde. Heute wird das AMNOG im Ausland selbst von denje- nigen gepriesen, die es vor eineinhalb Jahren noch vehe- ment bekämpft haben. Auch den Vertretern des GKV- Spitzenverbands, die das Gesetz ursprünglich als „Pharma- beglückungsgesetz“ bezeichneten, konnte – wenn auch mühsam – die Wirkungsweise der Vorgaben verständlich gemacht werden. Selbst die Industrie hat das neue Sys- tem zwischenzeitlich anerkannt, sodass wir uns in erster Linie auf die Umsetzung der AMG-Novelle konzentrie- ren können. Mit dem Gesetz sollen zwei Richtlinien der Europäi- schen Union umgesetzt werden, zum einen die Richtlinie zur Pharmakovigilanz, zum anderen die Richtlinie zum Schutz vor Arzneimittelfälschungen. Beide Richtlinien verbindet das Ziel, den Schutz der Patienten und Versi- cherten im Bereich der Arzneimittelversorgung verbes- sern zu wollen. Vor diesem Hintergrund greifen sie in viele Bereiche des Arzneimittelgesetzes ein. Wir haben dadurch die Chance, einige Vorschriften ganz grundsätz- lich zu überdenken und auf den Prüfstand zu stellen. Einen großen Teil der Neuerungen halte ich für durchaus begrüßenswert. So werden etwa die Risiko- managementsysteme der Zulassungsinhaber optimiert. Und auch die Zusammenarbeit der Gesundheitsbehörden wird verbessert, indem die europäische Vernetzung end- lich forciert wird. Dem Schutz der Versicherten dient, dass etwa der Begriff der Nebenwirkung erweitert wird. § 4 Nr. 13 AMG erfasst dann auch Überdosierungen, Medikationsfehler und Missbrauch. Zugute kommt ihm auch, dass die Meldewege bei Verdachtsfällen verkürzt werden. Hier werden bereits in den Patienteninformatio- nen Hinweise zu finden sein, wohin man sich bei Ver- dachtsfällen wenden soll. Für die Fachinformation wird eine gleichlautende Regel erlassen werden. Gleichzeitig werden die Informationsmöglichkeiten der Verbraucher verbessert. Ein nationales Internetportal wird aufgebaut und mit europäischen Datenbanken vernetzt werden, um Transparenz für den Versicherten zu schaffen und ihm eine umfassende Aufklärung zu ermöglichen. Für begrüßenswert halte ich auch den Schritt, zum Schutz der legalen Vertriebswege die Anforderungen an Hersteller und Vertreiber zu konkretisieren und auf diese Weise transparenter zu gestalten. Besonders fälschungs- gefährdete Arzneimittel etwa erhalten in diesem Rahmen zusätzliche Sicherheitsmerkmale zur Identifizierung ein- zelner Arzneimittelpackungen. Die Richtlinien bringen überdies Veränderungen im Bereich Betäubungsmittel- recht sowie die Anpassung des Heilmittelwerbegesetzes an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Ich möchte nicht verschweigen, dass diese Neurege- lungen teilweise zu erheblichen finanziellen Belastungen für die Industrie führen. Allerdings halte ich – unabhän- gig davon, dass uns sowieso nur ein geringfügiger Um- setzungsspielraum verbleibt – die Vorgaben mit Blick auf Schutz und Sicherheit der Patientinnen und Patienten für notwendig. Natürlich werden wir uns im Zuge der AMG-Novelle noch einmal mit dem AMNOG beschäftigen. Allerdings muss nicht immer der Gesetzgeber Probleme lösen, manchmal obliegt diese Aufgabe allein der Selbstver- waltung. Teilkomplexe hat die Selbstverwaltung bereits guten Lösungen zugeführt; ich denke an dieser Stelle zum Beispiel an die Orphan Drugs. Trotzdem müssen die Beteiligten zukünftig weiter miteinander arbeiten und sich auf praxisgerechte Lösungen einigen. Aufmerksam beobachten wir in diesem Zusammen- hang etwa das Thema Vergleichstherapie. Hier muss bei der Auswahl der Vergleichstherapie die Frage im Mittel- punkt stehen, ob ein tatsächlicher Zusatznutzen für das neue Arzneimittel im Vergleich zum bisherigen Thera- piestandard besteht. Erst bei den Preisverhandlungen steht dann die Kostenfrage im Mittelpunkt. Es ist zudem sicherzustellen, dass keine Studien mit einer Vergleichs- therapie verlangt werden dürfen, die aus ethischen Grün- den nicht genehmigt würden. Beim Thema Beratungsgespräche hat sich vieles posi- tiv gewendet. Aber in Bezug auf die Verbindlichkeit des Beratungsgesprächs beim GBA findet sich durchaus noch etwas Sand im Getriebe. Möglich wäre es etwa, dass die Vergleichstherapien vor Studien der Phase III gemeinsam verbindlich vereinbart werden. Hier wäre dann zum Beispiel die Frage zu klären, welche Ver- gleichstherapie für ein Solitärmedikament zu wählen ist. Der vom GBA durchgeführte Workshop am 22. März zeigt aber, dass man hier auf einem guten Weg ist. Die Preisfindung ist sicherlich ein Komplex, bei dem wir erst einmal abwarten sollen, wie verhandelt wird. Entspannt sehe ich übrigens der Forderung der Indus- trie nach der Vertraulichkeit des Erstattungsbetrags entge- gen. Hier sollten wir uns überlegen, ob uns das nicht sogar entgegenkommt, weil in vertraulichen Verhandlungen mehr Spielraum für eine Rabattgewährung verbleibt. Überprüft werden muss aber die Möglichkeit zur Aus- schreibung von Zytostatika; denn es droht zu einem Oli- gopol in der Versorgung der Krebspatienten zu kommen. Zudem drohen Qualitätseinbußen und Probleme in der Flächendeckung, wenn die Krankenkassen mit einzelnen Apothekern Selektivverträge über die Zytostatikaversor- gung abschließen. Dabei will ich die Wirkweise der Ra- battverträge nicht infrage stellen. Sie tragen maßgeblich zu Einspareffekten bei Arzneimittelversorgung bei. Allerdings ist auch Teil unserer Aufgabe, die Versor- gungssicherheit zu gewährleisten; Lieferengpässe müs- sen vermieden werden. Gleiches gilt übrigens für die Oligopolbildung. Was passiert mit den sogenannten Portfolioverträgen? Seit dem Jahr 2009 wird hier vergeblich nach einer ein- vernehmlichen Lösung gesucht. Dabei behindern die Er- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20969 (A) (C) (D)(B) weiterungs- und Aufnahmeklauseln unstreitig den Wett- bewerb. Ohne gesetzgeberische Maßgaben scheint sich hier aber nichts zu tun. Dieses Fazit gilt leider auch für den Umgang mit der personalisierten Medizin. Die be- sondere Diagnostik, die hier notwendig wird, wird letzt- lich wegen einer fehlenden Abrechnungsziffer im EBM nicht ausreichend erbracht. Das kann und darf nicht sein. Abschließend möchte ich noch auf die Rahmenbedin- gungen für Apotheker eingehen. Am Pick-up-Verbot halten wir fest. Nachdem auch der Bundesrat ein Verbot des Versandhandels anstrebt, liegt es in den Händen der Bundesregierung hier die richtigen Entscheidungen zu treffen. Nach Auslaufen der Sparmaßnahmen Ende die- ses Jahres ist der Apothekenabschlag erneut zu vereinba- ren. Um hier eine faire Verhandlungsbasis zu schaffen, soll der für 2009 und 2010 geltende Abschlag als Grund- lage dienen. Wie ich eingangs ankündigte, nutzen wir die AMG- Novelle auch, um die bestehende Regelung kritisch zu hinterfragen. Unsere Pläne in diese Richtung habe ich Ihnen gerade vorgelegt. Ich möchte die Gelegenheit aber auch nutzen, an alle Beteiligten zu appellieren: Lassen Sie uns konstruktiv miteinander tätig werden und nicht in allgemeines Wehgeschrei ausbrechen, wie es beim AMNOG der Fall war. Diese Worte richte ich auch noch einmal explizit an die Industrie, die immer wieder ge- droht hat, bestimmte Produkte nicht auf den deutschen Markt zu bringen. Damit schneidet man sich ins eigene Fleisch. Ich gebe zu bedenken, dass unsere europäischen Nachbarländer über keine rosige Finanzlage verfügen. Das gilt auch für Frankreich, wo Sarkozy gerade ange- kündigt hat, 4,5 Milliarden Euro Einsparungen allein bei der Arzneimittelversorgung erzielen zu wollen. Spanien geht in eine ähnliche Richtung, und Griechenland will ich hier gar nicht erwähnen. Zu denken, dies wäre ein europäisches Problem, ist naiv. Indien ist ja nicht einmal mehr bereit, Patente und Eigentumsrechte anzuerkennen. Insofern wünsche ich keine weitere Drohungen, sondern den konstruktiven Dialog aller Beteiligten, auf den ich mich freue. Anlage 4 Neuabdruck einer zu Protokoll gegebenen Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Umsetzung von Basel III: Finanzmärkte sta- bilisieren – Realwirtschaft stärken – Kom- munalfinanzierung sichern – Besonderheiten der nationalen Finanz- märkte bei Umsetzung von Basel III berück- sichtigen (175. Sitzung, Tagesordnungspunkt 27) Manfred Zöllmer (SPD): Basel III ist ein notwendi- ges, aber nicht hinreichendes Regelwerk zur Stabilisie- rung des Finanzsystems. Es ist notwendig, weil der Verlauf der Finanzmarktkrise gezeigt hat, dass eine verbesserte Ausstattung der Banken mit Eigenkapital dringend erforderlich ist, um die Stabilität des Finanz- systems zu verbessern. Im Vordergrund steht das Eigen- kapital, aber es gibt natürlich eine Vielzahl von Regelun- gen, die in Zukunft implementiert werden sollen. Ich nenne die Stichworte Leverage Ratio, Kapitalerhaltungs- puffer, antizyklischer Kapitalpuffer, Vergütungsregeln usw. Die vorliegenden Regelungen gehen in die richtige Richtung. Sie reichen aber nicht. Sie müssen weiterent- wickelt werden. Deshalb haben wir einen Antrag einge- bracht, der fordert, einen Teil der Basel-III-Regeln nicht als Verordnung, sondern als Richtlinie umzusetzen. Da- mit wollen wir der Situation Rechnung tragen, dass na- tionale Besonderheiten auch bei der Umsetzung von Ba- sel III berücksichtigt werden. Deutschland verfügt über ein differenziertes dreigliedriges Bankensystem. Beson- ders die Sparkassen und Genossenschaftsbanken haben sich als systemstabilisierend in der Krise gezeigt. Die Vorschläge, die in Basel erarbeitet wurden, sind ein Re- gelungswerk für international agierende Großbanken. Deshalb sehen wir die Notwendigkeit einer Anpassung der Vorschriften an nationale Besonderheiten. Diesen Überlegungen wollen sich die Koalitionsfraktionen lei- der nicht anschließen. Damit wird eine Chance vertan, deutsche Interessen besser zu berücksichtigen. Wir unterstützen nachdrücklich den Grundsatz „same risks, same rules“. Wir wollen keine Aufweichung der Regulierung, im Gegenteil, wir wollen einen angemesse- nen regulatorischen Umgang auch mit kleinen Instituten, eine vernünftige Regulierung mit Biss. Mit unserem Antrag „Umsetzung von Basel III: Finanzmärkte stabilisieren – Realwirtschaft stärken – Kommunalfinanzierung sichern“ wollen wir diese Ziel- setzung konkretisieren. Wir bedauern sehr, dass die Ko- alitionsfraktionen nicht bereit waren, in dieser Situation einen gemeinsamen Antrag mit der Opposition auf den Weg zu bringen. Damit hätte man die Bundesregierung bei den Verhandlungen in Brüssel unterstützen können. Offenkundig sind die Koalitionsfraktionen nicht in der Lage, einheitliche Positionen bei den anstehenden Fra- gen zu finden. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, bei den Verhandlungen über Basel III folgende Punkte umzuset- zen: die Eigenkapital- und Liquiditätsregeln nach Ge- schäftsmodell und Größe der Institute differenzieren, die Risikogwichte von Mittelstandskrediten an ihr tatsächli- ches Risiko anpassen, die besonderen Bedingungen der Finanzverbünde bei Sparkassen und Genossenschafts- banken berücksichtigen, bei der Bankenaufsicht zu einer Arbeitsteilung zwischen europäischer und nationaler Bankenaufsicht kommen, die die Unterschiede zwischen systemrelevanten internationalen Großbanken und den Sparkassen und Genossenschaftsbanken berücksichtigt, bei der risikounabhängigen Verschuldungsobergrenze – der sogenannten Leverage-Ratio – differenzieren. Wir begrüßen, dass diese Punkte bei den laufenden Verhandlungen in Brüssel eine große Rolle spielen. Die Bundesregierung hat unsere Initiative dankenswerter- weise weitgehend aufgegriffen. 20970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 (A) (C) (D)(B) Es wird zurzeit intensiv über einen Kompromiss auf der Basis von Vorschlägen der dänischen Präsidentschaft verhandelt. Bei diesen Verhandlungen dürfen bereits ge- fundene Kompromisse, etwa bei der Definition des har- ten Kernkapitals, nicht infrage gestellt werden. Die neuen Regeln sollten Probleme minimieren, nicht neue schaffen. Deshalb bleibt es wichtig, zum Beispiel dafür zu sorgen, dass für unsere Kommunen auch in Zu- kunft eine ausreichende Kreditversorgung sichergestellt ist. Wir erwarten, dass diese Verhandlungen bald abge- schlossen werden, damit die neuen Regeln baldmög- lichst in Kraft treten können. Die neuen Regeln sind notwendig, aber nicht hinrei- chend. Banken müssen wieder dahin gebracht werden, ihre volkswirtschaftliche Funktion als Kreditgeber bes- ser zu erfüllen, und sie sollten weniger Anreize haben, übermäßige Risiken einzugehen. Die neuen Regeln kön- nen ein Schritt in diese Richtung sein, sie müssen aber kontinuierlich weiterentwickelt werden. Ein Update auf Basel III bleibt notwendig. Darüber hinaus muss sicher- gestellt werden, dass die vereinbarten Regeln auch inter- national umgesetzt und eingehalten werden. Dies muss überwacht und kontrolliert werden. Da die Risiken glo- bal sind, müssen auch die Regeln global sein. Wenn die Bundesregierung in diesem Sinne aktiv wird, hat sie unsere volle Unterstützung. Anlage 5 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 895. Sitzung am 30. März 2012 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- stimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Gesetz zur Änderung des Gemeindefinanzreform- gesetzes und von steuerlichen Vorschriften Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie- ßung gefasst: Zu Artikel 3 Nummer 2 (§ 50d Absatz 11 EStG) Durch das verabschiedete Gesetz soll die Inan- spruchnahme abkommensrechtlicher Schachtelprivi- legien, die inländischen Kapitalgesellschaften beim Bezug von Dividenden ausländischer Kapitalgesell- schaften zustehen, verhindert werden, soweit durch eine hybride Rechtsform der inländischen Gesell- schaft eine Inanspruchnahme durch natürliche Perso- nen möglich ist. Dies betrifft insbesondere die Kom- manditgesellschaft auf Aktien (KGaA) und atypisch stille Gesellschaften. Das Gesetz ist geeignet, dieses Ziel zu erreichen, und angesichts bekannt gewordener Steuermindereinnah- men und entsprechender Gestaltungsmodelle auch erforderlich. Die Einführung des § 50d Absatz 11 EStG ist lediglich eine Zwischenlösung auf dem Weg zur grundlegenden Klärung der Besteuerung hybrider Rechtsformen. Sie bedeutet insbesondere keine Vorabfestlegung eines intransparenten oder teiltransparenten Besteuerungs- systems bezüglich der KGaA. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die Problemanalyse bei der Besteuerung hybrider Ge- sellschaften zügig abzuschließen und notwendige ge- setzgeberische Maßnahmen zu ergreifen. – Gesetz über die geodätischen Referenzsysteme, -netze und geotopographischen Referenzdaten des Bundes (Bundesgeoreferenzdatengesetz – BgeoRG) – Gesetz zur Änderung des Bürgerlichen Gesetz- buchs zum besseren Schutz der Verbraucherin- nen und Verbraucher vor Kostenfallen im elek- tronischen Geschäftsverkehr und zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes – Gesetz über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaa- ten der Europäischen Union – Siebtes Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtli- cher Vorschriften – Gesetz zur Neuordnung des Energieverbrauchs- kennzeichnungsrechts – Gesetz zu dem Abkommen vom 13. Februar 2007 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Staates Kuwait über die Zusammenarbeit im Sicherheits- bereich – Gesetz zu dem Abkommen vom 22. Februar 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Staates Katar über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich – Gesetz zu dem Abkommen vom 10. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kroatien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Orga- nisierten und der schweren Kriminalität – Gesetz zu dem Abkommen vom 27. Mai 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreichs Saudi-Arabien über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich – Gesetz zu dem Abkommen vom 14. April 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kosovo über die Zusammenarbeit im Sicherheits- bereich – Gesetz zu dem Abkommen vom 30. August 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Ministerkabinett der Ukraine über die Zusammenarbeit im Bereich der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, des Terrorismus und anderer Straftaten von er- heblicher Bedeutung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20971 (A) (C) (D)(B) Zudem hat der Bundesrat in seiner 895. Sitzung am 30. März 2012 nachfolgende Entschließung zum Refe- rentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein Zweites Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts (2. KostRMoG) gefasst: Der Bundesrat begrüßt die Absicht der Bundesregie- rung, noch in der laufenden Legislaturperiode die bereits 2001 begonnene Modernisierung des Justiz- kostenrechts weiter zu führen. Der Bundesrat nimmt jedoch den Referentenentwurf des Bundesministe- riums der Justiz für ein Zweites Gesetz zur Moderni- sierung des Kostenrechts wegen der zu erwartenden Auswirkungen auf die Länderhaushalte mit großer Sorge zur Kenntnis. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung dringend auf, bei ihrem Gesetzesvorhaben mit Blick auf die auch für die Länder geltende Schuldenbremse den berechtigten Anliegen der Länder nach einer deutli- chen Verbesserung des Kostendeckungsgrades in der Justiz gerecht zu werden. Seit dem Inkrafttreten des ersten Kostenrechtsmoder- nisierungsgesetzes im Jahr 2004 hat sich der Kosten- deckungsgrad der Justiz in den Ländern weiter verschlechtert. Dieser Entwicklung muss Einhalt ge- boten werden. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung deshalb auf, die finanziellen Auswirkungen des vorgesehe- nen Gesetzes auf die Länderhaushalte nochmals ein- gehend zu überprüfen, auf der Ausgabenseite die Mehrbelastungen in vollem Umfang zu berücksichti- gen und deutlich höhere Einnahmen für die Länder zu ermöglichen. Nur dadurch können die Länder ge- währleisten, dass die Justiz ihre Aufgabe, Rechts- schutz auf hohem Niveau innerhalb angemessener Zeit zu gewähren, auf Dauer erfüllen kann. Der Bundesrat spricht sich nachdrücklich dafür aus, im weiteren Gesetzgebungsverfahren die Vorschläge der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kostendeckungs- grad in der Justiz“, wie sie Eingang in den Beschluss der Konferenz der Justizministerinnen und Justiz- minister am18. und 19. Mai 2011 in Halle gefunden haben, umfassend zu berücksichtigen. Dies gilt besonders für die Kernforderungen nach einer Anhe- bung der Wertgebühren nach § 34 des Gerichtskosten- gesetzes entsprechend der Preis- und Einkommensent- wicklung seit ihrer letzten linearen Anpassung im Jahr 1994 sowie für eine Anhebung der Gebührensätze in der Berufungs- und Beschwerdeinstanz. Der Bundesrat hält es außerdem für unabdingbar notwendig, das Gesetzgebungsverfahren zur Kos- tenbegrenzung im Prozesskostenhilfe- und Bera- tungshilferecht im zeitlichen Gleichlauf mit dem Gesetzgebungsverfahren für das Zweite Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts durchzuführen. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag auf, entweder den bereits wie- derholt eingebrachten Bundesratsinitiativen Fortgang zu geben oder unverzüglich einen Gesetzentwurf auf der Grundlage des Eckpunktepapiers des Bundes- ministeriums der Justiz zur Kostenbegrenzung im Pro- zesskostenhilfe- und Beratungshilferecht vorzulegen. Der Bundesrat verweist in diesem Zusammenhang auch auf den Beschluss der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder zur Entwicklung der Auslagen in Rechtssachen, der auf dem Jahrestreffen vom 26. bis 28. Oktober 2011 in Lübeck gefasst wurde. Der Bundesrat mahnt des Weiteren dringend eine Be- grenzung und einen Ausgleich der Mehrbelastungen beiden Ausgaben für Sachverständige, Dolmetscher und Übersetzer an. Insbesondere in Betreuungs- sachen, Strafsachen und in der Sozialgerichtsbarkeit ist bei niedrigen Rückflussquoten mit einem steilen Ausgabenanstieg zu rechnen. Begründung: Das Bundesministerium der Justiz hat im November 2011 den schon seit Längerem angekündigten Refe- rentenentwurf für das Zweite Gesetz zur Modernisie- rung des Kostenrechts vorgelegt. Der Bundesrat un- terstützt die Bestrebungen der Bundesregierung nach einer grundlegenden Überarbeitung der Kostenord- nung und der Justizverwaltungskostenordnung ebenso wie die mit dem Entwurf verfolgte Anpas- sung der zuletzt im Jahr 2004 novellierten Gesetze und der darin enthaltenen Gebühren. Viele der in dem Referentenentwurf vorgeschlagenen strukturel- len Änderungen gehen in die richtige Richtung. Nach den Ergebnissen eines Treffens der Amtsche- finnen und Amtschefs der Justizministerien der Län- der im Januar 2012 besteht indes Einigkeit, dass der Referentenentwurf vor dem Hintergrund der zu er- wartenden Auswirkungen auf die Landesjustizhaus- halte ohne wesentliche Korrekturen nicht akzeptiert werden kann. Die vom Bundesministerium der Justiz vorgeschla- genen Anpassungen bei den Gerichtsgebühren, und hier insbesondere die lineare Erhöhung der Wertge- bühren nach dem Gerichtskostengesetz und dem Ge- setz über Gerichtskosten in Familiensachen um lediglich 3,8 Prozent, sind nicht geeignet, den Kos- tendeckungsgrad in der Justiz nachhaltig zu verbes- sern. Es steht vielmehr zu besorgen, dass die ge- plante Novelle den Kostendeckungsgrad in der Justiz weiter verschlechtern wird. Die in dem Referentenentwurf vorgesehenen Anpas- sungen der Rechtsanwaltsgebühren, der Vergütungen für Sachverständige, Dolmetscher und Übersetzer und der Entschädigungen für Zeugen, ehrenamtliche Richterinnen und Richter und ehrenamtlich tätige Vormünder und Betreuer führen zu erheblichen Mehrbelastungen für die Länder bei den Auslagen in Rechtssachen, die ohne einen gleichzeitigen spürba- 20972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 (A) (C) (D)(B) ren Ausgleich auf der Einnahmeseite nicht zu schul- tern sein werden. Die Vorschläge der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kostendeckungsgrad in der Justiz“, deren Ab- schlussbericht Grundlage des Beschlusses der Kon- ferenz der Justizministerinnen und Justizminister im Mai 2011 war, haben zwar in einigen wenigen Punk- ten Eingang in den Referentenentwurf gefunden. Die Kernforderung der Länder nach einer Gebührenerhö- hung um gut 20 Prozent bei den Wertgebühren nach dem Gerichtskostengesetz und dem Gesetz über Ge- richtskosten in Familiensachen wird allerdings nicht aufgegriffen. Auch die vorgeschlagene Anhebung der Gebühren für die zweite Instanz bleibt unberück- sichtigt. Der Referentenentwurf lässt darüber hinaus einen finanziellen Ausgleich für bereits heute absehbare kostenintensive Bundesgesetze vermissen. Der Zu- schussbedarf der Länder kann nur dann spürbar und nachhaltig zurückgeführt werden, wenn die weitere Entwicklung bis zum vorgeschlagenen Inkrafttreten des Gesetzes und für die Folgejahre hochgerechnet wird. Mit dieser Entschließung soll vor dem seitens des Bundesministeriums der Justiz anberaumten Arbeits- treffen im April 2012 und vor einer Beschlussfas- sung der Bundesregierung über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung die Position der Länder ver- deutlicht werden. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mitgeteilt, dass sie die folgenden Anträge zurückzieht: – Haushalt zukunftsfest machen – Nachhaltig sanie- ren – Ökologisch und sozial investieren auf Druck- sache 17/2327 – Den Deutschen Bundestag bei der Reform der Umsatzsteuer beteiligen auf Drucksache 17/2333 – Den Rüstungsexportbericht 2010 unverzüglich vorlegen und künftig ausführlicher gestalten auf Drucksache 17/7355 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur Lage in Afghanistan 2010 – Drucksachen 17/4250, 17/4499 Nr. 1.7 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik 2010/2011 – Drucksachen 17/8326, 17/8641 Nr. 1.5 – Finanzausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Exis- tenzminimums von Erwachsenen und Kindern für das Jahr 2012 (Achter Existenzminimumbericht) – Drucksache 17/5550 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundes- regierung – Drucksache 17/4243 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2011 – Drucksache 17/5400 – – Bericht gemäß § 56a GO-BT des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Technikfolgenabschätzung (TA) Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems – Ansatzpunkte, Strategien, Umsetzung – Drucksache 17/6026 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Forschungsagenda der Bundesregierung für den demo- grafischen Wandel – Das Alter hat Zukunft – Drucksache 17/8103 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 17/6985 Nr. A.7 Ratsdokument 10170/11 Drucksache 17/8967 Nr. A.1 EuB-BReg 12/2012 Drucksache 17/9130 Nr. A.1 EuB-BReg 13/2012 Drucksache 17/9130 Nr. A.2 EP P7_TA-PROV(2012)0057 Drucksache 17/9130 Nr. A.3 Ratsdokument 6696/12 Innenausschuss Drucksache 17/8227 Nr. A.11 Ratsdokument 17254/11 Drucksache 17/8426 Nr. A.2 Ratsdokument 17284/11 Drucksache 17/8515 Nr. A.17 Ratsdokument 18523/11 Drucksache 17/8515 Nr. A.19 Ratsdokument 18666/11 Haushaltsausschuss Drucksache 17/8856 Nr. A.8 Ratsdokument 5826/12 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20973 (A) (C) (D)(B) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Drucksache 17/8426 Nr. A.41 Ratsdokument 17072/11 Drucksache 17/8856 Nr. A.15 Ratsdokument 5922/12 Drucksache 17/8856 Nr. A.16 Ratsdokument 5935/12 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Drucksache 17/6985 Nr. A.68 Ratsdokument 11947/11 Drucksache 17/8515 Nr. A.44 EP P7_TA-PROV(2011)0585 Drucksache 17/8515 Nr. A.45 EP P7_TA-PROV(2011)0591 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 17/6985 Nr. A.69 Ratsdokument 12959/11 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 17/8515 Nr. A.49 Ratsdokument 18429/11 Drucksache 17/8515 Nr. A.50 Ratsdokument 18431/11 Drucksache 17/8515 Nr. A.51 Ratsdokument 18480/11 Drucksache 17/8856 Nr. A.20 Ratsdokument 5887/12 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 17/2994 Nr. A.61 Ratsdokument 10912/10 Drucksache 17/4598 Nr. A.22 Ratsdokument 18055/10 Drucksache 17/6407 Nr. A.33 Ratsdokument 11772/11 176. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 34Umsetzung der EU-Hochqualifizierten-Richtlinie TOP 35Praxisgebühr, Zuzahlungen und Zusatzbeiträge ZP 6Stabilisierungsmechanismusgesetz TOP 37Stärkung der Gewerkschaften TOP 36Jugendgerichtliche Handlungsmöglichkeiten TOP 39Schutz vor Schienen- und Straßenlärm TOP 38Jugendpolitik Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717600000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.

Der Zusatzpunkt 7, die von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP verlangte Aktuelle Stunde mit dem Titel
„Konjunkturprognose bestätigt: Deutschland weiterhin
im Aufschwung“, wird heute abgesetzt. Sind Sie damit
einverstanden? – Das scheint der Fall zu sein. Dann ist
das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 a und b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richt-
linie der Europäischen Union

– Drucksache 17/8682 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/9436 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Petra Pau
Memet Kilic

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela
Kolbe (Leipzig), Rüdiger Veit, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Programm zur Unterstützung der Sicherung
des Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Auf-
enthaltsrechts

– zu dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic,
Tabea Rößner, Brigitte Pothmer, weiterer Ab-

geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Fachkräfteeinwanderung durch ein Punkte-
system regeln

– Drucksachen 17/9029, 17/3862, 17/9436 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Petra Pau
Memet Kilic

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
auch das beschlossen.

Dann eröffne ich jetzt die Aussprache und erteile als
erstem Redner dem Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter
Friedrich das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
nern:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Noch niemals zuvor waren so viele Menschen in
Deutschland in sozialversicherungspflichtigen Arbeits-
verhältnissen beschäftigt. Die Wirtschaft in unserem
Lande ist – trotz des schwierigen konjunkturellen und
gesamtwirtschaftlichen Umfelds in der Welt und in Eu-
ropa – leistungs- und wettbewerbsfähig. Wir müssen ge-
meinsam dafür sorgen, dass das so bleibt.

Da gibt es eine Reihe von Herausforderungen. Eine
davon hat in dieser Woche eine besondere Rolle gespielt,
auch bei der Kabinettssitzung: die demografische Ent-
wicklung. Die Menschen in Deutschland werden weni-
ger, vor allem die jungen Menschen werden weniger. Ein
Rückgang der Zahl der Auszubildenden und Studenten





Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich


(A) (C)



(D)(B)


heute bedeutet weniger Fachkräfte morgen. Wir brau-
chen Fachkräfte: Schon heute haben wir in einigen Be-
reichen die Situation, dass sich der Fachkräftemangel
wachstumshemmend auswirkt.

Deswegen hat sich die in dieser Woche vorgestellte
Demografiestrategie auch mit der Frage beschäftigt: Wie
können wir unter diesen Bedingungen die Wettbewerbs-
fähigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Wirt-
schaft aufrechterhalten? Wichtigste Antwort: indem wir
dafür sorgen, dass sich die Menschen entfalten können,
dass das Potenzial, das wir im Lande haben, ausge-
schöpft wird. Ich glaube, da sind wir alle in diesem Haus
uns einig: Die Bildung unserer jungen Menschen, die
Fort- und Weiterbildung, die Gestaltung einer Arbeits-
welt, in der sich jeder optimal nach seinen persönlichen
Möglichkeiten einbringen kann, das ist die wichtigste
Antwort überhaupt.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Dann machen Sie doch mal was!)


Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Menschen in die-
sem Lande einbringen können, auch in die Gestaltung
der Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens. Deutschland ist attraktiv, als Land, als Le-
bensstandort, als Arbeitsmarkt, attraktiv für viele junge
Menschen in Europa. Wir haben in Europa eine durchaus
heterogene Situation: Die Jugendarbeitslosigkeit in Spa-
nien liegt über 45 Prozent, in Italien liegt sie über
35 Prozent. In anderen Ländern, zum Beispiel Portugal,
gibt es viele Hochschulabsolventen, die nach Arbeits-
stellen, nach angemessener Beschäftigung suchen. De-
nen sagen wir: Wir müssen Europa als eine gemeinsame
Einheit sehen. Es muss innerhalb Europas selbstver-
ständlich sein, von einem Land zum anderen zu ziehen,
so wie es heute selbstverständlich ist, in Deutschland
von einem Bundesland zum nächsten zu ziehen. Diese
Möglichkeit müssen wir schaffen und attraktiv halten.

Ich bin sehr froh, dass sich sowohl die Bundesanstalt
für Arbeit, Frau Kollegin von der Leyen, als auch die Ar-
beitgeberverbände sehr bemühen, insbesondere den jun-
gen, qualifizierten Menschen überall in Europa zu sagen:
Ihr werdet gebraucht. Wir müssen gemeinsam dafür sor-
gen, dass unser Euro, dass das Euro-Land wettbewerbs-
fähig bleibt. Jeder junge Mann und jede junge Frau, der
oder die sich in Deutschland in den Arbeitsmarkt ein-
bringen kann, statt in Italien arbeitslos zu sein, ist eine
Entlastung für den Euro, ist ein Beitrag zur Wettbe-
werbsfähigkeit Euro-Lands.

Drittens. Deutschland ist immer schon ein weltoffe-
nes Land gewesen. Wir sind Exportweltmeister, keine
Frage. Handel und Wandel rund um den Globus, das ist
schon immer – man kann fast sagen: seit Jahrhunderten –
deutsches Prinzip gewesen. Es ist normal, dass junge,
qualifizierte Menschen aus Deutschland ihr Glück in der
Welt suchen. Von Kanada bis Australien gibt es deutsche
Männer und Frauen, die ihr Glück suchen, und sie finden
es auch. Umgekehrt wird es immer junge und auch alte
Menschen geben, die ihr Glück in Europa, in Deutsch-
land suchen wollen. Deswegen ist es notwendig und

richtig, dass wir uns um das Thema Bevölkerungswan-
derung in der Welt kümmern.

Heute geht es um die Frage: Wie gewinnen wir für
unser Land die Hochqualifizierten, die wir brauchen?
Was können wir dafür tun, damit sie zu uns kommen?
Erstens. Wir müssen sicherstellen, dass sie qualifiziert
sind, also leistungsfähig, und dass sie auch Leistung
bringen wollen. Zweitens. Wir müssen für attraktive Be-
dingungen für ihre Lebensgestaltung sorgen, damit sie
zu uns kommen wollen. Deswegen kommt in der Umset-
zung der Bluecard-Richtlinie der Europäischen Union,
die wir heute beraten, deutlich zum Ausdruck: Wenn je-
mand 45 000 Euro Gehalt geboten bekommt, dann ist
das zum einen ein klares Zeichen dafür, dass er von ei-
nem Arbeitgeber gebraucht wird, und zum anderen, dass
er leistungsfähig ist; denn sonst würde man ihm ein sol-
ches Angebot nicht machen. Bei Mangelberufen geht
man sogar von einem geringeren Mindestlohn von
35 000 Euro aus, wobei das nicht heißt, dass dieser Min-
destlohn der Preis ist, zu dem Ingenieure und Ärzte zu
uns kommen, sondern es ist eine in der Richtlinie festge-
legte Untergrenze; ich glaube, das muss man dazusagen.

Was bieten wir den jungen Menschen, die zu uns
kommen? Wir bieten ihnen nach drei Jahren – bei guter
Integration nach zwei Jahren – eine unbefristete Nieder-
lassungserlaubnis in Deutschland. Wir bieten ihnen – das
ist in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehen –, dass sie
ihre Familien, ihre Frauen, ihre Männer, ihre Kinder,
mitbringen können. Ich glaube, das ist ein wichtiges Kri-
terium.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nur die halbe Wahrheit!)


Ein Ingenieur aus Indien hat keine Lust, seine Kinder zu-
rückzulassen und alleine nach Deutschland zu kommen.
Deshalb müssen wir ihm eine entsprechende Perspektive
bieten. Auch das ist im Gesetz vorgesehen.

Wir haben im Gesetz also folgenden Dreiklang für
Deutschland vorgesehen: Geringqualifizierte erhalten
eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Hochqualifi-
zierte erhalten nach drei Jahren, manche nach zwei Jah-
ren, ein Aufenthaltsrecht und Niederlassungsrecht.
Höchstqualifizierte – also Nobelpreisträger – unterliegen
keinen Einschränkungen; sie erhalten sofort die unbe-
fristete Niederlassungserlaubnis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich komme zu Ihren Anträgen, die sich mit dem
Punktesystem auseinandersetzen. Welche Systematik hat
das Gesetz, welche Systematik hat unser Ansatz? Wir sa-
gen: Du kannst kommen, wenn du einen konkreten Ar-
beitsplatz in Aussicht hast. – Mit dem Punktesystem, das
viele Experten diskutieren und loben und das in vielen
Ländern funktioniert, verfolgt man einen anderen An-
satz: Wir holen Menschen, die bestimmte Eigenschaften
haben, und geben ihnen für diese Eigenschaften Punkte.
Die Frage ist, nach welchen Kriterien das geschieht. Ich
habe gelernt: Es gibt eine zentrale Planungskommission,
die diese Kriterien festlegen soll. Wenn die Menschen
die Punkte haben, dann kommen sie. Die in dieser Wo-
che behandelte Demografiestrategie zeigt aber, dass das





Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich


(A) (C)



(D)(B)


nicht bedeutet, dass die Menschen da hingehen, wo wir
sie zwingend brauchen. Sie steigen erst einmal in Mün-
chen, Stuttgart oder Frankfurt aus dem Flugzeug, und
dann ist noch lange nicht gesichert, dass sie im Erzge-
birge, im Bayerischen Wald oder im Harz, wo sie in den
mittelständischen Unternehmen gebraucht werden, an-
kommen.

Deswegen ist für uns der entscheidende Ansatz: Für
die Möglichkeit, hierherzukommen, muss ein konkreter
Arbeitsplatz mit einem bestimmten Mindesteinkommen
nachgewiesen werden. Wir steuern die Zuwanderung
nach Deutschland also nicht durch eine zentrale Pla-
nungskommission, sondern jeder Arbeitgeber, jeder, der
einen Betrieb unterhält und Fachkräfte braucht, hat die
Möglichkeit, diese Leute zu holen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das bedeutet natürlich nicht, dass der Mittelständler
nur in der Welt herumfährt, zum Beispiel nach Ägypten
oder Indien, und nach Ingenieuren sucht, sondern das
muss durch die Wirtschaft, die über ihre Verbände viele
internationale Kontakte hat, organisiert werden. Zudem
wollen wir die Möglichkeit schaffen, dass junge Männer
und Frauen – damit sie nicht mit einem Drei-Monats-
Touristenvisum hier herumfahren und nach einem Ar-
beitsplatz suchen müssen – ein halbes Jahr Zeit haben,
zu schauen, ob sie in diesem Land gebraucht werden
bzw. ob ihnen jemand ein Angebot macht und bereit ist,
für das, was sie bieten und leisten können, 45 000 Euro
zu zahlen. Es ist also ein sechsmonatiges Visum zur Ar-
beitsuche vorgesehen. Auch das ist, glaube ich, ein
wichtiger Punkt in diesem Gesetz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich komme zum letzten Punkt: Hochschulabsolven-
ten. Wenn jemand in Deutschland mit deutschen Steuer-
geldern eine Universität besucht hat, dort ausgebildet
wurde, gut integriert ist, Deutsch kann und einen Hoch-
schulabschluss hat, müssten wir verrückt sein, wenn wir
dem sagen würden: Jetzt gehst du aber bitte wieder dahin
zurück, wo du hergekommen bist. Vielmehr brauchen
wir diese Leute. Wir wollen sie für unseren Arbeitsmarkt
auch haben. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir in
diesem Gesetz auch Erleichterungen für diejenigen vor-
sehen, die hier studiert und ihren Abschluss gemacht ha-
ben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt
geht es jetzt darum, dass auch die Arbeitgeber aktiv wer-
den. Die Zeiten sind vorbei, in denen man alles auf dem
Silbertablett geliefert bekam. Vielmehr muss man etwas
tun. Man muss sich darum kümmern, dass man die Men-
schen, die man für seinen Betrieb, für sein Unternehmen
braucht, auch bekommt. Wir schaffen die rechtlichen
Voraussetzungen bzw. den Rahmen dafür. Ich denke,
dass das ein guter Ansatz ist, und ich hoffe, dass dieses
Gesetz hier mit großer Mehrheit angenommen wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717600100

Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1717600200

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Fachkräftesicherung auch durch Zuwande-
rung, das ist ein immer wichtiger werdendes Thema für
unsere Volkswirtschaft. Das hat auch die Koalition er-
kannt. Dazu erst einmal herzlichen Glückwunsch – und
fast noch mehr dazu, dass Sie sich bei diesem Thema tat-
sächlich zusammengerauft haben.

Zur Ehrlichkeit gehört aber dazu, dass Sie erst durch
die Bluecard-Richtlinie der Europäischen Union zum
Handeln gezwungen worden sind. Sie haben Anfang
März mit einem Jahr Verspätung ein Gesetz zur Umset-
zung vorgelegt. Man kann sagen: Die Europäische
Union hat hier ein gutes Werk getan und Schwarz-Gelb
zum Jagen getragen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein Teil des Lobes geht also an die Europäische Union.

Wenn man den Gesetzentwurf, der hier am 1. März
beraten worden ist, mit dem heute hier vorgelegten Ge-
setzentwurf vergleicht, kann man sagen: Glücklicher-
weise hat das Struck’sche Gesetz Wirkung gezeigt. Das
Struck’sche Gesetz – für die, die es nicht kennen – lau-
tet: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es in ihn
hineingekommen ist. Das hat dem Entwurf wirklich gut-
getan. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist ein
anderer und besserer als der vom 1. März.


(Rüdiger Veit [SPD]: Erstaunlich, aber gut!)


Bevor ich zum Gesetz selber komme, erwähne ich ei-
nen mindestens genauso wichtigen, wenn nicht sogar
noch wichtigeren Aspekt: Es lohnt sich, die Wirkmäch-
tigkeit dieses Gesetzes anzuschauen und sie einzuschät-
zen. Was kann ein solches Gesetz beitragen, um den
Fachkräftemangel in unserem Land wirklich abzumil-
dern? Wenn man Herrn Friedrich zuhört, hat man den
Eindruck, dass die gutqualifizierten Fachkräfte draußen
vor dem Tor stehen und nur warten, dass die Bundesre-
gierung endlich ein Gesetz einbringt, damit sie alle zu
uns kommen können. Ich meine, dass die Erwartungen,
die die Bundesregierung weckt, deutlich überzogen sind.

Die Änderungen des bestehenden Zuwanderungsge-
setzes sind moderat. Sie sind zum Großteil wirklich be-
grüßenswert, aber eine Revolution ist das beileibe nicht.
Um einem Fachkräftemangel vorzubeugen, wäre es
wichtig, die Potenziale, die wir im Lande haben, zu he-
ben, zum Beispiel im Bereich des Bildungssystems. Herr
Friedrich, Sie haben dieses Thema zwar angesprochen,
aber auf Aktivitäten, die dazu beitragen, dass in diesem
Land wirklich jeder einen Schulabschluss macht, gege-
benenfalls im zweiten oder dritten Anlauf, müssen wir
lange warten. Im Gegenteil: Sie marschieren in die an-
dere Richtung.





Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)


Zur Vorbeugung eines Fachkräftemangels gehört
auch, die Potenziale der hier lebenden Migrantinnen und
Migranten in den Blick zu nehmen. Man darf nicht im-
mer nur auf die gut Ausgebildeten im Ausland schielen.


(Zuruf von der LINKEN: Sehr richtig!)


Auch in dieser Hinsicht gilt bei Ihnen bisher: komplette
Fehlanzeige.


(Beifall bei der SPD – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Lesen Sie das Gesetz einmal richtig, Frau Kolbe!)


Noch wichtiger ist Folgendes: Wenn das Gesetz Wir-
kung entfalten soll, wenn Hochqualifizierte wirklich
nach Deutschland zuwandern sollen, dann brauchen wir
eine lebendige Willkommenskultur. Das wird auch von
Ihnen häufig angesprochen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Der Begriff kommt von uns!)


Zu einer Willkommenskultur gehört aber mehr als ein
Sektempfang für die neue Kollegin aus Kanada. Auf-
grund dieses Gesetzes sollen Menschen aus der ganzen
Welt zu uns kommen. Eine Willkommenskultur wäre
eine Kultur, die Vielfalt als Bereicherung begreift, eine
Kultur, die Einwanderung als Bereicherung begreift, und
zwar unabhängig von der ökonomischen Verwertbarkeit
der Menschen, die zu uns kommen. Dabei geht es zum
Beispiel auch um die Familienangehörigen. Es bedarf ei-
ner Kultur, die Andersartigkeit als gleichwertig begreift.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es bedarf einer Kultur weit ab von jeder Leitkultur-
debatte.

„Willkommenskultur“, das ist ein Wort, das gerade
Sie sehr häufig im Munde führen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ja!)


Wir werden das in der heutigen Debatte von Ihrer Seite
noch häufig zu hören bekommen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Selbstverständlich! Der Begriff kommt von uns, Frau Kolbe!)


Ehrlich gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition: Damit geben Sie wirklich ein reichlich schrä-
ges Bild ab. Hier hören wir Willkommenskulturforde-
rungen en masse. Auf der anderen Seite haben wir einen
Herrn Kauder, der über den Islam dampfplaudert, dass
man vor lauter Kopfschütteln ein Schleudertrauma be-
kommt,


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Daran haben Sie aber lange gearbeitet!)


und einen Innenminister, der uns jenseits aller Fakten er-
klärt, wie schlimm die muslimische Jugend sei, und als
Wahlkampfhilfe für Sarkozy gleich die europäischen
Grenzen innen und außen dichtmachen will. Hinzu kom-
men unsägliche Debatten über die doppelte Staatsange-
hörigkeit.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Reden Sie doch mal zum Thema, Frau Kolbe!)


Das ist absurdes Theater, das hier zur Aufführung
kommt.


(Beifall bei der SPD)


Das Klima, das die Bundesregierung produziert, scha-
det der Sache viel mehr, als drei solcher Gesetze wieder-
gutmachen können. Ich finde, Herr Friedrich alleine
schadet der Sache mehr, als es dieses Gesetz gutmachen
kann. Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften nach
Deutschland ist längst kein Selbstläufer mehr. Die gut-
qualifizierten Menschen entscheiden selbst, ob sie nach
Deutschland kommen wollen.

Max Frisch sagte einst, als wir schon einmal Fach-
kräfte nach Deutschland gerufen haben, den wunderba-
ren und emotionalen Satz: Wir riefen Arbeitskräfte, und
es kamen Menschen. – Wenn aus diesem Satz nicht wer-
den soll: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kam nie-
mand“, dann haben gerade Ihre Parteien noch ein ganz
schön großes Stück Arbeit vor sich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir beraten heute einen Gesetzentwurf, der sich seit
der ersten Lesung verbessert hat. Es freut uns, dass der
Gesetzentwurf sich ein ganzes Stück dem SPD-Antrag
genähert hat.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/ CSU]: Das ist eine kühne Behauptung!)


Der Gesetzentwurf sieht vor, die Situation für Bildungs-
ausländer, gerade für Studierende aus Drittstaaten und
Azubis, zu verbessern


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das kommt aber nicht von der SPD, Frau Kolbe! Seien Sie einmal ein bisschen ehrlich!)


– natürlich; lesen Sie unseren Antrag – und ihre Arbeit-
suche in Deutschland zu erleichtern. Grundsätzlich posi-
tiv ist, dass eine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsu-
che eingeführt wird. Wir hätten gerne ein Punktesystem
zur Zuwanderung eingeführt bzw. ein entsprechendes
Modellprojekt aufgelegt, weil ein solches Modell aus an-
deren Ländern bekannt


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Aber nicht bewährt!)


und potenziellen Zuwanderern daher leichter zu vermit-
teln ist. Ein solches Modell sendet das ganz klare Signal
aus, dass wir Einwanderung wollen. Die von Ihnen vor-
gesehene Erlaubnis zur Arbeitsuche ist aber ein Schritt
in die richtige Richtung.

Ausdrücklich loben möchte ich, dass Sie einen ganz
pragmatischen Vorschlag aus unserem Antrag übernom-
men haben, nämlich dass ein Antrag auf Vorrangprüfung
für einen Arbeitnehmer, der bereits einen Arbeitsplatz in
Deutschland gefunden hat, nach einer gewissen Zeit als
genehmigt gilt,





Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)



(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das haben Sie erfunden?)


auch wenn die zuständige Behörde noch nicht beschie-
den hat. Genau diese Prüfung ist in der Tat für viele
Unternehmen und viele Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer ein ganz langwieriges Prozedere, das sie nicht
einschätzen können. Daher stellt sie ein großes Hinder-
nis bei der Zuwanderung dar. Diese Entscheidungs-
fiktion ist richtig. Sie setzen dafür einen Zeitraum von
zwei Wochen an. Das ist aus unserer Sicht allerdings ein
wenig zu kurz. Insgesamt haben wir also relativ viel
Übereinstimmung hinsichtlich des Gesetzentwurfs.

In einem Punkt widersprechen wir aber, und dieser
betrifft das Herz Ihres Gesetzentwurfs: die Umsetzung
der Bluecard-Richtlinie. Es geht um die Frage, wie viel
ein Zuwanderer mindestens verdienen muss, um eine
Bluecard zu erhalten. Für Mangelberufe schlägt die Bun-
desregierung eine Schwelle von etwa 34 000 Euro Jah-
resverdienst vor. Da können wir aus zwei Gründen nicht
mitgehen:

Erstens ist dies europarechtswidrig niedrig. Ich habe
das in der ersten Lesung hier vorgetragen, und in der An-
hörung wurde dem wenig Stichhaltiges entgegengesetzt.
Ich möchte uns warnen, ein Gesetz, das möglicherweise
europarechtswidrig ist, zu verabschieden.

Zweitens ist diese Schwelle arbeitsmarktpolitisch zu
niedrig. Wir sprechen über Fachkräfte, über Ingenieure,
über Physikerinnen und Physiker, über Mathematikerin-
nen und Mathematiker. 34 000 Euro Jahresgehalt bedeu-
tet in diesen Branchen auch für Berufseinsteiger
Lohndumping. Zum Vergleich: Das Einstiegsjahresge-
halt im öffentlichen Dienst beträgt in TVöD 13 etwa
40 000 Euro. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die
SPD will qualifizierte Zuwanderung, aber wir wollen
kein Lohndumping.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich fasse zusammen: Der Gesetzentwurf geht in die
richtige Richtung. Er enthält viele positive Aspekte. Die
angesetzte Mindestverdienstgrenze halten wir jedoch
politisch und rechtlich für zu niedrig angesetzt. Deshalb
werden wir uns in der Abstimmung über den Gesetzent-
wurf enthalten. Damit dieses Gesetz, dem wir in der
Grundintention zustimmen, wirklich wirkt, damit also
qualifizierte Menschen nach Deutschland kommen,
muss sich an ganz anderer Stelle etwas ändern. Zuge-
wanderte müssen wissen, dass sie – das muss gelebte
Realität sein – in deutschen Unternehmen, Behörden und
auf der Straße erwünscht und willkommen sind und
wertgeschätzt werden. Bis wir diese Haltung durchge-
setzt haben, ist es noch ein weiter Weg, gerade für diese
Koalition.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717600300

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Volker Kauder.


Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1717600400

Frau Kollegin Kolbe, Sie hatten wohl den Eindruck,

Sie müssten eine Aussage von mir in einer Art und
Weise qualifizieren, die ich in aller Form zurückweise.
Bevor Sie eine solche Qualifizierung vornehmen, sollten
Sie einmal ein bisschen nachdenken.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Ich habe wörtlich gesagt, dass der Islam nicht zu
Deutschland gehört, dass aber Muslime zu Deutschland
gehören.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Es wird nicht besser, Herr Kauder!)


Diese Aussage wurde von prominenten Personen unter-
stützt, die Sie ebenfalls der Dampfplauderei bezeichnen,
obwohl sie geistig wahrscheinlich schon mehr geleistet
haben, als Sie aufgrund Ihres Alters bisher leisten konn-
ten.


(Widerspruch bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Sie alle sollten die neueste Ausgabe von Cicero lesen,
in der sehr schön beschrieben wird, dass es in dieser Re-
publik einige gibt, die meinen, wir seien eine Recht-
haberrepublik.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das beste Beispiel spricht gerade!)


Ich habe das Recht, meine Meinung klar und deutlich zu
formulieren.

Jetzt möchte ich noch etwas sagen, und zwar in aller
Ruhe. Wissen Sie, auch das zeichnet Leute, die so argu-
mentieren wie Sie, aus: Sie nehmen für sich in An-
spruch, die Wahrheit zu sagen, aber hören anderen gar
nicht mehr zu. Das ist nicht in Ordnung; das muss man
einmal klar und deutlich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Aussage wurde von Martin Mosebach, Dampf-
plauderer, Monika Maron, Dampfplauderer, und Heiner
Geißler unterstützt.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dass die Zustimmung in der Bevölkerung riesengroß ist,
wird Sie wahrscheinlich nicht erstaunen. Ich möchte
trotzdem noch einmal klar und deutlich sagen: Dass der
Islam nicht zu Deutschland gehört, hat etwas mit Tradi-
tion und Identitätsbildung in diesem Land zu tun. Die
Menschen gehören zu uns. Von dieser Aussage habe ich
nichts zurückzunehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717600500

Zur Erwiderung, bitte, Frau Kolbe.


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1717600600

Sehr geehrter Herr Kollege Kauder, nichts liegt mir

ferner, als Ihnen Ihr Recht auf freie Meinungsäußerung zu
nehmen. Ich nehme mir jedoch das Recht heraus – auch in
meinem jungen Alter, auf das ich sehr stolz bin –,


(Zurufe von der FDP: Oh! – Tolle Leistung!)


Sie darauf hinzuweisen, dass Ihre Aussagen natürlich
auch eine Wirkung entfalten. Sie können sagen, was Sie
wollen. Aber: Sie sind Vorsitzender einer großen – leider
der größten – Fraktion dieses Hauses. Sie haben mit Ih-
ren Aussagen einen gravierenden Einfluss auf die Stim-
mung in diesem Land, auf das Zusammenleben in die-
sem Land. Ich möchte diesen Hinweis auch an Herrn
Friedrich adressieren, der im Hinblick auf die Studie zu
jungen Muslimen in diesem Land Aussagen getroffen
hat, die für unser Zusammenleben schädlich sind.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Na!)


Das ist für die Menschen, die hier leben, ein Problem,
und es ist im Zusammenhang mit der Zuwanderung qua-
lifizierter Fachkräfte ein Problem. In ein Land, in dem
man immer wieder als andersartig bezeichnet wird,
möchte man eben nicht gerne einwandern. In Ländern, in
denen jeder, welcher Religion auch immer er oder sie an-
gehört, herzlich willkommen ist, aufgenommen wird und
leben darf, wie er oder sie es möchte,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das darf man bei uns ja!)


ist das eine ganz andere Geschichte. Fahren Sie einmal
in die USA – Sie waren sicherlich schon dort –, und
überlegen Sie, warum so viele Menschen gerade in die-
ses Land, das die rigideste Einwanderungspolitik macht,
wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wegen der Sprache! Das wissen auch Sie! Eine ganz schwache Replik!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717600700

Jetzt fahren wir in der Debatte fort. Das Wort hat der

Kollege Hartfrid Wolff von der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

glaube, es ist sinnvoll, dass wir zum Thema zurückkom-
men.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Thema!)


Es ist nämlich nicht ganz von der Hand zu weisen, dass
die Sozialdemokraten den großen Erfolg der Koalition
gerade in diesem Bereich niederreden wollen, indem sie
einen Nebenkriegsschauplatz eröffnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist, die Chan-
cen der Zuwanderung für unser Land besser zu erschlie-
ßen und den Zusammenhalt unserer durch Zuwanderung
bereicherten Gesellschaft zu stärken. Wenn wir heute ge-
meinsam den vorliegenden Gesetzentwurf der Koali-
tionsfraktionen verabschieden, dann vollenden wir das
hochambitionierte Programm, das wir uns in der christ-
lich-liberalen Koalition vorgenommen haben.


(Beifall bei der FDP)


Am Anfang dieser Wahlperiode, im Herbst 2009,
habe ich an dieser Stelle gesagt: Deutschland verändert
sich. Die neue Bundesregierung wird diese Veränderung
gestalten. Migration und Integration stellen Deutschland
vor neue Herausforderungen. Sie bieten aber auch neue
Chancen. Die Koalition hat sich auf eine konsequente
Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eine
aktive Integrationspolitik geeinigt.

Heute wird diese neue Zuwanderungssteuerung im
Bundestag verabschiedet. Wir verbinden die wirksame
Integration mit der aktiven Steuerung von Zuwanderung,
ökonomische Vernunft und Fairness, Offenheit und Klar-
heit, Fördern und Fordern. Dieser rote Faden zieht sich
durch die christlich-liberale Integrations- und Migra-
tionspolitik.

Man schaue sich die schon erreichten Erfolge an: Wir
haben die Visa-Warndatei eingeführt. Wir erleichtern so
den für ein weltoffenes Industrieland wie Deutschland
unverzichtbaren internationalen Reiseverkehr und stär-
ken zugleich die Sicherheit unseres Landes, ohne aus-
ufernde Datenerfassung und unter Wahrung der Bürger-
rechte.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben den Einstieg in eine dauerhafte bundesge-
setzliche Bleiberechtsregelung geschaffen. Erstmals wurde
für minderjährige, heranwachsende geduldete Ausländer
ein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Blei-
berecht in einem Bundesgesetz geschaffen. Das ist huma-
nitäre Rechtssicherheit.

Wir haben die Übermittlungspflichten zugunsten von
Kindern abgeschafft und die Residenzpflicht für die
Ausbildung und Bildung gelockert.

Wir haben die Stabilisierungszeit für Opfer von Men-
schenhandel auf drei Monate ausgedehnt und sind damit
einem Petitum von Opferverbänden und der Polizei ge-
folgt.

Wir haben die Bedingungen für die Abschiebehaft si-
gnifikant verbessert.

Und wir haben ein eigenständiges Wiederkehr- und
Rückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangsver-
heiratungen geschaffen und den eigenständigen Straftat-
bestand der Zwangsheirat eingeführt. Das ist aktiver Op-
ferschutz, verbunden mit dem klaren Appell, unsere
freiheitliche Werteordnung zu achten.





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)


Andere reden, meine Damen und Herren, wir haben
es gemacht. Die Koalition aus Union und FDP hat tat-
sächlich eine neue Zuwanderungs- und Integrationspoli-
tik auf den Weg gebracht, die sich vom ideologischen
Ballast links-rot-grüner Utopien befreit hat.

Eine effiziente und interessengeleitete Steuerung von
Zuwanderung ist das Gebot der Stunde. Statt bürokrati-
sche Hemmnisse aufzubauen, wollen wir die Zuwande-
rung sinnvoll und interessengeleitet steuern. Die EU-
Richtlinie zur Zuwanderung von Hochqualifizierten und
zur Blauen Karte bietet jetzt Anlass, den nächsten, wei-
tergehenden Schritt zur Umsetzung des Konzepts der
Koalition zu tun, und wir gehen deutlich über die Richt-
linie hinaus.

Die Einstellung von ausländischen Hochqualifizierten
und Fachkräften sorgt für weitere Investitionen in Ar-
beitsplätze und ist für die Wettbewerbsfähigkeit unserer
Unternehmen wichtig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deutschland braucht qualifizierte Fachkräfte, For-
scher und Entwickler und auch Unternehmer aus dem
Ausland. Diese brauchen klare, transparente und einfa-
che Regeln. Diese schaffen wir mit dem vorliegenden
Gesetz.

Wichtig ist zudem, dass im Ausland für den Ausbil-
dungs-, Forschungs- und Wissenschaftsstandort Deutsch-
land geworben wird. Auch deshalb müssen die aufent-
halts- und arbeitsmarktrechtlichen Hürden zum Beispiel
für Studenten aus Drittstaaten oder eben auch für Hoch-
qualifizierte deutlich abgebaut werden. Dabei stehen die
EU-Mitgliedstaaten gegenseitig in einem starken Wett-
bewerb um die klügsten Köpfe. Diesen Wettbewerb neh-
men wir heute mit einer verbesserten Zuwanderungs-
steuerung auf.

Wir werden mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die
Zuwanderung von Hochqualifizierten entbürokratisie-
ren, beschleunigen und vereinfachen. Wir wollen zu-
gleich zusätzliche Integrationsanreize schaffen. Wir mo-
dernisieren das deutsche Zuwanderungsrecht und passen
es den Bedürfnissen einer global vernetzten Gesellschaft
an. Schnelle behördliche Entscheidungen schaffen Klar-
heit. Dabei achten wir darauf, dass die Öffnung für
Hochqualifizierte nicht missbraucht wird.

Zusätzlich zielt der Gesetzentwurf darauf ab, die
Möglichkeiten zur Beschäftigungsaufnahme von auslän-
dischen Absolventen deutscher Hochschulen und den
dauerhaften Zuzug von Fachkräften, für die auf dem
deutschen Arbeitsmarkt ein Bedarf besteht, zu erleich-
tern. Die bürokratische Vorrangprüfung entfällt in we-
sentlichen Bereichen.

Um den dauerhaften Zuzug von Hochqualifizierten
nach Deutschland attraktiver zu gestalten, senken wir die
Gehaltsschwelle deutlich. Für Beschäftigte aus Mangel-
berufen ist der Zuzug signifikant vereinfacht worden.

Entscheidend ist zudem: Wir schaffen den Paradig-
menwechsel in der Arbeitsmigration. Wir kommen aus-
länderrechtlich von einer Nachfrage- hin zu einer Ange-

botsorientiertheit. Der befristete Zuzug zur Arbeitsuche,
also ohne bestehenden Arbeitsvertrag, ist ein wesentli-
cher Schritt, der dies deutlich macht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Anders als es manchmal in der Öffentlichkeit darge-
stellt wird, hat diese Koalition zu einem sehr konstrukti-
ven und sehr fortschrittlichen Verhandlungsprozess in
der Zuwanderungspolitik gefunden. Lieber Reinhard
Grindel, wir machen noch weiter, nicht?


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Aha, keine Zustimmung! – Gegenruf des Abg. Rainer Brüderle [FDP]: Er hat genickt!)


Diese Koalition hat einen entscheidenden Kurswechsel
in der Zuwanderungspolitik umgesetzt: mit Fördern und
Fordern, ohne ideologische Scheuklappen, integrations-
und arbeitsmarktorientiert.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Glauben Sie, was Sie sagen?)


Die Koalition setzt Zug um Zug eine konsequente
Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eine
aktive Integrationspolitik um. Wir wollen eine neue Kul-
tur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen
auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und
Perspektiven eröffnet.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist damit gemeint?)


Wir halten es nicht, wie die Grünen oder die Linken,
für unzumutbar, Deutsch zu lernen, sondern wollen An-
reize dafür setzen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Statt des Verzichts auf Integrationsanforderungen
muss Deutschland in der Integrationspolitik endlich
positiv und aktiv denken. Ich erwarte – Frau Kollegin
Andreae, das ist damit gemeint –, dass wir durch service-
orientierte Behörden auch im Vollzug vor Ort, zum Bei-
spiel bei Frau Öney in Baden-Württemberg, die in unse-
rem Gesetz angelegten Anforderungen in täglich gelebte
Willkommenskultur umsetzen.


(Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Auch in Ihren Bundesländern!)


Meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft, die
ganze Nation, wird durch Zuwanderung bereichert. Wis-
sen ist längst international. Arbeit ist längst internatio-
nal. Forschung und Entwicklung machen eben nicht vor
Grenzen halt. Die deutsche Wirtschaft ist auf allen
Märkten der Welt aktiv. Der Arbeitsmarkt für Fachkräfte
ist längst international. Zuwanderung von Hochqualifi-
zierten schafft Arbeitsplätze und weitet gesellschaftlich
den Horizont.

Deutschland verändert sich. Wir gestalten mit der
christlich-liberalen Bundesregierung diese Veränderun-
gen – ohne ideologischen Ballast und vorurteilsfrei.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717600800

Jetzt hat der Kollege Jörn Wunderlich von der Frak-

tion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717600900

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Um eines vorweg klarzustellen: Die Linke war
schon immer für Einwanderungserleichterungen, aller-
dings nicht, wie es in dem vorliegenden Gesetzentwurf
vorgesehen ist, ausschließlich nach Nützlichkeitserwä-
gungen der reichen Industrienationen,


(Beifall bei der LINKEN)


sondern im Sinne von Menschenrechten und im Inte-
resse der Menschen. Wir möchten keine Politik unter-
stützen, die Menschen zu trennen versucht nach denen,
die uns nützen, und denen, die uns vermeintlich ausnüt-
zen.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass dieses Anwer-
ben von Fachkräften aus dem Ausland schon so ein biss-
chen in die Nähe von Neokolonialismus kommt.


(Beifall bei der LINKEN – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Was?)


Wir bedienen uns nicht nur der Rohstoffe von Drittlän-
dern, sondern auch ihres „Humankapitals“, wie es ein
Sachverständiger in der Anhörung am Montag aus-
drückte; ein Wort, das ich ausgesprochen schrecklich
finde; es war im Übrigen auch Unwort des Jahres 2004.
Neben diesen grundsätzlichen Bedenken gibt es im De-
tail weitere Defizite im Gesetzentwurf. Ich möchte auf
zwei eingehen:

Zunächst – das ist schon angesprochen worden – die
mangelhafte Umsetzung der EU-Richtlinie in einem zen-
tralen Punkt. Ich sage Ihnen: Die Berechnung der Ge-
haltsschwellen für Fachkräfte aus dem Ausland unter
Einbeziehung der Löhne von Menschen in Teilzeit und
in prekärer Beschäftigung verstößt eindeutig gegen die
EU-Vorgaben.


(Beifall bei der LINKEN)


Das haben in der Anhörung am Montag auch gleich drei
Sachverständige bestätigt.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Falsch!)


Die anderen haben sich dazu nicht konkret geäußert.
Nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie muss die Erteilung der
Bluecard davon abhängig gemacht werden, dass die Ge-
haltshöhe dem 1,5- bzw. 1,2-Fachen des durchschnittli-
chen Bruttojahresgehalts des betreffenden Mitgliedstaa-
tes, also in diesem Fall Deutschland, entspricht. Das ist
das Mindestniveau.

Ich unterstelle einfach einmal, dass die Bundesregie-
rung weiß, dass sie die Richtlinie in diesem Punkt falsch
umsetzt. Wie anders ist zu erklären, dass im Gesetzent-
wurf jede nachvollziehbare Darlegung der Berechnung
des Bruttojahresgehalts fehlt? Selbst auf Nachfrage mei-
ner Fraktion wurden die Zahlen verweigert. Das wundert

nicht; denn selbst wenn man die Zahlen der volkswirt-
schaftlichen Gesamtrechnung zugrunde legt – dies ist ja
nach Auskunft von unserem Staatssekretär Ole Schröder
die einzig mögliche und von der Bundesregierung ge-
wählte Bezugsgröße –, werden die Vorgaben der Richtli-
nie nicht erfüllt. Wir müssen auch nicht groß rechnen,
um den Trick der Bundesregierung zur möglichst effekti-
ven Absenkung der Mindestgehaltsschwelle zu durch-
schauen. Dieser besteht, wie gesagt, darin, nicht nur die
Gehälter der Vollzeitbeschäftigten heranzuziehen, son-
dern auch die Löhne von Teilzeit- und geringfügig Be-
schäftigten, Minijobbern, Schülern, Rentnern mit Aus-
hilfstätigkeiten usw.

Ich bitte Sie: Es geht hier um die Beschäftigung von
Hochqualifizierten, und Sie berechnen deren Mindestge-
halt mithilfe der häufig nicht einmal existenzsichernden
Löhne in prekären Beschäftigungen, für deren zahlen-
mäßige Vermehrung Sie im Übrigen verantwortlich sind!
Wenn Hochqualifizierte teilzeitbeschäftigt werden sol-
len, finde ich das okay. Dann können sie sich mehr um
die Familie kümmern; ich bin ja auch Familienpolitiker.
Dann ziehen Sie aber auch nur für diese die Löhne der
Teilzeitbeschäftigten heran.

Warum bezieht sich die Bundesregierung nicht auf die
Zahlen von Eurostat, wie es in der Richtlinie vorgesehen
ist? Einfach deshalb, weil sich diese Zahlen auf Vollzeit-
arbeitskräfte beziehen. Das Statistische Bundesamt hat
Eurostat deshalb zuletzt einen Wert von 42 100 Euro
Bruttojahresgehalt geliefert. Das anderthalbfache davon
sind 63 150 Euro. Das müsste nach der Richtlinie das
Mindestgehalt sein. Das sind aber fast 20 000 Euro
mehr, als von der Bundesregierung vorgesehen. Sehen-
den Auges nimmt diese Regierung lieber ein Vertrags-
verletzungsverfahren in Kauf, als von dem durchsichti-
gen Versuch, die Löhne zu drücken, abzulassen. Zu den
maßgeblichen Hintergründen wird nachher meine Kolle-
gin Krellmann noch Stellung nehmen.

Der zweite Punkt betrifft die Verhinderung des soge-
nannten Braindrain, also des Talentschwunds in den
Ländern, aus denen die Fachkräfte kommen. Auf die
Frage, ob eine Verordnung geplant ist – das ist ja vorge-
sehen –, um ein Ausbluten der Herkunftsländer bezüg-
lich der von ihnen ausgebildeten Fachkräfte zu verhin-
dern, und welche Kriterien eine solche Verordnung oder
Liste haben müsste, konnte die Bundesregierung am
Montag in der Anhörung keine Antwort geben. Viel-
leicht kann im Verlauf dieser Debatte noch jemand dazu
Auskunft geben. Denn ansonsten gehe ich davon aus,
dass es eine solche Verordnung nicht geben wird und
diese Bestimmung ein bloßes Feigenblatt darstellt. Aber
selbst wenn es eine solche Vorschrift geben sollte, be-
stünde nach wie vor noch die Möglichkeit, Fachkräfte
über § 18 Aufenthaltsgesetz einwandern zu lassen, ohne
auf die möglichen negativen Folgen in den Herkunfts-
ländern zu achten.

Von all dem abgesehen gilt – das ist schon angespro-
chen worden; Sie und ich wissen das auch –, dass die
Fachkräfte im Ausland, egal welche Gesetze wir hier er-
lassen, gewiss nicht nach Deutschland strömen werden,





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)


solange wir ein gesellschaftliches Klima haben, welches
nicht gerade der Migration zuträglich ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir konnten es gerade wieder live erleben, was für ein
Klima hier in Deutschland herrscht. Hören Sie endlich
auf, von Integrationsverweigerern und Einwanderern in
die Sozialsysteme zu schwadronieren! Wenn das aufhört,
würde das die Bereitschaft von Fachkräften, nach
Deutschland zu kommen, in der Tat fördern. Dann könn-
ten wir wirklich eine vernünftige Einwanderungspolitik
machen.


(Beifall bei der LINKEN)


Diesen Gesetzentwurf müssen wir ablehnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717601000

Das Wort hat jetzt der Kollege Memet Kilic von

Bündnis 90/Die Grünen.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717601100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Das Zuwanderungsgesetz hat sich zu einem
Paragrafendschungel entwickelt. Anstatt den Paragra-
fendschungel zu lichten, wurschtelt die Bundesregierung
darin weiter und erreicht nur eine Verdunkelung.

Die Bundesregierung hat in der ersten Plenardebatte
zur Hochqualifizierten-Richtlinie reumütig angekün-
digt, ihren mangelhaften Gesetzentwurf zu verbessern.
Allerdings hat sie mit ihren Änderungen nur für mehr
Verwirrung und weniger Transparenz gesorgt. Die Ein-
wanderungsmöglichkeiten für Hochqualifizierte hat sie
teilweise sogar verschlechtert. Der Teufel steckt hier im
Detail, Herr Bundesinnenminister.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Spezialisten und leitende Angestellte sollen in Zu-
kunft nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis für drei
Jahre erhalten. Bisher haben diese Personen eine Nieder-
lassungserlaubnis, also ein unbefristetes Aufenthalts-
recht, bekommen. Glaubt die Bundesregierung ernsthaft,
dass sie mit einem befristeten Aufenthaltsrecht die klu-
gen Köpfe aus dem Ausland locken kann? Denken Sie
wirklich, dass diese Leute mit einer befristeten Aufent-
haltserlaubnis ihre Zukunft in Deutschland planen wer-
den? Natürlich werden sich die Hochqualifizierten lieber
einen Staat aussuchen, der ihnen einen sicheren Aufent-
haltsstatus gibt. Die Bundesregierung verpasst hier lei-
der Chancen. Das geht nicht an.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Regierungsvorschlag, die Vergabe einer unbefris-
teten Aufenthaltserlaubnis für Hochqualifizierte von den
Deutschkenntnissen abhängig zu machen, ist fatal. Ein
Informatiker, für dessen Tätigkeit die englische Sprache
entscheidend ist, sollte nicht aufgrund geringer deut-
scher Sprachkenntnisse ausgeschlossen werden. Ansons-
ten kann Deutschland nur noch auf die klugen Köpfe aus
Österreich und der deutschsprachigen Schweiz hoffen.

Allerdings verlieren wir gerade selbst hochqualifizierte
Fachkräfte an diese Nachbarstaaten. Das ist doch hirnris-
sig, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Frist für die Umsetzung der Bluecard-Richtlinie
lief am 19. Juni letzten Jahres aus. Die Bundesregierung
ist nicht nur im Verzug, sondern setzt manche Vorgaben
der europäischen Richtlinie gar nicht um. Ein Beispiel
dafür ist die Festlegung der Gehaltsgrenze für hochquali-
fizierte Fachkräfte. Diese bemisst sich nach dem Gesetz-
entwurf der Bundesregierung an der Beitragsbemessungs-
grenze der allgemeinen Rentenversicherung. Hierzu ist
zum einen festzustellen, dass wir in Deutschland zwei
Beitragsbemessungsgrenzen haben, nämlich für Ost und
West, und zum anderen, dass die europäische Richtlinie
vorschreibt, dass die Gehaltsgrenze sich am durch-
schnittlichen Bruttojahresgehalt im jeweiligen Land
orientieren muss. Sie haben insofern einen mangelhaften
Gesetzentwurf vorgelegt, den Sie lieber zurückziehen
sollten. Wer die Blaue Karte EU so schlecht und schlam-
pig umsetzt wie die Bundesregierung, der verdient nur
eine Rote Karte, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Schwarz-Gelb beschränkt den Kreis der Begünstigten
auf Hochschulabsolventen. Menschen mit langjähriger
Berufserfahrung, deren Niveau mit einem Hochschulab-
schluss vergleichbar ist, werden nicht berücksichtigt.
Das sorgt für Streit innerhalb der Koalition. Der Gesund-
heitsminister Daniel Bahr gibt sich mit den geplanten
Änderungen nicht zufrieden. Er fordert, die Einwande-
rungsbedingungen für Pflegekräfte zu lockern. Während
sich die Koalition streitet, entgeht uns das großen Poten-
zial an Fachkräften. Wenn die Bundesregierung es ernst
meint mit der Anwerbung von klugen Köpfen aus dem
Ausland, muss sie endlich umdenken.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Da sagen die Sachverständigen aber etwas anderes!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fasse zusam-
men: Bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist
der große Wurf leider ausgeblieben.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sie reden, wir haben es gemacht!)


Trippelschritte im Zuwanderungsrecht reichen nicht aus,
zumal es auch teilweise Rückwärtsschritte sind. Der Ge-
setzentwurf ist nicht nur kleinteilig und bürokratisch,
sondern enthält sogar Vorschriften zur Verschärfung der
derzeitigen Rechtslage. Insgesamt ist dieses halbherzige
Vorgehen ein falsches Signal an diejenigen Fachkräfte,
denen man angeblich attraktive Einwanderungsbedin-
gungen bieten möchte.

Im Gegensatz zur Bundesregierung arbeiten wir kon-
struktiv. Deshalb haben wir zu unseren Kritikpunkten ei-
nen sinnvollen und lösungsorientierten Entschließungs-
antrag eingebracht. Hier kann die FDP endlich über





Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)


ihren eigenen Schatten springen, eine letzte gute Tat tun
und unserem Antrag zustimmen.

Wir müssen dringend das deutsche Einwanderungs-
recht grundlegend und umfassend reformieren. Die Leit-
gedanken sollten dabei sein: erstens Vereinfachung,
zweitens mehr Systematik und Transparenz sowie drit-
tens weniger Bürokratie. Das kann man am besten mit
der Schaffung eines sogenannten Punktesystems reali-
sieren. Dazu haben wir bereits einen Antrag eingebracht,
der heute auch zur Abstimmung steht. Neben dem DGB,
den Arbeitgeberverbänden und der Wissenschaft streben
auch SPD und FDP ein Punktesystem an. Die Linke
spielt dabei mit der Union die Dagegenpartei und blo-
ckiert die notwendige Modernisierung. Dafür bekom-
men beide null Punkte.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der LINKEN)


Vielen Dank, meine Damen und Herren.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Rainer Brüderle [FDP]: Kindergarten!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717601200

Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Grindel von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1717601300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Kollegin Kolbe, Sie haben es für notwendig erach-
tet, diese Debatte zu einem Angriff auf unseren Frak-
tionsvorsitzenden zu nutzen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Majestätsbeleidigung! Der treue Schildknecht steht ihm bei!)


Ich finde, Sie sollten darüber nachdenken, ob man nicht
ausländische Mitbürger auch dadurch verunsichert, dass
man Äußerungen des politischen Gegners bewusst fehl-
interpretiert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Unsere Mitbürger muslimischen Glaubens gehören zu
uns und zu unserem Land. Wir führen mit ihnen den Dia-
log.


(Zuruf von der LINKEN: Wer ist denn „wir“?)


Aber wer den Dialog führt, der muss seine eigene Identi-
tät, seine eigene Geschichte und seine eigene Herkunft
kennen. Sonst kann kein ehrlicher Dialog geführt wer-
den.


(Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Bestreitet auch keiner!)


Dazu hat sich Volker Kauder geäußert. Sie sollten nicht
mit Fehlinterpretationen unsere ausländischen Mitbürger
verunsichern und damit politische Spielchen treiben. So
erreichen Sie genau das, was Sie meinten, Volker Kauder

vorwerfen zu müssen. Das ist nicht in Ordnung, Frau
Kollegin.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Mit unserem Gesetzentwurf kommen wir einem im-
mer wieder gerade auch von der Wirtschaft vorgetrage-
nen Wunsch nach, nämlich den Zugang von ausländi-
schen Fachkräfte zu erleichtern, ohne allerdings auf eine
notwendige Steuerung der Zuwanderung zu verzichten.
Wir beseitigen bürokratische Hürden und erleichtern es
den Unternehmen gerade aus dem Mittelstand, gegen
den Fachkräftemangel anzugehen.

Ich will jedoch gleich eines festhalten: Beim Kampf
um die klugen Köpfe reicht es nicht aus, allein für eine
transparente und nachvollziehbare rechtliche Grundlage
zu sorgen. Jetzt ist die Wirtschaft gefragt, selbst substan-
zielle Beiträge zu leisten und Deutschland attraktiver für
kluge Köpfe zu machen, die aus aller Welt zu uns kom-
men sollen. Eines müssen wir uns ja vor Augen führen:
Leider verlassen Deutschland immer noch mehr Fach-
kräfte, als neue zu uns kommen. Das kann ersichtlich
nicht am Ausländerrecht liegen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Woran liegt das wohl?)


Seit der Öffnung der Grenzen für Arbeitskräfte aus den
zehn neuen EU-Beitrittsländern sind gerade einmal
60 000 Arbeitnehmer aus diesen Staaten zu uns gekom-
men. Mit bis zu einer halben Million hatte man gerech-
net. Deutschland muss insgesamt attraktiver werden.
Das geht über die rechtlichen Rahmenbedingungen hi-
naus.

Ausländischen Fachkräften muss schlicht und ergrei-
fend eine bessere Bezahlung angeboten werden. Auslän-
dische Studienabsolventen, in die wir gerade viel inves-
tiert haben, dürfen nicht mit Praktika oder kurzfristigen
Zeitverträgen abgespeist werden, sondern sie müssen
eine ordentliche Anstellung bekommen. Und unsere Un-
ternehmen müssen mehr in die Sprachkompetenz ihrer
Mitarbeiter investieren. Das ist genau das, was wir mit
Willkommenskultur meinen. Es müssen diejenigen, die
nicht zuletzt zu unserem Wohlstand beitragen, die not-
wendigen Rahmenbedingungen vorfinden, um sich in
unserem Land wohlfühlen zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich will deutlich hervorheben, dass die Koalitions-
fraktionen substanzielle Veränderungen des ursprüngli-
chen Gesetzentwurfs der Bundesregierung vorgenom-
men haben. Unsere Änderungen haben das Gesetz besser
gemacht. Das ist uns in einer bei dieser ausländerrechtli-
chen Thematik ungewöhnlichen Breite von den Sachver-
ständigen bei der Anhörung am Montag bestätigt wor-
den. Deswegen wird sich die SPD, auch wenn man es
nach der Rede von Frau Kolbe kaum glauben kann,
heute hier wie im Innenausschuss enthalten.

Wenig Verständnis habe ich angesichts dieser Diskus-
sionslage dafür, dass ausgerechnet der Deutsche Indus-
trie- und Handelskammertag größter Kritiker unseres





Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)


neuen Gesetzes ist, noch dazu mit Argumenten, die von
Sachkenntnis völlig ungetrübt sind. Ich will hier eines
deutlich betonen: Es wäre auch Aufgabe des DIHK mit
seinen Außenhandelskammern gewesen, also den Ver-
tretungen in den Ländern, in denen die klugen Köpfe
sind, die zu uns kommen sollen, mehr zu tun, um Fach-
kräfte für den Arbeitsplatzstandort Deutschland zu inte-
ressieren. Da hat es in der Vergangenheit erhebliche Ver-
säumnisse gegeben. Ich rufe uns alle auf, Politik, aber
auch Wirtschaft, gemeinsam mehr zu tun, wo immer wir
können, gerade auch im Ausland, um dafür zu werben,
hier in Deutschland sein Glück zu machen und hier sei-
nen Arbeitsplatz zu wählen. Die notwendigen Rahmen-
bedingungen haben wir dafür jetzt geschaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In Zukunft gibt es einen einheitlichen Aufenthaltstitel
für ausländische Fachkräfte. Wer sagt, lieber Herr Kol-
lege Kilic, wir hätten den Dschungel noch vergrößert,


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich!)


der rennt als Schwarzmaler mit einer Sonnenbrille durch
den Dschungel. Das kann man so nicht stehen lassen.
Nach drei Jahren Beschäftigung gibt es jetzt für alle eine
Niederlassungserlaubnis. Wir glauben, dass man in der
Tat von einer Integration in den Arbeitsmarkt ausgehen
kann. Wenn der betroffene ausländische Arbeitnehmer
besonders gute Deutschkenntnisse nachweist, dann kann
er schon nach zwei Jahren die Niederlassungserlaubnis
erlangen.

Ich will hier – auch der Bundesinnenminister hat das
dankenswerterweise schon getan – noch einmal beson-
ders hervorheben: Erstmals verknüpfen wir im Aufent-
haltsrecht eine Integrationsleistung mit einer Verbesse-
rung des Aufenthaltsstatus. Das ist der eigentliche
Paradigmenwechsel in diesem neuen Gesetz: Die aufent-
haltsrechtliche Situation des Ausländers verbessert sich,
je mehr er selbst für seine Integration leistet. Das halte
ich für die wegweisende Neuorientierung. Wir sollten
überlegen, das auch an anderen Stellen des Ausländer-
rechts zu machen. Wer Ja zu unserem Land sagt, wer
sich selbst um die Integration bemüht, wer gute Sprach-
kenntnisse erwirbt,


(Zuruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


der bekommt auch schneller einen gesicherten Aufent-
haltsstatus. Das ist kluge Integrationspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717601400

Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kilic?


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1717601500

Wenn er nicht wieder irgendwelche Karten zeigt und

Noten gibt, ja.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717601600

Lieber Herr Kollege Grindel, stimmen Sie mir zu,

dass Sie in § 19 Abs. 2 Nr. 3 eine Regelung streichen?
Bisher bekommen die dort genannten Spezialisten und
leitenden Angestellten eine Niederlassungsgenehmi-
gung. Sie werden im Zuge der Bluecard-Regelung jetzt
in den neu geschaffenen § 19 a geschoben. Dadurch er-
reichen Sie nur Verwirrung.

Stimmen Sie mir auch zu, dass die Hochqualifizierten
gemäß § 19 ihre Ehegatten nachziehen lassen und mit-
nehmen konnten, ohne dass sie deutsche Sprachkennt-
nisse hatten, und diese eine eigenständige Niederlas-
sungsgenehmigung und Arbeitsgenehmigung bekommen
haben, jetzt aber, wo sie in den § 19 a geschoben werden,
die Ehegatten die Niederlassungsgenehmigung nicht au-
tomatisch bekommen, es sei denn, sie sind Bluecard-In-
haber oder Pflegekräfte, und sie ihre Ehegatten nur dann
mitnehmen können, wenn die Ehe bereits bestanden hat,
aber nachziehende Ehegatten dann doch deutsche
Sprachkenntnisse nachweisen müssen?

Ist das eine Vereinfachung, oder wie soll man das ver-
stehen? Können Sie mir erklären, wieso ich mich ange-
sichts dessen wie mit einer Sonnenbrille im Dschungel
bewegen soll?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1717601700

Was meinen Sie wohl, was die Zuschauer, die uns

jetzt über Phoenix zuschauen, bei Ihrer Frage eben ge-
dacht haben? Die haben nichts verstanden.


(Beifall des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP] – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihre Frage zeigt, dass Sie das Gesetz nicht verstanden
haben.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt jetzt einen einheitlichen Aufenthaltstitel für alle
und damit natürlich auch für die Gruppe, die Sie ange-
sprochen haben. Es wäre doch völlig widersinnig, wenn
wir einen Aufenthaltstitel für Bluecard-Inhaber und dann
noch einen Aufenthaltstitel für leitende Angestellte und
Spezialisten hätten. Wir schaffen eine einheitliche Rege-
lung beim Ehegattennachzug; das haben wir Ihnen ge-
sagt. Die Spezialisten und Fachleute werden jetzt ge-
nauso behandelt wie alle anderen Bluecard-Inhaber. Sie
werden eine dauerhafte Perspektive in Deutschland ha-
ben, wenn sie so qualifiziert sind, wie sie es nach der ge-
setzlichen Grundlage sein müssen. Das ist ja gerade,
wenn Sie so wollen, das Anti-Dschungel-Instrument die-
ses Gesetzes: ein Aufenthaltstitel für alle ausländischen
Fachkräfte, die zu uns kommen wollen. Ich halte das für
transparent, für nachvollziehbar, und das wird hoffent-
lich erfolgreich sein, wenn man nicht mit solchen ver-
wirrenden Zwischenfragen Unruhe und Unfrieden stif-
tet, Herr Kollege Kilic.





Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will nur noch auf einen Punkt hinweisen, bei dem
es um eine Frage der inhaltlichen Sichtweise von Politik
geht. Sie haben im Innenausschuss einen Änderungsan-
trag zu der Regelung eingebracht, die ich gerade genannt
habe: Rund drei Jahre guter Aufenthalt mit Beschäfti-
gung in Deutschland führt zur Niederlassungserlaubnis;
wenn man gute Deutschkenntnisse hat, gibt es die Nie-
derlassungserlaubnis schon nach zwei Jahren. Das woll-
ten Sie streichen. Sie schreiben zur Begründung Ihres
Änderungsantrages – das muss man sich wirklich auf der
Zunge zergehen lassen –:

Mit dem Änderungsantrag wird darüber hinaus die
Pflicht, Deutschkenntnisse nachzuweisen, gestri-
chen.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für Hochqualifizierte!)


Das ist der Unterschied zwischen Grünen und CDU/
CSU: Wir prämieren, wenn man Deutsch lernt. Sie wol-
len prämieren, wenn man nicht Deutsch lernt.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Das ist doch völliger Blödsinn!)


Das ist der Unterschied in der Integrationspolitik. Ich
halte den Weg, den Sie da beschreiten, Herr Kollege
Kilic, für einen ziemlichen Irrweg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich kann auch beim besten Willen nicht nachvollzie-
hen, wie Sie uns hier Lohndumping vorhalten können;
denn gerade Lohndumping und ausbeuterische Arbeits-
bedingungen werden mit dem Bluecard-Gesetz verhin-
dert. Die von uns gewählten Einkommensgrenzen sorgen
gerade dafür, dass tatsächlich nur qualifizierte Fach-
kräfte in unser Land kommen. Kein einheimischer Ar-
beitsloser muss befürchten, durch das Bluecard-Gesetz
ins Hintertreffen zu geraten. Gleichzeitig sehen wir bei
den Mangelberufen, bei denen die Einkommensgrenzen
etwas niedriger liegen, sogenannte Vergleichbarkeitsprü-
fungen vor, die eben für faire Arbeits- und Entlohnungs-
bedingungen sorgen. Unser Gesetz sorgt gerade nicht da-
für, dass Arbeitslosen in Deutschland Konkurrenz durch
willige und billige Arbeitskräfte aus dem Ausland ent-
steht. Das wollen wir als CDU/CSU gerade nicht, liebe
Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir wollen auch, dass es dabei bleibt, dass derjenige,
der als Deutscher oder Ausländer bei der Bundesagentur
als Arbeitsloser gemeldet ist und in genau der gleichen
Weise qualifiziert ist wie eine ausländische Fachkraft,
die in unser Land kommen soll, grundsätzlich Vorrang
hat, wenn es darum geht, einen Arbeitsplatz zu besetzen.
Daran wird nicht gerüttelt. Es bleibt beim Vorrang unse-
rer einheimischen Arbeitslosen. Es gibt jetzt die Ver-
pflichtung – Kollege Wolff hat zu Recht darauf hinge-
wiesen –, dass die Bundesagentur innerhalb von zwei

Wochen entscheidet; sonst gilt die Zustimmung als er-
teilt. Aber es bleibt eben beim Vorrang.

Schlusssatz, Herr Präsident: Mit unserem Gesetz zur
Zuwanderung von ausländischen Fachkräften machen
wir den Arbeitsplatz- und auch den Studienstandort
Deutschland attraktiver. Die Politik hat die notwendigen
Rahmenbedingungen geschaffen. Jetzt ist die Wirtschaft
an der Reihe, ihren Beitrag zu leisten, damit unser Land
den Kampf um die klugen Köpfe gewinnt.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717601800

Das Wort hat der Kollege Swen Schulz von der SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1717601900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland
muss ein offenes Land werden – offener, als es heute be-
reits ist, ein Land, das Menschen einlädt, zu uns zu kom-
men und hier mitzuhelfen, mitzutun. Es ist wichtig, dass
Deutschland ein Land wird, das Menschen Chancen gibt,
auch Anerkennung gibt – unabhängig von ihrer Her-
kunft.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das Anerkennungsgesetz haben wir auch schon geschaffen!)


Das ist wichtig für unsere Gesellschaft. Das ist wichtig
für die Entwicklung von Wirtschaft und Arbeit und auch
für die Finanzierung von sozialer Sicherheit.

Die gute Nachricht von heute – bei allen Unterschie-
den in der Debatte – ist, dass alle Fraktionen bekundet
haben, dass sie das vom Grundsatz her genauso sehen.
Das war aber in der Vergangenheit mitnichten immer der
Fall. Wir erinnern uns noch sehr genau daran, wie es
war, als Rot-Grün unter Bundeskanzler Gerhard
Schröder ein Zuwanderungsgesetz vorgelegt hat. Es
wurde insbesondere von der CDU/CSU nachgerade mit
dem Messer zwischen den Zähnen bekämpft. Wir wissen
das noch sehr genau.


(Beifall bei der SPD – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Weil es einfach schlecht war! Schlechten Gesetzen muss man doch nicht zustimmen, Herr Schulz!)


Aber Sie sind inzwischen ein gutes Stück weit auf uns
zugekommen. Das will ich hier auch einmal positiv her-
vorheben. Dies zeigt sich auch bei der Umsetzung der
Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union.
Es hat lange gedauert; es war mühsam; es bedurfte des
Anschubs der Europäischen Union. Aber jetzt gab es im-
merhin dann doch den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung.

Was mich heute Morgen ganz besonders milde
stimmt, ist Folgendes: Die Koalitionsfraktionen sind auf
Verbesserungsvorschläge eingegangen. Wir haben unter





Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)


anderem beantragt, dass die Zuverdienstmöglichkeiten
ausländischer Studierender verbessert werden und dass
die Frist für die Arbeitsplatzsuche von Absolventen ver-
längert wird. Dem sind Sie gefolgt.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Keine Sorge! Auf die Idee sind wir allein gekommen!)


Die Beratungen haben also etwas gebracht. Das will ich
hier auch einmal ausdrücklich loben, meine sehr verehr-
ten Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD)


Bevor Sie jetzt aber vor lauter Komplimenten von
meiner Seite rot werden, will ich doch noch auf einige
Fehlstellen hinweisen.

Im Gesetz werden beruflich Qualifizierte schlechter
gestellt als Akademiker. Das ist ein Problem. Auch bei
der Definition der Angemessenheit der Arbeit hätte es
Vereinfachungen geben sollen. Grundsätzlich wäre es
besser gewesen, ein reformiertes Zuwanderungsrecht zu
schaffen, anstatt an einzelnen Stellen herumzuschrau-
ben. Erst mit einem neuen Punktesystem aus einem Guss
kommen wir wirklich auf einen internationalen Stan-
dard, der uns voranbringt. Aber da waren offenbar die
Einwände und die Vorbehalte bei der Union zu groß.

Es gibt noch andere Themen, die die Koalition nicht
im Blick hat. So ist die Frage der Fachkräfte eine The-
matik nicht nur des Zuwanderungs- und des Aufenthalts-
rechts. Da braucht es eine Politik, in der die Zahnräder
ineinandergreifen und sich sozusagen ergänzen. Das
lässt die Koalition leider schmerzlich vermissen. Ich will
hierzu nur einige Stichworte aus dem Bereich der Bil-
dungspolitik nennen.

Nach einer aktuellen Studie bekunden 80 Prozent der
ausländischen Studierenden, dass sie nach ihrem Ab-
schluss hierbleiben wollen; aber nur 26 Prozent schaffen
das tatsächlich. Das ist selbstverständlich auch eine
Frage des Aufenthaltsrechts, aber eben nicht nur. Da
geht es auch um weitere Rahmenbedingungen.

An dieser Stelle will ich auf einige Punkte hinweisen.
Menschen, die hier arbeiten wollen und Familie haben,
nützt eine Diskussion um das Betreuungsgeld überhaupt
nichts. Sie brauchen Betreuungsangebote, meine sehr
verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie brauchen gute Schulen mit den entsprechenden
Ganztagsangeboten. Für ausländische Absolventen be-
nötigen wir auch mehr Studienplätze. Da ist eine Aufsto-
ckung der Mittel des Hochschulpaktes erforderlich. An
allen diesen Stellen herrscht bei der Regierungskoalition
leider Fehlanzeige.

Ganz wichtig ist, dass natürlich auch und vor allem
die Menschen, die bereits hier leben, in der Bildung und
im beruflichen Bereich unterstützt und gefördert werden.
Da ist das Betreuungsgeld genau falsch; es ist kontrapro-
duktiv.

Außerdem brauchen wir endlich bessere Schulen. Da
muss der Bund dann auch den Ländern helfen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Die Länder sind aber zuständig, Herr Kollege!)


Aber Sie von der Regierungskoalition verweigern sich ja
der Aufhebung des Kooperationsverbotes im Bildungs-
bereich.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das machen doch die Länder nicht mit! Reden Sie doch nicht so einen Unsinn!)


Zudem brauchen wir mehr Studienplätze. Aber die Fi-
nanzplanung der Bundesregierung sieht nach der Bun-
destagswahl 2013 eine Kürzung im Bildungsbereich vor.
CDU/CSU und FDP setzen den Rotstift an der Bildung
an, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist ge-
nau der falsche Weg.


(Beifall bei der SPD – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: So ein Quatsch!)


– Schauen Sie sich doch die mittelfristige Finanzplanung
Ihrer Bundesregierung an. Was passiert denn nach 2013?
2014 bis 2016 sind über eine halbe Milliarde Euro weni-
ger vorgesehen. Das ist die bittere Wahrheit. Sie sollten
sich einmal mit Ihren eigenen Vorlagen beschäftigen,
liebe Kollegen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Schauen Sie sich einmal an, was in Ihrem Landeshaushalt passiert!)


Bei allem Lob, das ich Ihnen zu Beginn der Rede für
Verbesserungen an dem Gesetzentwurf gezollt habe, fällt
die Bilanz insgesamt also ziemlich durchwachsen aus.
Ordentlich voran kommen wir wohl erst bei einem Re-
gierungswechsel nach den nächsten Wahlen.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717602000

Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1717602100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch ich glaube, es ist heute ein guter Tag; denn wir
brauchen in Deutschland dringend mehr Zuwanderung.
Ich bin froh darüber, dass hierin offenbar zwischenzeit-
lich Einigkeit besteht.

Die Lage ist klar. Schauen wir uns die demografische
Entwicklung an: Im Jahr 2025 werden wir in Deutsch-
land 6,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter
weniger haben als heute. Negative Auswirkungen sind
schon heute absehbar. Wenn ich mit mittelständischen





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


Unternehmen meines Wahlkreises im Sauerland rede,
zum Beispiel mit Unternehmen der Automobilzuliefer-
industrie, dann sagen die Unternehmer: Wenn wir in Zu-
kunft Ingenieurstellen nicht mehr besetzen können, dann
wird das auch die Arbeitsplätze der Angestellten in der
Produktion gefährden. Umgekehrt gilt: Wenn wir gute
und hochqualifizierte Ingenieure finden, dann ist sicher-
gestellt, dass wir auch in Zukunft innovative Produkte
entwickeln und weitere Arbeitsplätze schaffen können. –
Deswegen müssen wir alles tun, um auf den demografi-
schen Wandel zu reagieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das heißt zuvorderst, sich den inländischen Potenzia-
len zu widmen. Es geht natürlich um die Älteren am
Arbeitsmarkt, um Frauen am Arbeitsmarkt, um Weiter-
bildung, Qualifikation und lebenslanges Lernen, um die
Anerkennung von Abschlüssen und um die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit. All diesen Themen widmet sich die
christlich-liberale Koalition bereits sehr erfolgreich.

Aber all das zusammen wird nicht reichen. Auch wenn
in allen Bereichen alles gelingt: Ohne mehr Zuwanderung
wird es nicht gehen. Deshalb ist es richtig, dass wir uns
auf die erfolgreiche Zuwanderungstradition in Deutsch-
land berufen. Man muss noch einmal klar sagen: In
Deutschland ist die Zuwanderung eine Erfolgsgeschichte.
Vor 300 Jahren sprach ein Viertel der Einwohner in Berlin
fließend Französisch. Vor 100 Jahren sprachen eine halbe
Million Menschen im Ruhrgebiet fließend Polnisch.
Heute sprechen zwei Millionen Menschen in diesem
Land fließend Türkisch, weil sie türkische Wurzeln ha-
ben. All diese Zuwanderer in der Vergangenheit haben
nicht nur unsere Gesellschaft bereichert, sondern auch die
wirtschaftliche Erfolgsgeschichte in Deutschland mitge-
schrieben. Das muss man klar sagen.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was folgt daraus?)


Deshalb müssen wir uns auf diese Tradition besinnen;
denn heute – das müssen wir ehrlich anerkennen – sind
wir nicht gut im Wettbewerb um die klugen Köpfe auf
dem globalen Arbeitsmarkt. Das hat Gründe. Diese lie-
gen auch in unserem Zuwanderungssystem. Wir müssen
uns folgende Situation vergegenwärtigen: Wenn sich
beispielsweise ein gut ausgebildeter junger Mensch von
den Philippinen überlegt hat, sein Land zu verlassen und
in Deutschland zu arbeiten, dann musste er Deutsch
sprechen lernen – das ist richtig und muss auch so blei-
ben –, weil hier nicht allein die Weltsprache Englisch ge-
sprochen wird. Aber außerdem musste dieser junge
Mann, der sich vom Ausland aus auf eine Stelle bewarb,
in Deutschland eine langwierige Vorrangprüfung durch
die Bundesagentur für Arbeit durchlaufen, oder er
musste sehr viel verdienen, was für die meisten Berufs-
einsteiger völlig unrealistisch ist.

In Kanada beispielsweise kann jemand innerhalb we-
niger Minuten im Internet ermitteln, ob er zuwandern
darf. Ist das der Fall, dann bekommt er die Genehmigung

zur Einreise. Danach kann er sich innerhalb eines Jahres
in Ruhe um einen Arbeitsplatz kümmern. Man muss sich
also nicht wundern, dass das bisherige System in
Deutschland nicht wettbewerbsfähig war. Es ist gut, dass
sich die christlich-liberale Koalition die Aufgabe stellt,
das zu reformieren. Das ist ein Erfolg für unser Land.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schauen wir uns an, was durch den Gesetzentwurf er-
reicht werden soll. Die Vorrangprüfung für Mangelbe-
rufe wird ausgesetzt. Eine Genehmigungsfiktion bei der
Vorrangprüfung wird eingeführt. Die Gehaltsgrenzen für
Mangelberufe werden auf ein realistisches Maß zurück-
geführt. Wir geben den Menschen, die hier studiert ha-
ben und sich danach einen Arbeitsplatz suchen wollen,
bessere Voraussetzungen als bisher. Hier wünsche ich
mir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
tion, angesichts dieses Paradigmenwechsels mehr Aner-
kennung.


(Zuruf von der SPD: Noch mehr?)


Ich habe mich über Ihr Lob gefreut. Aber eines haben
Sie unterschlagen: Durch die Einführung des Arbeit-
suchvisums kommen wir erstmalig von der zwingenden
Voraussetzung des Vorliegens eines Arbeitsplatzes weg,
auf den man sich vom Ausland aus bewerben muss. Das
ist ein entscheidender Paradigmenwechsel. Diese Sys-
temveränderung leiten wir ein. Das ist gut für unser
Land. Das ist die entscheidende Reform, über die wir
uns heute alle freuen können.


(Beifall bei der FDP)


Richtig ist natürlich: Es kann nicht nur bei einem Sys-
tem bleiben. Ein wettbewerbsfähiges modernes Zuwan-
derungssystem ist ein entscheidender Faktor im Wettbe-
werb um die klugen Köpfe. Das ist aber nicht der
einzige.

Wir brauchen drei Dinge, drei Ws: Zunächst benöti-
gen wir ein wettbewerbsfähiges System; das führen wir
heute ein. Hiermit schaffen wir den entscheidenden
Schritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus müssen
– und da wird die Wirtschaft in der Tat besonders gefor-
dert sein – die deutschen Unternehmen um die klugen
Köpfe im Ausland werben; sie müssen eine ganz kon-
krete Anwerbungspolitik betreiben. Außerdem – ich
freue mich, dass auch darüber heute Konsens herrscht –
brauchen wir eine Willkommenskultur. Das halte ich im
Übrigen für eine überparteiliche Aufgabe. In der Vergan-
genheit ist hier in allen politischen Bereichen viel schief-
gelaufen. Wir – das heißt die deutschen Behörden, wir
als Politiker und die deutsche Gesellschaft – brauchen
eine gemeinsame Willkommenskultur.

Ich will mit gutem Beispiel vorangehen und möchte
in diesem Zusammenhang den neuen Bundespräsidenten
Gauck zitieren. Zum Thema Willkommenskultur hat
nicht nur der vorherige Bundespräsident kluge und wich-
tige Dinge gesagt, sondern gestern in der Paulskirche in
Frankfurt auch der neue Bundespräsident Gauck. Er
sprach zu jungen Migrantinnen und Migranten, also
Menschen mit ausländischen Wurzeln, die im Rahmen





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


eines Stipendienprogramms, das vor zehn Jahren einge-
führt wurde, gefördert werden. Er hat etwas gesagt, was
der Grundsatz einer Willkommenskultur sein sollte und
was wir denjenigen Menschen, die noch nicht in
Deutschland leben, ebenfalls sagen sollten. Ich zitiere
den Bundespräsidenten:

Wir glauben an Euch! Nicht nur als Fachkräfte von
morgen, sondern als Bürger, Menschen an unserer
Seite, hier in diesem unserem Land!

Dem ist nichts hinzuzufügen. Das ist der Geist unserer
Politik.

Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717602200

Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Krellmann von

der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717602300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich freue mich auf die Zuwanderung von vie-
len Menschen aus dieser Welt. Allerdings finde ich, dass
dieser Gesetzentwurf nichts anderes ist als wieder ein-
mal der Versuch, Lohndumping in dieser Republik zu
befördern.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Oh weh!)


Sie wollen die Mindestgehaltsgrenzen für die Ertei-
lung der Aufenthaltsgenehmigung von Beschäftigten aus
außereuropäischen Ländern deutlich unter den bestehen-
den Tarifentgelten ansetzen.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Legen Sie doch mal die ideologischen Scheuklappen ab!)


– Jetzt rede ich, danach dürfen Sie. – Das ist unverant-
wortlich, sowohl gegenüber den zuwandernden wie auch
gegenüber den einheimischen Arbeitskräften. Die Be-
schäftigten werden gegeneinander ausgespielt. Der Wert
von Tarifverträgen für Hochqualifizierte wird von der
Politik infrage gestellt. Wo bleibt eigentlich Ihr Auf-
schrei bei diesem politischen Angriff auf die Tarifauto-
nomie?


(Beifall bei der LINKEN)


Sie präsentieren sich an anderer Stelle, insbesondere
wenn es um Mindestlöhne geht, als die großen Hüter.
Und jetzt? Anscheinend gilt Ihre Sorge um die Tarifauto-
nomie nur dann, wenn Sie die Interessen von Arbeitge-
bern schützen können.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meinem Bundesland,
aus Niedersachsen: Nach den Vorstellungen der Koali-
tion soll ein hochqualifizierter Ingenieur aus einem
Nicht-EU-Staat in Zukunft hierzulande für ein Entgelt
von 34 000 Euro im Jahr arbeiten können. Derzeit be-
läuft sich dieser Schwellenwert auf 66 000 Euro pro
Jahr. Ein Ingenieur oder eine Ingenieurin mit Fachhoch-

schulausbildung verdient in Niedersachsen nach Tarif-
vertrag 47 000 Euro pro Jahr, ein Diplomingenieur oder
eine Diplomingenieurin 53 000 Euro. Es liegt auf der
Hand, dass bei der beabsichtigten Absenkung der Min-
destgehaltsgrenze Ingenieure und Ingenieurinnen aus
dem Nicht-EU-Ausland dazu missbraucht werden kön-
nen, um das derzeitige Einkommensniveau der heutigen
Ingenieure unter Druck zu setzen.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sie haben den Markt nicht verstanden!)


Das ist nicht hinnehmbar!


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linksfraktion lehnt diesen Gesetzentwurf deshalb
entschieden ab. Wir lehnen es ab, dass sich die Unter-
nehmen hemmungslos auf dem weltweiten Arbeitsmarkt
günstig bedienen können, statt für gute Jobs, für Qualifi-
kation ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und für ge-
nügend Ausbildungsplätze zu sorgen.

Sie, meine Damen und Herren von der Koalition,
schieben den Fachkräftemangel doch nur vor. Es gibt er-
hebliche Zweifel über das Ausmaß des Fachkräfteman-
gels. Ich erinnere nur daran, dass beispielsweise das
DIW, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, ei-
nen nennenswerten Ingenieurmangel bestreitet. Für
meine Region kann ich nicht behaupten, dass es keine
Probleme gäbe. Bei uns klagen Betriebe durchaus über
Ingenieurmangel, insbesondere im Bereich Elektrotech-
nik. Die Unternehmen klagen aber nicht über die Höhe
des Schwellenwertes, sie fordern auch nicht die Absen-
kung, sondern ihr Ziel ist die Einstellung von Fachkräf-
ten. Sie bieten freiwillig gute Bedingungen und gutes
Geld.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie etwas gegen den Fachkräftemangel in
diesem Land tun wollen, dann erweisen Sie diesem
Anliegen mit Ihrem Gesetzentwurf regelrecht einen Bä-
rendienst. Lohndrückerei hat mit nachhaltiger Beschäfti-
gungspolitik und Qualitätssicherung nichts zu tun. Was
wir eigentlich brauchen, ist ein umfassendes Maßnah-
menpaket. Wir brauchen gute Tarifverträge, gute Ausbil-
dungs- und Arbeitsbedingungen, den Abbau von Bil-
dungshürden und die langfristige Förderung und
Weiterbildung der Menschen hier in diesem Land.


(Beifall bei der LINKEN)


Die IG Metall, Bezirk Niedersachsen und Sachsen-
Anhalt, hat am vergangenen Montag ein solides Konzept
mit Maßnahmen für die Fachkräftesicherung im Inge-
nieursbereich vorgelegt. Ich kann Ihnen die Lektüre die-
ses Konzepts nur wärmstens empfehlen.

Die Linke fordert: Streichen Sie die Anstiftung zum
Lohndumping aus diesem Gesetzentwurf. Das wäre ganz
einfach: Sie müssten einfach nur die Vorgaben der EU-
Richtlinie umsetzen.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: So ein Blödsinn!)


Mein Kollege Wunderlich hat das hier schon dargelegt.





Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)



(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ja, der hat es nicht verstanden!)


Orientieren Sie die Mindestgehaltsgrenze am durch-
schnittlichen Bruttojahresgehalt eines Vollzeitbeschäf-
tigten und lassen Sie uns dann darüber sprechen, wie wir
die Fachkräftesituation verbessern können, und zwar im
Interesse der zuwandernden und der einheimischen Be-
schäftigten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717602400

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die

Kollegin Kerstin Andreae.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717602500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die wichtigste Ressource unserer Wirtschaft
sind die Köpfe gut ausgebildeter Fachkräfte. Der VDI
sagt: Uns fehlen derzeit 110 000 Ingenieure; damit ein-
her geht ein Wertschöpfungsverlust von 8 Milliarden
Euro. Deutsche Schlüsselindustrien wie Maschinenbau,
Elektrotechnik, Fahrzeugbau und Telekommunikation
sind massiv betroffen. Aber auch in anderen Branchen
fehlen Fachkräfte; etwa im Pflegebereich gibt es 42 000
offene Stellen.

Deshalb brauchen wir eine bessere Aus- und Weiter-
bildung von Jugendlichen und von älteren Beschäftigten
und natürlich die Integration der Frauen in den Arbeits-
markt. Darüber hinaus sind deutlich attraktivere Be-
dingungen für qualifizierte Spezialisten und Hoch-
schulabsolventen aus dem Ausland und deren
Familienangehörige vonnöten. Ich betone: Es bedarf
deutlich besserer Bedingungen. Diese beiden Aspekte
– Bildung hier, Zuwanderung dort – dürfen wir nicht ge-
geneinander ausspielen; wir brauchen beides.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hartfrid Wolff [RemsMurr] [FDP]: So ist es!)


Die Umsetzung der EU-Hochqualifizierten-Richt-
linie wäre eine Chance für eine neue Willkommenskul-
tur. Aber Sie verstecken sich hinter dieser Richtlinie, an-
statt sie als Türöffner zu nutzen. Viele Regelungen in
diesem Gesetzentwurf sind kleinteilige Ausnahmen, die
manches eher erschweren. Damit bauen Sie Hürden auf.
Die in Sonntagsreden geforderte Willkommenskultur
wird genau damit nicht geschaffen. Sie verstecken sich.
Sie springen halb, aber keineswegs ganz, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren von der Koalition.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir springen ganz hoch!)


Ich möchte ein Beispiel nennen. Herr Vogel hat von
der arbeitsplatzunabhängigen Einwanderung von Hoch-
schulabsolventen gesprochen. Gute Idee! Hochschulab-
solventen können für sechs Monate – nach unserer Auf-
fassung wäre ein Zeitraum von einem Jahr besser
gewesen – hierherkommen; das ist okay. Um kommen
zu dürfen, müssen sie keinen Job vorweisen, sondern es

reicht, wenn sie sich darum bemühen. Wunderbar! Wa-
rum steht im Gesetzentwurf, dass diese Regelung nach
vier Jahren ausläuft? Das ist doch keine Willkommens-
kultur, mit der Sie signalisieren: Klar, wir machen etwas
für euch. Stattdessen schaffen Sie eine weitere Hürde.
Wovor haben Sie denn Angst?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir schauen, ob die Regelung sich bewährt hat! – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Danach machen wir sie noch besser!)


– Natürlich können Sie nach vier Jahren eine bessere Re-
gelung schaffen.


(Otto Fricke [FDP]: Ja, wir!)


Entschuldigung, Gesetze verabschiedet man nicht mit
der Absicht, irgendwann einmal bessere zu verabschie-
den. Stattdessen bringt man das Bestmögliche auf den
Weg, und wenn man weiß, wie es besser geht, dann setzt
man es gleich um. Mit dem, was Sie tun, signalisieren
Sie nur – darauf bezieht sich doch der Streit zwischen Ih-
nen –, dass Sie nicht wirklich wollen, dass wir uns hier
als offene, moderne Gesellschaft präsentieren.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Beschäftigen Sie sich mal mit Entbürokratisierung!)


Immer wieder tragen Sie Scheuklappen, und immer
wieder nähern Sie sich der Sache mit Angst vor zu viel
Zuwanderung.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ach, Frau Kollegin! Cool bleiben!)


Stattdessen sollten Sie einfach sagen: Ja, ausländische
Hochschulabsolventen, wir sehen es gern, dass ihr zu
uns kommt. – Das ist die Botschaft, die Sie senden soll-
ten. Wovor haben Sie eigentlich Angst?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Vor Ihnen nicht! Keine Sorge!)


Dass uns jetzt eine große Anzahl von ausländischen
Fachkräften Arbeitsplätze wegnimmt, das ist doch nicht
die Realität.


(Otto Fricke [FDP]: Stimmt!)


Wir müssen eine Willkommenskultur schaffen und den
ausländischen Hochschulabsolventen sagen: Ja, kommt
zu uns! Unser Fachkräftemangel ist allein national nicht
zu bewältigen.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: So ist es!)


Um damit fertigzuwerden, brauchen wir auch Hoch-
schulabsolventen aus dem außereuropäischen Ausland.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Stimmt!)


Dann müssen Sie aber vor allem auch bessere Rah-
menbedingungen für die Familienangehörigen schaffen.





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)



(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Haben wir doch!)


Herr Vogel, der von Ihnen erwähnte Philippiner ist doch
vielleicht ein junger Mann, der Familie hat. Für ihn wird
relevant sein: Was ist mit meinen Familienangehörigen?
Können sie mitkommen?


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: § 3 der entsprechenden Verordnung!)


Wir müssen uns fragen: Was müssen wir ihnen anbieten?
Wie sind die Regeln für einwanderungswillige Fach-
kräfte? Wie werden ihre Familienangehörigen hier auf-
genommen? Mit dem vorliegenden Regelwerk bauen Sie
keine Brücken; Sie haben Hindernisse aufgestellt. Das
Entscheidende ist, dass wir bessere Rahmenbedingungen
für Familienangehörige schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ich glaube, Sie haben den alten Entwurf noch vor Augen!)


– Nein, das steht leider auch noch im neuen Entwurf.

Sie könnten aber auch andere Sachen machen: die
Vereinfachung der Einreisebürokratie. Laut Normenkon-
trollrat dauert es sechs Wochen und länger, bis ein Vi-
sum erteilt wird. Die reine Bearbeitungszeit beträgt ei-
nen halben Tag. Sie könnten außerdem ein zentrales
Informationsportal auf Deutsch und Englisch ins Internet
stellen.

Jetzt noch die Sache mit den Deutschkenntnissen: Die
Sprache der Wirtschaft wird mehr und mehr Englisch.
Wenn wir hier immer wieder sagen, dass Deutschkennt-
nisse für die Vergabe einer unbefristeten Aufenthaltser-
laubnis verpflichtend sind, dann sind wir nicht am Welt-
markt und an einer modernen Zukunft orientiert, dann
sind wir nicht an einer Wirtschaft orientiert, die auf dem
Weltmarkt bestehen muss. Die Bindung der Aufenthalts-
erlaubnis an Deutschkenntnisse ist realitätsfremd. Das
sollten Sie hier ändern.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717602600

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Andreae. Sie

sind schon anderthalb Minuten drüber.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717602700

Fazit: Wir kommen an einer grundlegenden Neuaus-

richtung der Zuwanderungspolitik nicht vorbei, aus hu-
manitären Gründen, aber auch weil wir sonst nicht nur
den Kampf um die kreativsten Köpfe, sondern auch die
Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft verlieren. Hö-
ren Sie mit diesem ideologischen Klein-Klein auf und
entwickeln Sie eine Willkommenskultur, die tatsächlich
ihren Namen verdient.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717602800

Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1717602900

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr ge-

ehrte Kollegen! Das Gesetz, das wir heute debattieren,
ist in einem Gesamtzusammenhang zu sehen. Es ist in
dem Gesamtzusammenhang zu sehen, dass wir aufgefor-
dert sind, den sich weiterhin zuspitzenden Fachkräfte-
mangel zu bekämpfen. Eines muss aber auch klar sein:
Der Schwerpunkt muss weiterhin auf der Pflege und der
Hebung des inländischen Potenzials liegen.

Es geht auch in Zukunft darum, mehr für die Siche-
rung der Beschäftigung für die schon aktiv im Arbeitsle-
ben stehenden Menschen zu tun. Es wird in Zukunft ver-
stärkt darum gehen, mehr für die Integration von
Arbeitsuchenden, auch für die Integration von Arbeitsu-
chenden mit Handicaps, in den ersten Arbeitsmarkt zu
tun. Wir müssen weiterhin die Bildungschancen auch der
Benachteiligten von Beginn an erhöhen. Es wird in Zu-
kunft verstärkt darum gehen, mehr in die Qualifizierung
von Jugendlichen und Arbeitsuchenden zu investieren,
insbesondere in die Aus- und Weiterbildung.

Es wird, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-
gen, auch darum gehen, sich noch mehr der Vereinbar-
keit von Beruf und Familie zuzuwenden. Dazu gehören
Dinge wie der vollkommen richtige Ausbau von Kinder-
krippen und Kinderbetreuungseinrichtungen für unter
Dreijährige. Hier investiert die christlich-liberale Koali-
tion insgesamt 4 Milliarden Euro. Das ist richtig und gut.

Genauso richtig ist, dass auch das Betreuungsgeld
kommt. Das eine schließt das andere nicht aus. Der Staat
hat hier nicht die Aufgabe und auch nicht das Recht, eine
Lebensform der anderen vorzuziehen und sie vorzugs-
würdig zu behandeln. Wir müssen beides tun – nicht das
eine tun und das andere unterlassen –: sowohl in den Be-
reich der Kinderkrippen und Kinderbetreuungseinrich-
tungen investieren als auch denjenigen etwas zuteilwer-
den lassen, die nicht von den Kinderkrippen Gebrauch
machen, aus welchen Gründen auch immer. Der Staat
hat nicht das Recht, hier diskriminierend vorzugehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das
Gesetz, das heute verabschiedet wird, schafft kein
grundlegend neues Zuwanderungsrecht; aber es ist eine
zeitgemäße und moderne Anpassung an die Bedürfnisse
der Arbeitswelt und an die wirtschaftliche Situation. Ich
kann durchaus verstehen, meine sehr verehrten Kolle-
ginnen und Kollegen von der Opposition, dass Sie sich
echauffieren; denn Sie sind orientierungslos.


(Lachen des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die SPD – liebe Frau Kollegin Kolbe, Sie haben es an-
gekündigt – wird sich kraftvoll enthalten. Allein dies
zeigt schon: Es klappt nicht mehr, mit den alten Stig-





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


mata, Klischees und Allgemeinplätzen zu agieren, die
Sie uns bei derartigen Diskussionen immer um die Oh-
ren hauen wollten. Es heißt dann, wir seien rückwärtsge-
wandt, wir wollten nur einer Wagenburgmentalität Vor-
schub leisten, wir wollten die Schotten dichtmachen.
Wir handeln tatsächlich. Sie haben in Ihrer Regierungs-
zeit immer nur geredet. Aber wir tun mehr für die Zu-
wanderung von Hochqualifizierten nach Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, auch Sie haben sich im Innenausschuss
kraftvoll enthalten. Lieber Herr Kilic, liebe Frau
Andreae, Sie müssen schon einmal erklären, was denn
nun gilt. Gilt die Aussage von Herrn Wieland im Innen-
ausschuss, der klargemacht hat, dass sich die Grünen
enthalten werden? Oder gilt Ihre Rote Karte, Herr Kilic?
Ich war zunächst erschrocken, als Sie uns die Rote Karte
gezeigt haben; als überzeugter Anhänger des FC Bayern
München habe ich sofort gedacht: Nicht noch eine
Sperre für das Champions-League-Finale; es reicht
schon, wenn drei Stammspieler am 19. Mai gesperrt
sind. Aber wir haben dann festgestellt: Ihre Rote Karte,
Herr Kilic, ist vollkommen wirkungslos.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nächste Wahlperiode sind Sie gesperrt!)


Wir werden weiterhin erfolgreich regieren. Wir werden
im September oder Oktober nächsten Jahres eine Ver-
tragsverlängerung von den Wählerinnen und Wählern in
Deutschland bekommen. Wir werden trotz Ihrer Roten
Karte wieder aufgestellt, weil wir handeln und nicht nur
reden.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja jetzt gar keine Floskel!)


Der Grundsatz im Bereich der Zuwanderung Hoch-
qualifizierter muss sein, dass wir uns verstärkt denjeni-
gen zuwenden, die sich bereits in Deutschland befinden.
Es ist leichter, diejenigen zum Bleiben zu bewegen, die
bereits in Deutschland sind, als diejenigen, die noch
nicht in Deutschland sind, zu motivieren, nach Deutsch-
land zu kommen.

Es mag durchaus sein, dass viele ausländische Hoch-
schulabsolventen bisher den abstrakten Wunsch hatten,
in Deutschland zu bleiben. Aber wir mussten feststellen,
dass nur etwa 25 Prozent von dieser Möglichkeit Ge-
brauch gemacht haben. 75 Prozent der ausländischen
Hochschulabsolventen haben Deutschland nach dem
Abschluss wieder verlassen. Interessanterweise sind die
meisten nicht in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt,
sondern in andere, vermeintlich attraktivere Länder wie
die USA, Frankreich, Großbritannien oder die skandina-
vischen Länder gegangen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! Jawohl!)


Es gilt, sich diesem Personenkreis in Zukunft verstärkt
zuzuwenden. Es ist deshalb richtig, dass wir die Frist für
die Suche nach einem Arbeitsplatz von 12 auf 18 Mo-

nate verlängern. Das ist ein ganz wesentlicher Schritt in
Richtung der so vielzitierten Willkommenskultur.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es ist auch richtig, dass wir die Frist für einen Aufent-
halt von Hochschulabsolventen aus Nicht-EU-Ländern
von drei auf sechs Monate verlängern. Voraussetzung
dabei ist, dass sie nachweisen können, dass ihr Lebens-
unterhalt gesichert ist. Dies ist aber – auch das möchte
ich vermerken – kein Einstieg in das Punktesystem. Das
Visum, das in Zukunft für sechs Monate ausgereicht
wird, ist wie bisher nachfrageorientiert, das heißt, es
muss ein konkreter und der geforderten Qualifikation
entsprechender Arbeitsplatz bei der späteren Arbeitsauf-
nahme nachgewiesen werden. Das Verfahren ist wesent-
lich unkomplizierter und unbürokratischer als ein Punk-
tesystem und macht dieses aus meiner Sicht schon allein
deshalb überflüssig. Ein Punktesystem wäre ein bürokra-
tisches Monster, starr und unflexibel, weil nur irgend-
welche abstrakten, möglicherweise gar nicht benötigten
Qualifikationen ohne einen konkreten Arbeitsplatznach-
weis bewertet werden müssten.

Ich möchte auf das Beispiel Kanada, insbesondere auf
die Provinz Quebec verweisen, die immer als Beispiel
einer Vorzeigeprovinz herangezogen wird. Fahren Sie
einmal dorthin. Die Arbeitslosigkeit in Quebec ist höher
als in Deutschland. Die Begeisterung über das dort prak-
tizierte Punktesystem ist beileibe nicht so groß, wie uns
hier von mancher Seite weiszumachen versucht wird.
Ein Punktesystem ist starr, unflexibel, und es bedeutet,
dass jeder, der die Punkteanzahl einfach nur von der
Quantität her erfüllt, eine Niederlassungserlaubnis in
Kanada erhält, ohne dass er einen konkreten Arbeitsplatz
nachweisen muss, was zur Folge hat, dass viele entweder
sofort oder zumindest sehr schnell in die Arbeitslosigkeit
rutschen.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher haben Sie das?)


Es ist außerdem richtig, dass die Neuregelung auf drei
Jahre befristet ist, aber das heißt nicht, dass sie nicht
fortgesetzt wird; das möchte ich in aller Deutlichkeit sa-
gen, Frau Kollegin Andreae. Wenn ein neues Instrument
eingeführt wird, dann ist es aus meiner Sicht richtig, drei
Jahre abzuwarten, die Erfahrungen zu evaluieren und
dann ganz offen darüber zu debattieren, ob es richtig ist,
die Regelung nach Ablauf der drei Jahre fortzusetzen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann man bei jeder Regelung machen!)


Genauso richtig ist es, dass die Niederlassungserlaub-
nis zunächst nicht als unbefristete, sondern als befristete
Aufenthaltsgenehmigung gewährt wird. Dadurch besteht
die Möglichkeit, Anreize zu schaffen. Wer einen ent-
sprechenden Nachweis über Deutschkenntnisse der
Stufe B 1 erbringen kann, erhält einen Bonus von einem
Jahr, das heißt, dass schon nach zwei Jahren die unbe-
fristete Niederlassungserlaubnis in Deutschland gewährt
wird. Das zeigt, dass wir Ernst machen mit einer erfolg-





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


reichen Politik der Integration in die deutsche Gesell-
schaft.

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, es hat überhaupt nichts mit Zwangsgermani-
sierung und Deutschtümelei zu tun, wenn wir Anreize
schaffen, Deutsch zu lernen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum fangen Sie nicht bei sich selber an?)


Es ist nun einmal so, Frau Kollegin Andreae: Wenn man
sich in Deutschland aufhält, muss man Deutsch können
und sich in der deutschen Gesellschaft bewegen können,
obwohl die Lingua franca im Wirtschaftsleben mittler-
weile Englisch ist.

Lieber Herr Kollege Beck, Sie haben gerade auf mein
Idiom Bezug genommen. Ich möchte dazu sagen, dass es
eine neue Studie im Zusammenhang mit der Evaluation
aller 16 Bundesländer gibt, was die Deutschkenntnisse,
das Sprachverständnis, die Orthografie usw. anbelangt.
Erstaunlicherweise hat Bayern – für die kundigen The-
baner ist das aber gar nicht so erstaunlich – am besten
abgeschnitten.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren aber nicht dabei!)


Wenn die Baden-Württemberger zu Recht behaupten:
„Wir können alles, außer Hochdeutsch“, dann kann Bay-
ern mittlerweile sagen: Wir können alles, auch Hoch-
deutsch.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Fangen Sie doch mal damit an!)


Abschließend darf ich noch sagen, dass wir einen
deutlichen Fortschritt in Sachen Entbürokratisierung und
Schaffung von Rechtssicherheit erreichen, indem wir ei-
nen langgehegten Wunsch der Wirtschaft in die Tat um-
setzen, dass nämlich bei der Vorrangprüfung mit einer
Genehmigungsfiktion gearbeitet wird. Nach zwei Wo-
chen gilt die Vorrangprüfung als erfüllt.

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, insgesamt
kann man festhalten: Wir schaffen mit dieser Neurege-
lung ein intelligentes und interessengeleitetes Zuwande-
rungsrecht, das auch dem Gedanken des Humanismus
und des christlichen Menschenbildes Rechnung trägt.
Derjenige, der verfolgt wird, dessen Leib und Leben be-
droht sind, hat immer die Möglichkeit, in Deutschland
Zuflucht zu finden.

Betonen möchte ich zuletzt: Nach der Beschlussfas-
sung über dieses Gesetz sehe ich die Wirtschaft verstärkt
in der Verantwortung, dieses Gesetz sinnvoll anzuwen-
den und aktiv mehr für die Anwerbung von ausländi-
schen Fachkräften zu tun, damit diese nach Deutschland
kommen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717603000

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin

Gabriele Lösekrug-Möller.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1717603100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die

SPD-Fraktion möchte ich Herrn Kollegen Mayer und an-
deren sagen: Wir bleiben trotz einiger Ihrer Wortbeiträge
bei Enthaltung. Das fällt uns nach anderthalb Stunden
Debatte mit Positionierungen, die teilweise kaum zu er-
tragen waren, jedoch ein wenig schwerer. Ich will das
begründen. Worum geht es uns?

Wir haben schon jetzt die Sorge, dass wir zu wenig
Fachkräfte haben. Der Bedarf wird möglicherweise stei-
gen. Wir werden ihn aber nur schwer decken können.
Nach den anderthalb Stunden frage ich mich angesichts
der Themen, die wir hier behandelt haben: Wie würden
es eigentlich Interessierte, die aus dem Ausland zu uns
kommen wollen, einschätzen, wie willkommen sie sind,
wenn sie hören, wie wir hier debattieren? Ich glaube, da
war mehr Abschreckung im Spiel als tatsächliche Einla-
dung.


(Beifall bei der SPD – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Vonseiten der Opposition!)


Wie würden Menschen, die schon hier sind und einen
Migrationshintergrund haben und deren Motivation und
Potenziale durch Ihre Politik überhaupt nicht abgeholt
werden, diese Debatte von anderthalb Stunden verste-
hen? Weiter frage ich: Wie verstehen eigentlich die Bil-
dungsverlierer, von denen wir in Deutschland viele ha-
ben, unsere Diskussion?


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hochqualifizierte werden sie verstehen!)


Wenn wir über Fachkräfte und Bedarfssicherung re-
den, brauchen wir einen Dreiklang von Bildungs-, Ar-
beitsmarkt- und Innenpolitik. Wenn ich auf Ihre Politik
schaue, gibt es da keine Harmonie. Ich höre da einen
Missklang nach dem anderen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Dann hören Sie mal richtig zu! – Hartfrid Wolff [RemsMurr] [FDP]: Ich glaube, Sie waren gerade woanders!)


Denn wir tun zu wenig für die Menschen in Deutsch-
land, die wir entwickeln wollen, damit sie gute Fach-
kräfte werden. Wir haben Bildungsverlierer ohne Ende.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: In der SPD vielleicht!)


Wir sind stolz darauf – jedenfalls einige von Ihnen –,
dass wir jährlich nur noch 53 000 Schülerinnen und
Schüler ohne Abschluss haben. Was machen wir mit
über 7 Millionen funktionalen Analphabeten, die er-
werbsfähig sind? Wir lassen sie allein. Es gibt bei uns
auf dem Arbeitsmarkt Potenziale ohne Ende, die aber
nicht Ihr Interesse für politische Aktion auslösen.





Gabriele Lösekrug-Möller


(A) (C)



(D)(B)


Deshalb sage ich: Wir erkennen die Schritte an, die
Sie jetzt auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts unter-
nommen haben. Seien Sie aber ehrlich: Wären Sie ohne
die EU-Richtlinie da hingekommen? Ich gehe gerne
noch einmal auf den ausgezeichneten Wortbeitrag mei-
ner Kollegin Kolbe ein. „Mit großer Verspätung“ und
„zum Jagen getragen“, das waren ihre Worte. Dazu kann
ich nur sagen: Das unterschreiben die Sozialdemokraten
sofort, weil sie leider recht hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kommen wir zu dem Thema gute Arbeit: Ist es ei-
gentlich attraktiv, zu uns zu kommen, wenn man weiß,
dass wir mehr Teilzeit- und befristete Stellen als Voll-
zeitstellen und unbefristete Arbeitsverhältnisse haben?
Steht das auf der Einladungskarte als Plus? Steht als Plus
auf der Einladungskarte an diejenigen, die wir haben
wollen: „Wir machen Betreuungsgeld statt Krippenaus-
bau“? Ist es einladend, wenn wir sagen: „Ja, wir küm-
mern uns auch um diejenigen, die in der Grundsicherung
sind. Wir erhöhen die Hinzuverdienstgrenzen, aber, ehr-
lich gesagt, um existenzsichernde sozialversicherungs-
pflichtige Beschäftigung kümmern wir uns nicht“? Ist
das einladend? Kommen die Leute aufgrund dieses Kli-
mas gerne nach Deutschland?

Man gewinnt den Eindruck, dass Sie sich geradezu
wehren müssen, weil Millionen von Menschen an unse-
ren Grenzen darauf warten, endlich nach Deutschland
kommen zu können, dass sich dort regelrecht Schlangen
bilden. Und dann sagen wir ihnen noch: Sie sind uns
willkommen, wenn Sie hochqualifiziert sind. Dann kön-
nen Sie gerne – allerdings mit vielen Einschränkungen,
über die heute schon gesprochen wurde – Ihre Familie
mitbringen. – Wissen Sie, das ist ein wenig halbherzig.
Ich glaube, diese Halbherzigkeit spüren alle, um die wir
eigentlich werben. Wir sind doch nicht die einzige Na-
tion, die um Hochqualifizierte wirbt. Viele Staaten, nicht
nur europäische, sagen: Wir brauchen das für unsere
Entwicklung.

Herr Kollege Mayer, die kanadische Provinz Quebec
ist ein schlecht gewähltes Beispiel. Ihre Sachkenntnis
scheint nicht tief genug zu gehen. In dieser Provinz, in
der Französisch gesprochen wird, wird Kompetenz in
französischer Sprache besonders hoch bepunktet. Die
von Ihnen angesprochene Schieflage ist typisch für diese
eine Provinz. Deshalb taugt Quebec nicht als Beispiel. –
Ich habe leider recht, auch wenn Sie mit dem Kopf
schütteln.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Nur weil Sie es behaupten, haben Sie noch nicht recht!)


Ich komme auf unseren Antrag zurück, den ich we-
sentlich zukunftsweisender finde. Wir sagen: An einem
Punktesystem ist vermutlich viel Gutes. Es lohnt, es aus-
zuprobieren. Es lohnt, die Sache zu überprüfen und sie
nicht gleich in Bausch und Bogen abzulehnen. Denn ei-
nes ist klar: Neben den mangelhaften Regelungen, die
Sie zur Umsetzung der Richtlinie vorschlagen und die

wir heute den Bundestag passieren lassen, haben Sie
nichts im Köcher, was echte Zuwanderung möglich
macht. Deshalb werden die in Deutschland lebenden
Ausländer sagen: Die Willkommenskultur ist noch
mächtig ausbaufähig. – Dafür sollten wir eine Menge
tun.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717603200

Das Wort hat jetzt der Kollege Tankred Schipanski

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1717603300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das heute

vorliegende Gesetzespaket bezieht sich auf eine typische
Querschnittmaterie zwischen den Bereichen Inneres,
Bildung und Arbeit. Ein ganz herzliches Dankeschön an
die involvierten Arbeitsgruppen. Ein herzlicher Dank an
die vielen Abgeordneten, die an der Vorbereitung dieses
Gesetzespakets mitgearbeitet haben. Im Bildungsbereich
waren das unser Sprecher Albert Rupprecht und von der
FDP Patrick Meinhardt. Im innenpolitischen Bereich
waren das der Kollege Grindel und der Kollege Wolff.

Als Forschungs- und Bildungspolitiker der Koalition
kann man nur sagen: Es hat sich gelohnt. Die Anhörung
am 23. April dieses Jahres hat von allen Sachverständi-
gen viel Lob und Anerkennung gebracht.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Waren Sie überhaupt da?)


Die Sachverständigen der Bundesagentur für Arbeit, des
sächsischen Innenministeriums, des Sachverständigen-
rats deutscher Stiftungen für Integration und Migration,
ein Richter vom Verwaltungsgericht in Darmstadt und
die Sachverständigen unserer Verbände, des Wirtschafts-
rats, des BVMW, des Hochschulverbands und der BDA,
alle waren sich einig: Dieses Gesetz ist ein großer Wurf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Kollege Stephan Mayer hat zu Recht festgestellt:
Das Verhalten der SPD, ihre Enthaltung heute, ist ein-
fach nicht nachvollziehbar.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Wir können auch dagegen stimmen!)


Die SPD hat, wie bei der ersten Lesung, keine einheitli-
che Position. Frau Kolbe schürt hier gemeinsam mit den
Linken Angst vor Lohndumping. Das ist billiger Popu-
lismus.


(Beifall des Abg. Reinhard Grindel [CDU/ CSU] – Widerspruch der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD])


Im Kern dieses Gesetzespakets geht es um Hochqua-
lifizierte; daran möchte ich in dieser Debatte noch ein-
mal erinnern. Heinrich Alt von der Bundesagentur für





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)


Arbeit hat in der Anhörung ebenso wie Reinhard Grindel
heute hier im Plenum richtigerweise festgestellt: In
Deutschland haben wir bei den Hochqualifizierten im-
mer noch eine negative Wanderungsbilanz. Das heißt, es
gibt mehr Hochqualifizierte, die Deutschland verlassen,
als solche, die zuziehen.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wohl?)


Genau da setzt die christlich-liberale Koalition, insbe-
sondere in der Bildungspolitik, an, und zwar nicht nur
mit diesem Gesetz, sondern auch, wie gestern Abend
hier behandelt, mit einem Antrag zum wissenschaftli-
chen Nachwuchs, mit dem sehr ambitionierten Berufsan-
erkennungsgesetz, das wir im September 2011 hier be-
schlossen haben,


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das hat nichts mit christlich zu tun, was ihr hier macht! Absolut nicht!)


und mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz, über welches
wir in Kürze in diesem Hohen Hause debattieren wer-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Heute sprechen wir über Änderungen des Aufent-
haltsgesetzes und der damit verbundenen Verordnungen.
Das alles sind ganz konkrete Maßnahmen, die die Will-
kommenskultur in Deutschland etablieren. Es ist schon
verwunderlich, welche Seiten des Hohen Hauses heute
die Willkommenskultur etabliert haben möchten. Frau
Kolbe, Sie haben versucht, diesen Begriff zu interpretie-
ren. Ich kann Ihnen sagen: Das ist nicht nötig; denn wir,
die Koalition, haben diesen Begriff bereits klar besetzt.

Wir setzen mit diesem Gesetz nicht irgendwelche
Forderungen aus einem SPD-Antrag um, sondern Forde-
rungen der Bologna-Konferenz des vergangenen Jahres.
Wir setzen Ideen um, die wir durch intensive Gespräche
mit den Studierenden und den Lehrenden an den Hoch-
schulen entwickelt haben,


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Wer hat es erfunden? Wir haben es erfunden!)


aber auch durch Gespräche mit Unternehmern vor Ort.
Diese Koalition ist eben nah an den Menschen und kann
zuhören.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Blicken wir einmal auf die neuen Regelungen für aus-
ländische Studenten. Ich nenne dazu immer die entspre-
chenden Paragrafen, damit Kollege Kilic die Systematik
dieses Gesetzes versteht. § 16 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz:
Die Begrenzung der Beschäftigung in einem Nebenjob
wird von bisher maximal 90 Tagen auf 180 Tage pro
Jahr erweitert.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es falsch zitiert! Auf 120 haben Sie erhöht!)


§ 16 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz: Ausländische Hoch-
schulabsolventen, die in Deutschland ihren Abschluss

erworben haben, konnten bislang nur zwölf Monate bei
uns bleiben, bevor sie eine Anstellung gefunden haben
mussten. Diese Orientierungsphase verlängern wir auf
18 Monate. Ähnliches gilt für einen neuen Aufenthaltsti-
tel, § 18 c Aufenthaltsgesetz, den wir für ausländische
Absolventen eingeführt haben. Das sind wirkungsvolle
Maßnahmen.

Es geht auch darum, junge Unternehmer zu gewin-
nen. Wir erleichtern Unternehmungsgründungen bzw.
Selbstständigkeit über § 21 des Aufenthaltsgesetzes und
ergänzen somit die Entrepreneurship-Studiengänge an
den Hochschulen.

Sie sollten also keine Schwarzmalerei betreiben.
Wenn Sie an die Hochschulen gehen, werden Sie fest-
stellen, dass man sich dort über das Gesetz freut. In Ge-
sprächen an meiner Heimathochschule in Ilmenau – dort
gibt es etwa 800 ausländische Studierende – wurde deut-
lich, dass die ausländischen Studierenden begeistert von
diesem Gesetz und dankbar dafür sind. Wir gehen weit
über die Umsetzung der EU-Richtlinie hinaus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717603400

Herr Kollege Schipanski, erlauben Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Kilic?


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1717603500

Nein, ich habe nur noch eine halbe Minute Redezeit.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717603600

Die Redezeit wird dafür angehalten.


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1717603700

Er kann ja nach meiner Rede eine Kurzintervention

machen.

Ich darf gerade den Grünen noch ein Sahnehäubchen
präsentieren; dies haben sie wahrscheinlich nicht gese-
hen. § 3 der Beschäftigungsverfahrensverordnung wird
ebenfalls geändert.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP], an den Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: So ist es, Herr Kollege! Hören Sie einmal zu!)


Die Ehepartner ausländischer hochqualifizierter Fach-
kräfte dürfen in Deutschland künftig eine Beschäftigung
ausüben, ohne dass dies zuvor von der Ausländerbe-
hörde genehmigt werden muss. Für die Betroffenen ist
dies ein Meilenstein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Das ist ja eine Gnade! – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und die Pflegekräfte?)


Abschließend darf ich sinngemäß die Aussage eines
Sachverständigen der Universität Konstanz wiederge-
ben, der am Montag feststellte: Man hat mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf für die betroffenen Gruppen alles
gemacht, was man machen kann.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717603800

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt das Wort der Kollege Dr. Matthias Zimmer von der
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1717603900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Ar-

beitsmarktpolitiker muss ich sagen: Für den deutschen
Arbeitsmarkt ist die Umsetzung der Hochqualifizierten-
richtlinie eine gute Nachricht. Die vorgeschlagenen
Maßnahmen helfen uns, Arbeitsplätze zu sichern und
Arbeitsplätze neu zu schaffen. Das betrifft nicht nur den
Bereich der Hochqualifizierten, sondern ich sehe auch
indirekte positive Wirkungen für die weniger Qualifi-
zierten, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben. Da-
mit kommen wir unserem Ziel näher, gerade auch diesen
Menschen eine Arbeitsperspektive zu bieten. Sosehr ich
diese Debatte über die Wettbewerbsfähigkeit der deut-
schen Wirtschaft verstehe – sie ist richtig –: Es geht auch
um den Erhalt und Ausbau von Beschäftigungschancen
derjenigen, die nicht unter diese Richtlinie fallen. Das
hat Kollege Vogel in aller Deutlichkeit gesagt.

Ich sage sehr deutlich: Das darf keine isolierte Maß-
nahme sein. Wir müssen dafür sorgen, dass die Anzahl
derjenigen abnimmt, die ohne Schulabschluss und Aus-
bildung sind. Wir müssen die Erwerbsbeteiligung Älte-
rer fördern und für eine bessere Vereinbarkeit von Fami-
lie und Beruf sorgen. Diese unterschiedlichen Bausteine
gehören zusammen und ergänzen sich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Besonders gefreut hat mich – der Kollege Schipanski
ist darauf eingegangen –, dass wir die Anreize für aus-
ländische Studenten, neben dem Studium zu arbeiten,
verbessert haben und ihnen auch eine längere Frist ein-
geräumt haben, nach dem Studium hier eine Arbeit zu
finden. Ich habe es immer als widersinnig betrachtet,
junge Menschen aus dem Ausland hier bei uns zum Stu-
dium zuzulassen und es ihnen nach dem Studium so
schwer zu machen, bei uns eine dauerhafte Perspektive
zu finden. Seien wir ehrlich: Wir können doch um jeden
guten Studenten froh sein, der nicht in die USA oder
nach Kanada geht, sondern sich für eine deutsche Uni-
versität entscheidet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die neue Regelung erleichtert den beruflichen Einstieg
in Deutschland und ist auch ein Stück praktischer Inte-
grationspolitik.

Die Kollegin Kolbe hat ein Zitat von Max Frisch an-
geführt: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen
Menschen.“ Wir sind es den Menschen, die wir rufen,
schuldig, sie nicht nur als Arbeitskräfte anzusehen. Dazu
gehören meines Erachtens zwei Dinge: dass wir ihnen

auf der einen Seite sehr deutlich sagen, was wir von ih-
nen erwarten, etwa was Sprachkenntnisse oder die Be-
reitschaft angeht, sich mit unserer Gesellschaft und unse-
rer Kultur auseinanderzusetzen, dass wir auf der anderen
Seite aber gleichzeitig eine Willkommenskultur der aus-
gestreckten Hand praktizieren. Hier können wir von klas-
sischen Einwanderungsländern wie Kanada und Austra-
lien einiges lernen; die Kollegin Lösekrug-Möller hat das
richtigerweise angesprochen.

Meine Damen und Herren, wir sind aber auch im
Wandel zu einer Arbeitnehmergesellschaft. Die Knapp-
heit von Arbeitskräften führt dazu, dass wir auch in der
Arbeitswelt über ein neues Miteinander nachdenken
müssen. Ich finde deshalb die Idee sehr reizvoll, durch
einen Ausbau der Mitarbeiterbeteiligung den Graben
zwischen Kapital und Arbeit zu überbrücken und neue
Formen des partnerschaftlichen Arbeitens zu etablieren.
Das könnte ein Alleinstellungmerkmal werden, das uns
für hochqualifizierte Arbeitskräfte auch international at-
traktiv macht.

Gute Standards für gute Arbeit durch mitarbeiter-
orientierte Personalpolitik und eine gute Unternehmens-
kultur sind dabei auch eine Bringschuld der Wirtschaft.
Die Forderung nach olympiareifen Arbeitnehmern, die
billig sind, ist ein Irrweg. Der Mensch kommt nicht als
Produktionsfaktor zur Welt, und er verlässt sie auch
nicht als solcher. Nichts rechtfertigt die Annahme, er
könne dazwischen darauf reduziert werden.


(Beifall der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD])


Wer in Arbeit nur einen Produktionsfaktor sieht, ver-
grault am Ende vielleicht diejenigen Menschen, die drin-
gend gebraucht werden. Dann sucht sich der Produk-
tionsfaktor nämlich eine Umgebung, in der er als Mensch
ernst genommen wird und besser gedeihen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deutschland für Fachkräfte attraktiver zu gestalten
und Abwanderung zu stoppen, ist also nicht nur eine
Frage des Zugangs und der guten Bezahlung, sondern es
bedarf auch einer neuen Form des Miteinanders, am Ar-
beitsplatz wie in der Gesellschaft. Dies zu leisten, ist
häufig jenseits unserer Möglichkeiten als Gesetzgeber.
Es ist aber in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717604000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset-
zung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen
Union. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9436,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-
che 17/8682 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Enthaltung von SPD und Grünen angenom-
men.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9437.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist abgelehnt.

Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/9436 fort.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Innenausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9029 mit dem Titel
„Programm zur Unterstützung der Sicherung des Fach-
kräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der Linken gegen die Stimmen von SPD
und Grünen.

Schließlich empfiehlt der Innenausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/3862 mit dem Titel „Fachkräfteeinwanderung
durch ein Punktesystem regeln“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Auch diese Beschlussempfehlung ist an-
genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Grü-
nen und Enthaltung der SPD-Fraktion.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 a bis c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Praxisgebühr abschaffen – Hausärztinnen und
Hausärzte stärken

– Drucksache 17/9189 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Zuzahlungen für Patientinnen und Patienten
jetzt abschaffen

– Drucksache 17/9067 –

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth

Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zusatzbeiträge aufheben, Überschüsse für Ab-
schaffung der Praxisgebühr nutzen

– Drucksache 17/9408 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach von der
SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1717604100

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Es ist Teil der Wahrheit: Die Praxisgebühr, die wir
heute besprechen, ist damals von uns mit Unterstützung
der Union, die im Vermittlungsausschuss den Vorschlag
durchgesetzt hat, eingeführt worden. Wir müssen fest-
stellen, dass wir, die SPD, die Praxisgebühr damals für
richtig gehalten haben.

Der Hintergrund ist ganz klar: Wir haben uns davon
erwartet, dass es zu einer Reduktion der Zahl der Arztbe-
suche kommt. Wir haben damals erwartet, dass die haus-
ärztliche Versorgung im Vergleich zur fachärztlichen
Versorgung besser angesteuert werden kann, und wir ha-
ben damals ebenfalls davon erwartet, dass es ein höheres
Kostenbewusstsein geben wird.

Alle drei Erwartungen haben sich nachweislich nicht
erfüllt: Die Zahl der Arztbesuche ist nicht gesunken.
Nach dem, was wir wissen, gilt dies insbesondere auch
für die Zahl der überflüssigen Arztbesuche. Es konnte
nicht erreicht werden, dass Hausärzte im Vergleich zu
Fachärzten einfacher angesteuert werden können, und es
gibt auch kein gestiegenes Kostenbewusstsein, wie jeder
der täglichen Praxis, den Studien und der Berichterstat-
tung entnehmen kann. Somit kann man sagen: Die Pra-
xisgebühr hat enttäuscht. Sie hat, wenn man so will, ver-
sagt und gehört daher abgeschafft.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Jens Ackermann [FDP])


Das ist insbesondere deshalb so, weil die Praxisge-
bühr auch unerwartete Nebenwirkungen mit sich bringt.
Wir wissen, dass die Praxisgebühr Obdachlose, Einkom-
mensschwache, Arbeitslosengeldempfänger und Men-
schen mit Migrationshintergrund und mit geringen Ein-
künften auch dann vom Arztbesuch abhält – oft im
Übrigen ohne tatsächlichen Grund; denn oft sind sie von
der Zuzahlung der Praxisgebühr gar nicht direkt betrof-
fen –, wenn er sinnvoll ist. Das ist natürlich eine gravie-
rende Nebenwirkung.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Völlig richtig!)






Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)


Ich spitze es zu: Man kann sagen, die Praxisgebühr ist
ungerecht, weil sie Arme und Einkommensschwache be-
lastet. Sie hat keine positive Wirkung. Eine Nebenwir-
kung ist, dass sie Einkommensschwache von nötigen
Arztbesuchen abhält. Sie ist im Prinzip eine Arznei nur
mit negativen Wirkungen und keiner positiven Wirkung
und gehört daher vom Markt genommen. Es muss sozu-
sagen der Rote-Hand-Brief verschickt werden, meine
lieben Genossinnen und Genossen.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das sagen wir seit Jahren!)


– Ich glaube, dass wir in dieser Frage, Herr Zöller, alle
hier im Saal Genossinnen und Genossen sind; denn hier
kann ja nicht über die Inhalte gestritten werden. Selbst
Herr Bahr stimmt mir in dieser Sache ausnahmsweise
zu.

Jetzt muss man sich die Frage stellen: Wieso lehnt die
Union weiterhin die Abschaffung der Praxisgebühr ab?
Sie ist heute hier im Plenum die einzige Partei, die die
Praxisgebühr weiter verteidigt. Ich kann es Ihnen sagen:
Es geht um Ideologie. Es kann keine Sachgründe geben,
sondern ihre Ideologie ist: Je mehr Zuzahlungen und je
mehr direkte Belastungen es für den Versicherten und für
den Patienten gibt, desto besser ist das Gesundheitssys-
tem.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Sie hat Angst vor Zusatzbeiträgen!)


Hier zeigt sich noch einmal die alte Zuzahlungsideologie
der Union. Diese Ideologie wird heute von den Bürgern,
von den Patienten und von allen anderen Fraktionen hier
im Saal abgelehnt.


(Beifall bei der SPD)


Es ist eine konservative Ideologie, die darauf hinaus-
läuft, dass man Dinge macht, auch wenn man weiß, dass
sie nicht richtig sind, weil man glaubt, damit eine alte
konservative Idee verteidigen zu können. Wir erleben
das Gleiche derzeit beim Erziehungsgeld, oder, genauer
gesagt, beim Nichterziehungsgeld. Mit dem Nichterzie-
hungsgeld soll ein Anreiz gegeben werden, damit Ein-
kommensschwache ihre Kinder nicht in die Kita brin-
gen. Das ist Unsinn!


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wer so etwas behauptet, redet Unsinn! Da haben Sie recht!)


Bei der Praxisgebühr soll ein Anreiz gesetzt werden, da-
mit Einkommensschwache nicht zum Arzt gehen. Auch
das ist Unsinn. Somit ist es nichts anderes als eine Be-
strafung und im Prinzip eine Sanktion gegen die Bedürf-
tigen und aus meiner Sicht somit eine Politik gegen Vor-
beugung und gegen Prävention.

Wir müssen daher heute gemeinsam betonen, was wir
gelernt haben. Wir werden gleich von den Kollegen von
der Linkspartei das hören, was wir immer hören: Die
Linkspartei hat das schon immer gewusst, zum Beispiel
bei der Finanzkrise.


(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau! Aber ihr braucht so lange, bis ihr es auch lernt! – Weitere Zurufe von der LINKEN: Genau! – Stimmt ja auch!)


Es gibt kein Thema, bei dem Sie es nicht vorher schon
besser gewusst haben; das wissen wir.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Seit 1948!)


– Ja, ganz genau.

Aber nichtsdestotrotz ist der Punkt heute der, dass wir
aus gemachten Fehlern lernen. Wir sind gewählt, um zu
regieren, um etwas gebacken zu bekommen. Was wir
derzeit bei der Regierungskoalition sehen, zeigt: Die Re-
gierungskoalition bekommt nichts gebacken. Es gibt
kein noch so kleines Thema, bei dem Sie etwas geba-
cken bekämen. Selbst bei der Praxisgebühr sind Sie zer-
stritten. Minister Bahr von der FDP hat recht, wenn er
sagt: Die Praxisgebühr hat keinen Wert. Auch die FDP
kann einmal recht haben.


(Heiterkeit – Heinz Lanfermann [FDP]: Das war die Debatte schon wert, Herr Kollege!)


Nur weil die FDP einen Vorschlag unterstützt, ist er
nicht automatisch falsch.


(Heiterkeit – Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr! – Heinz Lanfermann [FDP]: Dass das heute so lustig wird!)


Aber was immer gilt, ist: Diese Regierung bekommt
nichts mehr gebacken. Es gibt kein Thema, bei dem noch
etwas entschieden werden könnte.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] – Mechthild Dyckmans [FDP]: Wir haben gerade ein tolles Gesetz gemacht!)


Daher sage ich Ihnen: Nehmen Sie sich zurück. Be-
achten Sie: Der Wähler kann das nicht mehr ertragen.
Der Wähler will, dass wir handlungsfähig sind. Der
Wähler will, dass wir in der Sache streiten, nicht über
Ideologien. Der Wähler will nicht, dass wir mit jeder
Sachfrage Wahlkampf machen.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Was machen Sie denn?)


Das ist eine Tatsache.

Wenn es so ist, dass Sie eine Position nicht verteidi-
gen können, dass Sie keinen einzigen Vorteil für die Pra-
xisgebühr anführen können, dann, meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen und Nicht-Genossen von der
Union, sage ich Ihnen: Nehmen Sie davon Abstand. Ma-
chen Sie das, was der Bürger will. Machen Sie das, was
uns die Sachverständigen sagen. Machen Sie, wofür Sie
gewählt sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717604200

Jetzt hat das Wort der Kollege Jens Spahn für die

CDU/CSU-Fraktion.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Genosse Spahn!)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1717604300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-

nosse Lauterbach, ich erinnere mich an die Debatten, die
wir vor zwei Jahren geführt haben, übrigens auch vor ei-
ner Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Sie verliefen
damals nach dem Motto Und täglich grüßt das Murmel-
tier, und genau so machen Sie es jetzt sitzungswöchent-
lich auch.

Wir haben damals übrigens – das ist ganz spannend –
regelmäßig in Aktuellen Stunden über Ihren Vorwurf
diskutiert, wir würden im Gesundheitswesen nicht genug
sparen. Das haben Sie 2010 gesagt: Wir sollten mehr
sparen. Bei Ärzten, Krankenhäusern, Apothekern und
der Pharmaindustrie sollten wir endlich einmal richtig
hinlangen.

Nun – zwei Jahre später – kann Ihnen, der Opposition
insgesamt, das Geldausgeben nicht schnell genug gehen.


(Elke Ferner [SPD]: Zwei Jahre später haben Sie die Kopfpauschale eingeführt!)


Sie wollen alle Zuzahlungen – das sind 5 Milliarden
Euro – abschaffen.


(Zuruf des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])


Sie wollen mehr Geld für die Krankenhäuser. Frau
Kollegin Bunge hat gestern angedeutet, sie könne sich
bis zu 600 Millionen Euro mehr für die Apotheker vor-
stellen.

Sie wollen also mehr für Ärzte und Krankenhäuser
und im Zweifelsfall die Zuzahlungen streichen, ohne
auch nur einen Satz darüber zu sagen, wie das gegenfi-
nanziert werden soll. Das macht, wie übrigens Ihre
ganze Rede, einmal mehr den Unernst deutlich, mit dem
Sie diese Diskussion führen.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Man macht sich über Sie lustig!)


Ihnen geht es an dieser Stelle nicht um die Sache, son-
dern schlicht und ergreifend um die Landtagswahlen in
Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein.

Es ist bemerkenswert, dass nach dem Spruch „Curry-
wurst ist SPD“, den ich für den Höhepunkt des Unerns-
tes im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen gehalten
habe, Frau Kraft und Frau Löhrmann vor dem Landtag
in Nordrhein-Westfalen, einem Ort, an dem eigentlich
über die Fragen der Landespolitik diskutiert werden
müsste – in Nordrhein-Westfalen gäbe es viel zu disku-
tieren, was die Verschuldung angeht; das kann ich als
Westfale sagen –, plakatieren: Die Praxisgebühr muss
weg.

Wenn es noch eines Beispiels bedurfte, dass es Ihnen
nicht um die Sache, sondern um Klamauk und Wahl-
kampf geht, dann ist das an dem Tag deutlich geworden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Klamauk machen Sie ständig! – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Schauen Sie doch mal auf die Website der FDP!)


Schade ist daran, dass Sie es am Ende nicht mehr hinbe-
kommen, zu dem zu stehen, was Sie selber beschlossen
haben, und zwar aus guten Gründen. Sie sind in Ihrer
ganzen Rede, die auch von Klamauk und Witzemachen
geprägt war, nicht bereit gewesen, sich ernsthaft mit den
ganzen Fragen auseinanderzusetzen.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sind Sie zu spät gekommen?)


SPD und Grüne haben 2004 aus guten Gründen die
Praxisgebühr zusammen mit anderen Zuzahlungen mit
unserer Zustimmung eingeführt.


(Elke Ferner [SPD]: Nicht mit Ihrer Zustimmung!)


Zuzahlungen und Eigenbeteiligung sind nämlich auch
ein Ausdruck von Solidarität.

Wir haben eines der besten Gesundheitswesen der
Welt.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Was haben Sie für einen Realitätsbegriff?)


Wir bieten flächendeckend in allen Regionen des Landes
eine Gesundheitsversorgung auf einem Niveau, wie es
das in keinem anderen Land der Welt gibt, und jeder hat
unabhängig vom Einkommen Zugang dazu. Ich be-
haupte, wir haben das beste Gesundheitssystem der
Welt.

Wir haben 2004 gemeinsam gesagt, dass sich derje-
nige, der von diesem hervorragenden Gesundheitssys-
tem profitiert – das auch ein teures ist, aber wir wollen
das –, im Rahmen seiner Möglichkeiten mit der Eigen-
beteiligung auch ein Stück weit mit einbringen soll. Das
ist auch Solidarität damit, dass wir ein so tolles System
zur Verfügung stellen, auf das man auch unabhängig
vom Einkommen und dem, was man nötig hat, zugreifen
kann.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das ist der Punkt!)


Bei der Eigenbeteiligung durch Zuzahlungen und Pra-
xisgebühren gibt es aber Einkommensgrenzen. Ein chro-
nisch Kranker muss nicht mehr als 1 Prozent seines Ein-
kommens insgesamt für Zuzahlungen und Praxisgebühr
aufbringen, die anderen nicht mehr als 2 Prozent. Das
sind bei 800 Euro Rente oder Einkommen im Monat
8 Euro monatlich, die man im Fall der Fälle maximal an
Zuzahlungen aufbringen muss.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist bei 800 Euro eine Menge!)


Ich finde, das ist am Ende ausgewogen und ein Aus-
druck von gegenseitiger Solidarität. Es bringt zum Aus-
druck, dass man bereit ist, für den Nutzen des guten Ge-
sundheitssystems auch etwas mit einzubringen, dass
aber gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass niemand über-
fordert wird.





Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)


Sie machen sich nicht einmal die Mühe, auch nur an-
satzweise zu erklären, warum das 2004 eingeführt wor-
den ist und warum auch das einen vernünftigen Kern
hatte. Sie geben sich nur dem Wahlkampf hin, weil es
viel einfacher ist, alles zu vergessen, was man einmal für
richtig gehalten hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber Sie lernen nicht dazu! Das ist der Unterschied!)


Hinzu kommt die Frage der Finanzlage der gesetzli-
chen Krankenversicherung.


(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Die ist gut!)


Ihnen kann es mit Hinweis darauf, dass unsere Finanz-
lage so gut ist wie seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehn-
ten nicht mehr, nicht schnell genug gehen, das Geld
schnellstmöglich auszugeben, ohne zu sagen, wie das
mittel- und langfristig sauber finanziert werden soll.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Doch!)


Es ist erst einmal etwas Schönes – ich jedenfalls freue
mich darüber –, dass es die Politik dieser christlich-libe-
ralen Koalition geschafft hat, dass wir zum ersten Mal
seit vielen Jahren in der Gesundheitspolitik nicht über
Defizite, Sparmaßnahmen und Kostendämpfungen reden
müssen, wie noch 2004, als wir etwa Brillen aus der Er-
stattung ausgegliedert haben. Wir haben aufgrund der
guten wirtschaftlichen Entwicklung und der Spargesetze
dieser Koalition für 2011und 2012


(Elke Ferner [SPD]: Nein, durch Beitragserhöhungen!)


für Solidität und eine gute Finanzlage in der gesetzlichen
Krankenversicherung gesorgt, wie es sie seit vielen Jah-
ren nicht mehr gegeben hat. Ich finde, wir sollten uns zu-
erst einmal über die gute wirtschaftliche und finanzielle
Lage freuen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie erwecken den Eindruck, als wäre nun alles egal,
weil es gut läuft. Mehr Geld für Krankenhäuser, Ärzte
und Apotheker sowie Abschaffung der Zuzahlungen, je-
der bekommt das, was er sich wünscht.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wir sind nicht die FDP!)


Sie können mir glauben: Wir würden das ebenfalls gerne
machen. Aber wir sind der Meinung, dass wir auch Ver-
antwortung für die langfristige Finanzierbarkeit der ge-
setzlichen Krankenversicherung haben. Wir alle wissen,
dass sich die Gesundheitsversorgung in einer älter wer-
denden Gesellschaft und in einem System, in das wir
medizinischen Fortschritt integrieren wollen – wir wol-
len doch, dass die Menschen auch in Zukunft von dem
profitieren, was die Medizin ermöglicht – verteuern
wird.


(Mechthild Rawert [SPD]: Dafür brauchen wir ein Präventionsgesetz!)


Daher macht es doch Sinn, in guten Zeiten Rücklagen
aufzubauen und diese dann in den Zeiten, in denen es
teurer wird und wirtschaftlich nicht mehr so gut läuft wie
im Moment, zu nutzen. Jedenfalls wäre es fatal, in einer
beginnenden Wirtschaftskrise wie in den Jahren 2004,
2005 oder 2008 als Erstes die Krankenversicherungsbei-
träge erhöhen oder ein massives Sparprogramm auflegen
zu müssen; das wäre das Schlechteste.

Alles, was wir vorschlagen und worüber wir diskutie-
ren – zum Beispiel zusätzliche Leistungen oder gerin-
gere Einnahmen –, muss dauerhaft finanziert sein. Das
ist es nicht, wenn man wie Sie kurzfristig auf 5 Milliar-
den Euro verzichtet. Sie machen die Praxisgebühr nicht
umsonst zum Thema in einem Landtagswahlkampf;
denn Sie wissen, dass man für die Forderung nach Ab-
schaffung dieser Gebühr zuerst Applaus erntet.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Der Antrag war schon lange vorher gestellt!)


Aber wir meinen, dass es zwar unpopulär, aber der Sa-
che wert ist, sachlich zu argumentieren und darauf zu
verweisen, dass die Praxisgebühr eine Komponente der
Solidarität und der zukünftigen finanziellen Tragfähig-
keit darstellt. Wir wollen deshalb an der Praxisgebühr
festhalten und die Rücklagen in der gesetzlichen Kran-
kenversicherung für schlechte Zeiten aufheben. Das ist
zwar nicht populär, liegt aber im Interesse der Menschen
und ist für eine medizinische Versorgung auch in Zu-
kunft das Richtige und das Verantwortbare.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717604400

Das Wort hat für die Fraktion Die Linke der Kollege

Klaus Ernst.


(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Das ist der Gesundheitsexperte!)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717604500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die Anträge, mit denen wir uns heute befassen,
sind höchst erfreulich. Aber ich kann nicht glauben, Herr
Lauterbach,


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Genosse!)


dass ihr die unerwünschten Nebenwirkungen der Praxis-
gebühr erst nach sechs Jahren bemerkt haben wollt. Da
hättet ihr ein wenig schneller sein sollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie alle haben die bundesrepublikanische Bevölkerung
eigentlich einem Feldversuch ausgesetzt. Dieser ist
gründlich gescheitert. Es ist erfreulich, dass Sie, meine
Damen und Herren von der SPD, nun zur Vernunft kom-
men. Von Ihnen, Herr Spahn, kann man das nicht be-
haupten.


(Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Andere Feldversuche haben 40 Jahre gedauert!)






Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)


Die Praxisgebühr war von Anfang an grober Unfug.
Es war von Anfang an klar, dass es den Menschen an die
Geldbörse geht und dass Arztbesuche nicht mehr in dem
Maße stattfinden, wie es notwendig wäre. Die Bürokra-
tie wurde aufgebläht, und das ausgerechnet durch Sie,
die Sie sich sonst immer gegen Bürokratie wenden. Die
Parität bei der Finanzierung der Gesundheitsversorgung
wurde weiter ausgehöhlt. Im sogenannten Zuzahlungs-
bericht des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen
heißt es – das müsste Ihnen wirklich zu denken geben,
auch Ihnen Herr Spahn, der Sie über alles Mögliche re-
den, nur nicht über die Patienten – zur Praxisgebühr:


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Haben Sie nicht zugehört?)


Allerdings hat sie insbesondere bei einkommens-
schwachen Versicherten zu einer Verzögerung oder
Vermeidung von subjektiv notwendigen Arztbesu-
chen beigetragen.

Das sagen nicht wir, sondern die gesetzlichen Kranken-
kassen. Wenn Sie sich weiterhin weigern, die Praxisge-
bühr abzuschaffen, sind Sie persönlich für den sich ver-
schlechternden Gesundheitszustand dieser Menschen
mitverantwortlich, Herr Spahn.


(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Das ist hier kein Parteitag!)


Jetzt könnte man sagen: Die FDP macht es richtig.
Fünf stellvertretende Ministerpräsidenten der Länder ha-
ben sich gegen die Praxisgebühr ausgesprochen. Es wa-
ren Heiner Garg, Martin Zeil aus Bayern – bei dem hat
es mich besonders gewundert –, Jörg-Uwe Hahn, Jörg
Bode und Sven Morlok. Alle sagen, dass die Praxisge-
bühr als Steuerungsinstrument versagt hat. Das Zah-
lungsausfallrisiko liegt bei den Ärzten, die Belastung für
die Praxen ist hoch, und es gibt weitere Argumente. Das
ist vollkommen richtig.

In der gemeinsamen Erklärung der FDP-Minister
heißt es dann – ich zitiere –:

Die stellvertretenden Ministerpräsidenten der FDP
erwarten von der Bundesregierung, dass die Versi-
cherten der Gesetzlichen Krankenversicherung
nicht länger mit der Erhebung einer Praxisgebühr
belastet werden.

Richtig. Da haben sie ausnahmsweise einmal recht.
Auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn.


(Beifall bei der LINKEN)


Nur, ich sage Ihnen: Wir müssen uns natürlich die
Frage stellen, warum wir die Praxisgebühr noch haben,
wenn die Oppositionsparteien und auch die FDP gegen
die Praxisgebühr sind. Warum existiert sie eigentlich
noch?


(Beifall bei der LINKEN)


Wir kommen nicht daran vorbei, dass die Linke im
Jahr 2006 die Abschaffung der Praxisgebühr gefordert
hat. Wer hat die Abschaffung der Praxisgebühr durch
sein Nein hier im Bundestag verhindert? Das waren die
CDU/CSU, die SPD, die FDP und die Grünen. Im

Jahr 2011 haben wir erneut einen Versuch unternommen,
die Praxisgebühr abzuschaffen. Wer war dagegen? Die
CDU/CSU, die SPD, die FDP und die Grünen. Wir wa-
ren die Einzigen, die die Abschaffung gefordert haben.

Jetzt wird es spannend. Was treiben Sie von der FDP
eigentlich hier? Wir haben im Jahr 2012, vor kurzem,
hier einen Vorschlag zur Abschaffung der Praxisgebühr
vorgelegt und gesagt: Lasst uns sofort darüber abstim-
men. – Wie haben Sie sich verhalten? Bei der Abstim-
mung darüber hat die CDU/CSU natürlich mit Nein ge-
stimmt, auch die SPD hat mit Nein gestimmt – im
Jahr 2012, wohlgemerkt –, auch die FDP hat mit Nein
gestimmt. Jetzt machen Sie den doppelten Rittberger
und stellen sich an die Spitze der Bewegung. Das glaubt
Ihnen von der FDP doch kein Schwein mehr in diesem
Land, um das einmal deutlich zu sagen.


(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Das sind ja Ausdrücke hier!)


Die Grünen haben schon richtigerweise mit uns ge-
stimmt.

Die Gründe sind spannend. Die SPD hat ihre Ableh-
nung immer damit begründet, die Abschaffung sei nicht
finanzierbar. Die Grünen sagten früher, es fehle an Bele-
gen, die eine Abschaffung rechtfertigten. Die FDP argu-
mentierte, es fehle an Alternativen, wie die Anzahl der
Arztbesuche begrenzt werden könne. Das waren Ihre Ar-
gumente. Es hat sechs Jahre gedauert, von 2006 bis
2012, bis einige zur Vernunft kamen – einige. Die CDU/
CSU ist noch weit von der Vernunft entfernt. Herr Spahn
hat das gerade unter Beweis gestellt.

Aber was Sie, Kolleginnen und Kollegen von der
FDP, zurzeit treiben, ist der Hammer. Weshalb? Weil wir
heute über einen Antrag der Linken entscheiden und die
Praxisgebühr abschaffen könnten, wenn Sie nicht im
Ausschuss die Behandlung unseres Antrags verhindert
hätten, sodass er heute nicht zur Abstimmung steht.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Was steht da noch drin außer der Praxisgebühr?)


Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Elke Ferner [SPD])


Ich kann Ihnen nur sagen: Was Sie treiben, schlägt dem
Fass wirklich den Boden aus.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Der Antrag geht doch zur Bürgerversicherung und nicht zur Praxisgebühr!)


Sie rennen durch die Gegend, Ihre Vizeministerpräsiden-
ten machen schöne Erklärungen, und wenn es zum
Schwur kommt, dann machen Sie den schlanken Hasen.
Sie laufen doch schneller rückwärts, als Sie nach vorne
denken können. Das ist Ihr Problem, wenn es konkret
wird.


(Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Ihr Antrag war doch zur Bürgerversicherung! Lesen Sie doch die Überschrift!)






Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)


Deshalb sage ich Ihnen: Was wir brauchen, ist eine
Gesundheitspolitik im Interesse der Bürger. Sie führen
die Leute hinter die Fichte. Sie tun so, als ob Sie etwas
ändern wollten, aber in Wirklichkeit verhindern Sie die
Abschaffung der Praxisgebühr. Das ist die Wahrheit. Das
lassen wir Ihnen nicht durchgehen.


(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Sozialistische Begeisterung!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717604600

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Christine

Aschenberg-Dugnus das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1717604700

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Wir beraten heute über zwei Anträge zur Praxis-
gebühr. Ich habe schon beim letzten Mal gesagt: Es ist
doch schön, dass wir hier solche Luxusdebatten führen
können; denn es geht auch darum, dass wir Überschüsse
im System der gesetzlichen Krankenversicherung haben.

Herr Lauterbach, ich bin richtig begeistert. Allein die-
ser Debatte heute zu folgen, war es schon wert, hier zu
sein.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Danke schön!)


Sie als reumütigen, irregeleiteten Menschen zu erleben,
der endlich zugibt, dass er unrecht gehabt hat, ist ein
Grund, das heutige Datum im Kalender anzustreichen.
Aber das nimmt Ihnen hier in diesem Saale überhaupt
niemand ab.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD])


Das Konzept der Praxisgebühr geht nämlich auf einen
Vorschlag des Sachverständigenrats für die Konzertierte
Aktion im Gesundheitswesen zurück. In dem Vorschlag
heißt es:

In diesem Zusammenhang steht auch die Erhebung
einer sog. Praxisgebühr … zur Diskussion.

Dann werden viele Worte über die positiven Effekte ei-
ner finanziellen Schwelle gegenüber sogenannten Baga-
tell-Inanspruchnahmen geschrieben. Also, es wird die
Praxisgebühr befürwortet.

Nun dürfen Sie mal raten, wer einer der Sachverstän-
digen war, der diesen Vorschlag verfasst und unter-
schrieben hat!


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha!)


Na?


(Otto Fricke [FDP]: Nein, das kann doch nicht sein!)


Richtig! Es war Karl Lauterbach, Institut für Gesund-
heitsökonomie, Universität Köln.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha! – Lars Lindemann [FDP]: Lobbyist!)


All die Jahre haben Sie so getan, als stünden Sie da-
hinter, lieber Herr Kollege Lauterbach, und jetzt auf ein-
mal tun Sie so, als hätten Sie es schon immer gewusst.
Das nimmt Ihnen niemand ab.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das habe ich nicht gesagt! Sie sind zu spät gekommen!)


– Das haben Sie gesagt, und das kann auch niemand
wegschieben.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das ist unseriös, was Sie sagen!)


Tatsache ist: Rot-Grün hat diese Praxisgebühr einge-
führt. Nicht die FDP, sondern Rot-Grün war es, und das
kann man hier gar nicht oft genug wiederholen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wenn Sie jetzt im NRW-Wahlkampf die Abschaffung
der Praxisgebühr fordern, dann ist das absolut unglaub-
würdig und unredlich. Es ist unseriös, weil Sie nämlich
für diese Praxisgebühr verantwortlich sind. Wir werden
nicht müde werden, das immer und immer wieder zu
wiederholen. Ich sage es noch einmal: Ihren Sinneswan-
del jetzt nimmt Ihnen sowieso niemand ab.


(Beifall bei der FDP)


Sicher ist es müßig, darüber zu streiten, wer wann zu-
erst geahnt hat, dass mit der Praxisgebühr vielleicht
nicht das erreicht werden kann, was erreicht werden
sollte. Aber ich finde es ganz wichtig, dass wir hier Er-
kenntnisse darüber gewinnen, was die Praxisgebühr aus-
macht, was sie anrichtet, und diese Erkenntnisse dann in
unsere Beratungen einzuführen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717604800

Kollegin Aschenberg-Dugnus, gestatten Sie eine

Frage oder Bemerkung des Kollegen Lauterbach?


Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1717604900

Aber gern doch, Herr Kollege.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1717605000

Frau Dugnus, erinnern Sie sich daran, dass wir die

Abschaffung der Praxisgebühr bereits gefordert haben,
als noch gar nicht klar war,


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Dass die überhaupt kommt, oder wie?)


dass Ihnen durch ein Missgeschick die Neuwahl in NRW
droht?


(Heinz Lanfermann [FDP]: Lieber Neuwahlen als neue Schulden! Das war kein Missgeschick!)


Wir waren keine Hellseher. Ein Blick auf die Termine
wird Ihnen zeigen: Nur die Linkspartei hat möglicher-
weise schon gewusst, dass es zu Neuwahlen kommt, und
auch die Grünen.





Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)



(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Zur Sache bitte!)


Stimmen Sie mir somit zu, Frau Dugnus, dass wir
dies schon gefordert haben, als wir von der Neuwahl
noch nichts wussten, und dass Ihr Vorwurf daher nicht
redlich ist? Wir haben Ihnen nicht vorgeworfen, dass Sie
sich dieser Forderung jetzt im Wahlkampf NRW an-
schließen.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Der Wahltermin Schleswig-Holstein ist schon seit einem Dreivierteljahr bekannt!)


Das habe ich der FDP nicht vorgeworfen, weil ich das
auch nicht unterstellen möchte. Wieso – das ist meine
Frage – werfen Sie uns etwas vor, was nachweislich so
nicht stimmen kann, derweil Sie sich selbst diesem Ver-
dacht doch aussetzen? Das ist unredlich.


(Rudolf Henke [CDU/CSU]: Das Scheitern eines Schuldenhaushalts ist doch kein Missgeschick!)



Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1717605100

Herr Kollege Lauterbach, Sie meinen sicher Schein-

anträge wie die, die heute vorliegen, in denen es über-
haupt nicht um die Praxisgebühr, sondern um andere
Dinge geht, zum Beispiel um die Bürgerversicherung.
Das nimmt Ihnen ja auch niemand ab.

Wir werden in der Koalition ganz in Ruhe darüber
diskutieren. Wir legen hier unsere Argumente auf den
Tisch und werden im Gesundheitsausschuss mit unserem
geschätzten Koalitionspartner diskutieren und die Argu-
mente austauschen; dafür sind wir da.


(Lars Lindemann [FDP]: So machen wir das!)


Daran lassen wir die Öffentlichkeit teilnehmen.

Wir hatten immer eine klare Positionierung zur
Praxisgebühr. Insofern haben wir uns da nichts vorzu-
werfen. Aber ich kann den Ball an Sie zurückgeben. Bei
Ihnen sieht das, glaube ich, ein bisschen anders aus.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Karin Maag [CDU/CSU])


Ich würde jetzt gern in meiner Rede fortfahren und
auf die Sachargumente zu sprechen kommen. – Die
Steuerungseffekte, derentwegen die Praxisgebühr einge-
führt wurde, sind – das wissen wir alle; das wurde be-
reits erwähnt – überhaupt nicht eingetreten. Die Gebühr
hat die Zahl der sogenannten Bagatell-Inanspruchnah-
men – darum geht es ja – nicht nennenswert verringert.
Wo die Praxisgebühr allerdings unschlagbar ist – das ist
unser Credo als FDP –, ist der unnötige Bürokratieauf-
wand, der dadurch erzeugt wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Praxisgebühr in
Höhe von 10 Euro wurde nach Angaben der KBV, der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung, im Jahr 2010
156 Millionen Mal erhoben. Das muss man sich einmal
auf der Zunge zergehen lassen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717605200

Kollegin Dugnus, es gibt einen weiteren Wunsch,

eine Frage zu stellen oder eine Zwischenbemerkung zu
machen, nämlich vom Kollegen Harald Weinberg.


Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1717605300

Jetzt würde ich gern meine Ausführungen zu Ende

bringen, –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717605400

Gut.


Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1717605500

– und nachher können wir gern weitermachen.

Geht man bei der Praxisgebühr von einem Bearbei-
tungsaufwand von nur vier Minuten aus, kommen wir im
Jahr auf stolze 624 Millionen Minuten administrativen
Aufwand insgesamt. Das entspricht über 10 Millionen
Stunden, die in deutschen Arztpraxen für die Erhebung
der Praxisgebühr aufgewendet werden.


(Elke Ferner [SPD]: Abrechnung von Nebenleistungen!)


Bei 87 000 Arztpraxen macht das pro Jahr und Praxis ei-
nen Durchschnittswert von ungefähr 119 Stunden, die
einfach so für die Erhebung der Praxisgebühr draufge-
hen. Hinzu kommen 1,4 Millionen Mahnverfahren. In
der Summe sprechen wir von Verwaltungskosten in
Höhe von 360 Millionen Euro.

Wen wir auch nicht vergessen dürfen, sind die Patien-
ten. Sie haben ebenfalls einen Aufwand, etwa wenn sie
sich von der Praxisgebühr befreien lassen wollen. Sie
müssen Belege sammeln und das Ganze einreichen. Und
wenn sie die 10 Euro nicht in der Tasche haben, müssen
sie noch einmal in die Praxis gehen und die Praxisgebühr
nachbezahlen.

Im Ergebnis ist klar: Die Praxisgebühr ist ein Büro-
kratiemonster, und zwar eines, das keinerlei Steuerungs-
wirkung entfaltet hat.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Jetzt komme ich zu den lieben Kolleginnen und Kol-
legen der Opposition. Wie ich eben schon angedeutet
habe, ist in den Überschriften Ihrer Anträge die Forde-
rung nach Abschaffung der Praxisgebühr natürlich teil-
weise enthalten. Sie versuchen hier heute vergeblich, ei-
nen vermeintlichen Widerspruch zwischen unserer
Ablehnung Ihrer Anträge und unserer Forderung nach
Abschaffung der Praxisgebühr herzustellen.

Die Wahrheit ist aber, dass Ihre Anträge Mogelpa-
ckungen sind; denn Ihnen geht es doch gar nicht um die
Abschaffung der Praxisgebühr. Im Kern wollen Sie alle
auf der linken Seite eine, wie auch immer geartete, Bür-
gerversicherung einführen


(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: Das wäre ja gut!)






Christine Aschenberg-Dugnus


(A) (C)



(D)(B)


– sehen Sie; Sie geben es ja zu –; eine Bürgerversiche-
rung, in die jede noch so kleine Sparbucheinlage und
jede noch so kleine Mieteinnahme einfließen.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Quatsch!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717605600

Kollegin Aschenberg-Dugnus, gestatten Sie eine

Frage oder Bemerkung des Kollegen Klaus Ernst?


Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1717605700

Nein, danke; ich würde gerne zu Ende kommen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was? – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Angst!)


– Jetzt geht es nämlich gegen Sie. Das müssen Sie sich
erst noch einmal anhören. Im Gewand eines Antrags auf
Abschaffung der Praxisgebühr präsentieren Sie uns näm-
lich in drei unterschiedlichen Varianten den gleichen Un-
sinn der Bürgerversicherung. Deswegen werden wir Ihre
Anträge auch ablehnen.

Die FDP plädiert für die Abschaffung der Praxisge-
bühr. Wir plädieren aber auch für eine sachliche Debatte
über den Weg, auf dem wir dahin kommen.

Wir widmen uns den tatsächlichen Herausforderun-
gen des Gesundheitssystems. Wir haben es in der Koali-
tion in kürzester Zeit geschafft, die Finanzen auf eine
stabile Grundlage zu stellen. Wir haben dafür gesorgt,
dass die Menschen auch im ländlichen Raum beste me-
dizinische Versorgung erhalten. Jetzt sorgen wir dafür,
dass die Pflegeversicherung zukunftsfest gemacht wird.
Zudem haben wir noch ein Plus in den Kassen. Ich
denke, dass sich das alles sehen lassen kann.

Stellen Sie ruhig weiter Ihre Schaufensteranträge. Wir
arbeiten ganz in Ruhe an der Sache. Wir führen diese
Sachdebatte da, wo sie hingehört, nämlich im zuständi-
gen Gremium des Deutschen Bundestages, also im Ge-
sundheitsausschuss.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben nicht!)


Was wir nicht tun, ist, Ihren Schaufensteranträgen und
Ihren Mogelpackungen zuzustimmen.

Danke sehr.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717605800

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Weinberg

das Wort.


Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717605900

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich habe mich zu

dieser Kurzintervention gemeldet, weil die Kollegin ge-
rade zunächst einmal sehr gute Argumente gegen die
Praxisgebühr vorgebracht hat, dann allerdings an einer
Stelle eindeutig die Unwahrheit gesagt hat. Unser An-
trag trägt nämlich, um das ganz deutlich zu sagen, die

Überschrift „Zuzahlungen für Patientinnen und Patien-
ten jetzt abschaffen“ und hat den Text:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
rung auf, unverzüglich einen Gesetzentwurf zur
Abschaffung sämtlicher Zuzahlungen in der gesetz-
lichen Krankenversicherung vorzulegen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Macht doch selber einen Gesetzentwurf!)


Es geht um die Praxisgebühr und gibt keinen einzigen
Hinweis auf die Bürgerversicherung, wie Sie behauptet
haben.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aber wollen tun Sie sie trotzdem!)


Sie müssten auch noch einmal folgenden Wider-
spruch aufklären: Die FDP sammelt sowohl im schles-
wig-holsteinischen Wahlkampf als auch im NRW-Wahl-
kampf Unterschriften gegen die Praxisgebühr. Auf der
Website der FDP hat sie eine Umfrage zur Praxisgebühr
gestartet, an der inzwischen über 6 000 Personen teilge-
nommen haben. Über 80 Prozent sind übrigens dagegen,
um das ganz deutlich zu sagen. Das finde ich auch sehr
gut. Schaufenstersachen macht die FDP also in einer
sehr ausführlichen Art und Weise.

Gleichzeitig verhindert sie allerdings den Beschluss
unseres Antrags. Außerdem wird sie nachher hier mit Si-
cherheit auch die Sofortabstimmung über die Praxisge-
bühr verhindern. Woher kommt diese Schizophrenie?
Das müssen Sie mir einmal erklären.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717606000

Sie haben das Wort zur Erwiderung.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Wo ist die Bürgerversicherung in unserem Antrag? Zeigen Sie mir den Passus!)



Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1717606100

Ja, ich werde versuchen, Ihnen diesen Passus zu zei-

gen. Sie wollen die Zuzahlung und bestimmte Dinge ab-
schaffen. Das sind Teile der Bürgerversicherung.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Zwei Anträge!)


Falls ich mich geirrt haben sollte, entschuldige ich mich
jetzt schon einmal dafür.


(Beifall des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Ich glaube, dass in anderen Anträgen die Bürgerversi-
cherung erwähnt wurde. Herr Kollege, wir können uns
darüber gerne noch einmal in Ruhe unterhalten.

Ich sehe keinen Widerspruch. Ich habe schon wieder-
holt erläutert: Die FDP hat sich von Anfang an gegen die
Praxisgebühr gewandt. Ich kann Ihnen viele Veranstal-
tungen nennen, bei denen ich das öffentlich gesagt habe.


(Elke Ferner [SPD]: Sie wollen die Selbstbeteiligung der Patienten!)


Deswegen ist es in Ordnung, dass wir so argumentieren.





Christine Aschenberg-Dugnus


(A) (C)



(D)(B)


Ich bin zum Beispiel seit 28 Jahren verheiratet. Was
meinen Sie, wie oft ich mit meinem Mann unterschiedli-
cher Meinung war? Zum Wohle der Familie haben wir
uns trotzdem immer geeinigt. So gehen wir auch in der
Koalition vor.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber deswegen müssen doch nicht die Versicherten zahlen und darunter leiden, was Sie zu Hause machen!)


Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ich möchte im Urlaub nach
Sylt fahren und mein Mann möchte nach Bayern fahren.
Wir einigen uns dann auf einen Urlaub in Deutschland.


(Zurufe von der SPD)


Nun kommt der Nachbar und sagt: Ich fahre mit dir nach
Sylt. – Ich werde dann sicher nicht mit dem Nachbarn
nach Sylt fahren, sondern mich mit meinem Mann da-
rüber einigen, wohin wir gemeinsam in den Urlaub fah-
ren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Schön!)


Ich hoffe, Sie haben mit diesem Bild meine Intention
verstanden. Über den Antrag unterhalte ich mich nach
der Debatte gerne mit Ihnen. Dann können wir in den
Dialog treten, auch darüber, was ich über die Bürgerver-
sicherung behauptet habe. Ich nehme jedoch zur Kennt-
nis, dass Sie nicht für die Bürgerversicherung sind.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Nein, das habe ich nicht gesagt! Das steht nur nicht in unserem Antrag!)


Vielen Dank, Herr Kollege.


(Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Gute Reise!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717606200

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die

Kollegin Maria Klein-Schmeink das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute an dieser Stelle
über Szenen einer Ehe rede statt über ein ganz klares An-
liegen: über Praxisgebühr, Zuzahlung und Zusatzbei-
träge.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Das ist heute das Thema. Dazu sind drei verschiedene
Anträge gestellt worden. Den Antrag der Linken gab es
tatsächlich schon vor der Osterpause. In diesem geht es
um die Abschaffung der Praxisgebühr. Sie hätten jeder-
zeit die Möglichkeit gehabt, der Diskussion dieser For-
derung im Ausschuss tatsächlich einen angemessenen
Rahmen zu geben.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: So ist es!)


Weder vor den Osterferien noch in dieser Woche ist er
diskutiert worden. Dabei haben Sie gesagt, Sie wollten
diesem Anliegen einen Raum verschaffen. Es war nicht
einmal eine Diskussion möglich. Er wurde von der Ta-
gesordnung gestrichen. So viel zur Seriosität, zur Red-
lichkeit, zur Verantwortlichkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich muss sagen: Wir haben ganz andere Anliegen.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das denke ich mir!)


Dazu, dass Sie dann als Krönung der SPD und den
Grünen in NRW und in Schleswig-Holstein vorwerfen,
sie würden dieses Thema instrumentalisieren, sage ich
Ihnen: Es ist ein legitimes Anliegen, einem Thema, das
in weiten Teilen der Gesellschaft debattiert worden ist,
zum Durchbruch zu verhelfen und zu verdeutlichen, dass
Sie dies auf der einen Seite zum Thema gemacht, aber
auf der anderen Seite Versprechungen gemacht haben,
die Sie überhaupt nicht realisieren wollen. Darum geht
es.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau! – Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Es geht nicht um die Tatsache, dass es thematisiert wird, sondern von wem!)


Das treibt auch die Kollegen von der Union auf die
Palme. Es geht darum, dass Sie eine Forderung erheben,
die erstens dem Koalitionsvertrag widerspricht und die
sich zweitens in Ihrem Wahlprogramm so nicht wieder-
findet.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Woher wissen Sie das denn?)


Sie haben dort immer von einer unbürokratischen Form
der Selbstbeteiligung geredet. Sie haben aber nie die
Selbstbeteiligung an und für sich infrage gestellt. Es
ging Ihnen immer nur um den bürokratischen Aufwand,
der damit verbunden war. Das noch einmal zur Klarstel-
lung.

Dann führen Sie die Union vor und überlassen der
Union die anderen Dinge, die in diesem Zusammenhang
zu klären sind,


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das tun wir nicht!)


nämlich dafür sorgen, dass es für die Abschaffung der
Praxisgebühr eine entsprechende Gegenfinanzierung
gibt. Das ist der einzige Punkt, bei dem Jens Spahn vor-
hin recht hatte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich muss man für eine Gegenfinanzierung sorgen,
wenn man den Krankenkassen 2 Milliarden Euro weg-
nimmt.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Und jetzt kommt die Bürgerversicherung, stimmt’s?)


– Ganz genau.





Maria Klein-Schmeink


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Die Heilserwartung der Bürgerversicherung! – Zurufe von der CDU/CSU: Ah!)


Aber es kommt noch mehr. Unser Antrag, der Ihnen
heute vorliegt, enthält drei Elemente: Wir haben Ihnen
erstens geraten, die Praxisgebühr abzuschaffen, zweitens
haben wir Ihnen geraten, die Zusatzbeiträge abzuschaf-
fen, und drittens haben wir Ihnen geraten – als wichtiges
Element –, den Krankenkassen die Beitragsautonomie
zurückzugeben.

Das ist doch der wahre Knackpunkt in diesem Spiel.
Sie haben mit der Gesundheitsreform 2010 ein System
geschaffen, in dem für die Krankenversicherung zentra-
listisch ein Einheitsbeitrag festgesetzt wurde. Das führte
dazu, dass es bei den Krankenkassen keine wirkliche
Steuerung gibt, sondern diese in irgendeiner Weise mit
den Beiträgen zurechtkommen müssen. In diesem Fall
hatten Sie großes Glück; denn Konjunktur und Arbeits-
marktlage waren gut.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir machen gute Politik!)


Deshalb gibt es bei den Krankenkassen und im Gesund-
heitsfonds einen immensen Überschuss.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist Ergebnis guter Politik!)


Dieser Überschuss aber – das muss man ganz klar
sagen – gehört den Versicherten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN)


Er gehört nicht den Krankenkassen. Die Krankenkassen
sind zu Recht keine Sparkassen; vielmehr haben sie eine
definierte Liquiditätsreserve, die aber längst überschrit-
ten ist. Darum ist jetzt der richtige Zeitpunkt, in die Dis-
kussion über die Abschaffung der Praxisgebühr einzu-
steigen.

Ein weiterer Punkt. Ich habe aus Ihren Reihen nichts
gehört zur inhaltlichen Auseinandersetzung um die Pra-
xisgebühr und die Zuzahlungen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Zuhören!)


Genau darum geht es aber im Wesentlichen. Alle drei
Elemente bedeuten zusätzliche unsolidarische Belastun-
gen, die einseitig nur die Versicherten treffen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ich habe Ihnen doch gerade die Solidarität erklärt!)


Das führt dazu, dass die von Ihnen genannten sozial Be-
nachteiligten eben keine gerechte Teilhabe an der ge-
sundheitlichen Versorgung erfahren.

Hier müssen wir gegensteuern. Darum geht es uns
heute. Wir wissen, dass wir gegensteuern müssen. Es
sind die 20 oder 25 Prozent der immer wieder beschwo-
renen sozial Benachteiligten und der bildungsschwachen
Haushalte, die gesundheitlich schlecht versorgt sind, die,
wie Studien nachgewiesen haben, wegen der Praxis-

gebühr und wegen der Zuzahlungen nicht oder zu spät
zum Arzt gehen. Das ist Ihnen bekannt; man kann das in
Arzneimittelreporten oder Gesundheitsreporten nachle-
sen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist denen egal, das ist denen wurscht! Das ärgert mich!)


Das ist der Sachstand. Heute ist es an der Zeit, endlich
gegenzusteuern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wer hat sie denn eingeführt? Wer hat sie jahrelang verteidigt?)


– Es ist in der Tat so, dass die Grünen die Praxisgebühr
im Zusammenhang mit dem Gesundheitsmodernisie-
rungsgesetz mit eingeführt haben, und zwar auf Betrei-
ben der Union, das ist ja klar.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Da müssen wir ja eine machtvolle Opposition gewesen sein!)


Es hat immer schon große Vorbehalte gegeben, aber
man ist auch ein Stück weit dem Rat der Sachverständi-
gen gefolgt.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Man könnte meinen, wir hätten regiert!)


– Hören Sie mir mal zu? Haben Sie keine Lust mehr, zu-
zuhören? Wir führen heute eine Debatte, die Sie draußen
in der Bevölkerung ereilen wird. Sie werden also schon
zuhören müssen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ohh!)


– Ja, genau so wird es sein. – Bei genauerem Hinsehen
werden Sie feststellen, dass man für die Praxisgebühr
nicht wirklich weiterhin werben kann. Man kann nicht
dafür einstehen, außer es geht um die Frage der Finan-
zierung. Dann müssen Sie sich aber fragen lassen, wie
insgesamt eine nachhaltige Finanzierung in der Gesund-
heitspolitik aussehen soll.

Sie haben mit dem Zusatzbeitrag ein Konstrukt ge-
schaffen, angesichts dessen Sie sich heute eigentlich ent-
setzt abwenden müssten; denn Sie fürchten ja selbst die
Folgen dieser Zusatzbeiträge. Sie müssen heute dafür
sorgen, dass es auf keinen Fall zur Einführung der Zu-
satzbeiträge kommt. Sie müssen für eine Liquiditäts-
reserve sorgen, ein Sicherheitspolster, das Sie sicher
über die nächsten Wahltermine und bis 2013 bringt.

Darum geht es doch. Darum kämpfen Sie, Jens
Spahn, für dieses Sicherheitspolster, weil Sie genau wis-
sen, dass Sie ansonsten in die Lage geraten, die Zusatz-
beiträge wirklich einzuführen. Und was wäre dann?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gäbe einen bürokratischen Aufwand ohne Ende.
Schauen Sie sich die Regelungen im SGB V an: Sie um-
fassen sieben Absätze mit zahlreichen Formulierungen
und Regelungen, die in den Unternehmen und anderswo
zu großem bürokratischen Aufwand führen werden. So
verhält es sich doch. Gleichzeitig ist es eine Tatsache: Es
wird zu einer zusätzlichen Belastung ausschließlich der





Maria Klein-Schmeink


(A) (C)



(D)(B)


Versicherten kommen. Auch das ist etwas, was Sie
heute, vor den Wahlen, nicht an die Oberfläche kommen
lassen wollen. Darum geht es im Kern. Darum kämpfen
Sie vonseiten der Union.

Klar ist natürlich auch, dass Sie darüber einen Ehe-
zwist haben. Ich hätte an Ihrer Stelle ebenfalls keine
Lust, allein für die Folgen einer solchen verfehlten Poli-
tik einzustehen; auch darum geht es. Da macht sich die
FDP nämlich in der Tat einen schlanken Fuß. Sie hat
sich im Februar überlegt: Ach ja, die Abschaffung der
Praxisgebühr, das wäre populär. Das ist ein schönes
Signal an die Ärzteschaft. –


(Lars Lindemann [FDP]: Was hat denn das mit der Ärzteschaft zu tun?)


Es ist gleichzeitig ein Signal, dass die FDP in der Lage
ist, ein wärmendes, soziales Mäntelchen zu tragen. Da-
rum geht es.

Schauen wir uns jetzt einmal Folgendes an: Sie haben
schon heute die Möglichkeit, über den Antrag der Lin-
ken abzustimmen. Sie haben in den nächsten Wochen die
Möglichkeit, über die in unseren verschiedenen Anträ-
gen enthaltenen Regelungen abzustimmen. Wir werden
erleben: Nichts davon wird kommen. Aber es wird wahr-
scheinlich etwas anderes kommen. Es wird zu einer Art
Eintrittsgebühr beim jeweiligen Arztbesuch kommen.
Darüber haben Sie nämlich schon Ende letzten Jahres
nachgedacht.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Die wird nicht kommen! Sie müssen meine Presseerklärungen lesen, Frau Kollegin!)


– Herr Lanfermann, noch Ende Dezember haben Sie da-
von gesprochen, dass gegen eine kleine Selbstbeteili-
gung, die unbürokratisch ausgestaltet ist, nichts einzu-
wenden ist. Ich glaube, das zeigt sehr deutlich, wessen
Geistes Kind sämtliche Anliegen der FDP sind.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das müssen Sie gerade sagen!)


Ich habe jedenfalls größere Schwierigkeiten, zu glauben,
dass Sie tatsächlich für Ihre Forderungen einstehen wer-
den.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717606300

Der Kollege Stephan Stracke hat für die Unionsfrak-

tion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1717606400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kollegin Klein-Schmeink, Sie setzen da-
rauf, dass wir für jeden Arztbesuch eine Art Eintrittsge-
bühr einführen wollen. Sie können davon ausgehen, dass

Ihre Vermutung ins Leere laufen wird. Das ist reine Spe-
kulation.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warten wir mal ab! – Heinz Lanfermann [FDP]: Das sehen wir alle so! – Elke Ferner [SPD]: Das haben Sie doch schon mal vorgeschlagen!)


Reine Spekulation ist auch das, was Sie uns in Bezug
auf das Thema Zusatzbeiträge unterstellen. Die wirt-
schaftliche Entwicklung in diesem Land ist so hervorra-
gend, dass es weder in diesem Jahr noch im nächsten
Jahr Zusatzbeiträge im Rahmen der gesetzlichen Kran-
kenversicherung geben wird. Also behaupten Sie nichts,
was sich aufgrund der gegenwärtigen Lage als irreal he-
rausstellt. Deutschland geht es gut, und die Menschen
profitieren davon. Die Beschäftigung in Deutschland be-
findet sich auf Rekordhöhe. In Deutschland sind mehr
Menschen als je zuvor in Lohn und Brot, und die Ar-
beitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jah-
ren. Das ist das Ergebnis christlich-liberaler Politik, und
das ist das Ergebnis einer Politik für Wachstum, Stabili-
tät und Beschäftigung in diesem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Rückgang der Arbeitslosigkeit und die Tatsache,
dass die Effektivlöhne steigen werden, zeigen, dass der
Aufschwung bei den Menschen tatsächlich ankommt.
Wir sorgen dafür, dass die Menschen auf breiter Front
entlastet werden. Die CDU/CSU hat dafür gesorgt, dass
die Bürger ab dem Jahr 2009 um 24 Milliarden Euro ent-
lastet wurden. Beispielsweise hat das Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz durch die Erhöhung des Kindergel-
des und eine Ausweitung des Kinderfreibetrags zu
Entlastungen in Höhe von über 4,3 Milliarden Euro ge-
führt.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717606500

Kollege Stracke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ernst?


Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1717606600

Ich möchte im Zusammenhang ausführen. Danach

kann Herr Ernst gern eine Zwischenfrage stellen.

Das zeigt, wir entlasten die Bevölkerung hier auf brei-
ter Front, und das gilt auch für die Sozialversicherungs-
systeme.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wer zahlt’s? – Der Versicherte!)


Beispielsweise sinkt der Rentenversicherungsbeitrag um
0,3 Prozentpunkte. Das ist insgesamt eine Entlastung
von 3 Milliarden Euro.


(Elke Ferner [SPD]: Um wie viel haben Sie bei der Krankenversicherung erhöht?)


Bei der Arbeitslosenversicherung hat es im Vergleich zu
2005 Entlastungen von insgesamt rund 28 Milliarden
Euro jährlich gegeben; auf die Arbeitnehmerschaft ent-





Stephan Stracke


(A) (C)



(D)(B)


fallen dabei 14 Milliarden Euro. Das ist das Ergebnis
christlich-liberaler Politik. Das trägt, und das wirkt auch
in die Bevölkerung hinein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Jetzt zum Thema Praxisgebühr. Es geht tatsächlich
darum, wie die gesetzliche Krankenversicherung nach-
haltig finanziert wird.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ich dachte, es geht um Steuerung!)


Wir haben einen Finanzierungsmix aus Beiträgen, aus
staatlichen Zuschüssen und aus Zuzahlungen. Die Zu-
zahlungen belaufen sich auf insgesamt 5 Milliarden
Euro. Ich glaube, das ist ein sozial ausgewogenes Kon-
zept.

Wenn es darum geht, wie die Gegenfinanzierung der
Abschaffung der Praxisgebühr aussehen soll, dann
kommt aus dem Bereich der Linken natürlich wie immer
überhaupt kein Vorschlag.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Wir geben keine 6 Milliarden an die FDP! – Gegenruf des Abg. Otto Fricke [FDP]: Als Schatzmeister kann ich bestätigen, dass wir keine 6 Milliarden Euro erhalten haben!)


Ich habe mir Ihren Antrag nämlich tatsächlich ange-
schaut. Sie versprechen hier wie immer den Himmel auf
Erden, und in der Realität – das hat die Vergangenheit
gezeigt – ist es oftmals die Hölle.

Ich komme zur SPD und zu den Grünen. Wenn es um
die Gegenfinanzierung geht, sagen sie zunächst einmal:
Wir haben ja die Rücklagen. – Ja, wir haben die Rückla-
gen; aber wir wissen auch, dass diese Rücklagen nur
über einen gewissen Zeitraum bestehen werden, weil es
aufgrund der demografischen Entwicklung eine Steige-
rung der Ausgaben im Gesundheitssystem um 60 Euro
pro Jahr und Versichertem gibt. Das zeigt: Seriöse Poli-
tik muss auch darauf achten, dass langfristig und gut fi-
nanziert wird.

Dann wird immer das Stichwort Bürgerversicherung
in den Raum geworfen. Das Stichwort Bürgerversiche-
rung ist eigentlich das Ü-Ei, das Überraschungsei der
Sozialdemokratie und vor allem der Grünen.


(Zurufe von der SPD: Nee! – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Die Kopfpauschale ist das Überraschungsei!)


Da locken Sie zunächst einmal mit Verführerli und sa-
gen: Wir schaffen die Praxisgebühr ab oder sorgen für
andere Wohltaten. – Wenn man sich das Überra-
schungsei Bürgerversicherung genauer anschaut, wenn
man es auspackt, dann findet man einen Zettel.


(Der Redner hält einen Zettel hoch – Zurufe von Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Dort liest man: „Ätsch, reingefallen! Ihre SPD und
Grüne.“


(Mechthild Rawert [SPD]: Haben Sie einen Rhetorikkurs mit Präsentationseinheiten gemacht?)


Das ist das Ergebnis; das macht die Bürgerversicherung
tatsächlich aus. Denn die Bürgerversicherung trifft zu-
nächst einmal in ganz breiter Front die Mittelschicht und
die Leistungsträger in diesem Land.

Wenn man sich beispielsweise die Vorschläge der
Grünen vergegenwärtigt: Sie wollen – –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717606700

Kollege Stracke, könnten Sie mir ein Zeichen geben?

Ich habe jetzt mehrere Meldungen zu Zwischenfragen
oder -bemerkungen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Die haben doch alle noch Redezeit!)



Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1717606800

Das machen wir am Schluss.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717606900

Irgendwann ist die Redezeit um. Ich sage es Ihnen

nur.


Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1717607000

Dann machen wir keine Zwischenfragen. – Welche

Gegenvorschläge werden hier im Zusammenhang mit
der Bürgerversicherung vorgelegt? – Erhöhung der Bei-
tragsbemessungsgrenze um 47 Prozent. Das trifft vor al-
lem 4,5 Millionen gesetzlich Versicherte, nicht, wie im-
mer behauptet wird, vor allem die Privatversicherten.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Wissen Sie, wie hoch die Beitragsbemessungsgrenze ist? Wie hoch ist die überhaupt?)


Das trifft vornehmlich die breite Mittelschicht in diesem
Lande und damit diejenigen, die in der gesetzlichen
Krankenversicherung versichert sind.

Dann wollen Sie Mieten, Pachten und Zinsen einbe-
ziehen. Das ist nichts anderes als eine zweite Einkom-
mensteuer. Hier wollen Sie rund 4 Milliarden Euro gene-
rieren.

Dann wollen Sie auch noch die beitragsfreie Fami-
lienversicherung für Ehegatten einschränken. Hier kas-
sieren Sie noch einmal 1 Milliarde Euro ein.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit den Zuzahlungen und mit den Zusatzbeiträgen?)


Das, was Sie als vermeintliche Wohltaten in Aussicht
stellen, wird also zunächst einmal an anderer Stelle ein-
kassiert und dann verteilt. Das ist nicht seriös; die Bür-
gerversicherung verspricht keine seriöse Politik. Die
Bürgerversicherung ist in Wahrheit ein ganz faules Ei,
das Sie der Bevölkerung unterschieben wollen. Deswe-
gen machen wir das nicht.





Stephan Stracke


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Stefan Rebmann [SPD]: Thema war die Praxisgebühr!)


Wir sagen: Seriöse Politik zeichnet sich dadurch aus,
dass wir die Rücklagen, die die Versicherten mit ihren
Geldern angespart haben, zunächst einmal aufbewahren,
weil wir ganz genau wissen, dass es aufgrund der demo-
grafischen Entwicklung Ausgabensteigerungen in der
gesetzlichen Krankenversicherung geben wird. Das ist
seriöse, nachhaltige Politik; das ist die Politik der CDU/
CSU.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717607100

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Klaus

Ernst das Wort.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717607200

Lieber Kollege Stracke, ich möchte eine Feststellung

treffen: Sie haben sich so intensiv mit dem Vorschlag der
Opposition auseinandergesetzt, dass sie in den ersten
zwei Minuten Ihrer Rede über den Arbeitsmarkt und die
Arbeitslosenversicherung geredet haben.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist ja auch wichtig!)


Da würde ich erst einmal sagen: Thema total verfehlt.
Das muss ich einfach sagen.

Zweiter Punkt. Sie haben dann gesagt, wir – da meine
ich die gesamte Opposition – hätten keine Vorschläge
zur Gegenfinanzierung gemacht; aber dann setzen Sie
sich den Rest Ihrer Rede mit der Bürgerversicherung
auseinander, nicht mit dem eigentlichen Thema. Auch
das ist ein interessanter Punkt.

Ich möchte zudem feststellen, dass Herr Spahn von
Solidarität gesprochen hat. Für Sie, Herr Spahn, und für
die CDU/CSU ist es offensichtlich der stärkste Ausdruck
der Solidarität, dass wir mit dem System der Praxisge-
bühr Menschen ganz bewusst vom Zugang zu einem
Arztbesuch ausgrenzen. Das ist offensichtlich Ihr Begriff
von Solidarität.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich finde das verwerflich. Das möchte ich in aller Klar-
heit sagen.

Wenn wir von Solidarität sprechen, dann möchte ich
einen Punkt in Bezug auf die Bürgerversicherung an-
sprechen. Die Bürgerversicherung ist tatsächlich eine so-
lidarische Bürgerversicherung, und zwar deshalb, weil
alle prozentual von ihren Einkommen den gleichen Bei-
trag in die Versicherung einzahlen würden. Die Beiträge
könnten sinken, und es wäre nicht so, dass die Sekretärin
letztendlich prozentual mehr für die Gesundheit ausge-
ben muss als ihr Chef; denn das ist zutiefst unsolida-
risch. Das System muss geändert werden, deshalb wol-
len wir die Bürgerversicherung. Das ist übrigens unsere

Finanzierung, darauf möchte ich Sie aufmerksam ma-
chen.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717607300

Kollege Stracke hat das Wort zur Erwiderung.


Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1717607400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Kollege Ernst,

Ihre Ausführungen hatten einen sehr lehrerhaften Ton.
Da kann man nur sagen: Solche Lehrer brauchen wir
nicht in unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber solche Schüler auch nicht!)


Auch in der Sache liegen Sie falsch. Die Praxisgebühr
und alle Zuzahlungen sind sozial ausgewogen. Sie wis-
sen ganz genau, dass wir beispielsweise im Rahmen der
Chroniker-Richtlinie die Grenze bei 2 Prozent des Ein-
kommens festgelegt haben,


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1 Prozent! Falsch!)


– Bei 1 Prozent. 2 Prozent sind es bei denjenigen, die
von ihrer Einkommenslage her nicht so gut gestellt sind.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Aber die Studienergebnisse sind klar und eindeutig!)


Es ist also ganz klar, dass wir im Rahmen unseres Zu-
zahlungssystems durchaus die soziale Balance einhalten.

Ein zweiter Punkt. Herr Ernst, in Ihrem Antrag be-
schäftigen Sie sich mit keinem Wort mit der Gegenfinan-
zierung.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das Geld ist doch da 2012, 2013! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir haben doch Überschüsse!)


Das ist der eigentliche Skandal: Sie stellen Versprechen
in den Raum.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das stimmt nicht! Quatsch!)


Sie sagen, Sie wollen die Beiträge zurückführen, aber
Sie sagen mit keinem Wort, wie Sie das finanzieren wol-
len.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Unglaublich!)


Das ist Ausdruck Ihrer Politik. Sie sagen einfach: Wir fi-
nanzieren das. Wir wissen zwar noch nicht genau wie,
aber wir versprechen es schon einmal. Das ist nicht die
Form von seriöser Politik, wie wir sie betreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der LINKEN: Lächerlich!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717607500

Zu einer weiteren Kurzintervention hat der Kollege

Spahn das Wort.






(A) (C)



(D)(B)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1717607600

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich möchte das Wort

ergreifen, weil der Kollege Ernst mich direkt angespro-
chen hat. Er hat auch Bezug auf das genommen, was
Stephan Stracke gesagt hat.

Zum Thema Solidarität. Ich bin der festen Überzeu-
gung: Die größte Solidarität, die wir leisten können, ist
die, dass wir insbesondere kranken Menschen und Men-
schen mit geringem Einkommen ein Gesundheitssystem
in der Qualität und in der Dichte auch in den ländlichen
Regionen zur Verfügung stellen, wie wir es in Deutsch-
land tun. Ein solches System, das die sofortige Teilhabe
am medizinischen Fortschritt möglich macht, etwa bei
neuen Medikamenten gegen Krebs, MS oder Parkinson,
das die Kosten sofort erstattet, gibt es in keinem anderen
Land der Welt. Das ist der größte Ausdruck von Solida-
rität, den es geben kann, und genau die wird in der deut-
schen gesetzlichen Krankenversicherung gelebt. Das ist
mein erster Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zum Zweiten. Es gehört zu unserem Verständnis dazu
– Solidarität ist keine Einbahnstraße –, dass man sich im
Rahmen seiner Möglichkeiten ein Stück weit an den
Kosten beteiligt.


(Zuruf von der FDP: So ist es! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die zahlen doch Beiträge! Die beteiligen sich doch!)


Sie wissen genau, was das heißt – den Teil lassen Sie im-
mer weg –: Ein chronisch Kranker muss maximal 1 Pro-
zent seines Einkommens zuzahlen: für Medikamente, für
Praxisgebühr und alle anderen Dinge zusammen. Diese
Regelung führt dazu, dass niemand durch Zuzahlung
und Praxisgebühr überfordert wird.


(Zuruf des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])


Wir finden schon – anders als Sie vielleicht, Sie sind
groß im Verteilen des Geldes anderer Leute –, dass zur
Solidarität beide Seiten beitragen müssen.

Ich möchte einen dritten Aspekt nennen. Zur Solida-
rität gehört es auch, dafür zu sorgen, dass das Gesund-
heitswesen, das das beste auf der Welt ist, auch mittel-
fristig solide bleibt. Das Schlechteste, was wir
insbesondere für kranke Menschen tun könnten, ist, ein
Gesundheitssystem anzubieten, das nicht auf soliden fi-
nanziellen Beinen steht, sodass wir früher oder später
über Ausgliederung, über Senkungen, über Sparmaßnah-
men und über Kostendämpfung reden müssten. Das
wäre das Schlechteste. Deswegen sagen wir: Gerade im
Interesse von kranken Menschen wollen wir die solide
finanzielle Basis der gesetzlichen Krankenversicherung
beibehalten.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Paritätische Beitragsfinanzierung!)


Da springen Sie leider zu kurz. Sie sagen an einer Stelle
immer nur: Abschaffen, abschaffen, abschaffen. An an-
derer Stelle aber sagen Sie: Mehr Geld, mehr Geld, mehr
Geld. Wie es aber finanziert werden soll, sagen Sie nicht.

Da lassen wir Sie aber nicht heraus. Die größte Solidari-
tät besteht in einer guten Finanzlage.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das wissen Sie doch selbst besser!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717607700

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss jetzt erst

einmal ein paar geschäftsleitende Bemerkungen machen.
Bei mir wurde, was jederzeit möglich ist, eine Kurzinter-
vention des Kollegen Spahn aus der Unionsfraktion an-
gemeldet. Auch wenn sich hier eine muntere Debatte
zwischen Kollegen entfaltet hat, die schon gesprochen
haben oder noch sprechen wollen, besagt unsere Ge-
schäftsordnung, dass nur der Kollege Stracke auf diese
Kurzintervention antworten kann. Ich habe kein Signal
gesehen, dass er das jetzt vorhat. Das heißt aber auch,
dass die weiteren Wortmeldungen, die ich hier wahrge-
nommen habe, in ein anderes Format umgewandelt wer-
den müssten. Wir haben aber noch ein wenig Debatten-
zeit; das bekommen wir sicherlich hin.

Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen-Claudio
Lemme für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Steffen-Claudio Lemme (SPD):
Rede ID: ID1717607800

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Herr Gesundheits-

minister Bahr! Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz!
Meine Fraktion freut sich, dass es heute hier im Haus
doch eine Mehrheit für die Abschaffung der Praxisge-
bühr gibt. Es gibt allerdings zwei Probleme und auch
zwei Verlierer bei dieser Mehrheit. Das ist zum einen die
FDP, die gegen ihren eigenen Parteitagsbeschluss han-
delt. Zum anderen ist es die CDU/CSU, die die Patien-
tinnen und Patienten in unserem Land nicht entlasten
will. Das ist kein gutes Zeichen für unsere parlamentari-
sche Demokratie.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Warum ist das so? Wir debattieren hier heute über ein
gesundheitspolitisches Steuerungsinstrument, das ein-
fach nicht mehr der Realität unserer Krankenversiche-
rungslandschaft entspricht. Grundsätzlich gilt, dass jede
politische Mehrheitsentscheidung auch immer Kind ih-
rer Zeit ist. Es ist unsere Aufgabe als politische Ent-
scheidungsträger, Regelungen zu überprüfen und auch
veränderte Rahmenbedingungen zu überdenken. Das ist
nun auch im Falle der Praxisgebühr notwendig gewor-
den. Wir müssen feststellen, dass sie klar hinter der er-
warteten Steuerungswirkung zurückbleibt und nur un-
zureichend zur finanziellen Entlastung des Systems
beiträgt. Hier müssten wir eigentlich gemeinsam han-
deln.

Ich erinnere aber auch daran, dass es in der Vergan-
genheit wiederholt zu anderen Einschätzungen der Sach-
lage gekommen ist. Deshalb will ich uns kurz noch ein-
mal die Entstehung und Entwicklung der Praxisgebühr
ins Gedächtnis rufen. Wie mein Kollege Karl Lauterbach
bereits ausgeführt hat, ist die derzeitige Ausgestaltung





Steffen-Claudio Lemme


(A) (C)



(D)(B)


Kompromissen geschuldet, die wir Sozialdemokraten
seinerzeit im Vermittlungsausschuss gegenüber CDU
und CSU machen mussten.

Die Union wollte damals mit ihrer Praxisgebühr von
den Patientinnen und Patienten noch wesentlich höhere
Zuzahlungen, während wir mit unserer Abgabe nur beim
Facharzt die hausarztzentrierte Versorgung stärken woll-
ten.


(Elke Ferner [SPD]: Genau so war das!)


Hierzu stehen wir auch heute. Wir halten weiter an un-
serer Überzeugung der Notwendigkeit einer hausarzt-
zentrierten Versorgung fest.

Wir mussten damals, in den Jahren 2003/2004, dafür
Sorge tragen, dass sich die Defizite in der gesetzlichen
Krankenversicherung – damals betrug der Fehlbetrag be-
reits drei Jahre in Folge durchschnittlich 1 Milliarde
Euro pro Jahr – nicht fortsetzten. Das ist uns damals
auch gelungen. Die Praxisgebühr war nur ein Baustein
von vielen zur Stabilisierung der gesetzlichen Kranken-
versicherung.

Für uns Sozialdemokraten war, ist und bleibt es zwin-
gend, dass gerade bei der Finanzierung der gesetzlichen
Krankenversicherung sauber gearbeitet wird. Schnell-
schüsse zahlen sich für die Versicherten nie aus. Sie wir-
ken sich zu einem späteren Zeitpunkt negativ aus.

Die ersten Gutachten zur Praxisgebühr – etwa des
Wissenschaftlichen Instituts der AOK, des Zentralinsti-
tuts für die kassenärztliche Versorgung oder des Deut-
schen Instituts für Wirtschaftsforschung – zogen eine
durchweg positive Steuerungsbilanz.

Zweistellige Fallzahlenrückgänge bei Augenärzten,
Chirurgen oder Orthopäden sprachen damals eine deutli-
che Sprache. Auch die Akzeptanz des immer wieder dis-
kutierten Instruments wuchs in der Bevölkerung rasch.
So sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage des
Wissenschaftlichen Instituts der AOK im Jahre 2010 an-
nähernd 70 Prozent der Befragten dafür aus, die Gebühr
unverändert beizubehalten.

Nichtsdestotrotz verweisen andere Studien, zum Bei-
spiel die Studie des Helmholtz-Zentrums München aus
dem Jahr 2008, die zusammen mit der Bertelsmann-Stif-
tung herausgegeben wurde, auf negative Steuerungs-
effekte. Danach würden junge und gesunde Menschen
notwendige Arztbesuche dreieinhalbmal häufiger ver-
schieben als ältere Menschen, Geringverdiener immer-
hin zweieinhalbmal häufiger als Besserverdienende.
Hierauf machen insbesondere Sozial- und Wohlfahrts-
verbände und Gewerkschaften aufmerksam. Sie betonen
insgesamt die negativen Auswirkungen für ältere Men-
schen und Geringverdiener. Das sind Hinweise, die wir
nicht ignorieren können; denn wir alle wissen: Präven-
tionsmaßnahmen und die frühzeitige Behandlung von
Krankheiten helfen, hohe Folgekosten zu vermeiden.

Kurzum: Die Praxisgebühr wurde seit ihrer Einfüh-
rung unterschiedlichen Zeugnissen unterworfen und
blieb stets Gegenstand kontroverser Debatten.

Letztlich macht die Gebühr nur einen Bruchteil der
Finanzierungsgrundlage aus. Sie trägt nicht nachhaltig
genug zur Konsolidierung der gesetzlichen Krankenver-
sicherung bei. Hören Sie: Ich habe im Petitionsausschuss
bei Entscheidungen zur Praxisgebühr wiederholt darauf
hingewiesen, dass ein finanzieller Spielraum Vorausset-
zung für die Abschaffung der Praxisgebühr ist. Die Ko-
alition hat sich aber allen konstruktiven Vorschlägen zur
Beschaffung der notwendigen Mittel, zum Beispiel
durch Einführung einer effektiveren Kosten-Nutzen-Be-
wertung von Arzneimitteln, verweigert.


(Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr!)


Diese Wahlperiode bot bisher keine finanziellen
Spielräume für Entlastungen. Aber die Rahmenbedin-
gungen haben sich mittlerweile durch die gute Konjunk-
tur verbessert. Wir sollten diesen Spielraum nutzen. Ich
fordere Sie daher auf: Stimmen Sie der Abschaffung der
Praxisgebühr zu, und sorgen Sie für eine Entlastung der
Patientinnen und Patienten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Neben der Abschaffung der Praxisgebühr wird lang-
fristig jedoch nur eine Stärkung der Solidarität in der
GKV eine umfassende Entlastung für die Versicherten
bringen. Die Rückkehr zur Parität, die Abschaffung von
Zusatzbeiträgen und letztendlich die Einführung der so-
lidarischen Bürgerversicherung müssen folgen; denn nur
so wird unsere gesetzliche Krankenversicherung zu-
kunftsfest gemacht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717607900

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Heinz

Lanfermann das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1717608000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da ha-

ben wir sie wieder gehört, die Heilserwartungen, die mit
der Bürgerversicherung verbunden werden. Aber dazu
ist ja schon einiges gesagt worden.

Die Aufforderung aus den Reihen der Opposition, die
uns gleich mit drei Anträgen beglückt hat, die FDP möge
ihrer Forderung nach Abschaffung der Praxisgebühr
nachkommen, ist absolut scheinheilig. Das kann man
schon an den Überschriften der drei Anträge erkennen.
Das wird erst recht deutlich, wenn man die Anträge liest.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Praxisgebühr abschaffen!)


Bei den Grünen zum Beispiel geht es um Änderungen
bei der Beitragssatzautonomie, dabei geht es – das haben
wir ja gehört – in Richtung Bürgerversicherung. Die
SPD hat gleich auch noch ihr Hausarztmodell mit dazu-
gepackt. Das ist Ihr gutes Recht, aber dann tun Sie nicht





Heinz Lanfermann


(A) (C)



(D)(B)


so, als gehe es hier nur um die Praxisgebühr. Die Linken
rufen in der Tat nach Abschaffung aller Zuzahlungen als
Vorstufe zum Heil. Das ist sozusagen eine Eintrittskarte
in den Himmel der Bürgerversicherung. Herr Weinberg,
ich kann verstehen, dass man frustriert ist, wenn die
selbsternannten Gesundheitsexperten der Fraktionsspitze
hier sprechen. Gestern hatten wir die „hälftige Fraktions-
vorsitzende“ Künast als Pflegeexpertin, die hier ihre Un-
kenntnis ausgebreitet hat. Heute hat Herr Ernst hier
gesprochen. Ich sage: Überlassen Sie das den Fachpoliti-
kern. Die Debatten sind dann etwas besser.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Kollege Weinberg, Sie haben der Kollegin
Aschenberg-Dugnus einen falschen Vorhalt gemacht und
gesagt, sie hätte hier etwas Unwahres gesagt, als sie
meinte, in Ihrem Antrag sei von der Bürgerversicherung
die Rede, auf die Sie hinaus wollten. Sie haben hier laut
gerufen: Dann zeigen Sie es mir doch einmal. – Sie hat
Ihnen angeboten, sich zu entschuldigen, sollte sie sich
geirrt haben. Hören Sie mir jetzt bitte genau zu, damit
Sie gleich die richtigen Worte gegenüber der Kollegin
finden. In Ihrem Antrag steht:

Die Abschaffung der Zuzahlungen ist damit zumin-
dest für 2012 gegenfinanziert.

Jetzt kommt der Blick in die Zukunft:

Langfristig ist für eine gerechte und stabile Finan-
zierung der gesetzlichen Krankenversicherung eine
solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung
einzuführen.


(Zurufe von der FDP: Ah!)


Sind wir nun diejenigen, die nicht lesen können, oder
sind Sie es, Herr Kollege Weinberg?


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen genau, dass es um einen anderen Antrag aus dem Ausschuss ging!)


Wir haben hier – das war etwas kleinkariert – gehört,
dies sei eine Wahlkampfdebatte. Die Zuhörer merken,
wer hier in der Sache argumentiert


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie nicht!)


und wer nervös ist.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717608100

Kollege Lanfermann.


Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1717608200

Nein, danke.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Das Spiegelbild der Debatte sind die Umfragen. Ent-
gegen Ihren Erwartungen steigen in Schleswig-Holstein
und Nordrhein-Westfalen die Umfragewerte der FDP,
während die Umfragewerte der Linken sinken – und das
dramatisch. Auch die Grünen verlieren Wähler, und

zwar an die Piraten. Inwieweit Sie daraus Schlussfolge-
rungen ziehen, mögen Sie unter sich ausmachen.


(Beifall bei der FDP)


Wir haben gerade eine weitere Falschaussage gehört.
Es wurde behauptet, wir würden gegen Parteitagsbe-
schlüsse verstoßen. Wenn Sie sich – ich hätte Ihnen das
empfohlen – auf Phoenix den Parteitag der FDP in
Karlsruhe angesehen haben, dann haben Sie gehört, wie
begeistert dort die Delegierten gesagt haben: Ja, wir, die
FDP – es ging bei diesem Parteitag um uns als Partei –,
sind für die Abschaffung der Praxisgebühr.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit Februar!)


Wir haben übrigens in dieser Debatte die Gründe dafür
dargestellt. Kollegin Aschenberg-Dugnus hat sie aufge-
führt. Alle reden davon, man soll nicht polemisch sein
und Sachdebatten führen, aber wer nennt einmal die
Gründe, die dafür und dagegen sprechen?


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir hier alle gemacht!)


Sie hat die Gründe genannt. Kollege Spahn hat auf die
finanziellen Fragen hingewiesen – völlig zu Recht.
Ferner: Es hat niemals in der FDP die Auffassung gege-
ben, dass wir diese Gebühr behalten wollen.

Sie sagen – das war eine weitere Äußerung hier –, das
sei gegen den Koalitionsvertrag. Das ist natürlich wieder
einmal nur so dahergeredet.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Lesen Sie den mal vor!)


Im Koalitionsvertrag steht – ich darf wörtlich zitieren –:
„Wir wollen die Zahlung der Praxisgebühr in ein unbü-
rokratisches Erhebungsverfahren überführen.“


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Genau!)


Erstens ist das finanzneutral ausgedrückt; denn die Fi-
nanzfrage ist wichtig. Zweitens ist der Vorschlag – er
wurde übrigens im Wesentlichen von mir auf den Weg
gebracht – allgemein gemacht worden und hat Fahrt auf-
genommen, als die Finanzlage der Krankenversicherun-
gen, also Gesundheitsfonds plus Rücklagen der Kassen,
nach den entsprechenden Berichten in die Diskussion
kam.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber was anderes als die Abschaffung!)


Dann sind in diese Diskussion auch andere eingestiegen,
die sich jetzt hier als Väter und Mütter dieser Idee auf-
spielen. In Wirklichkeit sind sie nur Mitläufer und versu-
chen, einen Keil zwischen uns zu treiben, nur weil wir
gesagt haben: Das ist unser Vorschlag. Jetzt lasst uns
doch einmal darüber diskutieren und Argumente austau-
schen. Das tun wir natürlich erst einmal innerhalb der
Koalition. Das hat mit Wahlkampf nichts zu tun.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Heinz Lanfermann


(A) (C)



(D)(B)


Denn ich rechne nicht damit, dass sich die Union bis
Mitte Mai eines anderen besinnt. Aber ich weiß, dass wir
dafür werben können und dass die Argumente nach
Mitte Mai vielleicht etwas mehr Gehör finden.

Sie können sich selbst im Ausschuss helfen. Dass Ihre
Forderungen scheinheilig und ein Trick sind, zeigt sich
daran, dass in allen drei Anträgen die Praxisgebühr nur
ein Nebenthema ist. In Wirklichkeit haben Sie andere
Anliegen. Sie wollen über diese Anträge weder unter-
einander noch mit den anderen Fraktionen im Ausschuss
diskutieren. Wie kämen Sie sonst auf die seltsame Idee,
hier Anträge vorzulegen, die nicht einmal in allen Punk-
ten ordentlich ausformuliert sind und zu denen es viele
Nachfragen gibt?

Uns werfen Sie hier vor – dabei handelt es sich um
ein ganz normales parlamentarisches Verfahren –, dass
wir für die Überweisung stimmen. Wir wollen heute we-
der Bürgerversicherung noch Zuzahlungsbefreiung ab-
lehnen. Vielmehr wollen wir Ihnen die Chance geben, im
Ausschuss darüber zu diskutieren. Verweigern Sie das
nicht. Sie können auch die öffentliche Diskussion wei-
terführen und Ihre Argumente nennen, warum man die
Praxisgebühr abschaffen oder warum man sie durch ein
anderes Instrument ersetzen sollte.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717608300

Kollege Lanfermann, ich verrate Ihnen ein Geheim-

nis: Sie haben gleich noch die Chance, auf eine Kurz-
intervention zu erwidern. Aber Sie müssen bitte zum
Ende kommen.


Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1717608400

Ja. Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Es gibt eine

breite Palette von Möglichkeiten, wie man Zuzahlungen,
Eigenbeteiligungen oder Ähnliches regeln kann. Sie sind
eingeladen, darüber zu diskutieren, und zwar ergebnisof-
fen und unvoreingenommen. Ich bitte Sie, dies zum Ge-
genstand und zur Richtlinie Ihrer Beiträge zu machen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717608500

Bevor ich dem Kollegen Weinberg das Wort zu einer

Kurzintervention gebe, weise ich darauf hin, dass unsere
Regelung in der Geschäftsordnung heißt: Der Präsident/
die Präsidentin kann das Wort zu Kurzinterventionen er-
teilen. – Das impliziert auch eine andere Möglichkeit.
Ich werde im weiteren Verlauf der Debatte natürlich da-
rauf achten, dass die Proportionen eingehalten werden.

Bitte, Kollege Weinberg.


(Jens Spahn [CDU/CSU], an die LINKE gewandt: Hat der Weinberg bei Ihnen keine Redezeit gekriegt, oder was?)



Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717608600

Vielen Dank. – Herr Spahn, auch Sie haben Ihre Re-

dezeit durch Ihre Kurzintervention etwas verlängert. Das

war meines Erachtens zumindest inhaltlich durchaus
problematisch.

Ich bin von Herrn Lanfermann in Bezug auf meine
Bemerkung zu den Aussagen der Kollegin Aschenberg-
Dugnus angesprochen worden. Ich möchte darauf hin-
weisen: Die Kollegin Aschenberg-Dugnus hat auf die
Anträge zur Praxisgebühr Bezug genommen – nicht auf
die Anträge auf Abschaffung der Zuzahlungen, sondern
auf die Anträge zur Praxisgebühr; dazu liegt auch ein
Antrag von uns vor. Sie hat ausgeführt, in diesen Anträ-
gen sei jeweils ein Bezug zur Bürgerversicherung ent-
halten, de facto seien es also verkappte Anträge zur Bür-
gerversicherung. Daraufhin habe ich gesagt: In unserem
Antrag zur Praxisgebühr mit der Überschrift „Praxisge-
bühr abschaffen“ steht kein einziges Mal das Wort „Bür-
gerversicherung“. Kein einziges Mal! Insofern habe ich
versucht, dies richtigzustellen. Es ist nach wie vor so,
wie ich es gesagt habe, nicht anders.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Kindergarten hoch drei macht ihr hier! Echt! – Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ach! Das ist doch albern!)


– Ich kann Ihnen auch die Drucksachennummer sagen;
sie lautet: 17/9031.

Jetzt möchte ich noch ganz kurz auf das Argument
von Herrn Lanfermann im Hinblick auf die Diskussion
im Ausschuss eingehen. Wir haben in der letzten Aus-
schusssitzung beantragt, über diesen Antrag zu diskutie-
ren und ihn abzuschließen. Mit den Stimmen der Koali-
tion ist verhindert worden, dass er abgeschlossen wird
und dass er heute Gegenstand im Plenum sein kann. Ich
wiederhole: mit den Stimmen der Koalition, auch und
gerade mit den Stimmen der FDP. Die FDP hat verhin-
dert, dass er hier wieder zur Diskussion stehen kann. Ich
habe in der Ausschusssitzung am Mittwoch dazu einen
Wortbeitrag geleistet. Die Vertreter der Koalitionspar-
teien haben mit Hinweis auf die heutige Debatte auf Dis-
kussionsbeiträge ihrerseits verzichtet. Also: Sie sollten
nicht so tun, als sei die Diskussionskultur im Ausschuss
besonders ausgeprägt, was das betrifft.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Kindergarten! Wie die Kinder: „Ich habe zuerst einen Antrag gestellt!“)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717608700

Kollege Lanfermann, Sie haben das Wort zur Erwide-

rung.


Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1717608800

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Es ist schon ein

rechtes Verwirrspiel, das der Kollege Weinberg hier auf-
zuziehen versucht.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: So ein Quatsch! Lesen bildet!)


Ich darf es für alle vielleicht kurz erklären.





Heinz Lanfermann


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Haben Sie es denn verstanden?)


Die Linken haben, um dieses Verwirrspiel zu inszenie-
ren, zwei Anträge gestellt. Den einen haben sie vor eini-
gen Wochen gestellt. Über ihn ist damals hier im Plenum
diskutiert worden. Er ist auch mit erstaunlicher Ge-
schwindigkeit im Ausschuss aufgesetzt und diskutiert
worden. Dann haben sie aber schon mit den nächsten
Anträgen vor der Tür gestanden. Darüber diskutieren wir
heute. Die Linke hat das Thema „Praxisgebühr“ sozusa-
gen zweimal vermarkten wollen. Heute geht es um den
Antrag, auf den sich Herr Weinberg gerade zu beziehen
versucht hat. Der andere Antrag steht heute nicht auf der
Tagesordnung. Heute steht der Antrag auf der Tagesord-
nung, aus dem ich zitiert habe. Darin wird auf die Bür-
gerversicherung verwiesen. Deswegen bleibt es nach
wie vor Ihre Aufgabe, Herr Weinberg, dies gegenüber
der Kollegin Aschenberg-Dugnus klarzustellen.

Zum Zweiten. Ich habe Ihnen auch im Ausschuss aus-
drücklich gesagt: Wir können über alles reden. – Wir ha-
ben bewusst darauf verzichtet, den Antrag, der zum
zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit auf der Ausschuss-
tagesordnung stand, von der Tagesordnung abzusetzen.
Ich habe auf die entsprechende Frage der Vorsitzenden
gesagt: Wir können heute beraten. Aber wir wollen nicht
abschließen. Denn zwei Tage später kommen aus dem
Plenum weitere Anträge in den Ausschuss. Alle Anträge
können dann gemeinsam beraten werden. – Also: Sie ha-
ben alle Zeit der Welt, diese Anträge im Ausschuss zu
beraten. Deswegen: Tun Sie nicht so, als sei hier irgend-
ein Recht der Opposition unterdrückt worden. Mit unse-
rem Abstimmungsverhalten wollten wir dafür sorgen,
dass Sie mehr Gelegenheiten zum Diskutieren haben.
Stellen Sie das hier bitte nicht anders dar.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717608900

Nun hat die Kollegin Dr. Martina Bunge für die Frak-

tion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717609000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich frage mich: Was findet hier statt?


(Otto Fricke [FDP]: Eine Debatte! – Gisela Piltz [FDP]: Das ist der Deutsche Bundestag! Das ist eine Sitzung! – Heinz Lanfermann [FDP]: Auch Sie haben ein Mandat!)


Die Faktenlage ist eindeutig und erdrückend, aber nichts
passiert. Die Praxisgebühr bringt Belastungen, sie hat
keinerlei Steuerungswirkungen, und sie verursacht Büro-
kratie. Also in Summe: Die Praxisgebühr ist unsinnig,
unsozial und ungesund.


(Beifall bei der LINKEN)


Faktisch verstößt Deutschland mit der Praxisgebühr
gegen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation.

In ihrem Bericht vom letzten Jahr bekräftigte die WHO
– ich darf zitieren –:

Direkte Zahlungen haben ernste Auswirkungen auf
die Gesundheit. Menschen im Moment der Inan-
spruchnahme bezahlen zu lassen, schreckt sie davor
ab, Leistungen in Anspruch zu nehmen.

Eine Ratsuchende oder einen Hilfesuchenden eine
Eintrittsgebühr zum Arzt zahlen zu lassen, macht Ge-
sundheit zur Ware. Das widerspricht dem Willen der
Mehrheit der Bevölkerung, und deshalb ist die Zustim-
mung in der Bevölkerung dafür so groß, dass die Praxis-
gebühr und andere Zuzahlungen, durch die die Kranken
jährlich mit insgesamt 5 Milliarden Euro belastet wer-
den, endlich weg müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Zeitpunkt dafür, diese Praxisgebühr abzuschaffen,
war nie günstiger. Zu dem, was wir in den letzten Wo-
chen hier in der Politik beobachtet haben, sagen mir aber
viele: Das ist doch ein Schmierentheater. So empfinden
wir das. – Alle Oppositionsfraktionen wollen die Praxis-
gebühr abschaffen, der Bundesgesundheitsminister und
die FDP-Fraktion – allen voran der Fraktionschef – spre-
chen davon, und auch seitens der Union gibt es solche
Meinungen. Der Patientenbeauftragte hat Ende März ge-
sagt: Ich würde die Praxisgebühr gerne abschaffen.

Daraufhin hat die Kanzlerin ein Machtwort verkün-
den lassen. Ich denke, damit hat sie die Katze aus dem
Sack gelassen. Kollegin Klein-Schmeink, Sie haben völ-
lig recht gehabt: Die Kanzlerin hat am 13. April 2012
verkünden lassen, es sei im Moment kein Thema, die
Praxisgebühr abzuschaffen, es käme darauf an, das Geld
der Beitragszahler zusammenzuhalten; denn künftig
müssten neue Zusatzbeiträge verhindert werden.

Ja, das offenbart, warum Versicherten und Kranken
das Geld vorenthalten wird: Die Kanzlerin möchte das
Wahljahr 2013 schonen und schützen und ein Polster
aufbauen, damit es nicht massenhaft zu Zusatzbeiträgen
kommt. Wir sagen dazu: Damit wird die Kopfpauschale
durch die Hintertür eingeführt. Diese soziale Grausam-
keit soll vom Wahljahr ferngehalten werden. Ich nenne
das Angst vor dem Fluch der eigenen bösen Tat.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber das Machtwort ist verpufft. Wir diskutieren wei-
ter. Natürlich erreichen wir das auch mit unseren Anträ-
gen. Wir wollen, dass das Geld endlich zu denen fließt,
denen es gehört. Es ist von den Kranken genommen
worden, und dorthin muss es zurückfließen. Deshalb ha-
ben wir den Antrag heute auch ergänzt und sagen: Die
Zuzahlungen müssen weg.

Wenn heute abgestimmt werden würde, was Sie ja
verhindern – das ist hier ausreichend erläutert worden –,
dann könnte und müsste die Bundesregierung endlich
handeln. Wissen Sie, wie es mir vorkommt, dass das nun
verhindert wird, während die FDP trotzdem will – wir
haben das auf Ihrer Internetseite gelesen, und auch der
Minister wird morgen garantiert wieder davon reden –,
dass die Praxisgebühr abgeschafft wird? Das ist wie ein





Dr. Martina Bunge


(A) (C)



(D)(B)


kleiner Hund, der laut bellt, aber nur so lange, wie er an
der Leine des großen Herrchens ist.


(Beifall bei der LINKEN – Rudolf Henke [CDU/CSU]: Was sollen denn solche Tierbilder? Was ist denn das für eine Sprache von der Linken? – Heinz Lanfermann [FDP]: Das war unparlamentarisch!)


Fakt ist, dass für die Abschaffung der Praxisgebühr
und der Zuzahlungen ein Zukunftskonzept für das Ge-
sundheitssystem nötig ist. Das hat die Regierung nicht.
Das beweist ja die Angst der Kanzlerin vor den Zusatz-
beiträgen. Bei der Opposition sieht das mit den Model-
len für eine Bürgerversicherung anders und günstiger
aus. Aber Sie von CDU/CSU und FDP diffamieren all
diese Alternativen nur.

Unser Konzept, das konsequenteste von allen, tun Sie,
Herr Spahn – ich sehe ihn jetzt gar nicht mehr –, nur als
Schlagwort ab. Schauen Sie einmal auf die Internetseite
unserer Fraktion. Dann werden Sie sehen, dass dieses
Modell durchgerechnet ist. – Ich finde es toll, dass Herr
Spahn jetzt nicht da ist. Ich wollte ihm nämlich gerade
das Wesen der Bürgerinnen- und Bürgerversicherung er-
läutern: Wir beteiligen alle Bürgerinnen und Bürger nach
ihren Möglichkeiten an der Finanzierung des Gesund-
heitssystems und nicht die Kranken nach ihren Möglich-
keiten an den Behandlungskosten. Das unterscheidet uns
in Bezug auf unser Verständnis von Solidarität. Ich
denke, über diesen grundlegenden Unterschied sollten
wir einmal reden. Dann werden wir hier auch weiter-
kommen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Edgar Franke [SPD])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717609100

Der Kollege Dietrich Monstadt hat für die Unions-

fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dietrich Monstadt (CDU):
Rede ID: ID1717609200

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine Damen und Herren! Das Thema Praxisge-
bühr zum wiederholten Male in diesem Hohen Haus!
Gott sei Dank, Frau Kollegin Bunge, sind wir hier nicht
im Zoo. Ihre Ausführungen sprechen für sich.

Die SPD begründet ihre heutige Forderung mit der
aus ihrer Sicht diffusen Steuerungswirkung der Praxis-
gebühr und mit der aktuell positiven finanziellen Situa-
tion der gesetzlichen Krankenversicherung. Zur Praxis-
gebühr fällt mir spontan etwas ein, was mit ihr
untrennbar verbunden ist: Einführung durch Rot-Grün,
durch die damalige Ministerin Ulla Schmidt, auch wenn
bei Ihnen, verehrte Damen und Herren von der SPD, die
Ministerin wohl nicht mehr so bekannt sein dürfte. Aber
nicht nur ich, sondern auch die Wählerinnen und Wähler
im Land, vor allem die in NRW und Schleswig-Holstein,
verbinden die Praxisgebühr mit Ihrer Partei, auch wenn
Sie, Herr Kollege Dr. Lauterbach, Ihr Produkt jetzt nicht
mehr so attraktiv finden.

Sie wissen, dass wir zu Beginn dieser Legislatur-
periode zunächst die Finanzlage der GKV stabilisieren
mussten. Bitte erinnern Sie sich an die düsteren Zu-
kunftsszenarien für die gesetzliche Krankenversicherung
zu Beginn dieser Legislaturperiode. Damals wurden für
2011 Milliardendefizite vorausgesagt; damals kamen
von der Opposition Rufe nach Spargesetzen. Mit mehre-
ren Gesetzen, dem GKV-Änderungsgesetz, dem GKV-
Finanzierungsgesetz und dem Arzneimittelneuordnungs-
gesetz, haben wir ein Paket geschnürt, das alle Seiten an
den Lasten beteiligt: Leistungserbringer, Arbeitgeber,
gesetzliche Krankenkassen, die Mitglieder der Kranken-
kassen, pharmazeutische Industrie, Großhandel und
Apotheken.

Damit kann man den Unterschied zwischen der Ge-
sundheitspolitik der SPD und der der christlich-liberalen
Koalition in Euro berechnen: Das sind 30 Milliarden
Euro. Denn anstelle des erwarteten Defizits von 10 Mil-
liarden Euro schreibt der Gesundheitsfonds nun wieder
schwarze Zahlen. Bei Krankenkassen und Gesundheits-
fonds können wir uns über ein Plus von circa 20 Milliar-
den Euro freuen. Damit können wir heute feststellen:
Diese Gesetze haben die erhoffte Wirkung gehabt.
Durch diese Gesetze konnten erhebliche Einsparpoten-
ziale in der gesetzlichen Krankenversicherung realisiert
werden. Erstmals seit Jahren wird wieder mehr Geld für
die ambulante Versorgung als für Arzneimittel aufge-
wendet. Ohne diese erfolgreichen Gesetze würden wir
die heutige Debatte überhaupt nicht führen bzw. führen
können. Ihre heute formulierten Begehrlichkeiten wür-
den völlig ins Leere laufen.

Natürlich weckt die aktuelle Situation Begehrlichkei-
ten bei allen, die damals einen Teil der Lasten zu über-
nehmen hatten, erstaunlicherweise wohl auch bei den
heutigen Antragstellern. So erleben wir, dass die Linke,
die SPD und die Grünen – ich räume ein, mit jeweils et-
was anderer Argumentation – mit dem Füllhorn durchs
Land ziehen und die Praxisgebühr als Wahlkampfge-
schenk abschaffen wollen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die FDP? – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Nun machen Sie mal kein Überlebensgeschenk an die FDP!)


Interessant ist, welche Patienten von der Abschaffung
der Praxisgebühr profitieren würden. Das sind jedenfalls
nicht die chronisch Kranken mit niedrigem Einkommen.
Beispielsweise hätte ein verheirateter, kinderloser, chro-
nisch kranker Versicherter mit einem Jahreshaushaltsein-
kommen von circa 18 000 Euro eine Zuzahlungsgrenze
von etwa 133 Euro pro Jahr. Als chronisch Kranker
nimmt unser Patient regelmäßig Medikamente, zum Bei-
spiel Cholesterinsenker, Betablocker oder Blutverdün-
ner. Dafür muss er pro Verordnung im Quartal 10 Euro
zuzahlen. Das wären 160 Euro im Jahr. Seine Zuzah-
lungsgrenze liegt aber bei 133 Euro. Es kommt für ihn
also nicht mehr darauf an, ob er theoretisch beim Haus-
arzt pro Quartal 10 Euro Praxisgebühr oder beim Zahn-
arzt weitere 10 Euro zahlen müsste. Denn er zahlt sie
nicht, weil sie oberhalb seiner Zuzahlungsgrenze liegt.





Dietrich Monstadt


(A) (C)



(D)(B)


Deshalb kann ihn die Abschaffung der Praxisgebühr
nicht entlasten.

Umgekehrt hätte ein verheirateter, kinderloser, gesun-
der Versicherter mit einem Jahreshaushaltseinkommen
von 39 000 Euro eine entsprechend hohe Zuzahlungs-
grenze von etwa 636 Euro pro Jahr. Ihm würde die Ab-
schaffung der Praxisgebühr unmittelbar zugutekommen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Herr
Dr. Lauterbach, so viel zu Ihren sozialen Ungerechtig-
keiten.

Bei der Praxisgebühr geht es um eine Einnahme in
Höhe von circa 2 Milliarden Euro. Wie soll ihre Strei-
chung – das ist schon mehrfach angesprochen worden –
langfristig gegenfinanziert werden? Wer aufgrund der
guten aktuellen Situation eine Einnahmequelle dauerhaft
abschafft, der muss sagen, woher das Geld im Zweifels-
fall kommen soll,


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Parität wiederherstellen zum Beispiel!)


insbesondere dann, wenn die Rahmenbedingungen von
Konjunktur und Arbeitsmarkt einmal nicht mehr so
günstig sind wie heute.

Dazu schweigen sich die Antragsteller – das ist nach-
vollziehbar – aus.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Wenn Sie mal genau lesen, dann schweigen wir dazu nicht! Beitragsautonomie!)


Meine Damen und Herren von der Opposition, erklä-
ren Sie bitte klar und unmissverständlich den Wählerin-
nen und Wählern vor allem aktuell in NRW und Schles-
wig-Holstein diese Politik!

Sparen ist nicht vergnügungssteuerpflichtig, wie es
unser verehrter Herr Bundesfinanzminister vielleicht
ausdrücken würde. Aber die Beitragszahler haben ein
Anrecht darauf, dass die von ihnen eingezahlten Mittel
sparsam und effizient eingesetzt werden. Sie haben auch
Anspruch auf Nachhaltigkeit in der gesetzlichen Kran-
kenversicherung,


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn am Zusatzbeitrag nachhaltig? Das möchte ich mal wissen!)


die es erst ermöglicht, dass sie im Krankheitsfall Leis-
tungen in Anspruch nehmen können und die Kranken-
kassen sie bezahlen, dass sie am medizinisch-techni-
schen Fortschritt teilhaben und dass die Strukturen der
medizinischen Versorgung zum Beispiel angesichts der
demografischen Herausforderungen nachhaltig weiter-
entwickelt werden.

Gerade die von dieser Koalition durchgeführte Kon-
solidierung hat den Spielraum eröffnet, sich mit den
Grundsatzfragen der medizinischen Versorgung zu be-
fassen. So gehört das Versorgungsstrukturgesetz zu den
ganz wenigen Gesetzen der letzten zehn Jahre im Ge-
sundheitsbereich, die nicht Kostendämpfung betreiben.
Vielmehr befasst es sich mit der über den Tag hinaus

nachhaltigen Weiterentwicklung der Versorgungsstruk-
turen in diesem Land.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In diese Richtung der Nachhaltigkeit sollten wir vor-
anschreiten. Die vorliegenden Anträge leisten dazu lei-
der keinen Beitrag.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717609300

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Edgar

Franke das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1717609400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich glaube, ich kann die heutige Debatte, jeden-
falls bis jetzt, folgendermaßen zusammenfassen: Wir
sind uns mit Ausnahme der Union inhaltlich zumindest
in der Analyse einig. Bei der FDP scheitert es wahr-
scheinlich ein bisschen an der Umsetzung, Frau
Aschenberg-Dugnus.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das glaube ich nicht, Herr Kollege! – Heinz Lanfermann [FDP]: Geduld!)


Aber wir sind uns einig, dass die Praxisgebühr abzu-
schaffen ist,


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das freut uns!)


weil sie als Steuerungsinstrument versagt hat, weil sie
sozial ungerechtfertigt ist und weil man damit nur Büro-
kratie geschaffen hat. Darin sind wir uns hoffentlich ei-
nig, meine sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD)


Das wird von sehr vielen Menschen so gesehen, na-
türlich auch in Nordrhein-Westfalen. Denn die überwie-
gende Zahl der Menschen sagt: Die Praxisgebühr muss
abgeschafft werden. – Deshalb sind alle Anträge, die in
diese Richtung gehen, richtig und gut.

Herr Ernst hat gesagt, ob eine Steuerungswirkung ein-
tritt, hätte man schon früher sehen können. Sie haben,
glaube ich, gesagt, wir hätten einen Feldversuch ge-
macht. Aber was wollten wir ursprünglich? Wir wollten
klarmachen, dass Arztbesuche Geld kosten und sozusa-
gen einen geldwerten Vorteil haben. Wir wollten vor al-
len Dingen klarmachen, dass Facharztbesuche sehr teuer
sind, und zwar für die Solidargemeinschaft. Das war der
Ursprungsgedanke. Man wollte vor allen Dingen das
Doktorhopping vermeiden, Herr Ernst. Das sind, glaube
ich, ehrenwerte Motive. Frau Ferner hat mir eben bestä-
tigt, dass die Praxisgebühr anfangs Erfolge gezeitigt hat.
Zu Beginn gab es weniger Arztbesuche. Aber in den
letzten Jahren ist die Zahl der Arztbesuche nicht mehr
zurückgegangen. Deswegen ist es richtig, glaube ich, die
Praxisgebühr nun abzuschaffen.






(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717609500

Kollege Franke, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung der Kollegin Vogler?


Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1717609600

Ja.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717609700

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr

Kollege Franke, ich kann mich noch gut daran erinnern,
dass wir im März dieses Jahres, als wir unseren Antrag
auf Abschaffung der Praxisgebühr auf die Tagesordnung
dieses Hauses gesetzt hatten, von Ihnen zu hören beka-
men, diese Forderung sei populistisch und sei nicht ge-
genfinanziert. Deswegen war auch Ihre Fraktion damals
dagegen, mittels Sofortabstimmung – diese haben Sie
nun für Ihren heutigen Antrag beantragt – über unseren
Antrag zu befinden. Wir hätten also schon im März die-
ses Jahres auf dem gleichen Erkenntnisstand wie heute
mittels Sofortabstimmung die Abschaffung der Praxis-
gebühr beschließen können. Da Sie noch im März dieses
Jahres unsere Forderung, die Praxisgebühr abzuschaffen,
für nicht gegenfinanziert hielten, finde ich es erstaunlich,
warum Sie heute einen Antrag vorlegen, durch den,
wenn ihm gefolgt wird, noch mehr finanzielle Belastun-
gen auf die Krankenkassen zukommen. So wollen Sie
den Hausärzten mehr Geld geben, um die hausarzt-
zentrierte Versorgung zu stärken. Mich interessiert, wie
Sie das mit der Gegenfinanzierung heute sehen und wa-
rum sich Ihre Auffassung gewandelt hat. Ich war relativ
überrascht, nun in Zeitungen und im Internet zu lesen,
dass SPD und Grüne die Abschaffung der Praxisgebühr
zum Wahlkampfthema in Nordrhein-Westfalen machen.
Die Abschaffung der Praxisgebühr sollte hier im Deut-
schen Bundestag Thema sein. Das gehört hierhin und
nicht in den Landtag von NRW.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr habt sogar einen Antrag gestellt in NRW!)


Das sage ich, obwohl wir Linke jederzeit bereit sind, al-
les zu unternehmen, um diese unsinnige Gebühr abzu-
schaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1717609800

Liebe Frau Vogler, ich beantworte Ihre Frage sehr

gerne. Sie haben damals Ihren Antrag auf Abschaffung
der Praxisgebühr im Zusammenhang mit einem Antrag
auf Abschaffung aller Zuzahlungen gestellt. Das hätte
insgesamt 5 Milliarden Euro gekostet. Sie wollten diese
Summe durch eine – so haben Sie es formuliert – pau-
schalierte Umverteilung locker gegenfinanzieren. Das ist
aus meiner Sicht ein Kritikpunkt, dem man sich stellen
muss; denn die Frage nach der Gegenfinanzierung wird
sich spätestens 2013 stellen. Dann ist der Überschuss in
Höhe von 20 Milliarden Euro aufgebraucht. Insofern ist
die Gegenfinanzierung der entscheidende Punkt. Man
muss die Abschaffung der Praxisgebühr in ein seriös ge-
genfinanziertes Konzept einpassen. Vor diesem Hinter-

grund ist meine Kritik am damaligen Antrag der Linken
zu sehen.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Und Ihre Gegenfinanzierung zum Hausarztkonzept?)


– Ich komme gleich dazu.

Frau Präsidentin, ich fahre jetzt fort. – Ich möchte
noch auf Herrn Monstadt und Frau Aschenberg-Dugnus
eingehen, die gesagt haben, dass die Praxisgebühr unter
einer SPD-Ministerin eingeführt wurde. Jeder hier im
Saal, der länger dabei ist, weiß, dass die Praxisgebühr
ein Ergebnis der Verhandlungen zwischen der damaligen
Regierung und Horst Seehofer ist. Horst Seehofer hat
damals auf einer Pressekonferenz gesagt, dass das die
schönste Nacht seines Lebens war. Was wollte Horst
Seehofer in dieser schönsten Nacht? Er wollte, dass je-
der Arztbesuch mit einer Gebühr belegt wird. Das ist die
Wahrheit; das muss man hier auch sagen. Die Praxisge-
bühr ist nichts anderes als ein Kompromiss, der damals
geboren wurde.


(Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Er wollte ein anderes Kind zeugen als das, was jetzt auf der Welt ist! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat uns der Herrgott geschenkt!)


Festzuhalten bleibt, dass die Praxisgebühr nur noch
ein Finanzierungsinstrument und kein Steuerungsinstru-
ment mehr ist. Dafür war sie nicht gedacht. Deshalb ge-
hört sie abgeschafft.

Des Weiteren werden Kranke und Einkommens-
schwache durch die Praxisgebühr besonders belastet. Ih-
nen steht dadurch weniger Geld zur freien Verfügung.
Deswegen ist die Praxisgebühr unsozial. Sie ist auch un-
sozial – darin werden Sie mir zustimmen, Herr Ernst –,
weil sie nicht paritätisch finanziert ist.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!)


– Dann können Sie auch einmal klatschen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


– Ich bedanke mich für den Applaus der Linken.

Ich komme ursprünglich aus dem Bereich der Prä-
vention und der Unfallversicherung. Wenn Sie mit Zahn-
ärzten sprechen, dann erfahren Sie, dass Kontrollunter-
suchungen – Stichwort Prophylaxe – oftmals von
Einkommensschwächeren nicht wahrgenommen wer-
den, weil für solche Leute die Praxisgebühr im wahrsten
Sinne eine Eintrittsgebühr bedeutet.

Einen weiteren Punkt darf man nicht vergessen. Die
Praxisgebühr hat zu erheblichen Bürokratie- und Ver-
waltungskosten geführt. Wenn man mit Ärzten spricht,
dann geißeln diese in schillernden Farben die Dokumen-
tationspflichten und die Bürokratie. Aber auch der Nor-
menkontrollrat hat festgestellt, dass wir 300 Millionen
Euro Bürokratiekosten durch die Praxisgebühr haben.
Wenn wir diese abschaffen können, dann ist das vernünf-
tig; denn das ist letztendlich nicht nur gut für die Patien-





Dr. Edgar Franke


(A) (C)



(D)(B)


ten, sondern auch die Ärztinnen und Ärzte profitieren,
wenn sie dieses Geld einsparen.

Frau Vogler, ergänzend zu dem, was ich auf Ihre
Frage geantwortet habe: Die Praxisgebühr können wir
nur dann abschaffen, wenn wir 2 Milliarden Euro gegen-
finanzieren und eine konzeptionelle Anpassung vorneh-
men. Nur dann erreichen wir, dass das System sich selbst
ausbalanciert, wenn die Überschüsse nicht mehr da sind
und die Konjunktur nicht mehr so gut läuft.

Ein Argument wird immer wieder von der Koalition
vorgebracht. Ich sehe gerade, dass auch Herr Brüderle,
der Fraktionsvorsitzende der FDP, da ist. Auf dem Par-
teitag haben Sie, Herr Brüderle, gesagt, dass Sie für die
gute Konjunktur verantwortlich sind. Wer hat aber die
gute Konjunktur wirklich geschaffen? Warum haben wir
Rücklagen in der Krankenversicherung, Herr Brüderle?
Warum haben wir so gute Arbeitsmarktzahlen? Warum
haben wir so gute Wirtschaftsdaten? All das ist das Er-
gebnis der Strukturreformen von Rot-Grün, das ist nicht
auf diese Regierung zurückzuführen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das muss man ganz klar sagen, um der Geschichtsklitte-
rung, die gerne gemacht wird, entgegenzuwirken. Auch
Sie, Herr Brüderle, haben das rhetorisch geschickt – das
muss ich zugeben – auf dem Parteitag gemacht.

Was ist zu tun? In der Gesundheitspolitik dürfen nicht
allein die gesetzlich Versicherten, dürfen nicht allein die
Patienten die Zeche zahlen. Das ist der entscheidende
Punkt. Herr Stracke hat vorhin gesagt, wir hätten immer
das Überraschungsei Bürgerversicherung. Die Bürger-
versicherung ist kein Überraschungsei. Das Konzept der
Bürgerversicherung besagt, dass wir eine nominelle Pa-
rität zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber brauchen.
Das bedeutet die Bürgerversicherung, und das ist ge-
recht. Das sehen alle Menschen in unserem Land so.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Meine lieben Linken, wie wäre es mit Beifall? Der hat
sich wohl an der einen Stelle erschöpft.

Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wissen
aber auch, dass wir den Faktor Arbeit nicht so stark be-
lasten dürfen. Das weiß die FDP anscheinend nicht;
denn sie hat die Beiträge erhöht, was zu den Rücklagen
in der Krankenversicherung geführt hat. Wir brauchen
– das sage ich abschließend der FDP – Beitragsautono-
mie. Dann balanciert sich das System selber aus. Wir
brauchen Effizienzsteigerungen, innovative und inte-
grierte Versorgungssysteme und eine hausarztzentrierte
Versorgung. Dann können wir unser Gesundheitssystem
nachhaltig finanzieren.

Im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik muss immer
der Patient, der Mensch stehen. Letztlich brauchen wir
eine solidarisch finanzierte Versorgung für die Men-
schen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717609900

Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1717610000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Wir sind für die heutige Debatte sehr dankbar,
weil sie uns die Möglichkeit gibt, zwei Stunden über die
Erfolge dieser Koalition in der Gesundheitspolitik zu re-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Gesundheitsausgaben in Deutschland hatten im
Jahr 2010 ein Rekordniveau erreicht. Sie betrugen nach
den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes ins-
gesamt 287,3 Milliarden Euro. Der Anstieg der Ausga-
ben gegenüber dem Vorjahr betrug damit 8,9 Milliarden
Euro oder 3,2 Prozent. Damit entsprach der Zuwachs der
Gesundheitsausgaben in 2010 in etwa dem durchschnitt-
lichen jährlichen Wachstum zwischen 2000 und 2009 in
Höhe von 3 Prozent.

Warum stelle ich das an den Beginn meiner Ausfüh-
rungen? Weil wir nicht so tun dürfen, als ob wir mit dem
gegenwärtigen Finanzpolster in der gesetzlichen Kran-
kenversicherung leichtfertig umgehen können, und weil
wir der Versuchung widerstehen sollten, kurzfristig Bei-
fall einzuheimsen auf Kosten einer stabilen und über den
Tag hinaus soliden Finanzierung unseres Gesundheits-
systems!


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau darum geht es! Aber ganz anders, als Sie das machen!)


Deshalb lehnt die CDU/CSU-Fraktion die geforderte er-
satzlose Abschaffung der Praxisgebühr ab.

Wir sind uns dabei der Tatsache bewusst, dass die
Praxisgebühr keine optimale Lösung ist. Ihre Steue-
rungswirkung ist beschränkt. Tatsache ist aber auch, dass
die Gebühr für die Arztbesuche den Krankenkassen der-
zeit rund 1,5 Milliarden Euro im Jahr einbringt, die Pra-
xisgebühr für Besuche beim Zahnarzt noch einmal rund
400 Millionen Euro.

Zuzahlungen sind in unserem Gesundheitswesen kei-
neswegs unüblich. Ich erwähne die Zuzahlungen im
Krankenhaus, die jährlich etwa 700 Millionen Euro er-
bringen, und die Zuzahlungen bei Arzneimitteln, die sich
2010 auf knapp 1,7 Milliarden Euro beliefen.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Da waren die Arbeitgeber nicht dabei! Keine paritätische Finanzierung!)


Insofern fällt es nicht aus dem Rahmen, dass seit dem
Jahr 2004 gesetzlich Versicherte beim ersten Arztbesuch
im Quartal 10 Euro bezahlen müssen. Beschlossen
wurde das – das ist schon mehrfach erwähnt worden – in
Zeiten der rot-grünen Regierung. Ich betone das deshalb,
weil Sie auch in anderen Fragen von Ihrem eigenen Re-





Erwin Rüddel


(A) (C)



(D)(B)


gierungshandeln nichts mehr wissen wollen, seit Sie in
der Opposition sind.

Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass wir
die Zahlung der Praxisgebühr in ein unbürokratisches
Erhebungsverfahren überführen wollen. Dass die Praxis-
gebühr angesichts der unbefriedigenden Steuerungs-
funktion überprüft werden sollte, liegt auf der Hand. Al-
lerdings bleibt die Frage, wie diese Einnahmequelle im
Gesundheitssystem – wir sprechen von 2 Milliarden
Euro – ersetzt werden kann.

„Wenn man die Praxisgebühr abschaffen will, muss
man über eine alternative Einnahmequelle reden“, hat
Frau Pfeiffer vom Spitzenverband der gesetzlichen
Krankenkassen festgestellt.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Tun wir ja!)


Dem stimmen wir zu. Ich bin der Meinung, dass wir die
Gebühr nur abschaffen können, wenn wir gleichzeitig
die Einnahmen sichern, eine bessere Steuerungswirkung
erreichen und Bürokratie abbauen können, ohne chro-
nisch kranke Menschen zu überfordern.

Aus diesem Grund wehren wir uns dagegen, wegen
eines vielleicht populären, aber nur einmaligen Effekts
die finanziellen Grundlagen der gesetzlichen Kranken-
versicherung in Not zu bringen. Denn wer sagt uns, dass
die gegenwärtig sehr positive wirtschaftliche Entwick-
lung über Jahre hinweg unverändert anhalten wird? Des-
halb wollen wir die beim Gesundheitsfonds liegenden
Rücklagen auch als Vorsorge für wirtschaftlich schlechte
Zeiten betrachten.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kehren Sie zur paritätischen Finanzierung zurück!)


Ich wundere mich sowieso über Ihre Spendierfreudig-
keit. Wir erinnern uns noch gut daran, wie Sie in Ihrer
Regierungszeit fortwährend nach zusätzlichen Einnah-
mequellen im Gesundheitswesen gesucht haben. Wir ha-
ben auch nicht vergessen, dass wir nach Bildung der
christlich-liberalen Koalition vor der Situation standen,
ein drohendes Defizit der GKV in zweistelliger Milliar-
denhöhe abwenden zu müssen. Verglichen mit Ihrer Re-
gierungszeit haben wir es jetzt fast mit einem Luxuspro-
blem zu tun, dies aber nur deshalb, weil wir erstmals seit
vielen Jahren für eine mittelfristig stabile und verlässli-
che Finanzierung unseres Gesundheitssystems gesorgt
haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, den einzelnen Kassen
steht es doch frei, zumindest Teile ihrer Rücklagen in
Form von Prämien oder Erstattungen an ihre Versicher-
ten zurückzugeben. Das wäre im Übrigen durchaus sys-
temkonform; denn wo es Zuzahlungen gibt, da sollte es
auch Prämien und Erstattungen geben. Und wir sprechen
nicht ohne Grund davon, dass wir im Gesundheitswesen
mehr Wettbewerb wollen. Was hindert die Kassen also
daran, in diesem Sinne tätig zu werden?

Die CDU/CSU-Fraktion ist stolz darauf, dass unser
Gesundheitssystem endlich einmal solide durchfinan-
ziert ist. Das war – ich habe eben darauf hingewiesen –
in der Vergangenheit keineswegs immer der Fall. Die
gute Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung
ist deshalb ein wichtiger Erfolg dieser Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie ist das Ergebnis der überaus positiven wirtschaftli-
chen Entwicklung in Deutschland und unserer klugen
Gesundheitspolitik der vergangenen zwei Jahre. Das
sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717610100

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist sehr gut, dass

Sie so zahlreich zu dieser Debatte und auch zur nachfol-
genden Abstimmung erschienen sind. Ich bitte aber die
Kolleginnen und Kollegen sowohl auf der Regierungs-
bank als auch auf der von mir aus rechten Seite des Hau-
ses, dafür zu sorgen, dass wir der Kollegin Karin Maag
aus der Unionsfraktion jetzt auch folgen können. – Sie
haben das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1717610200

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-

nen, liebe Kollegen! Ein guter Schluss sichert alles. Des-
wegen zitiere ich einfach einmal das Bundessozialge-
richt:

Zuzahlungen sind ein zweckmäßiges und taugliches
Mittel zur Erhaltung der Effektivität und Effizienz
der Leistungen der GVK, aber auch ihrer Qualität
und Finanzierbarkeit.

Das ist zwar nicht mein Satz; ich habe ihm aber nur we-
nig hinzuzufügen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da könnten Sie sich aber einmal ein bisschen fachwissenschaftlichen Verstand angucken!)


Ich will gerne darüber reden, wie wir – das ist das An-
gebot an die FDP – die Praxisgebühr vereinfachen kön-
nen.

Dem Antrag der Linken, der SPD und der Grünen, sie
abzuschaffen, werden wir natürlich auch im dritten An-
lauf – und in allen weiteren Anläufen, merke ich vor-
sorglich einmal an – nicht zustimmen.

Wir haben in dieser Koalition mit nachhaltigen Refor-
men – viele Redner haben es erwähnt – dafür Sorge ge-
tragen, dass unser Gesundheitssystem auch in Zukunft
trägt, dass es bei einer guten medizinischen Versorgung
bleibt und dass alle am medizinischen Fortschritt teilha-
ben können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben mit unseren nachhaltigen Gesetzen vor al-
lem dazu beigetragen, dass ein prognostiziertes Defizit





Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)


von 9 Milliarden Euro – so haben wir das Ganze über-
nommen – nicht nur vermieden werden konnte, sondern
dass heute die meisten Kassen – aber nicht alle Kassen;
das ist mir wichtig – Rücklagen bilden konnten.

Aber – jetzt bin ich bei den sehr einfachen Finanzie-
rungsvorschlägen, insbesondere von den Linken – bei
den Kassen werden keine Vermögen angehäuft, die jetzt
als Spielmasse in einem Wahlkampf verschleudert wer-
den können.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Seit 2006 fordern wir das! Da war kein Wahlkampf! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Wir können die Parität wiederhaben!)


Auch wenn wir im Boomjahr 2011 einen Überschuss
für alle Kassen – jetzt bin ich wieder bei allen Kassen –
von rund 4 Milliarden Euro hatten, muss man doch diffe-
renziert jede einzelne Kasse betrachten. Schließlich gibt
es viele Kassen, die bisher noch nicht über ausreichend
Betriebsmittel und Rücklagen verfügten und die ihre Fi-
nanzsituation jetzt endlich erstmals verbessert haben.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden ja auch über den Gesundheitsfonds!)


Diese Kassen würden Sie doch wieder in die Übernah-
mesituation treiben. Das wollen wir nicht.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst einmal den Zusatzbeitrag abschaffen! Das ist doch immer das Problem!)


Zumindest meine Fraktion erwartet von den Kassen
ein nachhaltiges Wirtschaften. Wie soll das denn funk-
tionieren, wenn wir diese Einnahmen der Kassen jetzt
wieder der Beliebigkeit aussetzen? Mit uns wird so et-
was nicht funktionieren.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch den Zusatzbeitrag!)


Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, sieben Kassen
haben es derzeit richtig gemacht – sieben Kassen, denen
es gut geht. Sie geben nämlich ihren Versicherten einen
Teil der Beitragsleistung in Form von Prämien zurück.
Das ist aus meiner Sicht der einzig richtige Weg. Andere
Kassen – auch das ist für mich beispielgebend – gehen in
die Leistungsverbesserung. So etwas dürfen wir doch
nicht verhindern.

Im Gesundheitsfonds hat sich 2011 ein Überschuss
von 5 Milliarden Euro angesammelt. Das sind 2 bis
3 Prozent der jährlichen Ausgaben der gesetzlichen Kas-
sen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber fast doppelt so viel wie gesetzlich vorgesehen!)


Können Sie sich vorstellen, wie schnell ein solches Pols-
ter in Zeiten der zurückgehenden Konjunktur vervespert
ist?

Es gibt den schönen Satz: Spare in der Zeit, dann hast
du in der Not. – Daran richten wir unsere Politik aus. Für

das Jahr 2012 – das will ich auch einmal deutlich sagen –
liegen noch keine Abrechnungs- und Finanzdaten vor,
und Sie geben die Milliarden bereits aus. Ich habe mich
gestern beim Schätzerkreis informiert: Für das Jahr 2012
reden wir von einem Überschuss – Gott sei Dank – von
350 Millionen Euro.

Frau Klein-Schmeink, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von den Grünen, nur am Rande: Wir haben mit den
guten Daten der Kassen eindeutig bewiesen, dass es zu
einer Konsolidierung der Finanzen sicher keiner Bürger-
versicherung bedarf.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben einen Schluck aus der Pulle genommen! 0,6 Punkte mehr Krankenkassenbeitrag: So haben Sie das gelöst!)


Wir haben bewiesen, dass mit der Hebung von Effizienz-
reserven und einer mittelguten Wirtschaftslage, für die
diese Regierung auch steht, in den bestehenden Verhält-
nissen noch ganz gute Ergebnisse erzielt werden können.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beiträge erhöhen kann jeder!)


Wenn Sie mittelfristig Ihre Bürgerversicherung als Fi-
nanzierungsinstrument anbieten: Wie finanzieren Sie die
kurzfristige Abschaffung der Praxisgebühr? Das alles
passt nicht zusammen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ist gegenfinanziert! Das wissen Sie auch! Der Spielraum ist da, auch nächstes Jahr!)


Meine Damen und Herren von der Linken, Sie sagen,
wir haben genügend Geld im System. Die Grünen und
die SPD behaupten, in den kommenden Jahren sei mit
einem dramatischen Anstieg der Beitragsbelastung der
Versicherten zu rechnen. Hier setzen Sie uns ein großes
Fragezeichen vor die Nase. Was gilt denn nun? Auf der
einen Seite fallen Weihnachten und Ostern offensichtlich
zusammen, und auf der anderen Seite wird bei derselben
Debatte von der übrigen Opposition eine Notlage herbei-
geredet. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie den
Menschen erklären wollen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen vielleicht die Anträge noch einmal lesen!)


Der GKV-Spitzenverband hat jedenfalls in der Anhö-
rung ausgeführt, ohne die Zuzahlungen fehlten den ge-
setzlichen Kassen rund 5 Milliarden Euro. Von diesen
5 Milliarden Euro entfallen 2 Milliarden Euro auf die
Praxisgebühr. Wenn wir in Beitragssatzpunkten rechnen:
Die Summe von 5 Milliarden Euro entspricht konstant
0,5 Beitragssatzpunkten. Wenn es dann tatsächlich nicht
mehr reicht, was ich eingangs dargestellt habe, dann
frage ich Sie: Wollen Sie dann die Beiträge entsprechend
erhöhen? Oder woher nehmen Sie sonst das Geld?

Uns wurde gestern in der Pflegedebatte vorgeworfen,
wir hätten angeblich nur – die Betonung liegt auf: nur –
1,1 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt und keine
6 Milliarden Euro, die angeblich notwendig wären.





Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)


Auch das würden wir nur mit einer Erhöhung der Bei-
träge schaffen.


(Elke Ferner [SPD]: Sie haben die Krankenkassenbeiträge auch erhöht!)


So viel Ehrlichkeit muss sein. Es ist Ihre und nicht un-
sere Politik. Wir versuchen eine nachhaltige Gestaltung.


(Elke Ferner [SPD]: Ja, „Mövenpick“ sage ich nur!)


Das werden uns die Wählerinnen und Wähler danken.

Jetzt möchte ich noch zwei Punkte zur angeblich feh-
lenden Steuerungswirkung nennen: Die Begründung im
Jahr 2003 für die Praxisgebühr war vor allem, dass ein
Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen geleistet wer-
den sollte. In einem zweiten Schritt sollten die Zahlen
der ärztlichen Konsultationen reduziert werden. Heute
schämen Sie sich offenbar dafür, dass die Versicherten
zu zusätzlichen Leistungen herangezogen wurden. Das
werfe ich Ihnen gar nicht vor. Damals waren Sie in der
Regierung. Damals ging es darum, sich um die Bezahl-
barkeit zu kümmern. Es ist Regierungsverantwortung,
dass Sie Antworten auf solche Fragen geben.


(Elke Ferner [SPD]: Die Ausgestaltung der Praxisgebühr ist auf Ihrem Mist gewachsen, Frau Kollegin!)


Natürlich hat sich die direkte Steuerungswirkung abge-
flacht. Die Versicherten haben sich tatsächlich daran ge-
wöhnt. Dass Zuzahlungen aber generell steuern können,
sieht man auf dem Arzneimittelmarkt, wo beispielsweise
die Generika von der Zuzahlung befreit und deswegen
auch stark nachgefragt sind.

Ich möchte noch einen letzten Aspekt erwähnen. Es
geht um die Bindung an den behandelnden Arzt durch
die Praxisgebühr. Sie haben die Hausarztverträge er-
wähnt. Ich teile Ihre Ansicht nicht. Die Hausarztverträge
werden mit der Praxisgebühr unterstützt. Sie setzen dies
leichtfertig aufs Spiel und damit die Option, weitere
Wirtschaftlichkeit ins System zu bringen. Die Hausarzt-
verträge funktionieren nur dort, wo Versicherungen An-
reize bieten. Dazu gehört die Befreiung von der Praxis-
gebühr.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717610300

Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit und kom-

men zum Schluss.


Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1717610400

Ich achte auf die Zeit und komme zum Schluss. – Es

gilt das Erstgesagte: Wir werden auch künftigen Anträ-
gen nicht zustimmen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit auch am
Ende der Debatte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717610500

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zu den Anträgen auf Drucksachen 17/9189,
17/9067 und 17/9408. Die Fraktionen der SPD, die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen wünschen jeweils
Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/
CSU und FDP wünschen jeweils Überweisung, und
zwar federführend an den Ausschuss für Gesundheit und
mitberatend an den Ausschuss für Wirtschaft und Tech-
nologie, an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und
an den Haushaltsausschuss.

Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über die
Anträge auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage des-
halb: Wer stimmt für die beantragten Überweisungen? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann sind
die Überweisungen so beschlossen, und wir stimmen
heute noch nicht in der Sache ab.

Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Stabilisierungs-
mechanismusgesetzes

– Drucksache 17/9145 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses (8. Ausschuss)


– Drucksache 17/9435 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Dietmar Bartsch
Priska Hinz (Herborn)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es enttäuscht mich
jetzt ein wenig, dass sich die Reihen aus für mich nicht
gerade erklärbarer Ursache so sehr lichten. Vor allen
Dingen bitte ich Sie aber, wenn Sie jetzt anderen Ver-
pflichtungen nachgehen müssen, dafür zu sorgen, dass
wir hier ordnungsgemäß weitertagen können. Ich bitte
Sie also, die notwendigen Gespräche vor der Tür des
Plenarsaals zu führen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich nehme
an, dass die Geräusche hier neben mir rechts keinen Wi-
derspruch bedeuten.


(Otto Fricke [FDP]: Zustimmung!)


– Zustimmung. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Norbert Barthle für die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1717610600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Mit dem vorliegenden Gesetz passen wir die Re-
gelungen zur Beteiligung des Deutschen Bundestages
am temporären Rettungsschirm EFSF an die Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts an.





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)


Die Tatsache, dass wir einen fraktionsübergreifenden
Kompromiss gefunden haben, zeigt, dass wir als Parla-
ment die Ausgestaltung unserer Rechte verantwortungs-
bewusst und gemeinsam in die Hand nehmen. Wir brin-
gen damit auch unseren Respekt vor dem obersten
Gericht zum Ausdruck. Ich möchte daher allen Beteilig-
ten ganz herzlich dafür danken, dass wir das Gesetz
heute so beschließen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch mit Blick auf unsere europäischen Partner so-
wie zur Minimierung von Unsicherheiten an den Finanz-
märkten ist es meiner Ansicht nach wichtig, dass wir
hinsichtlich möglicher Anwendungen des Rettungs-
schirms für entsprechende Rechtssicherheit sorgen. Wir
geben mit diesem Gesetz nahezu alle Entscheidungsbe-
fugnisse über die Vereinbarung neuer Hilfsprogramme
an das Plenum des Deutschen Bundestages. Damit ge-
währleisten wir ein Maximum an parlamentarischer Mit-
bestimmung.

Es bleibt nur eine Ausnahme: Mögliche Anträge zu
Sekundärmarktaktivitäten, die einer besonders vertrauli-
chen Behandlung bedürfen, werden zukünftig im soge-
nannten Neunergremium behandelt. Das Neunergre-
mium wird dann sowohl die Mehrheitsverhältnisse im
Deutschen Bundestag widerspiegeln als auch dem
Grundsatz der Spiegelbildlichkeit entsprechen. Es wird
zudem in geheimer Wahl mit der Mehrheit des Bundes-
tages gewählt und damit zusätzlich legitimiert. Außer-
dem erhöht die Wahl von Stellvertretern die Legitima-
tion und Beschlussfähigkeit. Ich bin davon überzeugt,
dass wir damit eine vernünftige sowie verfassungsrecht-
lich sichere Regelung gefunden haben.

Diese Regelung ist sachlich von großer Bedeutung,
um das Instrument der Sekundärmarktankäufe nicht im
Vorhinein zu lähmen. Das betone ich besonders, da die
einstweilige Verfügung, die erwirkt wurde, mögliche Be-
schlüsse durch das Neunergremium noch komplett un-
tersagt hatte. Das Gericht hat dann aber klargestellt, dass
der Grundsatz der Funktionsfähigkeit des Bundestages
prinzipiell rechtfertigen kann, dass der Bundestag zu-
mindest in Fällen besonderer Vertraulichkeit die Rechte
des Plenums an ein kleineres Gremium delegieren kann.

Ich will an dieser Stelle mögliche Kritikpunkte von-
seiten der SPD-Kollegen vortragen, insoweit als man sie
in den Protokollen der Sitzungen des Haushaltsausschus-
ses nachlesen kann. An dieser Stelle zeigt sich, dass auch
der von der SPD vorgelegte Vorschlag zur Änderung des
StabMechG verfassungsrechtlich problematisch war,
dass sie das Neunergremium allein aus Gründen beson-
derer Eilbedürftigkeit etablieren wollte. Genau diesen
Grund hat das Verfassungsgericht nicht akzeptiert. Für
eilbedürftige und vertrauliche Fälle wollte die SPD den
Haushaltsausschuss entscheiden lassen. Wie gesagt, die
Eilbedürftigkeit in diesen Fällen, so das Bundesverfas-
sungsgericht, wird auch vom gesamten Plenum zu ge-
währleisten sein.

Mit dem jetzt vorliegenden Entwurf eines Änderungs-
gesetzes legen wir etwas vor, was den Vorgaben des Ver-
fassungsgerichts vollumfänglich entspricht. Deshalb

sollten wir dieses gemeinsam erzielte Ergebnis, diesen
Kompromiss, nicht zerreden, was dadurch geschieht,
dass sich einzelne Fraktionen als klüger darstellen als
andere. Wir sollten gemeinsam auf dieses Ergebnis stolz
sein. Ich will an dieser Stelle ganz bewusst unserem
Bundestagspräsidenten Norbert Lammert danken, der
sich mit seiner Expertise eingebracht hat. Außerdem will
ich unserem Parlamentarischen Geschäftsführer Peter
Altmaier danken, der den Diskussionsprozess moderiert
hat.

In der Diskussion über die Ausgestaltung unserer Par-
lamentsbeteiligung sind wir einen guten Schritt vorange-
kommen. Wie so oft liegt das beste Ergebnis tendenziell
in der goldenen Mitte. Wir dürfen die fundamentalen,
durch die Verfassung geschützten Rechte einzelner Ab-
geordneter durch eine eilige Kriseninterventionspolitik
nicht aufs Spiel setzen. Genauso wenig dürfen wir unse-
ren Wunsch nach Mitsprache übertreiben; wir dürfen
nicht bei allem und jedem mitbestimmen wollen. Wir
müssen immer auch die Grenzen zwischen exekutiven
und parlamentarischen Zuständigkeiten klar ziehen.

Meine Damen und Herren, wenn wir die Parlaments-
beteiligung überziehen, blockieren wir nämlich letztlich
die Funktionsfähigkeit des Rettungsschirms und behin-
dern seinen Zweck. Dann dürfen wir uns nicht wundern,
wenn die eigentlichen Aufgaben des Rettungsschirms
zum Beispiel von der EZB übernommen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Diese Lehre sollten wir auch für die Regelung der
jetzt anstehenden Parlamentsbeteiligung beim Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus im Hinterkopf behalten.
In Bezug auf die Frage der Eilbedürftigkeit haben wir
uns im Hinblick auf das StabMechG darauf geeinigt,
keine gesonderte Regelung vorzunehmen. Ich kann die-
sen Kompromiss gut mittragen. Wir müssen uns aber
auch bewusst sein, dass wir, und zwar das gesamte Haus,
dann gegebenenfalls extrem schnell zusammenkommen
müssen. Die Praxistauglichkeit dieser Regelung wird
sich zeigen, sollte sie tatsächlich zur Anwendung kom-
men.

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass wir
mit diesem Gesetz die Möglichkeit schaffen, im Haus-
haltsausschuss eine Anhörung zu Anträgen und Vorlagen
der Bundesregierung in Bezug auf den Rettungsschirm
durchzuführen. Das gab es zu Zeiten der alten Gesetzes-
regelung in dieser Form nicht. Diese Neuregelung um-
fasst den Inhalt des Änderungsantrags, den wir gemein-
sam erarbeitet haben. Wir, das Parlament, der Deutsche
Bundestag, haben die Aufgabe, das Ganze zu regeln,
selbst in die Hand genommen. Das war richtig so und ist
gut so.

Ich freue mich, dass mit dieser Änderung die Rechte
der Mitglieder des Deutschen Bundestages insgesamt
gestärkt werden und dass damit die Vorgaben des Verfas-
sungsgerichts vollumfänglich erfüllt sind. Ich bitte Sie,
alle Fraktionen dieses Hauses, um Zustimmung zu die-
sem Gesetz. Damit würden wir das Vorhandensein eines





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)


rechtsfreien Raums beenden und demonstrieren, dass
wir handlungsfähig sind.

Danke sehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Otto Fricke [FDP]: Du wirst noch ein Staatsmann!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717610700

Das Wort hat der Kollege Rolf Schwanitz für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1717610800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren!

Budgetrecht und haushaltspolitische Gesamtverant-
wortung des Deutschen Bundestages werden grund-
sätzlich durch Verhandlung und Beschlussfassung
im Plenum wahrgenommen. … Vor diesem Hinter-
grund ergibt sich der Grundsatz der Budgetöffent-
lichkeit aus dem … Öffentlichkeitsprinzip der De-
mokratie …

So das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom
28. Februar 2012 zur Klagesache unserer Kollegen
Dr. Peter Danckert und Swen Schulz.

Meine Damen und Herren, wir beschließen heute ein
Gesetz zur Parlamentsbeteiligung beim Euro-Rettungs-
schirm, das diesen Anforderungen endlich, und zwar im
vollen Umfang, gerecht wird, und das ist gut so.


(Beifall bei der SPD)


Damit findet auch ein Emanzipationsprozess des Parla-
ments, der sich über fast zwei Jahre hingezogen hat, sein
gutes Ende. Ich will noch einmal daran erinnern.

Als die Bundesregierung den befristeten Euro-Ret-
tungsschirm, EFSF, auf den Weg gebracht hat, ging sie
davon aus, dass der Deutsche Bundestag dabei genauso
wenige Mitwirkungsrechte bekommen muss wie bei al-
len klassischen Euro-Angelegenheiten. Da wird über Fi-
nanzgipfel auf Europaebene in der Regel nur informiert,
und das war es dann auch. Natürlich war klar, dass der
Gewährleistungsrahmen der EFSF insgesamt per Gesetz
genehmigt werden musste. Aber für das laufende Ret-
tungsgeschehen sah das Beteiligungsgesetz vom Mai
2010 deshalb nur vor – ich darf zitieren –:

Vor Übernahme von Gewährleistungen … bemüht
sich die Bundesregierung, Einvernehmen mit dem
Haushaltsausschuss … herzustellen.

Zu mehr waren die Bundesregierung und die sie tra-
gende Koalition damals nicht bereit.

Das änderte sich erst durch das Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts zur EFSF und zur Griechenland-Hilfe.
Nun war klar, dass wir auch beim laufenden Rettungsge-
schehen im Kernbereich des parlamentarischen Budget-
rechts sind und die Handlungen der Bundesregierung
auch auf der übernationalen Ebene des Euro-Rettungs-

schirms der Zustimmung des Deutschen Bundestages
bedürfen. Dass wir dieses Urteil nicht bereits im Sep-
tember 2011 mit einem adäquaten, verfassungsfesten
Beteiligungsgesetz umgesetzt haben, meine Damen und
Herren, ist kein Ruhmesblatt der deutschen Parlaments-
geschichte. Allerdings haben die Fraktionen daran
durchaus unterschiedlichen Anteil. Das will ich anspre-
chen.

Die Sozialdemokraten müssen sich vorhalten lassen,
dass sie im Herbst letzten Jahres bei der Schlussabstim-
mung im Plenum unter dem Druck des Faktischen und
aufgrund eines Loyalitätsgefühls gegenüber einer letzt-
endlich an dieser Stelle falschen Staatspraxis der Forde-
rung der Koalition nachgegeben haben und zunächst ein
verfassungswidriges Beteiligungsgesetz mit beschlos-
sen haben. Allerdings hatte die SPD zuvor im Haushalts-
ausschuss Änderungsanträge eingebracht, die genau die
schwierigen Stellen markierten,


(Otto Fricke [FDP]: Ja, aber falsch rum!)


und die mögliche Verfassungswidrigkeit im Ausschuss
thematisiert, und zwar in Bezug auf die Stellen, die spä-
ter bei dem Urteil eine zentrale Rolle spielten. Das gilt
für die exzessive Verweisung von Beratungsgegenstän-
den an das damalige Neunergremium: Wir wollten schon
damals, dass hier nur Sekundärmarktkäufe erfasst wer-
den und nicht mehr.


(Otto Fricke [FDP]: Das stimmt doch gar nicht! Was soll denn das jetzt wieder?)


Das gilt auch für die von der Koalition gewollte Regel-
vermutung der besonderen Eilbedürftigkeit: Man wollte
viele Beratungsgegenstände unter diesem Rubrum erfas-
sen, was das Verfassungsgericht später bekanntermaßen
kassierte.

So wie ich die Verantwortung der SPD thematisiere,
will ich auch ausdrücklich sagen: Es liegt in der Verant-
wortung der anderen Fraktionen – die Linke, die hier an-
ders votiert hat, ausgenommen –, dass diese Vorschläge
damals im Haushaltsausschuss abgelehnt worden sind
und wir erst durch eine neue Verfassungsklage hier zu ei-
nem Umdenkungsprozess gekommen sind.


(Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


An dieser Stelle, meine Damen und Herren, will ich
den Kollegen Peter Danckert und Swen Schulz meinen
ausdrücklichen Dank und Respekt aussprechen, die mit
ihrer Verfassungsklage letztendlich den Weg zu unserer
heutigen Gesetzesänderung eröffnet haben. Das ist kein
leichter Gang und alles andere als eine Selbstverständ-
lichkeit, wenn zwei Kollegen sich aufmachen und vor
dem Bundesverfassungsgericht quasi ihr eigenes Parla-
ment verklagen. Das ist für beide Kollegen nicht leicht
gewesen. Ich bin froh, dass wir in einem Land leben, in
dem das rechtlich möglich ist. Ich finde, beide Kollegen
haben Respekt für diesen Vorgang verdient.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE])







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717610900

Herr Kollege Schwanitz, darf der Kollege Willsch Ih-

nen eine Zwischenfrage stellen?


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1717611000

Nein, ich möchte bitte weiter vortragen.

Was wir heute am Gesetz ändern, sorgt für eine Parla-
mentsbeteiligung, die der Stellung des Budgetrechts als
Königsrecht des Parlaments wirklich gerecht wird. Die
SPD findet ihre Vorschläge, die sie hier mit eingebracht
hat, nahezu vollständig wieder.

Alle Entscheidungen über Hilfsmaßnahmen und ihre
Änderungen werden künftig im Plenum des Deutschen
Bundestages, das heißt von allen Abgeordneten und im
Lichte der Öffentlichkeit, entschieden. Das gilt für Dar-
lehen, für Ankäufe am Primärmarkt und für vorsorgliche
Maßnahmen ebenso wie für Kredite zur Rekapitalisie-
rung von Finanzinstituten; es gilt aber auch für Leitlinien
und für sogenannte Hebel, über die viel diskutiert wor-
den ist, und schlussendlich auch dann, wenn sich die Be-
dingungen für finanzielle Instrumente geändert haben.

Im Haushaltsausschuss werden künftig auch bei Re-
gierungsvorlagen Minderheitenrechte für Anhörungen
bestehen. Damit wird der unwürdige Zustand beendet,
dass die Opposition bei der Befassung und bei der Orga-
nisation fachlicher Expertise im Ausschuss von der
Gnade der Mehrheit abhängig ist und dass die Koalition
eine solche Anhörung mit ihrer Mehrheit schlicht und
einfach verhindern kann. Damit haben wir in den zu-
rückliegenden Monaten hinreichend Erfahrung sammeln
müssen.

Das Sondergremium wird sich künftig ausschließlich
mit Sekundärmarktkäufen befassen. Die exzessive Zu-
ordnung von Vorlagen und das überdimensionierte Agie-
ren hinter verschlossenen Türen werden aus dem Gesetz
gestrichen. Das Sondergremium wird durch Stellvertre-
ter vergrößert und durch geheime Wahlen im Plenum des
Deutschen Bundestages mit der Mehrheit der Mitglieder
dieses Hauses ordentlich demokratisch legitimiert.


(Otto Fricke [FDP]: Das hatten wir vorher doch auch schon!)


Auch die Auszahlung der Hilfstranchen, also dort, wo
quasi richtiges Geld fließt, wird künftig nur nach vorhe-
riger Beteiligung des Haushaltsausschusses erfolgen.
Seine Stellungnahmen müssen von der Bundesregierung
berücksichtigt werden. Das ist richtig so; denn auch mit
der Auszahlung von Teilbeträgen können politische Fra-
gen von erheblicher Bedeutung verbunden sein. Deshalb
ist es richtig, dass wir von einer bloßen Kenntnisnahme
zu einem echten Beteiligungsrecht des Haushaltsaus-
schusses kommen.


(Beifall bei der SPD)


Mit den Änderungen im vorgelegten Gesetzentwurf in
Bezug auf den befristeten Euro-Rettungsschirm EFSF
wird es eine Weiterentwicklung von einer partiellen zu
einer umfassenden Parlamentsbeteiligung und -entschei-
dung geben. Künftig gilt auch hier das Plenarprinzip:
Alle wichtigen Entscheidungen können in Zukunft im

Plenum von allen Abgeordneten im Lichte der Öffent-
lichkeit entschieden werden.


(Otto Fricke [FDP]: Müssen!)


Das Budgetrecht des Parlaments wird damit faktisch auf
das Agieren der Bundesregierung in Bezug auf den Euro-
Rettungsschirm erstreckt – ein Standard, der sicherlich
auch beim dauerhaften Rettungsschirm ESM nicht mehr
infrage gestellt werden wird.

Meine Damen und Herren, die heutige Entscheidung
markiert ein gutes Stück Parlamentsgeschichte in
Deutschland. Die Entscheidung ist wichtig für die Ak-
zeptanz und Legitimation des Rettungsgeschehens und
auch für die Akzeptanz und das Funktionieren unserer
Demokratie in Deutschland. Deswegen bitte ich um eine
breite Zustimmung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717611100

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Willsch

das Wort.


Klaus-Peter Willsch (CDU):
Rede ID: ID1717611200

Herr Kollege Schwanitz, ich hätte Ihnen gerne eine

Zwischenfrage gestellt, aber nun muss ich mein Anlie-
gen in einer Kurzintervention darstellen.

Man wird mir ohne Weiteres abnehmen, dass es in
meinem Interesse liegt, dass eine Verhandlung dieser
Angelegenheiten im Parlament und damit in der Öffent-
lichkeit erfolgt. Die Union wirkt ja bei der Gesetzesän-
derung mit. Wenn es aber Ausweis der Bedeutung ist,
die die Mitglieder des federführenden Ausschusses,
nämlich des Haushaltsausschusses, dieser öffentlichen
Debatte beimessen, dass heute von zehn Mitgliedern der
SPD dieses Ausschusses gerade zwei anwesend sind,
dann will ich meine Sorge zum Ausdruck bringen, was
das für die Zukunft der Parlamentsbeteiligung in diesen
Fragen bedeutet.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717611300

Nächster Redner ist der Kollege Otto Fricke für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1717611400

Geschätzter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und

Kollegen! Man sollte in den Vordergrund stellen, dass
für das Gesetz drei Dinge maßgeblich waren: erstens die
Vorgaben des Zweiten Senats des Bundesverfassungsge-
richts eins zu eins umzusetzen; ich glaube, wir haben sie
sogar übererfüllt; zweitens – das ist das Schwierigere –
die Handlungsfähigkeit der EFSF zu erhalten; und drit-
tens die von uns gerade dargestellte interfraktionelle
Übereinkunft zu erreichen.





Otto Fricke


(A) (C)



(D)(B)


Im Einzelnen und zum Verständnis: Worum geht es
heute eigentlich? Geht es heute um die Frage der Euro-
Rettung als solche? Nein, es geht um eine Grundfrage
von Demokratie, um die Grundfrage, wie wir in Staaten
miteinander umgehen. Wenn man so will, geht es um
Locke und Montesquieu, um Gewaltenteilung.

Faktisch ist es hier doch so: Wir haben eine Regie-
rung, die auf europäischer Ebene handeln will und muss,
und wir haben ein Parlament, das die Haushaltsverant-
wortung hat. Übersetzt heißt das: Das Parlament hat die
Verantwortung, zu bestimmen, wann und unter welchen
Bedingungen die andere Gewalt, die Regierung, konkret
über wie viel Geld entscheiden kann und wie weit wir
dabei ins Detail gehen.

Die dritte Gewalt, die Rechtsprechung, versucht auch
wieder, die unterschiedlichen Gewaltenstränge einiger-
maßen in Übereinstimmung zu bringen. Wenn wir vor
fünf Jahren – das müssen wir erkennen – gesagt hätten,
dass wir in diesem Bundestag wiederholt darüber ent-
scheiden müssen, was der richtige Weg ist, dann hätten
wir Stimmen gehört – diese gibt es weiterhin –, die ge-
sagt hätten: Eigentlich sollte das Parlament überhaupt
nicht darüber entscheiden; das ist eine reine Exekutivent-
scheidung. – Ich glaube, dass die Lösung, die wir jetzt
gefunden haben, vertretbar ist. Ob sie die richtige ist,
wird die Zeit erweisen. Ich halte sie jedenfalls für eine
gute.

Ich sage das unumwunden: Wir alle – alle Parteien,
die Regierung und übrigens auch das Verfassungsgericht –
haben jeweils Veränderungen unserer Positionen vorge-
nommen. Die Regierung hat erkennen müssen, dass es
ein selbstbewusstes Parlament gibt. Sie hat erkennen
müssen, dass das nicht nur im Haushaltsausschuss so ist,
sondern dass das gesamte Parlament – wie auch die ge-
samte Bevölkerung – Interesse an diesem wichtigen
Thema hat. Das ist nicht nur deshalb so, weil es um so
viel Geld geht, sondern auch, weil es darum geht, wie
Europa eigentlich aussehen soll.

Das Verfassungsgericht hat in seiner ersten Entschei-
dung gesagt – das war für uns maßgeblich –: Wir haben
eine Vorstellung davon, wie ihr das machen könnt. Es
hat dann aber einen weiteren Satz gesagt, der für uns
alle, damals übrigens auch für die SPD und die Grünen,
durchaus sehr prägend war. Die ursprüngliche Entschei-
dung des Verfassungsgerichts – daran möchte ich immer
wieder erinnern – war nämlich: In Eilfällen kann die Re-
gierung, die exekutive Gewalt, das allein machen.

Ich hätte mir sehr gewünscht, dass sich das Bundesver-
fassungsgericht in seinem neuen Urteil mit diesem Satz
auseinandergesetzt hätte. Dass es jetzt anders entschieden
hat, haben wir auch den beiden Abgeordneten zu verdan-
ken, die von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben. So
gehört sich das auch. Ich bin nicht immer derselben Mei-
nung wie der Kollege Danckert gewesen. Auch der Kol-
lege Danckert – er kann heute wahrscheinlich leider nicht
kommen; das ist aber okay – muss anerkennen, dass seine
Vorstellung – er meinte, der Haushaltsausschuss müsse
die wesentlichen Dingen entscheiden – nicht umgesetzt
wurde. Vielmehr machen wir das jetzt im Plenum.

Den Kolleginnen und Kollegen, die nicht im Haus-
haltsausschuss sind, will ich eines deutlich sagen: Jeder
Abgeordnete muss sich darüber klar sein, dass, wenn es
für Europa notwendig ist – mit Blick auf die Stabilisie-
rung des Kontinents, aber auch auf die Stabilisierung un-
seres Staates, unserer Sozialsysteme, unserer Altersvor-
sorge; denn wir brauchen Europa –, die gefundene
Lösung notfalls bedeutet, dass am Pfingstsonntag eben
nicht nur der Heilige Geist über ihn kommt, sondern
auch eine notwendige Abstimmung. Für meine Fraktion
sage ich: Wenn es für Europa, für unsere Bürger, für un-
sere Altersvorsorgesysteme usw. notwendig ist, werden
wir am Pfingstsonntag hier sein. Da werden wir weitere
Erfahrungen sammeln; aber nach dem, was ich erlebt
habe, werden wir auch Gemeinsamkeiten finden.

Wir als FDP haben an bestimmten Stellen zurückste-
cken müssen. Das ist der kleine Wasseranteil, den ich in
den Wein gieße; Sie haben das ja auch gemacht. Aber,
Kollege Schwanitz, ich muss auch sagen: Auch bei der
SPD hat es durchaus kleinere Änderungen gegeben. Ich
habe mir noch einmal Ihren Gesetzentwurf vom Septem-
ber angesehen. In dem hieß es noch: Über Eilfälle soll in
einem Neunergremium beschleunigt entschieden wer-
den; aber in Vertraulichkeitsfällen sei das eigentlich
nicht notwendig. Das Verfassungsgericht hat das umge-
kehrt gesehen. Wir sind zu neuen Erkenntnissen gekom-
men, und das ist auch in Ordnung.

Mit dem, was wir heute zur EFSF beschließen – dabei
geht es um den temporären Schutzschild des Euro –, ge-
hen wir sehr viele Punkte an, die mit Blick auf eine Par-
lamentsbeteiligung beim ESM schon die Richtung wei-
sen. Zwei Umstände sehe ich allerdings durchaus als
schwierig an. Einen hat der Kollege Barthle schon deut-
lich gemacht. Wenn wir unsere Parlamentsbeteiligung
destruktiv wahrnehmen und nicht klarmachen, unter wel-
chen Bedingungen der Finanzminister im Gouverneurs-
rat handeln kann, und wenn es daraufhin zu einer Hand-
lungsunfähigkeit der Stabilitätsmechanismen kommt,
dann wird die Europäische Zentralbank, bei der wir kein
Vetorecht haben, sagen: Na, dann noch eine „dicke
Bertha“. Übersetzt heißt das: noch einmal 500 Milliarden
Euro, und zwar ohne Bedingungen und ohne der Politik
in anderen Ländern sagen zu können: Ihr müsst Refor-
men machen.

Ich will einen zweiten Punkt deutlich ansprechen:
Wenn wir das Neunergremium in der geplanten Ausge-
staltung haben, sind wir uns dann sicher, dass es nur in
Fällen von Sekundärmarktaktivität tätig wird, weil nur in
diesen Fällen Vertraulichkeit notwendig ist, um einen
Effekt zu erzielen? Deswegen will ich für meine Frak-
tion sagen: Die Handlungsfähigkeit wird auch davon ab-
hängen, dass nicht gesagt wird: Da man das nicht ver-
traulich machen kann, müssen wir das Ganze jetzt leider
über die EZB machen. – Ich bitte darum, dass wir alle
uns das sehr genau anschauen; denn wir wollen doch er-
reichen, dass parlamentarische Beteiligung, wo sie not-
wendig ist, von dem richtigen Gremium wahrgenommen
wird.

Wir haben jetzt diese Verteilung. Wir alle werden
weiter lernen. Wir alle haben schon hinzugelernt. Inso-
fern ist dies wirklich ein guter Tag für die Gewaltentei-





Otto Fricke


(A) (C)



(D)(B)


lung und für die Demokratie. Manchmal sollte es eben
auch so im Parlament ablaufen.

Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717611500

Das schöne Wochenende wird noch einen Augenblick

auf sich warten lassen müssen, aber die Wünsche kön-
nen ja schwerlich zu früh kommen.

Jetzt hat der Kollege Steffen Bockhahn für die Frak-
tion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Steffen Bockhahn (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717611600

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Worum geht es heute? Wir müssen
klären, wie der Deutsche Bundestag künftig bei den
Maßnahmen, die im Zusammenhang mit dem europäi-
schen Rettungsschirm notwendig sind, mitentscheiden
soll. Momentan geht es noch um den temporären Ret-
tungsschirm, also um die EFSF. De facto reden wir aber
auch schon über das, was künftig mit dem ESM passie-
ren soll. Dabei geht es dann um 700 Milliarden Euro.
22 Milliarden Euro sind von Deutschland bar einzule-
gen, und 168 Milliarden Euro muss Deutschland jeder-
zeit als abrufbares Kapital zur Verfügung stellen. Wir re-
den also über Summen, die mehr als die Hälfte des
gesamten Bundeshaushalts eines Jahres ausmachen.

Nun geht es um die Frage: Bei welchen Maßnahmen
wird sich das Parlament wie einbringen? Ja, es ist gut,
dass geklärt ist, dass der Bundestag im Grundsatz im
Plenum in Gänze zu entscheiden hat. Es gibt aber eine
Ausnahme, nämlich die sogenannten Sekundärmarkt-
käufe. Das heißt, über den Ankauf von Staatsanleihen,
die schon im Umlauf sind, die also eine Bank hat und die
von anderen gekauft werden sollen, nämlich vom ESM,
hat das sogenannte Neunergremium zu entscheiden. Es
heißt, solche Fälle bedürften einer besonderen Vertrau-
lichkeit, und deshalb könne man darüber nicht offen im
Plenum entscheiden. In solchen Fällen soll das soge-
nannte Neunergremium, über das wir hier reden, aktiv
werden.

Es geht um Transparenz und Beteiligung. Ich gebe zu:
Ich bin ein wenig irritiert ob einiger Sätze, die ich heute
gehört habe. Es heißt, wenn der Deutsche Bundestag
seine Rechte zu sehr in Anspruch nähme, würde er letzt-
lich den Europäischen Stabilitätsmechanismus gefähr-
den.


(Otto Fricke [FDP]: Nein!)


Das ist für mich unter demokratietheoretischen Aspekten
eine sehr problematische Auslegung.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen auch, warum: weil es suggeriert, dass es
keine Möglichkeit gäbe, dass der Deutsche Bundestag
Dinge vertraulich behandelt. Nehmen Sie das Grundge-
setz: Art. 42 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes sieht vor,

dass der Deutsche Bundestag im Plenum in geschlosse-
ner Sitzung tagen darf. Es liegt an uns, diese Rechte in
Anspruch zu nehmen oder nicht. Ich finde, angesichts
der Summen, über die wir hier reden, sind wir nicht nur
aufgerufen, sondern sogar verpflichtet, diese Verantwor-
tung wahrzunehmen. Wir reden wahrscheinlich über
mehrere Milliarden Euro. Ich finde, diese Verantwortung
kann man nicht Einzelnen überlassen. Dafür sind wir
alle zusammen zuständig.


(Beifall bei der LINKEN)


Schauen wir uns einmal an, was in den vergangenen
Wochen und Monaten noch so alles passiert ist. Bei der
Abstimmung über das zweite Griechenland-Rettungs-
paket war keine Kanzlermehrheit vorhanden.


(Otto Fricke [FDP]: War sie nötig?)


Angesichts dessen verstehe ich nicht, warum SPD und
Grüne diesem Gesetzentwurf jetzt zustimmen. Damit
entlasten Sie die Koalition, die offensichtlich nicht mehr
in der Lage ist, bei Entscheidungen, bei denen es um die
europäische Stabilität geht, eine eigene Mehrheit herzu-
stellen.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Es gibt ja wohl einen Unterschied zwischen eigener Mehrheit und Kanzlermehrheit!)


Durch Ihre Zustimmung ermöglichen Sie es, dass die
Koalition treue Kolleginnen und Kollegen in das Neu-
nergremium entsendet. Dort hat die Koalition dann eine
eigene Mehrheit und ist auf Sie gar nicht mehr angewie-
sen. Im Plenum sähe die Sache anders aus. Dort müsste
unter Umständen auch anders verhandelt werden, weil
die Mehrheitsverhältnisse im Plenum offensichtlich
nicht so sind, wie sie im Neunergremium schnell herzu-
stellen sind. In das Neunergremium kann ich zwei, drei
Leute schicken, auf die ich mich verlassen kann. Im Ple-
num habe ich es mit der Gesamtheit des Parlaments und
damit mit der Gesamtheit der politischen Ansichten zu
tun. Das ist zwar komplizierter, aber es ist ehrlicher, und
es ist auch verantwortungsvoller gegenüber dem Haus-
halt.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie mögen das jetzt so interpretieren, dass wir eigent-
lich nur wieder einen Grund gesucht haben, um Nein zu
sagen. Aber es ist ausdrücklich nicht so. Uns geht es da-
rum, dass wir über Beträge reden, die sich niemand mehr
vorstellen kann. Wir sprechen bei diesem Thema über
Zahlen mit neun Nullen. Diese Zahlen sind jenseits von
Gut und Böse, niemand versteht sie. Allein die 22 Mil-
liarden Euro Bareinlage, die wir im ESM zu zahlen ha-
ben, über die ich persönlich sage: „Ja, wir haben hier
eine Verantwortung“, sind mehr als das Doppelte der
Haushaltsmittel, die das Bundesinnenministerium und
das Bundesfamilienministerium im ganzen Jahr haben.
Ich finde, über diese Mittel müssen wir alle zusammen
transparent entscheiden. Niemand von Ihnen würde ak-
zeptieren, dass über einen Einzelplan des Haushalts
nicht im Plenum, sondern in einem Neunergremium ent-
schieden wird.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)






Steffen Bockhahn


(A) (C)



(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717611700

Die Kollegin Priska Hinz hat nun das Wort für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Bockhahn, es geht heute nicht um die Parla-
mentsbeteiligung für den ESM, den ständigen Rettungs-
schirm. Heute geht es ausdrücklich um die Parlaments-
beteiligung für den vorläufigen Rettungsschirm, die
EFSF. Ich finde, das muss man auseinanderhalten.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das habe ich getan!)


Zu dem anderen Gesetzentwurf werden wir erst noch
eine Anhörung durchführen.


(Otto Fricke [FDP]: Ja!)


Im Lichte dieser Anhörung werden wir dann darüber dis-
kutieren, wie man eine gute Parlamentsbeteiligung hin-
bekommen und gleichzeitig – das ist ein Balanceakt –
den ständigen Rettungsschirm funktionsfähig machen
und halten kann. Das wird für uns alle eine schwierige
Aufgabe,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


wenn wir tatsächlich an der Euro-Rettung interessiert
sind.

Zum Zweiten. Die Parlamentsbeteiligung im Rahmen
dieses Gesetzes hat sich – genauso wie das Gesetz – wei-
terentwickelt. Das muss man so sagen. Ich habe jetzt
keine Lust auf das Schwarzer-Peter-Spiel, hin und her,
wer hat was wann eingebracht.


(Otto Fricke [FDP]: Wir alle nicht!)


Das kann draußen an den Bildschirmen sowieso nie-
mand nachvollziehen. Ich glaube, wichtig ist, dass wir
heute feststellen, dass wir das zweite Urteil des Verfas-
sungsgerichts nicht nur umsetzen, sondern teilweise da-
rüber hinausgehen.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist das!)


Das will ich nachdrücklich festhalten. Deswegen werden
wir diesem Gesetzentwurf heute zustimmen.

Die Formulierungen des Gesetzes sind klarer gewor-
den, und die Rechte der Abgeordneten wurden gestärkt,
weil jetzt weitestgehend alle Entscheidungen vom Bun-
destag in Gänze getroffen werden müssen. Das ist zum
Beispiel hinsichtlich der Leitlinien wichtig. Ich erinnere
an den Streit, den wir über die Frage der Hebelung ge-
führt haben. Die Koalition wollte nicht, dass wir über
diese Frage hier im Bundestag diskutieren und entschei-
den. Letztendlich haben wir dann hier darüber diskutiert.
Insofern war die Öffentlichkeit beteiligt und die Ent-
scheidung transparent. Künftig wird es generell so sein.
Das halten wir in diesem Fall für richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Sondergremium kann nach dem Urteil des Ver-
fassungsgerichts für die Sekundärmarktankäufe weiter
bestehen. Alle anderen Aufgaben, die das Sondergre-
mium laut dem ursprünglichen Gesetz hatte, sind jetzt
auf das Plenum übertragen worden. Ich verhehle nicht,
dass ich die Stellvertreterregelung für problematisch
halte. Ich bin nicht sicher, ob dies insgesamt praktikabel
sein wird und das Gremium jemals tagen wird. Aber wir
alle lernen mit diesen Gesetzen dazu. Die Staatsschul-
denkrise dauert Gott sei Dank noch nicht so lange an,
dass wir schon alle parlamentarischen Erfahrungen da-
mit hätten machen können. Wir werden sehen, ob es sich
bewährt oder ob die EZB künftig auch in dieser Frage
einschreiten muss. In diesem Lichte müssen wir dann
noch einmal über die Aufgaben des Sondergremiums
diskutieren.


(Otto Fricke [FDP]: Das stimmt!)


Das Gleiche gilt für die Eilfälle. Die Eilfallregelung
wurde nicht mehr in den Gesetzentwurf aufgenommen,
weil SPD und Grüne dagegen waren, dass die Regierung
entscheidet, was ein Eilfall ist,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


und weil wir auch nicht akzeptieren wollten – entschul-
digen Sie bitte –, dass der Bundestagspräsident allein
entscheidet, was ein Eilfall ist. Auch dies fanden wir un-
parlamentarisch.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717611800

Was im Übrigen, wie Sie wissen, auch nicht vorgese-

hen war.


(Heiterkeit)


Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Von daher gibt es jetzt im Gesetzentwurf keine Rege-
lung für Eilfälle. Das heißt, das Plenum muss zusam-
mentreten, wenn es einen Eilfall gibt, notfalls auch in der
sitzungsfreien Zeit in der Sommerpause. Auch damit
werden wir Erfahrungen sammeln müssen, um beurtei-
len zu können, ob das praktikabel ist oder ob man im
Hinblick auf Eilfälle, in denen das nicht funktioniert, et-
was im Gesetz ändern muss.

Wo wir als Grüne, als es um dieses Gesetz ging, leider
nicht durchgedrungen sind, ist das Thema Anhörung.
Eine Anhörung zu beantragen, wird auch für eine Min-
derheit ermöglicht. Allerdings wollten wir gerne die Re-
gelung, dass entweder zwei Fraktionen oder 25 Prozent
der Mitglieder des Haushaltsausschusses eine Anhörung
beantragen können. Die Mehrheit des Hauses wollte das
nicht akzeptieren. Das finden wir bedauerlich, weil das
im Zweifel natürlich uns als kleinere Fraktion betreffen
würde.


(Otto Fricke [FDP]: Uns ja auch!)


Aber daran wollen wir das Gesetz nicht scheitern lassen.





Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)


Sinnvoll wäre aus unserer Sicht gewesen, eine Anhö-
rung zu diesem neuen Gesetzentwurf am 7. Mai durch-
zuführen, wenn auch eine Anhörung zum ESM und zum
Fiskalpakt stattfindet. Aus Zeitgründen ist von der
Mehrheit darauf verzichtet worden. Das finden wir wirk-
lich nicht sinnvoll. Uns wäre es wichtig gewesen, eine
Anhörung durchzuführen. Aber davon machen wir un-
sere Entscheidung nicht abhängig, weil wir es für sach-
lich gerechtfertigt halten, die starke Parlamentsbeteili-
gung, die im Gesetz verankert ist, jetzt zu vollziehen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717611900

Nun hat der Kollege Bartholomäus Kalb das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1717612000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Als letzter Redner, der feststellen
kann, dass wir uns weitestgehend einig sind, könnte ich
mit Karl Valentin sagen: Es ist schon alles gesagt, nur
noch nicht von jedem. – Aber gerade aus Gründen des
Respekts vor dem Bundesverfassungsgericht und aus
Gründen der Selbstachtung des Parlaments


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ja!)


ist es geboten, diese Debatte sehr ernsthaft und seriös zu
führen.

Wir tragen mit dieser Gesetzesänderung den Vorga-
ben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Rechnung. Dieses hat mit seinem Urteil die haushalts-
politische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundes-
tages gestärkt und damit auch die Zuständigkeiten des
sogenannten Neunergremiums auf Sekundärmarktakti-
vitäten begrenzt. Damit ist klargestellt, dass dieses
Gremium, das eingerichtet werden soll, ein Spiegelbild
der Mehrheitsverhältnisse sein muss. Die Parlamenta-
rischen Geschäftsführer haben – dafür darf ich mich
ganz herzlich bedanken – unter der Führung von Peter
Altmaier, wie ich glaube, eine sehr gute Lösung gefun-
den,


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Unter seiner Führung? Aha!)


sodass wir jetzt zu einer einvernehmlichen Regelung und
Entscheidung kommen und den Vorgaben des Bundes-
verfassungsgerichts in vollem Umfang Rechnung tragen
können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich habe bereits gesagt, dass die Zuständigkeiten des
sogenannten Neunergremiums auf Sekundärmarktakti-
vitäten begrenzt werden. Ich halte das für dringend
geboten. Denn wenn durch Indiskretionen irgendetwas

herauskäme, könnten Deutschland und allen anderen
Mitgliedstaaten der Europäischen Union milliarden-
schwere Schäden entstehen.

Das Thema Eilbedürftigkeit will ich nicht weiter ver-
tiefen. In der Zukunft hat das Plenum des Deutschen
Bundestages die Gesamtverantwortung. Das heißt, dann
muss das Plenum in allen Fällen entscheiden. Ich glaube,
von der Kollegin Hinz ist schon gesagt worden: Das
kann durchaus eine sportliche Veranstaltung für das Ple-
num des Deutschen Bundestages werden. Wenn wir aber
die Wahrung der Parlamentsrechte bzw. des Budget-
rechts in vollem Umfang gewährleisten wollen, dann ge-
hört dazu auch, dass wir zur Stelle sind, wenn dies gebo-
ten ist.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717612100

Der Kollege Riegert möchte und darf offenkundig

eine Zwischenfrage stellen. – Bitte sehr.


Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1717612200

Herr Kollege Kalb, mit „sportliche Veranstaltung“ ha-

ben Sie mir gerade ein Stichwort gegeben. Sie haben ja
von der Stabilität der Währung gesprochen. Unser Saal-
diener Hermann Rost hat als Zeugwart für stabile Ver-
hältnisse in der Bundestagsfußballmannschaft gesorgt.
Er hat heute seinen letzten Arbeitstag, ist bis zuletzt an
seinem Platz und bringt uns das köstliche Wasser.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sind Sie nicht wie ich der Meinung, dass wir ihn mit ei-
nem herzlichen Dankeschön und dem Wunsch eines sta-
bilen Alters und einer stabilen Pension verabschieden
sollten?


(Heiterkeit und Beifall)



Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1717612300

Herr Kollege Riegert, ich freue mich ganz ausdrück-

lich über diese Zwischenfrage, weil sie mir Gelegenheit
gibt, den Dank, den Sie schon ausgesprochen haben,
auch meinerseits – ich denke, auch für die vielen Kolle-
ginnen und Kollegen – zum Ausdruck zu bringen. Ich
kenne Hermann Rost schon seit 25 Jahren, und ich durfte
auch einmal ein bisschen in der Fußballmannschaft des
Bundestages mitspielen.


(Iris Gleicke [SPD]: Man kann ihm auch danken, ohne Fußball gespielt zu haben!)


Herzlichen Dank und alle guten Wünsche an Hermann
Rost!

Herr Präsident, wenn Sie einverstanden sind, dann
darf ich dies zum Anlass nehmen, Hermann Rost auch
stellvertretend für die vielen zu danken, die uns hier im
Plenum des Deutschen Bundestages, in den Ausschüssen
usw. mit voller Hingabe tagtäglich treu zur Seite stehen
und unsere Arbeit ermöglichen. Herzlichen Dank an alle
und alles Gute für Hermann Rost im Ruhestand.


(Beifall)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717612400

Das Präsidium schließt sich diesen guten Wünschen

ausdrücklich und gerne an. Sie hätten auch in keiner pas-
senderen Debatte als in dieser vorgetragen werden kön-
nen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich vermute, dass nur deswegen darauf verzichtet wurde,
das auch in den Gesetzentwurf einzufügen, weil wir von
der Sicherheit der Rechtsansprüche der Beamtenpension
ohnehin fest überzeugt sind.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)



Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1717612500

Herr Präsident, es steht mir nicht zu, Ihre Worte zu

kommentieren, aber wenn es notwendig gewesen wäre,
dann hätten wir es tatsächlich fertiggebracht, das in die-
sem Gesetzentwurf auch noch festzuschreiben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin jetzt
in meinem Redefluss natürlich etwas unterbrochen wor-
den.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN – Otto Fricke [FDP]: Aber nur leicht!)


Ich will nun auf das Thema zurückkommen.

Wir befassen uns jetzt mit der Mitwirkung und Betei-
ligung des Parlaments am temporären Rettungsschirm in
Europa. Wir sind im Moment parlamentarisch auch da-
bei, den dauerhaften Rettungsschirm für Europa, den Eu-
ropäischen Stabilitätsmechanismus, zu beraten. Hierbei
wollen wir – ich glaube, Kollege Fricke hat es schon
zum Ausdruck gebracht – die Parlamentsbeteiligung und
die Parlamentsrechte ebenso stark berücksichtigt finden.
Darüber beraten wir gerade. Ich bin davon überzeugt,
dass uns auch das gelingen wird.

Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass es sich
bei den Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen, nur um
Maßnahmen handelt, um unsere parlamentarischen Mit-
wirkungsrechte zu stärken und die Rettungsschirme
funktionsfähig zu machen. Das entbindet aber keinen
Mitgliedstaat in der Europäischen Währungsunion, seine
Hausaufgaben zu machen, eine solide Haushaltspolitik
zu betreiben und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Wir haben bereits gestern darüber debattiert. Das wird
die Kernaufgabe schlechthin sein.

Es wird somit auf der einen Seite darauf ankommen,
dass sich alle in Europa entsprechend anstrengen, damit
diese Vorgaben, die wir im Fiskalpakt vereinbart haben,
eingehalten werden. Auf der anderen Seite wollen wir si-
cherstellen, dass kein Mitgliedsland der Euro-Zone in
existenzielle Probleme gerät; denn ganz gleich, welches
Land in Schwierigkeiten käme und Finanzierungs- bzw.
Refinanzierungsprobleme hätte: Es würde natürlich an-
dere mitziehen, und es würde Rückstoßeffekte für uns
alle geben. Es ist also – der Kollege Fricke und der Kol-
lege Barthle haben schon darauf hingewiesen – in unse-

rem und im Interesse unserer Bürger, dass wir für stabile
Verhältnisse in Europa, in der Europäischen Union und
insbesondere in der Währungsunion sorgen.

Herzlichen Dank, alles Gute, schönes Wochenende!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717612600

Ein zweites Mal hat sich der Kollege Kalb leider nicht

stoppen lassen, und nach Überschreiten der Redezeit
können keine weiteren Zusatzfragen angenommen wer-
den.

Bevor wir jetzt zu den Abstimmungen kommen, hat
der Kollege Ströbele um eine Erklärung zur Abstim-
mung gebeten. Dazu hat er jetzt Gelegenheit. Danach
stimmen wir über den Gesetzentwurf ab.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich danke, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mir ist dieses allgemeine Schulterklopfen in
dieser Debatte etwas unangenehm. Deshalb habe ich
mich hier zu Wort gemeldet.

Bei der Verabschiedung des Stabilisierungsmechanis-
musgesetzes habe ich damals nicht zugestimmt, weil ich
die gleichen Bedenken hatte, die dann die Kollegen von
der SPD beim Bundesverfassungsgericht vorgetragen
haben. Ich fand es vom Kollegen Schwanitz etwas wohl-
feil, hier nun die Kollegen dafür zu loben, dass sie zum
Bundesverfassungsgericht gegangen sind. Ich fand das
richtig, hätte es auch gerne getan. Ich war aber nicht so
schnell und hatte keinen so guten Rechtsrat. Aber wir
dürfen nicht vergessen: Die SPD hat damals diesem of-
fensichtlich in Teilen verfassungswidrigen Gesetz zuge-
stimmt.


(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Das hat doch der Kollege Schwanitz erklärt!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717612700

Herr Kollege Ströbele, Sie wollten aber eigentlich

eine Erklärung zu Ihrem Abstimmungsverhalten abge-
ben.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja, natürlich. Das ist eine Erklärung zur Abstimmung.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717612800

Das muss ich allerdings entscheiden, ob es das ist

oder nicht.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident, ich will erklären, warum ich heute wie
abstimme.


(Otto Fricke [FDP]: Wegen der SPD!)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717612900

Na gut.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich fange damit an, dass ich sage: Beim letzten Mal,
als es um das Gesetz ging, habe ich nicht zugestimmt.


(Iris Gleicke [SPD]: Zwei Minuten sind um!)


Jetzt geht es um die Änderung dieses Gesetzes. Ich kriti-
siere, dass fast alle Fraktionen dieses Hauses ein in Tei-
len verfassungswidriges Gesetz beschlossen haben, und
appelliere an dieses Haus, in Zukunft vielleicht auch die
Bedenken einzelner Abgeordneter schon bei der Debatte
in den Ausschüssen, aber auch hier im Plenum ernst zu
nehmen.

Ich habe damals auch in meiner persönlichen Erklä-
rung zur Abstimmung genau die Punkte, um die es heute
geht und um die es beim Bundesverfassungsgericht ging,
genannt. Ich bin deshalb auch nach Karlsruhe gefahren
und habe mir dort die Verhandlung angeschaut. Ich habe
auch versucht, bei der Verhandlung des Bundesverfas-
sungsgerichts mitzureden.


(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Ich weiß immer noch nicht, ob der Kollege zustimmt oder nicht!)


Den vorliegenden Gesetzentwurf mit den vorgeschla-
genen Änderungen sehe ich als einen positiven Schritt
an. Das Bundesverfassungsgericht hat ja geklärt, was
verfassungswidrig war, nämlich dieses Neunergremium,
das bei Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit ein sehr
weitgehendes Recht hier im Deutschen Bundestag be-
kommen hatte. Dass das nun korrigiert werden soll, ist
richtig und in Ordnung. Mir geht das aber nicht weit ge-
nug.

Ich habe mir natürlich genau überlegt: Wie soll ich
heute abstimmen? Ich kann nicht übersehen – das sage
ich auch zur Linken –, dass in das geltende Gesetz, das
nicht in Gänze aufgehoben worden ist, deutliche Verbes-
serungen aufgenommen werden sollen. Ich habe lange
geschwankt, um deutlich zu machen, dass ich immer
noch nicht zufrieden bin. Die Kollegin Hinz hat dazu ei-
nige wichtige Aspekte genannt. Ich werde aber trotzdem
zustimmen, weil ich sage: Es ist besser, dass das vorhan-
dene schlechte Gesetz nun konkret verbessert wird und
die verfassungsrechtlichen Bedenken, die wir hatten und
die das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat, jeden-
falls in Teilen aufgenommen werden, als das alte Gesetz
ohne diese Änderungen fortgelten zu lassen, wenn ich
Sie davon hätte überzeugen können, nicht zuzustimmen.

Ich frage vor diesem Hintergrund die Linke: Warum
stimmen nicht auch Sie zu? Sie sehen doch deutlich
– das haben Sie offenbar auch im Haushaltsausschuss
klargemacht – die Verbesserungen, die dieses Gesetz
bringt. Wenn aus einem schlechten Gesetz ein besseres
Gesetz wird, dann kann man eigentlich nicht dagegen
sein.

Deshalb werde ich heute zustimmen – trotz Bauch-
schmerzen. Ich appelliere aber an dieses Haus, die Ver-
fassung in Zukunft ernster zu nehmen.


(Sönke Rix [SPD]: Schön, dass wir das noch einmal gehört haben! – Zuruf von der LINKEN: Da war der Präsident aber nett!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717613000

Vielen Dank. – Ich schließe damit die Aussprache.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes. Der
Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf der Drucksache 17/9435, den Gesetzentwurf
auf der Drucksache 17/9145 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in dieser Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der
Fraktion Die Linke, die dagegen gestimmt hat, ange-
nommen.

Wir rufen nun die

dritte Beratung
und Schlussabstimmung auf. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Gesetzentwurf mit den gerade schon vorgetragenen
Mehrheitsverhältnissen angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 37 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Kampfkraft der Gewerkschaften stärken –
Anti-Streik-Paragraphen abschaffen

– Drucksache 17/9062 (neu)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717613100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Meine Gewerkschaft, die IG Metall, steht mitten in
einer Tarifrunde in der Metallindustrie. Die IG Metall
fordert 6,5 Prozent mehr Lohn, „Gleicher Lohn für glei-
che Arbeit!“ – auch für Leiharbeitnehmer –,


(Beifall bei der LINKEN)


den Ausbau der Mitbestimmung von Betriebsräten beim
Einsatz von Leiharbeit und die unbefristete Übernahme
aller Auszubildenden. Diese Forderungen sind richtig





Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)


und lösen Probleme, die von dieser Regierung nicht ge-
löst wurden.

Die Tarifverträge sind zum 31. März ausgelaufen. Ei-
gentlich sollte in der vierwöchigen Friedenspflicht ein
neuer Tarifvertrag gefunden werden. In den letzten Ver-
handlungen kamen die Arbeitgeber mit einem Angebot
um die Ecke: Sie bieten 2,57 Prozent mehr Lohn für
zwölf Monate und – man höre – eine Arbeitszeitverlän-
gerung.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das ist ja wohl das Letzte!)


Bis zu 30 Prozent der Beschäftigten sollen künftig nach
dem Vorschlag der Arbeitgeber 40 Stunden pro Woche
arbeiten.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Um Gottes willen!)


– Genau, um Gottes willen. – Das ist kein Angebot; das
ist eine Frechheit.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der SPD)


– Wissen Sie, derzeit arbeiten sie 35 Stunden, und künf-
tig sollen sie 40 Stunden arbeiten. Das ist der Unter-
schied.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Entsetzlich!)


Würden Sie die Tarifverträge ein bisschen kennen und
sich daran erinnern, was die Forderungen und Bedingun-
gen der IG Metall an dieser Stelle sind, dann wüssten Sie
das.

Ab nächster Woche wird die IG Metall versuchen, mit
Warnstreiks Druck auf die Arbeitgeber auszuüben. Wenn
das nicht klappt, sind Urabstimmung und Streik geboten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist nicht überraschend, was Sie sagen!)


Streik ist unsere schärfste Waffe. Dem Streik der Be-
schäftigten dürfen die Arbeitgeber Aussperrung entge-
gensetzen. So will es die Rechtsprechung.


(Zuruf von der FDP: Das ist auch gut so!)


Streikrecht ist aber ein demokratisches Grundrecht.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Aussperrung auch!)


Aussperrung ist Richterrecht.


(Beifall bei der LINKEN)


Mit einer Aussperrung verweigern die Arbeitgeber ihren
Beschäftigten Arbeit, Lohn und Zutritt zum Betrieb.

Die Gewerkschaft ist klipp und klar gegen jede Form
von Aussperrung. Im Tariflexikon der IG Metall heißt es
– ich zitiere –:

Aussperrung ist ein willkürliches Kampfmittel der
Arbeitgeber. Sie stellt das Streikrecht in Frage und
muss solidarisch bekämpft werden. Sie ist Unrecht
und gehört verboten.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Stefan Rebmann [SPD])


Die Arbeitgeber hingegen können heiß und kalt aussper-
ren.

Eine heiße Aussperrung betrifft Beschäftigte, die im
bestreikten Tarifgebiet in Betrieben arbeiten, die gerade
nicht zum Streik aufgerufen sind. Eine kalte Aussper-
rung bedeutet, dass auch Beschäftigte ausgesperrt wer-
den, die im Zweifel gar nichts mit dem Streik zu tun ha-
ben. Sie dürfen als Streik- bzw. Aussperrungsfolge nicht
mehr arbeiten.

Wenn Beschäftigte infolgedessen keine Arbeit haben,
war das früher ein klassischer Fall von Kurzarbeit. Das
wurde 1986 mit dem Anti-Streik-Paragrafen abgeschafft.
Bei kalter Aussperrung stehen die Beschäftigten im Re-
gen und bekommen nichts. Das ist ungerecht und unso-
zial.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das glauben Sie alles im Ernst!)


Das treibt einen Keil zwischen Streikende und heiß Aus-
gesperrte und kalt Ausgesperrte.

Die Arbeitgeber ihrerseits bekamen durch den Anti-
Streik-Paragrafen ein zweites Kampfmittel in die Hand.
Sie können Hunderttausende Beschäftigte und ihre Fa-
milien ohne jegliche Unterstützung vor der Türe stehen
lassen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wann war denn das das letzte Mal?)


Damit muss Schluss sein. Wenn die IG Metall im Mai in
einen Streik gehen sollte, dann darf es nicht sein, dass
die Arbeitgeber Beschäftigte willkürlich kalt aussperren
können.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Da muss ja selbst der Ernst lachen!)


Meine Damen und Herren, es ist und bleibt höchste
Zeit, dieses ungerechte und undemokratische Gesetz zu
kippen. Aussperrung gehört verboten.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Stefan Rebmann [SPD])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717613200

Peter Weiß ist der nächste Redner für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1717613300

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Nächste Woche ist der 1. Mai, der Tag der Arbeit.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Genau! Gehen Sie auch hin?)


Er ist Anlass für eine Bestandsaufnahme darüber, wie
sich die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer bei uns in Deutschland entwickelt. An diesem
1. Mai kann man seit langem wieder einmal feststellen:





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


Die Bilanz für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in unserem Land entwickelt sich bislang gut, und das
wird in diesem Jahr voraussichtlich auch so bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nach Zeiten der Massenarbeitslosigkeit mit über
5 Millionen Arbeitslosen im Frühjahr 2005 ist die Ar-
beitslosenzahl Ende März dieses Jahres auf 3,028 Mil-
lionen zurückgegangen. Das bedeutet im Vergleich zum
Vorjahr einen Rückgang von 182 000; das stellt den
niedrigsten Märzwert seit 20 Jahren dar. Die Konjunk-
turdaten mit einem prognostizierten Wachstum um 0,7
bis 0,9 Prozent in diesem Jahr machen Hoffnung,


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Herr Weiß, es geht um Streikrecht! Das ist ein vollkommen falsches Thema! Haben Sie eine falsche Rede dabei?)


dass sich diese Entwicklung fortsetzt. Die Tarifverhand-
lungen im öffentlichen Dienst sind vor diesem Hinter-
grund zu einem, wie ich finde, guten und befriedigenden
Ergebnis gekommen. Es ist davon auszugehen, dass
auch die Tarifverhandlungen im Bereich der Metall- und
Elektroindustrie zu einem ähnlichen Ergebnis kommen
werden, übrigens ohne Mithilfe einer Bundestagsde-
batte, allein durch das engagierte Verhandeln auf Ge-
werkschafts- und Arbeitgeberseite.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der LINKEN: Ha! Ha! Ha!)


Im Vorfeld des Maifeiertages steht nicht mehr so sehr
die Sorge um den Arbeitsplatz im Vordergrund wie zu
Zeiten von Rot-Grün.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ist das Ihre Rede zum 1. Mai, Herr Weiß? – Weiterer Zuruf des Abg. Stefan Rebmann [SPD])


Vielmehr diskutieren wir lebhaft über gute Arbeit, bes-
sere Bezahlung und die Notwendigkeit, mehr Fachkräfte
zu gewinnen. Ich finde, das ist ein Fortschritt, der sich
auch im 1.-Mai-Motto, das die Gewerkschaften ausgege-
ben haben, widerspiegelt: „Gute Arbeit für Europa – Ge-
rechte Löhne, Soziale Sicherheit“.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Gehen Sie einmal hin und hören Sie genau zu! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Keine Armutslöhne! Gerechte Löhne!)


Ich finde, dieses Motto können wir auch über unser Re-
gierungshandeln schreiben. Das ist ein gutes 1.-Mai-
Motto, das unsere Unterstützung hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Gehen Sie einmal hin! Sie werden ausgepfiffen!)


Ich finde es sehr verwunderlich, dass der Linken in ei-
ner solchen Situation nichts anderes zum 1. Mai einfällt,
als eine alte Klamotte aus der Kiste herauszuholen, die
kaum noch jemandem in Erinnerung ist.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Schlimm genug!)


Seit 26 Jahren gelten die derzeitigen Regelungen zum
Streikrecht. Ich gebe ehrlich zu, dass auch ich damals die
entsprechenden Änderungen für problematisch gehalten
habe. Aber nach 26 Jahren, in denen weder den Sozial-
demokraten noch den Grünen – diese haben ja in letzter
Zeit auch regiert – noch der FDP noch uns eine Initiative
in den Sinn gekommen ist, die darauf abzielt, die beste-
henden Regelungen zu ändern,


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Bei euch hätte mich das auch gewundert!)


muss man sagen: Das Problem, das die Linken auftun,
ist eigentlich keines; denn wir können feststellen, dass
die Gewerkschaften unter den Bedingungen des gültigen
Streikrechts sehr wohl erfolgreiche Tarifpolitik in
Deutschland betreiben konnten, notfalls auch durch
Wahrnehmung dieses Rechts.

Ich empfinde das, was die Linke vorträgt, eigentlich
als einen Angriff auf die IG Metall.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn eine Gewerkschaft erfolgreich gezeigt hat, dass sie
die Interessen ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer durchsetzen kann, dann ist es die IG Metall, die üb-
rigens die weltgrößte Einzelgewerkschaft ist. Deswegen
betrachte ich Ihre Aussage, Frau Krellmann, die IG Me-
tall brauche die Hilfestellung der Linken in Form eines
Antrags zur Änderung von bestehenden Gesetzen, um
Tarifrunden erfolgreich zu bestehen, als einen Anschlag
auf das erfolgreiche Verhandeln der IG Metall. Die Ge-
werkschafter bekommen das auch ohne Änderungsan-
trag der Linken sehr gut hin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wir vertrauen unseren Gewerkschaften!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist
doch nicht, wie viele Tage für ein Tarifergebnis gestreikt
worden ist, sondern entscheidend ist, welche Qualität der
Tarifvertrag hat, der unter dem geltenden rechtlichen
Rahmen erzielt wurde. Wenn die Ergebnisse stimmen
und wir zugleich in Europa zu den Ländern gehören, die
die wenigsten Ausfalltage durch Streiks haben, spricht
das doch letztlich für ein gutes Streikrecht und nicht für
ein schlechtes Streikrecht. Die daraus resultierenden
Standortvorteile der deutschen Wirtschaft sind nicht zu
unterschätzen, und sie wirken sich direkt positiv auf den
Arbeitsmarkt und zugunsten der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer aus.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717613400

Herr Kollege Weiß, darf der Kollege Ernst eine Zwi-

schenfrage stellen?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1717613500

Bitte schön.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717613600

Herr Weiß, danke für die Möglichkeit, Ihnen eine

Frage stellen zu dürfen. Es wird wirklich eine Frage.





Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)



(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist nicht selbstverständlich!)


Erstens. Können Sie sich vorstellen, dass die Tatsa-
che, dass wir in der Bundesrepublik mit die wenigsten
Streiktage haben – nur der Vatikanstaat und die Schweiz
haben noch weniger –, etwas damit zu tun hat, dass die
Löhne in der Bundesrepublik Deutschland, gemessen an
unseren europäischen Partnern, prozentual in den letzten
Jahren deutlich gesunken sind?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das müsste doch den gegenteiligen Effekt haben!)


Zweitens. Können Sie sich vorstellen, dass die Tatsa-
che, dass während des Streiks 1984 in der Metallindus-
trie in Hessen und in Baden-Württemberg die Regelung
zum Kurzarbeitergeld verändert wurde, was zur Folge
hatte, dass von kalter Aussperrung betroffene Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer plötzlich kein Kurzarbeiter-
geld mehr erhalten haben, maßgeblich die Stärke der
IG Metall geschwächt und damit das Ergebnis der Ver-
handlungen negativ beeinflusst hat? Können Sie sich das
vorstellen?

Die dritte Frage, die ich anschließen möchte, lautet:
Glauben Sie wirklich, dass die Tatsache, dass das Streik-
recht unter Ihrer Regierung – Herr Blüm war damals
Minister – verändert wurde und für rechtens erklärt
wurde, was das Bundessozialgericht vorher moniert
hatte – das Vorgehen des damaligen Präsidenten der
Bundesanstalt für Arbeit, Herrn Franke, ist ja vom Bun-
dessozialgericht für rechtswidrig erklärt worden –, ohne
Einfluss auf die Kampfkraft der Gewerkschaften geblie-
ben ist? Ob Sie das glauben, möchte ich gerne von Ihnen
hören.


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1717613700

Verehrter Herr Kollege Ernst, ich finde, dass Sie

Rückschlüsse ziehen, die nicht zutreffen. Umgekehrt ist
es richtig.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, eben!)


Das Problem niedriger Entlohnung haben wir in all den
Bereichen, in denen wir leider keine Tarifbindung haben
oder nicht mehr haben, wo also gar nicht gestreikt wird,
weil keine Tarifverhandlungen stattfinden. Da liegt das
Problem.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: In anderen Bereichen haben wir das doch auch!)


In den Bereichen, wo wir starke Gewerkschaften ha-
ben, gerade im Metall- und Elektrobereich oder im Be-
reich der Chemie, haben wir in Deutschland beste
Löhne, die sich auch im internationalen Vergleich sehen
lassen können. Das zeigt: Meine Behauptung stimmt.
Dort, wo Tarifverhandlungen stattfinden und eine Tarif-
bindung vorhanden ist, wo die Bereitschaft von Arbeit-
gebern und Arbeitnehmern besteht, Tarifverträge zu un-
terschreiben, haben wir in Deutschland eine gute
Entlohnung. Unser Problem ist vielmehr, dass wir in vie-
len Bereichen eine zu geringe Tarifbindung haben. Des-

wegen wäre es eigentlich notwendig, Initiativen für
mehr Tarifbindung zu starten, statt eine Initiative zur
Änderung des Streikrechts.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Zu den anderen Fragen sagen Sie nichts! Dann kann ich mich setzen! Es waren drei Fragen! – Weitere Zurufe der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE] und Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Herr Ernst, Sie wissen, dass letztendlich die entspre-
chenden Klagen, die bis vor die obersten Gerichte gin-
gen, abgewiesen wurden und die Regelung von 1986 für
nicht rechtswidrig oder gar verfassungswidrig erklärt
wurde. Deshalb finde ich es müßig, dass Sie solche Fra-
gen stellen.

Ich will zum Schluss zusammenfassen. Wenn man
sich die Geschichte unseres Landes und die Geschichte
der Tarifauseinandersetzungen anschaut, dann sieht man,
dass die Fakten für sich sprechen. Wir haben ein gutes
und funktionierendes Streikrecht. Das Streikrecht ist in
der Tat ein Grundrecht der Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer, mit dem sie ihre Interessen kraftvoll durch-
setzen können.


(Zuruf der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE])


Unionsgeführte Bundesregierungen sind und bleiben
der beste Garant dafür, dass wir in Deutschland ein faires
Streikrecht, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie ha-
ben.

Wir wünschen denen, die verhandeln, viel Erfolg. Wir
sind uns als Politik, als Bundestag und – das darf ich
auch sagen – als die die Regierung tragende Koalition ei-
nig: Wir wollen an dem bewährten Streikrecht festhal-
ten. Wir halten an der Tarifautonomie fest. Wir glauben,
das ist der beste Weg zu guten Löhnen. Dazu braucht es
keine politische Einmischung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717613800

Das Wort erhält nun der Kollege Ottmar Schreiner für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1717613900

Herr Präsident! Die Debatte erinnert sehr stark an

ähnliche Vorgänge in Studentenparlamenten, wie ich sie
früher gewohnt war. Dort lernt man, entweder am Thema
strikt vorbeizureden oder ein Thema taktisch zu miss-
brauchen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, genau!)


Beides kann man dort von der Pike auf lernen. Im Bun-
destag sollte man vielleicht nicht so umfänglich davon
Gebrauch machen.





Ottmar Schreiner


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was werden Sie uns denn heute bieten, Herr Schreiner?)


– Herr Kolb, was Sie bieten werden, kann ich Ihnen jetzt
schon sagen. Sie werden gleich bieten, dass das ganze
Elend der Republik, soweit es noch welches geben
sollte, auf Rot-Grün zurückzuführen ist.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit dieser Vermutung liege ich meistens auch richtig!)


Das ist Ihre Meisterarie, die Sie von morgens bis abends
singen. Sie stehen sogar nachts um drei auf, um sie zu
singen.


(Heiterkeit bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Insofern können Sie eigentlich sitzen bleiben und mir
Ihre Redezeit zur Verfügung stellen. Ich würde sie ver-
mutlich etwas sinnvoller gebrauchen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Weiß, Sie haben im ersten Abschnitt Ih-
rer Rede die Grundregel jedes Studentenparlaments
meisterhaft befolgt, nämlich am Thema vorbeizureden.
Sie haben den Arbeitsmarkt über den grünen, roten und
gelben Klee gelobt. Sie haben gesagt, nicht mehr die
Sorge um den Arbeitsplatz stehe an diesem 1. Mai bei
den Menschen im Mittelpunkt, sondern möglicherweise
andere Sorgen.

Ich kann Ihnen sagen: Nicht nur in den Betrieben und
in vielen Unternehmungen, sondern auch an den Hoch-
schulen ist die Sorge um den Arbeitsplatz die Hauptsorge.
Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Ich war am Montag
voriger Woche auf Einladung eines Kollegen an der Uni-
versität Mannheim und habe dort mit Studenten disku-
tiert. Das, was den Kern dieser Debatte ausmachte, war
die Sorge der Studentinnen und Studenten, dass sie nach
einem erfolgreichen Abschluss, wenn es gut geht, nur ei-
nen zeitlich befristeten Job bekommen, vielleicht für ein
oder zwei Jahre, dann vielleicht eine Verlängerung oder
auch nicht, und, wenn es schlecht geht, einen miserabel
bezahlten Praktikantenjob bekommen.

Das heißt, die Prekarisierung von Arbeit, instabile,
unsichere und ungeschützte Arbeit treibt die Menschen
wirklich um. Wie soll denn ein 30-jähriger junger Mann
oder eine 28-jährige junge Frau sich verantwortungsvoll
für Kinder entscheiden können, wenn sie nicht wissen,
ob sie in zwei Jahren das Kind noch angemessen kleiden
und ernähren können?


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Sie können hier nicht sagen: Die Sorge um den Arbeits-
platz ist gewissermaßen aus dieser Republik vertrieben. –
Dem ist nicht so.

Richtig ist der Hinweis, dass wir einen Rückgang der
Arbeitslosigkeit haben. Das begrüßen wir; das ist auch
anzuerkennen. Im Übrigen sollte man sich die Statisti-
ken aber einmal etwas näher angucken. Nicht ganz zu-
fällig werden ja zwei Statistiken geführt, nämlich die Ar-

beitslosenstatistik, die sehr stark beschönigt, und die
Statistik der Unterbeschäftigung, die näher an den Reali-
täten ist als die erste.

Dann, Herr Kollege Weiß – das kann ich Ihnen auch
nicht so ganz ersparen –, wünschten Sie den Verhandeln-
den – ich nehme an: im Metallbereich – viel Erfolg. Wir
wünschen ausdrücklich der IG Metall viel Erfolg. Das ist
der Unterschied.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt einen handfesten Nachholbedarf der Arbeitneh-
merschaft in Sachen Lohn. Wenn Sie sich die europäi-
schen und die internationalen Statistiken anschauen,
stellen Sie fest: In keinem anderen Land hat es eine ver-
gleichbar zurückhaltende – um es freundlich zu formu-
lieren – Lohnentwicklung gegeben wie in Deutschland.
Wir haben über die letzten 10 oder 15 Jahre im Durch-
schnitt stagnierende Löhne.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sinkende!)


Vielleicht sollten Sie mal wieder die Grundprinzipien
der sozialen Marktwirtschaft studieren. Dass ich auf
meine älteren Tage mal zum Fan von Ludwig Erhard
werden würde, hätte ich nie geglaubt. In dem Buch Wohl-
stand für Alle – der Titel heißt übrigens ausdrücklich
nicht „Wohlstand für wenige Reiche“, Herr Kollege
Kolb, sondern Wohlstand für Alle – steht bereits auf den
ersten Seiten, dass die jährliche Steigerung der Arbeits-
löhne entsprechend der steigenden Arbeitsproduktivität
ein unabdingbarer Bestandteil der sozialen Marktwirt-
schaft ist. Lieber Kollege Weiß, ich würde Ihnen drin-
gendst empfehlen, neben Ihrer üblichen Lektüre gele-
gentlich mal wieder Ludwig Erhard zur Hand zu nehmen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was den Antrag der Linkspartei anbelangt, kommt
auch nicht so richtig Freude auf; denn mein Eindruck ist,
dass der Antrag nicht wirklich ernst gemeint ist. Das hat
jetzt nichts mit Ihrem Namen zu tun, Herr Kollege Ernst,
sondern das hat mit der Art und Weise zu tun, wie Sie
mit diesem Antrag umgehen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das stimmt!)


Der Antrag wurde ja nicht ins normale parlamentarische
Verfahren gebracht. Da hätte man darüber reden können,
ob sich seit 1986 Dinge so geändert haben, dass mögli-
cherweise die Bewertung der Vorgänge etwas anders
ausfallen müsste, oder ob sie sich nicht geändert haben.
Diesen Weg wählen Sie ja nicht. Sie wollen keine gründ-
liche Beratung im Ausschuss. Sie verzichten auf eine
Anhörung von Sachverständigen. Hier wird ein Schnell-
schuss abgefeuert, der den Eindruck nahelegt: Es handelt
sich um ein taktisches Manöver. Es geht in erster Linie
nicht um die Sache, sondern darum, irgendwo im Vor-
feld des 1. Mai Punkte zu gewinnen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: 1.-MaiKlaumauk, sonst nichts!)






Ottmar Schreiner


(A) (C)



(D)(B)


– Ja, dieser Eindruck drängt sich auf. – Deshalb wird es
Sie nicht verwundern, dass wir Ihrem Antrag nicht zu-
stimmen. Für diese taktischen Vorgänge habe ich wenig
Verständnis.

In der Sache haben wir keinen Grund, unsere Position
zu verändern. Es wäre hilfreich gewesen, wenn man das
normale parlamentarische Verfahren angewandt hätte
und wir in Ruhe hätten beraten können, um dann eine
angemessene Bewertung der Vorgänge abgeben zu kön-
nen. Wir werden uns deshalb der Stimme enthalten.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717614000

Nächster Redner ist der Kollege Heinrich Kolb für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1717614100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Volksmund sagt: Alles neu macht der Mai.


(Ottmar Schreiner [SPD]: Das trifft bei Ihnen nicht zu!)


Das mag im Großen und Ganzen gelten. Für die Anträge
der Linken gilt es jedenfalls nicht. Sie bleiben bei ihrer
Linie und bei ihrem alten Paradigma: Die Welt ist
schlecht, die Unternehmen und die Arbeitgeber sind
schlecht, und alles wird nur zulasten der Arbeitnehmer
gemacht.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber die FDP ist gut!)


Aber dieses Paradigma ist von der Realität unendlich
weit entfernt, Herr Kollege Ernst.

Ich habe mich wie der Kollege Schreiner gefragt – es
ist das Überraschende bei der heutigen Debatte, dass wir
da durchaus zum gleichen Ergebnis gekommen sind –:
Was soll dieser Antrag eigentlich? Ich habe mir einmal
die Mühe gemacht, die Zahlen zu den Streiks und Aus-
sperrungen der letzten 60 Jahre heranzuziehen. Wenn
Sie in die Statistik schauen, werden Sie feststellen, dass
wir vor 1986 eine große Zahl aufgrund von Aussperrun-
gen ausgefallener Arbeitstage hatten. Zur Zeit der Gel-
tung des alten Rechts, das Sie wieder einführen wollen,
gab es also viele aufgrund von Aussperrungen ausgefal-
lene Arbeitstage. Seitdem wurde nur noch marginal von
dem Mittel der Aussperrung Gebrauch gemacht. Deswe-
gen ist auch die Frage des Kollegen Lindner berechtigt,
wann überhaupt das letzte Mal ausgesperrt worden ist.


(Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


– Das ist die Statistik; Statistisches Taschenbuch des
BMAS auf der Basis der Zahlen des Statistischen Bun-
desamtes. Suchen Sie sich diese Statistik bitte heraus.
Dann werden Sie feststellen: Das Phänomen Aussper-
rung ist in Deutschland real praktisch nicht existent.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Im Handbuch des Kleinmarxisten existiert es!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717614200

Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Ernst?


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1717614300

Ja.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717614400

Bitte schön.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717614500

Herr Dr. Kolb, das ist doch jetzt wirklich nicht Ihr

Ernst. Sie bemängeln, wenn ich es richtig verstehe, dass
wir seit der Änderung des Streikrechts weniger Aussper-
rungstage haben.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nein, er stellt es fest!)


– Okay; er stellt fest, dass wir weniger Aussperrungstage
haben. – Wollen Sie tatsächlich behaupten, dass die Ar-
beitgeber doch bitte schön auch hätten aussperren kön-
nen, obwohl gar nicht gestreikt wurde? Dann stellen Sie
jetzt doch etwas auf den Kopf. Darauf möchte ich aus-
drücklich hinweisen. Sie äußern sich dahin gehend, dass
Aussperrung als Angriffsaussperrung nicht mehr statt-
findet. Das wäre aber nun wirklich das Letzte, was diese
Republik vernünftigerweise vertragen könnte. Deshalb
finde ich dieses Argument in der Debatte absolut abwe-
gig.

Sie müssten darauf hinweisen, dass insbesondere in
der Metallindustrie – die IG Metall hat diese Änderung
des Streikrechts ganz besonders getroffen, weniger Verdi
oder andere Gewerkschaften, weil die Fernwirkung in
der Metallindustrie logischerweise höher ist als in ande-
ren Bereichen – Folgendes gilt: Man darf zwar noch
streiken, tut es aber nicht, weil es für die Mitglieder pro-
blematisch wird. Ich will das mit einem Vergleich ver-
deutlichen: Wenn Sie den Menschen sagen, dass sie nach
wie vor von einem Zehnmeterbrett ins Schwimmbecken
springen dürfen, dann können sie von dieser Möglichkeit
Gebrauch machen. Wenn Sie aber vorher das Wasser aus
dem Schwimmbecken herausgelassen haben, empfiehlt
es sich nicht, hinunterzuspringen. Genau diese Situation
besteht im Zusammenhang mit dem Streikrecht in der
Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1717614600

Herr Kollege Ernst, da Sie umfassend gefragt haben,

darf ich umfassend antworten. Wenn Sie sich die Zahlen
noch einmal anschauen, werden Sie feststellen, dass die
Veränderungen im Streikgeschehen nicht so gravierend
sind.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: In der Metallindustrie!)


– Das sind die gesamtwirtschaftlichen Zahlen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Eben!)






Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


Sie werden vielmehr feststellen, dass das Streikgesche-
hen im Verlauf der Jahre doch ziemlich gleich geblieben
ist – wenngleich wir feststellen können, dass wir in den
letzten Jahren doch relativ wenige Streiks in Deutsch-
land hatten, was vielleicht auch mit der Wirtschafts- und
Finanzkrise zu tun hat. Über lange Zeiträume gesehen ist
meine Aussage aber richtig. Vor 1986 hatten wir viele
Streiks und viele Aussperrungen. Nach 1986 hatten wir
weiterhin viele Streiks, aber keine Aussperrungen.

Ich versuche ja nur, Ihren Ansatz zu verstehen. Wenn
das, was Sie offensichtlich umtreibt, richtig wäre,
müsste man doch sagen: Nachdem 1986 das Recht ge-
ändert worden war – aus Ihrer Sicht zulasten der Ge-
werkschaften –, haben die Gewerkschaften irgendwann
einmal versucht, zu streiken, und sind dann von flächen-
hafter Aussperrung der Arbeitgeber getroffen worden.
Weil sie sich das nicht leisten konnten, sind sie zurück-
geschreckt und haben es fortan nicht mehr probiert.

Dies spiegelt sich aber nicht in den Statistiken wider.
Mit der Ersetzung des § 116 AFG durch den jetzigen
§ 160 SGB III ist erreicht worden, dass die Spieße wie-
der gleich lang sind. Ich finde, dass wir eine ausgewo-
gene Verteilung der Kampfkraft zwischen Gewerkschaf-
ten und Arbeitgebern in Deutschland vorfinden. Diese
ausgewogene Verteilung hat zu entsprechenden Ergeb-
nissen geführt.

Ich möchte Ihnen noch ein Zweites sagen. Vorhin gab
es einen Zwischenruf, dass wir so niedrige Löhne haben,
weil die Gewerkschaften so selten streiken. Es müsste
doch eigentlich umgekehrt sein: Wenn wir niedrige
Löhne haben, dann müssten die Gewerkschaften doch
oft streiken. Aber offensichtlich gibt es bei uns Gewerk-
schaften, die Gott sei Dank wissen, was gesamtwirt-
schaftlich geboten ist, und die sich in den letzten Jahren
mit ihren Forderungen am Bereich des Möglichen orien-
tiert haben.


(Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


– Herr Ernst, versprochen, ich schicke Ihnen die Zahlen
ins Büro. Schauen Sie sich diese in Ruhe an. Wenn der
1. Mai vorbei ist und Sie in sich gehen, werden Sie fest-
stellen, dass das, was ich gesagt habe, gar nicht so ver-
kehrt ist. Ihre Ansätze kann man nur schwer nachvollzie-
hen.

Ich will darauf hinweisen, dass im alten wie im neuen
Recht, also sowohl in § 116 AFG als auch in § 160
SGB III, der Kernsatz stand:

Durch die Leistung von Arbeitslosengeld darf nicht
in Arbeitskämpfe eingegriffen werden.

Dazu gehört auch die Leistung von Kurzarbeitergeld.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Auch der Entzug von Kurzarbeitergeld!)


Das ist ein wichtiger Punkt. Der Staat darf die Unterneh-
men nicht subventionieren, wenn sie zum Beispiel in-
folge wirtschaftlicher Probleme Umsatzeinbußen erlei-
den oder wenn sie bestreikt werden. Aber der Staat darf
auch nicht mit Mitteln der Beitragszahler – das war da-
mals die Diskussion – Unterstützung für streikende Ar-

beitnehmer leisten. Im Kern geht es um die Neutralitäts-
pflicht des Staates in Auseinandersetzungen zwischen
Tarifpartnern.

Hier muss ich mich wiederholen: Im aktuell gelten-
den Recht ist es in vorbildlicher Weise gelungen, diese
Neutralität zu gewährleisten. Praktisch geschieht dies
auf der Basis von Richterrecht; auch das hat die Kollegin
Krellmann kritisiert. Das ist einfach Ausfluss der Tat-
sache, dass wir im Bereich des Tarifvertragsrechts auf
eine Normierung im Gesetz – unabhängig davon, wer in
diesem Land regiert hat – weitgehend verzichtet haben.
In Einzelfallentscheidungen zeigte sich, was geht und
was nicht geht.

Wir sind insgesamt auf einem guten Weg. Ich glaube,
dass die Arbeitnehmer in Deutschland – in der Debatte
ist der wichtige Aspekt Arbeitsplatzsicherheit genannt
worden – gerade in dieser schwierigen Zeit, gerade auch
im internationalen Vergleich sagen können: Wir haben
eine stabile Wirtschaftsordnung und stabile Unterneh-
men in Deutschland. – Das kommt gerade den Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern zugute.


(Stefan Rebmann [SPD]: Bei guter Bezahlung!)


– Bei guter Bezahlung. Danke für den Zwischenruf. Ich
will gerne noch ausführen: Es gibt eine gute Bezahlung,
weil wir gute Gewerkschaften haben.

Einen anderen Aspekt will ich noch nennen: Gott sei
Dank ist es so, dass entgegen vielen Unkenrufen die pre-
käre Beschäftigung in Deutschland nicht der Normalfall
ist. Der Normalfall ist immer noch ein Vollzeitarbeits-
verhältnis mit einer guten Absicherung und einer guten
Entlohnung durch Tarifverträge. 60 Prozent der Arbeit-
nehmer sind direkt tarifgebunden, 20 Prozent sind durch
Bezugnahme auf Tarifverträge tarifgebunden; das sind
insgesamt 80 Prozent, also vier Fünftel der Arbeitneh-
mer.

Das zeigt: Unser System ist gut. Den Handlungsbe-
darf, den Sie in Ihrem Antrag mühsam zu konstruieren
versuchen, gibt es nicht. Die schon lange zurückliegende
Änderung des § 116 AFG hat nicht annähernd die Fol-
gen gezeigt, die Sie hier beschreiben. Aussperrungen
sind aus anderen Gründen aus dem Rahmen des Arbeits-
kampfes herausgefallen. Die Gewerkschaften und die
Arbeitgeber führen ihre Verhandlungen anders, aber im-
mer zum Wohle unserer Volkswirtschaft. Ich hoffe, das
bleibt auch so.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717614700

Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Es waren die Streiks um die 35-Stun-
den-Woche, die zum Antistreikparagrafen geführt haben,





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)


und es war Norbert Blüm, der das gegen den erbitterten
Widerstand der Gewerkschaften durchgedrückt hat. Der
damalige schwarz-gelbe Angriff auf die Streikfähigkeit
war heftig und hat insbesondere die IG Metall und die
IG BCE getroffen. Aber das Vorhaben ist missglückt.
Die Gewerkschaften haben sich auf die neue Situation
eingestellt, und sie sind heute noch immer hervorragend
organisiert. Dieser Leistung gebührt unsere Anerken-
nung und unser Respekt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Heute aber kommt die Linke und zaubert diese Ver-
gangenheit aus dem Hut. Ich bin wahrlich viel mit den
Gewerkschaften im Gespräch. Ich kann jedoch keinen
aktuellen Anlass ausmachen, dieses Thema auf die Ta-
gesordnung zu setzen, es sei denn, man möchte während
der laufenden Tarifrunde und vor dem 1. Mai einen sym-
bolischen Antrag stellen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist die Triebfeder!)


Das wird aber – das möchte ich mit aller Deutlichkeit sa-
gen – diesem ernsten Thema nicht gerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Für uns Grüne ist die Tarifautonomie ein hohes Gut.
Die Tarifautonomie funktioniert natürlich nur dann,
wenn ein Gleichgewicht der Kampfmittel gegeben ist. In
diesem Sinne ist die damalige Änderung natürlich unzu-
reichend; denn mit der kalten Aussperrung – eben ohne
Kurzarbeitergeld – wurde die Arbeitgeberseite zulasten
der Gewerkschaften gestärkt. Herr Kolb, es stimmt ein-
fach nicht, dass – so wie Sie es ausgedrückt haben – die
Spieße gleich lang sind. Deshalb hat das Bundesverfas-
sungsgericht den § 146 SGB III als „gerade noch verfas-
sungsgemäß“ bezeichnet. Es hat zwar nicht die Rote,
aber doch die Gelbe Karte gezogen.

Heute fordert die Linke einfach nur die Wiedereinfüh-
rung der alten Regelung. Wenn wir aber Chancengleich-
heit, Kampfparität und auch Neutralitätspflicht der Bun-
desagentur für Arbeit herstellen wollen, dann müssen
wir angesichts unserer verflochtenen Wirtschaft die mit-
telbare Streikbetroffenheit sowie die kalte Aussperrung
beurteilen und definieren. Es müssen also Kriterien ent-
wickelt werden, die auch zeitgemäß sind.

Eine solche Auseinandersetzung ist in der Tat nicht
einfach. Sie müsste im parlamentarischen Verfahren aus-
führlich mit den Sozialpartnern, das heißt mit den Ge-
werkschaften und mit der Wirtschaft, geführt werden.
Diese spannende Diskussion soll jedoch nach dem Wil-
len der Linken nicht stattfinden, da wir heute sofort ab-
stimmen werden. Ich sagte es schon einmal: Das wird
diesem komplexen Thema nicht gerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Der Antistreikparagraf und die veränderten Kräfte-
verhältnisse waren für die Gewerkschaften selbstver-

ständlich eine große Herausforderung. Insbesondere die
IG Metall musste ihre Streikstrategie verändern und zu-
nehmend die immer stärkeren Verflechtungen, die lan-
gen Lieferketten und eventuelle Fernwirkungen beim
Arbeitskampf beachten. Und doch haben gerade die
IG Metall und die IG BCE stets gute Lohnabschlüsse er-
zielt,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)


aber, Herr Kolb, sie haben in den letzten zehn Jahren den
verteilungsneutralen Spielraum oft nicht ausschöpfen
können.

Jetzt stellt sich die Frage: Liegt das ausschließlich am
Antistreikparagrafen, oder gibt es auch andere Gründe?
Die Antworten auf diese Fragen sind notwendig, wenn
man die Gewerkschaften stärken will. Auch diese inhalt-
liche Diskussion können wir wegen der anstehenden So-
fortabstimmung nicht führen. Wieder muss ich sagen:
Eine ernsthafte Debatte sieht anders aus.

Mein Fazit lautet: Für dieses Thema wäre ein norma-
les parlamentarisches Verfahren mit Anhörung angemes-
sen gewesen. Das Thema ist komplex und übrigens auch
hochspannend, zumal der Antistreikparagraf damals ge-
sellschaftlich extrem umstritten war und die Gemüter be-
wegt hat. Sie, die Linke, machen aus all dem leider nur
ein Spektakel. Deshalb werden auch wir Grünen uns ent-
halten. Wir wollen bei diesem Spiel nämlich nicht mit-
machen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717614800

Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1717614900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Liebe Frau Krellmann, ich habe mit
dem Weltbild der Linken immer wieder meine Schwie-
rigkeiten. Sie haben in Ihrer Eingangsrede ausgeführt:
Streikrecht ja, Aussperrungsrecht nein. Das heißt, bei Ih-
nen geht Arbeitskampf so: Der eine kämpft mit Waffen,
der andere ist unbewaffnet. Wenn das ernsthaft Ihr Welt-
bild sein soll, liebe Frau Krellmann, dann zeigt das, wie
weit Sie von einem fairen Arbeitskampf entfernt sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Frau Krellmann und Herr Birkwald, Sie können es
nicht wissen, aber von Herrn Ernst hätte ich erwartet,
dass er es weiß: Am 8. März 2006, also in der letzten
Wahlperiode, hatte die Linke, ebenfalls im Vorfeld des
1. Mai, den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Dritten Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 16/856,
eingebracht, wobei der Inhalt absolut gleich mit dem des
heute diskutierten Antrags ist.





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, da hätten sie sich mal was Neues einfallen lassen müssen!)


Und täglich grüßt das Murmeltier, sage ich da nur, Herr
Ernst. Letztendlich kommt nichts dabei herum, wenn Sie
spätestens alle sechs Jahre die alte Soße aufwärmen, nur
um als Gewerkschafter ein Thema für eine Auseinander-
setzung vor dem 1. Mai zu haben.

Aus fachlicher Sicht, lieber Herr Ernst, besteht eben-
falls keine Notwendigkeit, die Regelungen zur Neutrali-
tätspflicht der Bundesagentur im Arbeitskampf zu verän-
dern. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1995 die
geltende Regelung für verfassungsgemäß erklärt; Ent-
scheidung vom 4. Juli 1995, Aktenzeichen 1 BvF 2/86;
vielleicht möchten Sie das nachlesen. Das Gericht hat
dabei gefordert, dass der Gesetzgeber Maßnahmen zur
Wahrung der Tarifautonomie treffen muss, wenn sich
zeigen sollte, dass in der Folge dieser Regelung struktu-
relle Ungleichheiten der Tarifvertragsparteien auftreten,
die ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen nicht mehr zulassen und durch
die Rechtsprechung nicht ausgeglichen werden können.
Dafür gibt es keinerlei Hinweise.

Die immer wiederkehrende Diskussion um den soge-
nannten Streikparagrafen – ich verweise auf Ihren heuti-
gen Antrag – hat Züge einer ideologischen Debatte;
nichts anderes ist das, was Sie heute hier aufführen. Die
tatsächlichen Ergebnisse der Arbeitskämpfe seit 1986
hingegen zeigen, dass die Schlagkraft der Gewerkschaf-
ten von der gesetzlichen Regelung nicht beeinträchtigt
wird. In der in erster Linie betroffenen Metall- und Elek-
troindustrie – Frau Krellmann, jetzt müssen Sie tapfer
sein – beklagen regelmäßig die Arbeitgeber, dass die Ta-
rifergebnisse tendenziell zu ihren Lasten gehen. Herr
Schreiner, Sie sind der Auffassung, es sei zu wenig Lohn
ausgehandelt worden. Auch in der Metallindustrie be-
steht durchaus die Tendenz, die in den letzten Jahren ge-
mäßigte Lohnzurückhaltung zumindest zum größten Teil
aufzugeben.

Pünktlich zum 1. Mai – ich habe es bereits ausgeführt
– präsentieren Sie uns einen Antrag, mit dem Sie von der
Bundesregierung fordern, lieber Herr Ernst, einen Ge-
setzentwurf vorzulegen, mit dem § 146 SGB III den
Wortlaut des früheren § 116 Arbeitsförderungsgesetz in
der Fassung von 1969 erhält. Die 1986 von der unions-
geführten Bundesregierung beschlossene Änderung des
§ 116 AFG ordnet das Ruhen des Anspruchs auf Kurz-
arbeitergeld dann an, wenn streik- und aussperrungsbe-
dingte Produktionsausfälle dazu beitragen, dass in einem
nicht umkämpften Betrieb die Arbeit ebenfalls ruhen
muss. Die Ansprüche der Versicherten ruhen also, wenn
und soweit durch die Gewährung von Leistungen der Ar-
beitsförderung in den Arbeitskampf eingegriffen würde.
Das ist unser Verständnis von Parität, von Ausgewogen-
heit, von Waffengleichheit im Arbeitskampf.

Der Leistungsanspruch ist im Grundsatz ausgeschlos-
sen, wenn die Arbeitnehmer erwarten dürfen, am Ergeb-
nis des Arbeitskampfes zu partizipieren. All dies hätte
Ihnen bei Durchsicht der gesetzlichen Bestimmungen
durchaus auffallen können. Hierdurch sollen gerade das
Gleichgewicht der in einem Arbeitskampf wirkenden

Kräfte nicht gestört und die Chancengleichheit der Tarif-
vertragsparteien in dieser Auseinandersetzung gewahrt
werden. Die Regelung des § 160 SGB III, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der Linken, ist kein weiteres
Kampfmittel der Arbeitgeber zur Beschneidung der
Streikmöglichkeiten der Gewerkschaften, wie Sie es
gerne darstellen, sondern sie sichert vielmehr die Neu-
tralität des Staates und der Bundesagentur für Arbeit bei
Arbeitskämpfen und folgt somit dem Gebot aus Art. 9
Abs. 3 Grundgesetz.

Lieber Kollege Ottmar Schreiner, in diesem Fall teile
ich Ihre Auffassung – sonst sind wir nicht immer einer
Meinung –, dass der heute zur Abstimmung stehende
Antrag, der inhaltlich gar nicht beraten werden soll,
letztendlich nur dazu dient, ein Buhei um den 1. Mai zu
machen. Lieber Klaus Ernst, es wird Sie nicht überra-
schen, dass wir diesen Antrag ablehnen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wün-
sche Ihnen einen guten Nachhauseweg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717615000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9062 (neu) mit
dem Titel „Kampfkraft der Gewerkschaften stärken –
Anti-Streik-Paragraphen abschaffen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei
Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Erweiterung der jugendgerichtli-
chen Handlungsmöglichkeiten

– Drucksache 17/9389 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Jörg
van Essen für die FDP-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1717615100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

haben heute die erste Lesung eines Gesetzentwurfs zur
Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmög-
lichkeiten. Die Überschrift ist schon Programm: Es soll
eine Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungs-
möglichkeiten sein.





Jörg van Essen


(A) (C)



(D)(B)


Wenn ich mir die drei Elemente des Gesetzentwurfs
anschaue, habe ich das Gefühl, dass das Element der
Vorbewährung in der juristischen Diskussion weitge-
hend unkritisch betrachtet wird. Wir haben da sehr unter-
schiedliche Handhabungen durch Jugendgerichte. Bei
diesem Instrument, zu dem es bisher keine rechtliche
Regelung im Jugendgerichtsgesetz gibt – es wird manch-
mal zur Abschreckung angewandt, manchmal anders –,
ist es, wie wir wissen, wichtig, klare Leitlinien und Be-
stimmungen zu haben. Ich denke, dass das mit diesem
Vorschlag erreicht wird: Es wird klargemacht, wo die
Vorbewährung, von der die Jugendgerichte jetzt schon
Gebrauch machen, angewandt werden kann und wo das
nicht zulässig ist.

Der zweite Punkt ist dann schon strittiger: die Frage
der Anhebung der Höchststrafe bei Straftaten von Ju-
gendlichen und Heranwachsenden. Eine Anhebung ist
immer wieder gefordert worden, auch – das muss man
sagen – von Gerichten. Insbesondere wenn bestialische
Mordtaten begangen worden sind, haben die Gerichte
gesagt, dass die bisherige Höchststrafe im Jugendrecht,
nämlich eine Freiheitsstrafe von 10 Jahren, der Schuld
nicht angemessen ist.

Ich glaube, dass wir mit dem, was wir hier vorschla-
gen, einen sehr vernünftigen Mittelweg gehen:


(Beifall der Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP] und Andrea Astrid Voßhoff [CDU/ CSU] – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Mittelweg“ schon, aber nicht „vernünftig“!)


Wir heben die Freiheitsstrafe für die Jugendlichen nicht
an; entsprechende Forderungen hat es auch gegeben.
Das heißt, bei Jugendlichen bleibt es bei der bisherigen
Höchststrafe von zehn Jahren. Dass das richtig ist, kön-
nen Sie folgender Überlegung entnehmen: Unser jetzt
geltendes Jugendrecht stammt aus den 20er-Jahren. Da-
mals galt in Deutschland noch die Todesstrafe, und trotz-
dem hat sich der Gesetzgeber damals für eine Höchst-
strafe bei Jugendlichen von 10 Jahren ausgesprochen; er
hat sie für angemessen gehalten. Wenn das schon unter
den damaligen Umständen richtig und vernünftig war,
dann gilt das heute sicherlich auch.

Was die Heranwachsenden anbelangt, wenden die
Gerichte, wie wir wissen, in vielen Fällen, in denen sie
sich nicht sicher sind, wie ein junger Mensch einzustu-
fen ist – bei Heranwachsenden kann man je nach der
Entwicklung entweder Jugendrecht oder Erwachsenen-
recht anwenden –, das Jugendrecht an. Ich halte auch das
für richtig. Aber wenn das Jugendrecht angewendet
wird, dann – darauf haben Kammern hingewiesen –
reicht der mögliche Strafausspruch von 10 Jahren Frei-
heitsentzug bei besonders schweren Taten oft nicht aus.
Hier räumen wir jetzt die Möglichkeit ein, bis zu 15 Jah-
ren Freiheitsstrafe zu verhängen.

Das wird im Übrigen nach meiner Auffassung nicht
dazu führen, dass wir jetzt ganz viele Urteilssprüche mit
einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren haben werden,
sondern es wird dazu führen, dass die Gerichte die bishe-
rige Höchststrafe von 10 Jahren tatsächlich einmal ver-

hängen. Bisher sehen wir, dass die Strafaussprüche in
ganz vielen Fällen erheblich unter der aktuellen Höchst-
grenze von 10 Jahren Freiheitsstrafe bleiben. Insofern
sind wir hinter den Forderungen zurückgeblieben, die
zum Teil in der Öffentlichkeit und auch von Länderseite
erhoben worden sind. Ich glaube, dass das, wie gesagt,
ein sehr vernünftiger Vorschlag ist.

Was insbesondere in der interessierten Öffentlichkeit
den meisten Widerspruch hervorgerufen hat, ist der
Warnschussarrest. Das wundert mich wirklich sehr; denn
wir verlassen nicht die pädagogische Ausrichtung des
Jugendrechts. Es bleibt bei der bisherigen und, wie ich
finde, bewährten pädagogischen Ausrichtung des Ju-
gendrechts.

Dass sie richtig, gut und vernünftig ist, sehen wir an
folgendem Umstand: Ein ganz großer Teil der Jugendli-
chen, die vor Gericht stehen, stehen nur ein einziges Mal
vor Gericht, danach nie wieder. Das zeigt: Was von den
Jugendrichtern als Maßnahme ausgesprochen wird, ver-
fehlt seine Wirkung offensichtlich nicht. Das spricht im
Übrigen auch für unsere Jugend; das zeigt nämlich, dass
sie lernfähig ist. Wenn jemand einmal einen Fehler ge-
macht hat, dann nimmt er es sich zu Herzen und begeht
den Fehler nicht ein zweites Mal.

Ein Problem sind die Intensivtäter; mit ihnen müssen
wir uns befassen. Es hilft nicht, zu betonen, dass die
Zahl der jugendlichen Straftäter zurückgegangen ist;
denn es wäre auch ein Wunder, wenn es nicht so wäre.
Wir haben nämlich immer weniger junge Menschen, und
wenn wir weniger junge Menschen haben – wir wissen
das –, dann geschehen natürlich auch weniger Straftaten.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das entbehrt nicht einer gewissen Logik!)


Dieses Argument kann man also wirklich nicht anfüh-
ren. Ich bin immer wieder überrascht, dass es Juraprofes-
soren gibt, die das an den Beginn ihrer Ausführungen
zum Warnschussarrest stellen. Natürlich ist es so, dass
wir weniger Jugendliche haben und damit – Gott sei
Dank – weniger Straftaten. Aber die Zahl der Intensiv-
straftäter bleibt weiterhin hoch. Deshalb müssen wir uns
Gedanken darüber machen, wie wir mit ihnen umgehen.

Ich bin in meiner Anfangszeit als Staatsanwalt in ei-
ner Gruppe gewesen, in der wir schwierige Entscheidun-
gen mit den Jugendlichen selbst besprochen haben. Ich
habe bei dieser Gelegenheit immer wieder den Vorwurf
gehört, sie hätten es lieber gehabt, wenn man ihnen frü-
her einen Warnschuss verpasst hätte; so wurde das zum
Teil ausgedrückt. Das macht die Verantwortung deutlich,
die wir haben. Unser Vorschlag zum Warnschussarrest
beinhaltet nicht den Zwang, irgendetwas zu tun. Viel-
mehr ist es so: Zu der Klaviatur, auf der der Jugendrich-
ter spielen kann, um eine pädagogisch angemessene
Maßnahme zu ergreifen, fügen wir eine Taste hinzu.
Nichts anderes tun wir.

Ich sehe, dass meine Redezeit abgelaufen ist, daher
komme ich zu meiner letzten Bemerkung. Auch die Län-
der tragen Verantwortung. Das ganze Vorhaben macht
nur Sinn, wenn der Arrest pädagogisch vernünftig voll-
zogen werden kann und wenn es nicht zu lange dauert,





Jörg van Essen


(A) (C)



(D)(B)


bis jemand den Arrest antreten kann. In diesem Bereich
gibt es erhebliche Fehlentwicklungen. Ich hoffe, dass die
Jugendrichter von dieser zusätzlichen Taste nur dann
Gebrauch machen, wenn die Länder die Voraussetzun-
gen für den Arrest erheblich verbessern. Die tatsächli-
chen Voraussetzungen können nur von den Ländern ge-
schaffen werden – sie haben den Warnschussarrest
immer wieder gefordert –, wir können nur die rechtli-
chen Voraussetzungen schaffen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717615200

Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Dr. Edgar Franke [SPD]: Guter Mann!)



Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1717615300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Jugend-

kriminalität lässt sich nicht mit dem Warnschuss be-
kämpfen.“


(Jörg van Essen [FDP]: Behaupten wir auch nicht!)


Ein kluger Satz, aber er stammt leider nicht von mir,
sondern von unserer derzeitigen Bundesjustizministerin.
Gesagt hat sie ihn im Jahr 2008. Damals war sie noch
nicht Bundesjustizministerin, sie saß noch in der Oppo-
sition und wusste anscheinend noch, was in der Rechts-
politik richtig und falsch ist.

Noch ein paar Sätze gefällig? Am 24. September
2009, also drei Tage vor der letzten Bundestagswahl,
wurde die damalige Oppositionsabgeordnete Frau
Leutheusser-Schnarrenberger von einem Bürger über
abgeordnetenwatch.de gefragt, was sie von einer Herauf-
setzung der Höchststrafe für Jugendliche und Heran-
wachsende hält.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts!)


Die Antwort:

Die FDP lehnt eine Verschärfung des Strafmaßes
entschieden ab. Ein Strafrahmen im Gesetzbuch hat
keine abschreckende Wirkung.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Einige Tage zuvor, nämlich am 16. September, führte
Frau Leutheusser-Schnarrenberger im Deutschlandfunk
zur gleichen Thematik aus – ich darf noch einmal zitie-
ren –:

Wir halten auch nicht wirklich viel davon, … jetzt
wieder über eine schon lange im Raum stehende
Verschärfung von Strafrahmen nachzudenken, denn
das ist nicht das eigentliche Problem. Es können
heute schon hohe Strafen verhängt werden und die
schrecken dumme Menschen nicht ab.

Was wir heute debattieren, ist ein dummer Gesetzent-
wurf. Es bleibt der fade Beigeschmack, dass die Bundes-
justizministerin und die FDP wieder einmal eingeknickt
sind, sonst könnten wir uns nämlich die heutige Debatte
ersparen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Meine Position habe ich immer vertreten, lieber Herr Lischka!)


Diese Debatte und insbesondere der vorliegende Ge-
setzentwurf sind vollkommen unnötig; denn sie weisen
in die falsche Richtung. Die Heraufsetzung der Höchst-
strafe von 10 auf 15 Jahre ist reine Augenwischerei. Sie
zielt in der Praxis nur auf Tötungsdelikte ab. Die sind
aber in den vergangenen Jahren um 30 Prozent zurück-
gegangen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So viel weniger Jugendliche haben wir auch nicht!)


Im Übrigen werden jedes Jahr nur 90 Jugendliche und
Heranwachsende zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die
zwischen 5 und 10 Jahren liegt. 0,09 Prozent der Jugend-
lichen und Heranwachsenden werden also verurteilt. Nur
eine Handvoll hiervon – nämlich circa 6 bis 7 pro Jahr –
erhalten die Höchststrafe von 10 Jahren. Darauf zielt
aber Ihr Gesetzentwurf. Sie machen in diesem Fall ein
Gesetz für sechs bis sieben Heranwachsende. Das ist
doch keine effektive Bekämpfung der Jugendkriminali-
tät, sondern nur der blanke Aktionismus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch der Warnschussarrest, Herr van Essen, ist nun
wirklich nichts Neues. Die Idee gibt es schon seit über
zehn Jahren. Übrigens wurde diese Idee in der Fachwelt
schon damals einhellig abgelehnt: vom Richterbund, von
den Jugendrichtern, von der Polizeigewerkschaft, von
den Strafverteidigern, von den Bewährungshelfern und
eben auch von Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Die
gehört heute aber nicht mehr zu den Kritikern, was die-
sen Gesetzentwurf aber nicht wirklich besser macht. All
die Argumente, die seit Jahren gegen den Warnschussar-
rest angeführt werden, gelten unvermindert fort. Der Ju-
gendarrest, den wir schon heute haben und der bis zu
vier Wochen dauern kann, ist das wohl wirkungsloseste
Instrument, das wir überhaupt im Jugendstrafrecht ken-
nen.


(Jörg van Essen [FDP]: Dann müssen Sie dafür sorgen, dass er abgeschafft wird!)


Fast 70 Prozent der Jugendlichen – damit muss man sich
einmal beschäftigen, Herr van Essen – werden nämlich
nach der Verbüßung eines Arrests wieder straffällig.
Denn hier gilt eine alte Binsenweisheit: Wer Jugendliche
für ein paar Wochen mit Kriminellen zusammensperrt,
produziert keine rechtschaffenen Bürger, sondern fördert
nur kriminelle Karrieren.





Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)



(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


Viele Jugendliche kommen da doch erst so richtig mit ei-
nem Milieu in Kontakt, das ihre Läuterung überhaupt
nicht fördert. Sehen Sie sich die Zahlen an: Viele Ju-
gendliche werden im Knast nicht abgeschreckt, sondern
erst richtig angesteckt.

Dass man hier nach außen hin auf Härte setzt, mag
auf den ersten Blick populär erscheinen; aber Herr van
Essen, Sie müssten es eigentlich wissen: Beim Jugend-
strafrecht geht es nicht um Milde oder Härte, sondern
um Wirksamkeit. Und da hat der Warnschussarrest über-
haupt nichts zu bieten. Das, was Sie hier wollen, ist kein
Warnschuss, sondern ein Rohrkrepierer. So bekämpft
man kriminelle Karrieren nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Stattdessen ist es wichtig, dass wir das Risiko des Er-
wischtwerdens hochhalten. Wichtig ist, dass die Strafe
der Tat auf dem Fuße folgt. Was nutzt es eigentlich,
wenn jemand ein Jahr nach seiner Tat in irgendeinen
Warnschussarrest einrückt? Wir müssen durch ganz
klare und konsequente Interventionsmaßnahmen an das
verfestigte Problemverhalten einiger krimineller Jugend-
licher heran. Das ist vielleicht weniger cool und auch an-
strengender als ein paar Tage Stubenarrest, aber es lohnt
sich. Über solche Modelle sollten Sie nachdenken; aber
Sie zeigen in der Rechtspolitik nicht klare Kante, son-
dern nur dicke Lippe.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717615400

Herr Kollege – –


Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1717615500

Auf unsere Unterstützung werden Sie dabei verzich-

ten müssen.

Danke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717615600

Herr Kollege, bleiben Sie noch einen Moment stehen.

Sie können Ihre Redezeit verlängern, wenn Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Kauder erlauben – eine
Nachfrage in diesem Fall.


Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1717615700

Ja, das mache ich.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717615800

Also, bitte schön.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Herr Kollege, können Sie mir bitte erklären, wie ein
Warnschussarrest eine kriminelle Karriere fördern kann?
Sitzen in der Arrestanstalt die Schwerkriminellen oder
die, die auch einen Warnschussarrest verbüßen?


Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1717615900

Nein, aber da sitzen Jugendliche, die meist schon ei-

niges an Kriminalitätserfahrung haben.


(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Genau nicht!)


Es ist so, dass jemand, der zu einer Freiheitsstrafe auf
Bewährung verurteilt wird, schon einiges hinter sich hat.
Der hatte übrigens auch schon seinen Warnschuss; er hat
ihn nur überhört. Deshalb frage ich mich, was da ein
zweiter Warnschuss soll, Herr Kauder.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717616000

Das Wort hat nun Ansgar Heveling für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1717616100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Kollege Lischka, die Bundesjustizministerin
mag es möglicherweise bedauern, dass die FDP nicht
nur aus ihr besteht, sondern eben auch aus vielen ande-
ren Kolleginnen und Kollegen


(Burkhard Lischka [SPD]: In dem Fall: Leider!)


und dass bei uns in der Regierungskoalition die Welt
bunter ist als in der SPD. Jedenfalls haben wir innerhalb
der Koalition in den letzten Wochen sehr fruchtbare Dis-
kussionen geführt. Insbesondere haben wir uns darüber
auf Berichterstatterebene mehrfach mit dem Herrn Kol-
legen van Essen, der gerade gesprochen hat, unterhalten.
Ich kann nur sagen: Über das Ziel waren wir uns recht
einig.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da waren die beiden Richtigen zusammen!)


Ich finde, es ist ein sehr einfacher Weg, hier einzelne
Personen herauszugreifen.


(Burkhard Lischka [SPD]: Es ist ja nicht irgendwer, über den ich geredet habe! Das ist ja immerhin die Bundesjustizministerin!)


Ich glaube, auch die SPD besteht aus mehr Personen und
nicht nur aus Ihnen. Aber vielleicht sehen Sie ja auch das
anders.

Interessant ist, dass Sie die Wirkung eines Instru-
ments, das es noch gar nicht gibt, schon kennen.


(Burkhard Lischka [SPD]: Reden Sie einmal mit Experten, mit Praktikern!)


Sie haben sehr deutlich gesagt, was das Ergebnis der
Einführung des Warnschussarrests sein wird. Ich bin da
interessierter und offener. Wenn wir das Instrument ha-
ben, werden wir es irgendwann bewerten können und si-
cherlich auch bewerten müssen. Die dafür notwendige
Zeit sollten wir uns aber nehmen.





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)


Es wirkt geradezu wie ein unglaublicher Zufall, dass
vor einigen Tagen im Fernsehen des Westdeutschen
Rundfunks eine Talkshow zum Thema „Berufe und Be-
rufung“ ausgestrahlt wurde. Darin kam ein pensionierter
Polizeibeamter zu Wort, der zu seiner Berufung zum
Polizeibeamten sinngemäß erklärte, er sei zur Polizei ge-
kommen, weil er selbst als Jugendlicher einmal im Ar-
rest gesessen habe.

Die Geschichte, die er dazu erzählte, war diese: Er sei
wegen einer Rauferei unter Jugendlichen vom Gericht
verurteilt worden.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen machen Sie das! Jetzt verstehen wir das überhaupt erst!)


– Herr Kollege Montag, es ist ja schön, dass Sie versu-
chen wollen, mich zu verstehen. Hören Sie aber am bes-
ten zu. Dann mag das auch gelingen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tue ich ja die ganze Zeit und lerne!)


Er sagte, er sei wegen einer Rauferei unter Jugendli-
chen vom Gericht verurteilt worden, eine Geldstrafe zu
zahlen. Damit sei seine Mutter nicht einverstanden ge-
wesen. Sie habe beim Richter vorgesprochen und ihn ge-
fragt, ob das nicht in einem Arrest münden könne. Die-
ser habe der Bitte entsprochen, und nach ein paar Tagen
habe er sich gesagt: Da will ich nie mehr hin. – Statt ei-
ner Karriere als Krimineller wurde er also Kriminaler.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Niveau der CDU-Rechtspolitik!)


Das ist eine beinahe unglaubliche Geschichte, die ei-
nen schmunzeln lässt, selbst den Kollegen Montag. Vor
mehr als 50 Jahren war es offensichtlich einfacher mög-
lich, mit mütterlichen Bitten vor Gericht durchzudrin-
gen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Strafverschärfung zu kriegen, ja!)


Nun hat sich das Jugendstrafrecht in den letzten Jahr-
zehnten richtigerweise weiterentwickelt. Es ist gut, dass
der Erziehungsgedanke ganz deutlich im Vordergrund
steht. – Warum sind Sie jetzt so still, Herr Montag?


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir können nicht alles mit Zurufen kommentieren!)


Es ist gut, dass mit Freiheitsentziehung im Jugend-
strafrecht eher restriktiv umgegangen wird. Aber wir
müssen auch sehen, dass wir es mit unterschiedlichsten
Täterpersönlichkeiten zu tun haben und sich die Persön-
lichkeitsstrukturen der jugendlichen Täter mit der Zeit
ebenfalls gewandelt haben. Zunehmende Aggressivität
und Brutalität sind ein Ausdruck davon, und das ist kein
quantitatives Merkmal.

Wir wollen deshalb die bestehenden jugendstrafrecht-
lichen Sanktionsmöglichkeiten ergänzen. Damit reagie-
ren wir auf eine Entwicklung, die sich bei immer mehr
jugendlichen Tätern beobachten lässt. Eine Bewährung
wird oftmals als Freispruch zweiter Klasse empfunden.

Spürbare Konsequenzen sind mit einer Verurteilung
nicht verbunden. Ja, mancher Täter sieht sich sogar be-
stätigt und erlangt Anerkennung bei seinen Freunden,
die vor dem Gerichtssaal warten. Damit sendet der
Rechtsstaat aber völlig falsche Signale an die Jugendli-
chen und ihr Umfeld. Es kann nicht sein, dass kriminelle
oder gar gewalttätige Jugendliche mit ihren Straftaten
auch noch prahlen können.

Dem wollen wir durch die ergänzende Möglichkeit
des sogenannten Warnschussarrests begegnen. Wir ge-
ben damit den Jugendgerichten eine weitere Sanktions-
möglichkeit bei kriminellen Jugendlichen an die Hand.
Damit schaffen wir eine weitere erzieherisch wirkende
Maßnahme im Jugendstrafrecht.

Ich bin mir sicher, dass die Jugendgerichte mit dieser
neuen Möglichkeit sehr verantwortungsvoll und zielge-
nau umgehen werden. In der Regel kennt der Jugend-
richter seine – ich sage es einmal salopp – Pappenheimer
und deren Umfeld sehr genau. Sie können gut einschät-
zen, ob vorherige Verwarnungen einen jungen Menschen
nicht erreicht haben. Bevor ein jugendlicher Straftäter
für mehrere Monate in die Haft geht – auch das sieht das
Jugendstrafrecht vor –, sind maximal vier Wochen Ar-
rest sicherlich ein effektives Mittel, um dem jungen
Menschen die Konsequenzen seines Handelns vor Au-
gen zu führen. Die Geschichte des Polizisten ist dafür
ein Beispiel.

Klar ist, dass dieses Mittel allerdings nur Sinn macht,
wenn der Warnschuss tatsächlich rasch zum Tragen
kommt. Nur dann kann das Instrument seine Wirkung
entfalten. Deshalb ist im Gesetzentwurf eine klare zeitli-
che Begrenzung vorgesehen, in welcher Zeit der Warn-
schussarrest angetreten sein muss. Klar ist auch, dass
sich die Jugendstrafvollzugseinrichtungen auf den Warn-
schussarrest erst noch einstellen müssen. Das wird eine
ganze Reihe von Veränderungen mit sich bringen; das
steht außer Frage. Aufgrund der Länderzuständigkeit
sind die Bundesländer für den Vollzug zuständig; auch
sie müssen sich sicherlich noch darauf einrichten. Aber
ich bin sicher, dass dies den Landesjustizbehörden gelin-
gen wird und sie einen guten und sinnvollen Weg finden
werden, den Warnschussarrest praktisch und erfolgreich
mit Leben zu füllen.

Natürlich wird es uns mit dem Instrument des Warn-
schussarrests nicht gelingen, alle jugendlichen Straftäter
passgenau zu erreichen. Aber mit jedem Einzelnen, den
wir vor einer weiteren kriminellen Karriere bewahren
und dem wir eine Perspektive für die Zukunft geben, ge-
hen wir einen Schritt in die richtige Richtung. Das lohnt
sich; das wollen wir mit diesem Gesetzentwurf errei-
chen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717616200

Das Wort hat nun Jörn Wunderlich für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717616300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist mal wieder so weit: Die Debatte über die Verschär-
fung des Jugendstrafrechts ist nicht neu, zuletzt haben
wir hier 2008 darüber debattiert. Geändert hat sich an
den Grundlagen allerdings nichts.

Zum sogenannten Warnschussarrest – leider hat mir
Herr Lischka schon all die entsprechenden Zitate von
Frau Leutheusser-Schnarrenberger geklaut –:


(Heiterkeit des Abg. Burkhard Lischka [SPD] – Jörg van Essen [FDP]: Aber es gibt dafür keinen Warnschussarrest!)


Selbst in der Problemschilderung zum vorliegenden Ge-
setzentwurf wird beschrieben – ich zitiere einmal –: „…
wird seit längerem immer wieder die … Möglichkeit zur
Verhängung eines Jugendarrests … gefordert.“ Ja, es
wird immer wieder gefordert, aber dort steht nicht, wer
das fordert. Die am Jugendstrafverfahren Beteiligten,
also Verteidiger, Rechtspfleger, Jugendgerichtshilfe, Be-
währungshelfer, Jugendstaatsanwälte und -richter, for-
dern das jedenfalls nicht.


(Burkhard Lischka [SPD]: Genau!)


Die Lösung des Problems besteht auch nicht in höheren
Strafen oder im Warnschussarrest. Darüber besteht doch
unter allen Fachleuten Einigkeit.

Zum Warnschussarrest in Verbindung mit der Jugend-
strafe – ich habe es schon einmal gesagt –: Es gibt Er-
ziehungsmaßnahmen und Zuchtmittel, zum Beispiel
Rasenmähen, Einkaufshilfe, gemeinnützige Arbeit, Geld-
auflagen, das Verbot des Zutritts zu bestimmten Gast-
stätten oder des Kontakts zu bestimmten Personen. Das
Spektrum ist groß. All diese Maßnahmen sind kombi-
nierbar, auch mit Zuchtmitteln, auch mit dem Arrest.
Wenn das alles nicht mehr wirkt, wenn das alles nicht
mehr ausreicht, um auf den Jugendlichen einzuwirken,
dann kommt die Jugendstrafe. Jetzt soll also die Jugend-
strafe mit einer Maßnahme kombiniert werden, die ei-
gentlich nicht mehr ausreicht.


(Burkhard Lischka [SPD]: Ja!)


Das kann kein Mensch nachvollziehen. Jedenfalls ist es
nicht logisch, juristisch auch nicht; dies ist ja meist iden-
tisch.

Im Übrigen sind Arrest und Jugendstrafen nach wie
vor die Maßnahmen, bei denen es die höchsten Rückfall-
quoten gibt. Diese liegen bei 60 bis 70 Prozent.


(Jörg van Essen [FDP]: Ja, weil es nicht greift!)


– Genau, Herr van Essen. Jetzt sollen aber zwei Maßnah-
men, die schlecht sind, kombiniert werden, damit etwas
Besseres dabei herauskommt. Großartig!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich dachte, Sie waren Oberstaatsanwalt.


(Jörg van Essen [FDP]: Ja, das war ich! Deswegen kenne ich mich damit aus!)


– Das wollen wir nicht vertiefen. – Die Idee, zwei
schlechte Maßnahmen zu kombinieren, damit etwas Gu-
tes dabei herauskommt, kann – ich versuche, höflich zu
bleiben – nur einem schlichten Gemüt entspringen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD])


Für erfolgreiche Maßnahmen wie Täter-Opfer-Aus-
gleich, Trainingskurse und Antiaggressionskurse fehlen
die Mittel und das Personal. Auch das ist schon ange-
sprochen worden: Es bringt doch nichts, wenn man ei-
nen Arrest verhängt, und diese Strafe erst nach einem
Jahr angetreten wird. Es muss in Personal investiert wer-
den. Mittel müssen investiert werden, damit Maßnahmen
überhaupt umgesetzt werden können. Man muss hier
präventiv tätig werden und nicht mit Strafen drohen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Anhebung der Jugendstrafe von 10 auf 15 Jahre
ist auch nicht sinnstiftend. Aber na gut, wann kommt
hier schon einmal etwas Sinnstiftendes? Die Verhängung
der Höchststrafe von 10 Jahren ist bei weniger als
0,1 Prozent der zu Jugendstrafe Verurteilten erfolgt.
Dazu hat Frau Leutheusser-Schnarrenberger im Spiegel
2008 gesagt – dies wurde noch nicht zitiert –: Das be-
dingt überhaupt keinen Änderungsbedarf. – Da hat sie
recht; diese Äußerung gilt nach wie vor.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Insoweit freue ich mich – wie auch schon zuvor – auf
die Beratungen im Rechtsausschuss. Dort sitzen ver-
nünftige Kollegen. Ich bin gespannt, wann dieser Ge-
setzentwurf auf den berühmt-berüchtigten guten Weg
der Regierung gebracht wird, auf dem er dann im Nir-
wana verschwindet, wie schon so viele Male zuvor. Und
mit was? Mit Recht.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717616400

Das Wort hat nun Jerzy Montag für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717616500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

diskutieren heute über den Entwurf eines Gesetzes zur
Verschlechterung des Jugendstrafrechts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich kann nur wiederholen, was die Kollegen vor mir
schon gesagt haben: Praktisch alle namhaften Krimi-
nologen in Deutschland lehnen den Warnschussarrest ab.
Praktisch alle Jugendstrafrechtler lehnen ihn ab, von
Professor Ostendorf über Professor Kreuzer bis hin zu





Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)


Professor Pfeiffer. Praktisch alle Bewährungshelfer leh-
nen ihn ab.

Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Der Deut-
sche Richterbund, die größte Organisation der Richter
und Staatsanwälte, lehnt Ihre Vorschläge ab. Der Deut-
sche Anwaltverein lehnt sie ab. Die Deutsche Vereini-
gung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen lehnt
sie ab.


(Jörg van Essen [FDP]: Ist mir alles bekannt! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Und die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz?)


Die Gewerkschaft der Polizei lehnt sie ab. Lieber Kol-
lege Geis, auch die Katholische Bundes-Arbeitsgemein-
schaft Straffälligenhilfe, Ihre Herz-Jesu-Sozialisten,
lehnt sie ab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich sage Ihnen in vollem Ernst: Unter denen, die sich mit
den Problemen ernsthaft beschäftigen, gibt es nieman-
den, der für Ihren Gesetzentwurf streitet.


(Jörg van Essen [FDP]: Ach was!)


Mein größter Vorwurf im Zusammenhang mit diesem
Gesetzentwurf richtet sich an das Bundesjustizministe-
rium. Seit 10, 15 Jahren führen wir eine Debatte über
diese Vorschläge, und es findet eine angeregte und um-
fangreiche wissenschaftliche Diskussion darüber statt.
Aber nichts davon wird in dem Gesetzentwurf referiert.
Nichts, absolut nichts, nicht eine einzige Fundstelle!


(Jörg van Essen [FDP]: Aus guten Gründen!)


Dafür gibt es gute Gründe: Sie wollen die Kritik nicht
hören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Oh doch!)


Neben einigen wenigen Fundstellen – eine gewisse Frau
Werwigk-Hertneck und eine Frau Müller-Piepenkötter,
die sich bisher nicht als Wissenschaftlerinnen, sondern
als Exlandesjustizministerinnen hervorgetan haben –
gibt es nur eine Fundstelle von Belang: Herrn Professor
Verrel. Seine Stellungnahme habe ich mir genau durch-
gelesen. Sie ist für Sie, meine Damen und Herren von
der Koalition, verheerend. Sie interpretieren sie zwar zu
Ihren Gunsten. Aber als Erstes schreibt Verrel: Die An-
hebung der Jugendstrafe auf 15 Jahre bei Mord für He-
ranwachsende ist ein riesiger Fehler. – Er lehnt das voll-
ständig ab.

Das ist im Übrigen auch denklogisch falsch. Wenn
Sie Heranwachsende wie Jugendliche behandeln – Stich-
wort „Reifeverzögerungen“ – und einem 18-jährigen
Mörder 15 Jahre geben können wollen, warum dann
nicht auch einem 17-jährigen Mörder, der ja auch ein Ju-
gendlicher ist?


(Jörg van Essen [FDP]: Das habe ich doch vorhin gesagt! Sie haben es doch gehört!)


Das ist absolut unlogisch, was Sie da sagen. Auch Verrel
lehnt das ab.

Was schreibt Verrel zum Warnschussarrest? Ein prä-
ventiver Effekt des Arrests ist nicht nachweisbar, ob-
wohl sich die Wissenschaft seit Jahrzehnten um eine
Evaluation bemüht. Die Rückfallzahlen sprechen eher
dagegen.

Der Warnschussarrest ist keine rasche Reaktion. Ein
Gericht braucht zur Absetzung eines Urteils mindestens
einen Monat, wenn keine Rechtsmittel eingelegt werden,
also im besten Fall. Meine Fraktion hat gestern ein Fach-
gespräch zu diesem Problem durchgeführt. Wir haben
Praktiker, Staatsanwälte und Richter, die auf dem Gebiet
des Jugendstrafrechts tätig sind, eingeladen und sie ge-
beten, uns zu informieren. Sie haben uns gesagt: Egal ob
in Süd- oder Norddeutschland, man braucht mindestens
drei, vier Monate, bis man überhaupt einen Platz in einer
Arrestanstalt bekommt. – Bremen hat seit neuestem
überhaupt keine Arrestanstalten mehr.


(Jörg van Essen [FDP]: Wer regiert denn da?)


Aber Sie schicken einen Gesetzentwurf in den Gesetzge-
bungsprozess, in dem Sie sagen: Wenn der Arrest nicht
spätestens drei Monate nach der Verurteilung angetreten
wird,


(Jörg van Essen [FDP]: Das ist ja auch vernünftig!)


dann kann er nicht mehr angetreten werden. – Das, was
Sie uns hier vorgelegt haben, ist der organisierte Unsinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Oliver Luksic [FDP]: Das ist doch Quatsch! – Jörg van Essen [FDP]: Dann muss man das verbessern!)


Verell, Ihr Kronzeuge, sagt unterm Strich: Die Ziel-
gruppe, die überhaupt infrage kommt, ist so klein und
die Gefahr der Ausdehnung der Maßnahme über diese
Zielgruppe hinaus so groß, dass er davon abrät, den
Warnschussarrest einzuführen. Er plädiert dafür, die an-
deren Möglichkeiten des Jugendgerichtsgesetzes zu för-
dern.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717616600

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717616700

Deswegen werde ich jetzt meinen letzten Satz zitie-

ren. Es ist ein Zitat der Gewerkschaft der Polizei. Die
Gewerkschaft der Polizei hat zu diesem Gesetzentwurf
gesagt:

Der Warnschussarrest für jugendliche Straftäter ist
nicht mehr als ein bisschen politische Spachtel-
masse. Damit kann der … zunehmend breiter wer-
dende Riss zwischen Union und FDP jedenfalls
nicht repariert werden.

Hier hat die Gewerkschaft der Polizei recht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717616800

Das Wort hat Norbert Geis für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1717616900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich beschränke mich auf die beiden Themen, die
hier sehr strittig sind, nämlich auf die Vorrats – –


(Burkhard Lischka [SPD]: Sie haben viele Baustellen, Herr Geis! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind bei einem anderen Thema!)


– Nein, nein, das war eine Freud’sche Fehlleistung. – Es
geht um den Warnschussarrest und die Erhöhung des
Höchstmaßes der Jugendstrafe.

Die Diskussion über diese Dinge existiert schon sehr
lange. Wir haben diese Diskussion schon in der ersten
Hälfte der 90er-Jahre geführt. Wir, die Unionsfraktion,
haben dies schon damals gefordert. Als wir damals das
Verbrechensbekämpfungsgesetz verabschiedet haben,
haben wir auch darüber verhandelt. Das durchzusetzen,
war aber nicht möglich. Wir haben diese Forderung dann
weiterhin erhoben. Die Länder, die ja die Praxis zu ver-
antworten haben, haben uns entsprechende Vorschläge
gemacht und entsprechende Gesetzesanträge gestellt, die
alle bislang nicht zum Erfolg geführt haben.

Nun haben wir diesen Erfolg. Wir sind uns einig, und
wir wollen den Warnschussarrest und die Erhöhung der
Jugendstrafe einführen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein, wir sind uns nicht einig!)


– Sie natürlich nicht, aber die Koalition ist sich einig.
Darauf hat Herr Lischka ja angespielt.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Mehrheit wollen Sie dafür im Bundesrat finden?)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
dass der Warnschussarrest eine wichtige Erweiterung
des Instrumentariums ist, das einem Richter zur Verfü-
gung stehen sollte. Reden Sie mit Jugendrichtern!


(Burkhard Lischka [SPD]: Warum wollen die Richter das denn nicht, Herr Geis?)


Noch heute Morgen habe ich mit einem Jugendrichter te-
lefoniert und die Sache mit ihm besprochen. Es war ein
junger Jugendrichter. Er sagte: Ich brauche die Möglich-
keit einer solchen Reaktion auf jugendliche Straftäter.


(Burkhard Lischka [SPD]: Da haben Sie einen hier in Deutschland gefunden!)


Warum? Es ist doch eigentlich ganz greifbar, warum.

Das ist unsere Überlegung:

Erstens. Wenn Sie einen Jugendlichen verteidigen,
der zu einer Jugendstrafe, aber nicht zu einem Arrest
verurteilt wird, dann können Sie als Verteidiger erleben

– Sie sind, so wie ich, noch im Geschäft; wir gehen auch
noch vor Gericht –, dass er hinausgeht und sagt: Das ist
ein Freispruch zweiter Klasse. Sein Verteidiger freut sich
darüber, und seine Eltern und seine Freundin, die dabei
sind, freuen sich natürlich auch darüber. Der Mann
kommt nicht hinter Schloss und Riegel. Einen solchen
„Freispruch“ zweiter Klasse steuern die Jugendlichen
an, und sie lachen dann.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717617000

Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Wunderlich?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1717617100

Ja, bitte, wenn es schnell geht.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie haben wohl alle kein zu Hause!)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717617200

Vielen Dank, Herr Kollege. Ich gebe mir Mühe.

Sie sprachen gerade im Zusammenhang mit der Ju-
gendstrafe von der Notwendigkeit eines solchen Arrests.
Stimmen Sie mir zu, dass die Vollstreckung der Jugend-
strafe nur unter der Voraussetzung zur Bewährung aus-
gesetzt wird, dass der Richter bzw. das Gericht davon
überzeugt ist, dass dem Jugendlichen die Verurteilung
als solche schon zur Warnung ausreicht


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne Vollzug!)


und er künftig auch ohne den Vollzug oder die Vollstre-
ckung der Strafe einen rechtschaffenen Lebenswandel
führen wird?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1717617300

Natürlich.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717617400

Das ist die Voraussetzung zur Aussetzung der Voll-

streckung der Jugendstrafe. Jetzt sagt man aber: Ich gehe
zwar davon aus, dass er keinen Vollzug braucht, aber ein
bisschen Vollzug ist vielleicht doch nötig. – Ist das nicht
in sich widersprüchlich?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1717617500

Nein.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717617600

Wird da § 16 a JGG bzw. der ergänzende Absatz nicht

nur eingeführt, um das ein bisschen zu kaschieren?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1717617700

Herr Kollege, ich kann Ihnen diese Frage beantwor-

ten. Die Jugendstrafe ist eine ganz andere Maßnahme als
der Jugendarrest.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das weiß ich! – Burkhard Lischka [SPD]: Sie vermischen das doch jetzt!)






Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)


Das wissen Sie und ich. Deswegen können Sie nicht bei-
des in den gleichen Topf werfen.


(Burkhard Lischka [SPD]: Das machen Sie doch!)


Das ist der Unterschied. Das ist meine Antwort.

Zweitens. Ein weiterer Grund für den Jugendarrest ist
folgender: Wenn zum Beispiel ein Täter wegen schäd-
licher Neigungen zu einer Jugendstrafe verurteilt wird
– aber auf Bewährung –, dann geht er als freier Mann
aus dem Gerichtssaal. Gegenüber einem anderen wird
ein Zuchtmittel ausgesprochen, weil keine schädlichen
Neigungen festgestellt werden, weil er sich also im
Sinne des Strafrechts nicht so schwer schuldig gemacht
hat. Der bekommt Jugendarrest und damit Freiheitsent-
zug. Der andere aber geht letztlich ohne Strafe aus dem
Gerichtssaal. Diesen Widerspruch verstehen die Jugend-
lichen nicht.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch nach Ihrem Gesetzentwurf auch so!)


Drittens. Ich möchte noch Folgendes anführen: Es ist
vielleicht gar nicht schlecht, wenn ein solcher Jugend-
licher auch einmal, wenn auch nur für kurze Zeit, aus
seiner gewohnten Umgebung genommen wird, Herr
Wunderlich.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ist das noch die Antwort?)


– Nein,


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ich war schon erschüttert!)


ich bin wieder bei meiner eigentlichen Rede. – Oft ist es
so: Ein Jugendlicher kommt vor Gericht, weil er in sei-
ner Umgebung mit anderen Jugendlichen zusammen ist,
die das Gesetzbuch und das Strafrecht nicht so ernst neh-
men und deswegen straffällig werden. Es ist nicht
schlecht, wenn ein Jugendlicher einmal aus einer sol-
chen Umgebung für kurze Zeit von seinen Kameraden
abgesondert wird und vielleicht mithilfe seines Bewäh-
rungshelfers dazu kommt, darüber nachzudenken, wohin
dies weiter führen würde. Deswegen, so meinen wir, ist
der Warnschussarrest die richtige Maßnahme.

Ein anderer Punkt ist die Erhöhung des Höchstmaßes
der Jugendstrafe; Herr van Essen hat darauf schon hinge-
wiesen. Wir unterscheiden hier zwischen Jugendlichen
und Heranwachsenden. Für die Heranwachsenden sehen
wir die Erhöhung des Höchstmaßes vor. Das geltende
Höchstmaß für Jugendliche sind eigentlich 5 Jahre,
wenn es sich nicht um Verbrechen handelt. Wenn es sich
um Verbrechen handelt, sind es 10 Jahre. Für Heran-
wachsende gibt es dieses Höchstmaß von 5 Jahren nicht,
sondern da ist von vornherein ein Höchstmaß von
10 Jahren angesetzt. Hier gibt es keine Unterscheidung.

Nun wollen wir Folgendes: Wir wollen das Höchst-
maß der Strafbarkeit von 10 auf 15 Jahre anheben. Das
ist eine alte Forderung – so darf ich sagen – meiner Frak-
tion und auch einiger Bundesländer bzw. des Bundes-

rates. Nun sind wir uns in dieser Frage einig geworden,
hier den entscheidenden Schritt zu tun.

Warum? Weil ich glaube, dass der Richter die Mög-
lichkeit haben muss, entsprechend zu reagieren, wenn es
sich um eine Straftat wie Mord handelt. Genau das neh-
men wir in den Fokus. Es geht hier nicht um andere
Straftaten, obwohl man darüber streiten kann, ob man
das nicht auch hier tun sollte. Andere Straftaten, die
beim Erwachsenenstrafrecht ebenfalls mit „lebensläng-
lich“ bestraft werden können, nehmen wir heraus. Wir
nehmen nur die schwerste Straftat, die jemand begehen
kann, nämlich einen anderen Menschen zu ermorden.
Ihm sagen wir: Du musst unter Umständen, wenn du He-
ranwachsender bist, mit einer Strafe von 15 Jahren rech-
nen.

Ich nenne ein Beispiel: In einer Jugendbande ist der
Haupttäter ein Heranwachsender, der Mitläufer, der sich
genauso strafbar gemacht hat, ist über 21 Jahre alt. Letz-
terer bekommt wegen eines Mordes „lebenslänglich“,
der andere 10 Jahre.

Ich meine, das ist nicht gerecht. Hier muss ein Gleich-
klang hergestellt werden. Das ist unser Anliegen. Des-
halb glaube ich, dass wir mit unserem Gesetzentwurf
richtigliegen. Ich bitte um Ihre Zustimmung.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717617800

Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1717617900

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich

kann meinen geschätzten Kollegen Vorrednern Lischka,
Montag und vor allen Dingen Wunderlich nur recht ge-
ben: Der Warnschussarrest als Zugabe, Herr van Essen,
zur Bewährungsstrafe für Jugendliche ist aus meiner
Sicht wirklich der falsche Weg. Man hat so ein bisschen
den Verdacht, dass das Symbolpolitik ist, dass man hier
symbolisch etwas aussagen will.

Wenn man jugendlichen Straftätern oder Intensivtä-
tern einen Warnschuss geben will, dann muss man – das
sagen nach meinen Erkenntnissen alle Praktiker – Fol-
gendes machen: eine schnelle Verurteilung. Das ist das
eigentliche Problem.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Jörg van Essen [FDP]: Das schließt sich doch gegenseitig nicht aus!)


Herr Wunderlich ist – das wurde eben angesprochen –
12 Jahre Jugendrichter gewesen und hat langjährige Er-
fahrung. Er hat gerade das Instrumentarium, das einem
Jugendrichter zur Verfügung steht, anhand von Beispie-
len dargestellt. Das Jugendstrafrecht ist nämlich sehr
breit angelegt.

In meinen Gesprächen mit Jugendstaatsanwaltschaf-
ten wurde mir gesagt: Es gilt das alte Sprichwort: „Die
Strafe muss auf dem Fuße folgen“. Wenn man den Warn-





Dr. Edgar Franke


(A) (C)



(D)(B)


schussarrest einführen würde, würde auch dieser – da
müssen Sie mir recht geben, Herr van Essen – erst nach
dem Urteil erfolgen.


(Jörg van Essen [FDP]: Bei dem normalen Arrest ist das nicht anders!)


Das heißt, der Warnschuss käme erst dann, wenn das Ur-
teil ergangen ist. Insofern würde der Warnschuss wegen
dieses zeitlichen Ablaufs aus meiner Sicht nichts brin-
gen.

Praktiker sehen ein großes Problem darin, dass die
Justiz lange braucht, um Urteile zu fällen und dass die
Arrestzellen voll sind, sodass die betroffenen Jugendli-
chen gar nicht einziehen können und man keine Mög-
lichkeiten hat, Strafen zu vollziehen. Das ist ein rein
praktisches Problem. Aus meiner Sicht muss man vor al-
len Dingen bei diesem Punkt ansetzen.

Ein weiterer Punkt ist die Heraufsetzung der Höchst-
strafe für Heranwachsende von 10 auf 15 Jahre. Herr
Geis hat dazu Ausführungen gemacht. Ich glaube, die
Heraufsetzung der Höchststrafe würde nichts bringen.
Das muss man ganz klar sagen.

Ich habe meine Mitarbeiter gebeten, herauszufinden,
welche Studien es in diesem Bereich gibt. Sie haben
nichts gefunden. Herr Montag hat das auch gesagt. Es
gibt in der Fachöffentlichkeit niemanden, der sagt: Das
bringt etwas.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Es gibt aber Gerichte, die das gesagt haben!)


Herr Lischka hat von sieben Fällen pro Jahr gesprochen.
Ich habe in dem Bereich auch nichts gefunden:


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gibt es auch nicht!)


In den Entscheidungsgründen hat kein Gericht ausge-
führt, dass die Strafe zu gering sei.

Insofern ist der Gesetzentwurf vielleicht mehr als
Symbolpolitik: Es ist vielleicht sogar ein Wahlkampf-
thema, und es ist ein Thema für den Boulevard und die
Öffentlichkeit.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: So wie bei Roland Koch damals!)


Der Gesetzentwurf ist aber, glaube ich, nicht zur Verbes-
serung der Sicherheit der Bevölkerung geeignet. Im Ge-
genteil, der Volksmund sagt: Wer in den Knast kommt,
kommt krimineller heraus, als er hineingegangen ist.

In diesem Sinne sollte man, glaube ich, diesen Ge-
setzentwurf ablehnen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717618000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9389 an die in der Tagesord-

nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:

Beratung des Berichts des Ausschusses für Ver-
kehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss)

gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des
Deutschen Bundestages

– zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Für einen neuen Infrastrukturkonsens –
Schutz der Menschen vor Straßen- und
Schienenlärm nachdrücklich verbessern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Bürgerinnen und Bürger dauerhaft vom
Bahnlärm entlasten – Alternative Güterver-
kehrsstrecke zum Mittelrheintal angehen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schutz vor Bahnlärm verbessern – Veralte-
tes Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaf-
fen

– Drucksachen 17/5461, 17/6452, 17/4652,
17/9257 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt
dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Anton Hofreiter für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.


Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717618100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich bin in der interessanten Rolle, als Aus-
schussvorsitzender berichten zu dürfen, warum der Ver-
kehrsausschuss die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen
und SPD nicht fristgerecht behandelt hat. Es geht bei
diesen Anträgen um das wichtige Thema Bahnlärm.

Wir haben diese Anträge mehrmals auf die Tagesord-
nung gesetzt, so unter anderem in der 49. Sitzung am
21. September 2011 – das ist also schon relativ lange
her –, dann wieder am 26. Oktober und zuletzt am 9. No-
vember. Die Beratung der Anträge ist auf Wunsch der
geschäftsführenden Mehrheit immer wieder vertagt wor-
den.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unerhört!)






Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)


So weit sozusagen der Bericht. Wir haben die Anträge
immer wieder aufgesetzt. Aber die Beratungen darüber
wurden immer wieder vertagt.

Worum geht es in den Anträgen? Sowohl in den SPD-
Anträgen als auch im Antrag der Grünen geht es um ei-
nen besseren Schutz der Menschen vor Bahnlärm. Es
geht insbesondere darum, das Lärmprivileg „Schienen-
bonus“ abzuschaffen. Worum handelt es sich beim
Lärmprivileg „Schienenbonus“? Es handelt sich letzt-
endlich um einen Malus für die Betroffenen. Dieses Pri-
vileg bedeutet, dass Züge um 5 dB(A) – das macht einen
erheblichen Unterschied aus; denn es handelt sich um
eine logarithmische Skala – lauter sein dürfen als andere
Verkehrsträger. Das hat zur Folge, dass die Menschen
stark belastet sind. Das ist allerdings auch für uns von
großer verkehrspolitischer Bedeutung; denn die Belas-
tung hat an manchen Strecken solche Ausmaße ange-
nommen, dass die Menschen massiv protestieren, in
manchen Regionen überparteilich. Es gibt zum Beispiel
an der Rheinschiene Regionen, in denen sich Vertreter
aller Parteien massiv gegen die Lärmbelästigung vor Ort
wenden. Wir müssen daher dringend etwas tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Warum kommt es nicht zur abschließenden Beratung
über die Anträge? Der Grund ist ganz einfach – diese
Bewertung nehme ich nicht als Ausschussvorsitzender,
sondern als Abgeordneter der Grünen vor –: Die Koali-
tionsfraktionen wollen die Anträge von SPD und Grünen
nicht ablehnen, weil sie den Protest vor Ort fürchten. Sie
können aber auch keine eigenen Vorlagen einbringen,
weil sie sich untereinander nicht einigen können, wie mit
diesem schwierigen Problem umgegangen werden soll.
Das ist eigentlich nichts Ungewöhnliches. Bei den Ko-
alitionsfraktionen gibt es einen ganzen Strauß an The-
men, über die sie sich nicht einigen können. Manche
Themen sind prominenter, andere Themen weniger pro-
minent in den Medien vertreten. Bahnlärm ist in den Me-
dien lediglich regional prominent vertreten. Ich sage als
Grüner: Einigen Sie sich – das wäre positiv – im Sinne
der Menschen auf eine vernünftige Reduktion des Bahn-
lärms! Dann könnten wir die Beratungen über dieses
Thema im Ausschuss endlich zum Abschluss bringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wenn Sie sich aber schon nicht einigen können, dann
sollten Sie wenigstens die Traute haben, die Anträge ab-
zulehnen.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Nein, zustimmen!)


Dann können wir die Beratungen über diesen Tagesord-
nungspunkt abschließen. Dann muss dieses Thema nicht
immer wieder aufscheinen. Dann hätten wir alle Klar-
heit, und dann wüssten auch die Betroffenen vor Ort,
woran sie sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich bitte Sie, sich zu einigen. Das ist positiv für die
betroffenen Menschen. Wenn Sie sich aber nicht einigen
können, dann lassen Sie uns die Sache zum Abschluss
bringen. Dann wissen die Menschen wenigstens, woran
sie sind.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717618200

Das Wort hat nun Steffen Bilger für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1717618300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

Thema Lärm ist derzeit in der politischen Debatte in der
Tat nicht zu überhören. Ob an Flughäfen, bei der Straße
oder der Schiene, landauf, landab wird bei vielen Infra-
strukturprojekten gestritten und diskutiert. Auf der einen
Seite stehen die Bedürfnisse der Anwohner, für die wir
alle großes Verständnis haben. Auf der anderen Seite
steht unser Interesse, Mobilität zu ermöglichen, eine
funktionsfähige Infrastruktur zu haben und nicht zuletzt
unseren Beitrag zum Erfolg unserer Wirtschaft und zum
Erhalt von Arbeitsplätzen in Deutschland zu leisten.
Hier müssen wir zu einem ausgewogenen Ausgleich
kommen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmen Sie doch zu! – Gustav Herzog [SPD]: Dann legen Sie doch etwas vor!)


– Dazu komme ich noch.

Heute diskutieren wir gleich über drei Anträge, die
sich alle in erster Linie mit dem Thema Schienenlärm
befassen. Ich habe für viele Forderungen in diesen An-
trägen durchaus Sympathie.


(Gustav Herzog [SPD]: Es ist mehr als Sympathie gefragt! – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmen Sie doch zu!)


Lärm ist wahrlich eine Plage. Sicherlich steigt heutzu-
tage auch die Sensibilität der Bevölkerung für solche Be-
lastungen und dadurch begründete Gesundheitsgefahren
an. Daher ist das richtig, was in den Oppositionsanträgen
zum Lärm an sich steht. Es ist vollkommen unstrittig,
dass wir Anwohner vor Lärm schützen müssen und es
unsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass Lärm mög-
lichst erst gar nicht entsteht, sondern schon an der Quelle
bekämpft wird.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wie denn?)


In den Debatten über den SPD-Antrag zum Mittel-
rheintal und den Koalitionsantrag zur Rheintalbahn ha-
ben wir deutlich gemacht, wie sehr wir als Unionsfrak-
tion die Bedürfnisse der lärmgeplagten Bevölkerung zu
unserem Anliegen gemacht haben. Wir stehen zu unse-
rem Bekenntnis im Koalitionsvertrag: Mehr Schutz vor





Steffen Bilger


(A) (C)



(D)(B)


Lärm! – Besonders das gerade von Toni Hofreiter ange-
sprochene Lärmprivileg der Schiene, das dazu führt,
dass an Schienenstrecken mehr Lärm geduldet wird als
an anderen Stellen, ist nicht mehr vertretbar und muss
daher abgeschafft werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Abschaffung des sogenannten Schienenbonus ist
erklärte Sache der christlich-liberalen Koalition. Dazu
bekennen wir uns mit Nachdruck, so auch heute und in
der Zukunft bei den weiteren Beratungen im Verkehrs-
ausschuss. Wir sind die erste Regierungskoalition, die
sich darauf verständigt hat, den Schienenbonus abzu-
schaffen,


(Sören Bartol [SPD]: Dann macht es!)


und damit nun ernst macht.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann?)


Wie sich alle Abgeordneten, die schon unter früheren
Regierungskonstellationen hier mitgearbeitet haben und
die es nicht so weit gebracht haben, dieses Thema anzu-
packen – manche haben sich das noch nicht einmal vor-
genommen –, denken können, war es nicht ganz einfach,
bei der Abstimmung zwischen den verschiedenen betei-
ligten Politikern voranzukommen. Aber am Ende zählt
das Ergebnis. Diese Woche, meine Damen und Herren
von der Opposition, wurde die Ressortabstimmung zur
Abschaffung des Schienenbonus förmlich eingeleitet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


– Jetzt hätte ich von der Opposition mehr Anerkennung
und Applaus erwartet.

Zugegeben, auch wir hätten nichts dagegen gehabt,
wenn es etwas schneller zu Ergebnissen gekommen
wäre.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Nicht zuletzt hatten wir mit den Stimmen der Union und
der FDP bereits vor einem Jahr, im März, in Zusammen-
hang mit dem Thema Rheintalbahn im Deutschen Bun-
destag die Forderung nach Abschaffung des Schienenbo-
nus bekräftigt und die Bundesregierung aufgefordert, die
dafür notwendigen Schritte zu unternehmen. Wir stehen
zu unserem Wort und nehmen die Bundesregierung in
die Pflicht, den Entwurf zur Änderung des betreffenden
Gesetzes und der dazugehörigen Verordnung vorzule-
gen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wann? Noch in dieser Wahlperiode? – Gustav Herzog [SPD]: Wann? Sagen Sie doch Ja!)


Der Schienenbonus wird abgeschafft. Das ist erst ein-
mal eine gute Nachricht für die Menschen in Deutsch-
land. Wir halten Wort. Gerne können wir in einer der

nächsten Verkehrsausschusssitzungen ins Detail gehen
und über einen eigenen Antrag unserer Fraktion beraten.


(Gustav Herzog [SPD]: Wir hatten eine Anhörung zu dem Thema!)


– Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass die Ressortab-
stimmung bereits eingeleitet ist. Hätten Sie es hinbe-
kommen, als Sie noch an der Regierung waren, dann
brauchten Sie jetzt nicht so große Reden zu schwingen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Wir hätten gerne eine Jahreszahl!)


Wenn aber der Schienenbonus abgeschafft ist, dann
heißt das nicht, dass alle Schienenlärmprobleme besei-
tigt wären; denn die Abschaffung des Schienenbonus be-
trifft die Zukunft. Für bestehende oder bereits im Bau
befindliche sowie planfestgestellte Schienenstrecken
brauchen wir andere Lösungen. Wichtig ist dabei, dass
wir im gesamten Schienennetz durch unterschiedliche
Maßnahmen die Lärmemissionen nachhaltig reduzieren.
Innovative Maßnahmen am Fahrweg, andere Bremssys-
teme, verbesserter Lärmschutz durch bauliche Maßnah-
men und auch Vereinbarungen über ein – das wird auch
im Antrag der Grünen gefordert – lärmabhängiges Tras-
senpreissystem – das alles sind Beispiele für weitere
Möglichkeiten der Lärmreduktion, die ein Lärmprivileg
der Schiene endgültig unnötig machen.

Das große und bedeutende Projekt Rheintalbahn, über
das wir schon mehrfach im Deutschen Bundestag disku-
tiert haben, ist zudem ein gutes Beispiel für andere Mög-
lichkeiten der Politik. Da haben sich alle Beteiligten –
Kommunen, Land, Bund, Bürgerinitiativen und Deutsche
Bahn – zusammengesetzt und sind zu Lösungen gekom-
men. In diesem konkreten Fall gab es Zugeständnisse so-
wohl des Landes als auch des Bundes, vertreten durch den
Staatssekretär Scheuerle, die es unnötig machen, auf die
Abschaffung des Schienenbonus zu warten. Es wird viel-
mehr durch Vereinbarungen erreicht, dass Lärmschutz
durch andere Maßnahmen umgesetzt wird, ohne dass wir
die Abschaffung des Schienenbonus hier im Bundestag
beschließen müssten. Dabei muss uns Politikern klar sein,
dass es nicht ausreicht, immer nur nach dem Bund zu ru-
fen; vielmehr müssen sich alle Beteiligten in die Pflicht
nehmen lassen.

Sie haben in Ihren Anträgen aber auch andere The-
men angesprochen. Im SPD-Antrag zum Infrastruktur-
konsens werden aus unserer Sicht in erster Linie Maß-
nahmen aus dem nationalen Verkehrslärmschutzpaket II
aufgegriffen, die ohnehin realisiert werden oder in ande-
rem Zusammenhang bereits geprüft werden. Auch hier
hätte sicher manches schneller und weiter gehen können.
Allerdings dürfen wir bei dieser ganzen Diskussion nicht
vergessen, dass es immer um Geld geht.


(Gustav Herzog [SPD]: Es geht um die Menschen im Rheintal!)


Das fehlt an allen Ecken und Enden für die Infrastruktur.
Dieses Geld müssen wir erst einmal zur Verfügung stel-
len können.





Steffen Bilger


(A) (C)



(D)(B)


Nichtsdestotrotz können wir festhalten: Es tut sich et-
was.


(Sören Bartol [SPD]: Was denn? Ressortabstimmung! Das ist alles, was ihr macht!)


Wir machen viel für mehr Schutz vor dem Schienenlärm.
Ergänzend zu dem, was wir in Deutschland beschließen
können, wäre es bei einem mittlerweile kontinenteüber-
greifenden Schienenverkehr sicherlich sinnvoll, wenn
wir auf europäischer Ebene zu gemeinsamen Lösungen
kommen könnten und die EU mittelfristig nur noch leise
Güterzüge in Europa zulassen würde. Auch hier sollten
wir und die Bundesregierung aktiv bleiben. Ich freue
mich auf weitere Fortschritte, die wir gemeinsam errei-
chen können.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717618400

Das Wort hat nun Gustav Herzog für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1717618500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, insbesondere im Mit-
telrheintal! Herr Kollege Bilger, ich weiß nicht, ob ich
mich über Ihre Rede aufregen soll


(Steffen Bilger [CDU/CSU]: Freuen!)


oder einfach nur Mitleid haben soll mit Ihnen, die Sie
auf dieser Seite des Hauses sitzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Freuen! Sie sollten sich freuen! – Karl Holmeier [CDU/CSU]: Wir brauchen kein Mitleid!)


Ich werde versuchen, im Laufe meiner Rede eine Ant-
wort zu geben.

Um das Groteske an der Situation deutlich zu ma-
chen, will ich noch einmal die Gemeinsamkeiten fest-
stellen, die hier im ganzen Hause – vielleicht bis auf den
Teil der Bundesregierung – bestehen. Wir stellen fest,
dass Millionen von Menschen durch Lärm von Straße,
Schiene und Luftverkehr beeinträchtigt sind. Hundert-
tausende sind schwersten Belastungen ausgesetzt. Sie er-
leben in der Nacht Güterzüge, die mit über 100 Dezibel
an ihren Häusern vorbeifahren. Das ist wie ein Pressluft-
hammer hier vor dem Rednerpult, vor den Reihen der
Koalition. Hunderttausende von Menschen erwarten von
uns eine Lösung. Auch die Volkswirtschaft wird im Um-
fang von über 10 Milliarden Euro im Jahr geschädigt.

Wir sind uns hier im Hause darüber einig, dass wir
den Schienenbonus abschaffen wollen, dass wir lärm-
abhängige Trassenpreise brauchen,


(Patrick Döring [FDP]: Führen wir doch ein!)


dass eine ganze Reihe von wirksamen Baumaßnahmen,
die wir mit dem Projekt „Leiser Rhein“ oder dem Kon-
junkturprogramm eingeleitet haben, umgesetzt werden
müssen. Wir sind uns weiter darüber einig, dass wir die
Güterverkehrswagen umrüsten wollen. Diese gemein-
same Position vertreten wir auch vor Ort. Ich sehe hier
den Kollegen Michael Hartmann, der das Mittelrheintal
aus eigenem Erleben und eigenem Hören sehr gut kennt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch mehr
Gemeinsamkeiten. Im rheinland-pfälzischen Landtag
der letzten Wahlperiode und auch der neuen Wahlpe-
riode wurden einstimmige Beschlüsse gefasst, also mit
der Union, mit der FDP, in denen all das vom Bund ge-
fordert wird.


(Patrick Döring [FDP]: Und wir machen es!)


Jetzt ist die spannende Frage: Warum geht es nicht
voran, lieber Kollege Bilger? Weil wir hier die Koalition
der Verweigerung und der Vertagung haben! Sie kriegen
es nicht auf die Reihe. Jetzt ist Schluss mit lustig! Der
Kollege Hofreiter hat ja schon erwähnt: Es gibt sehr
viele Themen – von der Vorratsdatenspeicherung bis hin
zum Betreuungsgeld –, bei denen Sie keine Problem-
lösung finden.


(Patrick Döring [FDP]: Was haben Sie denn eigentlich dazu beigetragen? – Torsten Staffeldt [FDP]: Sie haben jahrelang nichts gemacht!)


Für die Frage, um die es hier geht, die die Menschen be-
trifft, hätten wir eine Mehrheit im Deutschen Bundestag.
Ich sage Ihnen, wo das Problem sitzt: hier auf der Regie-
rungsbank, vielleicht noch etwas um die Ecke. Herr Kol-
lege Bilger, ich darf zitieren, was Kanzleramtsminister
Pofalla gesagt hat. Ich zitiere die Rheinische Post vom
21. April dieses Jahres:

Die Bundesregierung wird nicht am Schienenbonus
rütteln.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Unerhört!)


Ein weiteres Zitat:

In dieser Legislaturperiode werden wir den Schie-
nenbonus nicht anpacken.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Was gilt denn jetzt?)


Das sagt Ihr Kanzleramtsminister. Und was sagt die
Koalition?


(Patrick Döring [FDP]: Wir machen es trotzdem!)


Haben Sie in diesen Reihen hier überhaupt noch etwas
zu sagen? Ich denke, bei Ihnen muss etwas passieren.


(Patrick Döring [FDP]: Wir machen es doch!)


Sie können nicht weiterhin versuchen, das Problem aus-
zusitzen oder auf die lange Bank zu schieben. Ich weiß,
dass wir ab September 2013 das Problem anpacken wer-
den.





Gustav Herzog


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD – Lachen bei der FDP – Patrick Döring [FDP]: Mit genauso viel Elan wie zwischen 1998 und 2009!)


Aber schöner wäre es natürlich für die Menschen, wenn
wir die gemeinsame Position hier vorher beschließen
könnten und Sie sich nicht hinter der Entscheidung Ihrer
Regierung und Ihrer Haushälter verstecken würden.
Wenn ich Ihre Reihen hier sehe, frage ich mich, wo die
Kolleginnen und Kollegen von der Union sind, die im
Mittelrheintal immer so tun, als wären sie die großen
Macher in Sachen Schienenlärm.


(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Hier!)


Wo sind die Kollegen Granold, Bleser und der General
Schnieder, der Generalsekretär Schnieder? – Aber jeder
hat so seine Prioritäten.


(Steffen Bilger [CDU/CSU]: Wie viele sind denn von der SPD da? – Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Das Mittelrheintal ist auch auf der anderen Rheinseite!)


Herr Kollege Bilger, Sie haben die Kosten angespro-
chen. Vielleicht werden Sie sich in Ihren Reihen auch
einmal darüber einig, um welche Kosten es geht. Der
Bundesminister sagt: Jedes Dezibel beim Schienenbonus
kostet mich 1 Milliarde Euro. Ihr Kanzleramtsminister
spricht in der Rheinischen Post von 15 Milliarden Euro.
Vielleicht können Sie innerhalb der Bundesregierung
einmal eine Abstimmung herbeiführen.

Ich sage Ihnen etwas zum Thema Geld. Es war für Sie
in den ersten Tagen der Koalition doch kein Problem,
den Mehrwertsteuersatz für die Hotelübernachtungen
herabzusetzen


(Lachen bei der FDP – Sören Bartol [SPD]: Sehr gut! Nehmt doch das Geld!)


und 1 Milliarde Euro jedes Jahr zum Hotelfenster hi-
nauszuwerfen, wo wir doch die Hotelfenster im Mittel-
rheintal schließen müssen, weil es zu laut ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Das ist intellektuell unwürdig, was Sie hier bieten! Was haben Sie denn geboten?)


Herr Kollege Döring, es ist intellektuell unwürdig,
dass Sie zwar in Ihren Reihen anerkannt haben,


(Patrick Döring [FDP]: Was haben Sie denn geboten?)


dass es eine falsche Entscheidung war, aber nicht genug
Mumm in den Knochen haben, um diesen Fehler zu kor-
rigieren.


(Patrick Döring [FDP]: Richtige Entscheidung!)


Ich sage Ihnen: Die Sache mit der Mehrwertsteuer
kriegen Sie bei jeder Rede von mir auf den Tisch gelegt –
bis zum Ende der Wahlperiode.


(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Dadurch wird es nicht anspruchsvoller!)


Es gibt eine zweite Geldquelle, die man anzapfen
könnte. Sie hätten auch unsere Zustimmung, Herr Bun-
desminister, wenn Sie die Zwangsdividende der DB AG
vielleicht auch dafür verwenden würden, dem Unterneh-
men beim Umrüsten zu helfen.


(Patrick Döring [FDP]: Das Aktienrecht kennt keine Zwangsdividende!)


Es gibt klare Forderungen der SPD. Wir würden Sie
auch jederzeit hier im Deutschen Bundestag dabei unter-
stützen, das Umrüsten der Güterwagen jetzt und nicht
erst dann vorzunehmen,


(Patrick Döring [FDP]: Welcher? Der polnischen oder rumänischen?)


wenn die LL-Sohle in zwei oder drei Jahren zugelassen
ist. Das würde 10 Dezibel bringen – eine Verminderung
des Lärms um die Hälfte.


(Patrick Döring [FDP]: Sie wollen mit deutschem Steuergeld polnische Güterwagen umrüsten?)


Sie haben von uns eine klare Zustimmung zur Ab-
schaffung des Schienenbonus.

Als letzten Punkt will ich noch die Alternativtrasse
Mittelrheintal ansprechen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die Mehrwertsteuer!)


Herr Bundesminister, Sie haben auf der Verkehrsminis-
terkonferenz Äußerungen gegenüber dem rheinland-
pfälzischen Verkehrsminister gemacht,


(Patrick Döring [FDP]: Waren Sie dabei?)


die über die Presse unterschiedlich weitergegeben sind.
Aber vielleicht kann der Kollege Holmeier, der gleich
für die CSU sprechen wird, noch erklären:


(Patrick Döring [FDP]: Der war aber auch nicht dabei! Sie doch auch nicht!)


Sind Sie nun dafür, dass eine solche alternative Trasse
im Rahmen des Bundesverkehrswegeplans geprüft wird,
oder nicht? Wollen Sie nicht oder können Sie nicht den
Lärm bei den Menschen reduzieren? Geben Sie darauf
eine Antwort.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717618600

Das Wort hat nun Werner Simmling für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Werner Simmling (FDP):
Rede ID: ID1717618700

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Verehrte Zuschauer! Liebe Kollegen Dr. Hofreiter und
Herzog! Sie kennen alle die Sprichwörter „Gut Ding will





Werner Simmling


(A) (C)



(D)(B)


Weile haben“ und „Rom wurde auch nicht an einem Tag
erbaut“.


(Lachen der Abg. Gustav Herzog [SPD] und Sören Bartol [SPD] – Gustav Herzog [SPD]: Da muss er selbst lachen! – Gegenruf des Abg. Patrick Döring [FDP]: Erst grübeln, dann dübeln! Sie kennen doch das Motto unseres Fraktionsvorsitzenden!)


Wie vorhin schon festgestellt wurde, hat dieses
schwierige Thema ja weder ein SPD-Verkehrsminister
– das waren immerhin elf Jahre – noch ein grüner Um-
weltminister – sieben Jahre – in Angriff genommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Sie kennen die Lärmschutzpakete I und II!)


Insofern sollten Sie, meine ich, auch 2013 keine Chance
mehr haben, dieses Thema noch einmal aufzugreifen;
denn dann ist es schon erledigt.

Die christlich-liberale Koalition ist sich längst einig
– das wissen Sie auch –, den Schienenbonus von
5 dB(A) schrittweise zu reduzieren – mit dem Ziel, ihn
in dieser Legislaturperiode ganz abzuschaffen. Das ha-
ben wir so in unserem Koalitionsvertrag festgelegt.


(Gustav Herzog [SPD]: Weiß das auch der Kanzleramtsminister?)


Wir haben inzwischen Schritte unternommen. Das wis-
sen Sie auch. Wir haben im Deutschen Bundestag den
Auftrag an die Bundesregierung gegeben, einen entspre-
chenden Gesetzentwurf vorzubereiten.

Natürlich hätten wir uns gewünscht, dass wir schon
weiter wären – das Thema ist aber, wie gesagt, sehr
schwierig – und heute einen entsprechenden Entwurf
hier vorliegen hätten. Manchmal sind die Dinge aber so,
wie sie sind. Und auch in einer schwarz-gelben Bundes-
regierung kann es vorkommen, dass die Mühlen einer
Ministerialbürokratie langsam – vielleicht etwas sehr
langsam – mahlen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gustav Herzog [SPD]: Für diese Erkenntnis bekommen Sie Applaus! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das passt bei Herrn Ramsauer ja! – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Vielleicht sollte er weniger Auslandsreisen machen!)


Aber noch einmal, damit hier keine Zweifel aufkom-
men: Für die Koalition bleibt die Abschaffung des
Schienenbonus in dieser Legislaturperiode eines ihrer
zentralen verkehrspolitischen Anliegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Unser Ziel ist, dass alle Planfeststellungsverfahren ab
2016 ohne die einseitige und nicht mehr tragfähige Be-
vorteilung der Schiene geplant werden. Was wir aber
nicht wollen, ist, in bestehende Planfeststellungsverfah-
ren einzugreifen.


(Gustav Herzog [SPD]: Dann werden vor 2016 noch ganz viele begonnen!)


Deshalb wollen wir die gesetzgeberisch deutliche Linie
2016. Nur so gibt es Klarheit und Planungssicherheit für
alle Seiten.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ge-
nerell Folgendes anmerken: Wir müssen den Lärmschutz
an der Schiene verbessern; denn nur so erhalten wir die
für den dringend benötigten Infrastrukturausbau notwen-
dige Akzeptanz in der Bevölkerung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir brauchen die Schiene als modernen, leistungsfä-
higen und umweltschonenden Verkehrsträger. Ich kann
die Menschen gut verstehen, die das Mehraufkommen
von Verkehr auf der Schiene und den damit in Zusam-
menhang stehenden Lärm in ihren Wohnungen und Häu-
sern nicht mehr hinnehmen wollen. Um diese Balance
und Akzeptanz zu erhalten, ist die Abschaffung des
Schienenbonus unerlässlich.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Sören Bartol [SPD])


Der Schienenbonus ist angesichts der hohen Zu-
wächse beim Schienengüterverkehr und neuerer Er-
kenntnisse heute nicht mehr gerechtfertigt.


(Sören Bartol [SPD]: Dann kommen Sie doch endlich mit einem Gesetzentwurf!)


Von mancher Stelle hört man, dass die Abschaffung
des Schienenbonus zu teuer sei und Schienenprojekte
durch Umplanungen verzögert würden. Das ist nicht
richtig; denn laufende Planfeststellungsverfahren, wie
bereits gesagt, sind nicht betroffen. Umplanungen sind
daher auch nicht erforderlich. Richtig ist aber, dass alle
ab dem Jahr 2016 neu geplanten Projekte durch mehr
und bessere Lärmschutzmaßnahmen teurer werden.


(Gustav Herzog [SPD]: Das ist doch der Sankt-Nimmerleins-Tag!)


Dies bedeutet im Gegenzug aber nicht, dass wir wegen
der Abschaffung des Schienenbonus eine höhere Haus-
haltslinie benötigen.

Wir müssen uns immer vor Augen halten: Wenn der
Schienenbonus bestehen bleibt und wir Anwohnern von
zukünftigen Bahnstrecken keinen angemessenen Lärm-
schutz bieten können, dann werden wir bald gar nicht
mehr bauen können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717618800

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Wilms?


Werner Simmling (FDP):
Rede ID: ID1717618900

Bitte.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717619000

Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie reden hier so voll-

mundig, als ob das Gesetz bis zum Ende der Wahlpe-
riode schon in Kraft treten könnte. Sehen Sie sich einmal
an, wie viel Zeit wir noch bis 2013 haben. Dann reden
Sie davon, dass der Schienenbonus stufenweise abge-
schafft werden soll.


Werner Simmling (FDP):
Rede ID: ID1717619100

Vollständig, sagte ich.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717619200

Sie haben aber vorher „stufenweise“ gesagt. Sie wi-

dersprechen sich.


Werner Simmling (FDP):
Rede ID: ID1717619300

Nein, nein, stufenweise und vollständig in dieser Le-

gislatur.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717619400

Das passt nicht zusammen. Liefern Sie endlich!


Werner Simmling (FDP):
Rede ID: ID1717619500

Sie werden sich wundern, was wir in der verbleiben-

den Zeit noch alles leisten können.


(Beifall bei der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Die FDP hat noch nie geliefert!)


Beim Lärmschutz an Bahnlinien handelt es sich nicht
nur um eine Einzelmaßnahme. Die Abschaffung des
Schienenbonus ergänzt die Gesamtkonzeption des Bun-
des zur Lärmbekämpfung im Schienenverkehr. Wesentli-
cher Inhalt ist die Lärmreduzierung an der Schallquelle.
Dies wird insbesondere durch die von der Bundesregie-
rung bereits angestoßenen Einführung eines lärmabhän-
gigen Trassenpreissystems und durch die Umrüstung
von Güterwagen auf die lärmarme K-Sohle, genannt die
Flüsterbremse, erreicht. Allein diese Maßnahme – ich
glaube, Herr Herzog sagte es – führt zu einer Reduzie-
rung des Lärms um 10 dB(A) und damit zu einer Halbie-
rung des subjektiven Lärmempfindens.


(Gustav Herzog [SPD]: Da sind wir uns ja einig! Dann machen Sie auch etwas!)


– Sehen Sie.

Mit einem Zitat von Goethe – Sie sehen, ich will auch
kritisch sein –, gerichtet an die Regierungsbank, will ich
enden: Der Worte sind nun genug gewechselt, lasst uns
endlich Taten sehen!

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gustav Herzog [SPD]: Das waren gute Worte zum Abschluss!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717619600

Das Wort hat nun Sabine Leidig für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717619700

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor

25 Jahren hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen
die damalige CDU-FDP-Bundesregierung umfassend
über die schädliche Wirkung von Lärm unterrichtet. In-
zwischen ist die Kernbotschaft vielfach bestätigt wor-
den: Lärm macht krank – vor allem, wenn er den Nacht-
schlaf stört.

Schallpegel von mehr als 60 Dezibel am Tag und
50 Dezibel in der Nacht müssen als gesundheitliche Be-
drohung angesehen werden. Das heißt für unsere Bevöl-
kerung: Fast ein Drittel ist Tag und Nacht von Straßen-
lärm bedroht. Beim Schienenlärm sind es tagsüber rund
9 Prozent und nachts über 20 Prozent.

Wenn Sie im Rheintal unterwegs sind, dann können
Sie es körperlich spüren, wie der höllische Krach alles
kaputt machen kann. Die Güterzüge, die mitten durch
die Ortschaften fahren, werden immer mehr. Sie fahren
vor allem in der Nacht. Sie werden immer schneller und
immer schwerer beladen. Oft sind die Waggons alt und
die Gleise ungepflegt. 110 Dezibel – der Kollege Herzog
hat es gerade geschildert – sind keine Seltenheit. Das
entspricht dem Lärm von Kettensägen und Pressluftham-
mern. Dass der Gesetzgeber, also die Mehrheit in diesem
Parlament, dieser Art von fahrlässiger Körperverletzung
nicht Einhalt gebietet, ist ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist doch verrückt, dass die Straßenbahnen und Per-
sonenzüge inzwischen ziemlich leise fahren, weil die öf-
fentlichen Auftraggeber darauf Wert legen. Aber dort,
wo private Unternehmen, vor allem große Konzerne,
ihre Produkte zwischen den Standorten in ganz Europa
transportieren, um mehr Gewinn zu machen, bleibt es
laut,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Weil die Verbraucher das wollen!)


ohne Rücksicht auf Verluste. Das ist nicht akzeptabel.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es fehlt nicht an konkreten Möglichkeiten, wie man die
Anwohnerinnen und Anwohner entlasten kann, wie man
eine moderne Güterbahn mit Ausbauperspektive schaf-
fen und dabei noch die Volkswirtschaft von unnötigen,
auf Lärm zurückzuführende Krankheitskosten entlasten
kann.

Wir haben bereits vor einem Jahr einen 14 Punkte
umfassenden Antrag eingebracht. SPD und Bündnis 90/
Die Grünen reichen schon seit längerem Anträge mit
sehr guten Vorschlägen ein,


(Gustav Herzog [SPD]: Seit über einem Jahr!)


und es gibt sehr kompetente Forderungen seitens der
Bürgerinitiativen. Nur von der Regierungskoalition
kommt fast gar nichts.

Sie stellen jetzt die lärmabhängigen Trassenpreise in
den Mittelpunkt und wollen die Sache damit im Grunde
dem Markt überlassen. Aber der Markt wird es nicht





Sabine Leidig


(A) (C)



(D)(B)


richten, jedenfalls nicht vor dem Sankt-Nimmerleins-
Tag.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Der Markt gibt dann die Gebühren an den Verbraucher weiter! So ist das!)


Es geht hier um die Gesundheit und Lebensqualität von
rund 16 Millionen Menschen in Deutschland. Für die
muss der soziale Staat, muss eine gute Regierung und
muss dieses Parlament Verantwortung übernehmen, und
zwar jetzt.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sorgen Sie dafür, dass die Graugussbremsen als
schlimmste Lärmquelle verboten werden, so wie es die
Schweiz vormacht.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Geht in der EU doch nicht! – Gegenruf der Abg. Dr. Valerie Wilms: Auch das kann man in der EU regeln, Herr Kollege!)


Investieren Sie in besseren Bahnverkehr. Nicht nur an
neuen, sondern auch an den bestehenden Strecken
braucht es Lärmschutz. Schaffen Sie schließlich den un-
sinnigen Schienenbonus ab; lasten Sie alle gesellschaftli-
chen Kosten den Verursachern an, beim Straßen- und
Flugverkehr genauso wie bei den Güterzügen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: An wen belastet der das weiter?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717619800

Das Wort hat nun Karl Holmeier für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1717619900

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Frau Leidig, wenn es nach Ihnen gehen würde, dann
würden wir alle in Deutschland wieder zu Fuß gehen,
und niemand hätte mehr ein Fahrzeug.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Es wäre gar nicht so schlecht, mehr zu Fuß zu gehen!)


– Das wäre Ihnen recht. – Zunächst möchte ich allen ein
herzliches Dankeschön dafür sagen, dass wir im Grunde
alle der gleichen Meinung sind: Verkehrslärm ist für die
Menschen ein großes Problem und eine Belastung. Darin
sind wir uns einig. Damit bin ich mit meiner Freude aber
leider schon am Ende.

Sehr verehrte Oppositionskollegen, Sie machen mit
den hier zur Debatte stehenden Anträge zwar viel Lärm,
nennenswerte Lösungsansätze oder gar Vorschläge zur
Finanzierung einzelner Forderungen kann ich in den An-
trägen bedauerlicherweise aber nicht finden.


(Gustav Herzog [SPD]: Die habe ich geäußert!)


Stattdessen greifen Sie vielfach nur Maßnahmen aus
dem Nationalen Verkehrslärmschutzpaket II auf, die be-
reits realisiert sind oder die sich noch in der Prüfung be-
finden, und satteln noch einmal drauf.

Zunächst möchte ich an dieser Stelle einmal Folgen-
des klarstellen: Wenn wir über Lärmbelastung der Men-
schen sprechen, dann ist es aus meiner Sicht und aus der
Sicht der christlich-liberalen Koalition vollkommen
egal, von welchem Verkehrsträger der Lärm ausgeht.
Ihre Oppositionsanträge widmen sich ausschließlich
dem Straßen- und dem Schienenverkehrslärm. Ich sage
aber ganz klar, und dazu stehen wir als Koalition: Unsere
Aufgabe ist es, alles dafür zu tun, Belastungen durch
Verkehrslärm jeglicher Art so gering wie möglich zu hal-
ten. Genau das tun wir.

Das bereits erwähnte Nationale Verkehrslärmschutz-
paket II enthält erstmals klare Vorgaben, in welchem
konkreten Maß die Belastungen durch Verkehrslärm ge-
mindert werden sollen.


(Gustav Herzog [SPD]: Das hat doch der Tiefensee gemacht!)


– Was hat denn der Tiefensee gemacht? Nichts hat er
gemacht.


(Sören Bartol [SPD]: Wir hatten einen schlechten Koalitionspartner!)


In diesem Konzept ist vorgesehen, bis zum Jahr 2020
den Flugverkehrslärm um 20 Prozent zu verringern.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717620000

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Willsch?


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1717620100

Gerne, ja.


(Gustav Herzog [SPD]: Könnt ihr auch in der Fraktion miteinander reden?)



Klaus-Peter Willsch (CDU):
Rede ID: ID1717620200

Lieber Herr Kollege Holmeier, durch den Zwischen-

ruf des Kollegen Herzog bin ich angeregt, Ihnen eine
Frage zu stellen. Da geht einem wirklich die Hutschnur
hoch. Mein Wahlkreis ist der Rheingau, wo jeden Tag
250 schwere Güterzüge durchdonnern. Seit 1998, seit-
dem ich in diesem Parlament bin, beschäftige ich mich
mit diesem Thema. Jedes Jahr gab es bei euch einen an-
deren Verkehrsminister. Ich habe selten eine Antwort
von dem Verkehrsminister bekommen, an den ich ge-
schrieben habe.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Weil hier die Haushälter beschimpft werden, möchte
ich sagen: Wir haben in 2008 für den Haushalt 2009
durchgesetzt, dass eine Umrüstung des rollenden Ge-
rätes aus den Haushaltsmitteln möglich ist. Dann hat
Tiefensee geschlafen und das Notifizierungsverfahren





Klaus-Peter Willsch


(A) (C)



(D)(B)


nicht vorangetrieben. In 2010 ist der Bescheid endlich
übergeben worden. Damit kann die Bahn umrüsten. Das
muss auch endlich geschehen. Dabei muss die Bahn ein
bisschen schneller werden. Meine Frage ist, ob Sie dem
zustimmen. Das, was wir politisch ermöglicht haben,
muss die Bahn nun endlich umsetzen.

Es ist nicht akzeptabel, dass in Assmannshausen in
meinem Wahlkreis jeden Tag Güterwaggons mit einer
Lautstärke von bis zu 103 Dezibel vorbeifahren und die
Schranke in Rüdesheim am Tag acht bis zehn Stunden
heruntergelassen ist. So kann es nicht gehen.


(Gustav Herzog [SPD]: Da gebe ich Ihnen sogar recht, Herr Kollege! – Gegenruf der Abg. Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Wunderbar!)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1717620300

Wir wissen, die Koalition kümmert sich um dieses

Thema. Wir wollen den Fluglärm um 20 Prozent redu-
zieren und den Schienenlärm um 50 Prozent. Damit ist
natürlich die Umrüstung der Wägen verbunden. Wir
können heute nur deutsche Wägen umrüsten. Angesichts
dessen wäre es vielleicht sinnvoll, ein europäisches För-
derprogramm zu schaffen, damit die Wägen in den Län-
dern der Europäischen Union umgerüstet werden kön-
nen. – Vielen Dank, Herr Kollege.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717620400

Herr Kollege, die Kollegin Wilms möchte eine Zwi-

schenfrage stellen.


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1717620500

Leider kann ich sie nicht beantworten. Wenn Sie mei-

nen Flieger stoppen können, dann lasse ich auch diese
Frage zu.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717620600

Das erklärt Ihre Antwort.


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1717620700

Hinzu kommen im Koalitionsvertrag beschriebene

Maßnahmen wie die Einführung einer lärmabhängigen
Trassenpreisgestaltung bei der Bahn und die Änderung
des Fluglärmschutzgesetzes, damit Anwohner an Mili-
tärflughäfen gleiche Ansprüche auf Erstattung von
Lärmschutzkosten haben wie die Anwohner von Ver-
kehrsflughäfen. Sie sehen: Uns geht es um die Men-
schen, die von Verkehrslärm betroffen sind, ungeachtet
der Lärmquelle. Denn den Menschen ist es egal, woher
der Lärm kommt.

Mit Blick auf die lärmabhängigen Trassenpreise will
ich noch einmal betonen, dass wir es waren, die dieses
Thema aktiv angegangen sind. Bereits in unserem An-
trag zur Rheintalbahn vom Frühjahr letzten Jahres haben
wir die Bundesregierung aufgefordert, hierzu eine ent-
sprechende Regelung zu treffen. Unser Verkehrsminister
Peter Ramsauer hat angekündigt, das Trassenpreis-
system noch heuer zum Fahrplanwechsel 2012/2013 ein-
zuführen. Wir halten keine Sonntagsreden, wir handeln,
meine sehr verehrten Damen und Herren von der Oppo-
sition.

In dem eben erwähnten Antrag vom vergangenen Jahr
haben wir im Übrigen auch die Bundesregierung dazu
aufgefordert, den Schienenbonus abzuschaffen. Trotz
vieler Probleme bei diesem Thema – das wurde bereits
einige Male angesprochen –, gerade was den Transitver-
kehr auf der Schiene betrifft, ist unter CSU-Verkehrsmi-
nister Ramsauer Bewegung in diese Sache gekommen.
Die Bundesregierung hat jetzt die Ressortabstimmung
zur Änderung der erforderlichen gesetzlichen Grundla-
gen eingeleitet, um den Schienenbonus tatsächlich abzu-
schaffen. Hier zeigt sich also wieder: Wir handeln. Die
Vorgängerregierungen mit SPD-Verkehrsministern ha-
ben zehn Jahre lang nichts zustande gebracht.

Wir kümmern uns natürlich auch um die Menschen
im Mittelrheintal, zu dem Sie extra einen Antrag einge-
bracht haben. Auch hier finde ich erstaunlich, dass Sie
bis Herbst 2009 über zehn Jahre lang Zeit hatten, sich
unter sozialdemokratischer Regentschaft im Bundesver-
kehrsministerium um das Mittelrheintal zu kümmern.
Nichts ist passiert.

Da musste erst ein CSU-Minister in das Haus ein-
ziehen, um festzustellen, dass für den gesamten Eisen-
bahnkorridor Mittelrheinachse/Rhein/Main–Rhein/Ne-
ckar–Karlsruhe geeignete verkehrliche Konzeptionen
fehlen. Kaum ist dies geschehen, springen Sie auf den
Zug auf und machen Lärm. Auf Initiative von Verkehrs-
minister Dr. Ramsauer wurde nun eine entsprechende
Studie für den Eisenbahnkorridor Mittelrheinachse aus-
geschrieben.


(Gustav Herzog [SPD]: Das geschah auf Initiative der Länder Rheinland-Pfalz und Hessen!)


Die dabei zu ermittelnden Optimierungsmaßnahmen sol-
len nach den Plänen des Ministers noch im Vorfeld des
Bundesverkehrswegeplans 2015 angegangen werden.


(Gustav Herzog [SPD]: Das machen wir dann!)


Hierbei werden sicher auch alternative Streckenführun-
gen für den Güterverkehr geprüft werden.

Was die Forderung nach kurz- und mittelfristigen
Maßnahmen angeht, so weise ich nur auf das Pilotpro-
jekt „Leiser Rhein“ hin, mit dem das Verkehrsministe-
rium die Umrüstung von bis zu 5 000 Güterwägen auf
lärmarme Bremssohlen fördert. Zudem hat auch die
Bahn angekündigt – hören Sie gut zu! –, mithilfe eines
sogenannten Lärmbeauftragten einen Ansprechpartner
für alle Fragen zu Lärmbelästigungen, Lärmbelastungen
und Lärmschutz an Schienenwegen zu schaffen. Damit
können Aufgaben und Kompetenzen besser gebündelt
und Probleme einfacher angegangen werden.

Sie sehen also, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren, die christlich-liberale Koalition packt an. Sie tut
tatsächlich etwas für den Schutz der Menschen vor
Verkehrslärm. Die vorliegenden Oppositionsanträge ma-
chen hingegen viel Lärm um nichts.

Danke. Schönes Wochenende!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717620800

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-

gin Valerie Wilms.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717620900

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Holmeier, jetzt

werden Sie vielleicht doch noch Ihren Flieger verpassen.
Aber kommen wir schnell zur Sache: Ich sehe beim bes-
ten Willen nicht, dass Sie da auf irgendeine Art und
Weise in Gang gekommen sind. Schauen Sie sich doch
einmal an, was dort bislang läuft. Die Trassenpreiskon-
struktion – das lärmabhängige Trassenpreissystem, das
Sie jetzt einführen wollen – funktioniert doch gar nicht.
Sie setzen bei der LL-Sohle auf ein System, das nicht zu-
gelassen ist. Niemand weiß, ob es überhaupt jemals zu-
gelassen wird. Das, was funktioniert, was in der Schweiz
vorhanden ist, können Sie mit dem lärmabhängigen
Trassenpreissystem als Anreiz gar nicht finanzieren.

Sie machen hier also wirklich viel Lärm um nichts.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist nicht nur einseitig der Fall!)


Sie haben uns eben etwas über Fluglärm erzählt. Der
steht hier überhaupt nicht zur Debatte. Also tun Sie jetzt
wirklich einmal Butter bei die Fische und schaffen Sie
endlich den Schienenbonus ab. Denn das wäre etwas,
das bei jedem neuen Projekt sofort wirksam würde, weil
dann der Vorteil der Bahn – Stichwort 5 dB – endlich
wegfällt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ihr wollt keinen Fluglärm, ihr wollt keine Schienen, ihr wollt keine Straßen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717621000

Kollege, wollen Sie reagieren? – Bitte schön.


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1717621100

Wir sind jetzt dabei, den Schienenbonus abzuschaf-

fen, und bringen es auf den Weg. Die Vorgängerregie-
rungen hatten Zeit: Die SPD hat zehn Jahre lang einen
Verkehrsminister gestellt; passiert ist nichts. Die rot-
grüne Regierung hatte Zeit; passiert ist nichts. Wir wer-
den es auf den Weg bringen; wir werden ab Herbst die
lärmabhängigen Trassenpreise haben. Ich glaube, das ist
ein guter und richtiger Weg; das wird ein erfolgreicher
Weg sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Wir sprechen uns im Herbst darüber!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717621200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 38:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Thomas Jarzombek, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian
Bernschneider, Nicole Bracht-Bendt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Eigenständige Jugendpolitik – Mehr Chancen
für junge Menschen in Deutschland

– Drucksache 17/9397 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

Die Fraktionen haben vereinbart, dass die Reden zu
Protokoll gegeben werden. Das haben folgende Kolle-
ginnen und Kollegen getan: Ingrid Fischbach, Stefan
Schwartze, Florian Bernschneider, Diana Golze, Ekin
Deligöz, Peter Tauber, Sönke Rix.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9397 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 9. Mai 2012, 13 Uhr, ein.

Ich wünsche Ihnen ein heiteres Wochenende.

Die Sitzung ist geschlossen.