Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Icheröffne die 175. Sitzung des Deutschen Bundestages.Man könnte das für eine Jubiläumsveranstaltung halten,der wir vielleicht in der Art der Debattenführung Glanzverleihen könnten.Ich beginne mit dem wichtigen Hinweis, dass derKollege Wolfgang Börnsen heute seinen 70. Geburtstagfeiert.
Wäre er hier, hätte ich die Glückwünsche jetzt in Platt-deutsch vorgetragen. So muss das gegebenenfalls imKulturausschuss nachgeholt werden. Daran habe ichauch keinen Zweifel. Jedenfalls übermittle ich ihm, si-cher auch in Ihrem Namen, unsere besten Wünsche.Ich weise darauf hin, dass es eine interfraktionelleVereinbarung gibt, die verbundene Tagesordnung umdie in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu er-weitern:ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKE gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BTzu der Antwort der Bundesregierung auf dieFragen 15 und 16 auf Drucksache 17/9351
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 40a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenOliver Krischer, Bärbel Höhn, Hans-JosefFell, weiteren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitli-chung der bergrechtlichen Förderabgabe– Drucksache 17/9390 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheitb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenKlaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister,Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk,Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund und derFraktion der FDPRechtssicherheit beim Zugang zu einemBasiskonto schaffen– Drucksache 17/9398 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Sozialesc) Beratung des Antrags der Abgeordneten ThiloHoppe, Cornelia Behm, Ute Koczy, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENVerantwortung für die entwicklungspoliti-sche Dimension der EU-Fischereipolitikübernehmen– Drucksache 17/9399 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionZP 4 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-spracheErgänzung zu TOP 41Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN
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20604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Anpassung der Marktprämie – Mitnahme-effekte streichen– Drucksache 17/9409 –ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD:Auswirkungen des deutsch-schweizerischenSteuerabkommens auf die grenzüberschrei-tende SteuerhinterziehungZP 5 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENChancen und Risiken ergebnisoffen bewerten –Verhandlungen mit dem Königreich Däne-mark über den Ausstieg aus dem Staatsver-trag über den Bau einer festen Fehmarnbelt-querung aufnehmen– Drucksache 17/9407 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 6 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Änderung des Stabilisierungsme-chanismusgesetzes– Drucksache 17/9145 –Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-ausschusses
– Drucksache 17/9435 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider
Otto FrickeDr. Dietmar BartschPriska Hinz
ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und FDP:Konjunkturprognose bestätigt: Deutschlandweiterhin im AufschwungVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 21 b und21 d abgesetzt.Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkt-liste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.Schließlich mache ich noch auf zwei nachträglicheAusschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkt-liste aufmerksam:Der am 29. März 2012 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-nung zur Mitberatung überwiesen wer-den:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur finanziellen Beteiligung am Euro-
– Drucksache 17/9048 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionDie am 30. März 2012 gemäß § 80 Abs. 3 GO über-wiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlichdem Haushaltsausschuss zur Mitbera-tung überwiesen werden:Unterrichtung durch die BundesregierungNationales Reformprogramm 2012– Drucksache 17/9127 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussSind Sie damit einverstanden? – Das ist offenkundigder Fall. Dann ist das so beschlossen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentri-büne hat die Parlamentspräsidentin Litauens, die Prä-sidentin des Seimas, Frau Irena Degutienė, mit ihrerDelegation Platz genommen. Im Namen aller Mitgliederdes Bundestages begrüße ich Sie ganz herzlich hier inunserem Parlament.
Wir hatten bereits gestern Gelegenheit – Sie werdenheute weitere Gelegenheit haben –, die in den vergange-nen Jahren sehr intensivierten Kontakte zwischen unse-ren Ländern, insbesondere zwischen unseren Parlamen-ten, zu würdigen und weitere Kooperationen zuvereinbaren. Für Ihren Besuch in Berlin, aber auch ananderen Plätzen wünschen wir Ihnen einen angenehmenund interessanten Aufenthalt. Alle guten Wünsche fürdie weitere Arbeit!Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuaus-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20605
Präsident Dr. Norbert Lammert
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– Drucksache 17/9369 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KathrinSenger-Schäfer, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEPflege tatsächlich neu ausrichten – Ein Lebenin Würde ermöglichen– Drucksache 17/9393 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
InnenausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Bärbel Bas, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDNeuen Pflegebedürftigkeitsbegriff einführen –Chancen zu nötigen Veränderungen nutzen– Drucksachen 17/2480, 17/7082 –Berichterstattung:Abgeordneter Willi ZylajewNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundesminister für Gesundheit, Daniel Bahr.
Guten Morgen, Herr Präsident! Sehr verehrte FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Le-benserwartung in Deutschland steigt erfreulicherweise.
Jeder Dritte von uns, so sagen die Statistiken, wird jen-seits des 80. Lebensjahrs auf Pflege angewiesen sein.Der demografische Wandel bedeutet aber auch, dassimmer mehr Ältere künftig immer weniger Jungen ge-genüberstehen. Das ist eine Herausforderung für das Ge-sundheits- und Pflegewesen. Derzeit sind 2,4 MillionenMenschen in Deutschland pflegebedürftig. Diese Zahlwird weiter deutlich steigen. Viele Menschen arbeitenbereits heute in der Pflege. Sie leisten tagtäglich einevorzügliche Arbeit und sorgen dafür, dass in Deutsch-land eine gute Pflege für Pflegebedürftige geleistet wird.
Für Union und FDP ist dabei klar: Ein Altern in Würde,ein selbstbestimmtes Leben bis ins hohe Alter müssenauch weiterhin möglich sein.Bei der Pflege geht es uns um den Zusammenhalt inden Familien und damit um den Zusammenhalt in derGesellschaft. Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, wiees Ihnen die Koalition hier vorlegt, stärkt den Zusam-menhalt in der Gesellschaft. Menschen wollen so langewie möglich zu Hause bleiben. Zwei Drittel aller Pflege-bedürftigen werden zu Hause, in den Familien, von An-gehörigen und ambulanten Pflegediensten gepflegt. DieHauptlast der Pflege tragen von daher die Familien undAngehörigen. Diese Koalition will daher die Mehrein-nahmen aus der Beitragssatzerhöhung zum 1. Januar2013 nicht mit der Gießkanne austeilen, sondern diesezusätzlichen Mittel ganz gezielt zur Unterstützung vonFamilien und Angehörigen nutzen. Wir kümmern uns.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Jahr2011 viele Dialoge mit Bürgerinnen und Bürgern sowieExperten geführt. Wir haben uns ein Bild davon ge-macht, wo dringender Handlungsbedarf besteht, undKonsequenzen daraus gezogen. Wir kümmern uns umDemenzkranke. Wir erweitern das Leistungsangebot derambulanten Pflegedienste um häusliche Betreuungsleis-tungen. Demenzkranke, die bisher keine oder kaumLeistungen aus der sozialen Pflegeversicherung erhaltenhaben, erhalten nun erstmals Leistungsansprüche oderhöhere als bisher. Personen mit erheblich eingeschränk-ter Alltagskompetenz in der sogenannten Pflegestufe 0,das heißt diejenigen, die bisher keine Leistung erhaltenhaben, erhalten nun erstmals Leistungen in Höhe derHälfte der Pflegestufe I; das sind 225 Euro pro Monatfür Pflegesachleistungen oder 120 Euro an Pflegegeld.In den Pflegestufen I und II werden Pflegesachleistun-gen und Pflegegeld für Pflegebedürftige mit erheblicheingeschränkter Alltagskompetenz entsprechend erhöht.Das heißt, ein Grundgedanke, der in der Diskussionum einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff enthaltenwar, nämlich Demenz endlich bei der Bewertung derPflegebedürftigkeit zu berücksichtigen und eine diffe-renziertere Einstufung bei der Pflegebedürftigkeit zu er-reichen,
wird mit diesem Gesetz im Vorgriff auf einen neuenPflegebedürftigkeitsbegriff umgesetzt.
Von diesen Leistungsverbesserungen profitieren etwa500 000 Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Damitkönnen es sich Familien, die bisher keine Unterstützungerhalten haben, beispielsweise leisten, einmal in der Wo-che Unterstützung in Anspruch zu nehmen.Die Angehörigen – das wissen wir – sind der größtePflegedienst der Nation. Sie sind besonders starken Be-lastungen ausgesetzt. Daher richtet diese Koalition die
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20606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Bundesminister Daniel Bahr
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volle Aufmerksamkeit darauf, Angehörige und Familienzu unterstützen.Künftig wird es so sein, dass bei Inanspruchnahmevon Leistungen der Kurzzeit- und Verhinderungspflegedas hälftige Pflegegeld weiter gezahlt wird. Damit er-möglichen wir pflegenden Angehörigen Auszeiten. Vonihnen haben wir nämlich häufig gehört, dass sie belastetsind und gerne einmal eine Auszeit nehmen wollen.Wir stärken durch gesetzliche Klarstellungen dieMöglichkeiten der Vorsorge und Rehabilitation.Wichtig ist uns auch: Wer mehr Pflegebedürftigepflegt, darf bei der Rente nicht schlechtergestellt wer-den. Das wird künftig berücksichtigt.
Wir stärken auch die Angehörigen, indem wir dieSelbsthilfegruppen in der Pflege mit 10 Cent pro Versi-chertem und Jahr besser als bisher fördern.Um ihre Rechte wahrnehmen zu können, brauchenPflegebedürftige und ihre Angehörigen mehr gezielteBeratung und Information, möglichst bei sich zu Hause.Schaffen die Pflegekassen das nicht oder können sie dasnicht innerhalb von 14 Tagen sicherstellen, gibt es einenBeratungsgutschein für eine externe, qualitätsgerichteteBeratung.Die Begutachtung durch den Medizinischen Dienstder Krankenversicherung – diesen erleben ja viele Be-troffene, wenn es um die Begutachtung eines Angehöri-gen geht – wird durch dieses Gesetz servicefreundlichergestaltet; eine fristgerechte Begutachtung und Leistungs-entscheidung der Pflegekassen werden sichergestellt.In dieser Woche ist ein neuer Bericht des Medizini-schen Dienstes der Krankenversicherung zur Qualität inder Pflege vorgelegt worden. Wir wissen: Vieles ist beider Pflege besser geworden, aber noch nicht alles ist so,wie es sein sollte. Hier sind die Selbstverwaltung, dieKrankenkassen und die anderen Partner, gefordert, fürmehr und bessere Qualität in der Pflege zu sorgen. Auchmit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz verbessern wirdie Qualität in der Pflege.Die medizinische Versorgung in Heimen wird deut-lich verbessert, indem zusätzliche Gelder zur Verfügunggestellt werden, damit sich der Haus- und Facharzt auchim Heim um die medizinische Versorgung kümmert unddie Pflegekräfte nicht den Krankentransport rufen undden Pflegebedürftigen ins Krankenhaus einweisen müs-sen.
Wir sehen vor, dass künftig Zeitkontingente verein-bart werden können, sodass verschiedene Leistungen derGrundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgungund Betreuung individuell und zielgenau entsprechendden Bedürfnissen selbst gewählt werden können. Pflege,meine Damen und Herren, ist menschliche Zuwendungund keine Akkordarbeit. Deswegen sorgen wir für mehrFlexibilität, um von einem starren Minutenkorsett in derPflege wegzukommen.
Wir fördern neue Wohnformen, weil es der Wunschder Menschen ist, so lange wie möglich zu Hause zubleiben. Allein die Alternative zu haben, entweder alleinin der Wohnung zu sein oder ins Pflegeheim zu gehen,ist nicht das, was sich die Menschen angesichts des de-mografischen Wandels wünschen. Deswegen fördern wirPflegewohngruppen und alternative, neue Wohnformenmit zusätzlichen Mitteln.
Wir stärken die private Vorsorge; denn die Pflegever-sicherung ist eine Teilkostenabsicherung. Keine Fraktionhier im Deutschen Bundestag stellt das infrage.
Somit ist, wie wir wissen, ein erheblicher Eigenanteil zuschultern. Deswegen fördern wir erstmals auch privateVorsorge der Menschen im Bereich Pflege. Meine Da-men und Herren von SPD und Grünen, seinerzeit habenSie die Riester-Rente eingeführt, um die private Eigen-vorsorge zu stärken, weil Sie sich bewusst waren, dassdurch die Umlage allein nicht alle Herausforderungendes demografischen Wandels geschultert werden kön-nen. Ich verstehe nicht, warum Sie nun bei der Pflege sokritisch sind. Auch bei der Pflege wird der demografi-sche Wandel zu finanziellen Herausforderungen führen.Deswegen brauchen wir neben der umlagefinanziertensozialen Pflegeversicherung auch eine kapitalgedeckteEigenvorsorge. Wir legen dazu erstmals etwas vor. DieBeratungen finden noch statt. Ein Entwurf wird dannvorgelegt.
An all den Maßnahmen, die diese Koalition imPflege-Neuausrichtungs-Gesetz vorgelegt hat, gibt eswenig Kritik; sie werden als richtig bezeichnet. Wir neh-men zur Kenntnis, dass die Opposition mehr fordert,aber alle hier im Plenum wissen: Es waren Union undFDP, die Mitte der 90er-Jahre die Pflegeversicherungüberhaupt erst geschaffen haben.
Alle hier im Plenum wissen, dass Rot-Grün in seiner Re-gierungszeit nicht eine einzige Verbesserung im Bereichder Pflege auf den Weg gebracht hat.
Sie haben nichts getan. Es ist erneut eine christlich-libe-rale Koalition, die eine Verbesserung für die Menschenin der Pflege erreicht.
Wir sorgen dafür, dass Menschen mit Demenzerkran-kung, die bisher keine oder kaum Leistungen aus derPflegeversicherung erhalten haben,
endlich eine Unterstützung für den besonderen Betreu-ungsaufwand, den eine Demenzerkrankung erfordert, er-halten. Das ist ein Vorgriff auf den neuen Pflegebedürf-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20607
Bundesminister Daniel Bahr
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tigkeitsbegriff, den wir noch genauer zu bestimmenhaben; in diesem Zusammenhang sind nämlich nochmehrere Fragen zu klären. Meine Vorvorgängerin vonder SPD, Frau Schmidt, hat doch selbst gesagt, dass esnoch drei bis vier Jahre Zeit braucht, um diese Fragen zuklären.
Wir werden keine Zeit verlieren. Die Menschen werdenschnell die Verbesserungen spüren.
Das vorliegende Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzstellt also keinen Menschen schlechter, sondern es stelltviele Menschen in Deutschland besser. Wir rücken dieFamilien, die Angehörigen in den Mittelpunkt, weil siees sind, die die Pflege zu Hause leisten. Ihnen gilt unsereAufmerksamkeit. Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzstärkt den Zusammenhalt in der Gesellschaft und ist des-wegen ein gutes Gesetz, meine Damen und Herren.
Das Wort erhält nun der Kollege Lauterbach für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Wir haben eben gehört, dass derMinister mit seinem Gesetz zufrieden ist. Das Problemist nur, dass das eine Einschätzung ist, die außer ihmkaum jemand teilt.
Ich darf Sie zum Beispiel daran erinnern: Das amhäufigsten gebrauchte Wort in der Presse im Zusammen-hang mit dieser Reform war der Begriff „Reförmchen“,Herr Bahr. Das ist auch zutreffend; denn mehr ist esnicht. Es ist nichts anderes als ein kleines Reförmchenim dritten Jahr der Regierungszeit dieser Koalition miteinem Gesamtvolumen von 1 Milliarde Euro.
Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie in den ersten Ta-gen Ihrer Regierungszeit dreimal so viel für Hoteliersgetan haben wie jetzt in Ihrem dritten Regierungsjahr füralle zu Pflegenden zusammen? Das ist doch die Wahr-heit!
Herr van Essen, das ist einer der Gründe, weshalb Sienicht mehr akzeptiert werden. Das ist so. Der Bürger istnicht so dumm, als dass er sich hier täuschen ließe. Vonwegen großartige Reform.Bringen Sie sich bitte in Erinnerung: Wer gehört dennzu den wichtigsten Kritikern der Reform? Es ist NorbertBlüm, der Vater der Pflegeversicherung, wenn man sowill. Sie werden doch derzeit aus den eigenen Reihenvon den Gründern der Pflegeversicherung zum Teilschärfer kritisiert als von der Öffentlichkeit. Das sollteIhnen zu denken geben.Ein paar Worte zu Ulla Schmidt, die Sie ja auch er-wähnt haben: Ulla Schmidt hat vor sechs Jahren gesagt,dass die Definition des Pflegebegriffs in drei Jahren fer-tig ist. Das ist richtig. Der Pflegebegriff ist fertig. Erhätte umgesetzt werden können, aber Sie machen esschlicht deshalb nicht, weil Sie die Kosten scheuen,
weil Ihnen dieses Projekt nicht wichtig genug ist,
weil Sie stattdessen die private Pflege fördern wollenund nichts für die Menschen tun wollen, die die Pflegedringend benötigen.
Sie haben beiläufig den Qualitätsbericht zur Pflegeerwähnt, Herr Bahr. Ich darf Sie daran erinnern: Hierwurde festgestellt, dass ein großer Teil der pflegebedürf-tigen Menschen an Schmerzen leidet, die, weil sie nichtdiagnostiziert sind, nicht behandelt werden. Die Men-schen liegen sich wund, liegen durch. Sie erkranken anDekubitus und versterben an der dann folgenden Infek-tion. Die Menschen leiden zum Teil unter Freiheits-beraubung ohne richterlichen Beschluss. Mit einemHalbsatz gehen Sie über diese beschämenden Qualitäts-defizite hinweg. 20 bis 40 Prozent der zu Pflegenden er-leiden eine Qualität, die nicht angemessen und unseresWohlstands nicht würdig ist. Und dann ist das alles, wasSie uns vorlegen. Das ist eine Schande, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren!
Ich will Ihnen sagen, was Sie bei einer wirklichenReform hätten machen müssen:Sie hätten den Pflegebegriff reformieren müssen. Wirhaben einen komplizierten bürokratischen Pflegebegriff,der dazu führt, dass die Pflege im Prinzip Abläufen folgt,aber nicht der Bedürftigkeit der Menschen. Das hättereformiert werden müssen. Das haben Sie nicht gemacht.Sie hätten die langfristige Finanzierung der Pflegesicherstellen müssen. Sie erwähnen die demografischeHerausforderung, die dadurch entsteht, dass wir alle älter
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20608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Karl Lauterbach
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werden – das hat, nehme ich einmal an, niemanden hierim Saal überrascht –, aber Sie bringen hierfür keineLösung, keine Reform.Als FDP haben Sie nichts zur Entbürokratisierungvorgetragen.
Jedes zweite Wort bei der FDP lautet doch „Steuern run-ter“ oder „Entbürokratisierung“. Hier hätten Sie doch dieGelegenheit dazu gehabt. Herr Bahr, ich erinnere Siedaran, Sie sind noch der Minister.
Ich glaube nicht, dass Sie noch viel Gelegenheit habenwerden, die Entbürokratisierung, die Sie immer fordern,selbst einzuführen.
Abschließend komme ich zum dem, was Sie auch hät-ten machen müssen: Eine deutliche Stärkung der ambu-lanten Pflege – nicht nur für die Pflegestufe 0, sondernauch für die hohen Pflegestufen – wäre dringend notwen-dig gewesen. Ich darf daran erinnern – ich nehme an,Herr Spahn wird das gleich vortragen –, dass wir in derGroßen Koalition bei der ambulanten Pflege zusammenein großes Stück weitergekommen sind. Wir haben dieambulante Pflege finanziell deutlich bessergestellt. Da-rüber gehen Sie schlicht und ergreifend hinweg. In derGroßen Koalition haben wir mehr erreicht, als Sie imdritten Jahr erreichen konnten.Sie speisen uns hier mit einer Reform ab, bei der defacto, wenn man ehrlich ist, um jeden Euro gefeilschtwird. Ich kann Ihnen auch sagen, woran das liegt. DerBürger versteht das ganz genau. Es liegt daran, dass esfür die Pflege keine ausreichende Lobby gibt. Die zuPflegenden haben nicht die Lobby, die sie benötigen, umvon dieser Regierung bedient zu werden. Das ist dieWahrheit.
Es liegt auch nicht am Geld. Wir wissen, dass Sie für dieNichterziehung von Kindern oder für die Vergabe vonRentenansprüchen, die auch der Millionärsgattin für frü-here Geburten zugutekommen, bis zu 10 MilliardenEuro ausgeben wollen. Manche von Ihnen kritisieren dasdoch selbst. Ihnen sind demnach die Millionen zu Pfle-genden nicht ein Zehntel dessen wert, was Sie jetzt fürdie Wahlkampfunterstützung von Horst Seehofer in Bay-ern ausgeben wollen. Das spielt sich hier ab.Sie haben die Menschen, die alt und krank sind undmöglicherweise ihre letzte Wahl vor sich haben – derenLebenserwartung beträgt ja im Durchschnitt noch zwei-einhalb Jahre –, enttäuscht. Sie haben das Jahr der Pflegeausgerufen. Die FDP hat die Chuzpe besessen und vomJahr der Pflege gesprochen. Nichts ist passiert. Jetzt wirdhier ein Gesetz vorgelegt, das im Prinzip eine Ohrfeigefür die pflegenden Angehörigen und die schwerkrankenMenschen ist.
– Das ist die Wahrheit, es ist keine Unverschämtheit.Das Gesetz ist die Unverschämtheit. Unverschämt istnicht, wie ich es beschreibe. Das ist die Wahrheit.
Herr Bahr hat eine Unverschämtheit vorgetragen – nichtich habe das getan.Es gibt hier keine Veränderung, es wird um jedenEuro gefeilscht. Diese 1 Milliarde deckt nicht einmalden Kostenanstieg, den es bei der Pflege in den letztenJahren gegeben hat.Somit sage ich Ihnen voraus: Sie werden auch fürdiese Reform die Quittung bekommen; denn unterschät-zen Sie nicht, dass die Menschen ein Gespür dafürhaben.
– Drei Jahre ist nichts passiert, Herr Spahn. Drei Jahrereden Sie über die Pflege, und nichts ist passiert.
Diese Regierung lässt die Alten und die Kranken – dieje-nigen, die mit Schmerzen in den Heimen liegen –, weilsie keine Lobby haben, im Stich und zurück. Das ist ausmeiner Sicht die Schande. Dies wird auch nicht mehrlange so weitergehen.Hilde Mattheis wird nachher unsere Gegenkonzeptevorstellen.
Wir haben ein umfangreiches Papier. Es soll nicht derEindruck entstehen, wir hätten keine Gegenvorschläge.
– Auch ich habe zur Sache gesprochen; ich habe davongesprochen, dass es eine Schande ist, dass Sie dieReform drei Jahre lang angekündigt und nichts auf dieReihe bekommen haben. Ich habe Ihnen beschrieben,wie die Reform hätte aussehen sollen. Wie sie konkretaussehen wird, wenn wir wieder regieren, wird Ihnenspäter beschrieben.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege JohannesSinghammer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20609
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Es war die christlich-liberale Koalition, die 1995
das Fundament für das Haus der Pflegeversicherung
gelegt, die ersten Geschosse gebaut und die Zimmer ein-
gerichtet hat.
Heute stocken wir um ein Geschoss auf und bauen viele
neue Zimmer.
– Hören Sie genau zu!
500 000 Demenzkranke – das sind so viele, wie die
Stadt Nürnberg Einwohner hat – erhalten erstmals Leis-
tungen. Pflegebedürftige entscheiden künftig selbstbe-
stimmt, was für sie beste Hilfe und Pflege ist. Der Grund-
satz „Wiederherstellung vor Pflege“ wird nachhaltig
umgesetzt. Neue Wohnformen entstehen. Pflegebedürf-
tige und Pflegekräfte werden künftig mitreden, auch bei
der Bewertung und Einstufung der Pflege. Die Selbsthilfe
erhält mehr Geld. Beim Medizinischen Dienst wird der
Dienstleistungscharakter in den Vordergrund gestellt.
Versicherte werden nicht alleingelassen, sondern frühzei-
tig beraten – mit verbesserter Rechtssicherheit. Wer in
der Familie selber pflegt, soll nun erstmals Erholungs-
möglichkeiten bekommen. Familienangehörige werden
künftig Pflegegeld und Verhinderungspflege gleichzeitig
erhalten. Angehörige, die pflegen, erhalten eine höhere
Rente, und in Pflegeheimen wird die ärztliche und zahn-
ärztliche Versorgung auf eine neue, sichere Grundlage
gestellt. Das kostet genau 1 100 Millionen Euro. Diese
sind gut angelegt, und sie werden nicht mit der Gieß-
kanne verteilt, sondern schwerpunktmäßig dort einge-
setzt, wo wir das Geld am dringendsten brauchen.
Jeder von uns kann plötzlich pflegebedürftig werden.
Viele machen sich Gedanken: Was wird dann sein?
Eines wissen wir alle gemeinsam sehr genau: Aufgrund
der demografischen Entwicklung wird die Zahl der
Demenzkranken in den nächsten Jahrzehnten steigen.
Schon heute leisten vor allem die Familienangehörigen
in der ambulanten Versorgung Demenzkranker eine
großartige Arbeit. Die Familienangehörigen, die die
Pflege bewerkstelligen, sind letztlich die Heldinnen und
Helden. Deshalb wird der Schwerpunkt auf die ambu-
lante Versorgung der Demenzkranken gelegt.
Um ein Gespür dafür zu bekommen, worum es dabei
geht – sind das Peanuts, oder geht es um die Substanz? –,
nenne ich zwei Zahlen: Ab Januar nächsten Jahres sollen
erstmals für die ambulante Versorgung Demenzkranker
nicht 20, nicht 100, nicht 200, sondern 225 Euro im Mo-
nat gezahlt werden.
Neben den Demenzkranken wollen wir eine Vielzahl
anderer Gruppen Pflegebedürftiger stärken.
Herr Kollege Singhammer, darf der Kollege Seifert
Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Aber gerne.
Herr Kollege Singhammer, Sie haben gerade beson-
ders betont, dass Ihre sogenannte Reform die häusliche
Pflege – das ist das, was die Familienangehörigen tun –
am meisten stärkt. Warum, bitte schön, setzen Sie die
Geldleistungen dann nicht endlich mit den Sachleistun-
gen gleich? Sie sorgen doch dafür, dass weiterhin für
einen fremden Dienst, der beauftragt wird, viel mehr
Geld bezahlt wird, als für die Pflege durch eigene Ange-
hörige. Sie widersprechen sich in Ihrer Rede damit
selbst. Wo ist die Konsistenz in Ihrem Konzept, in Ihrer
Arbeit?
Herr Kollege Seifert, wir nehmen nicht nur Verbesse-rungen im Bereich des Pflegegeldes, sondern auch imBereich der Pflegesachleistungen vor. Beides sind unter-schiedliche Arten der Pflegehilfe. In dem einen Fallmüssen Sie direkt etwas ausgeben für die Leistungen,die bezahlt werden müssen. In dem anderen Fall könnenSie mit dem Pflegegeld im Sinne eines Budgets agieren.Das ist der Unterschied. Wir bleiben bei dem System,aber die Ansätze für beide Leistungen werden deutlicherhöht. Ich denke, das muss man hier einfach einmalfesthalten.Wir werden neben den Demenzkranken einer Vielzahlvon Gruppen Pflegebedürftiger helfen. Das ThemaMinutenpflege hat die Diskussion über viele Monatehinweg bestimmt. Jeder hat festgestellt, dass diese Artder Pflege renovierungsbedürftig ist. Wir ändern dasjetzt. Wir beschreiten einen neuen Weg: Die Minuten-pflege wird von einer flexiblen Zuwendungspflege abge-löst. Was heißt das? Der einzelne Pflegebedürftige kannsich erstmals aussuchen, wie viel Grundpflege, wie vielhauswirtschaftliche Versorgung oder Betreuung er inAnspruch nimmt. So kann er für sich selber ein indivi-duell maßgeschneidertes Paket schnüren. Das ist einFortschritt. Wer dies kritisiert und nicht will, der solldem Pflegebedürftigen in die Augen schauen und sagen:Ich möchte, dass es bei der Minutenpflege bleibt; ich bingegen die Einführung der Zuwendungspflege.
Wir wollen sie.
Viele Pflegebedürftige leiden unter einer schwierigenEntscheidung: Die Versorgung zu Hause wird zuneh-mend schwieriger, aber in eine stationäre Einrichtungmöchte man nicht. Deshalb schaffen wir eine neue Mög-lichkeit für all diejenigen, die zu Hause nicht mehr ver-sorgt werden können, aber auch nicht in ein Heim wol-
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20610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Johannes Singhammer
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len. Wir geben Pflegebedürftigen ein Stück mehrFreiheit, indem jeder Pflegebedürftige 2 500 Euro alsGründungszuschuss für eine ambulant betreute Wohn-gruppe bekommt, in der er selbstständig Pflegekräftebeschäftigen kann.Wir sehen vor allem auch für die Pflegenden in derFamilie, die einen großartigen Dienst leisten, eine eigeneRegenerationsmöglichkeit vor. Das heißt, dass die Pfle-genden auch einmal in Kur gehen können. Wer täglichpflegt und dadurch stark beansprucht wird, braucht aucheinmal eine Auszeit für sich selbst. Er soll die pflegebe-dürftigen Angehörigen aber mitnehmen können, wenn erzur Kur fährt. Wir wissen, dass viele, die das Angebotbekommen, eine Kur zu machen, in Sorge sind, was inder Zeit mit den pflegebedürftigen Angehörigengeschieht. Deshalb soll er sie mitnehmen können, natür-lich nicht, um sie während der Kur zu pflegen, sonderneinfach, um sie in der Nähe zu wissen und den Kontakthalten zu können. Das ist ein Stück mehr Menschlich-keit, auf das viele schon lange gewartet haben.
Wir werden auch im stationären Bereich etwas tun.Wir haben 77 Millionen Euro vorgesehen, damit Men-schen, die sich in einem Pflegeheim befinden, dort künf-tig eine gute ärztliche und zahnärztliche Versorgunggarantiert bekommen. Wir haben mit dem Versorgungs-strukturgesetz begonnen – 20 Millionen Euro für diezahnärztliche Versorgung –, und setzen dies jetzt fort.Das ist richtig; das macht Sinn.Ich sage an dieser Stelle aber auch: Das Haus derPflege wird noch weitere Stockwerke benötigen.
Ich denke zum Beispiel an die demografischeReserve. Die demografische Entwicklung ist nichts Kli-nisches, das wir im Reagenzglas beobachten können,sondern etwas, das Deutschland in einer Weise umfor-men wird, wie wir es uns, glaube ich, noch gar nicht vor-stellen können. Ich sage an dieser Stelle auch: AlleZuwanderung der Welt wird das Problem nicht lösen,wenn wir in unserem Land nicht wieder mehr Kinderbekommen. Was werden wir tun? Wir wollen eine pri-vate zusätzliche Vorsorge, für die steuerliche Erleichte-rungen vorgesehen sind; zugleich brauchen wir für dieje-nigen, für die steuerliche Erleichterungen nicht attraktivsind, einen Zuschuss. Wir brauchen beides. Wir wollendiese beiden neuen Stockwerke synchron in das Gesetz-gebungsverfahren einbringen.
Ich möchte noch einmal auf das Stockwerk „Pflege-bedürftigkeitsbegriff“ eingehen.
Der Begriff der Pflegebedürftigkeit bedarf noch einerNachjustierung. Wenn wir die Gruppen der Pflege-bedürftigkeit neu bewerten – 0 bzw. I bis V –, muss bei2,3 Millionen schon jetzt Pflegebedürftigen – das istdoch klar – vorher exakt festgelegt werden, wie wir dasgestalten. Wann beginnt die Begutachtung? Wie vieleFachkräfte brauchen wir dazu? Mit welcher Gruppebeginnen wir? Diese Fragen muss verantwortungsvollePolitik vorher klären.
Ich danke dem Kollegen Wolfgang Zöller, dass er dieschwierige Aufgabe übernommen hat, den Beirat weiterzu begleiten, um bald zu einem Ergebnis zu kommen.
Wir schieben das nicht auf die lange Bank. Die jetzigeEinstufung gerade der Demenzkranken ist die Stufe 0 indem neuen Katalog. Das heißt, das ist nicht weiße Salbe,sondern wirksame Therapie. Der neue Pflegebedürftig-keitsbegriff kommt nicht erst in Zukunft, sondern erwird schon jetzt ein Stück weit umgesetzt und wirddamit zur Realität.
Lassen Sie mich zum Schluss einen weiteren wichtigenPunkt ansprechen. Gute Pflege braucht vor allem Pflege-fachkräfte. Pflegefachkräfte brauchen eine gerechte Ent-lohnung, einen gerechten Gegenwert für ihre aufopfe-rungsvolle Arbeit.
Sie brauchen eine gute Qualifikation; auch das ist wich-tig. Was wir aber nicht brauchen, ist eine verpflichtendvorgeschriebene Akademisierung des Pflegeberufs mitder Folge, dass jeder, der in der Pflege tätig sein will,noch vor der Ausübung der Fachpflege eine Hochschul-zugangsberechtigung nachweisen muss. Das brauchenwir nicht.
– Das will die EU, Frau Ferner. Wir kämpfen hoffentlichgemeinsam dafür, dass das nicht Realität wird.Was Pflegekräfte vor allem brauchen, ist ein großes,weites Herz.
Das, was sie tun, ist praktizierte Nächstenliebe.
Deshalb, Herr Kollege Lauterbach, ist es wichtig, ineiner solchen Debatte all denjenigen, die beruflich oderehrenamtlich in ihrer Familie jemanden pflegen, einherzliches Dankeschön zu sagen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20611
Johannes Singhammer
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Sie verdienen dafür große Anerkennung und großenRespekt. Herzlichen Dank all denen, die diese wunder-bare Nächstenliebe jeden Tag praktizieren!Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Senger-Schäfer für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Gute Pflege ist ein Menschenrecht. Für dieLinke steht fest: Eine diskriminierungsfreie, menschen-würdige Pflege ist für alle Menschen zu sichern.
Das Haus der Pflege – Sie bemühten diesen Begriff vor-hin so trefflich – ist morsch und droht einzustürzen. DieAngehörigen und die zu Pflegenden drohen unter denTrümmern begraben zu werden. Das ist die Wahrheit.Das ist das, was Sie mit Ihrem Gesetz anrichten.
Eine tatsächliche Neuausrichtung der Pflegeversiche-rung ist längst überfällig. Alle unmittelbar Betroffenen,also die Angehörigen und die Beschäftigten der Pflege-berufe, müssen Berücksichtigung finden. Niemand darfNachteile erleiden. Die Politik hat die Rahmenbedingun-gen für eine Neuausrichtung der Pflegeversicherung zusetzen, ohne Wenn und Aber.
Seit Jahren besteht Konsens, dass es dringendenHandlungsbedarf gibt; das haben, wie ich glaube, mitt-lerweile alle begriffen. Trotzdem ist der große Wurf bis-her nicht gelungen. Die gesetzgeberischen Maßnahmender vergangenen Jahre ändern nichts an der Tatsache,dass es nach wie vor gravierende Missstände gibt. Wirhaben ja schon öfter vom dritten Pflegebericht des Medi-zinischen Dienstes gehört, dem zu entnehmen ist, dassbei sagenhaften 40,7 Prozent der Pflegebedürftigen, beidenen das Risiko des Wundliegens besteht, Versäum-nisse bei der Vorbeugung festgestellt wurden. Das ist einSkandal.
Weil aufgrund von zu wenig Pflegepersonal geradebei Menschen mit Demenz zu wenig Zeit für die Betreu-ung vorhanden ist, bleibt oft nichts anderes übrig, alsdiese Menschen mit Medikamenten ruhigzustellen. Dasist medikamentöse Freiheitsberaubung.
Im Klartext gesprochen: Pflegenotstand, Fachkräfte-mangel und Unterfinanzierung gipfeln in unhaltbarenZuständen. Diese Zustände schreien geradezu nach Ver-änderung und nicht nach Beschönigung. Wir brauchenStrukturen, welche die bedarfsgerechte Versorgung vonälteren Menschen und jüngeren pflegebedürftigen Men-schen sicherstellen und gleichzeitig vor Armutsrisiken,Überforderung und Überlastung des Umfeldes schützen.Eines steht für die Linksfraktion fest: Um dem Men-schenrecht auf gute Pflege gerecht zu werden, sindSelbstbestimmung und Teilhabe zu ermöglichen.
Die Minutenpflege muss beendet und eine neue Bedarfs-ermittlung geschaffen werden. Dafür steht der neue Pfle-gebegriff. Auch wenn es immer wieder anders darge-stellt wurde: Dieser liegt nun – man kann es kaumglauben – seit gut drei Jahren vor. Obwohl es zu Beginndes Jahres 2011 ein großspuriges Bekenntnis zum Jahrder Pflege aus dem Munde von Herrn Rösler gab, schafftes Herr Minister Bahr bis heute nicht, eine politischeEntscheidung zur Umsetzung des neuen Pflegebegriffszu fällen.
In der Systematik bleibt im Grunde alles, wie es ist – eswerden nur Stockwerke aufgebaut, wie wir gehört ha-ben –, auch wenn behauptet wird, dass ein paar HundertEuro ein Vorgriff auf den neuen Pflegebegriff seien.Wäre dem so, dann wäre es doch auch möglich gewesen,sich mit einem neuen finanziellen Rahmen auf dieUmsetzung des neuen Pflegebegriffs festzulegen.
Aber eine Entscheidung im Rahmen des Pflege-Neuaus-richtungs-Gesetzes scheut der Herr Minister wie derNeoliberalismus das Urteil von Ratingagenturen. Ichsage: Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz der schwarz-gelben Bundesregierung verdient schlicht seinen Namennicht.
Bei allem Respekt vor den Verbesserungen, die diePflegeversicherung mit sich gebracht hat:
Der Geburtsfehler der Pflegeversicherung liegt jagerade darin begründet, dass Menschen mit Demenz vonAnfang an ausgeklammert wurden, da sich der Fokusallein auf den somatischen Bereich gerichtet hat, undzwar – das ist der eigentliche Skandal – aus Kostengrün-den. Das Gebot der Stunde ist ein fundamentaler Wan-del. Die Zeit der Flickschusterei muss in der Pflege einfür allemal vorbei sein.
Dafür setzt sich die Linke mit dem heute vorliegen-den Antrag „Pflege tatsächlich neu ausrichten – EinLeben in Würde ermöglichen“ ein. Ich kann es nicht oftgenug betonen: Es gilt, endlich den neuen Pflegebegriffumzusetzen. Dafür gibt es gute Gründe: Der derzeitigePflegebegriff ist pflegewissenschaftlich nicht mehr ver-tretbar, und der veraltete Pflegebegriff ist schlicht unge-recht.
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20612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Kathrin Senger-Schäfer
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Ich möchte Ihnen auch sagen, warum: Wenn einMensch aufgrund eines Schlaganfalls körperlich nichtmehr in der Lage ist, sich selbst zu waschen, dann gilt erals Pflegefall. Aber die Situation, dass beispielsweisemeine Nachbarin aufgrund ihrer Demenz hilflos und ver-wirrt mitten in Berlin auf einer Straßenkreuzung stehtund nicht mehr weiß, wie sie wieder nach Hause kommt,ist unter Umständen lebensgefährlich, wird allerdingsbis heute in der Pflegeversicherung nicht ausreichendberücksichtigt. Genau das müssen wir ändern.
Unfähigkeit oder aber eine bloße Hinhaltetaktik hilft denBetroffenen nicht.Noch ein Wort zur Finanzierung: Über Monate hin-weg eierte die Koalition in Sachen verpflichtende kapi-talgedeckte Pflegezusatzversicherung herum, weil dasFDP-geführte Gesundheitsministerium offenbar ein Pro-blem hat: Einerseits soll die Versicherungsindustrie ihrliberales Zubrot bekommen, andererseits scheint derKoalitionspartner, hier insbesondere der bayerischeAbleger, zu ahnen, dass ein solch ungerechtes, unsozia-les und zudem unsicheres Finanzierungsmodell bei denMenschen nicht ankommt.Anstatt die Finanzierung endlich auf eine solide undgerechte Grundlage zu stellen und das nicht mehr zeitge-mäße und ungerechte Nebeneinander von sozialer undprivater Pflegeversicherung zu beenden, fällt Ihnennichts Besseres als eine Beitragserhöhung und eine Aus-sicht auf eine Riester-Rente ein.
Über Riester-Renten haben wir in der Vergangenheit jagenug gehört. Es bleibt zu befürchten, dass diese Riester-Pflege am Ende doch nur die Versicherungswirtschaftpflegt.
Auch für die Beschäftigten in den Pflegeberufen sindkeine Verbesserungen in Aussicht gestellt. Vielmehrwird mit der Aushebelung der ortsüblichen Vergütungdem Lohndumping auch noch Vorschub geleistet. Dasbringt für mich das Fass zum Überlaufen. Besinnen Siesich doch auf das, was uns die Menschenwürde vorgibt,und orientieren Sie sich am heute vorliegenden Antragder Linken! Richten Sie die Pflege tatsächlich an denBedürfnissen der Menschen aus!
Die Kollegin Aschenberg-Dugnus ist die nächste
Rednerin für die FDP-Fraktion.
– Entschuldigung. Das können wir ohne Kollision recht-
zeitig korrigieren. – Frau Kollegin Künast, bitte schön,
Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrMinister Bahr, Sie haben in Ihrer Rede behauptet, derGesetzentwurf enthalte tatsächlich eine Pflegeneuaus-richtung. Aber wenn wir in den Entwurf hineinschauen,stellen wir fest: Ihre Rede war nichts anderes als vielSchönrederei, Herr Bahr.
Die Schönrederei ist durch Sie, Herr Singhammer,noch getoppt worden,
als Sie vorhin sagten: Pflegekräfte brauchen ein großesHerz, und wir danken ihnen.
Tausende von Pflegekräften in diesem Land leisten inihrem miserabel bezahlten Job Schwerstarbeit, zum Bei-spiel in Pflegeheimen. Sie stehen jetzt da, schauen aufihre Hand und denken: Diese Koalition hat nicht mehrals einen lauwarmen Händedruck für mich übrig. – Das,Herr Singhammer, ist nicht in Ordnung.
– Das ist nicht in Ordnung.
Wer öfter in Heimen ist, weiß, wie sich Pflegekräfteaufreiben.
– Dazu komme ich gleich. – Die Pflegekräfte lernen inihrer Ausbildung, dass der Mensch körperliche Pflege,die Zuführung von Nahrungsmitteln und Flüssigkeitbraucht, dass aber zu seiner Existenz eben auch sozialeZuwendung und Nähe gehören. Die Pflegekräfte inDeutschland haben dafür so gut wie überhaupt keineZeit. Wegen solcher Defizite können Menschen sterben.Weil der Job so schwer ist und so schlecht bezahltwird und weil es auch psychisch schwer ist, all diesesLeid und die Sorgen zu sehen, ist die Wahrheit: InDeutschland gibt es längst Altersheime, bei denen dieAufsicht sagen muss: Wir schließen bei euch Stationen,weil ihr kein ausreichendes Personal mehr habt. – Sie,Herr Singhammer und Herr Bahr, reagieren aber nur miteinem warmen Händedruck. Denn Ihr Pflege-Neuaus-
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Renate Künast
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richtungs-Gesetz richtet nichts neu aus und löst dieseProbleme nicht.
Schauen Sie sich die Situation einmal an: Wir haben ei-nen demografischen und einen sozialen Wandel. Wir wis-sen, dass der Wandel in den Familienstrukturen – wenigerGroßfamilien, verschiedene Generationen leben an ver-schiedenen Orten – und der Wandel der Krankheitsbilderim Ergebnis eine wirkliche Neuausrichtung erfordern,wenn wir mit alten Menschen solidarisch umgehen wol-len.Es ist gerade von meiner Vorrednerin gefragt worden:Was ist denn in Heimen los? Selbst der MedizinischeDienst hat festgestellt, wie oft durch nicht ausreichendeBehandlung ein Wundliegen, ein Dekubitus, zustandekommt. Jeder, der das einmal bei einem Menschen erlebthat, weiß: Das geht oftmals nicht mehr weg, wenn maneinmal bettlägerig ist. Das verschlechtert den Allge-meinzustand und schränkt die Möglichkeiten der Men-schen immer weiter ein bis hin zu dem Punkt, dass dieMenschen allein in ihren Zimmern oder auf den Flurenohne Zuwendung sitzen und sich stundenlang niemandmit ihnen beschäftigt. Für all das bräuchte man einewirkliche Qualitätsoffensive in der Pflege. Das habenSie nicht einmal ernsthaft angepackt, Herr Bahr.
Sie werden – das gebe ich zu – die Situation derDemenzkranken ein klein wenig verbessern. Aber das istauch nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.Ihre geplante Beitragssatzerhöhung ist auch kein finan-zielles Konzept, um die Pflege zukunftsfest zu machen.Sie hätten den Mut haben müssen, zu sagen: Jetzt gehenwir einen großen Schritt. – Der hätte die Reform desPflegebedürftigkeitsbegriffes sein müssen. Der Beirathat Bedarfsstufen entwickelt. Warum sind sie in diesemGesetzentwurf nicht enthalten? Das ist doch die Frage.
– Es ist klar, dass das nicht so einfach geht. Lassen Siemich aber einschieben: Dass diese Koalition schwierigeProbleme nicht lösen kann, davon war ich sowieso über-zeugt.
Das können Sie weder bei den Kindern noch bei den al-ten Menschen, weil es immer nur um Machterhalt geht.Wenn es so schwer ist – drei Jahre sind eigentlich einelange Zeit –, dann sagen Sie doch einfach, dass Sie einenMonat länger brauchen. Aber machen Sie es richtig!
Sie reparieren nur an dieser Geschichte herum.Wenn wir den Pflegebedürftigkeitsbegriff nicht refor-mieren und nicht konkret sagen, welche Leistungen manbei welchen Krankheiten bekommt, dann werden wir derheutigen Situation nicht gerecht. Nehmen wir die De-menzkranken; wir könnten auch jemanden nehmen, dereinen Schlaganfall hatte. Wenn Sie nur messen wollen,ob jemand rein physisch in der Lage ist, die Hand in denWaschlappen zu stecken und sich zu waschen, dann ha-ben Sie nicht zur Kenntnis genommen, dass Personen,die dement sind oder einen Schlaganfall hatten, schlichtund einfach vergessen, welche Funktion ein Waschlap-pen hat und was sie damit machen wollten. Es entsprichtaber nicht unserer Vorstellung von einem Alter inWürde, dass man die Menschen mit diesen Problemenalleinlässt. Sich zu waschen, für Sauberkeit zu sorgen,sich anzuziehen, ausgehen zu können und Kontakte zuhaben, all das gehört halt dazu. Sie kümmern sich aberdarum nicht.
– Nein, Sie kümmern sich darum nicht wirklich. Siemüssten dann tatsächlich den Pflegebedürftigkeitsbegriffändern.Auch was Sie über pflegende Angehörige gesagt ha-ben, war nichts anderes als Schönrederei.
In Wahrheit ändern sich ein paar Begriffe, aber es ändertsich nichts Wesentliches für pflegende Angehörige.
Das betrifft insbesondere die Frauen. Die Frauen über-nehmen die Pflege. Sie werden aber durch Ihre finanziel-len Regelungen nicht sozial abgesichert, kommen nachJahren nicht wieder in ihre Jobs hinein und geratendirekt in die Altersarmut. Das ist nicht in Ordnung. Dasist keine Neuausrichtung der Pflege.
Ein letzter Gedanke, meine Damen und Herren: Ichhabe dem neuesten Stern entnommen, wie sehr Frau vonder Leyen jetzt wieder kämpft – da müssen Sie sich weh-ren –, weil eine Frau, die in irgendeinem Kaufhaus arbei-tet, einen schlechten Arbeitsvertrag hat. Vielleicht kön-nen wir eines Tages einen Artikel schreiben, in demsteht: Gegen Sie, Frau von der Leyen und Herr Bahr,müssen sich die Pflegekräfte wehren. Denn Sie lassendie Pflegekräfte, viele davon aus Osteuropa, mit800 Euro im Monat nach Hause gehen. Sie machen Vor-schläge, damit mehr Ärzte ins Altersheim kommen, undgeben denen dann noch eine Extravergütung. Das istanscheinend nötig. Aber in der Pflege, in der im Wesent-lichen Frauen arbeiten, reduzieren Sie die Löhne noch,
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20614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Renate Künast
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weil Sie die Zulassung von Heimen nicht mehr von derBezahlung des ortsüblichen Lohns abhängig machen. Sogeht keine gute Pflege.
Wir glauben, dass man zwei Punkte angehen muss.Erstens muss der Pflegebedürftigkeitsbegriff reformiertwerden, damit auch die psychischen Gegebenheiten mit-berücksichtigt werden.
Zweitens brauchen wir – das ist die einzig sinnvolleLösung – eine Bürgerversicherung.
Frau Kollegin.
Nur mit einer Bürgerversicherung in der Pflege kön-
nen Sie den zukünftigen Kostensteigerungen entgegen-
wirken und für eine würdevolle Pflege in Deutschland
sorgen.
Aber da trauen Sie sich nicht heran.
Nun erhält tatsächlich die Kollegin Aschenberg-
Dugnus das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich würde jetzt gerne zu einer seriösenSachdebatte zurückkommen. Ich denke, das können wirgut gebrauchen.
Die Menschen, die uns zuhören, haben einenAnspruch darauf, dass wir die Herausforderungen desdemografischen Wandels in der Pflegeversicherung an-nehmen. Denn dafür haben uns die Menschen gewählt.Wir müssen deshalb die Pflegeversicherung zukunftsfestmachen und dafür Sorge tragen, dass alle Menschen indiesem Lande auch weiterhin würdevoll alt werden kön-nen.Eine Neudefinition der Pflegebedürftigkeit – darinsind wir uns alle in diesem Hause einig – ist deshalb ge-rade im Hinblick auf Demenzerkrankungen absolut not-wendig. Daran arbeiten wir bereits intensiv. Denn dieDemenzkranken haben unter den Vorgängerregierungenschon lange genug gewartet.Wir schaffen mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzschon vorab, also vor der umfangreichen Neudefinition,ganz konkrete Verbesserungen.
Zwei Kernelemente des eingebrachten Gesetzentwurfssind: zum einen Leistungsverbesserungen für Demenz-kranke und ihre Familien und zum anderen die immerangemahnte Flexibilisierung der Leistungsinanspruch-nahme. Sie müssen den Gesetzentwurf nur lesen.Im Vorgriff auf eine Neudefinition der Pflegebedürf-tigkeit wird es nun erstmals richtige Leistungen aus derPflegeversicherung für Demenzkranke geben. Heute er-halten Menschen, die an Demenz erkrankt sind, lediglich100 oder 200 Euro für niedrigschwellige Angebote. Wirsorgen jetzt dafür, dass bereits in der Pflegestufe 0 Leis-tungen zur Verfügung stehen. Das heißt konkret, stattnull Euro wie bisher gibt es in der Pflegestufe 0 nun225 Euro im Monat für Sachleistungen und 120 EuroBetreuungsgeld. Auch in den folgenden Pflegestufenwird es mehr Geld geben.
Das sind zusätzliche Leistungen, die den Demenz-erkrankten ab dem 1. Januar 2013 zur Verfügung stehen.Das können Sie nicht schlechtreden.Ein weiterer Punkt sind die starren Pflegekomplexe.Diese wollen wir durch eine Flexibilisierung des Leis-tungsrechts weiter verbessern. Das ist dringend notwen-dig; denn das hilft insbesondere den Demenzkranken,die nicht unbedingt klassische hauswirtschaftliche oderpflegerische Leistungen benötigen, sondern ganz indivi-duell betreut werden müssen. Das entlastet übrigensauch die pflegenden Angehörigen, die wirklich eineunglaublich schwierige, anerkennenswerte und verant-wortungsvolle Tätigkeit ausüben.Was wir nicht wollen, sind starre, festgelegte und un-flexible Angebotsstrukturen; denn solche Strukturen hel-fen niemandem vor Ort. Wir wollen die Eigenständig-keit, die Entscheidungsfreiheit und die Berücksichtigungindividueller Bedürfnisse stärken. Was höre ich da vonder Frau Kollegin Reimann? Ich zitiere: Das ist ein typi-scher FDP-Ansatz. Die Betroffenen bekommen mehrGeld und müssen sich dann selbst kümmern. – MeineGüte! Natürlich ist das der richtige Ansatz. Es darf abernicht heißen „Sie müssen sich dann selbst kümmern“,sondern es muss heißen „Sie dürfen sich endlich selbstdarum kümmern“. Das entspricht genau dem, was dieMenschen vor Ort brauchen.
Die Menschen wollen für sich bzw. für ihre Angehöri-gen aus verschiedenen Alternativen selbst aussuchenkönnen und nicht vor vollendete Tatsachen gestellt wer-den. Sie wollen mehr Wahlmöglichkeiten. Sie wollenmehr Eigenverantwortung und ein selbstbestimmtesLeben, auch wenn die Alltagskompetenz eingeschränktist. Was sie nicht wollen, ist, dass ihnen von Politikernvorgeschrieben wird, wie die Pflege aussehen soll.
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Christine Aschenberg-Dugnus
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Deshalb enthält unser Gesetz eine Verbesserung derfrühzeitigen Beratung der Versicherten – das ist das, wasdie Menschen brauchen –
und des Weiteren eine Verbesserung der Beteiligung derBetroffenen sowie eine finanzielle Förderung der Selbst-hilfe.Ich komme jetzt zu einem Punkt, der mir persönlichsehr am Herzen liegt. Das sind die alternativen Wohnfor-men. Diese Wohnformen – zum Beispiel Pflege-WG –werden nun durch unser neues Gesetz spürbar gestärkt.Wir waren erst in der letzten Woche in der Pflege-WG„habitas“ im schleswig-holsteinischen Hammoor, undich sage Ihnen: Was wir dort gesehen haben, ist wirklichbeeindruckend; denn was dort angeboten wird, ent-spricht genau den individuellen Wünschen und Bedürf-nissen der Pflegebedürftigen. Dort finden Menschen mitunterschiedlichen Einschränkungen zueinander und or-ganisieren sich einen schönen und wirklich würdevollenLebensherbst.Man kann beispielsweise als Demenzkranker mitPflegestufe 0 dort einziehen und auch dort bleiben, wennman irgendwann Pflegestufe 3 erhält. Die Bewohnermüssen dann nicht in eine andere Einrichtung umziehen,sondern können bis zu ihrem Lebensabend dort bleiben,wo sie sich in der Gemeinschaft wohlfühlen. Die Men-schen fühlen sich dort auch deshalb so wohl, weil beson-ders die Mitarbeiter hervorragende Arbeit leisten. Sienehmen nämlich die Demenzkranken so an, wie sie sind.Es gibt zum Beispiel keine festen Frühstückszeiten.Vielmehr wird auf den individuellen Lebensrhythmusder Mieter – so werden die Menschen dort genannt – ein-gegangen. Das ist einfach toll, und das muss man hierauch einmal sagen.
Es gibt viele gute Beispiele für unterschiedlichePflege vor Ort. Ich kann allen Kollegen nur raten, sicheinmal umzuschauen. Ein weiteres Beispiel ist die„Pflege LebensNah“ in Rendsburg. Dort werden nichtnur Pflegebedürftige betreut. In einem angeschlossenenCafé kümmern sich die Mitarbeiter aufopferungsvollauch um das Thema Demenz. Es ist besonders wichtig,dass die Angehörigen im Umgang mit Demenzerkrank-ten geschult werden, beraten werden und Hilfestellungerhalten. Das ist ganz besonders wichtig.Mit der Stärkung neuer Wohnformen greifen wir ge-nau das auf, was den tatsächlichen Bedürfnissen derMenschen entspricht.Niemand soll behaupten: Mit der Reform X oder Ymachen wir das Leben eines schwerstpflegebedüftigenMenschen wieder so unbeschwert wie das eines 20-Jäh-rigen. Darum geht es auch nicht. Es geht bei der Organi-sation des Lebensherbstes darum, das Leben so ange-nehm, so erträglich und so würdevoll wie möglich zugestalten, für die Pflegebedürftigen und für die Angehö-rigen. Genau das ermöglicht unser Pflege-Neuausrich-tungs-Gesetz.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Hilde Mattheis für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Was erleben wir heute hier in diesem Hohen Hause? Dasist ein typisches FDP-Muster: Es wird zwei Jahre immerwieder groß angekündigt, und dann wird etwas vorge-legt, was milde mit dem Wort Flickschusterei bezeichnetwerden kann. Es geht um ein Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, das diesen Namen nicht verdient.
Zwei Jahre hat die FDP damit zugebracht, immer wiederzu vertrösten und immer wieder auf ein Gesamtkonzeptzu verweisen. Jetzt liegt ein Flickenteppich vor. EinzelneFacetten von dem, was uns die Fachwelt immer wiedergesagt hat, sind zwar aufgegriffen worden,
aber ein Gesamtkonzept ist nicht zu erkennen.Das FDP-geführte Ministerium hat angekündigt,1 Milliarde Euro ausgeben zu wollen, und gefragt, wasdafür zu bekommen sei. Dann wurde gesagt, es solleetwas für Menschen mit Demenz und etwas für Angehö-rige getan werden, und vielleicht solle eine Unterstüt-zung für alternative Wohnformen gegeben werden. Siehaben versucht, die 1 Milliarde Euro irgendwie auf dieseBereiche zu verteilen. Das aber hat nichts mit den wirkli-chen Herausforderungen im Bereich der Pflege zu tun.Sie, Herr Zöller, wissen genau, dass der Fachbeirat, derschon vor drei Jahren einen Bericht vorgelegt und Um-setzungsvorschläge gemacht hat, uns und den Akteurenim Bereich der Pflege fachlich fundierte Hinweise gege-ben hat.Was aber macht diese Regierung? Sie verschiebt per-manent die Umsetzung. Sie besitzt auch noch die Unver-frorenheit, zu sagen: Wir greifen alles auf und sorgen fürdie größten Verbesserungen für Menschen mit Demenz. –Dabei wissen Sie, Herr Bahr – da verkaufen Sie sichwirklich unter Wert; das sollten Sie nicht tun –, dass mitdem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz von CDU/CSUund vor allen Dingen SPD schon längst die richtigenWeichen für Verbesserungen für Menschen mit Demenzgestellt wurden.
Menschen, die Hilfe brauchen, nur mit Mantras abzu-speisen, kann man nicht als seriös bezeichnen.
Ich will anhand einiger Punkte – Herr KollegeLauterbach hat das freundlicherweise angekündigt – aufunser Konzept eingehen.
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20616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Hilde Mattheis
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Erstens. Wir haben uns längst zu Anfang dieserLegislaturperiode auf den Weg gemacht. Wir fordernvehement, dass eine fundamentale Reform des Pflege-bedürftigkeitsbegriffs erfolgen muss. Die Einsetzung ei-nes zweiten Fachbeirats, die Sie damit begründen, dasseine fachlich fundierte Arbeit vorgelegt werden soll, istein Schlag ins Gesicht aller, die sich im ersten Fachbeiratmassiv engagiert haben.
Jetzt sollen all diese Menschen, die einen guten Berichtabgegeben und die das Fundament für eine neue Aus-richtung gelegt haben,
sich noch einmal zusammensetzen
und all das, was sie bereits gesagt haben, noch einmalformulieren – und das nur, weil Herr Zöller auf einmalder Vorsitzende ist. Das geht nicht. Vielmehr muss derPflegebedürftigkeitsbegriff jetzt reformiert werden; dennMenschen, die pflegebedürftig sind, haben einenAnspruch auf Selbstbestimmung und Teilhabe. Das istunser vordringliches Ziel: Selbstbestimmung und Teil-habe.
Zweitens. Wir wollen die Unterstützung von Pflege-personen. Sie sagen zu Recht, dass Angehörige eine her-vorragende Arbeit leisten. Wenn wir diese Angehörigen-arbeit in unserem System nicht hätten, sähe es ganzschlecht aus; wirklich wahr. Aber die Angehörigen brau-chen auch wirkliche Unterstützung: mehr Unterstützungdurch Kurzzeit- und Verhinderungspflege, Verbesserun-gen bei der Reha, aber auch Lohnersatzleistungen für diePflegezeit.
Wo ist denn dieser Vorschlag? Den vermisse ich beiIhnen. Wer kann sich denn die Freistellung leisten? DieVerkäuferin? Nein! Wir wollen, dass die Pflegezeit, die-ses halbe Jahr – 1 000 Stunden für die Pflege –, nicht nurflexibler genommen werden kann, sondern auch mitLohnersatzleistungen unterlegt wird.Drittens. Das ist, glaube ich, etwas, das Sie sich tat-sächlich noch einmal überlegen sollten. Sich hier hinzu-stellen und zu sagen: „Auch Fachpflegekräfte sind einwichtiges Potenzial“, alles Mögliche dazu auszuführen,wie groß etwa der Dank der Gesellschaft für dieseBerufsgruppe sei, und dann den ortsüblichen Tarif ein-fach mal wegzurasieren
und das dann zu begründen mit – man höre und staune! –Bürokratieabbau, das ist nicht nur schräg; das istzynisch. Was diese Pflegefachkräfte brauchen, sind eineordentliche Bezahlung und eine ordentliche ganzheit-liche Ausbildung.
Deswegen fordern wir eine generalistische Ausbildung,Gebührenfreiheit für die Ausbildung und vor allen Din-gen auch gute Bezahlung.Wenn Sie nicht mit dieser Botschaft in die Debattehineingehen, dann – das kann ich Ihnen sagen – wirdIhnen alles das nicht gelingen, was Sie vielleicht versu-chen, etwa Arbeitskräfte aus dem europäischen Auslandhierherzuholen. Wir brauchen viele Bausteine, um dieAkzeptanz für die Pflegeberufe zu erhöhen, und guteBezahlung ist ein solcher Baustein.
Genauso zynisch finde ich die Unterstützung fürWohngruppen. Soll das ein Wettbewerb um diese30 Millionen Euro werden? Soll sich eine an Demenzerkrankte Witwe, Pflegestufe I, auf die Wettbewerbs-straße begeben und für diese 2 500 Euro Schlange ste-hen?
Sie wollen dafür 30 Millionen Euro ausgeben und ver-künden das als den großen Wurf. Dabei ist diese Ent-wicklung „Unterstützung alternativer Wohnformen“etwas, das wir schon längst auf den Weg gebracht haben.Die Unterstützung muss ausgebaut werden – ja, richtig –,
aber nicht mit einem Wettbewerb der Pflegebedürftigenuntereinander, sondern verstetigt, ordentlich organisiertund mit einer Beratungsstruktur,
die sich nicht nur auf die §§ 7 und 7 a SGB XI, sondernauch auf die Pflegestützpunkte bezieht.
Pflegestützpunkte – das ist mein letzter Punkt – kom-men bei Ihnen mit keinem Wort vor. Dabei haben siesich dort, wo sie etabliert und gut gemacht sind – ichnenne da nur Rheinland-Pfalz –, wirklich bewährt; dennso kann man Menschen weit im Vorfeld von Pflegebe-dürftigkeit erreichen. Die Antwort, die Sie am 16. Aprilauf eine Kleine Anfrage von uns gegeben haben, sprichtda Bände. Sie bestätigen: Wichtig ist ein Case Manage-ment. Auf die Frage 26, in der es darum geht, ob Sie diePflegestützpunkte ausbauen, antworten Sie: Nein. – Dashaben Sie also nicht vor. Interessant, kann ich da nursagen.
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Frau Kollegin.
Das, was Sie hier vorgelegt haben, sind Versatzstü-
cke. Herr Bahr, ich erwarte mehr von Ihnen; denn das ist
nicht ein kleines x-beliebiges Reförmchen; das ist die
Pflegereform, und da geht es um Menschen.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Jens Spahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nachdem der Kollege Lauterbach und dann noch einmaldie Frau Kollegin Mattheis angekündigt haben, sie wür-den das Konzept der SPD vorstellen, warte ich immernoch darauf.
Sie haben sich an irgendwelchen Kampfbegriffen ab-gearbeitet, aber von Ihrem Konzept haben wir, bis jetztwenigstens, noch kein Wort gehört, und das ist schade.
Das ist deswegen schade, weil die Pflege im Grunde dasgroße gesellschaftspolitische Thema dieses Landes ist,
und zwar für jeden Einzelnen in den Familien wie auchfür uns als Gesellschaft insgesamt.Nicht jeder hat Kinder; aber jeder hat Eltern, undjeder wird sich mit Sicherheit im Laufe seines Lebensintensiv in der eigenen Familie mit dieser Frage aus-einandersetzen müssen. Das ist eine Frage, die auch vielmit Emotionen zu tun hat, mit gegenseitigen Erwartun-gen von Kindern und Eltern, ohne Zweifel auch mit Ent-täuschungen und Frustrationen. Dabei handelt es sichum eine Debatte, die schwer zu führen ist. Auch derGedanke, dem eigenen Vater Windeln anlegen oder dieeigene Mutter füttern zu müssen, und aus Sicht derEltern der Gedanke der eigenen Unzulänglichkeit, Dingenicht mehr tun zu können, vielleicht aufgrund vonDemenz die eigene Familie nicht mehr erkennen zu kön-nen, das alles ist schwierig. Das ist schwierig für jedeeinzelne Familie und für jeden einzelnen Betroffenen.Genauso schwierig, wie es für den Einzelnen und fürjede Familie ist, ist es natürlich für uns insgesamt in derGesellschaft, diese Debatte zu führen. Wir können unsgerne immer wieder über einzelne Euro-Beträge aus-einandersetzen. Das müssen wir auch; das gehört dazu.Ein bisschen mehr zur gesellschaftspolitischen Dimen-sion dieser Debatte, etwas mehr Grundsätzliches hätteich mir in dieser Diskussion aber auch gewünscht. Beidem, was Sie bisher hierzu vorgetragen haben, hat dasleider kaum eine Rolle gespielt.
Lassen Sie mich dazu Folgendes feststellen – eswurde vorhin in diesem Zusammenhang das Wort„Schönrederei“ benutzt –: Wissen Sie, ich habe großenRespekt – –
– Ja, aber dann bezeichnen Sie es nicht so. Frau KolleginKünast hat es gerade Schönrederei genannt. – Ich habegroßen Respekt vor jedem, der einen Angehörigenpflegt, vor jedem, der ehrenamtlich in diesem Bereichtätig ist und sich dort einbringt,
und auch vor jeder Pflegekraft in einer Einrichtung, dieohne Zweifel einen sehr harten Job leistet. Davor habeich großen Respekt.Sie haben vorhin viel über Schande geredet, HerrKollege Lauterbach. Diese Menschen haben es einfachnicht verdient, dass mit Pauschalverdächtigungen, wieSie sie hier geäußert haben, hantiert wird.
Die eigentliche Schande ist, wie Sie hier geredet haben.
– Es ist gut, dass Sie den Bericht über die Qualität insbe-sondere in den Pflegeeinrichtungen ansprechen, der indieser Woche diskutiert worden ist.Um eines vorneweg klarzustellen: Es gibt schwarzeSchafe. Da muss hart durchgegriffen werden. Jeder Fallvon ungerechtfertigtem Freiheitsentzug, schlechter,mangelnder Ernährung oder zu wenig Trinken ist einerzu viel. Darüber brauchen wir nicht lange miteinander zudiskutieren.Ich würde mir übrigens manchmal wünschen, dass dieBehörden vor Ort dann auch durchgreifen.
– Das ist keine Frage von Gesetzen, sondern eine Frageder Umsetzung von Gesetzen,
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20618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Jens Spahn
(C)
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manchmal auch vor Ort. Es ist notwendig, dass dann,wenn es entsprechende Zustände gibt, Einrichtungengeschlossen werden.Eines gehört zur Wahrheit aber auch dazu – anschei-nend ist es Ihnen ja nicht möglich, eine differenzierteDiskussion zu führen –: Ich will einmal aus dem gesternvorgestellten Bericht zur Qualität in der Pflege den Ver-gleich zwischen 2007 und 2010 zitieren. Sie können sichja noch daran erinnern, wie in den Jahren vor 2007 dieZusammensetzung in der Bundespolitik war. Ich willdiesen Punkt aber gar nicht immer wieder aufgreifen,auch wenn Sie mit Blick auf den Mai offensichtlichgerade Wahlkampf machen. Also, Vergleich der Situa-tion in den Einrichtungen von 2007 und der von 2010:Hilfe bei Essen und Trinken: deutlich besser geworden.Angebote an demente Heimbewohner: deutlich bessergeworden. Situationsgerechtes Handeln der Pfleger beiakuten Ereignissen: deutlich besser geworden. Inkonti-nenzversorgung: deutlich besser geworden. Es gibtandere Bereiche, in denen die Qualität gleichgebliebenist und sie noch besser werden muss. Der Trend ist abereindeutig.Nicht zuletzt durch das, was wir in der Großen Koali-tion in Bezug auf die Qualitätsberichte und die Kontrol-len in den Einrichtungen eingeführt haben, wird dieQualität besser. Sie muss noch weiter steigen. Aberreden Sie diesen Trend doch nicht klein, sondern erken-nen Sie an, was da von den in diesem Bereich tätigenMenschen geleistet wird.
Außerdem wird hier in der Diskussion immer behaup-tet, wir täten zu wenig, auch finanziell. Wissen Sie, jedervon uns würde gern deutlich mehr Geld ausgeben; das istüberhaupt keine Frage. Sie vergessen nur immer denzweiten Teil: dass es am Ende auch irgendwie finanziertwerden muss.Wir haben eine zusätzliche Leistung im Volumen vonüber 1 Milliarde Euro geschaffen. Das ist übrigensimmer noch viel Geld: 1 000 Millionen Euro.
Das ist eine Leistungsverbesserung von 5 Prozent. DiePflegeversicherung hat heute ein Gesamtvolumen vonetwa 20 Milliarden Euro. Nennen Sie mir ein anderessoziales Sicherungssystem, bei dem wir in jüngster ZeitLeistungsverbesserungen in diesem Umfang – 5 Prozent –vorgenommen haben. Reden Sie diese Summe dochnicht klein.
Dann stellen Sie sich hier hin und sagen: 6 MilliardenEuro wären schöner. – Wir wüssten auch, was wir mit6 Milliarden Euro anfangen könnten. In Ihrem Konzept,das Sie leider nicht vorgetragen haben, ist vorgesehen,6 Milliarden Euro auszugeben.
Nur leider sagen Sie nicht viel über die Finanzierung.Ich weiß nicht, ob Sie wahrgenommen haben: GanzEuropa spart gerade. Schauen Sie sich einmal an, wasbei den sozialen Sicherungssystemen insbesondere inden südeuropäischen Ländern gerade passiert – in Grie-chenland, in Italien, in Spanien, in Portugal und in vielenanderen Ländern mehr.
Das passiert nicht zuletzt deswegen, weil über JahreGeld ausgegeben wurde, das nicht vorhanden war. Wirhandeln verantwortlich, indem wir so viel Geld zur Ver-fügung stellen, wie es im Moment möglich ist, und keineLuftschlösser bauen. Ordnen Sie die Situation doch ein-mal in eine Gesamtdebatte ein.
Es ist gerade heute wieder zu lesen – auch das istspannend; auch das sagen Sie den Menschen nicht –,dass wir nach Belgien das Land mit der zweithöchstenBelastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmersind. Dies liegt nicht zuletzt an den Sozialversicherungs-beiträgen, die zu zahlen sind. Sie fordern hier mal eben6 Milliarden Euro mehr. Das sind 0,6 Beitragssatz-punkte.
Nennen Sie diesen Teil der Wahrheit vielleicht auch ein-mal.
Es hat ja einen Grund, warum Sie zu Ihrem Konzeptnicht besonders viel sagen.Dann kommt die Allzweckwaffe: die Bürgerversiche-rung. Die löst alle Probleme.
Sie lassen aber immer einen Teil der Wahrheit weg: DieMenschen, die Sie in diese Versicherung mit einbeziehenwollen, die Privatversicherten, sind nicht alle Millionäre.Ich weiß nicht, ob Sie es wissen: Der größte Teil der Pri-vatversicherten sind Beamte, Pensionäre und vielekleine Selbstständige. Sie tun immer so, als würde dieBürgerversicherung per se dazu führen, dass auf einmalwahnsinnig viel Geld für alle zur Verfügung steht. Dasist Augenwischerei. Das sagen Sie in jeder Debatte. Daslöst aber die Probleme am Ende des Tages nicht, die wirin Zukunft bei der Finanzierung zu lösen haben.
Zum Pflegebedürftigkeitsbegriff. Frau KolleginKünast ist umfänglich darauf eingegangen. Frau Künast,so einfach ist es aber am Ende nicht. Sie haben recht da-mit, dass es schon einen Pflegebeirat gegeben hat, dergearbeitet hat.
Dieser Beirat hat Frau Bundesministerin Schmidt amEnde der Legislatur noch etwas vorgelegt. Aber es istdoch bezeichnend, dass Ulla Schmidt – ich weiß nicht,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20619
Jens Spahn
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ob Sie sich noch an sie erinnern; Sie wollen ja am liebs-ten mit dem, was Ulla Schmidt entschieden hat, heutenichts mehr zu tun haben; das haben wir schon zurKenntnis genommen –
in einem Interview im Dezember letzten Jahres gesagthat: Wer den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff seriösumsetzen will, muss die Dinge mindestens zwei bis dreiJahre vernünftig vorbereiten und dann Schritt für Schrittumsetzen.
Mit dem, was bisher vorliegt, geht es nicht. Diesen Teilvergessen Sie immer. Sie tun immer so, als ob wir dasmorgen machen könnten. Es ist schön, dass zumindestUlla Schmidt weiß, dass mehr als Überschriften dazugehört, wenn man vernünftige Politik machen will.
Wir sind dankbar dafür, dass unser Kollege WolfgangZöller wie auch Herr Voß und fast alle bisherigen Mit-glieder – bis auf einen, wenn ich es richtig in Erinnerunghabe – des Pflegebeirates mit Vertretern aus der Wissen-schaft und aus den Verbänden gesagt haben: Wir arbei-ten wieder mit, weil wir wissen, dass es nicht ohneunsere Arbeit geht und wir noch mehr Vorarbeit leistenmüssen.Sie können sich nicht einfach hier hinstellen undsagen: Das alles wäre gar nicht nötig. – Jeder, der einbisschen Kenntnis hat, weiß, dass diese Arbeit zu leistenist, um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff umzuset-zen, was eine große Herausforderung ist. Sie müssen dasSystem für viele Millionen Menschen anders gestalten;das muss vorbereitet werden.
Deswegen sind wir sehr dankbar dafür, dass WolfgangZöller, Herr Voß und die anderen diese Arbeit übernom-men haben.
Auch die Debatte zur Bezahlung der Pflegefachkräftenehme ich mit Interesse zur Kenntnis. Ich weiß nicht,was das bedeuten sollte: Wollen Sie, Frau Künast, FrauMattheis, jetzt per Gesetz die Bezahlung festlegen?
Wollen Sie etwa die Tarifpartner herauslassen? Die Ent-wicklung bei den Pflegefachkräften geht übrigens ein-deutig nach oben. Wenn es Bedarf nach Fachkräftengibt, steigt der Lohn Schritt für Schritt. Das tut er in die-sem Bereich.Bei den Pflegehilfskräften gibt es ein Problem. Auchda ist eine differenzierte Betrachtung Ihrerseits offen-sichtlich nicht möglich. Deswegen haben wir als Koali-tion bei den Pflegehilfskräften einen Mindestlohn aufden Weg gebracht und für eine entsprechende Bezahlunggesorgt.Bei den Pflegefachkräften ist aber nicht die Bezah-lung das Problem; das ist doch nicht das eigentlicheThema.
Das Problem sind die Arbeitsbedingungen und dieBelastungen, die es in diesem Bereich gibt. Nicht zuletztgibt es auch ein Problem mit der Bürokratie; dies wurdegerade angesprochen.
Was alles muss man tatsächlich nachhalten? In diesemGesetzgebungsverfahren legen wir stärkere Akzente aufdie Ergebnisqualität und weniger auf die Prozessqualität.
Ein anderes Thema ist die gesellschaftliche Anerken-nung dieser Berufe. Da können Sie sich doch nicht ernst-haft – ich sage es noch einmal – hier hinstellen, FrauSenger-Schäfer und Herr Lauterbach, und mit einem Ge-neralverdacht gegen die Pflegekräfte arbeiten, wie Sie eshier getan haben.
Sie zeichnen ein Bild von der Pflege in Deutschland, dasden tatsächlichen Zuständen in den Einrichtungen undder Arbeit, die dort geleistet wird, einfach nicht gerechtwird. Das ist einer der Gründe, warum dieser Job fürviele Menschen unattraktiv ist. Sie reden ihn immerschlecht; das ist doch das eigentliche Problem.
Herr Kollege.
Das Gleiche gilt abschließend, Herr Präsident, für die
neuen Wohnformen. Sie sagen: Die neuen Wohnformen
wollen wir nicht; wir wollen sie nicht fördern. Wir sehen
übrigens eine dauerhafte Förderung der neuen Wohnfor-
men vor, gerade weil die Menschen sich eine Zwischen-
lösung zwischen dem Zuhausewohnen, was manchmal
nicht mehr geht, und einer stationären Einrichtung wün-
schen. Es geht um ambulant betreute Wohnformen. Es
ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen, wie Sie gerade
über diesen Wunsch geredet haben. Wir werden ihn um-
setzen; denn im Interesse der Menschen brauchen wir
mehr Flexibilität.
Lieber Kollege Spahn!
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20620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
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Wir haben sicherlich um jeden Euro gefeilscht, aber
diese 1 Milliarde Euro mit den Schwerpunkten Demenz
und pflegende Angehörige sind gut eingesetzt im Inte-
resse der Menschen.
Das Wort erhält nun der Kollege Ilja Seifert für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Herr Spahn, Sie erwarten
grundsätzliche Aussagen. Die hätte ich von Ihnen und
Ihrer Regierung auch erwartet. Herr Singhammer, Sie
haben ein Bild benutzt. Das ist immer sehr gefährlich.
Sie wollen noch zwei Stockwerke auf das Haus bauen.
Ich sage Ihnen: Legen Sie erst einmal ein ordentliches
Fundament.
Ich kann Ihnen auch sagen, wie das Fundament ausse-
hen muss: Das Fundament muss zum einen darin beste-
hen, den bereits erarbeiteten Pflegebegriff umzusetzen.
Das heißt, Teilhabe ermöglichen, wenn man pflegebe-
dürftig ist; das heißt auch assistierende Begleitung. Das
zweite Grundelement für das Fundament ist eine ver-
nünftige Finanzierung. Das ist eine Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung und kein Pflege-Riester und Ähnli-
ches.
Über diese Punkte haben Sie überhaupt nicht ernsthaft
geredet, sondern Sie haben lediglich das Reförmchen,
das in einem dicken Papier angekündigt wird, verteidigt.
Was die Menschen wirklich brauchen, ist, dass sie
selbst dann, wenn sie Schwierigkeiten in der Alltagsbe-
wältigung haben – wenn sie inkontinent oder ein wenig
verwirrt sind –, als Teil der Gesellschaft inmitten der Ge-
sellschaft leben und teilhaben können. Das heißt, sie
brauchen Begleitung; sie brauchen jemanden, der neben
ihnen steht, und zwar nicht als bevormundender Beglei-
ter, sondern als Assistent, der die Bedürfnisse, die Wün-
sche und die Lebensweise der Betroffenen kennt und auf
sie eingeht. Es braucht jemanden, der die verwirrte Frau,
die auf der Straße steht – das Bild wurde benutzt –, von
der Kreuzung herunterholt, damit sie nicht überfahren
wird.
Das sind die Probleme, die es zu bewältigen gilt; da
können Sie darum herumreden, wie Sie wollen, Herr
Minister. Sie haben nun den Pflegebeirat erneut einge-
setzt, und Herr Zöller leitet ihn.
Ich habe alle Achtung vor Herrn Zöller als Person, aber
er leitet den Beirat, weil Herr Gohde, der wirklich weiß,
wovon er redet, es abgelehnt hat, noch einmal eine Art
Alibiveranstaltung durchzuführen. Das ist ein mutiger
Schritt von Herrn Gohde – der ist immerhin Pfarrer und
noch nicht einmal aus meiner Partei. Ich will trotzdem
darauf hinweisen, dass derjenige, der wirklich Ahnung
von der Materie hat, gesagt hat: Ich lasse mich nicht vor
den Karren spannen, nur damit diese Regierung nichts
tun muss.
Herr Zöller, in allen Ehren: Sie wollen im Sommer
nächsten Jahres etwas vorlegen, also anderthalb Monate
vor der Wahl. Sie sagen damit klipp und klar: Wir ma-
chen in dieser Wahlperiode nichts mehr. Diejenigen aber,
die auf ein Handeln angewiesen wären, sind Neese.
Muss das sein? Nein! Ein neuer Pflegebegriff existiert;
er besagt klipp und klar: Es geht um Teilhabeermögli-
chung; es geht um die Persönlichkeitsentfaltung, auch
dann wenn man verwirrt ist; es geht um die Selbstbe-
stimmung. All diese Punkte sind im jetzigen Pflegebe-
griff überhaupt nicht enthalten. Sie benutzen den alten
Pflegebegriff, obwohl Sie und Ihre Regierung genau
wissen, dass es bessere Pflegebegriffe gibt.
Es ist ein Konzept da. Es ist von Ihrer eigenen Regie-
rung vorbereitet worden. Es kam nicht einmal von uns,
sondern wurde von Ihnen entwickelt. Sie setzen es nicht
um, weil Sie nicht den Mut haben, den Leuten zu sagen:
Das kostet ein paar Mark dreißig. Die Menschen, die das
brauchen, sind uns das wert. Wir speisen sie nicht mit
1 Milliarde ab. – Hinzu kommt, dass man befürchten
muss, dass die entsprechenden Mittel am Ende bei den
Körperbehinderten weggenommen werden. Sie sollten
sagen: Wir nehmen so viel Geld in die Hand, wie ge-
braucht wird – und nicht nur so viel, wie wir gerade noch
übrig haben.
Lassen Sie uns so herangehen: Teilhabe ermöglichen,
auch wenn man pflegebedürftig ist, Assistenz und Be-
gleitung gewähren, wenn man sie braucht. Dann wird die
Selbstbestimmung wirklich funktionieren.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin ElisabethScharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wir debattieren heute über das Pflege-Neuausrich-tungs-Gesetz. Hut ab, Herr Minister: Da braucht esschon viel Fantasie, um überhaupt auf solch einen Na-men zu kommen. Und ehrlich: Wir brauchen hier imSaal viel Fantasie, um in diesem Gesetz überhaupt eineNeuausrichtung zu entdecken.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20621
Elisabeth Scharfenberg
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Nichts an diesem Gesetz bringt uns einer Neuausrich-tung in der Pflege näher, und das, obwohl wir eine Neu-ausrichtung so dringend bräuchten. Der Reformbedarf inder Pflege ist riesengroß: die Überarbeitung des Pflege-bedürftigkeitsbegriffs, eine gerechte und verlässliche Fi-nanzierung durch eine Pflegebürgerversicherung, dieEntlastung pflegender Angehöriger, der Ausbau ambu-lanter und quartiersorientierter Versorgungsangebote,Maßnahmen gegen den Personalmangel in der Pflege.Sie haben uns gestern hier in der Regierungsbefra-gung Ihre Demografiestrategie vorgestellt. Herr MinisterFriedrich sagte, wir dürften nicht warten, bis die Dingezum Problem würden. Ich muss sagen: Da hat er recht.Diese Demografiestrategie enthält durchaus richtigeDinge, zum Beispiel, dass ein neuer Pflegebedürftig-keitsbegriff entwickelt werden muss, der sich – ich zi-tiere – „künftig stärker an der Selbstständigkeit orientiertund damit insbesondere Demenzkranken zugutekommt“.Ebenso lesen wir, dass wir eine „Stärkung der Fachkräf-tebasis“ brauchen. All das haben Sie, Herr MinisterBahr, doch in Ihrer Einführung angesprochen. Nicht nurwir hier fragen uns: Warum machen Sie es dann dennnicht endlich? Sie legen uns hier ein Gesetz vor, undnichts davon steht darin.
Schlimmer noch: Das Gegenteil ist der Fall. Es wurdehier schon angesprochen, aber ich denke, wir können esgar nicht oft genug ansprechen: das Beispiel der Fach-kräfte. Wir finden in diesem Gesetz eine Anleitung zurrechtlich legitimierten Lohndrückerei. Künftig soll näm-lich nicht mehr die Zahlung einer ortsüblichen Vergü-tung, sondern die Zahlung des Pflegemindestlohns fürdie Zulassung einer Pflegeeinrichtung ausreichend sein.Natürlich brauchen wir einen Mindestlohn; aber er darfdoch nicht zum Normlohn werden. Das, meine Damenund Herren, ist ein Schlag ins Gesicht der Fachkräfte, dieSie angeblich sichern wollen. Sie wollen Billigpflege;das ist Ihnen die Arbeit der Pflegekräfte wert.
Herr Singhammer, Sie sprechen hier vom „großen, wei-ten Herzen“ der Pflegekräfte; aber davon werden diePflegekräfte nicht satt, dadurch können sie ihr Lebennicht unterhalten.Für andere Zwecke sitzt das Geld dann aber locker:höhere Vergütungen für die medizinische Versorgung inPflegeheimen für die Ärzte, Förderung freiwilliger Pfle-gezusatzversicherungen durch den sogenannten Pflege-Bahr.
Klar ist auch hier: Das ist kein Beitrag zu einer nachhal-tigen Finanzierung. Menschen, die wenig verdienen oderkeine Steuern zahlen, werden davon überhaupt nichtshaben. Profitieren werden hier die Gutverdiener. Profi-tieren wird auch die private Versicherungsindustrie. Siekann nämlich ihre Produkte mit staatlicher Unterstüt-zung besser verkaufen.Meine Damen und Herren, das ist die Neuausrich-tung, über die wir heute reden. Aber brauchen wir dieseKlientelpolitik der Neuausrichtung? Ich sage ganz klar:Was wir brauchen, ist eine solidarische Politik für dieSchwachen in dieser Gesellschaft. Was wir brauchen, istdie solidarische Pflegebürgerversicherung. Gute Pflegekostet Geld, auch mit einer Pflegebürgerversicherung;aber mit der Bürgerversicherung ist eine überschaubareBeitragssatzentwicklung möglich, und das bei verbesser-ten Leistungen.Herr Spahn, bei einer Pflegebürgerversicherung profi-tieren im Übrigen auch heute Privatversicherte mit klei-nen Einkommen.
Eine Pflegebürgerversicherung ist solidarisch und keineEinbahnstraße.
Es gibt die Chance auf ein wirklich neues Pflege-Neu-ausrichtungs-Gesetz, aber diese Chance hat Schwarz-Gelb leider nicht genutzt. Seien wir ehrlich: Das jetztvorgelegte Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist eine Anei-nanderreihung verpasster Chancen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Willi Zylajew ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasThema, das uns heute früh beschäftigt, ist ausgesprochenwichtig;
denn es ist täglich von Bedeutung für rund 10 MillionenMenschen in unserem Land, nämlich für diejenigen, dieauf pflegerische Hilfe angewiesen sind, für Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter und für Angehörige. In der Tat istes sinnvoll, dass wir über den bestmöglichen Weg in die-ser Auseinandersetzung streiten und den Versuch zu un-ternehmen, die finanziellen Mittel, die uns zur Verfü-gung stehen, zielgenau und optimal einzusetzen. Diessoll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geschehen.
Aber ich bitte, zu bedenken, dass die Anforderungen anStaat und Gesellschaft bezüglich der Hilfe für Pflegebe-dürftige und ihre Angehörigen einem permanenten Ver-änderungsprozess unterliegen.
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20622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Willi Zylajew
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Die Gesellschaft ändert sich. Wir Menschen sind soprogrammiert, dass wir am Anfang des Lebens und diemeisten auch in der letzten Lebensphase auf die Hilfevon Mitmenschen angewiesen sind. Die Anforderungenverändern sich. Das hängt damit zusammen, dass wireine höhere Lebenserwartung haben – Minister Bahr hates angesprochen –, dass wir heute bei vielen Menschen,gerade bei an Demenz erkrankten, längere Phasen erle-ben, in denen sie Hilfe benötigen – auch eine andereForm der Hilfe –, als in früheren Jahren. Wir habenwirksame medizinische Behandlungsmöglichkeiten, dieebenfalls dazu führen, dass Erkrankungen erfolgreichbehandelt werden können; aber daraus ergibt sich eineanspruchsvollere Anforderung an den Bereich Rehabili-tation und Pflege, als das früher der Fall war.Die geringere Zahl der Nachkommen ist ein Thema.Wir können nicht darüber hinweggehen: Die Pflegeleis-tung wurde und wird auch weiterhin in erster Linie inder Familie erbracht. Wenn weniger Nachkommen vor-handen sind, wenn sich die Familienstrukturen ändern,müssen wir auch hier entsprechend reagieren.Insofern behaupte ich, dass das Pflege-Neuausrich-tungs-Gesetz ein logischer Bestandteil eines ständigenProzesses zur Weiterentwicklung der Pflege ist.
Wir machen hier – Herr Minister Bahr hat es dargestellt –einen sehr vernünftigen Schritt.
Die uns zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel set-zen wir absolut zielgerichtet und punktgenau ein. Wirmüssen bedenken, dass es Mitverantwortliche gibt: dieFamilien, die Leistungserbringer und Träger, die Versi-cherungen und die Pflegekassen sowie die Kommunenund die Länder.Es ist eben mehrfach angesprochen worden, was alleswir beispielsweise im Bereich Ausbildung tun müssen.Aber ohne Mittun der Länder können wir nichts erledi-gen. Es wäre sinnvoller, wenn gerade die Kolleginnenund Kollegen der SPD, die dies hier anmahnen, dafürsorgen würden, dass wir in der Kooperation mit denLändern weiterkommen.Es gibt also viel zu tun. 1995 hatten wir einen gutenStart. Leider gab es danach keine Weiterentwicklung.Von 1998 bis 2005 ist nichts geschehen.
Ich muss Ihnen das immer und immer wieder vorhalten:Es gab einen Stillstand bei der Weiterentwicklung derPflegeversicherung.
– Die waren reichlich vorhanden. Wir müssen jetzt dochletztendlich, verehrter Kollege Lauterbach, Ihre Ver-säumnisse aufholen.
Das, was Sie nicht entwickelt haben, müssen wir jetztein Stück weit vorantreiben.
– Die Probleme gab es damals auch. Schauen Sie beiklugen Professoren nach, was die schon zwischen 1998und 2005 Vernünftiges dazu geschrieben haben.
Sie haben einen ersten Ansatz geschaffen, indem Sieganz wenig Geld für die Betreuung von Demenzkrankenzur Verfügung gestellt haben.
Wir brauchen – das machen wir sehr vernünftig – eineWeiterentwicklung bei der Unterstützung der Angehöri-gen. Dass wir jetzt das Pflegegeld bei Kurzzeit- und Ver-hinderungspflege durchzahlen, ist aus unserer Sicht einSchritt zu einer handfesten und zielgenauen Hilfe.Wir sagen, dass wir eine Stärkung im Bereich derWohnumfeldverbesserungen wollen. Das ist ein wichti-ger Schritt. Wir wollen die Rechte der betroffenen Men-schen und ihrer Angehörigen gegenüber den MDKstärken. Viele Menschen fühlen sich vom MDK bevor-mundet, missverstanden und schlecht behandelt. Hiergehen wir mit der Neuausrichtung aus meiner Sichteinen sehr vernünftigen Schritt. All das, was wir ma-chen, ist zielführend und stellt eine gute Weiterentwick-lung der Blüm’schen Pflegeversicherung dar.Wir stärken die Hilfen für das Verbleiben im gewohn-ten gesellschaftlichen Umfeld. Die Kollegin Aschenberg-Dugnus hat es angesprochen. Selbstbestimmte Versor-gungsformen sind eine Chance. Ich weiß nicht, was Siefür ein Menschenbild haben.
Weder Ihre Einschätzung der Pflegebedürftigen nochihre Einschätzung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,die dort ihre Arbeit erledigen, ist richtig. Sie kritisierenderen Arbeit immer nur, und dies aus vordergründigenpolitischen Überlegungen.
Ich will kurz auf den 3. Pflege-Qualitätsbericht einge-hen. Er zeigt auf, dass es eine Reihe von Verbesserungengibt. Der zweite Bericht von 2007 kam ein paar Monatezu spät. Der Berichtszeitraum ging bis 2005, betraf also
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20623
Willi Zylajew
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die Zeit von Rot-Grün. Im jetzigen Qualitätsbericht wirddeutlich gesagt, dass es Defizite gab, es in den letztenJahren da jedoch eine gute Weiterentwicklung gab.
Ich bin schon ein Stück weit darüber verärgert, dassauch dieser Bericht wieder so spät vorgelegt wurde. Erhätte eigentlich schon im letzten Jahr vorgelegt werdenmüssen. Er kam diesmal zwei Tage vor unserer heutigenBeratung.
Damals wurde er zehn Tage vor dem Referentenentwurfvon 2007 vorgelegt. Es ist die billige Strategie einigerSpitzenleute beim MDS und bei den gesetzlichen Kran-kenversicherungen, die die Pflegebranche insgesamt mitNegativdarstellungen treffen wollen, welche die anstän-dige und gute Arbeit der Pflegekräfte im stationären undambulanten Bereich nicht würdigen. Da werden einigeDinge medienbegleitet sehr stark in Szene gesetzt, die sonicht gegeben sind.
Mit diesem Gesetzentwurf sind wir in der Lage, dieerwarteten Verbesserungen zu ermöglichen.
Wir können nur alle, die in diesem Bereich guten Wil-lens sind, ganz herzlich einladen, mit uns noch den einenoder anderen Punkt zu präzisieren. Wir sagen, dass dieseNeuausrichtung deshalb notwendig ist, weil sich dieGesellschaft insgesamt verändert hat. Wir wollen eineNeuausrichtung hin zu selbstgewollten Betreuungsfor-men, indem wir die pflegenden Angehörigen mit derErmöglichung von Rehamaßnahmen und mit der Weiter-zahlung des Pflegegeldes in bestimmten Lebenssituatio-nen stärken. Ich denke, dass wir da auf einem guten Wegsind. Die Blüm’sche Pflegeversicherung erfährt durchdiesen Gesetzentwurf durchaus eine konsequent positiveWeiterentwicklung.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Ferner, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Wenn man die Unionsredner hört, gewinnt man den Ein-druck, dass sie einen Blackout haben, was die letzteWahlperiode angeht.
Das, was wir in der letzten Wahlperiode in der GroßenKoalition gemeinsam auf den Weg gebracht haben, wardefinitiv mehr als das, was jetzt Schwarz-Gelb auf denWeg bringt. Für die Verbesserung der Leistungen habenwir immerhin drei Zehntel Beitragssatzpunkte aufge-bracht, also 3,3 Milliarden Euro, und Sie kommen jetztmit 1,1 Milliarden Euro. Herr Zylajew, ich kenne Sie jaals engagierten Pflegepolitiker; Begeisterung über einenGesetzentwurf hört sich für meine Begriffe aber andersan als das, was Sie hier gerade geboten haben.
Was haben wir im letzten Jahr nicht alles von HerrnRösler und später von Herrn Bahr gehört. Das Jahr derPflege wurde ausgerufen. Die Pflege sollte besser finan-ziert werden. Die pflegerische Betreuung, insbesonderedie von demenziell Erkrankten, sollte grundlegend,durchgreifend verbessert werden. Durch die Einführungdes neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sollte die leidigeMinutenpflege abgelöst werden. Dem Mangel an Pflege-kräften sollte begegnet werden, und dem Grundsatz„Prävention vor Reha bzw. Pflege“ sollte endlich Gel-tung verschafft werden.Was ist passiert? Nicht viel. Was uns heute hier vor-liegt, ist ein Reförmchen. Manche reden auch von einemSchlückchen aus der „Mini-Bahr“. Ich sage: Das ist eineMogelpackung. Man könnte auch sagen: Das ist ein Pla-giat, und das ist das, was man von dieser Koalitionerwartet.
Herr Spahn hat eben angesprochen, dass die Umset-zung unseres Konzepts viel mehr Geld kostet. Es istwahr: Mit 0,6 Beitragssatzpunkten müsste man die gan-zen Maßnahmen, die notwendig sind, finanzieren. Eingroßer Unterschied besteht nicht nur bei der Antwort aufdie Frage, was ich ausgebe, sondern mehr noch bei derauf die Frage, um die es geht: Was ist uns in unsererGesellschaft eine menschenwürdige Pflege wert?
Es geht auch um die Frage: Wie setze ich Prioritäten?Ich kann die Prioritäten so setzen: Ich werfe den Hotel-ketten das Geld hinterher,
und ich führe ein Betreuungsgeld ein, das niemand will.Oder ich nehme das Geld, um eine menschenwürdigePflege zu ermöglichen.
Ich sage Ihnen auch: Wenn man nur auf den Beitrags-satz schaut, springt man zu kurz. Man muss eine gesamt-gesellschaftliche Betrachtung vornehmen. Was passiertdenn, wenn wir es nicht schaffen, den Bereich der Häus-lichkeit zu stärken? Was passiert denn, wenn wir es nichtschaffen, eine wohnortnahe Infrastruktur zu organisie-ren, wenn wir es nicht schaffen, bezahlbare Angebote fürdie Häuslichkeit zu organisieren? Dafür werden dieKommunen bezahlen müssen, weil viel mehr Menschenin die stationären Einrichtungen gehen müssen, obwohlsie das gar nicht wollen, und das ist am Ende sehr vielteurer. Vor allen Dingen aber wollen die meisten Men-
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20624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Elke Ferner
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schen das überhaupt nicht. Sie wollen so lange es geht inder Häuslichkeit bleiben.
Schauen wir uns einmal die Sache mit dem Pflegebe-dürftigkeitsbegriff an. Sie haben gesagt, dass UllaSchmidt darauf hingewiesen hat, dass man Zeit braucht,um das umzusetzen. Das bestreitet niemand von uns. Siekönnen aber auch nicht bestreiten, dass Sie das ThemaPflegebedürftigkeitsbegriff seit 2009, seit Ihrer Regie-rungsübernahme, in Ihrer Schublade liegengelassenhaben und überhaupt nichts getan haben. Das sind fastdrei Jahre, die man hätte nutzen können, um in dieserFrage endlich voranzukommen.
Was aus meiner Sicht nur noch peinlich ist, ist, dassSie jetzt auf billige Weise versuchen, Zeit zu schinden,um über diese Wahlperiode hinauszukommen, um in die-ser Wahlperiode nichts mehr entscheiden zu müssen,weil die mit einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegrifferforderlich werdenden Veränderungen natürlich zusätz-lich Geld kosten. Jetzt setzen Sie den Pflegerat erneutein. Dass Jürgen Gohde, der bezüglich der Frage derPflege wirklich die Koryphäe ist, dieses Theater nichtmitmacht, ist eine Klatsche für Sie, Herr Minister, unddie haben Sie auch verdient.
Das, was Sie hier machen, ist nichts anderes als der Ver-such, den Satz von Karl Kraus umzusetzen: Bei sinken-der Sonne werfen auch die Kleinen lange Schatten.
Ich sage Ihnen: Sie können noch so oft behaupten,dass Sie erstmals etwas für Demenzerkrankte tun; das istund bleibt gelogen. Sie tun mehr – das ist wahr –, aberSie können nicht sagen, dass es „erstmals“ zusätzlichesGeld für Demenzerkrankte gibt. Das stimmt doch nicht.Schauen Sie doch einmal in das bestehende Gesetz.
Lesen bildet. Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Kollegin, warich in der letzten Wahlperiode bei der Reform dabei, alswir hier erstmals Leistungen für demenziell Erkrankte inHöhe von 100 bzw. 200 Euro im Monat eingeführthaben,
indem wir den Einrichtungen zusätzliches Geld fürBetreuungspersonal zur Verfügung gestellt haben. Dassollten Sie anerkennen. Man kann ja der Meinung sein,dass das nicht genug ist, aber so zu tun, als ob das allesauf Ihrem Mist gewachsen ist, ist unredlich.
Sie wollen das Problem des Fachkräftemangels lösen,indem Sie die Grenzen öffnen. Pflege hat aber auch mitSprachkompetenz, mit Verständigung und mit Zuwen-dung zu tun. Ich sage Ihnen: Erstens halte ich es für denfalschen Weg, unsere Probleme zulasten der an die EUangrenzenden osteuropäischen Länder zu lösen, undzweitens glaube ich nicht, dass Sie genügend Pflege-fachkräfte mit entsprechender Sprachkompetenz findenwerden, die bereit sind, hier zu arbeiten.
Wir müssen unsere Probleme selber lösen. Wir braucheneine bessere Ausbildung. Wir brauchen attraktivereArbeitsbedingungen und vor allen Dingen eine bessereBezahlung, damit junge Menschen sich entschließen,diesen Beruf auszuüben.Ich sage Ihnen: Mit Ihrer kapitalgedeckten Vorsorge,mit dem sogenannten Pflege-Bahr, werden Sie scheitern.Was passiert denn hier? Hier werden wieder die Ver-sicherungswirtschaft und deren Renditen bedient. Siemögen zwar vielleicht einen Kontrahierungszwang vor-sehen – die Details sind ja noch unklar –, aber was wirdpassieren? Die Versicherungswirtschaft wird doch nichtdarauf verzichten, eine Prüfung der Risiken durchzufüh-ren. Das wird dazu führen, dass diejenigen, die eigent-lich schon jetzt eine Zusatzversicherung bräuchten, bei-spielsweise ältere Menschen oder Personen mitKrankheiten wie MS, gar keine bezahlbare Versiche-rungspolice bekommen werden, auch nicht mit demMinizuschuss, den sie von Ihnen noch erwarten können.Ich sage Ihnen: Das, was Sie hier vorlegen, ist Stück-werk. Damit werden Sie keine Lorbeeren gewinnen. Esgeht an den Problemen vorbei.
Wir werden im Verfahren die Gelegenheit haben, überunsere Vorschläge zu diskutieren. Am Ende werden Siesich entscheiden müssen: Was ist Ihnen eine menschen-würdige Pflege wert? Vor allen Dingen müssen Sie dieFrage beantworten, wie wir heute die Strukturen schaf-fen können, die wir in 20 Jahren brauchen, damit dieKosten beherrschbar sind und die Menschen in ihrergewohnten Umgebung alt werden können.Schönen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Man muss sich in einer sol-chen Debatte natürlich die Frage stellen: Wie baut werdiese Debatte auf? Ich bin dem Bundesgesundheitsmi-nister dafür dankbar, dass er die wesentlichen Inhalte desGesetzentwurfs noch einmal präzise und klar dargestellthat. Ich bin Jens Spahn dafür dankbar, dass er dieDimension deutlich gemacht und darauf hingewiesenhat, dass wir in diesem Gesetzentwurf eine Leistungs-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20625
Rudolf Henke
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verbesserung um 5 Prozent vorsehen. Dies kann sich imVergleich zu den anderen Sozialkassen blicken lassen.Man muss sich mit der Art, wie die SPD versucht,diese Leistungen madig zu reden, auseinandersetzen.
Man muss sich mit der Frage auseinandersetzen: Wieglaubwürdig ist eigentlich die SPD mit ihrer Argumenta-tion? Weil sowohl Kollege Lauterbach als auch KolleginFerner hier jetzt ein weiteres Mal betont haben, dass dasGeld für die Hotellerie ausgegeben worden wäre
– das ist ein zentraler Punkt, der immer wiederkehrt –,zeige ich Ihnen jetzt einen Antrag der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands aus dem Bayerischen Landtagaus dem Jahr 2006.
Darin steht:Die Staatsregierung wird aufgefordert, ihren Ein-fluss dahin gehend geltend zu machen, dass derBund für die Hotellerie den reduzierten Mehrwert-steuersatz in Höhe von 7 % einführt.Das hat die SPD 2006 von der Bayerischen Staatsregie-rung gefordert. 2009 ist es dann passiert. Heute sagenSie: Wer diese Forderung der SPD erfüllt, der macht fal-sche Politik. Das ist die Art, wie Sie Demagogie insLand tragen.
Verehrte Befürworter eines Mehrwertsteuersatzes von7 Prozent in der SPD, das ist genau die Art, in der Siejetzt versuchen, die Neuausrichtung der Pflege madig zumachen und schlechtzureden.
Das hat bei Ihnen Methode. Erst behaupten Sie etwas,was nicht wahr ist, und anschließend kloppen Sie drauf.
Da Sie immer vom Pflegebedürftigkeitsbegriff reden,sage ich Ihnen Folgendes: Ich persönlich war Mitgliedeiner Enquete-Kommission des nordrhein-westfälischenLandtags, die sich in den Jahren 2003 bis 2005 mit derFrage auseinandergesetzt hat: Wie sieht die Zukunft derPflege aus? Damals haben wir in dieser Enquete-Kom-mission parteiübergreifend, unter Einbeziehung der SPDund der Grünen, einstimmig Aussagen zum Pflegebe-dürftigkeitsbegriff getroffen. In unserem Abschlussbe-richt ist zum Beispiel zu lesen:Nach Auffassung der Enquête-Kommission ist derPflegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI zu soma-tisch ausgerichtet, weil der besondere Betreuungs-bedarf von Menschen mit demenzbedingten Funk-tionsstörungen, mit geistigen Behinderungen oderpsychischen Erkrankungen nicht ausreichend be-rücksichtigt wird.Wie gesagt, im Landtag von Nordrhein-Westfalenherrschte hier Übereinstimmung zwischen den Kollegenvon SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU und FDP.Dann kommt folgende Aussage:Deshalb sollte durch eine umfassende Definitiondes … Pflegebegriffs verdeutlicht werden, dassPflegebedürftigkeit für die betroffene Person zu ei-nem qualitativ und quantitativ weiteren Bedarf füh-ren kann, als bisher in § 14 SGB XI zum Ausdruckkommt.Dieser Forderung wird nun inhaltlich Genüge getan. Siewird jetzt praktisch aufgegriffen. Es wird einen Leis-tungsanspruch geben, der sich auf demenziell erkrankteMenschen erstreckt. Diese werden ab Januar 2013 mehrund bessere Leistungen erhalten.Für Sie ist die Definition des Pflegebedürftigkeitsbe-griffs eine Art Fetisch, mit dem Sie sich befassen. Derentscheidende Punkt ist doch, dass konkrete Konsequen-zen gezogen werden.
Die praktische Konsequenz wird jetzt gezogen,
noch bevor all die akademischen Debatten über die Qua-lität des Pflegebedürftigkeitsbegriffs beendet sind.
Wir handeln also, noch bevor die theoretische Diskus-sion beendet ist. Sie kaprizieren Ihre Kritik aber immernur auf die theoretische Diskussion.Ich bin dankbar dafür, dass es uns gelungen ist, dieLeistungen um 5 Prozent zu erhöhen, bei den Hilfen fürDemenzkranke, bei der Stärkung neuer Wohn- und Be-treuungsformen und bei der Erleichterung der Organisa-tion der pflegerischen Versorgung in Wohngruppen vo-ranzukommen und dafür zu sorgen, dass pflegendeAngehörige, die eine Vorsorge- oder Rehamaßnahme inAnspruch nehmen, dies in einer Einrichtung tun können,in der der Pflegebedürftige betreut und gepflegt werdenkann; denn das erleichtert die Inanspruchnahme.Sie denunzieren all das als „Pflegereförmchen“.
– Ja, ja. Wieso denn?
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20626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Rudolf Henke
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– Herr Lauterbach, die SPD hat eine Pressemitteilungveröffentlicht. Diese Pressemitteilung hat die Über-schrift: „Bahrs Pflegereförmchen ohne jegliche Sub-stanz“.
Wenn Zeitungen diese Kritik dann nachdrucken, weil dieSPD sie vorgetragen hat, sagen Sie anschließend: Dassteht in allen Zeitungen. – Das ist Quatsch.
Das ist die Art, in der Sie vorgehen. Das ist nicht glaub-würdig. Es ist aber schön, wenn auch Sie einmal zitiertwerden.
Natürlich gibt es weitere notwendige Schritte, die wirmachen müssen. Es stellt sich beispielsweise die Frage,ob die Ergebnisse der Tarifverhandlungen für die in derPflege Tätigen gut sind. Ich würde mir wünschen, diePflegekräfte in Deutschland wären so gut organisiert wiebeispielsweise die Ärztinnen und Ärzte. Dann kämen fürsie bessere Ergebnisse heraus.
Ich würde mir auch wünschen, wir kämen bei der zusätz-lichen Absicherung voran. Ob es Kapitaldeckungsbei-träge oder ob es lohnbezogene Beiträge sind: Am Endemüssen sie durch die Arbeit erwirtschaftet werden, diedie Menschen leisten, weil ihr ganzes Einkommen – alsoauch der Arbeitgeberbeitrag und der Arbeitnehmerbei-trag – immer durch ihre Arbeit erwirtschaftet werdenmuss. Deswegen ist im Grunde nicht der Finanzierungs-weg entscheidend, sondern die Antwort auf die Frage:Wie viel sind wir bereit, für eine Herausforderung zuleisten, die wir im Alltagsleben gerne verdrängen?Deshalb ist auch diese Diskussion über die Bedeutungvon Demenz und über die Tatsache, dass Demenz etwasist, was uns alle im Alltag betrifft, ein wesentlicher undwichtiger Beitrag in dieser Gesellschaft dazu, die gesell-schaftspolitische Bedeutung der Pflege, von der JensSpahn gesprochen hat, weiter nach vorne zu bringen.Ich finde, dafür sollten wir uns gemeinsam anstren-gen, statt in dieser billigen Weise parteipolitische Pole-mik zu betreiben, wie Sie sie hier heute betrieben haben.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/9369 und 17/9393 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Gesundheit zum Antrag der SPD-Fraktionmit dem Titel „Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ein-führen – Chancen zu nötigen Veränderungen nutzen“.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf der Drucksache 17/7082, den Antrag der SPD-Frak-tion abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DasErste war die Mehrheit. Damit ist die Beschlussempfeh-lung angenommen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 bauf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten YvonnePloetz, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEHartz-IV-Sonderregelung für unter 25-Jäh-rige abschaffen– Drucksache 17/9070 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten KatjaKipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKESanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetz-buch und Leistungseinschränkungen imZwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaffen– zu dem Antrag der Abgeordneten BrigittePothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRechte der Arbeitsuchenden stärken –Sanktionen aussetzen– Drucksachen 17/5174, 17/3207, 17/6391 –Berichterstattung:Abgeordnete Katja KippingÜber Beschlussempfehlungen zu dem Antrag derFraktion Die Linke und zum Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen werden wir später namentlich abstim-men. Ich mache also schon jetzt darauf aufmerksam,dass wir nach der Debatte zu diesem Tagesordnungs-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20627
Präsident Dr. Norbert Lammert
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punkt zwei namentliche Abstimmungen durchführenwerden.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auchfür diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst der Kollegin Katja Kipping für die Fraktion DieLinke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor eini-gen Wochen wandte sich Birgit P. an mich, weil sie voneiner Sanktion bedroht war. Zur Erläuterung: Sanktionbedeutet, dass das ohnehin niedrige Arbeitslosengeld IIin Schritten von 30 Prozent bis hin zum kompletten Ent-zug gekürzt wird.Birgit arbeitet als Ersatztagesmutter, das heißt, wenneine reguläre Tagesmutter erkrankt, dann springt sie ein.Diese Arbeit macht ihr Spaß, und die Kinder schätzensie. Zum Leben reicht es aber nicht. Dafür kommen zuwenige Stunden zusammen, in denen sie einspringenmuss. Deswegen ist sie auf aufstockende Hartz-IV-Leis-tungen angewiesen.Ihr Fallmanager hat sie nun angewiesen, Bewerbun-gen für Stellen zu schreiben, auf denen sie mehr ver-dient. Das hat sie auch getan. Allerdings hat sie in diesenBewerbungen wahrheitsgemäß angegeben, dass sie erstim Sommer eine neue Stelle antreten kann, da sie mitdem Verein, bei dem sie einspringt, auch einen Vertragmit Kündigungsfristen hat.Der Fallmanager unterstellt ihr nun, mit diesem Hin-weis sei sie selbst schuld daran, keinen neuen Job gefun-den zu haben. Im Behördendeutsch heißt das: fehlendeMitwirkung. Ist die erst einmal unterstellt, dann istHartz IV schnell gekürzt.Zum Glück hat sich Birgit P. Unterstützung gesucht.Die drohende Sanktion konnte in letzter Minute noch ab-gewendet werden. Es zeigt sich also: Es lohnt sich, sichzu wehren.
Birgit P. ist kein Einzelfall. Immer wieder werden inunserem reichen Land arme Menschen durch Sanktions-androhungen in Existenzangst gestürzt. Die Linke meint:Kein Mensch hat es verdient, in Existenznot zu geraten.Deswegen wollen wir die Sanktionen abschaffen.
Beim Verhängen der Sanktionen unterlaufen immerwieder Fehler. Davon zeugt zum Beispiel folgende Zahl:40 Prozent der Widersprüche gegen Sanktionen werdenin Gänze oder teilweise stattgegeben. Hier wird Men-schen also selbst nach den strengen Gesetzesregelungenzu Unrecht das Arbeitslosengeld II gekürzt. Wir redenhier von Menschen, die kein finanzielles Polster habenund wirklich ins Nichts stürzen, wenn ihnen das ALG IIgekürzt wird.Ein klassischer Einwand gegen die Sanktionsfreiheitwurde von einem FDP-Redner präsentiert, als wir diesesThema vor einem Jahr diskutierten. Herr Kober sagte:Man muss auch an die denken, die mit ihrer Hände Ar-beit Sozialleistungen erwirtschaften. Solidarität ist keineEinbahnstraße.
Das klingt, als ob die FDP in tiefer Sorge um die Be-schäftigten entbrannt sei. Tatsache ist jedoch: Die Be-schäftigten erwirtschaften mit ihrer Hände Arbeit zual-lererst einmal eines, die Gewinne der Konzerne und dieBoni der Topmanager.
Dass die Beschäftigten zum großen Teil auch für dasSteueraufkommen verantwortlich sind, liegt nicht an denHartz-IV-Betroffenen. Das ist Ergebnis einer verfehltenSteuerpolitik, auf deren Grundlage Geschenke für Super-reiche ermöglicht werden und die Mittelschicht zurKasse gebeten wird.
Wer möchte, dass die Mittelschicht mehr Geld in derTasche hat, der muss nicht Erwerbslose schikanieren,sondern der muss einfach für Steuergerechtigkeit sorgen.
Wer meint, die Verkäuferin oder der Kfz-Mechanikerhätte auch nur einen Cent mehr in der Tasche, wenn wirweiterhin Erwerbslose mit Sanktionen schikanieren, derirrt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Hartz-IV-Sank-tionspraxis übt Druck auf die Löhne aus. Selbst ein derBundesagentur nahestehendes Institut, das IAB, hat be-stätigt: Allein die Existenz von Sanktionen führt dazu,dass die Bereitschaft, niedrigere Löhne und familienun-freundliche Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen, zugenom-men hat. – Im Gegensatz zur FDP wollen wir Lohndum-ping nicht befördern, sondern beenden. Auch deswegenmuss die Situation von Erwerbslosen verbessert werden.
Ein zweiter Grund. Werden Sanktionen verhängt, sostürzt das den Betroffenen in existenzielle Not bis hinzur Wohnungslosigkeit. Hier unterscheidet sich der linkeFreiheitsbegriff vom schwarz-gelben Freiheitsbegriff.Die Freiheit, die wir meinen, meint immer auch die Frei-heit von Existenznot und Wohnungslosigkeit.
Wir meinen, die Sanktionspraxis ist mit dem Grundrechtauf ein menschenwürdiges Existenzminimum und aufTeilhabe unvereinbar. Dieses Grundrecht gehört für unszum Kern eines zeitgemäßen, ja eines demokratischenSozialstaates.Was meint das? In Vorbereitung auf die heutige De-batte habe ich mich mit Menschen unterhalten, die dieAuswirkungen der Sanktionen in der Praxis erleben, seies als Gewerkschaftssekretär, Sozialpädagogin, Er-werbslose. Die Ergebnisse sind in Filmspots zusammen-
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20628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Katja Kipping
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gefasst und auf meiner Webseite einzusehen. Darin kom-men die Betroffenen selbst zu Wort.Eine Erwerbslose zum Beispiel sagt: Auf dem Job-center bin ich keine Bürgerin. Da werde ich entmündigtund bevormundet. – Ein Rechtsanwalt erklärt: FürRechtsanwälte ist Hartz IV ein Vollbeschäftigungspro-gramm. Aber für die Betroffenen ist es ein kolossalesVerarmungsprogramm und muss deswegen abgeschafftwerden.
Für eine Erwerbslosenberaterin ist das SGB II – dasmeint das Sozialgesetzbuch – sogar ein Strafgesetzbuch.Das klingt sehr hart. Aber zu beobachten ist tatsäch-lich, dass Menschen, die auf Arbeitslosengeld II ange-wiesen sind, immer wieder öffentlich unter Generalver-dacht gestellt werden. Davon zeugt auch die Sprache deroffiziellen Dokumente. Nur ein Beispiel. Wer einen An-trag auf Grundsicherung stellt, der muss eine Belehrungunterschreiben, dass er sofort meldet, wenn ihm zumBeispiel Betriebskosten gutgeschrieben werden. Dannheißt es: Erfolgt dies nicht, ist die Arge verpflichtet, einOrdnungswidrigkeitsverfahren einzuleiten oder die Sa-che wegen Verdachtes des Betruges gemäß § 263 StGBder Staatsanwaltschaft zu übergeben. – Da hat jemandgar nichts getan, und schon wird mit der Staatsanwalt-schaft gedroht. Es ist doch kein Wunder, wenn Erwerbs-lose in einer solchen Situation das Gefühl haben, sie hät-ten ein Kainsmal auf der Stirn.Ich meine, wer von Arbeitslosengeld II, das ohnehinzu niedrig ist – das hat gestern auch das Berliner Sozial-gericht so entschieden –, leben muss und immer wiederAbsagen auf Bewerbungen bekommt, der ist bereits dop-pelt gestraft und den müssen Politik und Ämter nichtnoch zusätzlich verbal schikanieren.
Die Linke hat beantragt, namentlich abzustimmen.Wir wollen das Abstimmungsverhalten veröffentlichen.Jeder soll erfahren können, wie der Abgeordnete, dieAbgeordnete seiner Region abgestimmt haben, und zwaraus gutem Grund. Zum einen offenbart sich in der Frage„Wie hältst Du es mit den Sanktionen?“ auch: Wie ernstmeinen wir es wirklich mit dem Grundrecht auf Teil-habe? Zum anderen ist die Frage der Sanktionen für dieBetroffenen eine zutiefst existenzielle und sehr persönli-che Frage. Ich finde, bei einer so gleichermaßen grund-sätzlichen wie persönlichen Frage muss es möglich sein,dem eigenen Gewissen zu folgen. Die Fraktionsspitzensollten hier wirklich von dem Druck zur Fraktionsdiszi-plin absehen.
Im Bereich Hartz IV hat der Druck zur Fraktionsdiszi-plin viele Fehler verursacht und uns immer wieder zuRegelsätzen geführt, die vor Gericht scheitern. MachenSie Schluss damit! Geben Sie sich einen Ruck!Es geht bei der Sanktionsfreiheit um nicht weniger alsdie Beendigung von Existenzangst. Ich bitte um Ihre Zu-stimmung.
Carsten Linnemann ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Frau Kipping, nachdem ich gehört
habe, wie Sie heute Morgen über die Vermittlung in
Deutschland, das Kontrollsystem und die Betreuung ge-
sprochen haben, denke ich: Es wird höchste Zeit, dass
wir die Dinge geraderücken.
Wir sollten uns an dieser Stelle einmal bei den vielen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den deutschen Job-
centern bedanken, die eine hervorragende Arbeit ma-
chen. Sie sind in einem sehr sensiblen Bereich tätig;
denn sie haben es mit arbeitslosen Menschen zu tun, die
sich in einer sehr schwierigen persönlichen Situation be-
finden, und sie müssen sich individuell auf diese Ar-
beitslosen einstellen. Das ist für beide Seiten nicht ein-
fach.
– Frau Kipping, hören Sie mir doch bitte erst einmal zu. –
Das ist für beide Seiten nicht einfach. Aber nehmen Sie
bitte auch zur Kenntnis, Frau Kipping, dass wir in
Deutschland eine Situation haben, die man nicht verheh-
len kann.
Wir haben die Situation, dass wir mit dieser Regie-
rung zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Sockelarbeits-
losigkeit in Deutschland abbauen. Viele Menschen
haben gesagt, diese Sockelarbeitslosigkeit sei naturgege-
ben. Das ist aber nicht so. Das sehen wir heute: Im letz-
ten Monat gab es 130 000 Arbeitslose weniger als im
vergangenen Jahr. Das sind nicht die Menschen, die aus
der Kurzzeitarbeitslosigkeit gekommen sind – das sind
noch mehr –, sondern aus der Langzeitarbeitslosigkeit.
Das ist der Rede wert.
Herr Kollege Dr. Linnemann, Frau Katja Kipping
möchte eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie die?
Das kann sie gerne machen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20629
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Bitte schön.
Lieber Kollege, Sie haben zu Recht auf die Situation
der Beschäftigten in den Jobcentern hingewiesen, die in
der Tat nicht leicht ist. Sie müssen ausbaden, was ihnen
der Gesetzgeber eingebrockt hat. Wenn Ihnen aber diese
Situation so am Herzen liegt, könnte ich Sie dann für
eine gemeinsame Initiative gewinnen, die dafür sorgen
wird, dass die Bundesagentur genügend Geld hat, um
alle Stellen entfristen zu können, damit die dort Beschäf-
tigten mehr Sicherheit haben?
Frau Kipping, die Arbeitslosenquote in Deutschlandist nicht mehr so hoch wie vor vielen Jahren.
Die offizielle Arbeitslosenquote geht ebenso wie die in-offizielle zurück.Sie haben einen Antrag zu den Sanktionen für unter25-Jährige vorgelegt. Die Arbeitslosenquote bei den un-ter 25-Jährigen ist zurückgegangen. Dementsprechendwerden die Beschäftigten so eingestellt, wie es demneuen Bestand an Arbeitslosen entspricht. Ich nenne Ih-nen die Zahlen der unter 25-Jährigen, die wir frisch vonEurostat bekommen haben. Wir liegen keineswegs ir-gendwo im hinteren Bereich, sondern wir liegen vorne.In Spanien und Griechenland sind mehr als 50 Prozentder jungen Menschen arbeitslos. In Europa ist jedervierte Jugendliche arbeitslos, Frau Kipping. Nehmen Siedas bitte zur Kenntnis.
Wir liegen mit 8 Prozent vorne. Das ist immer nochhoch. Es ist aber durchaus der Rede wert.
Der Erfolg hat natürlich viele Väter. Ein wichtiger Va-ter sind die Arbeitsmarktreformen, die wir in den letztenJahren in Deutschland durchgeführt haben und die meineFraktion konstruktiv begleitet hat. Diese Politik führenwir weiter fort.Die europäischen Länder – das lesen wir jeden Tag –wollen unsere Politik nachmachen. Die Politik des For-derns und Förderns wird in anderen Ländern nachge-macht. Diese Politik wollen Sie abschaffen. Das heißt,die anderen Ländern steigen ein, und Sie wollen ausstei-gen, indem Sie die Sanktionen bzw. den Kontrollmecha-nismus abschaffen wollen.Wir haben in der gesamten gesellschaftlichen Breiteüberall Kontrollmechanismen: in der Schule, im Verkehrund auch in der Politik wie hier im Deutschen Bundestag.Übrigens hat es auch mit Fairness, Gerechtigkeit und Ver-antwortung zu tun, dass wir ein solches Sanktionssystemhaben, nicht nur gegenüber den Arbeitnehmern und Ar-beitgebern, die diesen Sozialstaat erst ermöglichen, son-dern auch – das wird oft vergessen – gegenüber den ar-beitslosen Menschen, die sich regelkonform verhalten.
Frau Kipping, gegen 97 Prozent werden keine Sanktio-nen verhängt. Sie reden hier über 3 Prozent und tun so,als ob Sie damit Politik für die Mehrheit dieses Landesmachen. Sie machen Politik vom Rand aus. FrauKipping, es ist in Ordnung, dass Sie das machen; das istlegitim. Aber Sie erwecken in der Öffentlichkeit denEindruck – auch heute und in Ihren Anträgen –, dass IhreAuffassung die Mehrheitsmeinung ist. Das ist falsch.Das ist nicht die Mehrheitsmeinung. Es gibt nämlicheine schweigende Mehrheit in Deutschland. Das sind so-wohl die Grundsicherungsempfänger, die sich an die Re-geln halten, sowie viele Familien und Arbeitnehmer, dievielleicht zu normal und zu langweilig für eine Schlag-zeile in der Zeitung sind. Aber das sind Menschen, diesich an die Regeln halten, die Steuern zahlen und die ar-beiten gehen. Auch denjenigen gegenüber haben wireine Verantwortung. Deswegen sagen wir: Unsere Poli-tik ist nicht fokussiert auf einen bestimmten Rand. Wirnehmen die gesamte Gesellschaft in den Blick. Das istunsere Politik. Sie orientiert sich am Gemeinwohl undnicht an irgendwelchen Rändern. Dafür stehen wir.
Ich gehe gerne noch auf zwei Punkte ein, die Sie mo-nieren. Sie sagen, die rechtliche Situation gebe das nichther. Das stimmt nicht. Sie gibt es her. Es gibt Studien,die empirisch belegen, dass unsere Politik so in Ordnungist. Frau Kipping, Sie kennen sicherlich die Studie desZentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, ZEW.Sie können dem ZEW sicherlich vieles vorwerfen, nichtaber Lobbyismus. Das ZEW hat 150 Jobcenter und15 000 Personen in seiner Studie berücksichtigt und istzu dem Schluss gekommen, dass die Jobcenter, die sichan das Regelwerk halten, bessere Vermittlungserfolgeerzielen als diejenigen, die sich weniger an die Regelnhalten. Der empirische Tatbestand ist also da.Zur rechtlichen Situation gibt es zwei Urteile. Diesesprechen – da gibt es nichts darum herumzureden – eineklare Sprache. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichtsaus dem Sommer 2010 heißt es explizit:Die Verfassung gebietet nicht die Gewährung vonbedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozial-leistungen.Mit anderen Worten: Sozialleistungen sind in diesemLand immer an Bedingungen geknüpft.Im Zusammenhang mit dem prominenteren Urteil ausKarlsruhe vom Februar 2010 hat der Deutsche Richter-bund festgestellt: Die geltenden Sanktionsregeln ein-schließlich der schärferen Sanktionen für unter 25-Jäh-rige werden nicht als unvereinbar mit dem in diesemUrteil aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mitdem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten Grundrecht auf Ge-währleistung eines menschenwürdigen Existenzmini-mums angesehen.
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20630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Carsten Linnemann
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Wir orientieren unsere Politik an der gesamten Breiteder Gesellschaft. Das ist unsere Politik. Deshalb lehnenwir Ihre Anträge, meine Damen und Herren von der Lin-ken, ab, genauso wie den Antrag der Grünen, in demeine Aussetzung der Sanktionen gefordert wird.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist
für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Frau Gabriele Hiller-Ohm. Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über zweiAnträge der Linken und einen Antrag der Grünen, diesich mit den Sanktionsregelungen für Hartz-IV-Bezieherbefassen. Das Arbeitslosengeld II kann zum Beispieldrastisch gekürzt werden, wenn sich die Betroffenen wie-derholt nicht an Vereinbarungen mit den Jobcentern hal-ten. Die Linken fordern wieder einmal die völlige Ab-schaffung der Sanktionen. Sie wollen eine sanktionsfreieMindestsicherung, also ein bedingungsloses Grundein-kommen.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist mit uns nichtzu machen. Wir lehnen die Anträge der Linken deshalbab.
Für uns gilt der Grundsatz „Fördern und fordern“.
Wer Sozialleistungen erhält, muss alles dafür tun, wasihm oder ihr möglich ist, um aus dem Leistungsbezugwieder herauszukommen und sich auf eigene Beine zustellen. Geschieht dies mutwillig nicht, so müssen Kon-sequenzen möglich sein.
Man kann darüber streiten, wie Sanktionen aussehensollen. Das Urteil der Bundesverfassungsrichter vom Fe-bruar 2010 gibt hier allerdings klare Hinweise. Es be-sagt: Das physische Existenzminimum muss gesichertbleiben. – Das bedeutet, dass Kürzungen bei Wohnen,Essen, Trinken, Kleidung und medizinischer Versorgungtabu sind. Der Spielraum für Leistungskürzungen ist so-mit begrenzt.Alle Sanktionen müssen darauf überprüft werden, obsie in das Existenzminimum eingreifen. Es ist deshalbrichtig, die Sonderregelungen für Jugendliche unter25 Jahren genau unter die Lupe zu nehmen. Hier sindheute drastische Kürzungen der Sozialleistungen ganzschnell bis auf null möglich. Das geht nicht; denn dasentspricht nicht dem Urteil des Bundesverfassungsge-richts.
Wir haben deshalb schon 2010, also vor zwei Jahren,gefordert, dies zu ändern und die Sanktionen insgesamtauf den Prüfstand zu stellen. Wir fordern erstens, dassfür junge Erwachsene dasselbe Sanktionsrecht wie füralle anderen gilt. Dies muss natürlich verfassungsfestsein. Also: Weg mit den Sonderregelungen! Zweitens.Wir wollen, dass Sanktionen nicht Pi mal Daumen ver-hängt werden; es muss auf den jeweiligen Einzelfall ein-gegangen werden. Drittens. Ganz wichtig ist uns, dassKürzungen schnell wieder zurückgenommen werden,wenn sich Sozialhilfebezieher besinnen und sich doch andie Vereinbarungen mit dem Jobcenter halten. Viertens.Wir fordern darüber hinaus, dass das physische Exis-tenzminimum, vor allem Unterkunft und Heizung, aufjeden Fall von Kürzungen ausgenommen bleibt; denn al-les andere wäre verfassungswidrig. Fünftens. Wir wol-len, dass Kürzungen vorher schriftlich angekündigt wer-den und eine verständliche Rechtsfolgenbelehrungerfolgt. Dies wurde von Schwarz-Gelb geändert – ausunserer Sicht ein schwerer Fehler.
Frau Ministerin, ich fordere Sie auf: Setzen Sie dasUrteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2010endlich um! Unsere Vorschläge liegen seit langem aufIhrem Tisch. Schaffen Sie endlich verfassungsfeste Re-gelsätze und Sanktionsregelungen, die das Existenzmini-mum nicht antasten!Bestimmte Zeitungen fordern in regelmäßigen Ab-ständen immer wieder härtere Strafen für Hartz-IV-Emp-fänger, weil es angeblich einen so großen Missbrauch indiesem Bereich gibt. Die Wirklichkeit ist: Nur ein sehrkleiner Anteil, gerade einmal 3 Prozent, aller Hartz-IV-Empfänger handelte sich 2011 tatsächlich Sanktions-maßnahmen ein. Die meisten von ihnen hatten es ver-säumt, sich beim Jobcenter zu melden. Nur sehr wenigenwurde die Leistung gekürzt, weil sie sich geweigert ha-ben, eine Arbeit, Ausbildung oder Maßnahme anzuneh-men. Tatsache ist auch, dass die Zahl der Arbeitsverwei-gerer in den letzten Jahren beständig gesunken ist. Daszeigt ganz klar: Fast alle Arbeitsuchenden halten sich andie Vereinbarungen, wollen arbeiten und wären froh,wenn sie einen Arbeitsplatz finden würden.
Da müssen wir ansetzen. Aufgabe der Politik ist es,Perspektiven zu schaffen. Die Arbeitslosigkeit ist inDeutschland trotz der Krise in den letzten Jahren deut-lich gesunken. Darauf hat der Kollege Linnemann hinge-wiesen. Er hat aber versäumt, zu sagen, dass sich trotz-dem die Situation vieler Menschen verschlechtert hat.Besonders betroffen sind junge Menschen und Frauen.Mehr als 65 000 Schülerinnen und Schüler verlassen all-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20631
Gabriele Hiller-Ohm
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jährlich die Schule ohne einen Abschluss. Das entsprichtder Einwohnerzahl von Wedel und Itzehoe in Schleswig-Holstein, meinem Bundesland. 1,5 Millionen junge Er-wachsene sind ohne jeden Berufsabschluss. Das ent-spricht der Einwohnerzahl von München. Fast jederdritte Erwerbstätige unter 35 Jahren befindet sich inDeutschland in einem prekären, also unsicheren undschlecht bezahlten Job. Hiervon sind besonders dieFrauen betroffen. Wie sieht es bei den Leiharbeitern aus?Sogar fast jeder Zweite ist unter 30 Jahre alt.Das dürfen wir nicht zulassen.
Diese Zahlen sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von CDU/CSU und FDP, und besonders Ihre Ar-beitsministerin – Sie ist jetzt leider nicht mehr da –wachrütteln.
Was aber tut die Bundesregierung? Sie kürzt ausge-rechnet bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumentenund raubt den Jugendlichen das Recht auf eine zweiteChance beim Schulabschluss oder bei einer Berufsaus-bildung. Das, meine Damen und Herren, ist der falscheWeg.Wir fordern hingegen: Niemand darf in Deutschlandohne Schul- und Berufsabschluss bleiben. Schluss mitunsicheren und mies bezahlten Jobs!
Wenn wir das hinbekommen, schaffen wir die Perspekti-ven, die vor allem junge Menschen brauchen, um garnicht erst in Hartz IV zu fallen. Debatten über Sanktio-nen können wir uns dann sparen.Zu den Anträgen.
Sie wissen aber, was das Licht vor Ihnen bedeutet?
Wir werden die Anträge der Linken ablehnen. Bei
dem Grünen-Antrag werden wir uns enthalten. Wir fin-
den bedenklich, dass die geltenden Sanktionen ohne ge-
setzliche Grundlage ausgesetzt werden sollen. Das ist
aus unserer Sicht rechtlich nicht möglich. Wir werden
uns bei diesem Antrag enthalten.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Bevor ich dem Kolle-
gen Kober das Wort gebe, erteile ich das Wort zu einer
Kurzintervention unserer Kollegin Katja Kipping. Bitte
schön, Frau Kollegin Katja Kipping.
Tut mir leid, aber Frau Hiller-Ohm hat unterstellt, es
würde bei unserem Antrag um ein bedingungsloses
Grundeinkommen gehen. Nun würde ich persönlich hier
sehr gern für ein bedingungsloses Grundeinkommen
werben,
aber – das möchte ich doch richtigstellen – zu meinem
großen Bedauern hat sich die Linksfraktion bisher mehr-
heitlich nicht für ein bedingungsloses Grundeinkommen
ausgesprochen.
Es gibt einen Unterschied – insofern muss man hier
schon noch einmal aufklären – zwischen einer sanktions-
freien Mindestsicherung, bei der es keine Sanktionen,
aber weiterhin eine Bedürftigkeitsprüfung gibt, und ei-
nem bedingungslosen Grundeinkommen. Die genauen
Unterschiede kann man sich auf der Internetseite des
Netzwerks Grundeinkommen anschauen. – Das wollte
ich richtigstellen.
Dann will ich noch eine Sache deutlich machen: Es
gibt einen Unterschied zwischen Bedürftigkeitsprüfung
und Sanktionsfreiheit. Auch das vom Kollegen
Linnemann zitierte Urteil stellt nicht auf die Richtig-
keit der Sanktionen ab, sondern darin geht es darum,
dass die Bedürftigkeitsprüfung zumindest verfassungs-
mäßig gedeckt ist, und das ist ein zentraler Unter-
schied. – Das wollte ich klarstellen.
Ebenso muss man klarstellen, dass der Richterbund
sich in der Anhörung sehr wohl sehr kritisch gegen Kür-
zungen ausgesprochen hat, die mehr als 30 Prozent be-
tragen.
Danke schön.
Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben das Wort.
Frau Kollegin Kipping, es freut mich sehr, wenn IhreFraktion sich besonnen hat und jetzt nicht mehr dasbedingungslose Grundeinkommen fordert.
Sie haben uns das im Bundestag ständig wieder auf denTisch gelegt. Wenn das jetzt vom Tisch ist, ist es gut.Sie sagen in Ihrem Antrag aber ganz klar, dass Sieeine – ich zitiere – „sanktionsfreie Mindestsicherung“wollen. Das fordern Sie.
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20632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Gabriele Hiller-Ohm
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Das ist mit uns nicht zu machen. Wir sagen, dass esSanktionen geben muss. Diese Sanktionen müssen aller-dings – das ist überhaupt keine Frage; ich habe es ausge-führt – verfassungsfest sein. Das Existenzminimum darfnicht angetastet werden. Dazu haben wir uns auch klarpositioniert.Sie gehen in eine andere Richtung. Wir wollen, dassden Menschen, die in Not geraten, sofort Sozialleistun-gen gewährt werden, dass den Menschen sofort geholfenwird. Aber diese Menschen müssen auch alles dafür tun,dass sie wieder auf die Füße kommen und sich von derSozialleistung schnell wieder lösen, um dann wieder aufeigenen Beinen zu stehen. Das ist uns wichtig.Das geht aus unserer Sicht am besten mit dem Grund-satz, mit dem Prinzip „Fördern und Fordern“. Das För-dern und Fordern muss aber gleichwertig sein. Es mussgefordert werden können, aber natürlich muss auch dieFörderung da sein, und daran hapert es aus unserer Sichtdeutlich. Es passt nicht zusammen, wenn auf der einenSeite gefordert wird, aber bei den arbeitsmarktpoliti-schen Instrumenten gekürzt wird und jungen Menschendamit die zweite Chance auf einen weiterführenden Bil-dungsabschluss genommen wird. Es wird einseitig beimFördern gekürzt – das wollen wir nicht. Wir wollen för-dern und fordern. Das muss im Gleichgewicht sein, unddann ist das auch eine gute Sache.
Vielen Dank. – Wir fahren in unserer Rednerliste fort.
Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kol-
lege Pascal Kober. Bitte schön, Kollege Kober.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Kipping, Sie sind in Ihrer Rede so tief indie Grundsätze linksparteilichen Denkens eingetaucht,dass man fast den Eindruck gewinnen könnte, es habesich um eine Bewerbungsrede zum Bundesvorsitz IhrerPartei gehandelt.
Liebe Kollegin Kipping, daneben haben Sie mit derSchilderung einer ganzen Reihe von Einzelschicksalenversucht, hier Betroffenheit herzustellen. Ich sage Ihnenganz offen: Auch ich kenne solche Einzelfälle. DieseFälle können vielfach auch betroffen machen.Sie können aber nicht leugnen, dass auch Sie diejeni-gen Einzelfälle kennen, bei denen beispielsweise Arbeit-geber berichten, dass ihnen Menschen zugewiesen wer-den, einen Arbeitsplatz anzunehmen, die dann dieentsprechende Motivation nicht mitbringen. Sie kennengleichfalls Beispiele von Jobcentermitarbeitern und -mitar-beiterinnen, die Ihnen von einer, sagen wir einmal, aus-baufähigen Motivation von Arbeitsuchenden berichtenkönnen.Ich glaube, dass dieses Aufrechnen oder Gegenüber-stellen von Einzelschicksalen uns alle nicht weiterbringt.Hier muss es vielmehr um die Grundsätze unseres So-zialstaates gehen. Diese Grundsätze beruhen auf einemganz spezifischen Solidaritätsgedanken.Sie haben mich zu Recht aus einer meiner vergange-nen Reden zitiert – allerdings nicht vollständig. Solidari-tät ist keine Einbahnstraße. Solidarität ist eine Wechsel-beziehung zwischen verschiedenen Partnern.Das sind auf der einen Seite natürlich diejenigen, diearbeitsuchend sind, die keine Arbeit bekommen, die ar-beiten könnten, die arbeiten wollen und die darauf an-gewiesen sind, dass dieser Sozialstaat ihnen Leistungengewährt, sie unterstützt und ihnen bei der Arbeitsuchehilft. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen – dashaben Sie zu Recht zitiert –, die mit ihrer Hände Arbeit,aber auch mit ihrer Köpfe Arbeit diese Leistungen durchihre Steuergelder finanzieren und diese Leistungen desSozialstaates überhaupt erst möglich machen. BeideGruppen sind sich zu Solidarität verpflichtet.Dann gibt es aber noch eine dritte Personengruppe,nämlich diejenigen, die nicht arbeiten können, beispiels-weise aufgrund von Krankheit oder aufgrund einer Be-hinderung. Diese Personengruppe ist ebenfalls auf Leis-tungen des Sozialstaates angewiesen. Sie ist auch daraufangewiesen, dass diejenigen, die selber etwas dazu bei-tragen könnten, aus der Bedürftigkeit herauszukommen,dies auch tun, damit mehr Leistungen für diejenigen zurVerfügung stehen, die sich selber weniger helfen kön-nen.
Das ist der Sozialstaatsgedanke, den wir hier lebenwollen. Das ist der Sozialstaatsgedanke, auf dem dasPrinzip „Fördern und Fordern“, das Sie mit Ihren Anträ-gen außer Kraft setzen wollen, beruht.Liebe Kollegin Kipping, Sie haben hier aus meinerSicht – darauf hat der Kollege Linnemann schon zuRecht hingewiesen – ein völlig verzerrtes Bild der Wirk-lichkeit wiedergegeben. Zunächst einmal handelt es sichbei denjenigen, die von Sanktionen betroffen sind, nurum eine kleine Gruppe. 3,4 Prozent der Arbeitsuchendensind im Jahr 2011 mit Sanktionen belegt worden. Aufder anderen Seite sind also fast 97 Prozent nicht vonSanktionen betroffen. Das bedeutet, dass das Zusam-menspiel zwischen Arbeitsuchenden und Jobcentern ein-wandfrei funktioniert.Dort, wo es Verbesserungen geben sollte, arbeitet dieArbeitsagentur intensiv daran, beispielsweise durchSchulung ihrer Mitarbeiter.Aber auch wir als Politiker haben etwas getan, wirhaben den Betreuungsschlüssel verbessert. So ist derBetreuungsschlüssel für Arbeitsuchende unter 25 Jahrenso verbessert worden, dass von einem Mitarbeiter desJobcenters heute nur noch 75 Personen zu betreuen sind.Das ist der richtige Weg. Wir müssen den Betreuungs-schlüssel verbessern; denn dadurch entsteht mehr Frei-raum für die Jobcentermitarbeiter, gezielt auf die Be-
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dürfnisse der Arbeitsuchenden einzugehen. Das hatdiese Bundesregierung getan.Auf der anderen Seite ist aber auch klar, dass alleBemühungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik nur dannerfolgreich sein können, wenn entsprechende Arbeits-plätze auch zur Verfügung stehen. Man muss feststellen,dass keine Bundesregierung in diesem Bereich so erfolg-reich war wie die jetzige Bundesregierung. Liebe Kolle-gin Kipping, auch Sie sollten das anerkennen und nichtimmer nur über das Verteilen sprechen, sondern auchüber das Erwirtschaften und vor allen Dingen darüber,wie Menschen selbstbestimmt leben können.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Kober. – Nächste Rednerin in
unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Frau Brigitte Pothmer. Bitte
schön, Frau Kollegin Pothmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
in der bisherigen Debatte den Eindruck gewonnen, dass
es Sinn macht, noch einmal auf die Ziele hinzuweisen,
die mit der Einführung der Grundsicherung für Arbeits-
lose verbunden waren. Da hieß es: Wir wollen einen dis-
kriminierungsfreien Zugang zur Grundsicherung schaf-
fen. Es hieß weiter: Wir wollen die Sozialhilfeempfänger
vom arbeitsmarktpolitischen Abstellgleis herunterholen.
Und es hieß: Wir wollen Integrationschancen für alle
schaffen. Statt sich an diesen Zielen zu orientieren, trägt
die Koalition ihre eigenen Konflikte zunehmend auf dem
Rücken der SGB-II-Bezieherinnen und -Bezieher aus.
Das jüngste, aber nicht das einzige Beispiel ist das Be-
treuungsgeld. Mit Ihrem Vorschlag, den SGB-II-Bezie-
hern den Zugang zu verwehren, grenzen Sie diese
Gruppe ein weiteres Mal aus. Sie stempeln sie ab und
machen sie zu den Parias dieser Gesellschaft. Sie treiben
die gesellschaftliche Spaltung damit weiter voran.
Was auf der großen politischen Bühne geschieht, setzt
sich Tag für Tag in den Jobcentern fort. So darf und kann
es nicht weitergehen. Das Verhältnis von Arbeitsuchen-
den zu Fallmanagern muss auf eine grundlegend neue
Basis gestellt werden. Dazu müssen die Jobcenter mate-
riell entsprechend ausgestattet werden. Die Kürzungen
in der aktiven Arbeitsmarktpolitik müssen zurück-
genommen werden. Es müssen aber auch die Rechte der
Arbeitsuchenden gestärkt werden. Es muss Schluss
damit sein, dass die Arbeitsuchenden immer wieder in
die Rolle des Bittstellers gedrängt werden. Es muss ein
Verhältnis auf Augenhöhe geschaffen werden. Dazu ha-
ben wir Ihnen einen umfassenden Katalog vorgelegt. In
diesem Katalog fordern wir auch, dass die verschärften
Sonderrechte für junge Menschen aufgehoben werden.
Diese Sonderregelungen, Herr Kolb, waren von Anfang
an ein Fehler.
Frau Hiller-Ohm, Ihr Arbeitsminister in der Großen
Koalition hat diesen Fehler bis zum Anschlag verschärft.
Bei unter 25-Jährigen können Sanktionen, die bis zur
Wohnungslosigkeit führen, verhängt werden. Wenn sie
aus dem Elternhaus ausziehen und selbstständig werden
wollen, dann benötigen sie eine Genehmigung des Job-
centers.
Ich weiß nicht, wer sich an die damalige Debatte erin-
nert. Ich erinnere mich gut, dass hier ein Schreck-
gespenst an die Wand gemalt wurde. Es wurde damals
behauptet, dass es ganze Auszugslawinen gäbe. Es
wurde so getan, als ob die 18-Jährigen ihren Geburtstag
quasi im Jobcenter feierten und nichts anderes im Sinn
hätten, als sich auf Kosten der Allgemeinheit eine eigene
Bude zu organisieren. Belege dazu: Fehlanzeige. Wir
haben diese Regelung schon damals insbesondere des-
wegen kritisiert, weil sie dafür sorgt, dass sich diejeni-
gen, die einen besonderen Unterstützungsbedarf haben,
aus dem System generell abmelden. Ich sage eines: Wer
untertaucht, dem kann man nicht mehr helfen. Das kann
am Ende dazu führen, dass die Kleinkriminalität steigt,
dass Schwarzarbeit zunimmt und dass die Verschuldung
dieser jungen Leute zunimmt. Das wollen wir nicht.
Ich frage Sie: Kann unter diesem Sanktionsreglement
tatsächlich ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen
Fallmanagern und Jobsuchenden aufgebaut werden? Ich
sage Ihnen: Die Beschäftigten in den Jobcentern plä-
dieren mit Verve dafür, dass die Regelung für die unter
25-Jährigen abgeschafft wird. Die Beschäftigten dort
wissen genauso wenig wie ich, wie junge Erwachsene
unter diesen Umständen die Verantwortung für ihr eige-
nes Leben in die Hand nehmen können und sollen.
Was wir brauchen, ist Unterstützung. Was wir nicht
brauchen, ist Bestrafung. Anknüpfen statt Abkoppeln
muss die Devise sein.
Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Pothmer. – Nächster Red-
ner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Dr. Peter Tauber. Bitte schön, Kollege Dr. Tauber.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worum gehtes in dieser Debatte eigentlich? Um einen ganz einfa-chen Punkt, nämlich um die Frage, ob Menschen, die
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Dr. Peter Tauber
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Solidarität erfahren, auch etwas zurückgeben und sich anRegeln halten, die man allgemein vereinbart hat.Sie nennen das „Sanktionen“. Wir können deswegenjetzt über die Frage diskutieren, ob Sanktionen zumutbarsind, wen Sanktionen treffen – vielleicht aber auch da-rüber, wie die Situation wirklich ist. Und wir könnenauch darüber reden, was uns in dieser Debatte leitet, wel-che Grundüberzeugungen wir teilen und welche nicht.Schauen wir uns zunächst die Zahlen an: Es gibt4,4 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Da-von erfüllen 96,6 Prozent alle Voraussetzungen, um dieLeistungen, die ihnen die Solidargemeinschaft gewährt,ohne Abstriche in Anspruch zu nehmen. 3,4 Prozent die-ser Menschen hingegen tun das aus den unterschied-lichsten Gründen offensichtlich aber nicht.Es ist in der Tat eine Frage von Solidarität und auchvon Gerechtigkeit, dass man denjenigen, die sich nichtan die Spielregeln halten, das ab und zu nicht nur sagt,sondern sie im Zweifel auch darauf hinweist, dass dasNichteinhalten von Regeln meistens nicht folgenlos ist,auch für einen individuell nicht.
Deswegen ist es nicht unsozial, wenn man das Einhaltender Spielregeln einfordert und wenn man gegebenenfallskonsequent Handlungen ableitet, wenn sich Menschennach einer wohlmeinenden Begleitung von fachlicherSeite nicht eines Besseren belehren lassen.Entscheidend ist, dass Sanktionen Gott sei Dank keinMassenphänomen sind – die Kolportierung dieses Ge-dankens muss man Ihnen an dieser Stelle vorwerfen –,
was die weitverbreitete und leider auch durch mancheBoulevardmedien immer wieder transportierte Unterstel-lung, dass Hartz-IV-Empfänger es sich am liebstengemütlich machen würden, widerlegt. Eigentlich ist eseine positive Nachricht, dass sich nur eine so geringeZahl von Menschen diesen Sanktionen gegenübersieht.Trotzdem: Obwohl Sanktionen kein Massenphäno-men sind, bleibt der Grundsatz bestehen – in dem sindwir uns hoffentlich alle einig –, dass jeder, der unver-schuldet in Not gerät, der arbeitslos wird, Hilfe von derSolidargemeinschaft erfahren muss. Auch das muss manan dieser Stelle sagen, weil Sie ein völlig falsches Bildzeichnen.Sie zeichnen noch an einer weiteren Stelle ein völligfalsches Bild: Sie erwecken den Eindruck, wir Parla-mentarier würden diese sozialen Leistungen gewährenoder die Sanktionen festlegen. Wir machen das alsGesetzgeber. Aber die Solidargemeinschaft besteht nichtaus Abgeordneten und SGB-II-Empfängern, sondern siebesteht aus denjenigen, die mit ihrer Arbeitskraft undihrem Steueraufkommen dafür sorgen, dass wir über-haupt die entsprechenden Gesetze machen können,damit den Menschen, die in Not sind, geholfen wird.
Das sind die beiden Gruppen, die in unserer Gesell-schaft zusammengebracht werden müssen, damit dieeinen bereit sind, Solidarität zu üben, indem sie etwas ge-ben, und damit die anderen Hilfe erfahren, um im Ideal-fall irgendwann der anderen Gruppe anzugehören undsagen zu können: Ich habe Hilfe bekommen, jetzt bin ichgerne bereit, selbst Hilfe zu geben. – Das ist der Grund-gedanke und nicht das, was Sie teilweise suggerieren.Die Ministerin hat, wie so oft, einen Satz gesagt, dermir sehr gut gefällt und den ich an dieser Stelle zitierenmöchte:Gerechtigkeit betrifft immer zwei Seiten: den, deres bezahlt, und den, der es bekommt.
Dieser Satz ist und bleibt richtig.Wir wissen, dass nur 3,4 Prozent der Leistungsbezie-her überhaupt von Sanktionen betroffen sind. Wenn mandann hört, wie Sie über dieses Thema diskutieren, dannmüssen Sie sich angesichts der Pauschalität Ihrer Aussa-gen den Vorwurf gefallen lassen, dass Sie – der KollegeLinnemann hat das ausgeführt – alle Leistungsbezieherdarunter subsumieren und dadurch ein völlig falschesBild der Realität zeichnen.Auch den Popanz, den Sie aufbauen, dass Jobcenterwillkürlich Leistungsbezieher abstrafen würden, kannman so nicht stehen lassen. Ich weiß sehr wohl, dass dieArbeit, die dort geleistet wird, nicht leicht ist. Es ist ebenein Kennzeichen unseres Rechtsstaats, dass der Leis-tungsbezieher die Möglichkeit hat, die Leistung, die ihmgewährt wird, gerichtlich überprüfen zu lassen, wenn erglaubt, dass er einen Anspruch auf mehr hat. Da zeigtsich, dass da Menschen für Menschen arbeiten, keineabstrakten Systeme. Dass es zu Überprüfungen kommt,ist ein Ausdruck des Funktionierens des Systems; daswiderlegt nicht das Funktionieren des Sozialsystems. Sieverkehren die Verhältnisse völlig. Auch das kann manaus meiner Sicht so nicht stehen lassen.
Wir haben es an anderer Stelle immer wieder gesagt– ich wiederhole es heute gerne –: Wenn die Arbeits-losigkeit steigt, leuchtet es mir ein, zu fordern, dass mehrMittel bereitgestellt werden, um Menschen, die arbeits-los sind, vielleicht auch gerade denen, die langzeitar-beitslos sind, zu helfen. Wenn die Arbeitslosigkeit abersinkt und auch die Langzeitarbeitslosen nachweisbar vondieser Entwicklung profitieren, zu fordern, die Mittel zuerhöhen, ist eine sozialistische Dialektik, die sich mirintellektuell leider verschließt. Das müssen Sie mir viel-leicht an anderer Stelle erklären. Das ist bis zum heuti-gen Tage keine logische Forderung. Deswegen haltenwir es für falsch und lehnen es ab.
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Dr. Peter Tauber
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Ich will noch einige Sätze zum Antrag der Linksfrak-tion zur Abschaffung der Sonderregelung für unter 25-Jährige sagen. In der Tat ist es um jeden jungen Men-schen schade, der an dieser Stelle auf unsere Solidarge-meinschaft angewiesen ist; denn wir wünschen uns, dassjunge Menschen selbstbestimmt ihr Leben aufbauenkönnen,
etwas in die Hand nehmen können, etwas schaffen kön-nen. Die spannende Frage ist aber, ob man jungen Men-schen hilft, wenn man sagt: „Weißt du was, mach dumal!“, wenn es keinen gibt, der irgendwie hinschaut – dieEltern nicht, auch die Solidargemeinschaft nicht –, wennman sagt: Du kannst dich da ausleben, wie du willst. –Ganz ehrlich: Sie sind vielleicht in Ihrer Jugend solchvorbildliche Menschen gewesen; ich war es nicht. Ichhabe an zwei, drei Stellen durchaus den berühmten Trittin den Hintern gebraucht, Gott sei Dank nur im übertra-genen Sinne, bildlich gesprochen.
– Durch Dazwischenschreien wird es meistens nichtrichtiger, Herr Kollege. Ich habe in Demut zugehört.
– Frau Kipping, auch Ihrer liebreizenden Stimme lau-sche ich an jeder Stelle sehr gerne. Nur haben Sie heuteschon so viel geredet, dass ich fast wieder geneigt bin,Ihnen den Schweigefuchs zu zeigen. Das mache ichheute aber nicht, weil ich keine unnötige Schärfe in dieDebatte bringen möchte.Es bleibt dabei: Junge Menschen brauchen genausowie andere, vielleicht manchmal einen Tick mehr, denrichtigen Schubs. Deswegen ist es genau das falsche Si-gnal, zu sagen: Nein, da darf es erst recht keine Formvon Hilfestellung, von Sanktionen etc. geben. – Wie ge-sagt: Sie sind vielleicht die besseren Menschen, die soselbstreflektiert durch diese Welt gehen, dass sie daskönnen.
Ich erlebe in meiner Umgebung, dass wir genau dasbrauchen: Menschen, die einander helfen, die einandersagen, wo Grenzen sind, die dann versuchen, gemeinsametwas zu erreichen. Wir schaffen gerade das, was Siewollen: dass junge Menschen selbstbewusst sind undihre eigenen Fähigkeiten entdecken.
Wir sagen nicht: Wisst ihr was, wir haben da ein Systemgeschaffen, das euch einfach an die Hand nimmt; ihrbraucht euch um die vielen weiteren Dinge nicht zukümmern; wenn ihr daheim ausziehen wollt – den Zwi-schenruf nehme ich gerne auf –, zahlt euch die Solidar-gemeinschaft eine Wohnung.Für die Fälle, in denen ein Zusammenleben aus ver-schiedenen Gründen nicht mehr möglich ist, gibt es In-strumente. Aber ich finde es etwas schräg, die Solidarge-meinschaft in Anspruch zu nehmen, wenn einer nur sagt:Ach, weißt du was, Mama und Papa mag ich nicht mehrsehen, eine eigene Bude wäre ganz schön.
Das will ich Ihnen an dieser Stelle sagen.
Deswegen bleibt es dabei – damit komme ich zumSchluss, Herr Präsident –:
Natürlich können Menschen in diesem Land nach wievor auf die Solidargemeinschaft bauen. Wir tun allesdafür, dass das so bleibt. Dazu gehört – ich habe es vor-hin bereits gesagt –, dass wir die, die durch ihrer HändeArbeit dafür sorgen, dass wir als Gesetzgeber diesenRahmen überhaupt schaffen können, mitnehmen. Dasvermisse ich bei jedem Beitrag, der von der linken Seitedes Hauses kommt. Sie reden nur über diejenigen, dieLeistungen beziehen. Wir reden über beide: über diejeni-gen, die die Leistung erwirtschaften, und über diejeni-gen, die sie beziehen.
Herr Kollege Tauber, Sie haben eben etwas verspro-
chen.
Das ist echte Solidarität.
Vielen Dank, Kollege Tauber. – Nächste Rednerin ist
für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Katja Mast. Bitte schön, Frau Kollegin Katja Mast.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Worum geht es in dieser Diskussion? Es geht darum,dass es im Sozialgesetzbuch II unterschiedliche Sank-tionsregelungen gibt: für Jugendliche unter 25 – von de-nen hören uns heute hier einige zu – und für über 25-Jäh-rige. Meine Fraktion sagt ganz klar: Das wollen wir sonicht.
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– Frau Pothmer, es ist gut, dass Sie gleich dazwischenru-fen. Sie haben recht: 2007 haben wir das mitbeschlossen.Im Übrigen haben die Grünen damals nach dem Vermitt-lungsausschuss die Zumutbarkeitsregelungen für dasArbeitslosengeld II, die sie heute nicht mehr wollen,mitbeschlossen.
Es ist wichtig, dass man versteht, dass eine Regierungs-koalition einem auch Kompromisse abverlangt, dieeinem so nicht über die Lippen gekommen wären, wennman die eigene Politik zu 100 Prozent hätte durchsetzenkönnen.
Koalitionen sind immer Bündnisse auf Zeit und ein Auf-einanderzugehen von zwei Koalitionspartnern. Das wardamals auch für die Grünen so. Für uns ist es dort, wowir in Verantwortung sind, heute noch so.Mir ist wichtig, festzuhalten: Warum diskutieren wirüber dieses Thema? Wir diskutieren über die Regelun-gen für jugendliche Langzeitarbeitslose, nämlich für die,die gemäß SGB II Arbeitslosengeld II beziehen. Fürmeine Fraktion stelle ich fest: Wir wollen beides – for-dern und fördern. Wir sagen: „Wir unterstützen dich,damit du den Übergang in Ausbildung, den Übergang inArbeit hinbekommst“ – das ist das Fördern –, aber wirsagen auch: „Wenn du nicht immer mitmachen willst,dann gibt es an der einen oder anderen Stelle nicht soviel Unterstützung.“Mein Vorredner hat darauf bestanden, dass auch da-rüber diskutiert wird, wer diese steuerfinanzierte Leis-tung bezahlt.
Es sind diejenigen, die jeden Morgen aufstehen: dieBäckereifachverkäuferin, die Krankenschwester, derFacharbeiter, der Polizist.
Das sind die ehrlichen Steuerzahler in unserer Republik.
Sie bezahlen mit ihren Steuermitteln die Transfersys-teme. Es ist richtig, dass wir mit ihnen diskutieren müs-sen. Das tue ich als Abgeordnete oft vor Ort in meinemWahlkreis in Pforzheim und im Enzkreis. Ich bekommedort die Rückmeldung, dass die Bürger es nicht verste-hen würden, wenn es plötzlich gar keine Sanktionenmehr gäbe.
Natürlich dürfen wir nicht alle Lasten auf die fleißi-gen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abwälzen.Das ist Ihr Problem angesichts der derzeitigen politi-schen Großwetterlage. Wir dürfen die Kosten der Krisenicht nur auf die ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steu-erzahler, die jeden Morgen um acht, manchmal um sechsoder um vier Uhr aufstehen und arbeiten gehen, abwäl-zen.
Wir finden vielmehr, dass auch die Profiteure der Kriseihren Beitrag dazu leisten müssen. Deshalb gibt es zwi-schen uns Unterschiede bei der Finanzmarkttransaktion-steuer, bei der Vermögensteuer und bei vielen anderenPunkten.Lassen Sie mich auf das Thema Jugendarbeitslosig-keit zurückkommen. Was brauchen Jugendliche eigent-lich? Ist es wichtig, dass wir uns heute Morgen zweiStunden über die Sanktionsmaßnahmen im SGB IIunterhalten? Oder wäre es nicht viel wichtiger, dass sichdie Bundesregierung darüber unterhält, wie sie mit den1,5 Millionen Jugendlichen in unserer Republik umge-hen will, die zwischen 20 und 30 sind und keine Berufs-ausbildung haben?
– Wir nicht.
Deshalb ist mir wichtig, dass wir uns überlegen: Wieschaffen wir es, dass jeder Jugendliche einen Ausbil-dungsplatz bekommt? Wie schaffen wir es, dass Jugend-liche nach der Ausbildung nicht in Zeit- und Leiharbeitlanden?
Wie schaffen wir es, ihnen Perspektiven zu geben? Ichfrage mich, was diese Bundesregierung dafür tut.Im Spiegel dieser Woche gab es zwei große Artikelüber die Sozialpolitik in Deutschland, die entlarvend wa-ren. Bei einem Artikel ging es um das Betreuungsgeld.Da sind Sie nicht gut weggekommen. Bei dem anderenArtikel ging es um die Spaltung am Arbeitsmarkt.
Ich habe mich darüber gewundert, Kolleginnen und Kol-legen, dass die Bundesarbeitsministerin von der Leyenin dem Artikel über die Spaltung am Arbeitsmarkt über-haupt nicht vorgekommen ist. Das ist so, weil sie dazunämlich gar nichts sagt, obwohl es sich bei der Frage,wie wir mit der Spaltung des Arbeitsmarktes und demwachsenden Niedriglohnsektor in Deutschland – das be-trifft gerade Jugendliche ganz besonders – umgehen, umeine der größten gesellschaftlichen Herausforderungenhandelt. Sie sollten sich einmal überlegen, warum Sievon Ihrer Koalition bei diesen gesellschaftlichen Diskus-sionen keine Rolle spielen: Fehlanzeige beim ThemaMindestlohn; Fehlanzeige bei der Frage Regulierung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20637
Katja Mast
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von Praktikumsverhältnissen; Fehlanzeige bei der Frage:„Wie finanzieren wir mehr Berufsausbildung für die Ju-gendlichen?“; Fehlanzeige bei vielen weiteren Themen.Meine Kollegin Hiller-Ohm hat vorhin betont, dass esdarum geht, sich in der aktiven Arbeitsmarktpolitik – alsobeim Fördern, nicht beim Fordern – denjenigen zuzuwen-den, die langzeitarbeitslos sind. Das betrifft eben auch die800 000 Jugendlichen unter 25 Jahre, die erwerbsfähigsind und Arbeitslosengeld II beziehen. Wie kriegen wires hin, dass die eine dauerhafte Perspektive haben undnicht dauerhaft – ohne Schulabschluss und ohne Ausbil-dung – vom Arbeitsmarkt abgehängt sind?An dieser Stelle müssen wir einfach mehr – und nichtweniger – Geld in die Hand nehmen. Was machen Sie?Sie kürzen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik bis 2015um 28,5 Milliarden Euro. Das ist für die Jugendlichen,über die wir gerade diskutieren, Chancenklau.
Den Jugendlichen nehmen Sie die Perspektive, in dieserGesellschaft eine gute Arbeit zu bekommen. Sie disku-tieren nicht über deren Probleme und gehen nicht anwichtige Themen heran. Wenn ich mit den Menschendiskutiere und sage: „Es ist eine Unverschämtheit, dasses keine Regulierung von Praktikumsverhältnissen fürjunge Leute gibt“, bekomme ich immer Applaus, egal inwelcher Veranstaltung ich bin oder mit wem ich rede.Sie tun da überhaupt nichts, obwohl 70 000 Jugendlicheim Bundestag eine Petition dazu abgegeben haben undder Petitionsausschuss votiert hat, dass wir fraktions-übergreifend etwas daran ändern müssen. Fehlanzeige inIhrer Politik!
Deshalb sage ich Ihnen: Sie können sich hier nicht nurhinstellen und darüber philosophieren: Brauchen wirSanktionen, ja oder nein? Meine Fraktion sagt: Fördernund Fordern. Ihre Politik muss es leisten, dass wir denjungen Menschen beim Übergang von der Schule in denBeruf und beim Übergang von der Ausbildung in einegute Arbeit helfen. Dazu habe ich von Ihnen noch keineKonzepte gehört, Kolleginnen und Kollegen von derUnion und von der FDP.
Vielen Dank, Frau Kollegin Mast. – Nächster Redner
in unserer Aussprache für die Fraktion der FDP ist unser
Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege
Dr. Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ImAntrag 17/5174 der Linken, der heute hier zur Beratungansteht, heißt es unter Punkt 3:Es liegt in der Verantwortung des Staates, Rahmen-bedingungen für ausreichend gute, existenz-sichernde Arbeitsplätze zu schaffen, um Erwerbs-losigkeit wider Willen entgegenzuwirken.Herr Kollege Ernst, der Antrag datiert vom März 2011.Ich kann Ihnen sagen: Wir sind den Forderungen diesesAntrags in den letzten zwölf Monaten in hervorragenderWeise nachgekommen.
Auch wenn die deutsche Wirtschaft derzeit einekleine Schwächephase durchläuft, muss man sagen: Derdeutsche Arbeitsmarkt zeigt sich davon völlig unbeein-druckt. Er ist in einer hervorragenden Verfassung. DieErwerbstätigkeit und die sozialversicherungspflichtigeBeschäftigung nehmen saisonbereinigt weiter kräftig zu.Wir haben Rekordzahlen zu vermelden: über 41 Millio-nen Erwerbstätige und fast 29 Millionen sozialversiche-rungspflichtig Beschäftigte. Von diesen Zahlen hättenSie und auch wir vor zwei Jahren nicht zu träumen ge-wagt. Das, was diese Koalition am Arbeitsmarkt vorzu-weisen hat, ist eine einzigartige Erfolgsbilanz.
Folgerichtig – das ist der Blick aufs Ganze, der nötigist; denn die Kollegin Mast hat sich ja wieder sehr amKlein-Klein abgearbeitet – werden sowohl im Rechts-kreis SGB II als auch im Rechtskreis SGB III im Ver-gleich zum Vorjahr weniger Leistungen fällig. Es kann jaauch gar nicht anders sein. Wenn Sie sich die Kurven derbeiden Rechtskreise anschauen, stellen Sie fest, dass eseinen ungebrochenen Abwärtstrend gibt. Das heißt: Wirsind der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nachhaltig aufder Spur. Keine Regierung ist dabei so erfolgreich gewe-sen wie die jetzige.
Das Bild, das ich hier gezeichnet habe, gilt für aus-nahmslos alle Bundesländer und, wie gesagt, für beideRechtskreise. Auch die Langzeitarbeitslosen – das istuns ganz wichtig – sind in diesen Trend eingebunden.Dass wir im europäischen Vergleich einen der größtenRückgänge bei der Erwerbsarbeitslosigkeit zu verzeich-nen haben, will ich der Vollständigkeit halber erwähnen.Ich bitte Sie, sich die entsprechenden Grafiken einmalanzuschauen. Dann erkennen Sie nämlich, dass die euro-päischen Länder bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise imJahr 2009 annähernd im Gleichklang waren. Sie erken-nen ferner, dass die Arbeitslosigkeit nach 2009 in denLändern der EU-27 und in den 17 Ländern der Euro-Zone gestiegen ist, nur nicht in Deutschland. In Deutsch-land ist diese Zahl erfreulicherweise im Sinken begriffen.Das zeigt, dass die Maßnahmen, die wir hier teilweise ge-gen heftigste Kritik der Opposition durchgesetzt haben,gegriffen haben. Sie haben dazu geführt, dass mehr Men-schen in Beschäftigung gekommen sind.
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20638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Heinrich L. Kolb
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Und das ist auch gut so, weil ein Arbeitsplatz – Siewollen das nicht hören, aber das gilt, und diejenigen, diedie positive Erfahrung, wieder in Beschäftigung zurück-zukehren, machen konnten, werden das nachhaltig unter-streichen – die beste Sozialpolitik ist. Mit einem Arbeits-platz kann man Menschen am besten in die Lageversetzen, wieder selbstverantwortlich und mündig fürsich selbst zu sorgen und vorzusorgen. Diese Bemühun-gen verfolgen wir. Mit diesen Bemühungen – das räumeich ein – sind wir noch nicht am Ziel angekommen, auchwenn sich die Etappenergebnisse in diesem Bereichwirklich sehen lassen können.Wir haben eine schmerzhafte Wirtschafts- und Fi-nanzkrise hinter uns, aber dank der schwarz-gelben Ko-alition sind die richtigen Entscheidungen getroffen wor-den. Wir haben die Krise großartig gemeistert. Das isteinzigartig in Europa. Nicht ohne Grund wird überallvom „German Jobwunder“ gesprochen. Diesen Kurswerden wir weiter fortsetzen, allen Anfeindungen derOpposition zum Trotz.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und freuemich auf die Verkündung der Arbeitslosenzahlen fürApril in wenigen Tagen. Sie werden das, was ich hier ge-sagt habe, nachdrücklich bestätigen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke un-
sere Kollegin Yvonne Ploetz. Bitte schön, Frau Kollegin
Yvonne Ploetz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Immer wieder wird behauptet, Jugendliche seien politik-verdrossen. Ich kann Ihnen heute bestätigen, dass das sonicht der Fall ist.
Es ist andersherum: Die Politik ist schon seit Jahrzehn-ten komplett jugendverdrossen.
Sie kümmert sich ausschließlich darum, welche Pro-bleme junge Menschen machen, und nicht darum, wel-che sie haben, Herr Tauber.
Die Hartz-IV-Gesetzgebung für junge Menschen istdafür wirklich das beste Beispiel. Ich will heute gar nichtdarüber reden, dass die Einführung von Hartz IV einhistorischer Fehler war. Das haben wir oft genug betont.
Gestern wurde noch einmal gerichtlich untermauert,dass es menschenunwürdige Bestandteile gibt.Ich will mich auf die konkrete Situation von jungenMenschen beziehen und dabei auf drei Punkte: das Kon-strukt Bedarfsgemeinschaft, das Auszugsverbot und dieverschärften Sanktionsregelungen.
Das sind drei diskriminierende Sonderregelungen, dieumgehend zurückgenommen werden müssen.
Seit 2006 werden unter 25-jährige Volljährige, alsojunge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren, der Be-darfsgemeinschaft der Eltern zugerechnet. Sie sehenjunge Menschen also als ein Anhängsel der Eltern undnicht als hilfebedürftige Einzelpersonen, die ganz eigeneBedürfnisse und ganz eigene Probleme haben. Weil Be-darfsgemeinschaft auch heißt, im gleichen Haushalt zuleben, heißt das nach Ihrer Logik, dass einem jungenMenschen nur 80 Prozent der Regelleistung zustehen.Das hat mit einer bedarfsorientierten Sozialleistungüberhaupt nichts zu tun.
Mit 18 ist man volljährig. Man ist voll geschäftsfähig.Spätestens mit der Volljährigkeit sollten jedemMenschen alle sozialen Unterstützungsleistungen vollzustehen.
Zum zweiten Punkt. Jugendliche – das haben wirheute schon öfter gehört – werden wesentlich stärkernach SGB II bestraft als Erwachsene. Ihnen dürfen nacheinem Verstoß – es ist ein Verstoß immer aus Sicht derBehörde – 100 Prozent der Regelleistungen für dreiMonate gekürzt werden. Das heißt: drei Monate 0 Euro.Bei einem weiteren Verstoß – wiederum aus Sicht derBehörde – erlauben Sie als Regierung, dass auch Heiz-kosten und Miete gestrichen werden. Kein Staat hat dasRecht, einem Menschen die Lebensgrundlage zu neh-men.
Wissen Sie eigentlich, wohin das führen kann? ZuVerschuldung im Jugendalter, zu einem Abrutschen indie Kriminalität, zu einem völligen Verlust des Vertrau-ens in den Staat und vielleicht in die Demokratie, zu Per-spektivlosigkeit, bis hin zu Krankheit und Armut.
Dabei muss doch gerade die Politik dafür sorgen, dasskein junger Mensch in eine solche Abwärtsspirale gerät.
Überhaupt: Eine Regierung, die es schafft, eine Jugend-armutsquote in Höhe von 22 Prozent im eigenen Land
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20639
Yvonne Ploetz
(C)
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locker zu übersehen, hat überhaupt kein moralischesRecht, Jugendlichen mit einem solchen Misstrauen ent-gegenzutreten.
Drittens. Ich komme zum Genehmigungsvorbehaltbeim Wohnungsauszug. Wenn junge Menschen das18. Lebensjahr vollendet haben, aber im Hartz-IV-Bezugsind, trifft sie ein faktisches Auszugsverbot.
Wenn sie ausziehen wollen, müssen sie nachweisen, dassfür sie in der Familie eine schwere Notlage besteht. Wirfinden, dass allein der Wunsch, auszuziehen, selbststän-dig zu werden und auf eigenen Füßen zu stehen, einunterstützenswerter Schritt in das Erwachsenenleben ist.
Nach Ihrer Logik müssen Behörden feststellen, dasseinem Jugendlichen in der Herkunftsfamilie zum Bei-spiel Gewalt droht. Mussten Sie schon einmal die per-sönlichsten und intimsten Facetten Ihres Lebens auf denTisch einer Behörde legen? Wissen Sie, was das für eineDemütigung ist?
Schwere Schicksale und ganze Lebenswege hängen vondem Mut eines Jugendlichen oder von der richtigen Ein-schätzung und der Bereitwilligkeit eines Sachbearbeitersoder einer Sachbearbeiterin ab. Überlegen Sie doch ein-mal, welche Auswirkungen die Gesetze, die Sie hier ma-chen, in der Realität haben!Und wenn die Gründe für den Auszugswunsch nichtals schwerwiegend anerkannt werden? Selbst wenn sichin einer Familie ständig das Karussell von Arbeitslosig-keit, von Existenzangst, von ständigem Scheitern undSelbstzweifel dreht, wenn aufgrund einer solchen Situa-tion enormer Stress entsteht und immer wieder Konfliktemit den Eltern entstehen, wenn Jugendliche nicht mehrden Kopf freihaben, um die Schule oder die Ausbildunganständig abzuschließen, wird oftmals gesagt, dass keinAuszugsgrund vorliegt. Dann schlafen junge Menschenlieber bei Freunden, mal hier und mal dort oder ziehensich auf die Straße zurück. Das nennt man auch Woh-nungs- oder Obdachlosigkeit. Diese Schicksale provo-zieren Sie mit diesen Sonderrepressionen.
Frau Kollegin, auch wenn Sie Ihr Redemanuskript auf
die Lichtzeichen für die Redezeit gelegt haben, läuft
diese dennoch ab.
Es ist zwar für Sie sehr angenehm, die Lichtzeichen
nicht zu sehen, aber ich muss Sie dennoch an die Rede-
zeit erinnern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Präsident, ei-
nes müssen Sie sich noch anhören. – Der griechische
Schriftsteller Ioannis Kondylakis hat einst gesagt – ich
zitiere –: „Jugend ohne Fröhlichkeit kann nicht als Ju-
gend verstanden werden.“ Sie als Regierung müssen
endlich den Auftrag annehmen, jungen Menschen die
Steine aus dem Weg zu räumen, statt ihnen immer neue
Brocken hinzuzulegen.
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Markus
Kurth. Bitte schön, Kollege Markus Kurth.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Bemerkenswert finde ich insbesondere bei den Koali-tionsfraktionen, aber auch bei Teilen der SPD die Grund-haltung gegenüber Arbeitsuchenden nach dem Motto:Wenn nicht sofort gespurt wird – klar, Regelverstoß –,dann muss man sofort sanktionieren, und damit hat sichdie Sache.
Angesichts dieser Haltung musste ich an den FilmZiemlich beste Freunde denken. Den haben vielleicht ei-nige gesehen; er beruht auf einer wahren Begebenheit.Es geht um einen älteren wohlhabenden Aristokraten,der ab dem Halswirbel gelähmt ist und eine persönlicheAssistenz braucht, jemanden, der ihn pflegt, füttert, ihmbeim Verrichten der Notdurft und bei anderem hilft. Un-ter den Bewerbern für diese Assistenz ist ein jungerMann mit westafrikanischem Zuwanderungshintergrund.Er kommt aus einer prekären sozialen Situation, lebt ineiner der Vorstädte von Paris,
hatte eine eher verkorkste Jugend und ist wie das histori-sche Vorbild auf dem besten Wege zu einer kriminellenKarriere. Er bewirbt sich um diese Assistenz, weil ervom Arbeitsamt dazu aufgefordert worden ist. Er sagtaber unumwunden: „Unterschreiben Sie mir das, damitich mein Arbeitslosengeld kriege. Ich will die Stelle so-wieso nicht.“ – Nach den deutschen Sanktionsmaßstäbenwäre dieser Mensch, wenn das Arbeitsamt davon Kennt-nis gehabt hätte, sofort sanktioniert worden. Dann wäredieser wunderbare Film schon zu Ende.
Jetzt geschieht aber etwas ganz Besonderes: DiesePerson wird von dem Aristokraten – er stellt ihn nämlich
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Markus Kurth
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ein – gefordert, und zwar durch die Aufgabe und durchFörderung, und der junge Mann entwickelt sich. DerAristokrat lässt ihn nicht gehen. Er sagt nicht einfach:„Geh weg“, sondern er packt ihn bei der Ehre und fragtihn: „Ist das eigentlich alles, was du der Gesellschaft ge-ben willst?“ Daraus entwickelte sich dann eine verant-wortungsvolle Freundschaft und bei dem jungen Mannauch eine verantwortungsvolle Persönlichkeit. Heute ister Unternehmer und Familienvater und hat drei Kinder.Ich finde, die Grundhaltung, die in dieser Person, die ersteinmal sagt: „Nein, ich will nicht“, dann aber ernst ge-nommen und gefördert wird, zum Ausdruck kommt,sollte die Grundhaltung in allen Jobcentern in Deutsch-land sein.
Diese Grundhaltung kommt auch in unserem Antrag„Rechte der Arbeitsuchenden stärken – Sanktionen aus-setzen“, der heute ebenfalls debattiert und über dennachher namentlich abgestimmt wird, zum Ausdruck.Wir wollen Mitspracherechte. Wir sagen keineswegs:Wir setzen nicht auf Solidarität und Gegenleistung. Wirwollen aber die Möglichkeit schaffen, dass Arbeitsu-chende eigene Vorschläge machen. Wir wollen zum Bei-spiel die Möglichkeit schaffen, dass sie zwischen ver-schiedenen Angeboten, wenn es denn möglich ist,auswählen. Vor allen Dingen wollen wir, dass sie beiMaßnahmen, bei denen sie ganz klar für sich erkennen,dass sie sinnlos sind und sie nicht weiterbringen, wider-sprechen und diese ablehnen können, ohne gleich Sank-tionen fürchten zu müssen. So wollen wir Eigenmotiva-tion erzeugen und damit effektive Eingliederungs- undArbeitsmarktpolitik betreiben. Das tut nämlich wirklichnot.
Ich muss trotz meiner knappen Redezeit noch eineBemerkung zu Ihnen machen. Sie sagen immer: Nur3,4 Prozent der Arbeitsuchenden sind im letzten Jahrvon Sanktionen betroffen gewesen. Es kommt aber nichtnur auf diejenigen an, die von Sanktionen betroffen sind,sondern auch auf die vielen Hunderttausende, die ihrVerhalten aus Angst vor Sanktionen anpassen. Das mussman mitberücksichtigen.
Das hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Ar-beitsuchenden und am Ende des Tages auch auf dasLohnniveau.
Ich schildere Ihnen zwei Fälle, die am Landessozial-gericht in Hessen verhandelt wurden. Jemand hattegroße Befürchtungen wegen eines Vertrags, den er beieiner Leiharbeitsfirma unterzeichnen sollte. Er erbatbeim Jobcenter nur eine kurze Bedenkzeit, um sich denVertrag erklären und übersetzen zu lassen. Schon wurdedie erste Sperrzeit für das Arbeitslosengeld wegen an-geblicher Verweigerung der Arbeitsaufnahme verhängt.Das darf nicht sein.
Noch schlimmer war der Fall eines in jeder Hinsichtvom Arbeitgeber ausgenutzten Berufskraftfahrers, dersanktioniert worden war, weil er sich gegen schlechteArbeitsbedingungen gewehrt hatte, und zwar in ganz re-gulärer Weise.Das sind, wie gesagt, zwei Fälle, die vor dem Landes-sozialgericht in Hessen verhandelt worden sind. Dortsind die Sanktionen dann aufgehoben worden, aber erstin zweiter Instanz. Wie viele reale Fälle, die gar nichterst bei Gericht landen, stehen dahinter, in denen die Be-troffenen schlechte Arbeitsbedingungen oder Löhne, diesogar sittenwidrig sind, akzeptieren, aus Angst, sonstkönnte ihnen etwa der Anspruch auf ergänzendes Ar-beitslosengeld II gestrichen werden? Auch das mussman bedenken.Ich bin der Ansicht: Bevor wir bei den Jobcenternnicht zu einer partnerschaftlichen Praxis im eingangs ge-schilderten Sinne gekommen sind und bevor wir nichtWiderspruchsmöglichkeiten geschaffen haben, solltenSanktionen ausgesetzt werden. Darum sind viele Mit-glieder meiner Fraktion – auch ich selbst – Mitglied desBündnisses für ein Sanktionsmoratorium, ebenso wieVertreter der Kirchen, der Wissenschaft, der Kultur undder Parteien SPD und Grüne sowie der Linkspartei. ImSinne dieses Sanktionsmoratoriums bitte ich um Unter-stützung für unseren Antrag.Danke.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Paul
Lehrieder. Bitte schön, Kollege Paul Lehrieder.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Erlauben Sie mir erst noch ein paar Be-merkungen zu meinem Vorredner.Lieber Kollege Kurth, Sie haben hier mit großem Pa-thos das Beispiel des Aristokraten zitiert, der den Ju-gendlichen bei der Ehre gepackt hat. Der Jugendliche hatGlück gehabt. Nicht jeder potenzielle Arbeitgeber ist einAristokrat, der die Bestätigung ausstellt: „Jawohl, duhast dich bei mir vorgestellt“, und danach fragt: „Bitteschön, ist das alles, was du kannst?“ Ganz im Gegenteil:Genau diese Aufgabe des Aristokraten erledigen bei unsim Jobcenter die engagierten, dynamischen Fallmanager.
Zu Ihnen, Frau Kollegin Kipping: Frau Kipping, Siehaben eingangs, bei Einführung in den Tagesordnungs-punkt, das Beispiel der Frau Birgit P. ausgeführt. Ichgehe davon aus, dass es sich um einen real existierendennicht Sozialismus, sondern Fall handelt. Ich bin gerne
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bereit, mich mit dieser Frau Birgit P. zu unterhalten, weilich hier ein Verständnisproblem habe. Wenn eine jungeFrau, die in einem Tagesmutterprojekt tätig ist, ein Job-angebot bekommt, bei dem sie mehr verdienen kann,und sagt: „Ich kann es aber erst in einem Vierteljahr an-nehmen“, dann hat sie sich sicherlich bemüht, vorzeitigaus dem bisherigen Vertragsverhältnis auszusteigen, da-mit sie das neue Vertragsverhältnis eingehen, also dendauerhaften Job annehmen kann. Von daher: Lassen Sieuns doch gemeinsam daran arbeiten, dass die Langzeit-arbeitslosen eine verbesserte Berufstätigkeit ausübenkönnen, und nicht sagen, dass sie jetzt in dem Tagesmut-terprojekt bleiben muss.Gestatten Sie mir auch, dass ich an dieser Stelle zu-nächst ein paar Zahlen zur derzeitigen Entwicklung aufdem Arbeitsmarkt nenne. Die Erwerbstätigkeit und diesozialversicherungspflichtige Beschäftigung nehmenweiter kräftig zu. Ich teile den Optimismus des KollegenKolb, der gesagt hat: Wenn in wenigen Stunden dieneuen Arbeitslosenzahlen vorgestellt werden, dann wer-den wir abermals Grund haben, uns zu freuen.Ich will hier ausdrücklich auch ein Lob an die rot-grüne Vorvorgängerregierung aussprechen. Sie habenmit der Agenda 2010 die richtige Weichenstellung einStück weit vorgenommen, sodass wir jetzt besser daste-hen als viele Länder im südlichen Europa. Wir haben dasfortentwickelt, aber Sie haben mit dazu beigetragen, dasswir hier arbeitsmarktpolitisch so gut aufgestellt sind. Esgehört zur politischen Wahrheit, das auch einmal zu sa-gen.Meine Damen und Herren, im Zuge der einsetzendenFrühjahrsbelebung ist die Arbeitslosigkeit vom Februarbis März 2012 um weitere 82 000 Personen auf nunmehr3,02 Millionen Personen gesunken. Die Arbeitslosen-quote ging um 0,2 Prozentpunkte auf 7,2 Prozent zu-rück.Ich habe das Glück, dass es in meinem Wahlkreismehrere Landkreise mit geringer Arbeitslosenquote gibt;der Landkreis Würzburg hat eine Arbeitslosenquote von2,9 Prozent. Der Wahlkreis von Wolfgang Zöller hat eineArbeitslosenquote von 2,7 Prozent. Das ist Vollbeschäf-tigung.
– Das ist zulässig und Vollbeschäftigung.
Herr Kollege Lehrieder, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Ernst?
Natürlich.
Lieber Kollege Lehrieder, Sie haben die positive Ent-
wicklung auf dem Arbeitsmarkt dargestellt.
Erste Frage. Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass
bei dieser Entwicklung etwas schiefläuft, wenn trotz ei-
ner hervorragenden Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt
und trotz einer guten ökonomischen Entwicklung die
Löhne stagnieren und im Niedriglohnbereich zurückge-
hen?
Zweite Frage. Könnten Sie sich vorstellen, dass das
vielleicht mit dem zu tun hat, worüber wir hier debattie-
ren, dass nämlich durch die Sanktionen die Menschen in
die Situation versetzt werden – insbesondere auch die
jungen Leute –, Arbeit aller Art annehmen zu müssen,
auch die, die schlechter bezahlt wird als andere, auch
die, bei der schlechtere Bedingungen akzeptiert werden
müssen als bei üblicher Arbeit, und insbesondere auch
die, die in Form von Leiharbeit oder befristeten Arbeits-
verhältnissen angeboten wird?
Zusammenfassend: Können Sie sich vorstellen, dass
die Sanktionen, über die wir hier diskutieren und die wir
abschaffen wollen, dazu beitragen, dass sich bei uns in
der Bundesrepublik Deutschland der Niedriglohnsektor
permanent ausweitet und dass trotz einer guten wirt-
schaftlichen Entwicklung eine negative Entwicklung bei
den Löhnen zu verzeichnen ist?
Lieber Kollege Ernst, herzlichen Dank für die Fragen.Sie haben hier eben ausgeführt, dass die Sanktionendazu führen, dass insbesondere den Jugendlichen„schlechte“ Arbeit vermittelt wird. Ich will Ihnen einessagen: Mir ist ein Jugendlicher, der in ein befristetes Ar-beitsverhältnis vermittelt wird, lieber als ein Jugendli-cher, der überhaupt kein Arbeitsangebot bekommt. Mirist ein Jugendlicher, der zunächst als Leiharbeiter dieChance hat, seine Fähigkeit und seine Tüchtigkeit bei ei-nem potenziellen Arbeitgeber unter Beweis zu stellen,lieber als jemand, der überhaupt kein Arbeitsangebot be-kommt.Wir haben im Bereich der Leiharbeit, lieber KollegeErnst, vor Jahresfrist Mindestlöhne eingeführt. Wir de-battieren derzeit über eine Lohnuntergrenze. Dabei tunwir uns etwas schwerer, weil wir einen flächendecken-den gesetzlichen Mindestlohn für entbehrlich und fürnicht zielführend halten, weil wir die Arbeitsplätze hierhalten wollen, weil wir Möglichkeiten zur Arbeit gebenwollen.Ich will Ihnen eines sagen: Ich habe eigentlich erwar-tet, dass Sie fragen, warum 26 Prozent derjenigen, diearbeitslos wurden, direkt in den Hartz-IV-Bezug rut-schen.
Das liegt daran – dazu hatten wir am Montag eine Anhö-rung –, dass der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt bei
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den Langzeitarbeitslosen – Herr Ernst, bleiben Sie ste-hen, dann kann ich länger reden – ankommt.
Die stärkere Integration auch von Langzeitarbeitslo-sen führt zusammen mit einem Bedarf nach Niedriglohn-projekten dazu, dass diese eben tatsächlich erst einmalzeitlich befristet oder über Leiharbeit eingestellt werden.
Aber natürlich profitieren auch sie vom gesellschaftli-chen und wirtschaftlichen Aufschwung.
Es ist doch so – das wissen Sie als Gewerkschafter amallerbesten –, dass mittlerweile über die Lohnabschlüssedeutlich wird, dass die Krise überwunden ist. Der Auf-schwung kommt bei den Arbeitnehmern flächendeckendan, auch bei den Geringqualifizierten.
Sie hätten mich ruhig noch fragen können, lieber Kol-lege Ernst, warum 26 Prozent der arbeitslos Werdendensofort Hartz-IV-Leistungen beziehen.
Das liegt daran – das haben die Sachverständigen amMontag im Übrigen ausgeführt –, dass über 50 Prozentderjenigen, denen gekündigt worden ist, vorher langzeit-arbeitslos waren.
Mir ist es lieber, wenn jemand für drei, vier oder fünfMonate eine Beschäftigung bekommt, als wenn er über-haupt kein Beschäftigungsangebot erhält.Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität. Vonmeinen Vorrednern wurde bereits darauf hingewiesen:Die sozialen Leistungen sind keine Kuh, die im Himmelfrisst und auf Erden gemolken wird. Das heißt, all das,was wir gewähren, muss durch steuerfinanzierte Mittelvon denjenigen, die in Lohn und Brot stehen, erwirt-schaftet werden. Deshalb sind wir ihnen gegenüber ver-antwortlich. Deshalb auch die von Ihnen als Sanktionenapostrophierten Einschränkungen. Fordern und För-dern! Das heißt, ich kann jedem zumuten, sich zu bewer-ben.Ich habe die Frage erwartet – Herr Ernst, auch dashätten Sie mich fragen können –,
warum im letzten Jahr über 900 000 Sanktionen ver-hängt worden sind. Natürlich ist die Anzahl der Sanktio-nen im letzten Jahr etwas höher gewesen. Das liegt aberschlicht und ergreifend daran, dass durch eine florie-rende Wirtschaft der Jobcentermanager ein Angebot ma-chen kann und dafür den Kunden einbestellt – es handeltsich nicht um Fälle, Bedürftige oder Bittsteller, sondernum Kunden des Jobcenters – bzw. zu einem Vorstel-lungsgespräch bittet. Wenn dann der Kunde sagt, dass erdieses Angebot nicht wahrnehmen will, oder wenn er garnicht erst kommt, dann muss eine Sanktion im Interesseder Allgemeinheit verhängt werden.Von 912 000 im Jahr 2011 verhängten Sanktionen sind590 000 darauf zurückzuführen gewesen, dass Terminenicht eingehalten worden sind. Aber Termine einzuhalten– es fängt bei Ihnen an, Frau Kipping, dass Sie zu Beginndieser Debatte hier im Plenarsaal des Bundestages seinsollen –, muss jeder in seinem beruflichen Leben einStück weit lernen und praktizieren. Der zweite Punkt ist– 147 000 Fälle –, dass Vereinbarungen mit Jobcenternnicht erfüllt werden. Der dritte Punkt ist – 138 000 Fälle –,dass zumutbare Jobs oder Fortbildungen abgelehnt wor-den sind. Jetzt frage ich Sie, lieber Klaus Ernst – schwät-zen Sie nicht! –: Wenn jemand einen zumutbaren Jobablehnt – 138 000 Fälle – und deshalb weniger Geld be-kommt, ist das unbillig?
Im Vorjahresvergleich ist die Arbeitslosigkeit – da-rauf habe ich bereits hingewiesen – in allen Bundeslän-dern zurückgegangen. Auch die Zahl der Arbeitslosen,die länger als zwölf Monate arbeitslos war, hat im Ver-gleich zum Vorjahr deutlich abgenommen. Die Chancenfür einen Langzeitarbeitslosen – hierauf habe ich bereitshingewiesen – sind derzeit so gut wie noch nie.Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, dass dieüberwiegende Zahl der Leistungsbezieher sehr engagiertist und unbedingt wieder in Arbeit kommen will. Diehier heftig diskutierten Sanktionen betreffen – auch hie-rauf wurde von meinen Vorrednern bereits hingewiesen –nur einen kleinen Bruchteil der Langzeitarbeitslosen.
Im letzten Jahr waren es lediglich 3,4 Prozent aller Leis-tungsberechtigten. In Anbetracht der Zahlen vermutetdie Bundesagentur für Arbeit, dass eine relativ kleineGruppe mehrfach sanktioniert wird.Es ist mir wichtig, noch einmal klarzustellen, dass esin der heutigen Debatte keinesfalls um die große Mehr-heit der Langzeitarbeitslosen geht. Wir sprechen hierauch nicht über die Ahndung von vorsätzlichem Betrug,sondern von der Verletzung von Pflichten, welche derGesetzgeber den Unterstützten völlig zu Recht auferlegthat.Liebe Frau Ploetz, Sie haben von einem Auszugsver-bot gesprochen. Ein Auszugsverbot kennt unsereRechtsordnung nicht. Es kann jeder junge Mensch auchunter 25 Jahren seinen eigenen Wohnsitz gründen. DieFrage ist aber, ob ein arbeitsloser Jugendlicher unter
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Paul Lehrieder
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25 Jahren die Wohngeldkosten von der Allgemeinheiterstattet bekommen muss. Dazu sage ich Nein.
Es hat früher einmal faktisch ein Auszugsverbot ge-geben. Das hat aber ein Staat gegen seine Bürger ver-hängt. Davon möchte ich hier eben nicht sprechen.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren über dieMenschen in diesem Land, die zu Recht Hartz IV bezie-hen, aber ihre Pflichten verletzt haben. Wer Leistungenerhält, muss sich in Kooperation mit seinem Arbeitsver-mittler bzw. Fallmanager darum bemühen, möglichstbald wieder eine zumutbare Beschäftigung zu finden.Die Leitphilosophie heißt Fordern und Fördern. Da-hinter steht die Idee, Arbeitslose zu qualifizieren, dafüraber auch bei der Suche nach einem Job sehr nachdrück-lich Engagement und Eigeninitiative zu fordern.Die Ausgangslage war, wie bereits erwähnt, noch nieso gut wie zum jetzigen Zeitpunkt. Wann, wenn nicht ineinem so guten konjunkturellen Umfeld wie derzeit, sol-len Leistungsbezieher sonst den Schritt aus der staatli-chen Abhängigkeit schaffen? Die meisten Betroffenenwollen dies doch auch und bemühen sich redlich, wiederin Arbeit zu kommen. Das stellt sicherlich niemand inAbrede.Fast 97 Prozent aller erwerbsfähigen Hartz-IV-Emp-fänger verhalten sich der Statistik der Bundesagenturzufolge regelkonform, und zwar nicht aus Angst vorRepressionen, sondern weil sie die Einsicht haben, dasssie mit einer entsprechenden Mitwirkung, dem Gangzum Vorstellungsgespräch und der Meldung bei einempotenziellen Arbeitgeber am ehesten die Chance haben,aus der von ihnen nicht gewollten Arbeitslosigkeit wie-der herauszukommen. Das sollten wir honorieren. Wirsollten nicht die extremen Beispiele, die Sie vorhinzitiert haben, für eine Änderung heranziehen.Was die Grünen angeht, halte ich von dem Morato-rium nichts, lieber Herr Kurth. Sie haben damals Ein-sicht und Vernunft gezeigt, als Sie die Regelungen derAgenda 2010 auf den Weg gebracht haben. Mittlerweileist bei einem Teil der Grünen in diesem Bereich eine kol-lektive Amnesie aufgetreten. Es wäre gut, wenn Sie esweiterentwickeln, wie wir es im letzten Jahr bei denHartz-IV-Regelungen gemacht haben.Ich halte beide Anträge für ablehnungsreif.Danke schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt als nächste Redne-
rin für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kolle-
gin Angelika Krüger-Leißner. Bitte schön, Frau Kolle-
gin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Seit einem Jahr beschäftigen wir uns mit die-sem Thema, das die Linken mit ihrem Antrag einge-bracht haben, in dem die generelle Abschaffung derSanktionen im SGB II gefordert wird, wie auch mit demAntrag von Bündnis 90/Die Grünen. Wir haben dazu imAusschuss heftig diskutiert und Experten angehört.Heute ziehen wir unsere Schlussfolgerungen daraus.Der Antrag der Grünen hat viele gute Aspekte. Amliebsten würde ich ihm zustimmen.
Denn eine Reform der Grundsicherung in Bezug auf dieVerbesserung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Betrof-fenen und die Stärkung ihrer Rechte ist ein guter Ansatz,der auch unsere Unterstützung findet.Allerdings können wir – darauf haben auch schonmeine Kollegen hingewiesen – bei der Forderung, dieSanktionen im SGB II auszusetzen, nicht mitgehen. Einsolches Sanktionsmoratorium ist rechtlich nicht mög-lich.Heute beraten wir darüber hinaus einen neuen Antrag,der auch durch die Linke eingebracht wurde. Darin wirdgefordert, die Hartz-IV-Sonderregelungen für unter25-Jährige abzuschaffen. Auf den ersten Blick finde ichdas ganz geschickt, alle Achtung. Denn auch wir sindder Ansicht, dass die verschärften Sanktionen gegen dieunter 25-Jährigen abzuschaffen sind. Es gibt nichts, dasdiese Ungleichbehandlung von Arbeitsuchenden unter25 und älteren Langzeitarbeitslosen über 25 bei denSanktionen rechtfertigt. Die Grenze ist willkürlich gezo-gen. Ein sachlicher Grund für diese Art der Altersdiskri-minierung existiert nicht. Allein wegen seines Alters istein jüngerer Arbeitsuchender nicht schärfer zu bestrafenals ein älterer.Lassen Sie mich darum deutlich sagen: Integration inAusbildung und Arbeit muss immer im Vordergrund ste-hen, und zwar gerade bei jungen Menschen. Die beson-deren Sanktionsregelungen für die unter 25-Jährigensind dabei keineswegs motivationsfördernd. Sie bewir-ken eher das Gegenteil, nämlich das Herausdrängen ausdem Integrationsprozess. Im schlimmsten Fall entziehensich die Betroffenen der Hilfe und der Unterstützung imSGB-II-System und gehen dem regulären Arbeitsmarktauf Dauer verloren. Ich bin davon überzeugt, dass wiruns das in unserer Gesellschaft nicht leisten können.Anstatt den jungen Menschen eine Perspektive zu bie-ten, riskieren wir, dass sie sich abwenden. Das muss einEnde haben.Die angesprochenen Sonderregelungen verstoßen zu-dem gegen das Gleichbehandlungsgebot. Die verfas-sungsrechtlichen Bedenken haben uns die Sachverstän-digen in der Anhörung bestätigt. Man könnte meinen,damit wäre Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Fraktion der Linken, nun zustimmungsfähig.Aber weit gefehlt! Die Linke wäre nicht die Linke, wennsie nicht wieder ein Sammelsurium an Forderungen imAntrag hätte, die zum Teil recht abenteuerlich sind. Ich
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Angelika Krüger-Leißner
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halte das für konzeptionsloses Agieren. Ich will Ihnendas an einem Beispiel des Antrags erläutern. Sie wollenunter anderem, dass Grundsicherungsleistungen zu ge-währen sind, soweit die Ausbildungsförderung gemäßBAföG bzw. die Berufsausbildungsbeihilfe die Siche-rung des Existenzminimums nicht erfüllt. Das besondereSystem der Ausbildungsförderung schließt aber einenLeistungsanspruch gemäß SGB II für junge Menschen inder Ausbildung aus. Wenn Sie daran etwas ändern wol-len, ist nicht das SGB II zu ändern, sondern Sie müssenan die Ausbildungsförderung herangehen und sie gesetz-lich neu regeln. So wie jetzt von Ihnen beantragt, geht esnicht. Das kann unsere Unterstützung nicht finden,obwohl wir mit Ihnen bei den Forderungen zur Abschaf-fung der verschärften Sanktionsregelungen für unter25-Jährige übereinstimmen.Lassen Sie mich deutlich sagen: Eine generelle Ab-schaffung der Sanktionen im SGB II lehnen wir ab. EinFreibrief, wie Sie ihn in einem Ihrer beiden Anträge for-dern, ist unserem Rechtssystem fremd. Auf allen Rechts-gebieten gibt es Sanktionsregelungen bei Fehlverhaltenoder Missbrauch. Das ist auch im SGB II sinnvoll undgerechtfertigt. Wer sich in betrügerischer Absicht durchVorspiegelung falscher Tatsachen oder durch wahrheits-widrige Angaben Leistungen erschleicht, ist im Systemder Grundsicherung nicht schutzwürdig.
Aber wovon reden wir? Zum Glück – das möchte ichhier besonders betonen – ist die Zahl der Fälle von So-zialbetrug verschwindend gering. Aber natürlich bleibtes dabei: Für Missbrauch und anderes Fehlverhaltenmüssen wir vorsehen, dass es auch geahndet wird. Dergenerelle Wegfall der Sanktionen im SGB II wäre ausmeiner Sicht ein falsches Signal. Die ganz große Mehr-heit der Leistungsbezieher im Rechtskreis des SGB IIverhält sich rechtstreu und korrekt. Wir können diesenMenschen doch nicht ernsthaft sagen: Selbst schuld,wenn ihr euch rechtstreu verhaltet! – Nichts anderes aberwürde es bedeuten, wenn wir die Sanktionsregelungengenerell streichen würden.Ich will aber an dieser Stelle eines ganz deutlichmachen: Die SPD-Fraktion sieht durchaus Änderungsbe-darf bei den geltenden Regelungen. Ich will drei Bei-spiele nennen – darüber sollten wir in der nächsten Zeitnachdenken und diskutieren und gegebenenfalls zuÄnderungen kommen –:Erstens. Das Fehlen oder die Unverständlichkeit vonRechtsfolgenbelehrungen ist völlig inakzeptabel. Daunterstütze ich ganz klar den Antrag der Grünen, der for-dert, hier unbedingt nachzubessern. Natürlich müssenRechtsfolgenbelehrungen in schriftlicher Form erfol-gen. Sie müssen verständlich und einzelfallbezogen for-muliert sein.Zweitens. Wir wollen eine aktive Mitwirkung desHilfeempfängers bei der Arbeitsuche durch einen Stoppder Sanktionen belohnen. So sind Art und Umfang einerSanktion abzustufen, und eine Sanktion müsste leichterzurückgenommen werden können als bisher.Drittens. Ein weiteres Problem ist das Fallmanage-ment bei Beratung, Betreuung und Vermittlung arbeitsu-chender Menschen. Das klappt nicht in jedem Fall so,wie wir uns das wünschen. Hier muss individueller aufdie einzelnen Arbeitsuchenden eingegangen werden.Ich finde, wir sollten auch noch einmal über denBetreuungsschlüssel nachdenken. Wir haben ihn mithilfeauch meiner Fraktion so verändert, dass für die unter25-Jährigen die gute Relation von 1 : 75 gilt.
Bitte achten Sie auf Ihre Redezeit.
Aber vielleicht ist es gerade bei diesem Personenkreis
wichtig, darüber nachzudenken, ob wir für bessere Bera-
tung, Betreuung und Vermittlung nicht den Betreuungs-
schlüssel nachbessern sollten.
Sie sehen, wir setzen uns mit der Problematik der
Sanktionen ehrlich auseinander und machen Änderungs-
vorschläge zur Verbesserung für die Betroffenen. Ich
lade Sie dazu ein, mitzumachen.
Danke.
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-
tion der FDP unser Kollege Sebastian Blumenthal. Bitte
schön, Kollege Blumenthal.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Die bestehenden Möglichkeiten der stufenweisenKürzung von Leistungen halte ich für ausreichend.Das hat die ehemalige Berliner SozialsenatorinCarola Bluhm von den Linken geäußert. Heute legt dieBundestagsfraktion der Linken uns unter anderem einenAntrag vor, in dem offenkundig diese Einschätzung ihrereigenen Fachpolitikerin nicht mehr geteilt wird. DieLinke fordert nämlich die komplette Abschaffung sämt-licher Sanktionen im SGB II und im SGB XII.Grundsätzlich verhält es sich so, dass die Verhängungvon Sanktionen kein Alleinstellungsmerkmal des SGB IIoder des SGB XII wäre. Ich kann als Beispiel dafür dasSGB I nennen. Dort ist in § 66 ausdrücklich vorgesehen,den Antragstellern bei fehlender Mitwirkung die Trans-ferleistungen entweder anteilig zu streichen oder auchkomplett zu entziehen. Ein anderes Beispiel betrifft denWirkungsbereich des SGB III. Nach § 148 ist es mög-lich, das Arbeitslosengeld zu sperren, wenn Mitwir-kungspflichten verletzt werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20645
Sebastian Blumenthal
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Die Verhängung von Sanktionen ist somit kein Al-leinstellungsmerkmal, und es gibt sie auch nicht erst seitEinführung der Hartz-Gesetze. Im alten Bundessozial-hilfegesetz, das durch das SGB II und das SGB XIIabgelöst wurde, hat es den einschlägigen § 25 gegeben.In § 25 hieß es unter der Überschrift „Ausschluß undEinschränkung der Leistung“:Wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten oderzumutbaren Maßnahmen nach den §§ 19 und 20nachzukommen, hat keinen Anspruch auf Hilfezum Lebensunterhalt.Insofern ist die Behauptung, man habe durch dieHartz-Gesetze Verfassungsgrundsätze verletzt, nicht zu-treffend. Wir haben es vom Grundsatz her mit der glei-chen Rechtslage zu tun, die auch schon vor den Hartz-IV-Gesetzen bestanden hat. Bei nahezu jeder Leistung,die der Sozialstaat in Deutschland bereitstellt, müssendie Antragsteller in einer bestimmten Form mitwirken.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von derFraktion Die Linke, das, was Sie in Ihren Redebeiträgenheute gesagt haben, macht die Debatte nicht einfacher.Sie unterstellen uns, wir würden Transferleistungsemp-fänger pauschal diffamieren; ich habe in Ihren Redebei-trägen, Frau Kipping, ein ähnliches Verhaltensmusterentdeckt. Wie Sie über die Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter der Jobcenter gesprochen haben, ist nicht akzepta-bel. Das trifft auf keinen Fall den richtigen Ton.
Wir alle besuchen in unseren Wahlkreisen mit Sicher-heit die Jobcenter. In meine Sprechstunden kommenBürgerinnen und Bürger, die Probleme bei der Leis-tungserteilung haben und Sanktionen unterworfen sind.Aber Ihre pauschale Darstellung wird dem Ansprucheiner sachgerechten Debatte nicht gerecht. Insofernhaben wir von der FDP-Fraktion gute Gründe, IhreAnträge abzulehnen, was wir auch tun werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir kommen jetzt zu unserer letzten Rednerin.
Ich darf Sie herzlich bitten, ihr die notwendige Aufmerk-
samkeit zu schenken. Bitte schön, Frau Kollegin Heike
Brehmer für die Fraktion der CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! „Hartz-IV-Sonderregelung für unter 25-Jäh-rige abschaffen“, „Sanktionen im Zweiten Buch Sozial-gesetzbuch und Leistungseinschränken im ZwölftenBuch Sozialgesetzbuch abschaffen“, „Rechte der Arbeit-suchenden stärken – Sanktionen aussetzen“, so lautendie Themen unserer heutigen Debatte.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Lin-ken, Sie bezeichnen in Ihrem Antrag die Einführung vonHartz IV als einen historischen Fehler.
An dieser Stelle möchte ich Sie noch einmal daran erin-nern, dass die Hartz-IV-Reform im Jahr 2005 – von Rot-Grün damals auf den Weg gebracht – das Ziel hatte,Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen undLeistungen aus einer Hand anzubieten. Vor der Reform– jetzt bitte ich Sie, noch einmal genau zuzuhören – leb-ten circa 2,9 Millionen Bürgerinnen und Bürger vonSozialhilfe. Der Sozialhilfesatz lag damals unter den jet-zigen Regelsätzen von Hartz IV. Die Betroffenen hattenkaum Chancen, in den ersten Arbeitsmarkt integriert zuwerden. Mit der Hartz-IV-Reform hat sich dies für dieBetroffenen grundlegend geändert.
Im gleichen Augenblick erhöhten sich die Regelsätze derSozialhilfe um 16 Prozent.
Noch eine Zahl zum Vergleich: Im April 2005 hatten wirinsgesamt circa 5 Millionen Arbeitslose. Heute beträgtdie Zahl der Arbeitslosen circa 3 Millionen.Meine Damen und Herren, solche Zahlen fallen dochnicht einfach vom Himmel. Sie sind begründet in dernachhaltigen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, für die wirdie Weichen gestellt haben.
Zum Thema Sanktionsregelungen bei Hartz IV hattenwir in unserem Ausschuss am 6. Juni 2011 eine öffent-liche Anhörung. Der Sachverständige Dr. MarkusSchmitz hat ausgeführt, dass circa 97 Prozent der jungenHartz-IV-Bezieher nicht von Sanktionen betroffen sind.Es mussten lediglich 3 Prozent mit Sanktionen belegtwerden. Glauben Sie wirklich, dass diese Quote ohne diegeltende gesetzliche Regelung auch so Bestand hätte?Die Anhörung verdeutlichte ebenso, dass das Arbeitslo-sengeld II eben nicht als bedingungsloses Grundeinkom-men konzipiert wurde.
Mit Ihren Forderungen nach einer Abschaffung vonSanktionen im SGB II setzen Sie eindeutig Fehlanreize.Wir wollen keine Fehlanreize zur dauerhaften Inan-spruchnahme von staatlichen Transferleistungen fürJugendliche unter 25 setzen. Wir als CDU/CSU wollen,dass alle Jugendlichen die bestmögliche Schulbildungerhalten und die Schule mit einem Schulabschluss ver-lassen. Wir als CDU/CSU wollen, dass die Jugendlicheneine Berufsausbildung oder ein Studium absolvieren –unabhängig vom Geldbeutel der Eltern.Ich möchte hier noch einmal darauf verweisen, dassdie unionsgeführte Bundesregierung in den letzten Jah-ren viele Maßnahmen zur Förderung von Langzeitar-beitslosen auf den Weg gebracht hat,
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Heike Brehmer
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zum Beispiel den Beschäftigungszuschuss für Langzeit-arbeitslose, das Programm „JobPerspektive“ sowie denQualifizierungs-Kombi „Job-Bonus“ zur Verbesserungder Qualifizierung von jüngeren Menschen unter 25.In der christlich-liberalen Koalition haben wir mitdem Beschäftigungschancengesetz die Berufswahlerleichtert und die Berufsausbildungschancen verbes-sert.Für Langzeitarbeitslose und junge Menschen mitschweren Vermittlungshemmnissen im Rechtskreis desSGB II haben wir die Erprobungsphasen auf bis zuzwölf Wochen verlängert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie herzlich
bitten, der Rednerin die notwendige Aufmerksamkeit zu
geben. Es sollte nicht sein, dass die Rednerin hier stört.
Frau Kollegin Brehmer, Sie haben das Wort. Bitte
schön.
Wir haben die investive Förderung von Jugendwohn-heimen ermöglicht.Mit der Jobcenterreform haben wir ein Gesetz auf denWeg gebracht, welches die Betreuung und Vermittlungin den Jobcentern qualitativ verbessern soll.
In vielen Regionen zeichnet sich bereits heute einFachkräftebedarf ab. Junge Menschen haben – wieschon lange nicht mehr – gute Chancen auf dem Arbeits-markt.
Die Bundesagentur und die Jobcenter können freie Stel-len und auch freie Lehrstellen anbieten. In einigen Re-gionen gibt es schon jetzt nicht ausreichend Bewerber.Wir sollten überlegen, ob wir Jugendliche nicht nochbesser unterstützen und fördern können, wenn sie sichentscheiden, eine Ausbildung in einer anderen Regionaufzunehmen, und auf eine Wohnung, Fahrkostenerstat-tung etc. angewiesen sind.
Im Hinblick auf die demografische Entwicklungbrauchen wir in den nächsten Jahren alle Jugendlichen.Wir sind als Gesellschaft daher gefordert, sie nach ihrenFähigkeiten und Fertigkeiten bestmöglich auszubilden.Damit ebnen wir ihnen den Weg in ein eigenständigesLeben. Dazu gehört, dass möglichst alle Jugendlicheneine Lehre oder ein Studium beenden. Das erreichen wirnur mit dem Prinzip des Förderns und Forderns.
Ihre Anträge sind daher völlig kontraproduktiv. So etwasschadet den jungen Menschen und hilft ihnen nicht.Deswegen, es geht nicht ohne Sanktionen. Jederkennt das doch aus seinem persönlichen Alltag. HerrDr. Tauber hat vorhin ein anderes Beispiel angeführt. Ichnenne Ihnen eines, das Sie alle kennen. Wenn sich einKind einmal an einer heißen Herdplatte verbrannt hat,wird es sie so schnell nicht wieder anfassen.
Sehr geehrte Damen und Herren, uns geht es nichtdarum, Leistungsempfänger unter großen Druck zu set-zen und ihnen Unmögliches abzuverlangen. Es geht viel-mehr darum, den Betroffenen die potenzielle Gefahreiner Langzeitarbeitslosigkeit deutlich zu machen undihnen den Weg in die Erwerbstätigkeit zu eröffnen.
Insbesondere junge Leute unter 25 Jahren benötigenneben einer Qualifizierungsförderung auch Hilfe in an-deren Bereichen, um den Weg in die Beschäftigung zugehen. An dieser Stelle denke ich beispielsweise an einebedarfsgerechte Kinderbetreuung für junge Familien.Von daher ist es wichtig, dass Arbeitsagenturen, Job-center und Kommunen vor Ort eng zusammenarbeiten,um mögliche Probleme und Hemmnisse aufzuzeigenund gemeinsam mit den Betroffenen nach Lösungen zusuchen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam solltenwir aber auch überlegen, wie wir den Betroffenen dieAntragstellung und das Verständnis der Bescheide er-leichtern können. Viele sind mit der Bürokratie überfor-dert und sind überrascht, wenn sie Sanktionen erhalten.Die meisten Sanktionen werden ausgesprochen, weilBetroffene ihrer Meldepflicht nicht nachgekommen sind.Dabei sollten wir das Prinzip des Förderns und Fordernsaber trotzdem nicht außer Acht lassen.
Meine lieben Kollegen von den Grünen, Sie haben dieHartz-IV-Reform seinerzeit mit auf den Weg gebrachtund fordern jetzt die Streichung bzw. Aussetzung derSanktionen. Als es um die Änderung der Regelsätze unddie Einführung des Bildungs- und Teilhabepaketes ging,haben Sie sich aus der Verantwortung gestohlen. Mitdem Bildungs- und Teilhabepaket haben wir erstmalsKindern und Jugendlichen aus Geringverdienerfamiliendie Chance eröffnet, an gesellschaftlichen Aktivitätenund Bildungsangeboten teilzunehmen. Für uns sindInvestitionen in Bildung Investitionen in die Zukunft.
Wir wollen, dass junge Menschen eine berufliche Per-spektive erhalten und nicht auf Hartz-IV-Leistungen an-gewiesen sind. Die Fraktion der CDU/CSU wird IhrenAnträgen daher nicht zustimmen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Brehmer. – Ich schließenun die Aussprache, liebe Kolleginnen und Kollegen.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9070 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Tagesordnungspunkt 4 b. Wir kommen zur Abstim-mung über die Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/6391.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/5174 mit demTitel „Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuchund Leistungseinschränkungen im Zwölften Buch So-zialgesetzbuch abschaffen“. Wir stimmen nun über denBuchstaben a der Beschlussempfehlung auf Verlangender Fraktion Die Linke namentlich ab.Ich möchte darauf hinweisen, dass wir im Anschlussnoch eine weitere namentliche Abstimmung durchführenwerden.Zur ersten namentlichen Abstimmungen liegen zahl-reiche schriftliche Erklärungen zur Abstimmung vor, diezu Protokoll gegeben werden.1)Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die Plätzean den Urnen alle besetzt? – Noch nicht. Vorne bei mirauf der linken Seite sind die Urnen noch nicht besetzt. –Ist jetzt alles komplett? – Ja, es ist komplett. Somit er-öffne ich die namentliche Abstimmung über den Buch-staben a der Beschlussempfehlung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme noch nicht abgegeben hat? – Wir sind noch nichtso weit. Es gibt auf der linken Seite oben einen kleinenStau.Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmeabgegeben? – Das ist der Fall. Ich schließe die Abstim-mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,mit der Auszählung zu beginnen.2)Wir kommen nun zur zweiten namentlichen Abstim-mung. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss dieAblehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/3207 mit dem Titel „Rechteder Arbeitsuchenden stärken – Sanktionen aussetzen“.Wir stimmen nun über den Buchstaben b der Beschluss-empfehlung auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen namentlich ab.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehen Plätze einzunehmen. – Das ist der Fall; allePlätze an den Urnen sind besetzt. Ich eröffne die na-mentliche Abstimmung über den Buchstaben b der Be-schlussempfehlung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zubeginnen.Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungenwerden Ihnen später bekannt gegeben.3)Wir setzen die Beratungen fort. Bevor ich weiterma-che, darf ich Sie bitten, wieder die Plätze einzunehmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dennächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, teile ich Ihnenmit, dass sich die Fraktionen verständigt haben, denZusatzpunkt 3 a – es handelt sich um die erste Beratungdes Gesetzentwurfs der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenzur Vereinheitlichung der bergrechtlichen Förderabgabe –von der Tagesordnung abzusetzen. Sie sind mit derVereinbarung einverstanden? – Das ist der Fall. Dann istdas so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 a bis f sowie denZusatzpunkt 3 b und c auf:40 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-trag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung desEuropäischen Stabilitätsmechanismus– Drucksache 17/9370 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur finan-ziellen Beteiligung am Europäischen Stabili-
– Drucksache 17/9371 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Bundesschuldenwesengesetzes– Drucksache 17/9372 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union1) Anlage 22) Ergebnis Seite 20656 D 3) Ergebnis Seite 20659 A
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d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Be-schluss des Europäischen Rates vom 25. März2011 zur Änderung des Artikels 136 des Ver-trags über die Arbeitsweise der EuropäischenUnion hinsichtlich eines Stabilitätsmechanis-mus für die Mitgliedstaaten, deren Währungder Euro ist– Drucksache 17/9373 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten FrankSchwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDVorschlag der EU-Kommission zum Klima-schutz im Kraftstoffbereich unterstützen– Drucksache 17/9404 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionf) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. AntonHofreiter, Markus Kurth, Daniela Wagner, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBarrieren abbauen – Mobilität und Wohnenfür alle– Drucksache 17/9406 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für TourismusHaushaltsausschussZP 3 b)Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, PeterAltmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, HolgerKrestel, Dr. Birgit Reinemund und der Fraktionder FDPRechtssicherheit beim Zugang zu einem Basis-konto schaffen– Drucksache 17/9398 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Sozialesc) Beratung des Antrags der Abgeordneten ThiloHoppe, Cornelia Behm, Ute Koczy, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENVerantwortung für die entwicklungspolitischeDimension der EU-Fischereipolitik überneh-men– Drucksache 17/9399 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 a bis c sowieZusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas-sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorge-sehen ist.Tagesordnungspunkt 41 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Regelung der Arbeitszeit von selbständi-gen Kraftfahrern– Drucksache 17/8988 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/9258 –Berichterstattung:Abgeordnete Kirsten LühmannDer Ausschuss für Verkehr, Bau- und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/9258, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/8988 anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Das sind alle Fraktionen mitAusnahme der Fraktion Die Linke. Wer stimmt dage-gen? – Niemand. Enthaltungen? – Fraktion Die Linke.Somit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-nommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten,Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Nie-
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Vizepräsident Eduard Oswald
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mand. Enthaltungen? – Fraktion Die Linke. Der Gesetz-entwurf ist somit angenommen.Tagesordnungspunkt 41 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Eurojust-Gesetzes– Drucksache 17/8728 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/9434 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Patrick SensburgBurkhard LischkaMarco BuschmannRaju SharmaJerzy MontagDer Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/9434, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8728 an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind dieKoalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bünd-nis 90/Die Grünen. Gegenstimmen? – Linksfraktion.Enthaltungen? – Keine. Somit ist der Gesetzentwurf inzweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – DieKoalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bünd-nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Fraktion DieLinke. Enthaltungen? – Niemand. Der Gesetzentwurf istangenommen.Tagesordnungspunkt 41 c:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-nität und Geschäftsordnung
Änderung der Geschäftsordnung des Deut-schen Bundestageshier: Stärkung der Rechte kommunaler Spit-
– Drucksache 17/9387 –Berichterstattung:Abgeordnete Bernhard KasterChristian Lange
Jörg van EssenDr. Dagmar EnkelmannVolker Beck
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Dassind alle Kolleginnen und Kollegen des Hauses. Vor-sichtshalber die Gegenprobe! – Keine. Enthaltungen? –Auch keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Zusatzpunkt 4:Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENAnpassung der Marktprämie – Mitnahme-effekte streichen– Drucksache 17/9409 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sind Bünd-nis 90/Die Grünen, SPD und Linksfraktion. Wer stimmtdagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthal-tungen? – Keine. Der Antrag ist abgelehnt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Zusatz-punkt 1 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der SPDAuswirkungen des deutsch-schweizerischenSteuerabkommens auf die grenzüberschrei-tende SteuerhinterziehungIch eröffne die Aussprache. Als Erster hat unser Kol-lege Joachim Poß für die Fraktion der Sozialdemokratendas Wort. Bitte schön, Kollege Joachim Poß.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen hier im Plenum, ob sitzend oder stehend! DasSteuerabkommen mit der Schweiz ist ein weiterer deutli-cher Beleg, Herr Bundesfinanzminister, für die von Ih-nen zu verantwortende ungerechte Steuerpolitik,
die unser Land in den letzten Jahren weiter gespaltenhat.
Sie und auch die Bundeskanzlerin versuchen, ein Ab-kommen, das Steuerkriminelle im Dunkeln verschwin-den lässt, als Beleg für eine solide Finanzpolitik zuetikettieren. Das, was Sie da machen, ist aber Etiketten-schwindel.Wer das deutsch-schweizerische Abkommen alleindanach beurteilt, dass es zusätzliches Geld in die öffent-lichen Kassen bringt, offenbart zudem ein äußerst frag-würdiges Verständnis von Steuerpolitik und Steuerge-rechtigkeit.
Ein Bundesfinanzminister und auch eine Bundeskanzle-rin dürfen elementare Fragen der Steuermoral und derSteuergerechtigkeit nicht so ignorieren, wie es HerrSchäuble und auch Frau Merkel im Zusammenhang mitdiesem Abkommen tun. Ich finde, das ist mit Ihren Re-gierungsämtern eigentlich nicht vereinbar. Wir könnendoch nicht akzeptieren, dass massive Steuerhinterzie-
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Joachim Poß
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hung in der Vergangenheit legalisiert und in Zukunftweiterhin ermöglicht wird.
Genau das ist das Ergebnis des von Ihnen unterzeichne-ten Abkommens, egal, Herr Schäuble, was Sie dazugleich noch erklären werden.Der Anwendungsbereich des Abkommens bleibt auchmit dem Ergänzungsprotokoll vom 5. April lückenhaft.Über Familienstiftungen und Trusts können zum Bei-spiel auch weiterhin Schwarzgelder und Kapitalvermö-gen vor dem deutschen Fiskus versteckt werden. Einige,auch aus manchen Parteien, die hier vertreten sind, ha-ben mit diesen Möglichkeiten in der Vergangenheitdurchaus Erfahrungen sammeln können – das möchteich einmal in Klammern hinzufügen.Der Vorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft,Herr Eigenthaler – ich glaube, ein vormaliger Leiter ei-nes Finanzamtes aus Baden-Württemberg –, kommt des-halb zu einer klaren Bewertung: Das Abkommen seilöchrig wie ein Schweizer Käse und nur eine Scheinlö-sung.
Die Schweizer Regierung und die Schweizer Fi-nanzwelt sind hochgradig nervös. Das liegt am Druck,den die USA zur Aufdeckung von Steuerhinterziehungund Geldwäsche ausüben, und auch an den Steuer-CDs.Natürlich war es vom damaligen Bundesfinanzminis-ter Steinbrück richtig, verbal etwas härter zuzugreifen,
um der Schweiz klarzumachen, dass es so wie bishernicht weitergehen kann,
und es gab ja auch Bewegung, aber eben nicht genug.Aber seit der Regierungsübernahme durch Schwarz-Gelb und unter dem neuen BundesfinanzministerSchäuble wurden die Gänge im Kampf gegen die Steuer-hinterziehung wieder zurückgeschaltet. Das ist ein Un-ding für unser Land, auch gesellschaftspolitisch.
Das Ergebnis ist heute zu besichtigen. Mancheswürde sicherlich, wenn das Abkommen zustande käme,in die Kassen von Bund und Ländern fließen. SchauenSie aber in den vom Kabinett beschlossenen Entwurf.Darin steht die Summe, die sicher fließen würde. Sieläge im Bereich von 2 Milliarden, und nicht im Bereichanderer, viel höherer Zahlen und Ableitungen, die vonIhnen genannt werden.
– Franken.
Aber viel mehr entgeht dem Fiskus jetzt und auch in derZukunft; denn die Steuerbetrüger bleiben auch nach die-sem Abkommen weiterhin im Dunkeln. Die geltendeAnonymität wird durch das Abkommen kaum ange-kratzt. Das ist ein großer Sieg für die Schweizer Finanz-branche, was wir auch den Schweizer Medien entneh-men konnten: Als im letzten Jahr die erste Paraphegetätigt war, also vor den Nachverhandlungen, da knall-ten die Champagnerkorken, und das wohl nicht ohneGrund.Der amtierende Bundesfinanzminister – HerrSchäuble, das habe ich Ihnen von dieser Stelle aus schoneinmal gesagt – hat offensichtlich von vornherein dasZiel gehabt, der Schweizer Regierung und den Schwei-zer Banken entgegenzukommen. Von vornherein wurdezu lasch und zu nachgiebig verhandelt.
Das zeigt auch die Tatsache, dass dann doch noch ein Er-gänzungsprotokoll zustande gekommen ist, nachdem esim Bundesrat bei den von SPD und Grünen geführtenLändern Widerstand gab.
– Ohne diesen Druck hätte es das doch gar nicht gege-ben, Herr Kauder. Es waren doch Herr Schäuble und dieSchweizer Regierung, die erklärt haben: Es gibt nichtsnachzuverhandeln. Wir haben gesehen: Es gab dochnoch etwas nachzuverhandeln.
Das hätte von vornherein und konsequenter geschehenmüssen.
Im Übrigen, Herr Schäuble, als die Haftbefehle fürdeutsche Steuerfahnder ausgestellt wurden, hätte manschon erwarten können, dass Sie nicht von vornhereinVerständnis für das nationale Recht der Schweiz äußern,sondern sich klar und eindeutig hinter die deutschen Fi-nanzbeamten stellen, und zwar sofort.
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist derBundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble.Bitte schön, Kollege Dr. Wolfgang Schäuble.
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Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Mit dem Abkommen zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossen-schaft über die Zusammenarbeit in den BereichenSteuern und Finanzmarkt stellen wir die effektive Be-steuerung von Vermögenswerten deutscher Steuerpflich-tiger in der Schweiz für die Vergangenheit und für dieZukunft sicher.
Kommt das Abkommen nicht zustande, bleibt es beidem jetzigen Zustand.In der Zukunft gibt es keinen Unterschied mehr: AbInkrafttreten des Abkommens werden Kapitalanlagendeutscher Steuerpflichtiger völlig gleich behandelt,unabhängig davon, ob sie auf einer Schweizer oder aufeiner deutschen Bank sind. Der entscheidende Fort-schritt, den wir erreichen, ist eine völlige Gleichbehand-lung. Wir haben – das ist der entscheidende Punkt – dieAbgeltungsteuer. Ohne dieses Abkommen hätten wir sienicht. Die Schweizer Banken werden genauso wie deut-sche Finanzinstitute die Abgeltungsteuer einbehaltenund an den deutschen Fiskus abführen.Darüber hinaus haben wir einen gegenüber demOECD-Standard erweiterten Anspruch auf Informatio-nen aus der Schweiz. Wir haben in dem Abkommen wei-terhin die Vereinbarung, dass in Erbschaftsfällen entwe-der die Erbschaftsbesteuerung durchgeführt oder derhöchste Erbschaftsteuersatz nach deutschem Recht erho-ben wird. Darüber hinaus wird ab Inkrafttreten desAbkommens eine Verlagerung von Vermögenswertendeutscher Steuerflüchtiger aus der Schweiz ohne Ver-steuerung oder Meldung nicht mehr möglich sein. Dasist eine hundertprozentig befriedigende Regelung für dieZukunft.
Hinsichtlich der Vergangenheit treffen wir eine Rege-lung, dass unversteuerte Vermögenswerte einer pauscha-len Besteuerung von 21 bis 41 Prozent – je nach Fallge-staltung – unterworfen werden. Dazu muss man sagen:Steueransprüche – übrigens auch Strafverfolgungsan-sprüche – verjähren in der Regel nach zehn Jahren. Wasmehr als zehn Jahre zurückliegt, ist verjährt. Das beziehtsich sowohl auf die Strafverfolgung als auch auf die Be-steuerung.Wenn wir diese Regelung für die Vergangenheit tref-fen, gibt es für die Steuerpflichtigen folgende Alternati-ven: Die Banken werden eine Pauschalbesteuerung fürdie Vergangenheit durchführen, die deutschen Steuer-pflichtigen werden eine Bescheinigung ihres zuständi-gen Finanzamtes vorlegen, dass sie eine ordnungsge-mäße Besteuerung durchgeführt haben, oder dieSchweizer Bank wird ihre Geschäftsbeziehung mit ih-rem Kunden beenden.Meine Damen und Herren, diese Veränderung für dieVergangenheit stellt für die Schweiz einen Systemwech-sel dar. Die Schweiz nimmt Stück für Stück von ihremBankgeheimnis Abschied. Daher ist es schon angemes-sen, darauf hinzuweisen: Der Schutz des Bankgeheim-nisses ist eine Regelung, die einem Rechtsstaat zusteht.Dass ein Rechtsstaat eine Regelung, die er getroffen hat,nicht rückwirkend aufhebt, entspricht rechtsstaatlichenPrinzipien. Bisher habe ich gedacht, dass auch die So-zialdemokraten das nicht anders sehen.
Die Schweiz könnte ihre Gesetze gar nicht rückwir-kend ändern. Sie würde durch ihre Rechtsprechung ge-nauso daran gehindert wie wir durch unsere unabhängigeJustiz. Dabei geht es um die Grenzen dessen, was derGesetzgeber machen kann. Also müssen wir für die Ver-gangenheit eine entsprechende Regelung finden.Herr Kollege Poß, Sie sind schon eine ganze WeileMitglied des Bundestags.
Angesichts Ihrer Rede, die Sie gerade hier gehaltenhaben, frage ich mich, ob Sie eigentlich noch denAnspruch haben, ernst genommen werden zu wollen.
Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröderhat im Jahre 2003 ein Gesetz zur Förderung der Steuer-ehrlichkeit vorgelegt. Da waren Sie schon im Bundestagund haben die Finanzpolitik mitgetragen. Ich zitiere ausder Begründung dieses Gesetzentwurfes:Die Besteuerungsgerechtigkeit gebietet, dass alleSteuerpflichtigen nach Maßgabe der Steuergesetzegleichmäßig an den allgemeinen Lasten beteiligtwerden. Dies stößt in der Praxis jedoch an rechtli-che und tatsächliche Grenzen.
Der Gesetzentwurf soll dazu beitragen, durch eineattraktive Regelung für die Vergangenheit einenAnreiz zu bieten, in die Steuerehrlichkeit zurückzu-kehren und damit einen Beitrag zum Rechtsfriedenzu leisten.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD,wenn Sie noch wüssten, dass Willy Brandt als Bundes-kanzler einmal gesagt hat: „Wir wollen gute Nachbarnsein“, dann würden Sie nicht so über die Schweiz reden,wie Sie das in den letzten Monaten gemacht haben.
Täuschen Sie sich nicht: Es wird in Europa sehr be-achtet, wie Deutschland als das größte und wirtschafts-stärkste Land mit kleineren Nachbarn umgeht.
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20652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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Die Art, in der Sie in den letzten Wochen über die Tatsa-che gesprochen haben, dass die Schweiz zu ihren rechts-staatlich übernommenen Verpflichtungen steht, ist un-verantwortlich. Das stärkt das Ansehen Deutschlandsnicht. Damit verhöhnen Sie das Prinzip, dass wir guteNachbarn in Europa sein wollen. Ich sage: Lassen Sieuns respektvoll mit der Schweiz umgehen.
Die Schweiz hat mit diesem Abkommen einen großenSchritt getan. Sie wirkt daran mit, dass wir für die Zu-kunft eine bessere Regelung haben, als wir sie in derVergangenheit hatten. Der Zustand bezogen auf die Ver-gangenheit ist unbefriedigend. Nur: Wer kein Abkom-men zustande bringt – Sie haben keines zustande ge-bracht –, der ändert an diesem unbefriedigenden Zustandnichts. Dieses Abkommen ändert den Zustand für dieZukunft hundertprozentig, und für die Vergangenheitschafft es eine bessere Lösung, als jeder, der sich jemalsernsthaft mit der Sache befasst hat, für denkbar gehaltenhätte.
Noch eine letzte Bemerkung: Die Europäische Unionhat ausdrücklich erklärt, dass dieses Abkommen mit denbestehenden europäischen Abkommen vereinbar ist.Großbritannien hat nach deutschem Vorbild ein entspre-chendes Abkommen mit der Schweiz abgeschlossen.Österreich hat in diesen Wochen ein Abkommen mit derSchweiz abgeschlossen, das nicht ganz so günstige Re-gelungen für den österreichischen Fiskus enthält. Daraufwill ich aber gar nicht eingehen. Jedenfalls wird unserAbkommen von vielen Ländern als Vorbild genommen,entsprechende Abkommen abzuschließen.
Um die Sache auf die Spitze zu treiben: Der Europäi-sche Rat hat beschlossen, zu empfehlen, dass dieSchweiz auch mit Griechenland ein solches Abkommenabschließt.
– Entschuldigung, Herr Kollege. Die USA hatten über-haupt kein solches Abkommen für die Vergangenheit ab-geschlossen; null Komma gar nichts. Die USA sind indiesen Tagen übrigens von dem Bundesverwaltungsge-richt in der Schweiz darauf hingewiesen worden, dassman bestehende rechtliche Zusagen in dem RechtsstaatSchweiz genauso wenig rückwirkend ändern kann wie indem Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland. Das giltfür alle.
Ich sage es noch einmal: Dass die Europäische Kom-mission und der Europäische Rat empfehlen, dass auchandere Länder solche Abkommen mit der Schweiz ab-schließen, zeigt deutlich, dass Deutschland in den Ver-handlungen mit der Schweiz ein gutes Ergebnis erzielthat. Ich werbe dafür, dass wir zustimmen und dieses Ab-kommen ratifizieren.
Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Schäuble, Ihre grundlegende Aussage, dass mit die-sem Abkommen die Probleme der Steuerhinterziehungin der Vergangenheit und in der Zukunft gelöst sind,stimmt nicht. Das werde ich Ihnen hier nachweisen.Ihr Abkommen ist ein Affront gegen alle ehrlichenSteuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Das ist so. Anscheinend sind Sie auf diesen Zustand im-mer noch stolz – leider. In beiden Regelungsbereichenhaben Sie versagt.Die größte Frechheit ist, dass Sie letztendlich derOpposition vorwerfen – das werden die nächsten Rednersicher tun –, auf Geldeinnahmen zu verzichten.
Wir sollen einem schlechten Abkommen zustimmen,weil sonst Geld verloren geht.Wir reden hier über 130 bis 180 Milliarden Euro, dieschwarz in die Schweiz gebracht wurden. Es geht umhartnäckige Steuerhinterziehung, um begangene Straf-taten, die Sie letztendlich noch belohnen wollen. DerMaßstab für eine Nachbesteuerung muss doch wohl sein,was passieren würde, wenn diese Menschen das Geldwenigstens im Nachhinein ordentlich, zum Beispieldurch eine Selbstanzeige, versteuern lassen würden. DiePauschalregelung, die Sie auch in dem Zusatzprotokollvorsehen, wird genau dafür nicht sorgen. Das haben Ih-nen Finanzwissenschaftler wie Professor Hechtner vor-gerechnet. So geht es nicht. Der Steuersatz von 41 Pro-zent ist fiktiv. Er wird eher bei 21 Prozent liegen. Zudemhaben deutsche Finanzbehörden dann keine Möglichkeiteiner Nachprüfung; denn jeder kann sozusagen einenPersilschein vorlegen und sagen: Ich habe ja nachver-steuert; alles ist prima. Das geht so nicht.
Sie laden weiterhin förmlich zur Steuerhinterziehungein. Wenn man sich anschaut, wann das Abkommen un-terzeichnet wurde und wann die Regelungen in Kraft tre-ten, sieht man, dass über ein Jahr dazwischen liegt. Dasheißt, Steuerhinterzieher, die bisher schon kriminelleEnergie entwickelt und ihr Geld in die Schweiz geschafft
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20653
Dr. Barbara Höll
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haben, haben bis 2013 die Möglichkeit, das Geld zumBeispiel ganz einfach von der Schweizer Mutterbank aufeine Tochterbank in einem Steuerparadies zu verlagern.Was verlangen Sie? Sie verlangen nur eine Liste derStaaten, in die es gebracht wird. Mehr verlangen Sienicht.
Sie verlangen keine Namen von Steuerhinterziehern undkeine konkreten Angaben zu Banken. Das ist eine Einla-dung zur Steuerhinterziehung. Das ist ein Skandal.
Ausgeschlossen von der Nachbesteuerung sind wei-terhin – dies wurde hier schon erwähnt – Stiftungen,Trusts, zwischengeschaltete Personenvereinigungen undVermögenseinheiten. Dies sind beliebte Konstruktionen,die zum Zweck der Steuerhinterziehung geschaffen wur-den und von denen alle wissen, wie sie funktionieren.Diese sind im Abkommen nicht wirklich rechtssichererfasst. Was ist denn das für ein Rechtswert, wenn Siedies nicht ordentlich regeln? Auch hier lassen Sie dieSteuerhinterzieher weiterhin schalten und walten, wie siewollen.Dem sollen wir zustimmen? Das ist eine Unver-schämtheit. Letztendlich fordern Sie uns damit auf,gegen den Grundsatz der gleichmäßigen und gerechtenBesteuerung zu verstoßen. Das ist mit der Linken nichtzu machen und, ich hoffe, auch mit den anderen Opposi-tionsparteien nicht.Herr Schäuble, Sie haben behauptet, in der Zukunftsei alles gesichert. In der Zukunft wird so lange nichtsgesichert sein, solange wir keinen automatischen Infor-mationsaustausch in Europa haben. Ich frage Sie: Wa-rum haben Sie im Abkommen einen Passus, der besagt,dass selbst die Auskunftsersuchen, also die potenziellenFragen deutscher Finanzbehörden gegenüber SchweizerBanken, zahlenmäßig begrenzt werden? Für die erstenzwei Jahre auf 999 Fälle, dann auf 1 200 Fälle; später istein entsprechender Schlüssel, der sich an einer Quotevon 15 Prozent orientiert, vorgesehen.
Warum soll dies begrenzt werden? Es bleibt bei demPrinzip begrenzter Anfragen ins Blaue hinein. Man kannnur höflich fragen: Gibt es von dem Betroffenen einKonto bei der Bank oder nicht? Das ist Fischen im Trü-ben. Das geht überhaupt nicht.
Wir brauchen in Europa einen automatischen Informa-tionsaustausch.Natürlich war es ein langer Prozess. Er hat in den90er-Jahren begonnen. Wir könnten hier ein Spiel spie-len und fragen, wer es zuerst gefordert hat. Das bringtuns aber nicht weiter. Die Diskussion hatte sich schonrelativ weit entwickelt. Aber das Abkommen zwischenDeutschland und der Schweiz hat es ermöglicht, dass dieSchweiz ein Abkommen mit Österreich abgeschlossenhat, wodurch dieser Prozess torpediert wird. Deshalbwirft uns das Abkommen zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Schweiz in dieser Diskussion mei-lenweit zurück.Ich muss sagen: Ein großer Skandal ist nicht nur, wieSie mit dem Geldargument hantieren, indem Sie letzt-endlich versprechen und drohen – ich nenne nur dasStichwort Entflechtungsgesetz –, nein, ein großer Skan-dal ist auch, dass Sie jetzt den Verteilungsschlüssel geän-dert haben und dass als Abschlagszahlung nur 2 Milliar-den Franken vereinbart wurden. Dies führt dazu, dass diefünf neuen Bundesländer gegenüber der ursprünglichgeplanten Verteilung viel weniger bekommen und imPrinzip leer ausgehen werden.Danke.
Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Frak-
tion.
Besten Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Einen Vorstoß zur Lösung der Problema-tik der Steuerhinterziehung mit der Schweiz gab esschon einmal. Herr Minister Schäuble, Sie haben zuRecht darauf hingewiesen, dass es damals die rot-grüneBundesregierung war, die einen Vorschlag unterbreitethat. Herr Kollege Poß, der heute so vehement gegen dasAbkommen wettert, wird sich sicherlich noch daran er-innern, was damals konkret vorgeschlagen wurde. HerrPoß, Sie hatten damals zusammen mit den Grünengesagt: Diejenigen, die Gewerbesteuern hinterzogen ha-ben, sollen 90 Prozent steuerfrei behalten dürfen, undnur auf 10 Prozent sollen Steuern nacherhoben werden.Das war Ihr Vorschlag.
Im Fall hinterzogener Erbschaftsteuer hatten die So-zialdemokraten zusammen mit den Grünen gesagt:Wenn man 1 Million Euro Erbschaftsteuer hinterzogenhat, dann soll man 800 000 Euro steuerfrei behalten dür-fen und nur 200 000 Euro versteuern müssen. – Das warIhre Vorstellung von Steuergerechtigkeit im Zusammen-hang mit der Lösung dieser Fälle. Das war nun wirklichnicht zu verantworten und wesentlich schlechter als das,was die Bundesregierung mit der Schweiz ausgehandelthat.
Jemand, der von Steuerhinterziehern viel wenigerSteuern einnehmen wollte, der ihnen sogar 90 Prozent
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20654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Volker Wissing
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der Gewerbesteuer erlassen wollte, sollte nicht so lauteReden halten, wie Sie, Herr Poß, es getan haben,
weil das schlicht und einfach unglaubwürdig ist.
Das, was Sie damals formuliert haben, war die realeFinanzpolitik der Sozialdemokraten. Jetzt haben wireinen Vorschlag gemacht, nach dem nicht, wie bei Rot-Grün, 90 Prozent steuerfrei bleiben sollen, sondern nachdem 100 Prozent, also die volle Summe, zur Besteue-rung herangezogen werden. Das ist Steuergerechtigkeit.Wir sind Ihnen meilenweit voraus.
Auch die Steuersätze sind deutlich angehoben worden.Es müssen nicht nur 20 Prozent, sondern es muss allesversteuert werden.Sie regen sich zwar künstlich auf und empören sich,als wäre all das nicht hinzunehmen.
Aber schauen Sie sich die Begründung von damals docheinmal an; Herr Minister Schäuble hat sie Ihnen ja vor-gelesen. Im Grunde genommen waren Sie, was die recht-liche Beurteilung der Sachverhalte betrifft, damals we-sentlich weiter als heute. Sie konnten damals nur keinengerechten Vorschlag, was die Höhe der Besteuerung derSteuerhinterzieher betrifft, vorlegen.
Deswegen nehmen wir Ihre Kritik nicht wirklich ernst.Sie verhalten sich so wie bei der Vermögensteuer: Inder Opposition fordern Sie sie. Wenn Sie regieren, wol-len Sie nichts mehr davon wissen.
Auch eine Finanztransaktionsteuer fordern Sie immerwieder lautstark. Als Sie regiert haben, wollten Sie abernichts davon wissen.
Da haben Sie lieber die Mehrwertsteuer um 3 Prozent-punkte erhöht, was vor allen Dingen die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer trifft.Was Sie parallel zu dieser unaufrichtigen Debattemachen, ist auch nicht schlecht.
Als wir im Deutschen Bundestag die Erhöhung desArbeitnehmerpauschbetrages verabschiedet haben undIhnen gesagt haben: „Das ist eine Frage der Steuerge-rechtigkeit“, haben Sie dagegen gewettert. Heute stellensich Ihre SPD-Finanzminister hin und fordern die Erhö-hung des Arbeitnehmerpauschbetrages, und zwar ausGründen der Steuervereinfachung und als Beitrag zurHerstellung von Steuergerechtigkeit. Liebe Kolleginnenund Kollegen, wer den Sozialdemokraten in der Finanz-politik noch ein Wort glaubt, der hält Grimms Märchenfür den Brockhaus.
Finanzminister Walter-Borjans aus Nordrhein-West-falen – er wird noch zu uns sprechen – will tatsächlich,dass Nordrhein-Westfalen auf Steuereinnahmen in Höhevon 1,6 Milliarden Euro
verzichtet und dass das Geld in die Verjährung geschicktwird. Herr Walter-Borjans, gleichzeitig stellen Sie sichvor die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und sa-gen: Liebe Arbeitnehmer, wir wissen ja, dass euch diekalte Progression belastet und dass sie ungerecht ist.Aber wir haben kein Geld, um etwas dagegen zu tun. –Sie machen sich doch vor der deutschen Öffentlichkeitlächerlich!
Wie können Sie als nordrhein-westfälischer Finanz-minister angesichts leerer Kassen 1,6 Milliarden Euro indie Verjährung schicken?
Die ehrlichen Menschen in Deutschland müssen dieFinanzlöcher stopfen, die Sie durch die Ablehnung die-ses Besteuerungsabkommens erst verursacht haben.
Machen Sie sich doch mal ehrlich! Sie bekommendurch dieses Abkommen viel mehr, als Rot-Grün jemalswollte. Sie können doch nicht Steuerforderungen desStaates in Milliardenhöhe in die Verjährung schicken!Dieses Geld wird niemals nacherhoben werden können.
Gleichzeitig fordern Sie Steuererhöhungen in Deutsch-land. Ja, was machen Sie denn für eine Politik? Soll der-jenige, der morgens aufsteht und arbeiten geht, derDumme sein, während der Steuerhinterzieher nur zuwarten braucht, bis die Forderungen des Staates verjährtsind?
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, so darf mandie Öffentlichkeit nicht hinter die Fichte führen. Es gab
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20655
Dr. Volker Wissing
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nie ein besseres Abkommen mit der Schweiz, um dieseFälle zu lösen, als dieses. Es ist doch lächerlich, der Öf-fentlichkeit vormachen zu wollen, man müsse nur ab-warten; irgendwann werde die Schweiz ihr Bankgeheim-nis schon rückwirkend aufheben. Auch die Schweiz istein Rechtsstaat. Dort gibt es eine Verfassung. Auch wirkönnen nicht rückwirkend Gesetze ändern. Sie solltenmit diesem Wahlkampfgetöse, das Sie in Anbetracht desLandtagswahlkampfes in NRW veranstalten, aufhören.
Sie sollten Ihren Beitrag zur Steuerehrlichkeit leisten.Sie sollten auch Ihren Beitrag zur Steuergerechtigkeitleisten. Wir haben in Deutschland wahrlich eine ange-spannte Haushaltslage. Dank der klugen und entschlos-senen Verhandlungsführung von BundesfinanzministerSchäuble liegt uns jetzt ein Steuerabkommen mit derSchweiz vor, das die Altfälle löst
und das für die Zukunft 100 Prozent Steuergerechtigkeitschafft. Denn – der Minister hat es gesagt – für die Be-träge, die in der Schweiz verdient werden, und für dieBeträge, die in Deutschland verdient werden, fallengleich hohe Steuern an. Das ist Steuergerechtigkeit. Esfindet die gleiche Besteuerung statt, eins zu eins und involler Höhe.Diejenigen, die Steuern hinterzogen haben, sollen ih-ren Beitrag dazu leisten, die leeren Kassen des Staates zufüllen. Man sollte sie nicht verschonen. Überlegen Sieeinmal, für wen Sie hier Politik machen.
Das Wort hat nun Gerhard Schick für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieFrage, wer hier die Öffentlichkeit hinter die Fichte führt,wollen wir uns doch noch einmal ein bisschen genaueranschauen.
Erstens. Kollege Wissing hat hier jetzt gerade mitZahlen hantiert und den Betrag von 1,6 Milliarden Euroerwähnt. Wenn wir die Bundesregierung fragen, ob eseigentlich Schätzungen zum Steueraufkommen gibt,dann bekommen wir die Antwort: Es gibt keine seriösenSchätzungen. – Argumentieren Sie hier also bitte nichtmit unseriösen Zahlen!
Zweitens. Sie haben den Vergleich zu der Amnestie-regelung unter Rot-Grün gezogen. Dabei unterlassen Siees ganz bewusst, den entscheidenden Unterschied zunennen. Damals musste sich jeder ehrlich machen undpersönlich alles offenlegen.
Es gab keine Amnestie in der Anonymität; vielmehrmussten die Fakten auf den Tisch.
Das ist der entscheidende Unterschied.Deswegen und weil damit verbunden auch ganz vieleandere Straftaten unentdeckt bleiben, bezeichnet derBund Deutscher Kriminalbeamter das, was Sie hiermachen, als – ich zitiere – „die größte Begnadigungdeutscher Straftäter, die die Geschichte je gesehen hat“.
Nicht nur die Steuerhinterziehung, sondern auch Geld-wäsche, Menschenhandel, Korruption und andereDelikte verschwinden damit unter dem Deckmantel derGeschichte. Das darf nicht sein!
Ich möchte noch einmal ein wenig zurückschauen undden Blick auf das lenken, was Sie in der Union und in derFDP selbst gesagt haben. Das Bankgeheimnis – dasheißt, die Tatsache, dass eine Bank die Informationen, diesie über einen Kunden erhält, nicht weitergeben darf,auch nicht an die Steuerbehörden – ist bei der Aufarbei-tung dieser Finanzkrise als eines der zentralen Problemediagnostiziert worden, weil mithilfe des Bankgeheimnis-ses viele komplexe und verbotene Finanztransaktionenverschleiert werden können.
Deswegen gab es am 2. April 2009 in London aufdem G-20-Gipfel ein ganz klares Commitment allerwichtigen internationalen Staaten. Dieses Commitmenthat die Bundesregierung in Person der Kanzlerin Merkeldamals für die Bundesrepublik Deutschland unterzeich-net. Es lautet: „The era of banking secrecy is over.“ –Die Ära des Bankgeheimnisses ist vorbei. Ich messe Sieheute an diesem Anspruch.
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20656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Gerhard Schick
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Sie haben gestern im Kabinett ein Abkommen unter-zeichnet, das das Bankgeheimnis für die Zukunft garan-tiert. Damit ist dieses Amnestieabkommen mit derSchweiz ein klarer Wortbruch gegenüber unseren inter-nationalen Partnern,
und das ist auch ein Wortbruch gegenüber der Bevölke-rung, die erwartet, dass in und nach dieser Finanzkriseendlich einmal Konsequenzen gezogen und Klarheit undTransparenz im Bankensektor geschaffen werden. Ge-nau das Gegenteil dessen tun Sie gerade.
Aufgrund dieses Commitments gab es eine Situation,in der fast alle EU-Staaten zusammengehalten und ge-sagt haben: Wir gehen das Thema Steuerflucht gemein-sam an. Es gab gemeinsame Initiativen von Deutschlandund Frankreich im Rahmen der OECD. Es wurde gesagt:Wir verschärfen die Standards. Es gab Druck aus denUSA und von vielen anderen Seiten, das Bankgeheimnisendlich aufzuweichen.In dieser Situation hat sich die Schweizerische Ban-kiervereinigung gefragt: Wie können wir das Bankge-heimnis noch retten? Wie können wir das Geschäft mitder Steuerhinterziehung noch retten? Sie hat sich über-legt: Wir könnten doch einen einzelnen Staat herauskau-fen, um die Phalanx aller Staaten, die versuchen, etwaszu ändern, zu schwächen. Sie haben einen Staat gefun-den, der bereit ist, das zu tun, nämlich den NachbarstaatDeutschland, in dem der Bundesfinanzminister die Stra-tegie der Schweizerischen Bankiervereinigung, denKampf gegen die Steuerflucht aufzubrechen, jetzt unter-stützt. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen sagen gemein-sam mit den anderen Oppositionsparteien: In dieseminternationalen Kampf gegen die Steuerflucht und Steu-erhinterziehung
darf Deutschland nicht der Staat sein, der das Geschäftder Schweizer Bankiers betreibt.
Ich möchte für uns eines ganz deutlich sagen: Auchwir wollen ein Abkommen mit der Schweiz.
Natürlich muss man verhandeln. Aber wir wollen eineuropäisches Abkommen mit der Schweiz;
denn wir wollen die gemeinsame erfolgreiche Strategie,die wir unter Rot-Grün begonnen haben, nämlich aufeuropäischer Ebene gemeinsam gegen die Steuerhinter-ziehung vorzugehen, weiterführen.Was hat denn Ihr Abkommen, Herr Schäuble, be-wirkt? Österreich und Luxemburg hatten sich längst da-rauf eingestellt, dass auch bei ihnen das Bankgeheimnisgekippt werden muss.
In dem Moment, in dem Sie angefangen haben, zu ver-handeln, ist klar gewesen: Die gemeinsame europäischeStrategie ist zerstört worden. Deswegen sagen auch wirals Europapartei ganz eindeutig: Es darf ein solches bila-terales Abkommen nicht geben; denn es zerstört einegemeinsame europäische Strategie. Das dürfen wir nichtunterstützen.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Damit komme ich zum Schluss. – Ich will eine Sache
ganz deutlich sagen. Hören Sie auf Ihre Kollegen im
Europäischen Parlament. Diese haben in diesem Monat,
unterstützt von der Fraktion der Europäischen Volkspar-
tei, der die CDU angehört, unterstützt von der Liberalen
Fraktion, der die FDP angehört, geschrieben: Es besteht
die Notwendigkeit, einen automatischen Informations-
austausch vorzusehen, um das Bankgeheimnis effektiv
zu beenden. – Hören Sie wenigstens auf Ihre europäi-
schen Kollegen! Es braucht einen gemeinsamen europäi-
schen Ansatz gegen die Steuerflucht. Dieses bilaterale
Abkommen macht das alles kaputt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwischendurch willich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-rern ermittelten Ergebnisse der beiden namentlichenAbstimmungen übermitteln.Zunächst das Ergebnis der Abstimmung über dieBeschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit undSoziales zum Antrag der Fraktion der Linken „Sanktio-nen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungs-einschränkungen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuchabschaffen“: abgegebene Stimmen 564. Mit Ja zurBeschlussempfehlung haben gestimmt 429, mit Neinhaben gestimmt 68, Enthaltungen 67. Damit ist die Be-schlussempfehlung des Ausschusses angenommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20657
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 564;davonja: 429nein: 68enthalten: 67JaCDU/CSUPeter AltmaierPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserMichael FrieserHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Peter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDr. Hans-Peter BartelsSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerLothar Binding
Gerd BollmannWilli BraseEdelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin Griese
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20658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Michael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerFritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachBurkhard LischkaKirsten LühmannCaren MarksKatja MastPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterSonja SteffenChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
NeinDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeDorothée MenznerCornelia MöhringNiema MovassatWolfgang NeškovićPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Dr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENHans-Christian StröbeleEnthaltenSPDKlaus BarthelSteffen-Claudio LemmeHilde MattheisStefan RebmannRüdiger Veit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20659
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(C)
(B)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeVolker Beck
Cornelia BehmAgnes BruggerViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerErgebnis der zweiten namentliche Abstimmung überdie Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeitund Soziales zum Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen „Rechte der Arbeitsuchenden stärken –Sanktionen aussetzten“: abgegebene Stimmen 564. MitJa haben gestimmt 308, mit Nein haben gestimmt 144,Enthaltungen 112. Die Beschlussempfehlung des Aus-schusses ist damit angenommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 564;davonja: 308nein: 144enthalten: 112JaCDU/CSUPeter AltmaierPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserMichael FrieserHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard Oswald
Metadaten/Kopzeile:
20660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(C)
(B)
Henning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Peter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
NeinSPDKlaus BarthelBärbel BasWilli BraseMarco BülowMichael GroßSteffen-Claudio LemmeHilde MattheisStefan RebmannGerold ReichenbachKarin Roth
Werner Schieder
Ottmar SchreinerRüdiger VeitHeidemarie Wieczorek-ZeulDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeDorothée MenznerCornelia MöhringNiema MovassatWolfgang NeškovićPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Dr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeVolker Beck
Cornelia BehmAgnes Brugger
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20661
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Viola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzFriedrich OstendorffDr. Hermann OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerEnthaltenSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDr. Hans-Peter BartelsSören BartolSabine Bätzing-LichtenthälerLothar Binding
Gerd BollmannEdelgard BulmahnUlla BurchardtPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerFritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachBurkhard LischkaKirsten LühmannCaren MarksKatja MastPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertDr. Carola ReimannSönke RixDr. Ernst Dieter RossmannAnton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Swen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterSonja SteffenChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesWir setzen jetzt die Beratung zu diesem Tagesord-nungspunkt fort. Ich erteile dem Kollegen Klaus-PeterFlosbach für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ihre Ausführungen, Herr Kollege Schick, waren in wei-ten Teilen nicht nur falsch, sondern sie waren auchzutiefst demagogisch.
Am Beispiel der europäischen Zinsrichtlinie haben Sieselbst bewiesen, dass unser bilaterales Abkommen ge-nau der richtige Weg ist, um im Kampf gegen die Steuer-hinterziehung ein Stück weiterzukommen.
Seit Jahrzehnten diskutieren Parlamentarier, wie wiran die in die Schweiz und in andere Länder geschafftenGelder von Deutschen – sei es Schwarzgeld oder legales,aber nicht versteuertes Geld – herankommen können.Dieses Abkommen mit der Schweiz ist wirklich ein Mei-lenstein im Kampf gegen die Steuerhinterziehung; dennwir haben erstmals einen unmittelbaren Zugriff auf dieseKonten. Wir haben also ein Verfahren gefunden, dassicherstellt, dass in Zukunft jeder sein Geld auch imAusland so versteuern muss, wie es jeder ehrliche Steu-erzahler in Deutschland tun muss. Dafür vielen Dank,Herr Finanzminister.
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20662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Klaus-Peter Flosbach
(C)
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Die Steueramnestie, die SPD und Grüne im Jahr 2003beschlossen haben, ist hier schon angesprochen worden.Damals gab es einen Steuersatz von 15 Prozent, FrauKressl.
Lesen Sie bitte die Kommentare über das Steuerab-kommen von damals nach. Das war damals nichts ande-res als ein Sondertarif für Steuerhinterzieher. Es war einGeschenk für Steuerhinterzieher. Das war damals ein an-deres Verfahren. Sie haben uns damals zugesagt, eswerde 5 Milliarden Euro in die Kasse spülen. 1,3 Mil-liarden Euro sind dabei herausgekommen. Sie haben inelf Jahren als Finanzminister im Kampf gegen die Steu-erhinterziehung nichts geschafft.
Wir haben ein klares Konzept, wie wir an das Geld imAusland herankommen können. Erstens. Wer sein Geldim Ausland hat, kann sich eine Bestätigung der Bank ho-len und es dem deutschen Fiskus melden. Oder er machtzweitens eine Selbstanzeige. Damit muss er für zehnJahre nachträglich die gesamten Steuern zahlen.Oder aber wir greifen durch dieses Abkommen in seinKonto hinein, bei Steuersätzen von 21 Prozent bis 41 Pro-zent je nach Struktur, Laufzeit und Höhe. Das heißt, je100 000 Euro Kapital im Ausland rufen wir 21 000 bis41 000 Euro von dem Konto ab.Das ist der Meilenstein: Wir greifen in das Konto hi-nein. Das ist unsere Verpflichtung gegenüber den ehrli-chen Steuerzahlern in Deutschland. Wir holen uns dasGeld bei den Hinterziehern.
Wenn jemand beispielsweise sein Erbe nicht dekla-riert hat, holen wir uns 50 Prozent des gesamten Kapitalsvorab. Das ist doch der Unterschied zu Ihrem Konzeptdamals: Wir holen uns das Geld der Steuerhinterzieher.
Wichtig ist für die Akzeptanz auch dieses Abkom-mens, dass wir – das haben Sie völlig falsch dargestellt,Herr Schick – Geld aus Straftaten vom Schutz derAnonymität befreien. Drogengeschäfte, Geldwäsche undalle diese Dinge sind ausgeschlossen. Das Risiko derEntdeckung wird dramatisch erhöht. Wir haben nicht nurhöhere Standards als die OECD, die Organisation fürwirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern es könnenauch noch jährlich 1 300 Kontenabfragen erfolgen. Je-der, der ein Konto im Ausland hat, ist damit ständig inder Gefahr, entdeckt zu werden.Nicht nur das: In Zukunft werden auch Transaktionenvon der Schweiz gemeldet. Das sind die herausragendenErgebnisse dieses Abkommens.Wir müssen nur sehen, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, dass dieses Abkommen jetzt umgesetzt wird. DerFinanzminister hat auch deutlich darauf hingewiesen:Wir unterliegen einem Problem. Die Straftaten verjährenlaufend. Die Steueransprüche sinken laufend durch dieVerjährung. Uns gehen Milliardenbeträge verloren. Esgibt natürlich keine genauen Berechnungen, wie vielGeld im Ausland liegt. Aber es gibt natürlich Vermutun-gen, auch seitens des Finanzministeriums.
Wir gehen mindestens von einem zweistelligen Milliar-denbetrag aus. Allein die Kontovorauszahlungen betra-gen bereits 2 Milliarden Schweizer Franken. Das istdoch der große Unterschied zu Ihrem Verfahren.Auch uns stellt sich selbstverständlich die Frage:Werden unsere Bundesländer diesem Abkommen zu-stimmen? Von den gesamten eingehenden Geldern ge-hen 70 Prozent an die Länder und Kommunen. 61 Pro-zent gehen allein an die Länder, 30 Prozent an den Bund.Ich bin auch gespannt, Herr Walter-Borjans, wie dasLand Nordrhein-Westfalen mit diesem Thema umgehenwird, ob die Schuldenkönigin Hannelore Kraft nichtmehr nur darauf setzt, immer weiter neue Schulden zumachen, und ob Sie die fast 2 Milliarden Euro, die Nord-rhein-Westfalen zustehen, abrufen werden.
Es geht nicht nur um die 2 Milliarden Euro heute,sondern um die laufende Besteuerung in Zukunft. Auchdas sind Hunderte Millionen Euro für Nordrhein-Westfa-len.
Ich komme zum Schluss. Der Gesetzentwurf steht imEinklang mit europäischem Recht. Großbritannien undÖsterreich wollen einen ähnlichen Weg gehen. UnserGesetzentwurf ist Vorlage für alle anderen europäischenLänder. Ich gehe davon aus, dass sie diese Vorlage auchübernehmen werden.
Deswegen meine Empfehlung und Bitte an die Oppo-sitionsparteien: Verweigern Sie sich nicht, Steuerhinter-zieher endlich zur Kasse zu bitten. Wir wissen alle: Hun-dertprozentige Gerechtigkeit zu erreichen, ist in diesemBereich nicht einfach. Aber wir greifen jetzt in die Kon-ten hinein und holen uns das Geld, das hinterzogen wor-den ist.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Minister für Finanzen des Lan-des Nordrhein-Westfalen, Norbert Walter-Borjans.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20663
(C)
(B)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrter Herr Minister Schäuble! Herr Schäuble, ichnehme Ihnen ab, dass Sie das ehrbare Ziel haben, die Fi-nanzbeziehungen zur Schweiz auf eine geordneteGrundlage zu stellen.
Ich nehme Ihnen auch ab, dass Sie insgesamt das Ver-hältnis zur Schweiz wieder auf eine bessere Grundlagestellen wollen als bisher, trotz vieler Kommentare, diewir etwa von Bankenchefs in der Schweiz in der letztenWoche lesen konnten. Es wird von einem Wirtschafts-krieg gesprochen, in dem sich die Schweiz mit Deutsch-land und den USA befindet, weil diese beiden Länderdafür sorgen wollen, dass Steuerbetrüger nicht länger,ohne mit der Wimper zu zucken, in die Schweiz entflie-hen können. In einem Interview wird davon gesprochen,dass dadurch in der Schweiz 20 000 Arbeitsplätze ge-fährdet seien. Einen besseren Beleg dafür, dass Steuer-hinterziehung ein Geschäftsmodell von Banken in derSchweiz ist, hat es vor diesem Interview nicht gegeben.
– Warten wir mal ab!Ich nehme Ihnen auch ab, Herr Schäuble, dass Siedem deutschen Fiskus wenigstens einen Teil dessen ret-ten wollen, was verantwortungslos handelnde Steuerbe-trüger dem Gemeinwesen vorenthalten. Was ich Ihnenaber nicht mehr abnehme, ist, dass Sie das, was jetzt aus-gehandelt auf dem Tisch liegt, für einen Erfolg halten.
Sie alle wiederholen das, was so wunderschön in denTexten steht, die verbreitet werden: Wenn das Abkom-men in Kraft tritt, werden Erträge in der Schweiz und inDeutschland steuerlich vollkommen gleich behandelt. –Das stimmt. Die Erträge werden gleich behandelt.
Es handelt sich aber um Erträge aus völlig unterschiedli-chen Kapitalarten, nämlich zum einen um Erträge ausumsatz- und einkommenversteuertem Kapital, das einehrlicher Steuerzahler bei einer deutschen Bank anlegt,und zum anderen um Erträge aus unversteuertem Brutto-kapital, bei dem man sogar noch Zinsen auf hinterzo-gene Steuern bekommt.
– Einen Moment! Herr Michelbach, Sie können dochrechnen. Sie sind selbst Unternehmer und wissen: Wennjemand 1 Million Euro einnimmt und nicht die Mehr-wertsteuer in Höhe von 19 Prozent draufschlägt, dannentgehen dem Fiskus schon 190 000 Euro. Wenn ich da-von ausgehe, dass jemand, der über solche Beträge ver-fügt, dem Grenzsteuersatz in Höhe von 42 Prozent unter-liegt, dann stelle ich fest, dass der Betreffende zusätzlich420 000 Euro hinterzogen hat. Damit sind wir bei über600 000 Euro.
Die 190 000 Euro sind nicht eingenommen worden.Diese Summe ist dem Fiskus auf andere Art und Weiseverloren gegangen. Aber die 420 000 Euro werden in derSchweiz angelegt und verzinst. Sie haben recht: Dasmuss demnächst versteuert werden. Das ist das Wer-mutströpfchen für die Steuerhinterzieher. Das ist richtig.
Herr Schäuble, ich nehme Ihnen auch nicht ab, dassSie mit der Regelung im Hinblick auf die Vergangenheitzufrieden sind. Zumindest können Sie das nicht sein,wenn es Ihnen um ein Minimum an Steuergerechtigkeitgeht.
Meine Damen und Herren von FDP und CDU/CSU,Sie spielen immer Einnahmen und Steuergerechtigkeitgegeneinander aus. Sie sagen: Wer pragmatisch ist unddarauf achtet, dass noch etwas in die Kasse kommt, derdarf es mit der Moral nicht ganz so ernst nehmen; dermuss auch einmal „Schwamm drüber!“ sagen können.
Ich habe nie in Abrede gestellt, dass es meinem Kolle-gen Bundesfinanzminister in besonderem Maße umSteuergerechtigkeit geht. Das tue ich auch heute nicht.Wenn man sich allerdings den Text des Abkommens vorAugen führt, muss man sagen: An der Bereitschaft, Steu-ergerechtigkeit herzustellen, hat es nicht nur auf Schwei-zer Seite, sondern auch den deutschen Verhandlern ge-fehlt.
Sonst hätte dieses Abkommen nicht solch eklatante Lü-cken und würde Steuerhinterziehern nicht solche Son-derrabatte gewähren.
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20664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Minister Dr. Norbert Walter-Borjans
(C)
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Dieses Abkommen gewährt Steuerflüchtlingen mitMilliarden, die ihnen nicht gehören, freies Geleit in an-dere Steueroasen oder in andere Anlageformen. Manmuss ja noch nicht einmal die Schweiz verlassen. Daranändert auch das Zusatzprotokoll nichts. Dass das Endeder Abschleichzeit vom 1. Juni 2013 auf den 1. Januarverkürzt worden ist, damit verhält es sich ungefähr so,als ob Sie eine sperrangelweit offen stehende Tür um20 Zentimeter niedriger machten und dann sagten: Jetzthabe ich den Ausgang versperrt. – Das ist der einzigeUnterschied.
– Wenn man aber acht Monate Zeit hat!Es ist interessant, zu sehen, wie Sie damit umgehen.Sie sprechen immer von den 10,8 Milliarden Euro, dieder deutsche Staat an zusätzlichen Einnahmen durch die-ses Abkommen erhalten soll, und von den 2 MilliardenEuro, auf die Nordrhein-Westfalen verzichtet, wenn esdiesem Abkommen nicht zustimmt.
Aber dann sagen Herr Flosbach und andere: Es gibtkeine konkreten Zahlen.
Aber Herr Röttgen und die Opposition in Nordrhein-Westfalen, die mit dem Rücken an der Wand steht, brau-chen entsprechende Zahlen.
Natürlich wird darüber geredet, dass uns 2 MilliardenEuro entgehen. Das ist aber nichts anderes als ein aufge-blasener Luftballon. Da bis Ende des Jahres die Türenoffen stehen, frage ich: Zweifeln Sie wirklich an der Pro-fessionalität und der Kreativität Schweizer Anlagebera-ter? Das ist eine Beleidigung des eidgenössischen Fi-nanzsektors. Der soll bis Ende des Jahres nicht in derLage sein, seinen Anlegern Wege aufzuzeigen, wie sieihr Schwarzgeld in Sicherheit bringen können? Davonlebt der doch.
Die acht Personen, gegen die in Nordrhein-Westfalenermittelt wurde und für die eine Schweizer Großbank150 Millionen Euro auf den Tisch geblättert hat, damitdas Verfahren gegen sie eingestellt wird, haben sich je-denfalls nicht so dusselig angestellt, wie Sie glauben,dass sich andere anstellen werden. Die Schweizer Anla-geberater haben bis Ende des Jahres Zeit und werden dieMöglichkeiten nutzen.
Wenn hier jemand hinter die Fichte geführt wird, HerrWissing, dann sind es – das muss man wirklich sagen –die ehrlichen Steuerzahler bei uns. Wer morgens aufstehtund arbeiten geht, der wird jetzt betrogen. Dem werdendie Steuern direkt vom Lohn abgezogen. Der geht nichtin die Schweiz und legt dort 1 Million Euro an, die ernicht versteuert hat.
– Es verjährt nicht alles. – Wir reden immer noch davon,dass zum 1. Januar 2012 ein Abkommen in Kraft tretenkönnte. Von Ihnen wird behauptet, dass schon jetzt Straf-taten verjähren, was völliger Unsinn ist. Es war nie vor-gesehen, das Abkommen vor dem 1. Januar 2013 inKraft treten zu lassen.Wenn das Abkommen ein Jahr später in Kraft tritt,dann sind nicht die von Ihnen errechneten 10,8 Milliar-den Euro weg, sondern der Teil, der, weil es den Billig-tarif von 20 Prozent gibt, wegfallen könnte. Das will ichnicht. Ich will ein anständiges Ergebnis.
Wir müssen uns nicht auf diesen Punkt verständigen.Sie wollen Nachprüfungen in Verdachtsfällen auf1 300 in zwei Jahren beschränken. Das wäre eine einzigeKontrolle pro Finanzamt in Deutschland pro Jahr.
Das erkennbare Ziel ist doch für die Schweiz und offen-bar auch für die Betroffenen in Deutschland, also für dieKlientel, für die Sie ein Stück weit Politik machen, dassdiese vor Ermittlungen abgeschirmt werden. Das betrifftauch den Erwerb von Daten, den wir bisher gemeinsamals Aufklärungsinstrument, aber auch zur Abschreckungeingesetzt haben. Es handelte sich nicht um einen Al-leingang von Nordrhein-Westfalen, als eine CD gekauftwurde, sondern wir haben das in Abstimmung und mitErfolg gemacht. Das hat ein Stück weit Verunsicherungausgelöst. Das beabsichtigte Abkommen wird aber zu ei-ner Einladung zu mehr Transfer von unversteuertem Ka-pital in die Schweiz.
Das ist so, als ob Sie Schwarzfahrern erzählen, dass Siedas Schwarzfahren bekämpfen, und heute erklären, dasses keine Kontrollen mehr in Bussen und Bahnen gibt.Die Verluste, die dem deutschen Fiskus mit jeder wei-teren Milliarde, die in die Schweiz gebracht wird, entste-hen, betragen, wenn man Umsatzsteuer und Einkom-mensteuer zusammenrechnet, um die 600 MillionenEuro, die in keiner Rechnung auftauchen, die Sie aufstel-len. Sie sprechen immer nur von 2 Milliarden Euro Ein-nahmen für Nordrhein-Westfalen. Das ist auf Dauer
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20665
Minister Dr. Norbert Walter-Borjans
(C)
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nicht nur ein moralisches Fiasko, von dem wir reden, dasist auch ein finanzielles Fiasko.
Es hat noch nie eine so pauschale, umfassende undanonyme Amnestie zu so günstigen Konditionen gegeben.
Hier wird immer davon gesprochen, 2003 sei versuchtworden, eine Brücke in die Ehrlichkeit zu bauen. Dazumuss ich ganz klar sagen: Das hat nicht das gebracht,was wir uns erhofft haben.
Daraus muss man Lehren ziehen. Damals ging es wirk-lich darum, dass sich nur der von Strafe befreien konnte,der seine Identität offengelegt und nachgezahlt hat undder damit in Zukunft überprüfbar war.
Jetzt wird überhaupt nicht mehr hingeschaut. Jetzt wirdder ganze Schlamassel der Vergangenheit abgehakt, eswird Straffreiheit versprochen, und man weiß nicht ein-mal, um welche Klientel es sich dabei im Einzelnen ge-handelt hat.
Wir haben es jetzt mit einem Abkommen zu tun, dasfür ein Linsengericht eine pauschale Billigstamnestie ge-währt, das Steuerhinterzieher in der Zukunft wieder ru-hig schlafen und so weitermachen lässt wie bisher. DasGanze wird mit einem Beitrag zur Imagepflege derSchweizer Banken verbunden. Das wollten die; denn siehaben ein großes Problem. Sie möchten, dass sie ein bes-seres Image bekommen. Es ist für viele ehrliche Unter-nehmer in Deutschland nicht besonders schön, als Bank-verbindung eine Schweizer Bank auf dem Briefbogenstehen zu haben. Das soll aber nicht um den Preis ge-schehen, dass das Schwarzgeld, das offenbar 20 000Arbeitsplätze in der Schweiz sichert, verloren geht. Dasgehört zum Geschäftsmodell dazu. Deswegen muss daskaschiert werden.
Herr Schäuble, ich meine, wir wären gemeinsam zudem Ergebnis gekommen, dass es ein Fehler war, dassdas vorher nicht mit den Ländern besprochen worden ist.Ich bedaure sehr, dass seit September vergangenen Jah-res mit der Unterzeichnung des Zusatzprotokolls und mitder gestrigen Kabinettsentscheidung zwei weitereschwere Fehler und zwei weitere Schritte in die falscheRichtung gemacht worden sind. Das, finde ich, machtdie Sache nicht einfacher. Das macht es auch für dieBundesregierung schwerer, gegenüber der Schweiz ihrGesicht zu wahren.Die SPD- und grün geführten Bundesländer werdensich nicht mit Zuckerbrot und Peitsche, mit aufge-bauschten Zahlen, die Sie jetzt durch den nordrhein-westfälischen Wahlkampf tragen, und mit der neuestenIdee der Verknüpfung mit den Entflechtungsmitteln aufIhre Position bringen lassen; denn Sie wollen dafür sor-gen, dass diese Klientel von Steuerzahlern wieder ein ru-higes Leben führen kann. Das Hauptproblem dieserKlientel und auch der Schweizer Banken ist nämlich,dass sie im Moment wirklich damit rechnen müssen,aufzufliegen.
Es reichen nicht 1 300 Überprüfungsmöglichkeitennach Diskussion in einer Kommission in zwei Jahren beiden 650 Finanzämtern – so etwa ist die Größenord-nung –, die wir in Deutschland haben.
Herr Minister, Sie müssen bitte zum Schluss kom-men.
Ja, gern. – Ein Abkommen, das Zustimmung erwartenkann, darf Lücken nicht nur geringfügig kleiner machen;es muss sie schließen. Wenn hier gesagt wird: „Das darfman nicht rückwirkend tun“, dann kann ich nur erwi-dern: Rückwirkend sämtliche Strafen für erledigt zu er-klären, das geht offenbar.
Natürlich kann man darüber reden, dass man ab einemZeitpunkt X Daten austauscht. Da kann ich Herrn Schicknur recht geben, der über das Bankgeheimnis gespro-chen hat. Das wird ja wie eine Monstranz, wie ein Men-schenrecht vor sich hergetragen. Aber das Bankgeheim-nis ist ein Fehler. Es eröffnet die Möglichkeit, zubetrügen.
Ich habe mich schon mehrfach an die Adresse derSchweiz gewandt, weil ich selber immer für ein gutesVerhältnis zwischen den Menschen werbe.
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20666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(C)
(B)
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Gern. – Ich kann nur sagen: Es geht nicht um
„Schweizer gegen Deutsche“, es geht um „Anständige
gegen Unanständige“,
und die gibt es auf beiden Seiten.
Die Schweiz hat bis 1971 auch das Frauenwahlrecht
nicht gehabt.
Das hat sie irgendwann geändert. Das war bis dahin auch
eine unverbrüchliche Tradition. Die Schweiz kann da-
rüber gern einmal nachdenken.
Tatsache ist: Ein Abkommen, das Zustimmung erwar-
ten kann, darf Lücken nicht nur kleiner machen; es muss
sie schließen.
Es muss Ermittlungen uneingeschränkt zulassen,
und es darf vergangene Betrügereien nicht zum Schaden
der Allgemeinheit zu Sonderrabatten straffrei stellen, die
eine Ohrfeige für jeden einzelnen ehrlichen Steuerzahler
sind.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Birgit Reinemund für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LieberHerr Walter-Borjans, das war schon etwas peinlich füreinen Finanzminister,
auch wenn er gerade im Wahlkampf ist.Herr Walter-Borjans, Sie verzichten lieber auf jedeBesteuerung, als eine Nachbesteuerung von Milliarden-vermögen in der Schweiz zu erhalten. Wenn Sie meinen,dass Sie in Nordrhein-Westfalen sich das leisten können,dann hat das vielleicht auch damit zu tun, dass es Ihnenimmer wieder gelingt, Milliarden einfach so im Haushaltzu finden. Das gelingt nicht auf allen Ebenen.
Mit der Rhetorik, die Schweiz zu kriminalisieren, rei-hen Sie sich in eine schöne Reihe ein. Ich darf ein paarZitate bringen. Herr Poß meinte letztens: Diktatoren undMassenmörder werden in der Schweiz nicht kriminali-siert, sondern deutsche Steuerfahnder. Herr Trittin setztedrauf: Die Schweiz schützt Kriminelle und jagt Steuer-fahnder.Mit derartigen Aussagen gehen Sie seit Wochen durchdie Presse. Was ist das für ein Ton? Abgesehen davon,dass es inhaltlich falsch ist: Was ist das für ein Umgangmit einem befreundeten demokratischen Nachbarstaat?
Diese Koalition setzt auf Verhandlungen statt auf Be-schimpfungen, und damit hat sie Erfolg. Das Abkommenmit der Schweiz ist das Ergebnis langer bilateraler Ver-handlungen, ein Kompromiss zweier souveräner Rechts-staaten.Die Schweiz hat deutlich gemacht, dass die Nachver-handlungen an diesem Punkt beendet sind. Das Bankge-heimnis rückwirkend zu verhandeln, ist nicht möglich.Sie haben jetzt die Möglichkeit, ein Abkommen mitzu-tragen, das die Schweiz für Steuerhinterzieher künftigweniger attraktiv macht und das gleichzeitig und erst-mals eine Nachversteuerung von Altvermögen ermög-licht. Oder Sie blockieren im Bundesrat und zementierenden Status quo.Dieser Bundesregierung ist gelungen, was SPD-Finanzminister während der letzten zehn Jahre nicht zu-stande gebracht haben. Das mag Ihnen wehtun. Da müs-sen Sie jetzt einfach durch. Der Kampf für mehr Steuer-ehrlichkeit und für die Sicherung unserem Landzustehender Einnahmen sollte auch Ihr Ziel sein. Unse-res ist es auf jeden Fall.
Was bringt uns dieses Abkommen? Zunächst einmalschaffen wir Rechtssicherheit. Wir verlassen die rechtli-che Grauzone im Zusammenhang mit dem Ankauf ille-galer Daten. Dies wird in Zukunft schlicht unnötig. Ichweiß, die SPD will das nicht – Sie schon gar nicht, HerrWalter-Borjans. Sie haben ja angekündigt, weiterhinSteuer-CDs kaufen zu wollen,
und setzen damit Ihre Steuerfahnder weiterhin dem Ver-dacht der Beihilfe zur Wirtschaftsspionage aus.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20667
Dr. Birgit Reinemund
(C)
(B)
So etwas ist kein fairer Umgang mit Mitarbeitern.
Das wollen wir doch eher rechtlich regeln. Heiligt derZweck wirklich die Mittel in unserem Rechtsstaat?Künftige Kapitalerträge werden unmittelbar mit einerAbgeltungsteuer belegt. Sie entspricht exakt der deut-schen Besteuerung. Bisher unversteuerte Kapitalerträgewerden mit 21 bis 41 Prozent nachversteuert.
Sie verzichten hingegen auf jede Besteuerung. Mitder Ablehnung dieses Abkommens werden Sie überJahre keinerlei Besteuerung erreichen können.
Das Finanzministerium rechnet mit einmalig circa10 Milliarden Euro und in der Folge mit rund 1,6 Mil-liarden Euro jährlich. Davon profitieren Bund, Länderund Kommunen – die Länder sogar stärker als nach demsonst üblichen Verteilungsschlüssel. Herr Walter-Borjans, wie erklären Sie den klammen Kommunen inNordrhein-Westfalen, dass ausgerechnet Sie daraufgroßzügig verzichten wollen?Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grü-nen, sagen wir den Menschen doch ehrlich, dass es nichtdarum geht, ein weiter gehendes Abkommen zu erstrei-ten. Aus diesem Stadium sind wir heraus. Es gehtschlicht und einfach darum, ein Abkommen im Bundes-rat scheitern zu lassen und über Jahre hinaus keinerleiFortentwicklung zu erreichen.Kein Abkommen bedeutet weiterhin Rechtsunsicher-heit. Kein Abkommen bedeutet Verzicht auf Steuerein-nahmen für Bund, Länder und Kommunen in Milliar-denhöhe. Kein Abkommen bedeutet fortlaufendeVerjährung von Steueransprüchen, die in der Folge niemehr eingefordert werden können.
Kein Abkommen bedeutet auch: Diese Steuerhinter-zieher der Vergangenheit kommen bei Ihnen ungescho-ren davon. Der Ehrliche bleibt der Dumme.
Wollen Sie wirklich die Fortsetzung dieses sozialenUnfriedens?
Wie verträgt sich das mit Ihrem viel beschworenenGerechtigkeitsempfinden? Mit Ihrer Blockadehaltungschützen Sie die Inhaber von Schwarzgeldkonten in derSchweiz über viele weitere Jahre.2004 war die von Herrn Eichel angebotene Steueram-nestie für Rot-Grün Mittel zum Zweck. Geboten wurdenSonderkonditionen für reuige Steuersünder – so IhrO-Ton –, die weit unter dem lagen, was wir heute disku-tieren.
Das war für Sie damals völlig okay. Heute soll eine faireVerhandlungslösung mit Nachbesteuerung hingegenganz, ganz böse sein.
Was ist das denn für eine Haltung?Ihr Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit – eintoller Name für ein Amnestiegesetz – war eine Aufforde-rung an Steuerhinterzieher, sich ehrlich zu machen, undwurde zum Flop.Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grü-nen, machen Sie sich ehrlich. Sehen Sie von einer takti-schen Blockade ab!
Fachlich argumentieren können Sie hier nicht.Dieses Abkommen mag nicht Ihren Maximalforde-rungen entsprechen. Doch es ist deutlich mehr, als je-mals zuvor von einer deutschen Regierung in Verhand-lungen mit einem anderen Staat erreicht wurde.
Das Wort hat nun Petra Hinz für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Was wir gerade gehört haben, war ein Beispieldafür, wie die FDP mit Steuerflucht, mit Steuersündernund mit denen, die Geldwäsche betreiben, umgeht. Siehaben gerade deutlich offenbart, was Sie davon halten,wenn Steuer-CDs angekauft werden, um den Steuerbe-trügern den Garaus zu machen. Was Sie hier den Men-schen erzählen, ist schon ein Skandal.
Dann tun Sie auch noch blauäugig so, als ob die ehrli-chen Steuerzahler nicht diejenigen sind, die in unserenKommunen und in unseren Ländern die Kitas, Schulen,Universitäten, Krankenhäuser und sonstigen Infrastruk-turen finanzieren.
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20668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Petra Hinz
(C)
(B)
In Bezug auf diejenigen, die erst im nächsten Jahr an-onym zur Kasse gebeten werden sollen, frage ich Sie:Glauben Sie denn wirklich, dass jemand, der straffälligist und ein kriminelles Denken hat, sagt: Bitte, bitte, ineinem Jahr werde ich ehrlich meine Konten öffnen undauf den Tisch legen! Ja, wo leben Sie denn?
Reden wir einmal über Steuerehrlichkeit. Wer sinddie Menschen, die ehrlich sind? Das sind die Menschen,die auf der Besuchertribüne sitzen. Das sind die Men-schen, die der Debatte folgen. Das sind die Menschen,die hier sitzen. Es sind aber nicht die Menschen, die inder Schweiz anonym ein Konto haben. Das sind dieMenschen, die Monat für Monat ihre Lohnsteuer abfüh-ren müssen. Das sind die Menschen, die im Rahmen ih-res Lohnsteuerjahresausgleiches Belege, Quittungen undRechnungen vorlegen müssen. Diese Angaben werdengeprüft. Wenn eine Angabe nicht richtig ist oder fehlt,dann werden die Menschen mit einem Bußgeld belegt.Was machen wir? Wir sagen: Bitte, bitte, Steuersünder,zahl doch. – Das ist letztendlich das, was Sie hier vorle-gen.
Es gibt angeblich keine Zahlen. Wenn im Finanzaus-schuss konkret nachgefragt wird, mit welchen Zahlenwir zu rechnen haben, um welche Größenordnung es indem Bereich der Steuerhinterziehung geht, dann hörenwir vom zuständigen Staatssekretär, dazu könne ernichts sagen, es liege nichts Konkretes vor. Wir habenvon Herrn Röttgen gehört: NRW verzichtet auf 2 Mil-liarden Euro. Herr Dr. Wissing hat gesagt: Es geht um1,6 Milliarden Euro. – Sie müssen sich irgendwie eini-gen, wenn Sie über Zahlen reden. Es wurde gerade ge-sagt, dass es nur Schätzzahlen seien.
Über was reden wir denn hier? Sie verschaukeln dieMenschen und streuen denen Sand in die Augen, die tat-sächlich ihre Steuern zahlen.
– Oh ja.Um es ganz klar zu sagen: Mit dem Abkommen be-fördert Schwarz-Gelb Schwarzgeld und Steuerhinterzie-hung. Ich kann nur sagen: Ich bedaure die jetzige Situa-tion sehr. Auch ich schätze unseren Minister Schäublesehr. Aber ich teile nicht das, was er gerade deutlich ge-macht hat, nämlich dass wir uns gute Nachbarschaft er-kaufen müssen, indem wir gegenüber Steuerhinterzie-hern ein Auge zudrücken.
Das kann doch keine gute Nachbarschaft sein. Ist es indiesem Zusammenhang wirklich Gleichbehandlung,wenn den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern jedenMonat die Steuern abgezogen werden und alle anderenin der Schweiz Zuflucht finden können? Aber: Wir müs-sen ja gute Nachbarschaft pflegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Abkommenist eine staatlich geförderte Geldwäsche. Sie können denMenschen keinen Sand in die Augen streuen.
Dieses Abkommen wird von der Kanzlerin, vom Finanz-minister und dem CDU-Spitzenwahlkämpfer in Nord-rhein-Westfalen unterstützt.
Diese Regierung fördert grundsätzlich Lobbyismus; den-ken wir an die Hoteliersteuer. Sie sind aber nicht bereit,den hilfesuchenden Frauen von Schlecker eine Bürg-schaft in Aussicht zu stellen. Sie, lieber Herr Wissing,und auch der Wahlkämpfer Lindner haben gesagt: Diekönnen auf dem Arbeitsmarkt ihre Arbeitsplätzesuchen. – Aber Sie legen den Steuersündern, die auchunsere Infrastruktur einfordern, den roten Teppich aus.
Das, was diese Bundesregierung vorlegt, ist ein faulerKompromiss. Alle ehrlichen Steuerzahlerinnen undSteuerzahler, die jeden Monat Steuern zahlen und damiteinen Beitrag zum Ausbau unserer Infrastruktur leisten,werden über den Tisch gezogen. Im Gegensatz dazu ste-hen die Menschen, die ihre Einkünfte in Millionenhöheim nächsten Jahr, wenn sie großzügig sind, anonym of-fenlegen.
Das ist der Unterschied – ich sage es noch einmal –:Wir sind gegen Anonymität. Sie wollen das. Sie kündi-gen an, dass die Gelder im nächsten Jahr entsprechendabgerufen werden. Das ist so, als wenn Sie in einem Res-taurant Missstände, Kakerlaken, feststellen und dem Be-sitzer sagen: Wir kommen im nächsten Jahr vorbei, dannwerden Sie die Kakerlaken beseitigt haben. – So geht esnicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Hans Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Mit die-sem Steuerabkommen mit der Schweiz schaffen wir end-lich einen Meilenstein in der Frage der Steuergerechtig-keit für die deutschen Steuerzahler,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20669
Dr. h. c. Hans Michelbach
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Wahrheit und Klarheit für den deutschen Fiskus sowieWettbewerbsgleichheit für die deutschen Banken. Diesist ein Erfolg. All das, worüber Sie mäkeln, schlägt aufSie zurück. Ich bin überzeugt, dass Sie nach der Wahl inNordrhein-Westfalen diesem Gesetzentwurf zustimmenwerden, weil das vernünftig ist.
Illegal in die Schweiz verbrachte Gelder werden nach-versteuert. Es gibt keine Schlupflöcher mehr; dafür fin-det eine gleiche Besteuerung nach der Leistungsfähig-keit statt. Das ist Steuergerechtigkeit für alle.
Warum die Opposition hier auf Blockade macht, istrational überhaupt nicht zu erklären. Ich habe gut zuge-hört, aber ich habe keine stichhaltigen Argumente ver-nommen. Was ist denn Ihre Alternative? Rot-Grün hat zudiesem Thema oft nur schwadroniert oder gegenüber derSchweiz massiv gedroht. Der Erfolg war gleich null; IhrKavalleriegeneral Steinbrück war auch nur eine Null-nummer! So stellt sich die Situation doch dar.
Wer hat denn in der Vergangenheit Steuerhinterzie-hung legitimiert, ohne eine Gesamtlösung anzubieten?Das war der SPD-Bundesfinanzminister Eichel, der letz-ten Endes eine Steueramnestie mit 15 Prozent Höchst-steuersatz erlassen hat.
Wir liegen jetzt bei einem Satz von 41 Prozent. Das istder große Unterschied.
Wo war denn Ihre Moral, als Sie ein Steuergeschenkin Höhe von 15 Prozent gemacht haben? Im Gegensatzzu Ihnen damals verlangen wir heute 41 Prozent.
Das ist ein Beweis für Ihre Doppelmoral; so sieht esdoch aus. Es hat viel Überzeugungskraft gebraucht, inVerhandlungen mit der Schweiz neues Vertrauen aufzu-bauen und zu einem Ergebnis zu kommen. Dieser Kom-promiss ist absolut zielführend.Sie fordern jetzt europäische Verhandlungen. Das istnatürlich immer eine Lösung, aber wir können dochnicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Wir brau-chen jetzt ein Inkrafttreten dieses Abkommens, wennwir zeitnah Einkünfte aus Kapitalvermögen, die beiSchweizer Bankinstituten angelegt sind, genauso lü-ckenlos der Besteuerung unterwerfen wollen, wie wennsie bei deutschen Instituten angelegt wären.
Eine Anmeldung ist dabei nicht mehr erforderlich.Wenn Sie das Gesetz und das Abkommen lesen, erken-nen Sie: Wir haben einen direkten Kontenabzug unterAufsicht der staatlichen Behörden vereinbart. Das ist dergroße Unterschied. Leider verschweigen Sie auch das.
Dieses Abkommen ist ein Meilenstein auf dem Weg zueiner korrekten steuerpolitischen Zusammenarbeit mitder Schweiz. Die Zeiten für Schwarzgeldkonten in derSchweiz sind endgültig vorbei. Das Abkommen führt zumehr Steuergerechtigkeit und stärkt vor allem die Einnah-mebasis von Bund, Ländern und Kommunen. Die Nach-verhandlungen waren erfolgreich und beinhalten Ände-rungen gegenüber dem im letzten Jahr unterzeichnetenAbkommen. Das ist gut so. Bereits mit Inkrafttreten istkein Verschwinden von Kapital mehr ohne Meldung oderNachversteuerung möglich. Die Schweiz wird zusammenmit Deutschland eine gemeinsame Verwaltungsanwei-sung zur Konkretisierung der Missbrauchsbestimmungendes Abkommens erlassen.Jeder Blockierer muss sich fragen, wie er diese Hal-tung insbesondere von der deutschen Öffentlichkeit ver-antworten will. Ihre Vorschläge laufen im Grunde aufeine Art Steuereinnahmeverzichtserklärung hinaus.
Diese Konstellation ist wirklich einmalig. Man könntebeim Verhalten der Opposition auch von Untreue imAmt gegenüber dem Gemeinwohl sprechen.
Es ist nicht nachvollziehbar, dass Sie im Grunde auf10 Milliarden Euro verzichten wollen. Das ist ähnlichwie das Verhalten von Frau Kraft als Schuldenkönigin,die zum einen Steuereinnahmen ausschlägt, letzten En-des aber sagt: Wir haben sowieso so viel Schulden; wirtilgen die alten Schulden, indem wir immer neue Schul-den machen. – Das ist die Schuldenpolitik, die Sie uns inNordrhein-Westfalen vor Augen geführt haben. So etwaswollen wir nicht.
Deshalb sage ich Ihnen: Sie sollten Ihre generellesteuerpolitische Blockade aus rein parteitaktischenGründen beenden. Sie verhindern die steuerliche Förde-rung der Gebäudesanierung;
Sie verhindern das Gesetz zum Abbau der kalten Pro-gression. Das ist wachstumsfeindlich, das ist arbeitneh-merfeindlich! Sie von Rot-Grün suchen Ihr Heil in im-mer mehr Schulden. Das werden Ihnen die Leute nichtabnehmen; dafür werden Sie die Quittung bekommen.
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20670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. h. c. Hans Michelbach
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Der Weg, immer mehr Schulden zu machen, um alteSchulden zu begleichen, ist nämlich mit Blick auf unsereJugend, auf unsere Menschen zukunftsfeindlich.Deswegen darf ich Sie herzlich bitten, diesem Ab-kommen zuzustimmen. Ich habe schon Zwischentönevon Herrn Walter-Borjans gehört, der etwas belehrendauf Herrn Poß eingegangen ist.
Ich bin sicher, dass die Länder in letzter Konsequenz dieChance wahrnehmen und dem Abkommen zustimmenwerden.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Martin Gerster für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Sprache kann manchmal schon entlarvend sein. Gesterngab es eine Pressemitteilung von der Parteizentrale derCDU. Wenn man sich den Text durchliest, bemerkt deraufmerksame Leser oder die aufmerksame Leserinschon: Es ist nicht von „Steuerhinterziehern“, sondernimmer nur von „Steuersündern“ die Rede.
Ich denke, das ist deswegen entlarvend, weil es sich indiesen Fällen nicht etwa um kleine Nachlässigkeitenhandelt, um ein kleines Stück Schokolade zu viel, dasman gegessen hat. Nein, es ist kriminell.
Es sind Betrüger. Deswegen müssen wir mit aller Härtedagegen vorgehen.
Ich nenne einfach einmal die Argumente, die hier an-geführt wurden. Einmal ging es um Österreich. Dannsagten Sie: Es liegen keine Zahlen vor. Jedoch sagteHerr Röttgen in NRW, es gehe um 2 Milliarden Euro.
Dann hören wir hier, es gehe um 10 Milliarden Euro,usw. usf.Es ist schon ein bisschen seltsam, mit welcher Akro-batik Sie argumentieren. Aber ich denke, eines wirddeutlich – egal, welche Zahl Sie, Herr Michelbach, jetzthier angeführt haben –:
Es geht doch auch um den Preis, den wir dafür zahlenmüssen, dass die Bundesregierung dieses Steuerabkom-men abschließt und Sie dies befürworten. Der Preis lautetnämlich: Preisgabe der Steuergerechtigkeit in Deutsch-land.
Herr Michelbach, wenn Sie sagen, dieses Abkommensei ein Beitrag zu Ehrlichkeit und Gerechtigkeit, dannmuss ich sagen: Das ist eine höchst seltsame Interpreta-tion. Das ist höchstens die Michelbach’sche Steuerge-rechtigkeit.
Unter dem Strich muss man trotz aller Nachverhandlun-gen und den Ergebnissen ganz klar attestieren:
Steuerpflichtige, die ihr Vermögen unversteuert in derSchweiz eingelagert haben, werden gegenüber den ehrli-chen Steuerzahlern bevorzugt. Dieses Verhandlungser-gebnis ist für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-kraten einfach nicht hinnehmbar.
– Herr Volk, ich verstehe, dass Sie den Eindruck erwe-cken wollen, nach den erzielten Ergebnissen der Nach-verhandlungen wäre die steuerliche Bergwelt zwischenDeutschland und der Schweiz wieder heil. In Wahrheitist das Abkommen – das ist in der Debatte deutlich ge-worden – doch löcherig wie ein Schweizer Käse. Dassagt auch Herr Eigenthaler, der Vorsitzende der Deut-schen Steuer-Gewerkschaft, ein anerkannter Experte aufdiesem Gebiet.
Es gilt, diese Einschätzung von Herrn Eigenthaler zu un-terstreichen.
Herr Volk, auch die Presse und die Medien sehen esso. Die Welt am Sonntag, wahrlich nicht das Hausblattder Sozialdemokratie,
hat in ihrer Beurteilung der Nachverhandlungsergeb-nisse ganz klar gesagt, dass das, was hier als der große
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20671
Martin Gerster
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Durchbruch dargestellt wird, „wertlose Zahlenakroba-tik“ ist. Denn immer noch ist es eben so – das kann maneinfach nicht oft genug sagen –, dass diejenigen, die ihreSteuern ehrlich gezahlt haben, gegenüber denjenigen be-nachteiligt werden, die Gelder an unserem Finanzamtvorbei in die Schweiz geschafft haben, dass sie hier dieDummen sind.
Es gibt auch entsprechende Berechnungen. Herr Volk,Sie können das im Magazin Der Spiegel nachlesen. Dawird folgende Rechnung aufgemacht – ich zitiere sieeinfach; Sie können es gerne einmal nachrechnen –:Wer vor zehn Jahren 1,2 Millionen Euro unversteu-ertes Schwarzgeld illegal in die Schweiz geschaffthat und dort dank Zins und Zinseszins inzwischenüber 1,6 Millionen Euro verfügt, müsste nach demSteuerabkommen nur 21 Prozent bezahlen,
um sein Geld wieder weißzuwaschen. Er käme alsomit gut 300 000 Euro davon.
Alle Verpflichtungen gegenüber dem deutschenFiskus wären abgegolten – zu einem Spottpreis.Wäre das Einkommen ordnungsgemäß in Deutsch-land deklariert und versteuert worden, lägen dieAbzüge bei 770 000 Euro, also mehr als doppelt sohoch.
Herr Michelbach, da können Sie doch nicht sagen, diesesAbkommen sei ein Beitrag zur Steuerehrlichkeit und zurSteuergerechtigkeit. Das kann doch wohl nicht wahrsein!
Der Ehrliche ist der Dumme. Das ist das Ergebnis desSteuerabkommens. Deswegen lehnen wir Sozialdemo-kraten es ab, ganz zu schweigen von den vereinbartenKontrollmöglichkeiten. Der Landesminister Walter-Borjans hat es dargestellt. Das ist doch ein schlechterWitz, dass jedes Finanzamt in Deutschland im Prinzippro Jahr nur ein oder zwei Abfragen machen kann. Dasist doch nicht einmal Stochern im Nebel, das ist nochweniger. Wir sagen klar: Wir lehnen es ab. Wir werdensehen, was die weitere Diskussion auch mit den Bundes-ländern bringt. Klar ist: Dieses Steuerabkommen ist beiweitem kein Beitrag zur Steuergerechtigkeit, sondern einBeweis des Gegenteils.
Das Wort hat nun Olav Gutting für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, vorallen Dingen von den Grünen und von der SPD! Siewenden sich hier mit großem Getöse gegen das Steuer-abkommen mit der Schweiz. Sie sollten sich schämen,
dass Sie weiterhin Finanzbeamte und Steuerfahnder ineinen Sumpf aus Kriminalität, Selbstmord, Spitzelei undDatenklau schicken.
Sich als Dienstherr schützend vor seine Beamten zu stel-len, heißt nicht nur, die Backen in Richtung Schweizaufzublasen und die Strafbefehle aus der Schweiz zuverurteilen.
Sich schützend vor seine Beamten zu stellen, heißt auch,die Alternative zu Spitzelei, Datenhehlerei und Wirt-schaftsspionage zu wählen. Diese Alternative ist dasSteuerabkommen.
Es ist betrüblich, wie Sie unser Verhältnis mit unse-rem Nachbarn Schweiz, einem souveränen Rechtsstaat,mit Ihrer Kriegsrhetorik beschädigen.
Natürlich ist es ein Ärgernis, wenn die Schweiz die völ-lige Offenlegung des Verbleibs deutscher Steuergeldermit dem Verweis auf das Schweizer Bankgeheimnis ver-weigert. Man kann es durchaus als Skandal empfinden,
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20672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Olav Gutting
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dass damit deutsche Steuerhinterzieher in der Schweizgeschützt werden. Aber dann muss man das Gesprächsuchen und verhandeln. Man darf nicht mit der Kavalle-rie drohen, sondern man muss sich an den Verhandlungs-tisch setzen.Wissen Sie: Es gibt viele deutsche Landsleute, die inder Schweiz leben und dort ehrlich ihr Geld verdienen.Die werden mittlerweile in der Schweiz zum Hassobjekt.
Es gibt viele Baden-Württemberger, die tagtäglich in dieSchweiz fahren, um dort zu arbeiten. Ihre Kampfrhetorikführt dazu, dass sie täglich gemobbt werden.
Es ist unanständig
von Rot-Grün, dass sie selbst noch im Jahr 2003, danngeltend für 2004, mit ihrem Gesetz zur Förderung derSteuerehrlichkeit allen Steuerhinterziehern und allenSteuerflüchtlingen einen Steuersatz von einmalig fak-tisch 15 Prozent angeboten haben. Sie haben die 15 Pro-zent damals damit begründet, dass man sich in einemAbwägungsprozess befand, dass man sich entscheidenmuss, was besser ist: 15 Prozent auf X oder einen höhe-ren Prozentsatz auf nix. 15 Prozent haben Sie damals alsausreichend angesehen. 15 Prozent – und derjenige warfrei, egal ob anonym oder nicht.
Nun haben Sie allen Ernstes heute die Stirn, sich gegendie jetzigen Steuersätze zu wehren,
die bei 41 bzw. 50 Prozent liegen, und diese als zu nied-rig abzulehnen?
Weil Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen und Schles-wig-Holstein ist, setzen Sie aus wahlkampftaktischenGründen lieber weiter auf Datenklau. Sie setzen lieberauf Datenklau als auf ein rechtlich verbindliches Ab-kommen mit unserem Nachbarstaat.
– Meine Damen und Herren, wir leben – das müssen Sieschon sehen – in einem Rechtsstaat.Vor zwei Jahren, als es in Baden-Württemberg eineDiskussion darüber gab, ob wir eine Steuer-CD ankaufensollen, habe ich mich ausnahmsweise dafür ausgespro-chen. Steuerhinterzieher schaden uns allen. Sie müssenzu Recht hart und unnachgiebig verfolgt werden.
Dafür darf der Staat ausnahmsweise, wenn es keine Al-ternative gibt, zum Schutz des Volksvermögens auch zuMethoden greifen, mit denen man sich vielleicht amRande der Legalität bewegt.
Es gibt Situationen, wo man argumentieren kann, dassder Zweck die Mittel heiligt; aber Sie wollen denRechtsbruch als Institut.
Sie wollen bezahlte Spitzelei und Datenklau, und Siewollen das Sicheinlassen mit Kriminellen als Dauerzu-stand einrichten.
Das geht nicht. Wir sind in einem Rechtsstaat. Wir habeneine Alternative, und zwar dieses Steuerabkommen.
Schlussendlich, meine Damen und Herren: Es ist be-schämend, dass Sie den ehrlichen Steuerzahlerinnen undSteuerzahlern in Deutschland nach Schätzungen bis zu18 Milliarden Euro vorenthalten. Ländern und Kommu-nen können bis zu 12 Milliarden Euro zufließen.
Sie sagen, das alles seien Zahlen aus Schätzungen. Ichnehme zur Kenntnis, liebe Freunde von der SPD, dassSie offensichtlich der Meinung sind, dass es in derSchweiz überhaupt kein deutsches Schwarzgeld gibt.Wir glauben, dass es viele Milliarden gibt und dass biszu 18 Milliarden Euro nach Deutschland fließen können.
Es ist nicht hinnehmbar, dass gerade Ländern und Kom-munen Tag für Tag, Woche für Woche und Monat fürMonat Milliarden an Geldern verloren gehen, nur weilVerjährung eintritt.
Sie wissen das. Deswegen nehme ich Ihnen auch nichtab, dass Sie sich an anderer Stelle – zum Beispiel beimAbbau der kalten Progression – hinstellen und sagen:Wir können das aus Sorge um die Staatsfinanzen nichtmachen. Ihre Wahlkämpfer in Nordrhein-Westfalen undSchleswig-Holstein und Sie sind dafür verantwortlich,dass den Kommunen und den Ländern Milliarden anSteuereinnahmen entgehen, die beim Kindertagesstätten-ausbau und bei wichtigen Infrastrukturprojekten fehlen.Es ist ein übles Spiel, das Sie hier spielen, und ich binfroh, wenn Steffen Kampeter in Nordrhein-Westfalen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20673
Olav Gutting
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endlich Finanzminister sein wird und Sie endlich abge-löst sein werden.
Dann hat dieses Abkommen endlich eine Chance.
Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Die AktuelleStunde heute ist nicht deswegen aktuell, weil Sie ein Ab-kommen mit der Schweiz verhandelt haben, sondernweil die Nachverhandlung gestern im Kabinett auchnoch als Erfolg verkauft worden ist.
Das ist absolut unverständlich, wenn man sich die De-tails anschaut. Das ist bereits angesprochen worden, manmuss es aber noch einmal wiederholen.Angeblich wurden die Höchstsätze bei der Besteue-rung erhöht. Ich frage Sie aber: Wer zahlt die denn? Diezahlt doch kein Mensch. Dann wurde die Zahl der Prü-fungen – von 999 auf 1 300 in zwei Jahren – erhöht. Eswurde schon gesagt, dass das 1,1 Prüfungen pro Finanz-amt sind. Das sieht fast so aus, als ob man da irgendje-mandem in die Tasche hinein prüft. So ist es nicht. Eswird über ein Bundeszentralamt Anfragen geben unddann ein Amtshilfeverfahren. Ich frage Sie: Wer machtdas denn? Das ist völlig nutzlos.
Es wird weiterhin ein Bleiben in der Anonymität ge-ben.
Es wird ein „Abschleichen“ geben. Egal wie viel jemandhinterzogen hat: Wir haben es hier mit kriminellen, abernicht mit dämlichen Mitbürgern zu tun.
Es wird doch keiner hier sitzen und abwarten, bis dasJahr herum ist, damit er am 1. Januar endlich seine hin-terzogenen Steuern nachzahlen kann. Es ist doch völligblödsinnig, so etwas anzunehmen.Das Argument der Verjährung ist schon angesprochenworden. Bei diesem Abkommen geht es in der Regel umAltvermögen bzw. Erträge, die wir nachbesteuern wol-len. Hier fängt die Steuergerechtigkeit an. Die Leute, dieim Moment arbeiten und Steuern zahlen müssen, sehennicht ein, warum andere Menschen, die momentan Er-träge erzielen, überhaupt nichts bezahlen sollen und dieMöglichkeit haben, sich dem zu entziehen.
Dem Minister Dr. Schäuble ist vor allem wichtig, dassman mit der Schweiz ein gutes Verhältnis hat und dassdie Befindlichkeiten nicht gestört sind.
Das ist schon schlimm genug. Aber das, was der KollegeGutting hier verbreitet hat,
war teilweise wirklich unverschämt. Auch SchweizerBürger zahlen Steuern. Schweizer Bürger haben sehrgroßes Verständnis dafür, wenn die Deutschen, die in ih-rem Land Geld geparkt haben, zur Steuerzahlung heran-gezogen werden.
Der Datenklau – auch das möchte ich Ihnen sagen –ist von Gerichten im Nachhinein legitimiert worden. Wirschicken niemanden, der Steuer-CDs ankauft, in denSumpf oder in die Kriminalität.
Die Schweiz hat deutsche Steuerbeamte kriminalisiert,und zwar völlig zu Unrecht. Das sollten Sie hier einmalthematisieren.
Ich möchte noch etwas zu den Summen sagen, diehier im Raum stehen. Ich kann Ihnen ja einmal in derSteigerung darlegen: Herr Wissing sprach von 1,6 Mil-liarden Euro, die dem deutschen Staat entgehen würden.Die Kanzlerin hat in den letzten Tagen von 1,8 Milliar-den Euro gesprochen. Der Spitzenkandidat der CDU inNordrhein-Westfalen, Norbert Röttgen, redet von 3 Mil-liarden Euro.
– Ich habe „drei“ gelesen. – Das ist ein reichlich naivesWunschdenken. Wir wissen alle, dass wir die genaueZahl überhaupt nicht kennen.Gehen wir jetzt einfach einmal von 3 Milliarden Euroaus;
denken wir positiv. Wenn wir berücksichtigen, dass derNRW-Anteil 10 Prozent beträgt, würde das bedeuten,
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20674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Ingrid Arndt-Brauer
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dass wir insgesamt mit einer Steuernachzahlung von un-gefähr 30 Milliarden Euro rechnen könnten.
Das würde bedeuten – ausgehend von einem Nachbe-steuerungssatz von 25 Prozent –, dass auf SchweizerKonten ein Kapitalbestand in Höhe von 120 Milliar-den Euro liegt.
Die Besitzer dieser 120 Milliarden Euro warten jetzt da-rauf, dass dieses Jahr zu Ende geht und das neue Jahr be-ginnt, damit dieses Geld endlich versteuert werden kann.Das ist doch völlig idiotisch.
Minister Schäuble hat in anderen Verlautbarungen sogarvon 10 Milliarden Euro gesprochen. Die Schweizer si-chern uns für 2013 1,6 Milliarden Euro zu. Vielleichtwissen die das besser als wir. Das kann ja sein.
Alle Fachleute – Herr Eigenthaler, der Vorsitzende derDeutschen Steuer-Gewerkschaft, ist schon zitiertworden – sind sehr unzufrieden mit diesem Abkommen.Da Sie immer so tun, als gebe es nur die Alternativezwischen diesem Abkommen oder gar keinem Abkom-men, möchte ich sagen: Man hätte dieses Abkommenauch anders verhandeln können. Es ist einfach unsäglich,dass Sie immer so tun, als ob es keine Alternative zu die-sem schlecht verhandelten Abkommen gab.
– Nein, aber man hat mit der Schweiz ein gutes, partner-schaftliches Verhältnis, und die Schweizer sind bestrebt,weiterhin ein gutes Verhältnis zu uns zu haben. DieSchweizer haben ein Imageproblem, wenn sie kriminali-siert werden und wenn sie von uns nicht mehr so behan-delt werden, wie man Freunde behandelt. Ich glaube, esist überhaupt nicht ernsthaft versucht worden, vernünftigzu verhandeln.
Ich kann Sie nur warnen: Unter diesen Umständenwerden wir nicht zustimmen. Nutzen Sie die Möglich-keit, über eine Nachverhandlung nachzudenken.
Wir alle brauchen das Geld, das kriminell hinterzogenworden ist. Darüber sind wir uns einig. Aber wir wollenes in Gänze haben. Schließlich müssen wir auch denSteuerzahlern, die keine Steuern hinterzogen haben, dieSteuerbelastung in Gänze zumuten. Deswegen möchtenwir das auch den kriminellen Bürgern, die Steuern hin-terzogen haben, zumuten. Ich kann Ihnen nur empfehlen,nachzuverhandeln.
Ansonsten bitte ich Sie: Hinterlassen Sie uns nicht zuviele Baustellen. Sonst müssen wir auch das nach derRegierungsübernahme machen. Doch auch dafür wärenwir uns nicht zu schade.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Bettina Kudla für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Als letzte Rednerin in dieser Debattemöchte ich
die wichtigsten Punkte ein wenig zusammenfassen.
Der Staat muss das Problem der Steuerhinterziehunglösen.
Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit des Staates, derSteuergerechtigkeit und der finanziellen Notwendigkeit.Der Staat muss sich die Einnahmen sichern, die ihm ge-setzlich zustehen.
– Ich freue mich über Ihren Beifall; denn er zeigt, dassdiese ganze Diskussion über die Zahlen eigentlich über-flüssig ist. Wir müssen die Einnahmen sichern, die unsgesetzlich zustehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20675
Bettina Kudla
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Kollege Gutting hat darauf hingewiesen: Der Ankaufvon Steuer-CDs darf nicht zu einem dauerhaften Instru-ment des Staates werden. Das ist abzulehnen. Der Staatdarf nicht zum Hehler werden.
Der SPD ist es in früheren Jahren nicht gelungen, die-ses Problem zu lösen.
Herr Poß, ich habe mich sehr gewundert, dass Sie denAusspruch von Herrn Steinbrück zur Kavallerie nocheinmal zitiert haben;
denn dieser Ausspruch von Herrn Steinbrück war nichtsanderes als eine Erklärung, dass man in der Verhandlungnicht weiterkommt.
Ich unterstelle: Jeder in diesem Hause wünscht sich, dassdie Steuerbürger steuerehrlich sind und ihre Steuern indie Staatskasse zahlen. Aber wir müssen die Fakten be-trachten, und die Fakten sind eben anders.Ich nenne noch ein paar Punkte zur Steuerhinterzie-hung an sich. Für mich wurde in dieser Diskussion sehrstark schwarz-weiß gemalt. Sicherlich sind viele Leute,die Steuern hinterziehen, kriminell.
Gleichwohl muss man sehen, auf welche Weise und wa-rum Steuerhinterziehung geschieht.
Steuerhinterziehung kann auf verschiedene Weise ge-schehen. Sie kann geschehen, indem der Bürger erklärt,
dass er sich dem Zugriff des Staates entziehen will. Neh-men Sie beispielsweise das Thema Tanktourismus. Manhat das gute Recht, in ein Nachbarland zum Tanken zufahren, weil der Steuersatz dort geringer ist; dadurchzahlt man aber auch weniger in die Kasse des eigenenStaates.
Ich bitte, dies in der ganzen Diskussion zu bedenken.Das Thema Bankgeheimnis wurde angesprochen.
Ich habe mich sehr gewundert, wie leichtfertig man hierdie Forderung erhebt, das Bankgeheimnis aufzugeben.
Im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit des Stand-ortes Deutschland und des Standortes Europa muss manzum Thema Kapitalexport sagen: Wir müssen alles da-ransetzen, den Kapitalexport zu stoppen; denn der hoheKapitalexport hat die Euro-Krise mit verursacht.
Wir müssen alles daransetzen, das Kapital im Inland zuhalten, es entsprechend zu besteuern und Investitionen inDeutschland anzuregen.Noch ein paar Worte zu NRW. Statt Steuerhinterzie-hung zu bekämpfen, ist man in den letzten Wochen lie-ber auf den Solidarpakt losgegangen. Dies schürt Neidund ist auf Spaltung ausgerichtet. Gleichzeitig lenkte esvom Versagen der SPD-geführten Regierung in NRWab.
Wertvolle Zeit geht verloren, und Millionen an Einnah-men gehen verloren, wenn das Abkommen jetzt nichtunterzeichnet wird. Das von BundesfinanzministerSchäuble ausgehandelte Steuerabkommen mit derSchweiz ist gut, richtig und notwendig.Jetzt noch ein paar Worte zur Haltung der europäi-schen Institutionen.
Gerade vor dem Hintergrund der Staatsschuldenkriseund der notwendigen verbesserten europäischen Rege-lungen zur Bewältigung dieser sollte man das Subsidiari-tätsprinzip nicht aushöhlen. Wenn die Bürger dem Natio-nalstaat Steuern entziehen, betrifft dies in erster Linieihren Staat. Ein Nationalstaat hat bessere Möglichkeiten,Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Die deutschen Steu-erbehörden sind einfach näher am Steuerzahler. Die Fi-nanzbehörden müssen die Steuergesetze umsetzen unddem Staat die Einnahmen verschaffen, die ihm gesetz-lich zustehen.
Die bisherigen DBA-Abkommen sind zwar wichtig,aber mit diesen kann man das Problem der Steuerhinter-ziehung nicht abschließend lösen.Es gibt auch einen Motivationseffekt. Der National-staat, dem das Geld entzogen worden ist, hat eine großeMotivation, es sich zurückzuholen. Deswegen müssen
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Bettina Kudla
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bilaterale Abkommen zwischen den europäischen Staa-ten weiter möglich sein.Noch ein letzter Punkt: die Einhaltung der Schulden-bremse.
Frau Kollegin, nur noch einen Satz. Sie haben Ihre
Redezeit schon deutlich überzogen.
Bund und Länder brauchen das Geld aus dem Steuer-
abkommen, um die Schuldenbremse auch im Hinblick
auf den Fiskalpakt einhalten zu können.
Vielen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Feststellung eines Nachtrags zum Bundes-
haushaltsplan für das Haushaltsjahr 2012
– Drucksache 17/9040 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär im Finanzministerium Steffen
Kampeter das Wort.
S
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Nachtragshaushalt der Bundesregierung,mit dem wir uns heute in erster Lesung befassen, ist eineInvestition in die Stabilität Europas. Stabilität bedarf ge-meinsamer Anstrengungen, nicht nur in Deutschland,sondern auch in allen anderen Ländern der EuropäischenUnion. Der deutsche Beitrag zu dieser Stabilisierung istsubstanziell. Er sollte es auch sein; denn Stabilität in Eu-ropa ist vor allen Dingen für uns Deutsche ein vordring-liches politisches Anliegen. Deswegen glaube ich, mitguten Gründen für den Nachtragshaushalt, den wir hierund heute in die parlamentarische Beratung einbringen,werben zu können.
Der Nachtragshaushalt schafft die finanziellen Vo-raussetzungen für den Europäischen Stabilitätsmecha-nismus, in der Technokratensprache kurz „ESM“ ge-nannt. Wir werden in einer ersten Tranche 8,7 MilliardenEuro Eigenkapital einzahlen. Diese Brandmauer, dieauch dem Schutz der Deutschen dient, werden wir in dennächsten beiden Jahren bis zu ihrer vollen Wirkungs-fähigkeit weiterentwickeln. Es wird weitere Anpassun-gen durch den Nachtragshaushalt geben, beispielsweisebeim Bundesbankgewinn. Auch die erfreuliche Entwick-lung bei den Steuereinnahmen in der BundesrepublikDeutschland und die erfreuliche Entwicklung bei denZinsausgaben bilden sich in diesem Haushalt ab.
Die beiden letzten Positionen sind eine besondere Stabi-litätsdividende, die Deutschland zur Kenntnis nehmenkann. Das niedrige Zinsniveau beispielsweise bildetRespekt und schafft Vertrauen in die Wirtschafts- undFinanzpolitik dieser Bundesregierung.
Im Rahmen der Beratungen werden wir bis Ende Maidieses Jahres sicherlich noch bei zwei Positionen weitereAnpassungen vornehmen. Erstens werden wir das deut-sche Parlament über die Auswirkungen des Tarif-abschlusses für den öffentlichen Dienst unterrichten, dervor wenigen Wochen für die Angestellten gefundenwurde und den wir eins zu eins auf die Beamten übertra-gen wollen; er wird sich nämlich in diesem Haushaltwiderspiegeln. Zweitens erwarten wir noch Anpassun-gen, die sich aus der Steuerschätzung im Mai dieses Jah-res ergeben. Unser Ziel ist es, die Nettokreditaufnahmeauf dem im Nachtragshaushalt festgelegten Niveau zuhalten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieserHaushalt macht nochmals deutlich, dass die Bundes-republik Deutschland kraft politischen Willens nicht nurdie nationale Schuldenbremse einhalten kann, sondernauch ihre Verpflichtungen gegenüber Europa einhält.Wir werden das gesamtstaatliche Defizit im Jahre 2014nahezu ausgeglichen haben, zwei Jahre früher, als esrechtlich erforderlich ist. Wir wollen diesen Sicherheits-abstand. Dies ist ein Erfolg unserer wachstumsfreund-lichen Konsolidierungspolitik. Diese Politik werden wirmit dem Nachtragshaushalt weiter fortentwickeln.Es gibt eine europaweite Debatte über den Zusam-menhang zwischen Haushaltskonsolidierung und wirt-schaftlichem Wachstum. Die G-20-Staaten haben inToronto verabredet, ihre strukturellen Defizite bis 2013halbieren und ihre Schuldenstandsquoten senken zuwollen. Das deutsche Beispiel, das Beispiel der christ-lich-liberalen Koalition, zeigt, dass wirtschaftliche Kon-solidierung und wirtschaftlicher Erfolg keine Gegen-sätze, sondern zwei Seiten der gleichen Medailleerfolgreicher christlich-liberaler Politik sind. Deswegenwerden wir an diesem Kurs auch festhalten.
Genauso deutlich möchte ich feststellen, dass schul-denfinanziertes Wachstum kein Zukunftskonzept ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20677
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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Schulden lösen kein Problem. Vielmehr sind viele Staa-ten in Europa und im Übrigen auch viele Länder imföderalen Deutschland in Schwierigkeiten, weil sie zuviele Schulden haben. Wer Schulden mit Schuldenbekämpfen will, der begeht einen gefährlichen Irrweg.Dieser Irrweg führt nicht zu Stabilität, sondern in denAbgrund.
Ich will auch mit der fehlerhaften Behauptung aufräu-men, die deutsche Position sei auf Konsolidierungbeschränkt. Die wachstumsfreundliche Politik dieserBundesregierung beschränkt sich eben nicht nur auf dieHaushaltspolitik. In vielen anderen Bereichen haben wirnicht nur als christlich-liberale Koalition, sondern auchals Bundesregierung in unterschiedlichen Zusammenset-zungen stets darauf geachtet, dass unser Land zukunftsfä-higer wird, beispielsweise durch Arbeitsmarktreformen,die von einer rot-grünen Regierung mit Unterstützung ausdem bürgerlichen Lager vorangetrieben worden sind,oder jetzt durch eine Energiepolitik, die den Industrie-standort Deutschland weiterhin leistungsfähig bleibenlässt.
Das sind Beiträge, die das Wachstum in und fürDeutschland stärken sollen. Wenn ich im Gegenzughöre, dass beispielsweise die nordrhein-westfälischeLandesregierung ein fast schon fertiggestelltes Kohle-kraftwerk, einen Beitrag zur sicheren Energieversorgungim industriellen Kern Nordrhein-Westfalen, aus ideolo-gischen Gründen nicht fertigstellt,
dann weiß ich, warum die Haushaltszahlen in NRW zumgegenwärtigen Zeitpunkt so mies aussehen.
Ich höre von den Sozialdemokraten an dieser Stelledas Wort „Wachstumsförderung“. Meine sehr verehrtenDamen und Herren nicht nur hier im Hause, sondernauch auf den Besuchertribünen, wenn die Sozialdemo-kraten, die SPD, von Wachstumsförderung reden, dannmeinen sie Schuldenmachen. Das ist deren Konzept derWachstumsförderung. Dieses Konzept ist gescheitert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von derSPD, ich habe heute in der Zeitung gelesen, dass dasdeutsche Direktoriumsmitglied bei der EuropäischenZentralbank, Jörg Asmussen, Angehöriger Ihrer Partei– zumindest wenn ich den Medien glauben darf –, daraufhingewiesen hat, dass es jetzt nicht darum geht, in dieserDebatte irgendein Jota am Fiskalpakt und an der festenZusage zu ändern, mit dem Geld auszukommen, das manhat, sondern dass man budgetneutrale Wachstumsim-pulse setzen soll. Das Geld muss dort eingesetzt werden,wo es am meisten zum Wachstum beiträgt.
Er hat auch daran erinnert, dass Deutschland mit derAgenda 2010 eine Strukturreform durchgeführt hat, diemittelfristiges Wachstumspotenzial hervorruft,
und dies als Beispiel dafür genannt, wie auch andereStaaten budgetneutrale Wachstumsimpulse setzen kön-nen. Sie wollen sich an die Agenda 2010 heute abernicht mehr erinnern.
Sie verstehen Wachstumsförderung als Lizenz zumSchuldenmachen.
Sie haben ein ungeklärtes Verhältnis zur Inflation. HörenSie lieber auf diejenigen in der Sozialdemokratie, diewirtschaftspolitischen Sachverstand haben und jetzt diedeutschen Interessen bei der EZB, wie ich finde, gut ver-treten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bewäl-tigung der Herausforderung, eine Konsolidierung durch-zuführen, ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Deswegenhaben wir nicht nur im Bundeshaushalt eine Ausgaben-diät einzulegen, sondern wir müssen diese Ausgabendiätauch in allen Bundesländern durchhalten. Ich appellierean die Bundesländer, hier ihre gesamtstaatliche Verant-wortung wahrzunehmen.Der modernisierte Stabilitäts- und Wachstumspaktbindet ja nicht nur den Bundeshaushalt, sondern ist einegesamtstaatliche Aufgabe. Wir haben im Finanzaus-schuss des Bundesrates in dieser Woche erste Gesprächegeführt. Man darf Finanzpolitik nicht nur vor dem Hin-tergrund des Datums 2016 betreiben, sondern man mussauch die Situation im Jahre 2020 im Blick haben. LassenSie mich hierzu zwei Beispiele aus unserem föderalenStaat nennen: Sachsen beispielsweise orientiert seineHaushaltspolitik an den Einnahmen und hat unter allenFlächenländern in Deutschland die niedrigste Pro-Kopf-Verschuldung, weil nicht jede politische Aufgabe miteiner Staatsausgabe beantwortet wird. Länder wiebeispielsweise Nordrhein-Westfalen geben Mittel ausmehr Steuereinnahmen durch mehr Ausgaben sofortwieder aus.
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20678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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Man muss die derzeitige Dividende der Konjunkturzu einer Stabilisierung auch in den Länderhaushaltennutzen. Wer da versagt, versagt vor der Herausforderungder nächsten Generationen.
– Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, HerrKollege, bin ich gerne bereit, sie zuzulassen.
Aber Sie als nordrhein-westfälischer Sozialdemokrat,der nach dem Zweiten Weltkrieg über 40 Jahre in diesemLand Verantwortung getragen hat, der für das Debakelbei der WestLB politische Mitverantwortung trägt,
der dafür Verantwortung trägt, dass Norbert Walter-Borjans gerade vorhin gesagt hat: „Wir verzichten inNordrhein-Westfalen auf Einnahmen aus dem Abkom-men mit der Schweiz“, aber im nordrhein-westfälischenHaushalt mit die höchste Neuverschuldung machen will,sollten sich wegen solcher Zwischenrufe schämen
und erst einmal Ihre Hausaufgaben in Nordrhein-West-falen erledigen. Dazu bietet sich Zeit und Gelegenheit.Der Bund ist auf jeden Fall bereit, am Konsolidie-rungskurs festzuhalten.
Der Nachtragshaushalt setzt unsere wachstumsfreund-liche Konsolidierung fort. Ich finde, von der Bundes-republik Deutschland geht ein vertrauensbildender Im-puls aus:
nach Europa, aber auch in unsere föderale Gemeinschaft.
Das Wort hat nun Carsten Schneider für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieDebatte war als die Einbringung des Nachtragshaushal-tes durch die Bundesregierung angekündigt. Ich hattemehr den Eindruck, der Staatssekretär hat das Plenummit dem Marktplatz von Minden verwechselt.
Wir sind hier, sehr geehrter Herr Kampeter, im Deut-schen Bundestag.Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Ihnen bewusst war,was Sie im Kabinett beschlossen haben; denn das, wasSie gesagt haben, stimmt überhaupt nicht mit dem über-ein, was Sie uns hier vorlegen.
Da Sie 2011 – das ist das vorherige Jahr gewesen – inDeutschland für den Bund knapp 17 Milliarden Euroneue Schulden gemacht haben – neue Schulden! –
und im Jahr 2012 mit dem Nachtragshaushalt, den Siejetzt hier einbringen sollten, über 34 Milliarden Euroneue Schulden machen – Sie haben in Ihrer Rede garnicht gesagt, wie hoch die Neuverschuldung ist, deshalbhabe ich die Zahl genannt –,
ist das, was eine Verheißung sein sollte, nämlich dass Siein NRW Finanzminister werden sollen, für die Men-schen eher eine Drohung. Ich glaube, das Ergebnis wirddeutlich ausfallen.
Ich kann gut verstehen, dass man, wenn man einerRegierung angehört, die nur noch verwaltet und sichstreitet, aber nicht mehr wirklich handelt, darüber nichtreden will, sondern sich über die Kuppel des Reichstagserhebt und gesamteuropäische Ansätze vertritt, dass manmit dem Finger auf andere zeigt und sie zum Sparen auf-fordert, selbst aber in Deutschland das genaue Gegenteiltut. Von daher kann ich den Duktus Ihrer Rede gut ver-stehen.
Das ist ein Armutszeugnis dieser gerade noch zusam-mengehaltenen Regierung; das muss man leider so sa-gen. Noch immer tragen Sie – das glaubt man fast nicht,auch wenn man sich die Parteivorsitzenden anschaut –die Verantwortung für dieses Land. Aber der Haushalt,den Sie hier vorlegen, ist verantwortungslos: über34 Milliarden Euro neue Schulden in 2012! Das legenSie dem Deutschen Bundestag vor und wollen esbeschließen lassen. Das ist der Verzicht auf gestaltendeFinanzpolitik. Das ist vor allen Dingen der Verzichtdarauf, zukünftigen Generationen finanziellen Spiel-raum zu geben.Eines ist doch klar: Wir haben derzeit eine sehr guteökonomische Lage.
Sie haben auf die Ursachen hingewiesen. Ich hoffe auch,dass diese gute Konjunktur anhält. Die Zeichen stehennicht schlecht. Aber dass wir uns dauerhaft und für im-mer auf einem Wachstumspfad befinden und immermehr Steuern einnehmen – in diesem Jahr haben wir Re-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20679
Carsten Schneider
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kordsteuereinnahmen und eine Entlastung bei den So-zialausgaben –, gibt es nicht. Die Wirtschaftswissen-schaftler haben viele Fehler gemacht. Aber dass es in derWirtschaft ein Auf und Ab und ein Hoch und Runtergibt, ist ziemlich klar. Deswegen wäre jetzt in der Phasedes höchsten Wachstums, das wir in Deutschland jemalshatten, mit den höchsten Steuereinnahmen, die es jemalsgab, die Gelegenheit –
– nicht an die Ausgaben ranzugehen, Herr Kollege Fricke;das hätten Sie mit Hilfe Ihres Sparbuchs, das Sie hier vor-legen wollten, machen können, aber das haben Sie einge-mottet –,
die absurd hohe Verschuldung des Bundes in Deutsch-land herunterzufahren und so schnell wie möglich aufnull zu kommen.Sie haben als FDP über Ostern ein interessantesSchauspiel geliefert. Vor Ostern wollten Sie mit derPendlerpauschale die Subventionen erhöhen, aber ohneGegenfinanzierung. Ich bin zwar bereit, über alles zu re-den, aber dann bitte mit einer entsprechenden Gegenfi-nanzierung statt mithilfe neuer Löcher.Nach Ostern wollten Sie bzw. Ihr Parteivorsitzenderden gerade beschlossenen Finanzplan wieder korrigie-ren. Auf dem Parteitag sollte das dann beschlossen wer-den: 2014, in zwei Jahren, soll die Neuverschuldung aufnull sinken. Das ist dann nicht beschlossen worden, weilauf dem FDP-Parteitag dafür keine Zeit mehr war. Jetztmachen Sie 34 Milliarden neue Schulden.
Ich weiß nicht, wo Ihre Prioritäten liegen. Aber es warjedenfalls ein Misstrauensbeweis des Koalitionspartnersgegenüber dem Bundesfinanzminister.
Ich meine, damit haben Sie recht gehabt. Denn die Fi-nanzpolitik, die Sie vorgelegt haben und die insbeson-dere mit dem Nachtragshaushalt ihre Fortsetzung findet,ist auf Schuldenbergen gebaut, nicht auf Solidität. Dafürunternehmen viele andere Länder in Europa derzeitgroße Anstrengungen. Sie tun das Gegenteil.
Der Punkt Subventionsabbau, den wir im Steuer- undFinanzkonzept der SPD mit 50 Prozent der Gesamtkon-solidierung berücksichtigen, kommt nicht vor. Im Ge-genteil: Ich will nicht noch einmal die Hoteliersvergüns-tigungen ansprechen, aber Sie haben die Subventionenausgeweitet, statt zielgerichtet in die Zukunft zu inves-tieren.Diese Woche haben Sie, zumindest der Fraktionsvor-sitzende der CDU, ein besonderes Schauspiel geliefert.Das Betreuungsgeld soll 2014 1,2 Milliarden Euro zu-sätzliche Kosten verursachen, bezahlt aus neuen Schul-den. Eine Gegenfinanzierung haben Sie nicht.
Die Zustimmung dafür soll jetzt mit langfristigen Zusa-gen für höhere Rentenzahlungen erkauft werden.Damit bringen Sie zwei ungedeckte Schecks vor dieÖffentlichkeit, nur um den Koalitionsfrieden durchzuset-zen. Das ist keine Zukunftsgewandtheit, sondern einBlankoscheck dieser Koalition, für den die Steuerzahlerzu zahlen haben.
Der Herr Staatssekretär hat positive Punkte wie dieSteuereinnahmen erwähnt. Er hat auch die Bundesbankangesprochen. Nur für das Publikum: Der Bundesbank-gewinn, der dem Bundeshaushalt zufließt, wird deutlichniedriger sein, und zwar etwa um 2 Milliarden Euro. Dasliegt daran, dass die Bundesbank Rückstellungen für Ri-siken aus dem Euro-System bildet. Das heißt, wir sehendiesmal nicht nur mit der Überweisung der 8 MilliardenEuro an den Stabilitätsmechanismus, sondern auch beidem um 2 Milliarden Euro geringeren Bundesbankge-winn, dass die Finanz- bzw. Euro-Krise im deutschenBundeshaushalt ankommt. Bisher haben Sie immer ge-sagt, die Krisenreaktion koste kein Geld. Hier sehen wir:Es werden real über 2 Milliarden Euro fehlen.Entscheidend ist, dass wir uns noch in der GroßenKoalition im Rahmen der Finanzkrise intensiv fürWachstumspakete und Wachstumsstimuli eingesetzt ha-ben. Das haben Sie jetzt verdammt.
Wir haben das damals klug gemacht. Es hat dazu ge-führt, dass wir 2011 kaum zusätzliche Arbeitslose hat-ten. Es hat funktioniert.
Wir haben damals darauf Wert gelegt, dass alles in einSondervermögen kommt und dass diese konjunkturellbedingten Schulden wieder getilgt werden, wenn bessereZeiten kommen. Wir haben jetzt bessere Zeiten, und derBundesbankgewinn sollte eigentlich dort hineinfließen.Das ist aber nicht der Fall. Ich erwarte – das werden wirals SPD auch vorschlagen –, dass wir im Rahmen derBeratungen die Schulden, die aufgenommen wurden, umin der Wirtschaftskrise gegenzusteuern, zurückführen.Auch darauf gibt es von Ihnen keine Antwort.
Nein, es geht immer nur um höhere Schulden. Es gibtkeine Zukunftsorientierung und keine Rückstellungenfür zusätzliche Risiken, die es wegen des Engagementsin Griechenland und anderen Ländern natürlich gibt.
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20680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Carsten Schneider
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Von daher ist das auf Sand gebaut, meine Damen undHerren. Der Kitt der Koalition ist das Geld und die hoheVerschuldung, die gemacht wird, um noch irgendwie zu-sammenzubleiben.
Es wäre nicht nur gut für dieses Land, sondern auchfür die dauerhafte Tragfähigkeit unserer öffentlichen Fi-nanzen, dass wir einen leistungsfähigen Staat erhaltenkönnen, von der Neuverschuldung herunterkommen unddadurch in der Zukunft geringere Zinsausgaben haben.Das wird nur gelingen, wenn dieses Land wieder hand-lungsfähig ist. Dazu müssen Sie abtreten.
Das Wort hat nun Jürgen Koppelin für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach deiner Rede, lieber Carsten Schneider, grüße icherst einmal die Bürgerinnen und Bürger in Minden.Deine Rede war jedenfalls für den Marktplatz von Erfurtnicht geeignet, um das einmal festzuhalten.
Wir nehmen mit dem Entwurf des Nachtragshaushal-tes notwendige Korrekturen im Bundeshaushalt 2012vor. Damit können die Bürgerinnen und Bürger erken-nen, dass diese Koalition auf Haushaltswahrheit undHaushaltsklarheit Wert legt.
Staatssekretär Steffen Kampeter hat schon darauf hinge-wiesen: Dieser Nachtrag zum Bundeshaushalt 2012wurde notwendig, um unseren Beitrag zur Eindämmungder Krise in einigen Euro-Staaten zu leisten. Der deut-sche Beitrag wird nicht umsonst gewährt; das will ichhier festhalten. Wir verlangen dafür, dass andere euro-päische Staaten nach deutschem Vorbild zu einer solidenHaushalts- und Arbeitsmarktpolitik zurückkehren.
Die Alternative zu diesem Nachtragshaushalt hat derKollege Schneider nicht aufgezeigt. Wenn Sie in der Re-gierung wären und das umgesetzt hätten, was Sie – nichtnur Carsten Schneider, sondern auch andere – in den De-batten mehrfach vorgetragen haben, dann müssten Steu-ererhöhungen beschlossen werden – das müssen die Bür-ger wissen – und Euro-Bonds eingeführt werden. Dashieße Vergemeinschaftung von Schulden und Zinsen aufStaatsanleihen. Das alles hätte eine weit höhere Belas-tung für unseren Bundeshaushalt zur Folge. Dazu sindwir nicht bereit.
Mir fiel schon bei den Reden in der Aktuellen Stundeauf: Mir fehlt bei allen notwendigen politischen Aus-einandersetzungen, dass wir alle gemeinsam erklären,dass wir stolz auf unser Deutschland sein können. Wirkönnen stolz auf unser Land sein. Ich jedenfalls bin stolzauf das, was wir und die Menschen hier in Deutschlandleisten. Die anderen europäischen Länder schauen aufDeutschland. Ich sage ausdrücklich: Ich bin auch stolzdarauf, in dieser Zeit in Deutschland zu leben.
Weniger Arbeitslose, kaum Jugendarbeitslosigkeitund eine nach wie vor gute Konjunktur, das alles zusam-men bringt dem Bundeshaushalt Mehreinnahmen. Darankönnen wir uns erfreuen. Das haben die Menschen in un-serem Land erarbeitet. Das haben sie sich verdient. DenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sei an dieserStelle gedankt für das, was sie geleistet haben, genausoder deutschen Wirtschaft, den Gewerkschaften und denvielen mittelständischen Unternehmen. Allerdings wares diese Koalition, die die entsprechenden Rahmenbe-dingungen und Voraussetzungen geschaffen hat. In die-sem Zusammenhang nenne ich das Wachstumsbeschleu-nigungsgesetz als Beispiel. Auch dieses Gesetz hat dazugeführt, dass wir heute da stehen, wo wir sind, und dasswir stolz sein können. Gestern schrieb selbst die Süd-deutsche Zeitung: „Der Aufschwung hält an“. Daraufkönnen wir stolz sein. Dass die Arbeitslosenzahlen sin-ken, darauf können wir stolz sein. Die Bundesregierungstapelt noch tief. Die Prognosen der Experten sind teil-weise viel besser. Ich finde es auch in Ordnung, dass wiretwas tiefer stapeln. Wir sollten uns jedenfalls freuen.Die Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten einen vielstärkeren Wirtschaftsaufschwung als die Bundesregie-rung.Ich sage Ihnen aufgrund der Zurufe sehr deutlich:Wenn Sie damals unter Rot-Grün eine solche Bilanz hät-ten vorweisen können, dann hätten Sie dafür gesorgt,dass in jedem kleinen Kaff, in jedem Dorf und in jederStadt rot-grün angestrichene Denkmäler für JoschkaFischer und Gerhard Schröder aufgestellt worden wären.Aber Sie haben eine solche Leistung wie diese Koalitionnicht erbracht. Wir sind stolz auf das, was wir geleistethaben.
Den Medien können Sie entnehmen – das ist das Er-gebnis unserer Politik –: Deutschland ist die Lokomotivebeim Wachstum in Europa. – Darauf müssen wir dochgemeinsam stolz sein. Das hat diese Regierung geleistet.
– Ich habe extra eine kleine Pause gemacht, weil in mei-nem Manuskript „Zurufe von der Opposition“ steht. Ichbleibe bei meiner Meinung: Sie sind der Auffassung,dass wir in Deutschland so toll dastehen, weil Sie eine so
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20681
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
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gute Opposition sind. – Bitte bleiben Sie weiterhin in derOpposition, wenn das Ihr Verdienst ist. Ich möchte näm-lich, dass der Aufschwung anhält.
Noch ein Wort zu Nordrhein-Westfalen. Die dort be-triebene Haushaltspolitik sieht wie folgt aus: HanneloreKraft setzt in Nordrhein-Westfalen auf vorsorgende So-zialpolitik, die sie mit Schulden finanzieren will. PeerSteinbrück, auch aus Nordrhein-Westfalen, hat Steuerer-höhungen gefordert, um den Haushalt zu sanieren. IhrKonzept bedeutet höhere Steuern und höhere Schulden,nichts anderes. Das wollen wir nicht. Das ist nicht unserePolitik. Wir möchten, dass Deutschland die Wachstums-lokomotive in Europa bleibt. Gestern war in den Zeitun-gen zu lesen – auch daran sollten Sie sich erfreuen –:Berlin erfüllt Maastricht-Kriterien – Konsolidierungschneller als von Brüssel vorgeschrieben. – Dafür sageich der Bundesregierung, dem Finanzministerium unddem Wirtschaftsministerium, aber auch der Bundeskanz-lerin Dank, die hart für unser Land verhandelt.
Das Wort hat nun Dietmar Bartsch für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Jürgen Koppelin, die Rede hat mich doch ein bisschen
an eine Zeit erinnert, in der der Regierung und allen
Menschen gedankt worden ist. Ich glaube, das ist bei
dieser Bilanz hier wahrhaftig nicht angesagt.
Herr Kampeter, ich will Sie an die Haushaltsberatung
für das Jahr 2012 erinnern; die ist noch nicht sehr lange
her. Einige Redner der Opposition haben darauf auf-
merksam gemacht, dass es vielleicht einen Nachtrags-
haushalt geben könnte. Erinnern Sie sich an Ihre Re-
aktion? Niemals, hier ist genügend Luft, dass wir das
hinkriegen, haben Sie gesagt. Jetzt ist eine andere Situa-
tion. Nun frage ich Sie hier und heute – vielleicht kann
Herr Barthle darauf eingehen –: Wird das denn ange-
sichts der Risiken, die wir haben – Zinsen, europäische
Entwicklung, Konjunktur –, der letzte Nachtragshaushalt
in diesem Jahr sein? Beantworten Sie einfach diese
Frage.
Der Bundestag soll heute – das will ich deutlich
sagen – 8,7 Milliarden Euro weitere Schulden beschlie-
ßen. Nun klingt das angesichts der Milliardenbeträge,
über die wir hin und wieder reden,
nicht einmal so sehr viel. Ich will das aber einmal mit
meinem Bundesland, Mecklenburg-Vorpommern, ver-
gleichen. Der Gesamthaushalt dieses Bundeslands be-
trägt 7,1 Milliarden Euro. Sie schlagen heute weitere
8,7 Milliarden Euro vor. Zur Wahrheit: 34,8 Milliarden
Euro neue Schulden will die Bundesregierung in diesem
Jahr machen.
Die Schulden der Regierung in dieser Legislaturpe-
riode nach dem bisherigen Verlauf und nach dem, was
Sie planen, belaufen sich auf 142 Milliarden Euro. Es
hat noch keine Legislaturperiode gegeben, in der so viele
Schulden aufgenommen worden sind. In diesem Jahr,
2012, sind es 34,8 Milliarden Euro. Das gab es nur zwei-
mal, 1996 und im Jahr 2010, als Herr Schäuble auch
schon Verantwortung getragen hat. Jeweils waren der
Kanzler und der Finanzminister von der Union. Das ist
Ihre Bilanz. Sie reden von Konsolidierung, aber das Ge-
genteil ist richtig.
Sie verschulden das Land. Das ist das, was Sie vorzu-
weisen haben.
Herr Schäuble will sich offenbar das Abonnement auf
den Titel „Schuldenminister“ reservieren. Das ist die re-
ale Bilanz. Sie verspielen die Zukunft in diesem Land.
Deutschland hat vor allen Dingen kein Recht, sich mit
dieser Schuldenpolitik als Vorbild in Europa darzustel-
len. Ich sage es klar und deutlich: Niemand in der Lin-
ken findet die Verschuldung der öffentlichen Haushalte
in Deutschland in irgendeiner Weise unproblematisch
oder gar gut. Aber es kommt natürlich darauf an, wofür
man neue Schulden macht.
Wir haben seinerzeit Konjunkturprogrammen sehr wohl-
wollend gegenübergestanden und es für richtig gehalten,
zum Beispiel den Kommunen zu helfen. Sie aber wollen
mit den Schulden die Märkte beruhigen, das Vertrauen
der Märkte zurückgewinnen und andere psychotherapeu-
tische Maßnahmen finanzieren. Nicht wenn die Märkte
nervös reagieren, sondern wenn Arbeitsplätze verloren
gehen, wenn Kinder in Armut sind, dann sollte Politik
reagieren, aber nicht bei nervösen Märkten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fricke?
Ich gestatte eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke.
Herr Kollege Bartsch, man kann politisch unter-schiedlicher Ansicht sein, und die Frage, was richtig
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20682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Otto Fricke
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oder falsch ist, werden spätere Generationen beantwor-ten. Aber wenn es um Zahlen geht, sollten wir Haushäl-ter immer genau sein. Habe ich Sie richtig verstanden,dass Sie gesagt haben, dass die Koalition in dieser Legis-laturperiode, also in den Jahren 2010, 2011, 2012 und2013, neue Schulden in Höhe von 142 Milliarden Euromachen wollte? Könnten Sie mir sagen, wie Sie zu die-ser Summe kommen? Vielleicht habe ich irgendetwasnicht mitbekommen und Sie können mich schlauma-chen. Mir ist nicht ganz klar, wie die Summe von142 Milliarden Euro in den Jahren 2010 bis 2013 zu-stande kommt.
Das sind vier Jahre, und zu der Zahl komme ich, Kol-
lege Fricke, durch Addition der vier Jahre.
Ihre Partei schlägt in dieser Situation sogar Steuersen-
kungen vor.
– Nein, wenn man die Jahreszahlen addiert, kommt die
Summe nicht heraus. Die Frage habe ich eben beantwor-
tet. – Sie schlagen weitere Steuersenkungen vor, womit
Sie das Haushaltsdefizit offensichtlich noch vergrößern.
Sie haben nie Geld, wenn es um sozial Benachteiligte
geht, wenn es um gute Arbeit geht, von der man leben
kann, wenn es um die finanziell ausgebluteten Kommu-
nen geht. Dafür haben Sie nie Geld. Sie setzen seit Jah-
ren die Interessen des Geldkapitals durch und nicht die
Interessen der Menschen. Letztere stehen nicht ganz
oben auf Ihrer politischen Agenda. Ihre Versuche zur
Therapie der Finanzmärkte sind der falsche Weg. Es ist
eben nicht so, dass das Stabilität in Europa gebracht hat.
Wir haben in Deutschland ein Einnahmeproblem. Wa-
rum denken Sie in dieser Situation nicht einmal darüber
nach, die Einnahmen in diesem Land zu erhöhen?
Warum ist es absurd, über eine Millionärsteuer nachzu-
denken? Warum kann man in dieser Situation nicht mal
den Spitzensteuersatz erhöhen? Der war zu Ihrer Zeit bei
53 Prozent, und Helmut Kohl war doch kein Linksradi-
kaler. Warum denken Sie darüber nicht nach? Warum ist
eine Anhebung der Erbschaftsteuereinnahmen nicht
möglich? Bis 2020 werden in Deutschland 2,6 Billionen
Euro vererbt. Davon sind über 43 Prozent Geldvermö-
gen. Warum ist das nicht möglich? Warum können wir
nicht den Steuervollzug verbessern und so zu höheren
Steuereinnahmen kommen?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Barthle?
Ich gestatte auch eine Zwischenfrage des Kollegen
Barthle.
– Nein. Gern!
Herr Kollege Bartsch, ich wollte einfach noch einmal
nachfragen, ob die Additionen nach den Grundregeln
von Adam Riese stattfinden. Ich führe mir einmal die
Zahlen vor Augen: Wir haben im Jahr 2010 44 Milliar-
den Euro neue Schulden gemacht. Wir haben im Jahr
2011 17 Milliarden Euro neue Schulden gemacht. Das
macht nach meiner Rechnung zusammen 61 Milliarden
Euro. Wenn ich dann noch dazurechne, was wir viel-
leicht – vielleicht! – im Jahr 2012 laut Finanzplan an
neuen Schulden machen könnten – maximal sind das
34,8 Milliarden Euro inklusive Nachtragshaushalt –,
dann komme ich immer noch auf eine Zahl von unter
100 Milliarden Euro. Allerdings muss man hinzufügen,
dass das Jahr 2012 noch nicht zu Ende ist.
Das ist die maximal mögliche Nettokreditaufnahme. Die
Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, dass wir jedes
Jahr weniger Schulden gemacht haben, als wir hätten
machen können.
Also: Nach welchem Rechenmodus haben Sie ge-
rechnet? Das würde mich interessieren.
Wie Ihrem Kollegen Fricke antworte ich auch Ihnen:durch Addition.
Sie waren für drei Jahre bei knapp 100 Milliarden Euro.Es gibt aber noch ein Jahr davor, für das Sie auch schondie Bilanz vorgelegt haben. Wenn Sie das addieren,kommen Sie auf die von mir genannte Zahl.
Ich fordere Sie auf, die Bundesregierung und die Bun-deskanzlerin, vor allen Dingen die von Ihnen gemachtenVersprechen einzulösen, nämlich die Finanzmärkte end-lich spürbar zu kontrollieren und zu regeln. Das wäre dierichtige Maßnahme. Ich will Ihnen eine Zahl sagen: Al-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20683
Dr. Dietmar Bartsch
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lein der Handel mit unregulierten Finanzprodukten be-trug im ersten Halbjahr 2011 708 Billionen Dollar. Dasist fast das Zehnfache der gesamten Weltwirtschaftsleis-tung. Das steigt weiter an. Da müssen Sie etwas tun. Esist doch einfach irre, was da passiert. Das Kasino mussgeschlossen werden. Frau Merkel hat im DeutschenBundestag gesagt, dass sie sich dafür einsetzt, aber fak-tisch ist nichts passiert.Die Linke hat den ESM abgelehnt und lehnt logi-scherweise auch den Nachtragshaushalt ab.
– Sie wird ihn ablehnen, Kollege Fricke.
Die Rettungsschirme dienen fast ausschließlich den Ban-ken. Es ist nicht so, Herr Kampeter, dass mehr Stabilitätin Europa eingetreten ist. Gucken Sie sich doch einmaldie Entwicklung in Griechenland an: das fünfte Jahr Re-zession, Wirtschaftswachstum: minus 7 Prozent, Ar-beitslosigkeit bei fast 20 Prozent, Unruhen.
Da sprechen Sie von Stabilität in Europa? In Griechen-land ist die siebte Regierung in eine Krise gekommen –und das dank der Politik von Sarkozy und Merkel. Undda sprechen Sie von Stabilität in Europa? Wir gefährdenmit dieser Politik die Demokratie.
Herr Monti und Herr Papademos haben sich niemalseiner Wahl gestellt. Sie sind faktisch in Brüssel ernanntworden. Was ist denn das für eine Entwicklung? Und dasprechen Sie von Stabilität in Europa? Dieser Kurs hatInstabilität in Europa gebracht. Das ist das Ergebnis Ih-rer Politik!
Nicht nur dieser Nachtragshaushalt ist falsch, sondernIhr gesamter europapolitischer Kurs ist falsch. Wenn Sienicht endlich die Finanzmärkte regulieren, wenn Sienicht endlich die Banken an die Kandare nehmen, wennSie nicht dafür sorgen, dass endlich für die Schwächerenin Europa etwas getan wird, dann wird dieser Kursscheitern, und wir werden noch viel größere Problemebekommen als bisher.Ich bedanke mich.
Priska Hinz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Was von den vielen Sachen?
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DerNachtragshaushalt ist vor allen Dingen notwendig, weildie Einzahlungen in den europäischen Rettungsfonds ge-tätigt werden müssen. So weit, so gut. Für diesen ständi-gen Rettungsschirm sind wir auch, und wir sind auch da-für, dass Einzahlungen geleistet werden. Nur muss manganz deutlich sagen, dass vonseiten der Regierung undder Koalition in den letzten Jahren keine Vorsorge dafürgetroffen wurde, dass man auch in Deutschland für dieEuro-Rettung aufkommen muss, und das schlägt sich indiesem Zahlenwerk nieder.
Sie haben sich doch die ganze Zeit – und machen esweiterhin – auf der guten Konjunktur ausgeruht und ha-ben keine Vorsorge dafür getroffen, dass die Nettokredit-aufnahme gesenkt werden muss und jetzt, mit der Zah-lung der Tranche, nicht steigen darf.Wenn ich erinnern darf: Im Haushalt 2012 hat die Ko-alition noch einmal 1 Milliarde Euro gegenüber demEntwurf des Finanzministers draufgelegt und die Netto-kreditaufnahme erhöht. Dann hat Kollege Barthle An-fang des Jahres noch groß gesagt: Wenn wir die Tran-chen für den ESM einzahlen, dann muss das im Rahmendieser Nettokreditaufnahme stattfinden.
– Ja, aber selbst wenn Sie damals von einer ausgegangensind, so hätten Sie jetzt nicht einmal die eine aus der vor-handenen Nettokreditaufnahme finanzieren können.Nein, Sie legen 8,7 Milliarden Euro obendrauf. Das sindgenau die zwei Tranchen. So ist das mit den Ankündi-gungen der Koalition.
Wenn man zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme undKorrektur dieses Haushalts für 2012 kommen will, dannmuss man auch eine ehrliche Bilanz der Risiken ziehen,die auf uns zugekommen sind und noch auf uns zukom-men werden. Auch das versäumen Sie mit dem Nach-tragshaushalt.Es gibt mit der Umschuldung Griechenlands jetzt dieNotwendigkeit, dass man 9 Milliarden Euro im SoFFinabschreibt. Dafür ist er aber ursprünglich überhauptnicht vorgesehen gewesen.
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20684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Priska Hinz
(C)
(B)
– Nein, diese Abschreibung erfolgt wegen der Umschul-dung Griechenlands und ist eine Folge der Staatsschul-denkrise.Deswegen sind wir der Meinung: Dies muss sich auchim Nachtragshaushalt abbilden; denn es gehört Ehrlich-keit in die Debatte. Die Euro-Rettung kostet uns etwas,und es macht keinen Sinn, das in Schattenhaushalte zustecken. Das hätten Sie nämlich gerne, dass über Schat-tenhaushalte hier nicht diskutiert wird. Wir sind der Mei-nung: Das muss hier ehrlich auf den Tisch.
Zur ehrlichen Bilanz gehört auch, dass die Privatisie-rungserlöse von 5 Milliarden Euro, die Sie etatisiert ha-ben, wahrscheinlich überhaupt nicht kommen werden.Was ist denn mit dem Verkauf des Duisburger Hafens?Dort passiert doch gar nichts.
5 Milliarden Euro stehen als Privatisierungserlöse alsEinnahmen im Haushalt, und interessanterweise hat derAnkündigungsmeister, der Bundesvorsitzende der FDP,gesagt, Sie wollen die Nettokreditaufnahme null in 2014schaffen, vor allem auch mit weiteren Privatisierungs-erlösen.So, dann gucken wir uns doch den Nachtragshaushalteinmal an! Was steht drin? Eine höhere Verpflichtungs-ermächtigung von 600 Millionen Euro für den Ankaufvon EADS-Anteilen für das Wirtschaftsministerium.Wirtschaftsminister ist Herr Rösler. So weit ist es dannmit den Privatisierungslösen. Das ist weder marktwirt-schaftlich sinnvoll, noch dient es dazu, die Nettokredit-aufnahme null hinzukriegen. Nein, das sind Mehrausga-ben für weitere Ankäufe von bisher privatisiertenAnteilen.Zu einer ehrlichen Bilanz gehört auch, festzustellen,dass die Energiewende nicht finanziert ist.
Über den EKF sind Sie vorhin so nonchalant hinwegge-gangen, Herr Kampeter. Sie sagten: In Energie wird in-vestiert. – Ja, aber in Energie wird lange nicht das inves-tiert, was notwendig wäre, um diese Herkulesaufgabe zuschaffen. Es fehlen nämlich fast 330 Millionen Euro imEnergie- und Klimafonds.
– Wenn man noch mehr in die Energiewende investierenwill, wie es die Grünen zum Beispiel fordern, dann fehltnoch mehr Geld. Aber gemessen an der Rechnung derBundesregierung fehlt fast das Vierfache dessen, was Sieals Liquiditätsdarlehen in den Nachtragshaushalt einstel-len. Davon kann man eine Energiewende nicht finanzie-ren.
Es ist auch ein Problem, dass wir es so versäumen,nachhaltiges Wachstum zu generieren und damit mehrSteuereinnahmen zu erhalten, Fachkräfte im Land zuhalten und somit eine strukturelle Verbesserung desHaushalts zu schaffen. Sie ruhen sich auf der derzeitigenkonjunkturellen Lage aus und sind nicht bereit, struktu-relle Reformen zu machen, weder im Haushalt 2012noch mit diesem Nachtragshaushalt.
Darüber hinaus sind Sie vollends in den Wahlkampf-modus gefallen und sind uns nicht gefolgt. Mit unserenVorschlägen für den Bundeshaushalt 2012 wäre die Net-tokreditaufnahme um 5 Milliarden Euro gesunken. Siemachen jetzt, wie gesagt, keine strukturellen Reformen.Und: Es fallen gerade alle Hemmungen, was weitereVersprechen angeht. Das Betreuungsgeld wurde schonangesprochen: Im nächsten Jahr sind es 400 MillionenEuro, im Jahr 2014 sind es 1,2 Milliarden Euro. De-ckung? Keine vorhanden. Ich möchte wissen, woher dasGeld bei all den Risiken, die wir noch vor uns haben,kommen soll. Das Betreuungsgeld soll mit einer Verbes-serung bei den Rentenanwartschaften für die Kinderer-ziehungszeiten erkauft werden. Das kostet zwischen8 Milliarden Euro und – nach den neuesten Berechnun-gen des Finanzministeriums – 13 Milliarden Euro. Aberwir haben weder die 8 Milliarden noch die 13 MilliardenEuro, um sie für ein Betreuungsgeld auszugeben, das dieEltern zu Hause lässt, anstatt ihnen die Möglichkeit zugeben, dass sie als Fachkräfte hier in Deutschland arbei-ten. Wir brauchen sie – angesichts der demografischenEntwicklung und auch angesichts der Tatsache, dass wirdie Bildungsbenachteiligung und auch die soziale Aus-grenzung von Kindern in diesem Land zurückdrängenmüssen. Es ist das Gegenteil von dem, was wir brau-chen, was im Zahlenwerk des Nachtragshaushalts zu fin-den ist.
Frau Kollegin, Sie kommen zum Ende, bitte.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ich komme zum Schluss. – Sie haben im Wahlkampf-
modus in Nordrhein-Westfalen mit dem Spitzenkandida-
ten Röttgen Versprechungen zur Pendlerpauschale ge-
macht.
Frau Kollegin.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Hier wünsche ich Ihnen eine gute Verrichtung, wasich nicht hoffen möchte, Herr Kollege Kampeter; denndas müssten die Länder und Kommunen tragen. Deswe-gen kann ich nur sagen: Auch das werden wir nicht mit-machen, genauso wie die Beschlussfassung des Zahlen-werks, das Sie uns vorgelegt haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20685
Priska Hinz
(C)
(B)
Der Kollege Bartholomäus Kalb hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich will auf das, was der Kollege Bartschund auch die Kollegin Hinz gesagt haben, eingehen. Siesagten, wir hätten erklärt, es gebe keinen Nachtragshaus-halt. Im Laufe der Beratungen konnten wir uns durchausvorstellen, dass wir, wenn – wie ursprünglich vorgese-hen – eine Rate in den europäischen Stabilitätsmechanis-mus eingezahlt werden sollte, dies im Haushaltsvollzughätten darstellen können. Die Verhandlungen waren sei-nerzeit noch nicht abgeschlossen. Dann hat man sich– wie ich meine, begrüßenswerterweise – dazu durchrin-gen können, dass man schon in diesem Jahr zwei Raten,also einen Betrag von 8,7 Milliarden Euro, einzahlt, umden ESM, den Europäischen Stabilitätsmechanismus,schneller funktionsfähig zu machen. Da war von vornhe-rein klar – das ist von uns und der Bundesregierung im-mer wieder gesagt worden –, dass das nur im Rahmen ei-nes Nachtragshaushalts darzustellen sei.Ich will den Linken nicht zu viel Ehre antun, HerrKollege Bartsch: Es ist schon auffallend, wenn bis zum26. April um 14.50 Uhr nur Forderungen nach Mehraus-gaben, neuen Schulden und weniger Sparmaßnahmenkommen und wenn Sie dann um 14.57 Uhr Vorwürfe er-heben, wir würden zu viele Schulden machen. Irgendwopasst das alles nicht zusammen.
Ich habe schon darauf hingewiesen: Wir begrüßen es,dass der ESM – der Europäische Stabilitätsmechanis-mus – schneller seine Funktionsfähigkeit erlangen soll.Deswegen machen wir diesen Nachtragshaushalt. Auchwenn wir in diesen Tagen unzählige Mails erhalten, dieuns auffordern, dem nicht zuzustimmen, kann ich nur sa-gen: Niemand kann uns die Verantwortung abnehmen.Wir aber tragen die Verantwortung für die Stabilität un-serer Währung und damit auch für den Wohlstand derMenschen in der Euro-Zone sowie für die wirtschaftli-che Entwicklung in Europa und darüber hinaus.Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Nach-tragshaushalt werden richtigerweise auch alle notwendi-gen zwischenzeitlich eingetretenen oder zu erwartendenVeränderungen dargestellt. Kollege Barthle hat schon ineinem Zwischenruf darauf hingewiesen, dass wir von ei-ner Vertrauensdividende profitieren, weil unsere Zins-ausgaben deutlich niedriger kalkuliert werden könnenund die Finanzmärkte, die Anleger und alle Partner gro-ßes Vertrauen in Deutschland und seine Regierung ha-ben. Wir stellen immer wieder fest, dass die Bundesre-gierung mit Angela Merkel an der Spitze und mitBundesfinanzminister Schäuble mittlerweile einen un-glaublich guten Ruf genießt, in Europa, aber auch weitdarüber hinaus. Ich war letzte Woche in den USA. Dortist bestätigt worden, dass man gerade auf diese Bundes-regierung unter der Führung von Angela Merkel setzt.
Kollege Schneider hat darauf hingewiesen, dass dieÜberweisung des Bundesbankgewinns geringer ausfällt.Die Bundesbank lässt das Vorsorgeprinzip walten,
und sie handelt in absoluter Unabhängigkeit, was wirgestern im Haushaltsausschuss, lieber Kollege Fricke,noch einmal deutlich zum Ausdruck gebracht haben.Ich will darauf hinweisen, dass die Erhöhung der Net-tokreditaufnahme ausschließlich dadurch begründet ist,dass wir die erwähnte höhere Einzahlung vornehmen.Das hat aber keine Auswirkungen auf die Entwicklungdes strukturellen Defizits oder auf die Einhaltung derMaastricht-Kriterien, ganz im Gegenteil: Wir werdenalle Anforderungen der Schuldenbremse, wie sie imGrundgesetz verankert sind, schneller und konsequentererfüllen, als das vorauszusehen war. Wir haben den Ehr-geiz, bis 2016 einen ausgeglichenen Bundeshaushaltvorlegen zu können. Jedenfalls werden wir alle verfas-sungsmäßigen Vorgaben der Schuldenbremse exakt er-füllen. Unser Ziel ist es jedoch, bis 2016 keine neuenSchulden mehr für den Bundeshaushalt aufzunehmen.
Damit werden wir in der Lage sein, den Bundeshaus-halt nachhaltig und dauerhaft zu konsolidieren. Das istwichtig für Deutschland, aber auch für Europa und da-rüber hinaus. Wir alle wissen – Staatssekretär SteffenKampeter hat es sehr eindrucksvoll dargestellt –, dassdie Ursache für die Krise die übermäßigen Defizite unddie übermäßigen Anstiege der Staatsverschuldung wa-ren. Das kann niemand mehr bezweifeln.
Wir müssen zurück zu einer Stabilitätskultur in Eu-ropa. Das haben wir mit dem Fiskalpakt eingeleitet.Auch aus diesem Grunde werben wir für Ihre Zustim-mung. Sie sollten hier mitmachen und nicht das gleicheSpiel betreiben, das Sie in Ihrer Regierungsverantwor-tung betrieben haben, nämlich die Stabilitätskultur zuunterminieren und die Stabilitätskriterien aufzuweichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brau-chen darüber hinaus in Europa Wachstumsimpulse. Hierist auch die europäische Politik gefordert, neben derKonsolidierung die richtigen Anreize zu setzen. Dassollte nicht zu sehr im konsumtiven Bereich geschehen,sondern eher im strukturellen und im investiven. Hierkann man mit Multiplikatoreffekten mittel- und langfris-tig die Leistungsfähigkeit der europäischen Volkswirt-
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20686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Bartholomäus Kalb
(C)
(B)
schaften dauerhaft stärken. Wir haben in Deutschlanddiese strukturellen Reformen durchgeführt, auch im ver-gangenen Jahrzehnt – das will ich überhaupt nicht be-streiten –, und werden sie notwendigerweise weiterdurchführen. Wir haben damit gute Erfahrungen ge-macht: Heute haben wir eine Arbeitslosigkeit, die soniedrig ist, wie wir es uns gar nicht vorstellen konnten.
Herr Kollege.
Die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft ist so
hoch, wie wir gar nicht erwarten konnten. Auch die öf-
fentlichen Einnahmen sind besser, als zu erwarten war.
Das hat auch etwas damit zu tun, dass die Hausaufgaben
von uns erfolgreich gemeistert wurden.
Herzlichen Dank.
Der Kollege Johannes Kahrs hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Kollege Kalb hat eben seine Rede dan-kenswerterweise mit den Worten beendet, dass die Haus-aufgaben gemacht worden sind, dass deswegen die Ein-nahmen steigen, dass deswegen die Lage in Deutschlandstabil ist, dass wir der Stabilitätsanker in Europa sind.
Diesen Dank an Rot-Grün, an Gerhard Schröder undJoschka Fischer nehmen wir dankend an. Das Problemist: Ihre Politik hat leider nichts dazu beigetragen.
Ihre Politik, über die wir heute hier reden, hat zu diesemErgebnis, das Sie hier gelobt haben, nichts beigetragen.Der Staatssekretär Kampeter ist der, der das heute amdeutlichsten gesagt hat. Er hat sich bei zehn Minuten Re-dezeit anderthalb Minuten beim Nachtragshaushalt auf-gehalten, bevor er dann in den Landtagswahlkampf inNordrhein-Westfalen eingestiegen ist. Wenn man sichanguckt, was der Kollege Kampeter zum Besten gege-ben hat, wird man feststellen können, dass er auch als Fi-nanzminister von Nordrhein-Westfalen nichts taugt,nicht als Staatssekretär, aber schon gar nicht als Finanz-minister.
Das Land hat Probleme genug. Wenn man sich überlegt,wie die Verschuldung unter einer CDU-FDP-Regierungin Nordrhein-Westfalen ausgesehen hätte, dann weißman, was für ein Segen Rot-Grün für Nordrhein-Westfa-len ist.
Dann weiß man aber auch, warum dieser Staatssekretärnicht über den Nachtragshaushalt geredet hat.Ganz besonders dankbar bin ich dem KollegenBartsch, der in Teilen eine sehr sozialdemokratischeRede gehalten hat. In Teilen! Also nicht übermütig wer-den.
Er hat einmal aufgelistet, wie die Verschuldung dieserBundesregierung aussieht. Wir gehen von den Dingenaus, die Sie hier aufgezählt haben: 44 Milliarden EuroNeuverschuldung in 2010, 17 Milliarden in 2011; in die-sem Jahr landen wir bei 34 Milliarden.
– Sie haben gleich vier Minuten Redezeit; das sind dreiMinuten zu viel.
Aber in vier Minuten Redezeit können Sie alles sagen,was Sie sagen wollen, Herr Kollege.Im Ergebnis muss man einfach feststellen, dass Sieohne Ende Schulden machen, sich dann hinstellen undständig von „Stabilität“ reden und erklären, wie toll Siesind und was Sie alles getan haben; aber selbst Ihre eige-nen Redner sagen, dass Sie damit nichts zu tun haben,weil die Grundlage dafür zu rot-grünen Zeiten gelegtwurde. Da wäre es schön – das muss man einfach einmalsagen –, wenn Sie Danke sagen, ein bisschen Abbitteleisten und sich eine Runde schämen würden.
Es wird dann immer gesagt – das ist der Lieblingssatzdes Kollegen Kampeter –: Die Sozis wollen nur neueSchulden machen. – Man kann ja einmal die Schuldenaddieren und sich angucken, was hier alles versprochenwird, zum Beispiel bei der Pendlerpauschale. Das istauch so ein lustiger Wahlkampfgag. Wir haben das eben-falls bei der FDP in Schleswig-Holstein erlebt, die neu-erdings auch für Steuererhöhungen ist.Wir haben uns einmal angeschaut, was wir zumThema Betreuungsgeld zu hören bekamen. Das kannman in der Zeitung lesen. Ich lese relativ selten dieFrankfurter Rundschau, aber manchmal lese ich siegern. Da steht ein wunderbarer Satz.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20687
Johannes Kahrs
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– Ja, ganz ruhig bleiben. Trotzdem ist es wahr. – Wennman sich anguckt, was die Zeitung geschrieben hat, dannversteht man, wie es zu dem Betreuungsgeld gekommenist: Auf der einen Seite musste die CSU entschädigt wer-den. Jetzt kommt man hier mit höheren Ausgaben beider Rente, die man auch wieder nicht gegenfinanziert.Das heißt, man hat auf der einen Seite ein nicht finan-ziertes Versprechen, das Teile der Koalition ablehnen.Dann kommt ein anderes nicht finanziertes Versprechen,mit dem man die Finanzierung des anderen ermöglichenwill. Wir reden aber immer noch von Geld, das gar nichtda ist.
Natürlich fallen uns allen viele Dinge ein, die schönwären; bei der Pendlerpauschale ist Ihnen ja auch nochetwas eingefallen. Aber im Ergebnis wissen wir doch,dass wir nicht nur bei einem Nachtragshaushalt landen,sondern bei mehreren und dass die Zahl, die der KollegeBartsch genannt hat, am Ende vielleicht sogar richtigwerden kann, wenn das, was Sie wollen, Realität wird.
Wir wissen, dass die Zahl so nicht gestimmt hat; das ha-ben wir inzwischen alle festgestellt, bis auf die Linken.Im Ergebnis muss man zur Kenntnis nehmen, dass diePolitik, die Sie hier machen, erstens dazu führt, dass Sielangfristig die Grundlage für neue Schulden legen.Zweitens. Mit der soliden Grundlage, die Rot-Grün ge-legt hat
– weswegen dieses Land mit seinen fleißigen Bürgernund den Unternehmen funktioniert, die Ihnen Jahr fürJahr Steuermehreinnahmen ins Konto spülen –, wollenSie fahrlässig umgehen und im Nachtragshaushalt über-haupt keine Vorsorge treffen. Das ist doch alles absurd.Sie stellen sich hier dar als Hort der Stabilität. Ich meine:Der Kollege Kampeter ist wirklich humorvoll; ich magihn. Er ist ein feiner Kerl, aber auf der Sachebene ist ermanchmal ein bisschen schwach.
Das haben wir heute gesehen. In der Sache muss ich lei-der sagen: Setzen, sechs! – Er sitzt ja auch.
Wenn wir die Situation noch einmal genau betrachten,stellen wir fest: Im Vergleich zu 2011 haben sich dieSchulden verdoppelt. Nun wird das hier nicht erklärt,sondern man geht nach einer lapidaren Bemerkung ganzschnell zu den Landtagswahlkämpfen über, die Sie ver-lieren werden. Das ist doch peinlich! Ich weiß gar nicht,warum wir hier eigentlich sitzen und solchen Reden zu-hören.
Das kann man vielleicht in Minden oder anderswo tun– nebenbei bemerkt: auch dort würde ich es den Bürgernnicht zumuten wollen –, aber klar ist: Im Ergebnis mussman zumindest auf der Sachebene stark sein. Das ist hiernicht der Fall, das ist nicht gegeben.Wenn man das alles durchdekliniert, stellt man fest,dass selbst diejenigen, von denen Sie normalerweiseglauben, dass sie auf Ihrer Seite sind – lesen Sie sich diePresseerklärung der Bundesvereinigung der DeutschenArbeitgeberverbände oder des BDI durch –, Ihnen sa-gen:
So, wie Sie das machen, ist es nicht richtig, nicht solide.Dazu kommt noch die erhöhte Neuverschuldung. Ganzehrlich: Ich glaube, dass diese Debatte, wie wir sie hierführen, nicht zu mehr Vertrauen der Wähler in uns oderin die Politik insgesamt beiträgt. Der Einzige, der das er-wähnt hat, war der Kollege Kalb, ein braver Parteisoldatvon Angela Merkel.
Am Ende muss man leider feststellen: Es ist schwerzu verantworten, was Sie hier tun. In Zeiten, in denenSie Steuereinnahmen haben wie noch nie, leisten Sie we-der Vorsorge, noch legen Sie etwas zurück. Sie tunnichts dafür, um die wirtschaftliche Grundlage in diesemLand zu stärken. Sie geben Geld aus und behaupten danndröhnend das Gegenteil. Das ist unsolide, das ist unzu-verlässig. Abtreten, sechs!
Otto Fricke hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Abtre-ten, sechs“, sagte der Kollege Kahrs und trat ab. Sosollte und muss es sein.
Zu Beginn möchte ich auf etwas eingehen, Herr Kol-lege Kahrs, bei dem Sie ausdrücklich recht haben: WasRot und Grün in der Agenda 2010 machen mussten,nachdem man einsah, dass es so mit dem Haushalt nichtweitergehen konnte, war richtig.
Der Unterschied ist nur, dass all das Gute, das gemachtworden ist, in keiner Debatte – außerhalb von Haushalts-debatten – von irgendeinem Sozialdemokraten noch gut-geheißen wird. Das ist doch mit einer der Gründe, wa-rum die Linken existieren.
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20688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Otto Fricke
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Sie laufen den Linken jetzt wieder hinterher und stehennicht mehr zu dem Guten, das gemacht worden ist. Ichhabe überhaupt kein Problem damit. Ich glaube dochnicht, dass nur wir gute Sachen machen – ihr seid dochauch nicht blöd, das ist doch klar –, aber was ihr jetztmacht, das ist schon bemerkenswert.Der Haushalt – das sage ich denjenigen, die jetzt derDebatte zuhören –, das ist das Thema mit den Zahlen,das heißt, am Ende sind die Zahlen das Maßgebliche.Der Kollege Bartsch hat Zahlen genannt. Wenn man ihnfragt, ob die denn stimmen, dann versucht er auszuwei-chen und muss erkennen, dass sie nicht stimmen. Dannnennt der Kollege Kahrs eine Zahl zur Neuverschuldung2010, die er eigentlich auswendig können müsste, undverrechnet sich mal eben um ein paar Milliarden. Das istdann eben so.
Herr Kollege Kahrs, meine lieben Kolleginnen undKollegen von der Opposition, man sollte den Bürgerin-nen und Bürgern draußen schon sagen: Haushalt undVerschuldung kann man an zwei Dingen messen, näm-lich erstens daran, wie viel ich ausgebe, und zweitens ander Frage: Wie sieht eigentlich die Neuverschuldungdurch so eine Koalition in vier Jahren aus? Es ist schonbemerkenswert, wie Sie hier agieren.Wir könnten einfach Folgendes machen: Wir nehmenvier Jahre Rot-Grün, dann nehmen wir vier Jahre GroßeKoalition, und schließlich nehmen wir vier Jahre dieserKoalition.
– Jetzt kommt das Schöne. Es wird sofort gesagt: Milch-mädchenrechnung. Das ist genau das, was die Opposi-tion nicht hören will, nämlich dass die Koalition einenguten Haushalt vorlegt. Ihnen ist es zu Zeiten der rot-grünen Koalition in keiner der Legislaturperioden gelun-gen, unter den von uns maximal angesetzten 34,8 Mil-liarden Euro zu bleiben. Sie haben das kein einziges Malin Ihrer rot-grünen Zeit geschafft.
Sie lagen mit der Neuverschuldung immer darüber.Schauen Sie sich die Zahlen an.
– Welche Zahlen? Herr Kollege, ich kann das gerne ma-chen. Nehmen wir doch die Haushaltskennzahlen. Wol-len wir das jetzt wirklich alles an dieser Stelle Stück fürStück machen?
– Das hättet ihr gerne. Schaut euch die Zahlen an derStelle genau an.
– Stellt eine Zwischenfrage,
ich habe damit gar kein Problem.
Auch das muss man den Bürgern draußen sagen. Dannkann sich der Bürger die Haushaltskennzahlen in Ruheim Internet und an anderer Stelle angucken.
Ich komme zum nächsten Punkt. Die Opposition kriti-siert – so wie es jede Opposition tut – immer, dass dieRegierung zu viel ausgibt. Es ist ihr Recht, das zu tun.
Ich bitte jeden Bürger, der diese Rede hört, die Frage zustellen: Wie wollt ihr es denn konkret selber machen?Wenn ein Politiker ihm sagt, dass er mehr sparen will,hat er zwei Möglichkeiten.
Entweder gibt er weniger aus. Dann muss er sagen, woer weniger ausgibt. Das heißt, er muss dem Bürger ehr-lich sagen: Ich tue dir da oder dort weh, ich gehe andiese oder jene Förderung heran.
Die zweite Möglichkeit für den Politiker ist, zu sagen:Ich nehme dir mehr Geld weg, und zwar über dieseSteuer oder jene Abgabe. Das sind die zwei Wege, diePolitik hat.
Wenn die Opposition den Bürgern sagt, dass man spa-ren will,
dann müssen die Bürger fragen: „Wo wollt ihr die Steu-ern erhöhen?“, oder: „Wo wollt ihr etwas wegnehmen?“
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20689
Otto Fricke
(C)
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Eine Opposition – das gilt für jede Opposition, egal wel-che Partei sie bildet –, die sparen will, aber nicht sagt,wo, will in Wirklichkeit nicht sparen, sondern nur kriti-sieren.
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Wir haben fürEuropa Vorsorge zu treffen; denn – das ist das Wichtige,was vergessen wird – wenn Europa nicht funktionierensollte, wird es für uns alle viel schwieriger.
Ich sage das noch einmal, weil das Thema Europa imAugenblick für einen Politiker das schwierigste Themaist.
Derjenige Bürger, der zu einem kommt und sagt, dassman Europa kein Geld mehr geben soll, ist gleichzeitigderjenige, dem man erklären muss: Wenn wir Europa sonicht mehr haben, ist dein Arbeitsplatz gefährdet, ist dieAusbildung gefährdet, ist die Stabilität unseres Landesgefährdet.
Wenn Sie all dies einer gut funktionierenden Koalitionnicht glauben wollen
und sagen: „Das stimmt nicht, und das, was in Deutsch-land läuft, ist schlecht“, dann frage ich: Ist dies nicht ty-pisch deutsche Mentalität?
Ich empfehle Ihnen: Hören Sie sich einmal an, wasunsere Nachbarn sagen. Ich kenne keinen Nachbarn, dernicht sagt: Ich hätte so gerne die deutschen Arbeitslosen-zahlen.
Ich kenne niemanden in der Welt, der nicht sagt: Ichhätte gerne das deutsche Wirtschaftswachstum, ich hättegerne die deutschen Arbeitsplätze.
Das alles basiert auf vernünftiger, vorausschauender undehrlicher Politik sowie auf haushalterischer Stabilität, zuder auch gehört, rechtzeitig Nachtragshaushalte zu lie-fern.
Wenn ich die Zwischenrufe höre, merke ich: Man hatsich geärgert, dass das so ist.
Sie werden aber die gute Politik nicht ändern. Es wirdmit diesem Land – auch dank einer guten Koalition undeiner schlechten Opposition – weiter aufwärts gehen.Herzlichen Dank.
Der Kollege Norbert Barthle hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Eines fällt mir schon auf: Ich würdemir wünschen, dass die Opposition einmal die Größehätte, die erfolgreiche Konsolidierungspolitik der Bun-desregierung und dieser Regierungskoalition zu würdi-gen und zu loben. Das würde ihre Argumente wesentlichglaubwürdiger und schlagkräftiger machen.
Leider haben Sie diese Größe nicht. Ich will das an ei-nem einfachen Beispiel verdeutlichen. Sie werfen unshier vor, wir würden zu wenig sparen. Draußen in Eu-ropa und in der Welt wird uns von allen vorgeworfen,wir würden zu viel sparen. Angela Merkel wird ein Spar-diktat vorgeworfen. Wir gehen mit gutem Beispiel fürunsere europäischen Nachbarn voran. Das werfen unsandere vor. Sie sollten einmal mit ihren sozialdemokrati-schen Kollegen woanders reden und sich dann besinnen,ob es nicht besser wäre, den Konsolidierungskurs unse-rer Bundesregierung auch einmal zu würdigen.Lassen Sie mich etwas zum Nachtragshaushalt sagen.Es ist grundsätzlich – das ist unbestritten – immer wenigerfreulich, wenn man Nachtragshaushalte machen muss.Wodurch aber kam er zustande? Nicht weil unsere An-nahmen über die Einnahmen falsch waren, weil wir neueAusgaben beschlossen haben oder weil das Steuerauf-kommen anders als erwartet war: Nein, er kam zustande,weil wir auf europäischer Ebene eine Vereinbarung ge-troffen haben, im Rahmen des Europäischen Stabilisie-rungsmechanismus gleichzeitig zwei Tranchen in einenKapitalstock einzuzahlen. Das bedeutet: Wir geben dasGeld nicht für Konsum oder Ähnliches aus, sondern eswird auf ein anderes Konto transferiert, und dort bleibtes als Guthaben bestehen. Das ist ein Transfer, keineAusgabe.
Sie sollten einmal bedenken, weshalb dieser Nach-tragshaushalt zustande gekommen ist. Er unterscheidet
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20690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Norbert Barthle
(C)
(B)
sich fundamental von den Nachtragshaushalten, die un-ter rot-grüner Regierung Jahr für Jahr vorgelegt wurden.Es war ja schon fast ein Ritual unter Rot-Grün, Nach-tragshaushalte aufzulegen. Und warum? Weil Sie sichimmer verrechnet haben, weil Sie bessere Annahmen zu-grunde gelegt haben, als hinterher eingetreten sind. Siehaben 2002 einen Nachtragshaushalt mit einer Erhöhungder Nettokreditaufnahme vorgelegt – Herr KollegeKahrs, ich liefere Ihnen jetzt die Zahlen –: statt 21 Mil-liarden Euro 35 Milliarden Euro, übrigens unter Verlet-zung der Maastricht-Kriterien. Im Jahr 2003 haben Sieeinen Nachtragshaushalt vorgelegt, der eine Erhöhungder Nettokreditaufnahme von 19 auf 43 Milliarden Eurovorsah, unter Verletzung der Maastricht-Kriterien.
2004 haben Sie wieder einen Nachtragshaushalt vorge-legt: Erhöhung der Nettokreditaufnahme von 29 auf43 Milliarden Euro. Wieder kam es zu einer Verletzungder Maastricht-Kriterien.
Das unterscheidet uns fundamental. Mit dem Nach-tragshaushalt, den wir jetzt vorlegen, verletzen wir dieMaastricht-Kriterien nicht. Im Gegenteil: Wir halten sieein. Wir halten auch die Vorgaben der Schuldenbremseein. Wir unterschreiten sie sogar. Wir legen diesen Nach-tragshaushalt aus ganz anderen Gründen vor. Damit sindwir schon bei unseren Zahlen: 2010 sind wir gestartetmit einer vorgesehenen Nettokreditaufnahme von86 Milliarden Euro. Herausgekommen sind 44 Milliar-den Euro. 2011 sind wir gestartet mit einer vorgesehenenNettokreditaufnahme in Höhe von 48 Milliarden Euro.Das Ergebnis waren 17 Milliarden Euro.
In das Jahr 2012 starten wir, inklusive Nachtragshaus-halt, mit einer Nettokreditaufnahme von 34 Milliar-den Euro. Wo wir herauskommen werden, wissen wirnoch nicht. Das wird sich am Jahresende erweisen. Dannfolgt für die Jahre 2013, 2014, 2015 und 2016 eine ab-steigende Linie der Nettokreditaufnahme bis zum ausge-glichenen Haushalt 2016. So sehen unsere Zahlen aus.Sie unterscheiden sich fundamental von den Zahlen ausder Zeit von Rot-Grün. Das muss man einfach noch ein-mal festhalten.
– Nein, das war es noch nicht, im Gegenteil.
Lassen Sie mich auf einen zweiten Aspekt zu spre-chen kommen. In den vergangenen Wochen haben alledrei Kanzlerkandidaten der SPD erklärt, dass sie Steuer-erhöhungen wollen, selbst Herr Steinbrück, was nichtnur mich, sondern auch die Presselandschaft verwunderthat. Ich halte das für einen sehr erfreulichen Vorgang;denn jetzt wissen die Bürgerinnen und Bürger, die Wäh-lerinnen und Wähler draußen ganz genau, wie die Alter-native aussieht: Wir sind für Konsolidieren und für eineBeschränkung der Ausgaben. Nach unseren Planungenwird das Ausgabenniveau sogar um 0,27 Prozent biszum Jahr 2016 zurückgehen. Die SPD ist für höhereSteuereinnahmen und für höhere Ausgaben.
Herr Kollege, möchten Sie denn eine Zwischenfrage
des Kollegen Schneider zulassen?
Vom Kollegen Schneider immer. Gerne. Darauf habe
ich doch gewartet.
Herr Kollege Barthle, Sie haben eben zu Recht darauf
hingewiesen, dass die SPD für eine Erhöhung des Spit-
zensteuersatzes ist. Wir fordern einen Spitzensteuersatz
von 49 Prozent ab einem Bruttojahreseinkommen von
100 000 Euro. Ich bin mir gewahr, dass Sie in der De-
batte in Ihrer Koalition genau diesen Vorschlag persön-
lich begrüßt und einen eigenen Vorschlag zur Erhöhung
des Spitzensteuersatzes eingebracht haben.
Ich frage mich jetzt, ob Sie unsere Position teilen. Haben
Sie das von mir begrüßte Vorhaben, mehr Steuergerech-
tigkeit herzustellen, aufgegeben, oder verfolgen Sie es
immer noch?
Ich bin dankbar für diese Zwischenfrage, Herr Kol-lege Schneider. Ich will Ihnen gerne noch einmal erklä-ren, was ich vorgeschlagen habe – daraus können Sieetwas lernen –: Ich habe nicht die Erhöhung des Spitzen-steuersatzes vorgeschlagen. Ich habe auch keine Steuer-erhöhung vorgeschlagen. Ich habe gesagt: Es wäre denk-bar, zwischen dem bestehenden Spitzensteuersatz undder sogenannten Reichensteuer – dabei geht es um densogenannten Steuerbalkon, den wir gemeinsam einge-führt haben – eine Progression vorzusehen, um damit dieAbsenkung der Steuersätze im mittleren Bereich– Stichwort: Bekämpfung der kalten Progression – ge-genzufinanzieren. Ich habe also keine Steuererhöhungvorgeschlagen,
sondern eine Korrektur des Tarifverlaufs, um so eineSteuersenkung zu finanzieren. Das ist ein fundamentalerUnterschied. – Ich bedanke mich.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20691
Norbert Barthle
(C)
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Jetzt komme ich zurück und halte fest: Wir beimBund halten die Schuldenbremse ein, und zwar konse-quent, strikt und jedes Jahr. Wir unterschreiten sogar dieVorgaben der Schuldenbremse.Ich würde mir wünschen – leider ist der nordrhein-westfälische Finanzminister nicht mehr anwesend –,
dass auch die Länder diese Verpflichtung einhalten unddie Schuldenbremse in ihre Länderverfassungen über-nehmen. Bislang steht die Schuldenbremse lediglich inden Landesverfassungen von Schleswig-Holstein, Meck-lenburg-Vorpommern, Hessen und Rheinland-Pfalz. Inmeinem Heimatland Baden-Württemberg legt die CDUeinen entsprechenden Gesetzentwurf vor.
Ich bin gespannt wie die grün-rote Landesregierung da-rauf reagieren wird. Ich höre und lese, dass man in Ba-den-Württemberg jetzt das Haushaltsrecht ändern will,um mehr Schulden machen zu können und die Verschul-dungsspielräume bis 2019 auszuschöpfen.
Wenn ich weiterschaue, sehe ich, dass Haushaltssa-nierung auf Länderebene durchaus gelingen kann. DasLand Sachsen – es wurde bereits angesprochen – machtseit Jahren keine neuen Schulden. Das Land Bayern istan dieser Stelle ebenfalls vorbildlich. Ich will auchMecklenburg-Vorpommern erwähnen, das ebenfalls bes-ser als andere dasteht. Das Negativbeispiel ist Nord-rhein-Westfalen.
Das, was die Ministerpräsidentin dort innerhalb vonzwei Jahren im Landeshaushalt angerichtet hat, läuftfundamental gegen die Regeln der Schuldenbremse.
Denn auch die Länder müssen bereits jetzt Haushalte mitder Perspektive, ab 2020 keine neuen Schulden mehr zumachen, aufstellen.
Dagegen wird in Nordrhein-Westfalen fundamental ver-stoßen.
Man hat den Eindruck: Den Schuss, den ganz Europa ge-hört hat, hat Frau Kraft offensichtlich überhört.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen letztenPunkt ansprechen. Ich beobachte mit großem Interessedie Diskussion auf europäischer Ebene. Es gab eine Äu-ßerung von Herrn Draghi von der EZB, dass man eineWachstumsstrategie brauche. Dies halte ich grundsätz-lich für richtig. Aber ich mache mir Sorgen, wenn ichsehe, wie zum Beispiel die Sozialisten in Frankreich mitJubelgeschrei darauf reagieren, weil sie unter Wachs-tumsstrategie immer schuldenfinanzierte Konjunktur-programme verstehen.
Wir verstehen darunter Stärkung der Wettbewerbsfähig-keit. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
Deshalb brauchen wir – das wurde schon angesprochen –auf europäischer Ebene Konsolidierung und Wachstumals zwei Seiten einer Medaille. So hat es der Staatssekre-tär formuliert. Diese Formulierung gefällt mir; ich greifesie gerne auf.Als Letztes abschließend,
weil die Kollegen auch über das Betreuungsgeld gespro-chen haben, ein leiser Hinweis an unsere ehemaligenKoalitionspartner von der SPD: Wir haben in der Zeitder Großen Koalition
ein Gesetz zum Ausbau der Kinderbetreuung beschlos-sen. Dem haben Sie zugestimmt. In diesem Gesetz stehtauch das Betreuungsgeld.
Das sollten Sie einmal nachlesen. Sie haben dem bereitszugestimmt. Das muss man vielleicht einmal FrauNahles erklären; auch sie sollte es einmal nachlesen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/9040 an den Haushaltsaus-schuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vor-schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.
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20692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 6 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDNeuregelung der elterlichen Sorge bei nichtverheirateten Eltern– Drucksache 17/8601 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendb) Beratung des Antrags der Abgeordneten JörnWunderlich, Dr. Diether Dehm, Heidrun Dittrich,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKENeuregelung des Sorgerechts für nicht mit-einander verheiratete Eltern– Drucksache 17/9402 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendVorgesehen ist, hierzu eine Dreiviertelstunde zu de-battieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.Dann ist das so beschlossen.Wenn sich die Jungsrunde hier vorne auflösen könnte,könnten wir weitermachen.
Christine Lambrecht hat das Wort für die SPD-Frak-tion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem Ur-teil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2010 wirdin diesem Haus – und nicht nur in diesem Haus – zuRecht eine Debatte über eine Neuregelung des Sorge-rechts von nicht verheirateten Eltern geführt. Bis zu die-sem Datum, bis zum Juli 2010, konnten Eltern, die nichtmiteinander verheiratet waren, das Sorgerecht nur danngemeinsam vereinbaren, wenn sie sich einig waren. Siekonnten festlegen, dass die Mutter oder der Vater die al-leinige Sorge hat oder dass sie es beide gemeinsam ma-chen wollen. Sie hatten die Entscheidungsmöglichkeit.Gab es aber keine Übereinstimmung in dieser Frage,dann konnte die Mutter bis zu diesem Datum die ge-meinsame Sorge verweigern, egal unter welchen Um-ständen, also egal ob sich der Vater um das Kind geküm-mert hat und seiner Verantwortung nachgekommen istoder vielleicht noch nicht einmal Interesse an dem Kindhatte. Der Vater konnte sich, egal in welcher Konstella-tion, gegen die Verweigerung der Mutter nicht gericht-lich wehren.Hiergegen wurde von Vätern erfolgreich geklagt.Dem Gesetzgeber, also uns, wurde aufgegeben, eineNeuregelung zu schaffen. Übergangsweise gilt inDeutschland jetzt die sogenannte Antragslösung. Dasheißt, der Vater kann dann, wenn die Mutter nicht in diegemeinsame Sorge einwilligt, beim Familiengericht ei-nen Antrag auf gemeinsames elterliches Sorgerecht stel-len. Dort wird dann der Einzelfall gerichtlich überprüftund entsprechend entschieden.Dem gegenüber steht die sogenannte Widerspruchs-lösung; auch sie ist momentan im Gespräch. Das heißt,die Eltern haben von Geburt an die gemeinsame Sorge.Die Mutter muss begründet und qualifiziert widerspre-chen, wenn sie hiermit nicht einverstanden ist und diealleinige elterliche Sorge möchte.Diese zwei Ansätze standen sich bisher ziemlichunversöhnlich gegenüber. Über die Antragslösung habensich die Väter beschwert und gefragt: Wieso ich? Ich bindoch der biologische Vater. Ich kümmere mich um dasKind. Warum muss ich jetzt einen Antrag stellen?– Über die Widerspruchslösung haben sich die Mütterbeschwert und gefragt: Wieso ich? Wieso muss ich– vielleicht sogar als Mutter eines Kindes, von dem derVater nichts wissen will – einer gemeinsamen Sorge wi-dersprechen? – Bei all dem konnte man den Eindruckgewinnen, es handele sich entweder um ein Recht desVaters oder um ein Recht der Mutter; so wurde darüberdiskutiert. Völlig aus dem Blick geraten ist, dass es hiereinzig und allein darum geht, was dem Kindeswohl ent-spricht, was die beste Lösung für das Kind ist.
Wir von der SPD wollen, dass dieses Schwarzer-Peter-Spiel so nicht weitergeht, und bringen uns mit demvorliegenden Entwurf in die Diskussion ein. Wir stellenmit unserem Vorschlag das Kindeswohl absolut in denVordergrund, weil wir davon überzeugt sind, dass es inder Regel immer das Beste ist, wenn ein Kind sowohlVater als auch Mutter erfährt, wenn sich beide um dasKind kümmern und die Sorge gemeinsam wahrnehmen.
Von diesem Leitsatz geprägt wollen wir mit unseremVorschlag dazu beitragen, dass so viele Eltern wie mög-lich, die nicht miteinander verheiratet sind, die gemein-same Sorge für ihr Kind ausüben; das ist das Ziel unseresVorschlags.Wir wollen, dass Eltern, die sich über die gemeinsameSorge einig sind, bereits bei der Registrierung des Kin-des beim Standesamt die gemeinsame Sorge erklärenkönnen, sodass es keines weiteren bürokratischen Auf-wands mehr bedarf. Wenn sich die Eltern einig sind,dann können sie das bereits bei der Registrierung desKindes erklären. Das wäre eine deutliche Erleichterung.Es gibt aber auch den Fall, dass sich Eltern nicht einigsind oder sich bis zu diesem Zeitpunkt vielleicht über-haupt noch keine Gedanken darüber gemacht haben, wiesie die elterliche Sorge ausüben wollen. Kurz nach derGeburt eines Kindes macht man sich ja viele andereGedanken. Ich kann mich daran erinnern, dass ich nurüberlegt habe, wie ich ohne Schlaf überleben kann;
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Christine Lambrecht
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das war das Thema, mit dem ich mich damals beschäf-tigt habe. Für diese Eltern wollen wir die Möglichkeitschaffen, dass sie direkt beim Standesamt – registrierenlassen muss sich ja jeder – darüber informiert werden,was das gemeinsame Sorgerecht bedeutet und welcheKonsequenzen es hat. Dann sollen die Eltern aufgefor-dert werden, sich dazu zu äußern.Es gibt auch Eltern, die sich nicht einigen können,trotz der Aufklärung, der Information und der Möglich-keiten, die ihnen geboten werden. Wir wollen die Rege-lung treffen, dass sich das Jugendamt dann noch einmaleinschaltet und diesen Eltern die Möglichkeit gibt, ihreProbleme dort auszuräumen, miteinander zu diskutierenund auf eine einvernehmliche Lösung hinzuwirken.Denn in der Regel ist es so, dass dann, wenn ein unbetei-ligter Dritter eingeschaltet ist, durchaus etwas in Bewe-gung kommen kann.Nur dann, wenn am Ende dieser langen Kette immernoch keine Einigung möglich ist, soll das Jugendamt ei-nen Antrag auf gerichtliche Klärung stellen. Wir wollennicht, dass der Vater einen Antrag stellen oder die Mutterwidersprechen muss – denn beide fühlen sich in dieserFrage besonders in Anspruch genommen –, sondern wirwollen, dass der Antrag auf Klärung durch das Familien-gericht erst dann gestellt wird, wenn wirklich alle Ver-mittlungsversuche gescheitert sind. Wir glauben, dassdiese Regelung das Schwarzer-Peter-Spiel beendet unddazu beiträgt, dass viel mehr Eltern die gemeinsameSorge übernehmen wollen.
Meine Damen und Herren, bis heute liegt noch keinVorschlag der Koalitionsfraktionen oder der Regierungvor. Sie haben sich – das konnte man den Medien ent-nehmen – in einem Koalitionsausschuss auf einEckpunktepapier geeinigt. Wenn ich es richtig verstan-den habe, dann wollen Sie danach die Antragslösung,das heißt, zuerst hat die Mutter das Sorgerecht. Wenn derVater einen Antrag stellt, dann muss die Mutter wider-sprechen. Das muss sie relativ schnell und auch relativqualifiziert tun. Für den Fall, dass sie das nicht tut, istnach Ihrem Vorschlag sogar ein beschleunigtes Verfah-ren vorgesehen, bei dem die Eltern noch nicht einmalangehört werden. Ich muss sagen: Es ist völlig inakzep-tabel,
dass bei einer so schwerwiegenden Frage wie der ge-meinsamen elterlichen Sorge das Ganze im schriftlichenVerfahren abgeschlossen werden soll, ohne dass mansich die Eltern angeschaut und sich von ihnen und ihrenArgumenten ein Bild gemacht hat. Deswegen sage ichklar: Zu dieser Position wird es von uns keine Zustim-mung geben.Ansonsten sind wir zu konstruktiven Gesprächen be-reit. Ich glaube, unser Vorschlag ist ein Schritt in diedeutlich richtige Richtung.Vielen Dank.
Ute Granold hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Lambrecht, ich denke, wir sind uns ganzeinig darüber, dass die gemeinsame elterliche Sorgeunser gemeinsames Ziel ist, weil das dem Kindeswohlentspricht. Ich komme gleich mit weitergehenden Aus-führungen darauf zurück.Sie kennen unseren Referentenentwurf, der momen-tan auf dem Weg ist, noch nicht. Auf 30 Seiten wird imDetail erläutert, worum es geht. Ich werde darauf nocheingehen.Sie haben den Verfahrensgang zu Recht erwähnt – in-sofern kann ich das abkürzen –: Der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte und auch das Bundes-verfassungsgericht haben dem Gesetzgeber aufgegeben,eine Regelung für die Fälle zu finden, in denen eine ge-meinsame Sorge aufgrund des Widerspruchs der Mutterfür die Väter derzeit nicht möglich ist. Wir haben hier indiesem Haus bereits mehrfach darüber debattiert, zuletztüber die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen. Mittler-weile liegt ein Antrag der SPD vor, und seit zwei Tagengibt es auch einen Antrag der Linken.Der Referentenentwurf vom Bundesjustizministerium– Staatssekretär Stadler ist hier – ist umfassend und zeigtim Detail auf, welche Möglichkeiten wir sehen, hier zueiner Regelung zu kommen. Das hat in der Tat etwaslänger gedauert, aber es geht um ein so wichtigesThema, dass wir meinen: Lieber etwas gründlicher re-cherchiert, diskutiert und beraten, um dann eine Lösungzu finden, die den Kindern gerecht wird. Es geht nämlichnur um die Kinder und nicht um die Eltern.
Ich möchte zunächst festhalten, dass es seit der Ent-scheidung, die im Sommer 2010 vom Bundesverfas-sungsgericht getroffen wurde, keinen rechtsfreien Raumgab. Die ganze Zeit über konnten von Vätern Sorge-rechtsverfahren eingeleitet werden. Sie hatten das auchkurz angesprochen. Diese Verfahren wurden quer durchdie Republik bei den Familiengerichten und bei denOberlandesgerichten auch geführt, und man hat gesehen:Es gab recht unterschiedliche Entscheidungen. Das lagdaran, dass die Darlegungs- und Beweislast für eine ge-meinsame elterliche Sorge bei den Vätern gelegen hatund die Hürde hierfür sehr hoch war, sodass die Väter imInteresse der Kinder letztendlich nicht zufriedengestelltwerden konnten. Deshalb haben wir jetzt auch diese Re-gelung auf den Weg gebracht, von der wir meinen, dasssie in Ordnung ist.Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts,die nicht konkret waren, hätten wir den Status quo fest-schreiben können. Wir hätten aber auch ebenso sagen
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können: Es gibt einen Automatismus, wonach Väter undMütter von nichtehelichen Kindern ab deren Geburt dasgemeinsame Sorgerecht haben. Diesen Automatismuswollten wir nicht. Deshalb haben wir einen Weg gefun-den, der sich an einer Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts aus dem Jahr 2003 orientiert. Ich darf kurzeinen Satz daraus zitieren:Die gemeinsame elterliche Sorge entspricht grund-sätzlich den Bedürfnissen des Kindes nach Bezie-hungen zu beiden Elternteilen und verdeutlicht ihm,dass beide Elternteile gleichermaßen bereit sind, fürdas Kind Verantwortung zu tragen.Ich denke, diesem Leitsatz der Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichts können wir alle zustimmen. Daswar der Maßstab bzw. die Richtschnur für den Referen-tenentwurf, den wir jetzt vorgelegt haben.Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, eine Synopsezu erstellen, in der die Grundzüge dessen aufgezeigtwerden, was wir uns als Koalition vorgegeben habenund was von der SPD bzw. von Bündnis 90/Die Grünenfavorisiert wird. Ich denke, beim Ziel sind wir uns alleeinig, aber der Weg dahin wird doch recht unterschied-lich gesehen. Dennoch ist es positiv zu werten, dass sichjede Fraktion Gedanken darüber gemacht hat, welcherWeg der beste ist, um zu diesem von uns angestrebtenZiel zu kommen.Die materielle Voraussetzung für eine gemeinsame el-terliche Sorge ist, dass die Vaterschaft anerkannt oderfestgestellt wird und es eine gemeinsame Sorgeerklärunggibt. Das ist das Optimale für das Kind. Ansonsten isteine gemeinsame Sorge, denke ich, indiziert, wenn siedem Kindeswohl nicht widerspricht. Das heißt, es gibteine sogenannte negative Kindeswohlprüfung.Bei der SPD und bei Bündnis 90/Die Grünen ist esgenau umgekehrt: Die gemeinsame elterliche Sorge solldann eingerichtet werden, wenn sie dem Kindeswohlentspricht. Das ist die sogenannte positive Kindeswohl-prüfung. Sie haben in Ihrem Antrag Kriterien dafür ge-nannt, was dafür zum Beispiel ein Maßstab wäre, etwadie Unterhaltszahlung und die Kooperationsbereitschaft.Wir meinen, diese Hürde ist zu hoch. Deshalb gehenwir den genau umgekehrten Weg. Weil die gemeinsameSorge dem Kindeswohl entspricht, ist es so, dass dieDarlegungs- und Beweislast, dass eine gemeinsameSorge nicht möglich sei, also der Ausnahmefall, bei derMutter liegt. Die Gerichtsentscheidungen, die zwischen-zeitlich ergangen sind, zeigen, dass allein der Einwand,es bestehe keine Kommunikations- und Kooperationsbe-reitschaft der Eltern, in der Regel dazu führt, dass derVater kein Sorgerecht erhält. Das halten wir auch nachdem, was die vorerwähnten Entscheidungen der höchs-ten Gerichte gezeigt haben, für keinen gangbaren Weg.Die negative Kindeswohlprüfung ist für uns ein ganzwesentlicher Maßstab.Aber auch hinsichtlich des gerichtlichen Verfahrensverfolgen wir nicht den gleichen Weg. Wir wollen dieBeteiligung des Jugendamtes, wie das zum Beispiel vonder SPD vorgeschlagen wird, nicht in einer solch verfes-tigten Stellung. Vielmehr sagen wir: Der Vater muss dieMöglichkeit haben – in der Regel ist es der Vater –,direkt zum Gericht zu gehen, einen Antrag zu stellen undeine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Er sollaber auch die Möglichkeit haben, zum Jugendamt zu ge-hen, um dort außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens zueiner gemeinsamen Sorge zu kommen, natürlich verbun-den mit einer entsprechenden Aufklärung der Mutter unddes Vaters durch das Jugendamt. Die herausgehobeneStellung des Jugendamtes ist also nicht unser Weg.Ein anderer Vorschlag von Ihnen ist, dass das Jugend-amt dann, wenn die Mutter der gemeinsamen Sorgenicht zustimmt oder sich nicht äußert, einen Antrag andas Gericht stellt. Auch das sehen wir nicht als den rich-tigen Weg an. Das muss der Vater als der Beteiligte indiesem Verfahren machen. Denn es ist so, dass dasJugendamt durch die außergerichtlichen Erkenntnisseeine Stellungnahme im Gerichtsverfahren abgibt.Wenn das Jugendamt eine negative Empfehlung andas Gericht abgeben würde, ist das für den Vater wiedereine sehr hohe Hürde, diese zu entkräften, die unseresErachtens nicht gerechtfertigt ist. Deshalb sind wir derAuffassung, dem Vater die Option, entweder direkt zumGericht oder alternativ zum Jugendamt zu gehen, zu er-möglichen; dabei ist uns die Antragstellung durch denVater ganz wichtig. Wir haben auch den Weg der SPDdiskutiert, dann aber letztendlich aus den Gründen, dieich dargestellt habe, entschieden, dass wir diesen Wegnicht gehen wollen.Frau Lambrecht, Sie haben uns vorgeworfen: In demvon uns vorgeschlagenen Verfahren könne das Sorge-recht sogar ohne mündliche Verhandlung, ohne dass dieEltern gehört werden, übertragen werden. Das sei inak-zeptabel. Das ist sehr verkürzt dargestellt. Wir habenmittlerweile durch die Novellierung in § 155 FamFG einVorrang- und Beschleunigungsgebot in Kindschaftssa-chen geregelt. Das bedeutet, innerhalb eines Monatsnach Verfahrenseinleitung muss eine gerichtliche Ent-scheidung möglich sein, also ein Gerichtstermin anbe-raumt werden. Wir möchten diese Vorschrift um einen§ 155 a FamFG ergänzen. Das heißt, auch bei denVerfahren um die gemeinsame elterliche Sorge soll dasVorrang- und Beschleunigungsgebot gelten. Das heißt,binnen vier Wochen bzw. eines Monats muss terminiertwerden.Dann soll es so sein: Wenn sich die Mutter auf dasSchreiben des Gerichts mit dem Antrag auf gemeinsameSorge nicht äußert bzw. Gründe vorträgt, die mit demKindeswohl überhaupt nichts zu tun haben, dann musses dem Gericht möglich sein, in einem sogenannten ver-einfachten Verfahren ohne mündliche Verhandlung undohne persönliche Anhörung zu entscheiden,
und zwar in den Fällen, die ich gerade genannt habe. Esbleibt natürlich der Kindesmutter die Möglichkeit, einesolche Entscheidung, wie das auch in anderen Verfahrenüblich ist, anzufechten. Wir möchten also hier demAntragsteller die Möglichkeit geben, in einem zügigenVerfahren zumindest eine gerichtliche Entscheidung her-
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beizuführen. Wie gesagt, der Rechtsschutz für die Mut-ter ist gegeben.Bei dem Thema Fristen meinen wir, dass eine sechs-wöchige Frist zur Stellungnahme ausreichend ist, umeine Entscheidung herbeizuführen. In dem Fall geht mandavon aus, dass Mutter und Vater gleichermaßen befä-higt sind, für das Kind zu sorgen, wenn es denn auf derWelt ist. Sechs Wochen sind ausreichend. Sonst würdedie Zahl derer, die im Rahmen eines einstweiligenAnordnungsverfahrens die Gerichte anrufen würden, er-heblich steigen. Es gibt immer mehr Fälle, in denen beieiner Nichteinigung der Eltern einstweilige Anordnun-gen beantragt werden, weil ein Kind getauft oder nichtgetauft werden soll, bei der Namensgebung oder anderenFragen. Um das abzukürzen, sehen wir diese sechs-wöchige Frist als ausreichend, aber auch als erforderlichan. Wie gesagt, ein Automatismus bei der Reglung derelterlichen Sorge per Geburt möchten wir nicht.Wir meinen, dass wir mit diesen Regelungen sowohlim materiellen als auch im Verfahrensrecht einen gutenWeg gefunden haben, einen Mittelweg zwischen denInteressen der Mutter auf der einen Seite und den Inte-ressen des Vaters auf der anderen Seite, aber immer un-ter der Maßgabe, dass das Kindeswohl an erster Stellesteht. Wir sind uns Gott sei Dank in diesem Haus da-rüber einig, dass dahinter alles andere zurückstehenmuss. Ich denke, dass wir in den jetzt anstehenden Bera-tungen, im Rechtsausschuss und mitberatend im Fami-lienausschuss, auch über die Anträge der Opposition,Lösungen auf der Basis unseres Referentenentwurfs –ich leite ihn Ihnen gerne zu, wenn er Ihnen noch nichtvorliegt; er befindet sich noch im Abstimmungsverfah-ren, danach werden wir in die Beratungen gehen – fin-den werden, die dann möglichst vom ganzen Haus getra-gen werden. Wir haben in der Vergangenheit beimFamFG, beim Unterhaltsrecht und vielem anderen mehrgezeigt, dass das sehr gut möglich ist. Deshalb hoffe ichsehr, dass wir gute Beratungen haben, um ein gutes Er-gebnis zu finden.
– Die Beratungen kommen ja. – Es hat länger gedauert,aber ich denke, dann wird es umso besser sein.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Sorgerecht ist ein höchst emotionsgeladenes Thema.Einige – vielleicht auch etliche – haben bestimmt schonpersönliche Erfahrungen damit gemacht.Das Sorgerecht umfasst insbesondere vor dem Hinter-grund der UN-Kinderrechtskonvention das Recht desKindes auf Sorge durch die Eltern und das Recht und dieVerpflichtung der Eltern, Verantwortung für das Kindes-wohl zu übernehmen. So ergibt es sich im Übrigen auchaus Art. 6 unseres Grundgesetzes.Es ist hier schon erwähnt worden: 2010 hat das Bun-desverfassungsgericht zutreffend festgestellt, dass dasgeltende Recht nichtverheiratete Väter diskriminiert, dieVerantwortung für ihre Kinder übernehmen wollen undkönnen. Die bis dato geltende Rechtslage ist auch schondargelegt worden, nämlich dass nichtverheiratete Väter,wenn die Mutter nicht zur gemeinsamen Sorge bereitwar, keine Möglichkeit hatten, diese elterliche Sorge ir-gendwie gerichtlich geltend zu machen. Dieses Dilemmawar zu lösen.Das Bundesverfassungsgericht hat eine Übergangslö-sung geschaffen, nach der Väter für den Fall bei Gerichteinen Antrag stellen können und das Gericht diesem An-trag stattzugeben hat, sofern Kindeswohlgründe nichtentgegenstehen. Dabei kommt auch klar zum Ausdruck,dass das Kindeswohl die zentrale Frage bei diesen gan-zen Entscheidungen sein muss.Meine Fraktion ist sich dahin gehend einig, dass sichder Staat, solange sich Eltern hinsichtlich der Sorge einigsind, möglichst wenig einmischen sollte.
Wenn sich die Eltern einig sind, dass die Mutter oder derVater die alleinige Sorge haben soll oder auch beide zu-sammen die gemeinsame Sorge haben sollen, dann gehtdas den Staat nichts an; es sei denn, es gibt Anhalts-punkte einer Kindeswohlgefährdung. Das ist klar. Abervom Normalfall ausgehend sollte sich der Staat dabeinicht einmischen.Jetzt stellt sich die Frage: Wie ist es bei nichtverheira-teten Vätern? Bei Eheleuten ist es so: Das Kind wird an-gemeldet, und automatisch ist der Ehemann der Vatermit allen Rechten und Pflichten. Bei nichtverheiratetenEltern ist es anders. Bei ihnen entstehen die Rechtsbezie-hungen des Vaters zum Kind erst durch die Vater-schaftsanerkennung.Was bedeutet eine Vaterschaftsanerkennung bezogenauf das Kind? Nach meiner Überzeugung bedeutet siedeutlich mehr als der Trauschein. Mit dem Trauscheinbekennt man sich nicht automatisch expressis verbis zudem Kind. Mit der Vaterschaftsanerkennung bekenntman sich konkret zu einem Kind und sagt: Das ist meinKind. Deswegen denke ich, man könnte wie in Frank-reich den Automatismus einführen, dass mit der Vater-schaftsanerkennung Sorgerecht entsteht. Das ist aller-dings riskant. Denn es gibt auch Väter, die sich nicht umdas Kind kümmern wollen.Deswegen haben wir nach langer Debatte – wir habenes uns nicht leicht gemacht; immerhin hat es 20 Monategedauert, bis unser Antrag gestern in der Fraktion mehr-heitlich beschlossen wurde – beschlossen, dass es nocheine Zusatzerklärung zu der Vaterschaftserklärung geben
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Jörn Wunderlich
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soll, mit der der Vater erklärt, dass er bereit und gewilltist, die väterliche Sorge für das Kind zu übernehmen.Dann entsteht die gemeinsame elterliche Sorge.Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Begrün-dung die Zutaten für eine Neuregelung aufgeführt. DieRichter haben so in den Gründen angegeben, dem Ge-setzgeber bleibe es unbenommen – sie sprechen sogarvon einem automatischen Sorgerecht –, frühestmöglichdas gemeinsame Sorgerecht zuzusprechen, mit der Mög-lichkeit für beide Elternteile, das überprüfen und ange-hen zu können. Das haben wir in dem Fall, den wirunterbreiten, vorgesehen. Wenn das gemeinsame Sorge-recht durch die Erklärung, die Sorge für das Kind über-nehmen zu wollen, entsteht, dann haben beide Eltern diegemeinsame Sorge. Wenn diese Erklärung abgegebenwurde und es später zum Streit kommt – wir müssen unsnichts vormachen; im Normalfall kommt es nicht dannzum Streit, wenn die Eltern zum Standesamt oder zumJugendamt gehen, um die gemeinsame oder alleinigeSorge zu erklären, sondern erst später, wenn sie sichtrennen –, dann besteht die gemeinsame Sorge, undbeide Elternteile haben wie Eheleute nach § 1671 BGBdas Recht, bei Gericht einen Antrag zu stellen, die allei-nige Sorge oder Teile der gemeinsamen Sorge auf sichzu übertragen. Diese Möglichkeit hat das Bundesverfas-sungsgericht vorgegeben. Daran orientiert sich unserAntrag.Ganz wichtig ist – ich denke, darin sind wir uns ei-nig –, dass eine Gerichtsentscheidung Ultima Ratio seinsollte. In der Regel gibt es vor Gericht immer Gewinnerund Verlierer. Deshalb ist es wesentlich, dass vor einerGerichtsentscheidung versucht wird, eine Mediationdurchzuführen. Man kann ja niemanden dazu zwingen,aber eine Mediation muss angeboten werden, um geradeim Interesse des Kindeswohls nach Möglichkeit eineeinvernehmliche Regelung der Eltern zu erzielen.Mit unserem Antrag wollen wir das bestehende Di-lemma beseitigen und nicht verheiratete und verheirateteEltern in Bezug auf das Sorgerecht weitgehend rechtlichgleichstellen. Die vorgeschlagenen Änderungen entspre-chen den Empfehlungen des Bundesverfassungsgerichts.Bei unverheirateten Paaren sollten beide Elternteile frü-hestmöglich das gemeinsame Sorgerecht erhalten, mitder entsprechenden Möglichkeit, dieses für einen alleineinzuklagen – eben wie bei verheirateten Eltern.Kinder suchen sich ihre Eltern sowieso nicht nachdem familienrechtlichen Status aus. Frau Granold hat zuRecht darauf hingewiesen: Das Kindeswohl steht bei unsallen im Vordergrund.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Stephan Thomae hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Die elterliche Sorge bei nicht verheirate-ten Eltern ist ein Thema, das viele Menschen in unseremLand bewegt. Uns eint das gemeinsame Ziel, dass dieBereitschaft der Eltern, die Sorge für das Kind gemein-sam zu übernehmen, gestärkt werden soll.Wenn ich mir die Anträge der SPD und der Linken imDetail anschaue, dann fallen mir ein paar Punkte auf, diemich in meiner Ansicht bestärken, dass wir es bessermachen.
Im SPD-Antrag ist zu lesen: Wenn sich die Eltern vordem Standesamt nicht auf eine Sorgerechtsregelung eini-gen können, soll ihnen das Jugendamt eine Äußerungs-frist setzen. Wenn sich die Eltern innerhalb dieser Fristnicht zur Frage der gemeinsamen Sorge äußern, soll dasJugendamt von sich aus, also von Amts wegen, einenAntrag beim Familiengericht stellen. In Deutschlandgibt es ja einen Justizgewährungsanspruch. Wenn sichdie Bürger nicht einigen können, dann haben sie dieMöglichkeit, Gerichtshilfe in Anspruch zu nehmen. DasGericht muss dann eine Entscheidung treffen. Es wirdquasi ein Vergleich geschlossen. Nun, liebe Kolleginnenund Kollegen von der SPD, was machen Sie? Sie sindder Meinung: Immer wenn die Eltern sich nicht einigenkönnen, soll das Jugendamt verpflichtet werden, eine fa-miliengerichtliche Entscheidung zu beantragen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das ernst meinen.
Wenn die Bürger nicht von sich aus, also freiwillig, ge-richtliche Hilfe in Anspruch nehmen, dann zwingen Siesozusagen die Bürger, Sie zerren sozusagen die Bürgervor Gericht.
Ich will nicht unhöflich erscheinen, aber ich finde dasnicht gut.
Wenn sich die Eltern schon nicht streiten, Herr Kol-lege Lischka, dann sehe ich auch das Kindeswohl nichtin Gefahr. Es kann immer sein, dass Eltern sagen: Dasmüssen wir nicht sofort entscheiden; warten wir doch ab,wie sich die Dinge de facto entwickeln. – Damit habe ichgar kein Problem. Warum sollten wir aber dann die El-tern durch das Jugendamt vor Gericht zerren lassen? Da-mit sind wir nicht einverstanden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20697
Stephan Thomae
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Ein weiterer Punkt in Ihrem Antrag, der mich verwun-dert – vielleicht habe ich es auch nur missverstanden –,
ist: Den Eltern soll ermöglicht werden, durch eine ge-meinsame Sorgeerklärung die gemeinsame Sorge zu er-halten. – In § 1626 a Abs. 1 Nr. 1 BGB steht das bereits.Warum wird ein Antrag zu einem Sachverhalt gestellt,der bereits gesetzlich geregelt ist? Das leuchtet mir nichtein.
So viel zum Antrag der SPD.Beim Antrag der Linken sehe ich einen gewissen in-neren Widerspruch. Dort heißt es unter II.1,
dass die Sorgeerklärung des Vaters schon ausreicht, umdie gemeinsame Sorge zu begründen. Die einseitige Er-klärung des Vaters führt quasi zu einem Automatismus.Unter II.4 heißt es dann: Wenn sich die Eltern nicht eini-gen können, steht der Rechtsweg offen. – Was denn nun?Reicht schon eine einseitige Erklärung des Vaters, umdie gemeinsame Sorge zu begründen, oder bedarf es ei-ner Einigung? Entweder – oder, beides zusammen gehtnicht. Da befindet sich ein innerer Widerspruch in IhremAntrag.Deswegen empfehle ich sehr den Referentenentwurfdes Bundesjustizministeriums zur Lektüre, den ich aus-drücklich lobe. Er ist am 28. März an Bund und Länderverschickt worden, und es läuft eine Frist zur Stellung-nahme bis zum 18. Mai. Was in diesem Referentenent-wurf steht, hat die Kollegin Granold ja schon vorbildlicherläutert. Ich will noch einige Punkte verdeutlichen.In diesem Entwurf ist vorgesehen, dass es zunächstzur Alleinsorge der Mutter kommt. Wenn die beiden El-tern eine gemeinsame Sorgeerklärung abgeben, dann ha-ben wir kein Problem; wir sind uns einig, dass das dasSchönste und das ist, was wir eigentlich wollen.
Ist das aber nicht der Fall, dann hat der Vater die Mög-lichkeit, einen Antrag beim Familiengericht zu stellen.Wenn nun die Mutter – das ist das, was Sie, KolleginLambrecht, rügen – innerhalb einer angemessenen Frist– nicht einer kurzen Frist – inhaltlich nicht Stellungnimmt
oder keinerlei Gründe vorträgt, aus denen erkennbarwird, dass es inhaltliche, und zwar kindeswohlrelevanteGründe gibt, die gegen die gemeinsame elterliche Sorgesprechen, dann darf doch die gesetzliche Vermutunggreifen, dass es offenbar keine gegen das Kindeswohlsprechende Gründe gibt, die gemeinsame Sorge zu ver-hindern; denn sonst könnte die Mutter diese einfach vor-tragen. Dann ist es meines Erachtens auch völlig ange-messen, richtig und sachgerecht, zu sagen, dass dann ineinem beschleunigten, vereinfachten Verfahren das Ge-richt darüber entscheiden können soll.
– Warum denn nicht? Ich finde, das ist eine angemesseneRegelung.
Wichtig ist auch, dass es dann nicht mehr ausreichendist, einfach nur anzuführen, dass keine Kommunikationzwischen den Eltern stattfinde oder dass sich die Mutterzum Beispiel nicht in die Erziehung des Kindes hineinre-den lassen wolle, sondern es muss sich vielmehr um kin-deswohlrelevante Gründe handeln. Denn wir wollen,dass eine gewisse Normalität für alle Kinder gilt, ganzgleich, ob die Eltern den Segen von Staat und Kircheeingeholt haben oder nicht. Es geht uns genau um dasKindeswohl. Darum geht es ja uns allen. Deswegen müs-sen wir die Hürden für die gemeinsame elterliche Sorgesenken, und das gelingt mit unserem Entwurf am besten.
Ein zweiter Punkt, den Sie im Referentenentwurfnachlesen können, ist der, dass in der jetzigen, vorläufi-gen Regelung nach der Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts vom 21. Juli 2010 die gemeinsame Sorge– auch das haben Sie, Frau Kollegin Granold, schon er-läutert – dann ausgesprochen werden soll, wenn diesdem Kindeswohl entspricht. Das heißt, es muss erst ein-mal der positive Nachweis erbracht werden, dass es demKindeswohl dient. Das muss der Vater darlegen und be-legen. Er muss es also beweisen. Nach dem Referenten-entwurf des Bundesjustizministeriums ist die gemein-same Sorge dann schon auszusprechen, wenn diese demKindeswohl nicht widerspricht. Die negative Darle-gungslast, die schon erwähnt worden ist, soll nun derMaßstab sein, um erneut die Hürden abzusenken. DieMutter muss also sagen, was dagegen spricht, wenn siesich dagegen wehren will. Auch damit bauen wir Hürdenab.Wir kommen mit diesem Entwurf einem modernenFamilienbild näher. Die zunehmende Anzahl von Kin-dern, die außerhalb einer gültigen Ehe geboren werden,lässt es angeraten erscheinen, dass wir das Recht nachder gewandelten Lebenswirklichkeit der Menschen imLand formen. Deswegen war es gut, dass wir in der Ko-alition das Thema ausgiebig diskutiert und uns Zeit ge-lassen haben. Es hat sich gelohnt. Der Vorschlag derKoalition ist allemal besser als die Vorschläge der Oppo-sition.Vielen Dank.
Katja Dörner hat jetzt das Wort für Bündnis 90/DieGrünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Ich möchte versöhnlich beginnen.Wenn ich mir die Eckpunkte der Koalitionsfraktionenund die Anträge, die jetzt vorgelegt worden sind, an-schaue, dann habe ich tatsächlich die Hoffnung, dass wirin dieser Legislaturperiode doch noch zu einer vernünfti-gen und guten Lösung beim Sorgerecht nicht miteinan-der verheirateter Eltern kommen können.
Ich will aber auch sagen: Es ist keine Glanzleistungder Koalitionsfraktionen, dass sie mehr als eineinhalbJahre brauchten, um den guten, vernünftigen und ausge-wogenen Vorschlag, den wir Grüne als Erste schon imHerbst 2010 vorgelegt haben, sozusagen zu plagiierenund endlich in eigene Eckpunkte zu gießen.
Das sind eineinhalb verlorene Jahre für die davon betrof-fenen Familien. Wir wollen natürlich kein Copyright aufdas, was wir entwickelt haben;
wir erwarten aber, dass endlich ein Gesetzentwurf vorge-legt wird. So häufig, wie Herr Thomae darauf hingewie-sen hat, dass es bis dato nur einen Referentenentwurfgibt, muss man sich, glaube ich, schon Sorgen machen,was die zeitliche Perspektive der Bundesregierung fürdieses Vorhaben angeht.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Bandbreiteder Sorgerechtsstreitigkeiten ist riesig, auch bei nichtmiteinander verheirateten Paaren. Jeder von uns kenntaus dem persönlichen Umfeld, aus den vielen Gesprä-chen, die wir mit Verbänden dazu geführt haben, abernatürlich auch aus Familiengerichtsakten die unglaub-lichsten Vorgänge. Weil diese Palette so breit ist, wird eskeine gesetzliche Regelung geben, die in jedem Einzel-fall die optimale Lösung bringt. Ich glaube, da solltenwir uns auch nichts vormachen. Gerade deshalb ist esumso wichtiger, dass man ganz klare Leitentscheidungentrifft.Ich möchte hier ausdrücklich auf Art. 18 der UN-Kin-derrechtskonvention hinweisen, in dem es heißt – ich zi-tiere –:Die Vertragsstaaten bemühen sich nach bestenKräften, die Anerkennung des Grundsatzes sicher-zustellen, dass beide Elternteile gemeinsam für dieErziehung und Entwicklung des Kindes verantwort-lich sind.Die Kinderrechtskonvention unterscheidet zu Rechtnicht zwischen den Rechten von Kindern mit miteinan-der verheirateten Eltern und solchen mit nicht miteinan-der verheirateten Eltern. Deshalb steht für uns Grüne fest– ich bin froh, dass alle das im Plenum heute noch ein-mal bekräftigt haben –, dass es um die Interessen des be-troffenen Kindes geht und dass das Kindeswohl selbst-verständlich im Vordergrund stehen muss.
Nicht nur die Erfahrungen mit dem gemeinsamenSorgerecht bei geschiedenen Eltern legen nahe, dass esin der Regel gut ist, wenn das Sorgerecht gemeinsam beiden Eltern liegt. Wir als Grüne wollen beim Sorgerechtnicht miteinander verheirateter Eltern zwar keinen Auto-matismus, aber ausdrücklich ein sehr niedrigschwelligesVerfahren, damit ein Vater, der das möchte, das Sorge-recht auch frühzeitig bekommen kann. Deshalb habenwir ganz bewusst die Formulierung gewählt, dass einVater, wenn das familiengerichtliche Verfahren nicht zuverhindern ist, das Sorgerecht bekommen soll, wenn diesdem Kindeswohl nicht widerspricht. Das ist eine Formu-lierung, die die Koalitionsfraktionen richtigerweise inihre Eckpunkte übernommen haben.Ich muss leider sagen, dass der Antrag der SPD, denwir heute erstmals beraten, notwendige klare Leitlinienan vielen Stellen vermissen lässt. Ich finde zwar, dass erdie Komplexität des Regelungstatbestandes sehr gut be-schreibt; ich finde aber auch, dass sich dieser Vorschlagsehr im Sowohl-als-auch verliert. Sie haben es ja ebenauch noch einmal gesagt, dass der Antrag eine Brückezwischen einer Antragslösung und einer Widerspruchs-lösung schlagen soll.
– Doch, das haben Sie eben noch einmal ausdrücklichgesagt.
Aber wenn man ganz genau hinschaut, dann sieht man,dass Ihr Vorschlag doch dem Vater den Schwarzen Peterzuschiebt.
– Doch! Ich führe das gerne aus. – Woran kann man daserkennen? Wenn die Eltern sich nicht einigen, stellt dasJugendamt nach SPD-Vorstellung einen Antrag beim Fa-miliengericht. Das haben Sie eben auch gesagt.Ich verstehe das Anliegen, dass Sie über das Jugend-amt einen Anwalt der Interessen des Kindes installierenwollen, sehr gut. Das bedeutet aber auch – das wird inIhrem Antrag allerdings an keiner Stelle erwähnt –, dassdie Mutter zu diesem Zeitpunkt weiterhin das alleinigeSorgerecht hat.
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Katja Dörner
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– Doch! Selbstverständlich! Das ist dann immer nochder Tatbestand. Die Mutter hat weiterhin das alleinigeSorgerecht, und damit ist der Vater nicht auf Augenhöhemit der Mutter. In dem Fall kann man ganz klar sagen,dass Ihr Vorschlag ist, dass der Vater via Jugendamt zumFamiliengericht gehen muss,
und das ist aus unserer Sicht natürlich nicht niedrig-schwellig.Darüber hinaus bleiben in Ihrem Vorschlag entschei-dende Fragen ungeklärt. Das gilt beispielsweise für denZeitpunkt, zu dem das Jugendamt sich an das Familien-gericht wendet. Auch der Entscheidungsmaßstab, denich eben noch einmal positiv hervorgehoben habe, wirdin Ihrem Antrag nicht genau bestimmt. Das sind für un-sere Perspektive einfach zu viele offene Fragen.
Es ist aus unserer Sicht allerdings dringend notwen-dig, dass die Koalitionsfraktionen bzw. die Bundesregie-rung endlich einen Gesetzentwurf vorlegen und nichtweiter auf ihrem Referentenentwurf herumreiten. Ma-chen Sie endlich Ihre Hausaufgaben, damit wir bei die-sem wichtigen Thema wirklich zeitnah weiterkommen!Vielen Dank.
Der Kollege Thomas Silberhorn hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir haben uns zuletzt am 2. März 2012 hier imPlenum über das komplexe Thema Elterliche Sorge fürnicht verheiratete Eltern unterhalten. Zwischenzeitlichliegt der Referentenentwurf des Bundesjustizministe-riums vor, der eine, wie ich meine, überzeugende Rege-lung anbietet. Wir setzen die Vorgaben des EuropäischenGerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfas-sungsgerichts um, die Rechte der Väter werden signifi-kant gestärkt, und wir bieten auch Verfahrenssicherheitund einen ausgeglichenen Grundrechtsschutz.Wie die Grünen auf die Idee kommen können, dasswir von ihnen abgeschrieben hätten, ist mir völlig schlei-erhaft. Ich darf darauf hinweisen, zumal heute der Tagdes geistigen Eigentums ist, dass wir das Urheberrechtfür diesen Entwurf in Anspruch nehmen, und wir erbit-ten Respekt vor unserem geistigen Eigentum.
Dass es sich um einen Referentenentwurf und nochnicht um einen Gesetzentwurf handelt, Frau Kollegin,liegt schlichtweg daran, dass dieser Vorschlag mit denbetroffenen Verbänden noch erörtert wird und wir dieGelegenheit geben, dazu Stellung zu nehmen.
Wir verzeichnen mit Interesse, dass sich selbst kritischeVäterverbände wie etwa „Väteraufbruch für Kinder“ zudiesem Referentenentwurf überwiegend positiv geäußerthaben.
Der Vorwurf der Opposition, wir würden das Themaverschleppen, geht ins Leere. In der Tat haben wir langediskutiert. Es war aber bei diesem schwierigen Themaauch eine intensive Diskussion notwendig. Wir habendie Zeit genutzt, um eine Lösung zu finden, die ausge-wogen die Interessen aller Beteiligten in den Blicknimmt. Dieser Vorwurf trägt auch deshalb nicht, weil Siein Ihren eigenen Anträgen ziemlich vage bleiben. VieleVerfahrensfragen bleiben weiter offen. Wie steht es dennzum Beispiel mit dem zeitlichen Ablauf bei einer Sorge-rechtserklärung oder Vorlage beim Familiengericht? Wiewollen Sie denn konkret erreichen, dass es im Streitfallzu zügigen Entscheidungen kommen kann?
Dort, wo es konkret wird, bleiben Sie die Antwortenschuldig, und ich finde, das ist zumindest, seit der Refe-rentenentwurf vorliegt, schlicht zu wenig.Die SPD – das wurde angesprochen – konzentriertsich weiterhin auf die Rolle des Jugendamtes: Sofern dieEltern kein Einvernehmen über eine Sorgerechtserklä-rung erzielen und Vermittlungsversuche des Jugendam-tes erfolglos bleiben, soll das Jugendamt eine eigene undvon den Erklärungen der Eltern unabhängige Bewertungvornehmen und selbst den Fall dem Familiengericht vor-legen. – Das verstehen wir, offen gestanden, nicht.
Warum dieser völlig unnötige Automatismus in diesemVerfahren, der den Eltern die Entscheidungsgewalt ausder Hand nimmt?
Das birgt die Gefahr, dass damit eben nicht Rechtsfrie-den geschaffen wird, sondern über die Köpfe der Betrof-fenen hinweg Entscheidungen gefällt werden.Nach dem Antrag der Linken genügt für das gemein-same Sorgerecht allein die Anerkennung der Vaterschaft,verbunden mit der Willenserklärung des Vaters zur ge-meinsamen Sorge. Diese Auffassung kann man ja vertre-ten, aber für den Streitfall, um den es hier geht, bietenSie nicht mehr an als ein Mediationsverfahren und den
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Thomas Silberhorn
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Hinweis, dass im Übrigen der Rechtsweg offenstehe. Ja,was denn nun? Damit ist doch den Eltern nicht geholfen!
So sehen wir betroffen: Vorhang zu und alle Fragen of-fen. Mehr kann ich zu Ihrem Entwurf nicht sagen.Wir sind als Gesetzgeber in der Pflicht, einen ange-messenen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen zufinden, und wir sind uns in der Koalition einig, dass hiernicht das Wohl der Mutter, auch nicht das des Vaters,sondern das Wohl des Kindes im Mittelpunkt steht. Dasist Dreh- und Angelpunkt. Wir müssen uns daran orien-tieren, was für das Kind das Beste ist. Dabei ist unserLeitbild von zentraler Bedeutung, dass ein Kind Mutterund Vater braucht. Die Entwicklung des Kindes wird imIdealfall durch beide Elternteile geprägt. Das hat Aus-wirkungen auf unseren Gesetzentwurf und findet seinenAusdruck im Wechsel der Beweislast, wenn ich es soformulieren darf, den ich für wegweisend halte.Künftig muss eben nicht mehr dargelegt werden, wes-halb die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohlentspricht, sondern wir gehen als Regelfall davon aus,dass die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl entspricht.Der Vater oder auch die Mutter erhalten das Sorgerechtnur dann nicht, wenn das dem Kindeswohl widerspricht.Wenn also keine Gründe für eine Gefährdung des Kin-deswohls bestehen, dann wird das Familiengericht denEltern das gemeinsame Sorgerecht zusprechen. Wir neh-men hier an einem ganz wichtigen und entscheidendenPunkt eine Änderung vor, die das Wohl des Kindes inden Mittelpunkt stellt und keinen Elternteil benachteiligt.Zur Klärung der elterlichen Sorge sehen wir ein ge-stuftes Verfahren vor. Die Mutter erhält zunächst alsengste Bezugsperson nach der Geburt des Kindes das al-leinige Sorgerecht. Natürlich haben die Eltern Gelegen-heit, eine übereinstimmende Sorgeerklärung abzugeben.Es ist erfreulich, dass immer mehr Eltern von dieserMöglichkeit Gebrauch machen. Von meinen Vorrednernist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Mög-lichkeiten der Konsensbildung ausgeschöpft werdensollten.Wir müssen aber schlussendlich im Gesetz eine Ant-wort darauf finden, was passiert, wenn keine überein-stimmende Sorgeerklärung abgegeben wird. DiesenStreitfall müssen wir regeln.
Dafür stellen wir dem Vater zwei Handlungsalternativenzur Verfügung:Er kann zunächst selbst eine Sorgeerklärung beim Ju-gendamt in der Hoffnung abgeben, dass die Mutter dergemeinsamen Sorge zustimmen wird.Er kann aber auch ohne Umweg über das Jugendamtdirekt das Familiengericht anrufen. Ich denke, dieserWeg stellt eine wichtige Möglichkeit bei von Anfangan konfliktbehafteten Sorgerechtsstreitigkeiten zwischenVater und Mutter dar, um eine Entscheidung über dasSorgerecht schnell und effizient herbeizuführen.Schweigt die Mutter im gerichtlichen Verfahren oderträgt sie keine Gründe vor, die gegen die gemeinsameSorge sprechen, und sind dem Gericht solche Gründe an-derweitig nicht ersichtlich, dann soll die Entscheidungunter Anwendung der gesetzlichen Vermutung ergehen,dass die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl nicht wi-derspricht. Das Ganze soll in einem vereinfachten Ver-fahren geschehen, also durch schriftliche Entscheidungund ohne persönliche Anhörung der Eltern. Das gewähr-leistet eine zügige Entscheidung ohne umfassende undlangwierige gerichtliche Prüfung. Die Mutter kann, an-ders als bisher, durch bloßes Schweigen die gemeinsameSorge nicht mehr verhindern oder hinauszögern. Ihrbleibt natürlich die Möglichkeit, sich zum Sachverhaltzu äußern und Gründe, die das Kindeswohl gefährdenkönnten, vorzutragen. Das Gericht muss dieses dann ent-sprechend würdigen. Wir setzen der Mutter aber eine Er-klärungsfrist, damit in diesem Fall zügig eine Entschei-dung herbeigeführt werden kann.Der Mechanismus unseres Verfahrens wird darandeutlich. Wir vermeiden einen häufigen Wechsel beimStreit um das Sorgerecht. Wir geben der Mutter von Be-ginn an das alleinige Sorgerecht. Wir ermöglichen esaber dem Vater, zu einer zügigen und klärenden Ent-scheidung über das Sorgerecht zu kommen. Das Ganzegeschieht mit einem Wechsel der Beweislast; dabei stehtdas Kindeswohl im Mittelpunkt, denn im Regelfall ent-spricht die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl.Das ist in dieser schwierigen und oft hochemotionalgeführten Diskussion ein Ergebnis, das aus der Perspek-tive aller Beteiligten tragfähig, ausgeglichen und prakti-kabel ist. Der Entwurf bietet eine Regelung, die für dasgemeinsame Sorgerecht nicht verheirateter Eltern effi-ziente Verfahren sowie faire und vernünftige Lösungenbietet. Wir hoffen auf eine breite Zustimmung
und sind zuversichtlich, dass wir im Anschluss an dieBeratungen mit den Verbänden einen Gesetzentwurf vor-legen und zügig verabschieden können, der diesesThema im Interesse unserer Kinder zufriedenstellendlöst.Vielen Dank.
Jetzt spricht Caren Marks für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Silberhorn, Siehaben gerade deutlich gemacht, dass es sich bei dem An-satz von Union und FDP um eine Mogelpackung han-delt. Es geht eben nicht darum, die Rechte der Väter zu
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20701
Caren Marks
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stärken. Die Väter sind wieder diejenigen, die vor Ge-richt gehen müssen, wenn es nicht zum Einvernehmenkommt. Das ist unseres Erachtens der falsche Weg undstärkt nicht die Rolle der Väter.
Während die Bundesregierung den Auftrag des Bun-desverfassungsgerichtes zur Neuregelung der elterlichenSorge bei Unverheirateten bisher nicht umgesetzt hat,sind SPD, Grüne und auch Linke schon einen Schrittweiter. Meine Fraktionskollegin Christine Lambrecht hatbereits Details zu unserem Antrag ausgeführt. DieserAntrag bietet Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegender Regierungskoalition, eine Lösung an. Wir machenhier konkrete Vorschläge, wie dem Richterspruch ausdem Jahr 2010 nun endlich Taten folgen können. Nachmonatelangem Nichtstun, Hände-in-den-Schoß-Legenund vor allem – das ist nichts Neues, egal bei welchemThema – Streitigkeiten in der Regierungskoalition gibtes mittlerweile, man glaubt es kaum, immerhin einenReferentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium.Darüber werden wir, so er denn wirklich eingebrachtwird, zu gegebener Zeit debattieren.Ziel der parlamentarischen Beratung muss es sein, zueiner guten Regelung im Interesse der betroffenen El-tern, vor allem aber – und das ist das Wichtigste – im In-teresse der Kinder zu kommen.
Ich hoffe – jedenfalls konnte man das bei allen Redne-rinnen und Rednern grundsätzlich heraushören –, dassallen, also auch den Koalitionsfraktionen und derschwarz-gelben Bundesregierung, daran gelegen ist unddass sich der eine oder andere Punkt im Verlaufe derweiteren Beratungen einspeisen lässt.Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteilklargestellt, dass die gemeinsame elterliche Sorge grund-sätzlich den Bedürfnissen des Kindes nach Beziehungenzu beiden Elternteilen entspricht. Eine Neuregelungmuss sich also zwingend – ich sage: völlig zu Recht –und zuallererst am Kindeswohl ausrichten. Denn Kinderfragen nicht danach, wann und wie sie gezeugt wurden,und erst recht nicht, ob mit oder ohne Trauschein. Kin-der brauchen einfach beide Eltern, und sie haben einRecht auf beide Eltern.Ich will nicht bestreiten, dass Gründe des Kindes-wohls auch gegen ein gemeinsames Sorgerecht sprechenkönnen, etwa eine fehlende Kooperationsbereitschaftunter den Eltern. Aber Ausnahmen dürfen nicht die Re-gel bestimmen. Die Regel sollte sein, dass sich beide El-ternteile ihrer Pflicht zur Übernahme der elterlichen Ver-antwortung und Sorge bewusst sind, und zwar imInteresse des Kindes.Ich bin sicher, dass Überlegungen von Müttern– diese gibt es durchaus –, für den sogenannten Notfallder Trennung lieber die alleinige Sorge behalten zu wol-len, genauso der Vergangenheit angehören werden wiedie Situation, dass Vätern der einfache Rückzug aus ih-rer Verantwortung ermöglicht wird. Beides ist falsch.
Der Weg zur gemeinsamen Verantwortungsüber-nahme sollte unverheirateten Eltern so einfach wie mög-lich gestaltet werden: keine großen Antragsnotwendig-keiten, keine wie auch immer erforderlichen Verfahren,die Zeitdruck durch Fristen erzeugen, und keine anderendenkbaren Maßnahmen. Das Verfahren sollte einfacheinfach sein.Das Ziel der SPD-Fraktion ist es, dass der Gesetzge-ber die Verantwortung beider Eltern entsprechend be-kräftigt. Die Kinder jedenfalls werden davon profitieren.Staatliche Stellen wie das Standesamt oder auch das Ju-gendamt können die Eltern hier entsprechend unterstüt-zen. Sie können von Anfang an gezielt helfen, nach Lö-sungen zu suchen und damit Konflikte zwischen Elternvielleicht gar nicht erst entstehen zu lassen.
Die gemeinsame elterliche Sorge nicht miteinanderVerheirateter sollte immer mehr genauso selbstverständ-lich sein wie die gemeinsame Sorge von Ehepaaren. Dasspiegelt dann auch die Lebenswirklichkeit in unseremLand wider – eine Wirklichkeit, die durch die Zunahmeder Zahl von Eltern ohne Trauschein geprägt ist.Es muss Schluss damit sein, dass Kinder in unsererGesellschaft benachteiligt werden, wenn ihre Elternnicht miteinander verheiratet sind. Diese Ungleichbe-handlung ändern wir mit unserem Antrag. Dabei stärkenwir die Vorrangstellung der Kinder, und das ist richtigund notwendig.
Wir wollen damit das Kindeswohl nicht nur in den Mit-telpunkt der Betrachtung stellen, sondern dafür auchnach einer wirklichen Lösung suchen.Die SPD versteht unter einer modernen Familienpoli-tik auch immer die Gleichstellung von Männern undFrauen. Dies ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit,auch beim Sorgerecht. Gemeinsame Sorgeverantwor-tung stärkt die Partnerschaftlichkeit und Chancengerech-tigkeit und trägt der veränderten Lebenswirklichkeit inunserem Land, nämlich der Zunahme der Zahl von un-verheirateten Paaren, wirklich Rechnung.
Frau Kollegin.
Denn gemeinsam machen Eltern Kinder stark. Das
sollte im Interesse des gesamten Parlamentes sein.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/8601 und 17/9402 an die Aus-schüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung fin-
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20702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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den. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so be-schlossen.Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-tion Atalanta zur Bekämpfung der Piraterievor der Küste Somalias auf Grundlage desSeerechtsübereinkommens der Vereinten Na-tionen von 1982 und der Resolutionen1814 vom 15. Mai 2008, 1816 (2008)vom 2. Juni 2008, 1838 vom 7. Oktober2008, 1846 vom 2. Dezember 2008, 1851
vom 16. Dezember 2008, 1897 (2009)
vom 30. November 2009, 1950 vom23. November 2010, 2020 vom 22. No-vember 2011 und nachfolgender Resolutionendes Sicherheitsrates der VN in Verbindung mitder Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP desRates der Europäischen Union vom10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Ratesder EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP desRates der EU vom 23. März 2012– Drucksache 17/9339 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOVorgesehen ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zudebattieren. – Auch dazu sehe und höre ich keinen Wi-derspruch. Dann ist das ebenfalls beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Dr. RainerStinner hat jetzt für die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Mandat für die Antipiraterieoperation Atalanta istvon all den Mandaten, die wir hier im Deutschen Bun-destag verabschieden, das mit Abstand in der Bevölke-rung populärste Mandat. Es ist verständlich, dass wir alsStaat nicht zulassen wollen und können, dass böse Bu-ben zur See unsere Schiffe angreifen, kapern, Geiselnnehmen und für ihre Freilassung Geld verlangen. Dasversteht jeder im Lande, jeder auf den Bühnen und jederhier im Deutschen Bundestag.
Es gibt ein jahrtausendealtes Seegewohnheitsrechtund ein langjähriges Seevertragsrecht, das uns ermäch-tigt, gegen Piraten vorzugehen. Genau das tun wir. DieMär, die anfangs gestreut worden ist, es handele sich beiden Piraten um arme Fischer, denen die Ernährungs-grundlage entzogen worden ist, hat sich mittlerweilewirklich als Mär erwiesen. Spätestens jetzt, wo dieFischbestände aufgrund der Piraterie wieder deutlich an-gewachsen sind, könnten diese armen Piraten wiederFischer werden. Das tun sie natürlich nicht. Denn hinterder Piraterie steckt mittlerweile ein voll durchorganisier-tes kriminelles Netzwerk, eine kriminelle Organisation,die wir bekämpfen müssen und wollen.
Seit 2008 hat der Bundestag entsprechende Mandateverabschiedet und damit die Bundeswehr ermächtigt,sich im Rahmen einer europäischen Mission an der Be-kämpfung der Piraterie zu beteiligen. Ich habe anfangskritisiert, dass die Bundeswehr nach meinem Dafürhal-ten die Ermächtigung, die wir ihr gegeben haben, nichtvollumfänglich ausgenutzt hat; man hätte mehr machenkönnen. Ich bin sehr erfreut, festzustellen, dass es imletzten Jahr auf europäischer Ebene eine Änderung desOperationsplans gegeben hat und deshalb die Soldatenaller beteiligten europäischen Staaten, auch unsere Sol-daten, noch energischer gegen Piraten vorgehen können;das ist richtig und wichtig.
Es gibt im Kampf gegen Piraterie natürlich Fort-schritte. Die Zahl der erfolgreichen Kaperungen ist dra-matisch gesunken. Ich gestehe zu bzw. erkläre: Das istzum großen Teil deswegen der Fall, weil die Schiffe zu-nehmend von bewaffneten Personen begleitet werden,die Piratenangriffe abwehren. Die Zahl der erfolgreichenKaperungen ist zwar gesunken – das ist ein Erfolg –;aber das Problem ist noch längst nicht gelöst.Nun haben wir durch unsere Aufklärung entdeckt,dass am Strand Boote liegen, zum Teil über Tage undWochen hinweg, die genutzt werden, um Piratenakte zubegehen. Es ist für uns nicht plausibel, dass wir bei Hun-derten von Schiffen, die in diesen Gewässern fahren, mitgroßem Aufwand versuchen, auf See irgendetwas zu re-geln und zu identifizieren, wer der Böse und wer derGute ist, wenn wir gleichzeitig sehen, dass sich die Pira-ten an Land vorbereiten und an Land liegende Boote ein-setzen. Deshalb gibt es den Wunsch, dieses Mandat zuerweitern.Keiner von uns gibt sich Illusionen hin: Das ist nichtder große Wurf, der die Welt total verändert. Nein, es isteine sinnvolle Ergänzung, weil wir gesehen haben: Daliegt Material an Land. Wenn es uns gelingt, dieses Ma-terial unbrauchbar zu machen, dann erschweren wir esden Piraten nachhaltig – wir beseitigen damit die Pirate-rie nicht –, ihrer „Arbeit“ nachzugehen. Deshalb ist eineentsprechende Ergänzung dieses Mandates wichtig.
Der Mandatstext, den Sie alle vorliegen haben, ent-hält zwei geringfügige Erweiterungen. Unter Nr. 2 wird
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Dr. Rainer Stinner
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erstens darauf hingewiesen, dass der Auftrag für dieKüste und für innere Gewässer gilt. Zweitens wird dasEinsatzgebiet zur Piratenverfolgung neu definiert, undzwar von der Küste 2 000 Meter ins Landesinnere.Wir haben im Rahmen der Diskussionen, die zu die-sem Mandatsantrag geführt haben, Gespräche mit derBundesregierung geführt, in denen wir einige Bedingun-gen gestellt haben.Erstens. Es darf unter keinen Umständen um Gefechtemit Piraten gehen. Es soll also keine Kampfhandlungenan der Küste geben. Vielmehr geht es um die Logistik,also beispielsweise um Boote, die unbewacht und ohnePersonal am Strand liegen und unbrauchbar gemachtwerden sollen.Zweitens. Wir haben gefordert: Keine Soldaten anLand. Der Fachterminus ist: No boots on the ground.Auf unsere Nachfrage, ob Flossen auch Boots sind,wurde gesagt: Jawohl, Flossen sind auch Boots. – Dasheißt: Kein deutscher Soldat betritt somalischen Boden.Das ist uns zugesagt worden. Es steht auch im Man-datstext eindeutig drin.Drittens. Wir wollen die Sicherheit der Soldaten ge-währleisten, das heißt, dass unseren Hubschrauberbesat-zungen, die die Mission ausführen, in dem Fall, dass ih-nen doch etwas passieren sollte, geholfen wird. Auch dasist uns zugesagt worden.Letztlich haben wir erwartet, dass die Bundesregie-rung ein offenes, klares und transparentes Mandat vor-legt. Wir Abgeordnete wollen nicht, dass wir aufgrundvon Geheimhaltungspflichten in Bezug auf den Opera-tionsplan gezwungen sind, unsere Soldaten irgendwo an-ders hinzuschicken. Deshalb hat die Bundesregierung zuRecht für deutsche Soldaten das Einsatzgebiet auf eineBreite von 2 000 Metern beschränkt. Das Mandat ist of-fen, es ist transparent, und es ist richtig.
Wir alle aber wissen, dass auch in diesem Falle gilt,was überall gilt: Militär löst das Problem nicht. Deshalbist es so wichtig, dass wir weitergehende einschneidendeMaßnahmen vornehmen. Das ist der Fall. Deutschlandbeteiligt sich an weitreichenden nichtmilitärischen Maß-nahmen. Wir haben eine Kooperation mit der Über-gangsregierung in Somalia. Wir haben am 11. November2011 den strategischen Rahmen für das Horn von Afrikaverabschiedet. Wir haben aktiv teilgenommen an der So-malia-Konferenz vom 23. Februar dieses Jahres in Lon-don. Wir leisten erhebliche humanitäre Hilfe in Somalia.Wir unterstützen die Mission der Afrikanischen Union.Wir ermöglichen im Rahmen einer Kooperation mitUNODC die Ausbildung im Polizei-, Gerichts- und Ge-fängniswesen in Puntland und Somaliland.
Herr Kollege Stinner, Frau Buchholz würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen. Ich möchte Ihnen die
Möglichkeit geben, diese zuzulassen, bevor die Zeit ab-
gelaufen ist.
Frau Buchholz? Bitte schön, gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Stinner. – Sie haben ge-
sagt: Alles ist transparent, alles ist offen. Können Sie mir
bestätigen, dass im Operationsplan, der in der Geheim-
schutzstelle liegt und damit nicht allen Abgeordneten zu-
gänglich ist, tatsächlich ausgeschlossen ist, dass es das
Ziel der Operation sein könnte, dass auch Personen zu
Schaden kommen?
Die Frage habe ich nicht verstanden.
Dann werde ich sie gerne noch einmal formulieren:
Der Operationsplan liegt in der Geheimschutzstelle aus
und ist somit der geneigten Öffentlichkeit nicht zugäng-
lich. Damit alle wissen, worüber sie in der nächsten Sit-
zungswoche abstimmen müssen, wollte ich Sie fragen, ob
im Operationsplan, den Sie bestimmt kennen, ausge-
schlossen ist, dass sich die Operation auch gegen Perso-
nen richtet. Ist es eventuell doch möglich – wir wissen es
nicht –, dass er sich vielleicht auch gegen Personen – kon-
kret: gegen Piraten – richten soll?
Das Mandat, das wir heute verabschieden, ist klar undeindeutig. Der Auftrag ist klar und eindeutig definiert,und aus diesem Auftrag geht klar und eindeutig hervor,was die Aufgabe der Bundeswehr ist. Daran wird sichdie Bundeswehr halten.
Es gibt einen Punkt, den wir bisher noch nicht aus-führlich genug betrachtet haben: das systematische Auf-spüren und Verfolgen von Hintermännern der Piraterie,
und zwar nicht nur unmittelbar in Somalia, sondern auchin angrenzenden Ländern. Ich weiß, dass die Bundesre-gierung hier schon einiges macht, aber ich fordere sietrotzdem auf, ihre Bemühungen in diesem Bereich nochzu intensivieren; denn erst in den letzten Monaten sindim Rahmen einer Combined-Joint-Task-Force-Organisa-tion mit den Holländern einige wichtige Schritte unter-nommen worden. Das war zu spät, aber immerhin istdort etwas gemacht worden.Wir fordern Sie auf, hier mehr zu machen; denn wiralle, liebe Kolleginnen und Kollegen, wissen: Wenn esuns nicht gelingt, das kriminelle Netzwerk zu zerschlagenund dafür zu sorgen, dass Piraterie kein Geschäft mehr ist,werden wir langfristig – da können wir an Land und auf
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20704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Rainer Stinner
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See noch so effizient gegen die Piraterie arbeiten – nichterfolgreich sein. Deshalb ist das auch hier in diesem Fallder Hebel für den Erfolg. Ein weiteres Mal geht es nichtum Militär, sondern um andere Dinge, die wir machenmüssen; aber das Militär liefert einen sinnvollen und wert-vollen Beitrag. Das unterstützen wir. Wir fordern auch Sieauf, dem zuzustimmen.Vielen Dank.
Es spricht der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor fünf Monaten, am 23. November letzten Jahres, er-
klärte der Außenminister an diesem Pult:
Die Pirateriebekämpfung vor dem Horn von Afrika
durch Atalanta ist nicht nur breit in diesem Hause
getragen, sondern sie ist auch erfolgreich.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, die-
ser Satz illustriert sehr gut, um was es heute geht und
was Sie ohne Not vorhaben. Sie provozieren mit einem
erweiterten Auftrag neue zusätzliche Risiken und ver-
wirken zugleich eine breite Mehrheit in diesem Hause.
Ich finde, das, was Sie an dieser Stelle heute erläutert
haben, ist es nicht wert, auf diese breite Mehrheit zu
verzichten.
Herr Kollege Stinner, mit Verlaub: Ich weiß nicht, ob
Sie allein mithilfe der Aufklärung zu der Erkenntnis
gekommen sind, dass es am Strand Boote gibt, die von
Piraten genutzt werden. Selbst mir als Kölner fällt es
leicht, mir vorzustellen, dass das eine oder andere Boot
den Strand erreicht, was von Piraten genutzt wird.
Man hat bei Ihrer Argumentation gemerkt, wie unan-
genehm Ihnen dieser Punkt ist. Der entscheidende Punkt,
den Sie hier eben nicht erwähnt haben, ist aber: Die
Atalanta-Operation, die im Deutschen Bundestag immer
breit getragen wurde, hat immer mehr eine abschre-
ckende Wirkung entfaltet. Alle Hilfskonvois des Welter-
nährungsprogramms haben Somalia erreicht, weil sie
militärisch geschützt wurden, woran sich auch die Bun-
deswehr beteiligt hat. Die Schiffe, die sich Konvois an-
geschlossen haben, sind sicher durch die Gewässer
gefahren. Auch die Schiffe, die eigene Sicherheitsmaß-
nahmen ergriffen und erfahrene Besatzungsmitglieder,
die gut bezahlt wurden, eingesetzt haben, sind sicher
durch die Gewässer gekommen.
Es ist Ihnen nach dem Fazit, das man in Bezug auf
Atalanta ziehen kann, überhaupt nicht gelungen, deutlich
zu machen, warum Sie jetzt plötzlich – fünf Monate
nachdem wir ein erfolgreiches Mandat beschlossen hat-
ten – schon wieder eine Änderung erreichen wollen. Ich
finde das weder argumentativ richtig hergeleitet noch
politisch angemessen.
Die entscheidende Frage an dieser Stelle wäre doch
gewesen: Müssen wir nicht in stärkerem Maße mit den
Reedern – sie haben teilweise eine Ausflaggung vorge-
nommen und bezahlen keine Steuern mehr an den Staat,
von dem sie verlangen, etwas für ihre Sicherheit zu tun –
darüber sprechen, dass sie beachten müssen, dass es sich
um gefährliche Gewässer handelt? Auch sie müssen zur
Kenntnis nehmen, dass ihnen militärische Maßnahmen
zur Verfügung stehen, damit sie – das war auch Ihr Fazit –
geschützt durch diese Gewässer kommen.
Ich finde, man sollte doch bemerken – darauf haben
auch Sie zu Recht während Ihrer Rede hingewiesen –,
dass die Anzahl der Piratenangriffe auf diese Schiffe zu-
rückgegangen ist. Es gibt also ein erfolgreiches Mandat,
aber Sie bereiten hier im Bundestag den Weg für ein
neues Mandat. Wir sind in den bisherigen Beratungen
eben nicht überzeugt worden, dass es sinnvoll ist, diesem
neuen Mandat zuzustimmen. Das finde ich sehr leicht-
fertig. Diesen Vorwurf muss ich der Regierungskoalition
machen.
Ich will Sie daran erinnern: Der SPD-Fraktion wird
vorgeworfen, dass sie sich hier sozusagen aus der Ver-
antwortung stiehlt.
Bisher haben wir als SPD-Bundestagsfraktion – das galt
auch für die letzte Abstimmung – diesem Mandat ohne
Gegenstimme immer zugestimmt. Es gab doch im
Grunde genommen Konsens in diesem Hohen Haus;
denn auch wir sind der Meinung gewesen, dass das
Atalanta-Mandat richtig ist. Wenn Sie jetzt sagen, wir
würden das alles wegen der Landtagswahlen machen,
dann fällt das auf Sie zurück. Bei der Erteilung militäri-
scher Mandate haben wir Ihre Art zu denken in einem
ähnlichen Zusammenhang schon zweimal erlebt. Sie
hätten den Antrag zur Verlängerung des Mandats ja erst
nach den Landtagswahlen einbringen können. Das lag
doch in Ihren Händen.
Ich offeriere Ihnen an dieser Stelle ein Angebot: Stel-
len Sie das Mandant nicht in der nächsten Sitzungs-
woche zur Abstimmung, sondern erst nach den Land-
tagswahlen. Dennoch würden wir unsere Kritik, die wir
bereits formuliert haben – wir werden den Antrag auch
in den Ausschüssen kritisch hinterfragen –, weiterhin
aufrechterhalten.
Möchten Sie die Zwischenfrage des Kollegen Stinnerzulassen?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20705
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Ja, bitte.
Bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Mützenich. Erstens. Ich
habe Ihre Fraktion in meiner Rede bewusst nicht ange-
sprochen, weil ich keine Schärfe und keine parteipoliti-
sche Konfrontation in die Debatte bringen wollte.
Zweitens. Ich habe in meiner Rede mit keinem Wort die
Landtagswahlen erwähnt. Die Landtagswahlen spre-
chen Sie in dieser Debatte als Erster an. Das ist sehr inte-
ressant.
Sehr geehrter Herr Mützenich, Sie haben angedeutet,
dass Sie den Antrag ablehnen werden. Ich glaube noch
nicht daran, dass Sie ihn ablehnen werden; aber wir wer-
den es ja sehen. Schauen wir einmal, wie Sie sich nach-
her entscheiden werden. Ich möchte Ihnen Folgendes
vorschlagen: Nachdem Sie den Antrag abgelehnt haben,
was Sie hier angedeutet haben, gehen wir gemeinsam zu
den Reedern und zu deutschen Industrieunternehmen.
Dann können Sie denen erklären, warum die sozialde-
mokratische Partei nicht mehr bereit ist, an der Piraterie-
bekämpfung teilzunehmen. Dann können Sie denen sa-
gen, dass Ihnen eine gewisse Ergänzung und
Erweiterung des Mandates nicht passt. Auf die Debatte,
lieber Herr Mützenich, freue ich mich außerordentlich.
Ein letzter Punkt – jetzt wird es ganz merkwürdig –:
Herr Mützenich, Sie haben vorgeschlagen, dass wir über
den Antrag nicht in der nächsten Woche, sondern erst
nach den Landtagswahlen abstimmen. Ich habe noch
sehr gut im Ohr, was Sie, lieber Herr Kollege Mützenich,
vor 14 Tagen oder drei Wochen gesagt haben. Sie haben
genau das Gegenteil gesagt.
Als die Obleute darüber gesprochen haben, wann der
Antrag zur Verlängerung des Mandats eingebracht wird,
haben wir zu bedenken gegeben, dass der Außenminister
an der Debatte vielleicht nicht teilnehmen kann, wenn
sie am heutigen Tag stattfindet. Damals ist von Ihrer
Seite gesagt worden: Warum? Wir erwarten, dass ihr die
Sache möglichst schnell voranbringt. – Heute stellt sich
derselbe Herr Mützenich hier hin und sagt: Nein, wir
können die Abstimmung auch verschieben.
Liebe Kollegen von der sozialdemokratischen Partei,
ich bin sehr gespannt auf Ihren Meinungsbildungspro-
zess. Herr Steinmeier wird sich dazu sicherlich auch ein-
lassen. Falls Sie ablehnen, was ich nicht glaube – wir
werden es ja sehen –, werden Sie mit uns zu den Reedern
und den deutschen Industrieunternehmen gehen und
denen erklären, warum Sie sich von dem Solidaritäts-
prinzip und der Bekämpfung der Piraterie verabschie-
den. Dabei wünsche ich Ihnen viel Glück.
Ich nehme das gerne auf, Kollege Stinner. – FrauPräsidentin, wenn ich genauso lange antworten darf, wieder Herr Kollege Stinner gefragt hat, wird mir das beimeiner Argumentation entgegenkommen.Ich möchte Ihnen erstens Folgendes sagen: Nicht dieObleute bringen einen Antrag zur Verlängerung einesMandats ein, sondern die Bundesregierung. Die Bundes-regierung hat diesen Antrag in dieser Sitzungswocheeingebracht, und wir unterhalten uns darüber. Wir disku-tieren und wägen ab. Ich finde, das sollten Sie beachten.Dass der Bundesaußenminister heute nicht anwesend ist,habe ich gar nicht kritisiert. Ich habe genau daraufgeachtet, das nicht zu tun. Wenn Sie der Meinung sind,dieses Mandat hier auf diese Weise begründen zu müs-sen, dann können Sie das tun.Zweitens. Es geht doch überhaupt nicht darum, werwo mit wem gesprochen hat, wer zum Beispiel mitReedern gesprochen hat. Natürlich sprechen wir mitReedern. Wir bringen in dieser Woche einen Antrag ein,der von vielen Politikern aus dem Norden, aber auch vonInnenpolitikern und Mitgliedern des Auswärtigen Aus-schusses erarbeitet wurde und der deutlich macht, dasswir wollen, dass die Reeder eigene Sicherheitsmaßnah-men ergreifen, und zwar aufgrund der Erfahrungen, diemit Atalanta gesammelt wurden. Deswegen verfolge ichdiese Diskussion mit großem Interesse.Der entscheidende Punkt ist aber ein anderer – aufdiesen Punkt sind Sie nicht eingegangen –: Atalanta hateine abschreckende Wirkung. Das Atalanta-Mandat birgtaber auch – das wurde in den vergangenen Jahren immerwieder deutlich – zusätzliche Risiken. Es stellen sichdaher eine Menge Fragen.
Es ist interessant, Herr Kollege Stinner, dass Sie we-der in Ihrer Frage noch in Ihrer Rede darauf eingegangensind, dass die anderen beteiligten internationalen Organi-sationen wie zum Beispiel die NATO oder einzelne Na-tionen, die auch die Piraterie bekämpfen, nicht an Landgehen. Die NATO hat ausdrücklich gesagt: Wir wollendie Pirateriebekämpfung auf See. Wenn Sie so felsenfesthinter diesem Mandat stehen, wie Sie behauptet haben,hätten Sie hier einmal erklären sollen, warum die EUund insbesondere die Bundesregierung dazu eine voll-kommen unterschiedliche Auffassung haben. Das ge-hört, glaube ich, zu einer redlichen Diskussion dazu. Siemachen aus einem Mandat, das sich in den letzten Jahrenerfolgreich entwickelt hat, etwas, das wir nicht mittragenkönnen.
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20706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Rolf Mützenich
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Das habe ich Ihnen jetzt deutlich gemacht. Wir werdenIhnen das auch in den Ausschussberatungen noch einmalvor Augen führen.In der Tat, Kollege Stinner, Sie haben die Bundesre-gierung aufgefordert – das unterstütze ich –, mehr in denanderen Bereichen zu tun; das würde die OperationAtalanta noch erfolgreicher machen. Sie haben daraufhingewiesen, dass zwar auf der einen Seite die Zahl derPiraterieangriffe zurückgegangen ist, aber auf der ande-ren Seite die Höhe der Lösegeldzahlungen, die für ent-führte Schiffe geleistet worden sind, angestiegen ist. Nurganz wenig von diesem Geld ist nach Somalia geflossen;es geht an die Hintermänner. Ich bin Ihnen dankbar, dassSie die Bundesregierung auffordern – Sie können in die-ser Hinsicht viel mehr erreichen als die Opposition –,hier mehr zu tun.
Es ist ein Versäumnis der Bundesregierung, dass in denletzten Jahren zu wenig im regionalen Umfeld und ins-besondere bei der Bekämpfung der Kriminalität getanwurde.
Noch etwas kann ich Ihnen, meine Damen und Herrenvon der Bundesregierung, nicht ersparen. Sie haben überdie Obleutegespräche berichtet. In den Telefonaten, diedie Obleute geführt haben, wurden von uns bezüglichder Entwicklung des Mandates sehr kritische Fragen ge-stellt.
Ich kann mich daran erinnern, dass einzelne Kollegennach den Grenzen dieses Mandats in Somalia gefragt ha-ben. Darauf wurde vonseiten der Bundesregierung ge-antwortet: Das können wir nicht sagen, weil es der Ge-heimhaltung unterliegt. – Das hatten wir zu demZeitpunkt akzeptiert. Wir akzeptieren aber nicht, dassSie ausgewählte Medien hier in Deutschland noch vordem Parlament darüber informieren, dass es eine 2-Kilo-meter-Zone an der Küste geben soll, in der die Bekämp-fung erfolgen kann. Dieses Vorgehen stellt eine Missach-tung des Parlaments dar; dieser Umgang mit demMandat ist so nicht in Ordnung.
Trotz zahlreicher Bedenken auch in Ihren Reihen– diese wurden in Ihrer Rede deutlich – hatten Sie nichtden Mut, den Strategiewechsel zu verhindern. Versäum-nisse und Fehler haben Ihnen die Souveränität und dieBewegungsfreiheit genommen. Sie haben den Kompro-miss einer berechenbaren und angemessenen Außen-und Sicherheitspolitik leichtfertig über Bord geworfen.Mit dieser Situation werden Sie leben müssen, wenn inder nächsten Sitzungswoche über die Verlängerung desMandats abgestimmt wird.Vielen Dank.
Das Wort für die Bundesregierung hat Dr. Thomas deMaizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-teidigung:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Mützenich hat daran erinnert: Vor fünf Monatenhaben wir gemeinsam über das Mandat zur OperationAtalanta beraten. Wir haben es gemeinsam erarbeitet,darüber entschieden und es verantwortet. Auch jetzt gehtes wieder darum, ein Stück Verantwortung zu über-nehmen. Ich begründe den Antrag heute – Sie habendarauf hingewiesen – auch im Namen meines KollegenWesterwelle, der im Ausland ist. Er wird in der zweitenund dritten Lesung sprechen. Das ist, glaube ich, inOrdnung.Wir wollten unseren Beitrag dazu leisten, die Schiffeder Welthungerhilfe sicher nach Somalia zu bringen. Dasist gelungen. Wir wollten dazu beitragen, dass der für diezivile Seefahrt wichtige Golf von Aden sicher bleibt.Davon ist vieles gelungen. Wir waren davon überzeugt,dass das Mandat unserer internationalen Verantwortungentspricht, und wir sind es auch für die Zukunft.Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr habenihren Auftrag für uns hervorragend erfüllt und zum gro-ßen Erfolg der Mission beigetragen.
Dieser Erfolg war nur möglich, weil wir von Zeit zu Zeitdie Mittel und den Umfang des Einsatzes angepasst ha-ben. Das ist, ehrlich gesagt, das Normalste von der Welt.Wir haben das auch letzten Sommer getan; Herr Stinnerhat darauf hingewiesen. Wir haben das Mandat robustergemacht, was Zustimmung gefunden hatte. Auch dashatte Erfolg. Dabei ist es übrigens nie zu einer Eskala-tion gekommen, wie manche prophezeit hatten. DasVorgehen war geeignet und verhältnismäßig. Es ist auchimmer so gehandhabt worden.Diesem Anspruch wollen wir auch jetzt Rechnungtragen, wenn es um die Einbeziehung der Küstenstreifengeht. Es handelt sich um eine kleine Ausweitung, einekleine sinnvolle zusätzliche militärische Option – sohabe ich es in Brüssel bezeichnet –, um die Nachhaltig-keit des Einsatzes unserer Streitkräfte zu erhöhen. Ichsage Ihnen: Eine Option mehr ist besser als eine Optionweniger. So einfach ist das.
Interessanterweise sehen das alle Mitgliedstaaten derEuropäischen Union genauso, egal wie sie regiert wer-den; sonst wäre es nämlich nicht zu einem solchen Rats-beschluss gekommen. Von daher muss sich jeder hier im
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20707
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Hause überlegen, ob er klüger ist als 26 oder 27 Regie-rungen in Europa.
– Okay. Sie können auf dieses Argument gerne zurück-kommen. Da Sie jetzt wahrscheinlich auf die Finanz-krise anspielen, will ich es etwas anders sagen: HerrMützenich, wenn wir uns so verhalten wie die anderen27 Staaten,
dann können Sie nicht sagen, wir würden den Konsensbrechen. Vielmehr müssen Sie sich dann überlegen, werden Konsens bricht, falls Sie das tun wollen.
Wahr ist: Wir sollten nicht davon reden, dass es hiereine neue Qualität und Intensität gibt.
Ob man ein Schiff auf dem Wasser, am Ufer oder amStrand bekämpft, ist qualitativ das Gleiche; da sehe ichkeinen großen Unterschied.
Herr Minister de Maizière?
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:
Sofort. Ich lasse die Frage gleich gerne zu. – Das ist
kein Luft-Boden-Krieg, und das ist kein Spiel mit dem
Feuer, wie einige gesagt haben. Auch dazu würde ich
gerne noch einen Satz sagen: Der Einsatz von Soldaten
ist nie ein Spiel mit dem Feuer; dafür ist dieses Thema
zu ernst.
– Nein. Das ist aber sehr interessant. Wenn Sie den Ein-
satz von Soldaten als „Spiel“ bezeichnen, dann sollten
Sie darüber wirklich noch einmal nachdenken.
Herr Kollege Bartels, bitte schön.
Herr Minister, hat denn die Bundesregierung in deneuropäischen Verhandlungen über den neuen Opera-tionsplan bzw. die neuen Möglichkeiten im Rahmen desAtalanta-Mandats die Haltung eingenommen, dass aucham Strand gewirkt werden soll, oder welche Haltung hatdie Bundesregierung in den europäischen Verhandlun-gen eingenommen?Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-teidigung:Es war in den europäischen Verhandlungen so, dassdieser Vorschlag von anderen gemacht worden ist. Wirhatten durchaus das eine oder andere Bedenken; das ha-ben wir auch öffentlich gemacht. Wir haben diese Be-denken so durchgesetzt, dass sie jetzt Gegenstand desMandates sind. Dann haben wir dem zugestimmt. Daswar der Gang der Verhandlungen.Ich will auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel undauf die Gefahren eingehen. Einige sagen: Es besteht dieGefahr von Kollateralschäden
– Einen Moment! Hören Sie erst einmal zu, bevor Sie et-was sagen. Ich setze mich ja gerade mit dem Argumentauseinander.
Wenn Sie sagen, dass beim Wirken am Strand ein ho-hes Risiko von Kollateralschäden besteht, dann sage ichIhnen: Es gibt auch ein hohes Risiko von Kollateralschä-den beim Wirken auf See.
Deswegen können Sie ganz gegen den Einsatz sein.Aber dass es eine zusätzliche Gefahr gibt, weil wir Infra-struktur am Strand bekämpfen, ist so nicht richtig. Auchbeim Wirken auf See wissen wir beispielsweise nicht, obsich Unschuldige auf einem Boot aufhalten oder nicht.Die Soldaten sind allerdings sehr verantwortlich mit die-ser Situation umgegangen. Genau das werden sie auchbeim Wirken am Strand tun.
Herr Mützenich, ich will gerne zu Ihrem Vorwurf, wirhätten mit den Medien gespielt, Stellung nehmen. Das istfalsch. Es war die Bundesregierung, die in den europäi-schen Verhandlungen gesagt hat: Ihr könnt gerne etwasin die Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestagesgeben. Aber es dauert keine fünf Minuten, bis von ir-gendwelchen klugen Leuten in Brüssel in Hintergrund-gesprächen die Zahl 2 000 ins Gespräch gebracht wird. –Daher war unsere Position: Lasst es uns selber offenle-gen. – Genau so ist es gekommen, und genau so habenwir es vertreten. Die Formulierung lautet übrigens „biszu 2 000 Meter“ und nicht „2 000 Meter“.Ich möchte gerne meine Hoffnung zum Ausdruckbringen, dass wir die Kraft haben, gerade bei diesemMandat wieder einen Konsens zu erzielen. Obwohl ichweiß, dass dies auch bei uns ein bisschen umstritten ist,sage ich: Eine Enthaltung ist besser als eine Ablehnung.Aber eine Zustimmung ist das Beste, auch für die Solda-ten. Darum bitte ich Sie.
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20708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
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Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-
lege Jan van Aken.
Herr de Maizière, ich möchte zunächst auf dreiPunkte eingehen, zu denen Sie hier schlichtweg etwasFalsches gesagt haben:Erstens. Es gab hier noch nie einen Konsens über diemilitärische Bekämpfung von Piraterie. Die Linke hatdas Mandat von Anfang an abgelehnt. Es war von An-fang an falsch und wird jetzt noch falscher.
Zweitens. Zu dem, was Sie über Kollateralschädengesagt haben: Herr de Maizière, erinnern Sie sich anKunduz? Spätestens seit Kunduz wissen wir alle inDeutschland, dass Sie in dem Moment, in dem Sie ausder Luft Ziele an Land bombardieren, immer auch dieZivilbevölkerung gefährden. Genau das wird natürlichauch in Somalia passieren, wenn jetzt deutsche Soldatenaus deutschen Hubschraubern Ziele an Land bombardie-ren dürfen. Natürlich können sie von oben nicht erken-nen, ob Menschen in der Nähe sind und wo sie sich viel-leicht befinden. Sie können nicht erkennen, ob die Bootedort unten vielleicht Fischerboote von harmlosen Fi-schern sind. Das kann man nicht ausschließen. Sie alsMilitär wissen – das gilt für alle Ihre Militärs –:
Wenn Sie aus der Luft schießen, dann gibt es immerauch Tote und Verletzte unter der Zivilbevölkerung.Drittens. Herr de Maizière, Sie haben jetzt wieder ge-sagt, das sei „eine kleine sinnvolle zusätzliche militäri-sche Option“. Ich finde es nicht klein, wenn man einenKrieg an Land trägt, und sinnvoll ist das schon gar nicht.
Was Sie mit dem neuen Mandat vorhaben, ist nichts an-deres als eine Kriegserklärung an die somalische Küs-tenbevölkerung.
Genau so werden das die Menschen in der Küstenregionin Somalia empfinden. Sie werden sich in ihrer Bewe-gungsfreiheit eingeschränkt fühlen. Was glauben Siedenn, wie die somalische Bevölkerung auf ein solchesBombardement ihrer Umgebung reagieren wird?
Ich darf noch einen vierten Fehler berichtigen, dervon allen Seiten gemacht wurde, auch vonseiten derSPD: Die Operation Atalanta, diese militärische Be-kämpfung von Piraterie, war überhaupt nicht erfolgreich.Sie alle kennen die Zahlen des Internationalen Mariti-men Büros. Anhand dieser Zahlen sehen Sie, dass dieZahl der Angriffe der Piraten Jahr für Jahr, seit dieseOperation läuft, kontinuierlich zugenommen hat. Dasheißt, Ihre militärische Bekämpfung ist durchweg ge-scheitert, und Sie wissen das.
Am meisten beunruhigt mich: Anstatt diesen Einsatz,der von Anfang an falsch war, jetzt endlich zu beenden,tun Sie genau das Gegenteil. Jedes Jahr erweitern Siediesen Einsatz und sein Operationsgebiet. Dieses Jahrkommen Angriffe an Land dazu. Ehrlich gesagt fürchteich mich schon davor, was Sie uns in einem Jahr wiederNeues vorschlagen.
Eines möchte ich noch zur rechtlichen Situation sa-gen, weil Herr Stinner gesagt hat, es gebe jahrtausen-dealtes Gewohnheitsrecht auf See. Herr Stinner, wir hal-ten uns jetzt einmal an das Seerechtsübereinkommen.Danach dürfen Sie Piratenschiffe tatsächlich aufbringen.Sie dürfen auch das Material von Piratenschiffen be-schlagnahmen, Sie dürfen es aber nicht zerstören. Schonheute werden im Rahmen der Operation Atalanta Bootezerstört, obwohl eine unmittelbare Gefahrenlage garnicht vorliegt und es keine Notwehrsituation gibt. Das istim Seerechtsübereinkommen nicht vorgesehen.Wenn Sie jetzt auch noch aus der Luft irgendwelcheTanklager beschießen, dann ist das keine Beschlag-nahme nach dem Seerechtsübereinkommen. Das ist eineillegale Zerstörung und nicht juristisch gedeckt, HerrStinner. Das wissen auch Sie ganz genau.
Zur Erinnerung: Piraterie ist organisierte Kriminalität.Sie muss bekämpft werden, aber militärisch können SieKriminalität nicht bekämpfen. Das wissen wir alle ausden Erfahrungen der letzten vier Jahre.
Die Ursache der Piraterie ist uns allen bekannt. Sieliegt natürlich in dem 20-jährigen Bürgerkrieg in Soma-lia, in Rechtlosigkeit, in Armut und in Hunger. HerrStinner, sie liegt auch darin, dass europäische Fischfang-flotten jahrelang vor Ort die Fischgründe leergefischtund viele Menschen in die Arme der Piraten getriebenhaben.
Weil die Situation so ist, lässt sie sich doch nur poli-tisch lösen. Herr de Maizière, Ihr Kollege Westerwellesagt übrigens seit vier Jahren: Das muss politisch gelöstwerden. Das Problem ist doch, dass Sie seit vier Jahren
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Jan van Aken
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nichts, aber auch gar nichts für eine politische Lösungtun.
Kommen Sie mir jetzt nicht mit Ihrem umfassendenLösungsansatz für Somalia, von dem ich hier im Bun-destag seit zweieinhalb Jahren höre. Das Einzige, was anIhrem Ansatz für Somalia umfassend ist, ist der militäri-sche Einsatz. Sie bilden somalische Soldaten aus, Sie fi-nanzieren eine internationale Truppe in Somalia mit sehrviel Geld, und jetzt rüsten Sie die Operation Atalantaauch noch für einen immer offensiveren Kriegseinsatzaus.
Das ist der einzige umfassende Ansatz, den Sie in Soma-lia haben.Allein für die Pirateriebekämpfung wollen Sie jetzt100 Millionen Euro ausgeben. Ich sage Ihnen: Diese100 Millionen Euro wären viel besser in die Unterstüt-zung der lokalen Wirtschaft in Somalia und in einen ver-nünftigen innersomalischen Friedensdialog investiert;
denn das ist der einzige Weg, mit dem Sie das Töten inSomalia beenden können und mit dem Sie auch das Pira-terieproblem lösen können.Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschlandkeine Waffen mehr exportieren sollte, nicht in die Re-gion am Horn von Afrika und auch nirgendwo andershin.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Omid Nouripour von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir redennun innerhalb eines halben Jahres das zweite Mal überdie Atalanta-Mission. Die Atalanta-Mission, über diewir im November eigentlich alles Notwendige gesagthatten, ist erfolgreich gewesen und ist es bis heute. DiePiraten sind zurückgedrängt worden. Kollege van Aken,Sie sollten vielleicht auch die Zahl der nicht erfolgrei-chen Angriffe erwähnen. Das haben Sie einfach wegge-lassen. Die Schiffe des World Food Programme wurdengeschützt. 1 Million Menschen sind auf diese Lebens-mittel angewiesen. Es gehört zur Redlichkeit dazu, auchdas zu erwähnen.
Auch das Leben der Seeleute ist unterm Strich ein wenigsicherer geworden.Diese Mission hat deshalb breite Unterstützung indiesem Hohen Hause gefunden, weil das bisher eigent-lich eine gute Mission war.
Die Bundesregierung aber macht aus einem guten Man-dat ein schlechtes. So und nicht anders wird der Konsensin diesem Hohen Hause aufgekündigt.
Im Übrigen ist das nicht das erste Mal. Bei der Opera-tion Active Endeavour war das genauso – Sie erinnernsich –: Dabei stand zur Abstimmung, dass die weltbe-rühmten Untersee-Ausbildungslager der Terroristen vondeutschen U-Booten zerstört werden sollten. Es ist nichtdas erste Mal, dass Sie ein Mandat so versemmeln, dasses nicht mehr möglich ist, ihm zuzustimmen.Herr Altmaier hat neulich gesagt, es sei doch guteTradition, dass es für solche Missionen eine breite Mehr-heit gebe. Es ist wünschenswert – das höre ich auch vonden Soldaten –, dass Missionen eine breite Unterstüt-zung finden. Aber es gibt eine wichtigere gute Tradition,nämlich ganz genau hinzuschauen, was in einem Man-datstext steht und ob dieses Mandat tragbar ist, ob es umeine Anpassung geht oder ob es am Ende doch ein mili-tärisches Abenteuer ist, was da beschlossen werden soll.Das werden wir von Mal zu Mal und bei jeder Missiontun. In diesem Fall kann ich nur sagen: Das Beste für dieSoldatinnen und Soldaten ist es, wenn wir diesem Man-dat nicht zustimmen.
Ich komme zur Terminologie. Zuerst hieß es, der Ak-tionsradius der Mission solle auf den Strand ausgeweitetwerden. Dann sollte dieser Begriff präzisiert werden.Jetzt geht es um 2 Kilometer. Das lässt für die Wirt-schaftsperspektive im Fremdenverkehr hoffen. Aber lei-der ist das gar nicht so lustig, weil diese Grenze absolutwillkürlich gesetzt ist.Es heißt, es gebe Aufklärung aus der Luft. Ich habejetzt gelesen, dass ein Staatssekretär gesagt hat, es gehedarum, „Schiffchen“ am Strand unschädlich zu machen,die unmittelbar vor einem Einsatz stehen. Wenn sie un-mittelbar vor einem Einsatz stehen, aber kein Mensch inder Nähe sein soll, dann verstehe ich nicht, wie das ge-hen soll.Der Herr Außenminister hat letzte Woche gesagt, essei doch nicht sinnvoll, zwar die Waffen auf hoher See,aber die nicht am Strand bzw. an Land zu zerstören. Ichweiß nicht, was für eine Vorstellung er von diesen Waf-fen hat. Wir reden hier nicht über schweres Geschützoder über Artillerie. Es geht um leichte Waffen. GlaubenSie im Ernst, die Piraten türmen ihre Maschinengewehrean Land haushoch auf, gehen dann abends nach Hauseund lassen ihre Waffen liegen, sodass man sie überNacht zerstören kann? Das, was Sie hier erzählen, machtdoch überhaupt keinen Sinn. Es ist aus unserer Sicht zu-
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20710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Omid Nouripour
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dem nicht möglich, aus der Luft so zuverlässig aufzuklä-ren, dass es tatsächlich keine zivilen Opfer gibt.Es ist aber auch hochdramatisch, zu lesen, dass jetztHubschrauber bis zu 2 Kilometer in das Landesinneremit Waffen eindringen, die einen deutlich kleineren Ra-dius haben.
Es ist nicht ganz klar, wie der Schutz der Soldaten anBord dieser Hubschrauber tatsächlich gewährleistet wer-den soll. Es ist auch noch immer nicht ganz klar, wie dieSchadensanalyse aussehen soll. Weil wir eben nicht anLand sind, ist es durchaus möglich, dass die Piraten, dieauch aufmerksam Zeitung lesen, behaupten, es habe zi-vile Opfer gegeben. Ich sehe nicht, wie es, ohne an Landzu sein, möglich sein soll, dem gegenzuhalten.Sie riskieren die moralische Akzeptanz einer gutenMission mit einer Komponente, die von vorne bis hintennicht durchdacht ist, und verspielen nebenbei auch nochdie Möglichkeit, über Somalia zu reden: über die regio-nalen politischen Ansätze, die überfällig sind, über dieRaubfischerei, die natürlich keine Legitimation dafür ist,dass Menschen zu Verbrechern werden, die aber zu ei-nem ernsthaften Problem an Land führt, über die Gift-müllverklappung und über die Milizen und wie wir mitihnen umgehen sollen.Das Problem ist: Sie wissen es eigentlich selbst bes-ser, aber die Bundesrepublik Deutschland hat nicht dasGewicht und den Gestaltungsspielraum, bei der Mis-sionserweiterung, die Sie selbst für falsch erachten, inBrüssel zu sagen: Nein, da machen wir nicht mit.Das ist das Dramatische an dieser Debatte. Dafürmüssen Sie selbst aufkommen. Sie müssen die Konse-quenzen selber tragen. Dafür brauchen Sie unsere Stim-men nicht, und dafür werden Sie unsere Stimmen auchnicht bekommen.
Das Wort hat jetzt der Innenminister des Landes Nie-
dersachsen, Uwe Schünemann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren Abgeordnete! Die Bekämpfung der Seepiraterie isteine nationale Aufgabe. Deutschland ist hierbei in ganzbesonderer Weise gefordert. Denn laut Bericht der Bun-despolizei aus dem Jahr 2011 waren deutsche Reede-reien neben denen aus Singapur am häufigsten von See-räuberattacken betroffen.Warum habe ich mich als niedersächsischer Innen-minister zu Wort gemeldet?
Erstens ist Niedersachsen der zweitgrößte maritimeStandort mit 160 Reedereien, die in der Vergangenheithäufig Opfer von Entführungen und Angriffen waren.Dadurch, dass Niedersachsen Reedereistandort ist,haben wir zweitens eine landespolizeiliche Zuständig-keit. Mitarbeiter des Landeskriminalamtes waren vorOrt. Ich habe mir anschließend berichten lassen, wasdort tatsächlich passiert. Dabei ist mir völlig klar gewor-den: Es geht nicht nur um wirtschaftliche Interessen,sondern auch um das Risiko für Leib und Leben.Es ist wahr, dass in der Regel keine deutschen Besat-zungen betroffen sind, aber das sollte uns in dieser Fragenicht kümmern. Es geht darum, dass tatsächlich jeder zujeder Zeit damit rechnen muss, dass er entführt, verletztoder sogar getötet wird. Wenn man entführt wird, kommtes zu Scheinhinrichtungen, Erpressung und vielem ande-ren mehr.Deshalb ist es notwendig, dass wir alles daransetzen,die Seepiraterie zu bekämpfen. 140 Millionen DollarLösegeld wurden im Jahr 2011 gefordert. Insofern istklar: Wenn es so lukrativ ist, dann geht es nicht nur umorganisierte Kriminalität, sondern wir müssen befürch-ten, dass sich auch islamistische Terroristen dafür inte-ressieren. Wir müssen auf jeden Fall alles daransetzen,dass nicht mit Lösegeld von deutschen Reedereien so-gar noch islamistischer Terrorismus finanziert wird.Deshalb ist es eine entscheidende Frage, dass Sie imParlament geschlossen reagieren.
Worum geht es? Es geht darum, eine Resolution derVereinten Nationen umzusetzen.
Denn die Antipiraterieresolution der Vereinten Nationensagt durchaus, dass die Piraterie an Land bekämpft wer-den sollte.Gespräche mit den Reedereien, und zwar nicht nur inNiedersachsen, sondern auch in Hamburg, HerrDr. Stinner, haben dazu geführt, dass dies auch partei-übergreifend gewünscht wird. Auch mein Kollege inHamburg, Senator Neumann, hat ein robustes Mandat anLand gefordert. Ich kann mir vorstellen, dass auch erbeim nächsten Mal an dieser Stelle steht und die SPD-Fraktion aufklärt, was es bedeutet, sich der Stimme zuenthalten oder vielleicht sogar dagegen zu stimmen.
– Aber ich glaube, dass es, weil die Interessen der Ree-dereien in Niedersachsen und Hamburg betroffen sind,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20711
Minister Uwe Schünemann
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sinnvoll ist, daran zu erinnern, dass dies eine nationaleAufgabe ist und dass wir uns wünschen, dass die deut-sche Marine ein breites Mandat hat.
Das ist auch in unserem Interesse.
Deshalb bin ich froh, dass es bisher eine breite Zustim-mung zur Operation Atalanta gibt.Lassen Sie mich daran erinnern, dass es ein ganzheit-liches Konzept geben muss. Es ist wahr: Die Reedermüssen einen Selbstschutz organisieren. Ich bin froh,dass es bei der Bundespolizei ein Präventionszentrumgibt. Genauso notwendig ist es, dass wir die Möglichkeiteröffnen, private Sicherheitsdienste zur Verfügung zustellen. Ich darf daran erinnern, dass der Bundesrat erstkürzlich eine entsprechende Vorlage verabschiedet hatund hofft, dass die Bundesregierung und dieses Parla-ment so schnell wie möglich einen gesetzlichen Rahmendafür schaffen; denn wenn private Sicherheitsdiensteeingesetzt werden, ist ein besonderer Standard wichtig.Ich würde mich freuen, wenn hier so schnell wie mög-lich die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen ge-schaffen würden.
Herr Kollege Schünemann, einen Moment bitte. Der
Kollege Behrens von der Fraktion Die Linke möchte
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr gerne.
Bitte schön.
Herr Minister Schünemann, Sie haben ein Gespräch
mit Reedern in Hamburg erwähnt. Natürlich reden auch
wir als Verkehrspolitiker in Berlin mit Reedern. Sie ha-
ben gesagt, die Reeder forderten ein robustes Mandat.
Haben denn die Reeder auch den Waffeneinsatz an Land
gefordert? Forderungen in diese Richtung sind in Ge-
sprächen mit Reedern – das letzte fand vor zwei Tagen in
der hamburgischen Landesvertretung statt – zumindest
an mich nicht herangetragen worden. Die Reeder wollen
eher das Gegenteil. Sie wollen Sicherheit und keinen
Krieg an Land.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Reeder wollen Sicherheit und deshalb ein ganz-
heitliches Konzept. Von den Reedern weiß ich, welche
Bedeutung die Bewaffnung der Piraten für die Behand-
lung einer entführten Besatzung hat.
Es geht hier nicht um Maschinengewehre, sondern zum
Beispiel auch um Panzerfäuste. Vor diesem Hintergrund
sind gerade die Reeder daran interessiert, dass die See-
streitkräfte und insbesondere die deutsche Marine in die
Lage versetzt werden, die Piraterie nicht nur auf See,
sondern auch auf Land zurückzudrängen, wenn notwen-
dig, innerhalb eines Streifens von bis zu 2 Kilometern
landeinwärts. Die Besatzungen und auch die Reeder sind
froh, wenn sie nicht mehr den Gefahren der Piraterie
ausgesetzt sind. Da können Sie ganz sicher sein.
Abschließend müssen wir feststellen, dass der Kampf
gegen die Seepiraterie wirtschaftliche, aber auch huma-
nitäre Interessen und Sicherheitsinteressen beinhaltet. Es
geht hier um organisierte Kriminalität. Ich will hoffen,
dass es in Zukunft nicht auch noch um islamistischen
Extremismus und Terrorismus geht. Wir wünschen uns
jedenfalls hier breite Mehrheiten und robuste Mandate,
sodass die deutsche Marine wirken kann.
Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Rainer Arnold.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Esist schon wahr: Atalanta zeigt Wirkung. Atalanta hataber auch Schwächen. Für die Wirkung sagen wir denSoldaten Dankeschön, die eine wirklich gute Arbeit leis-ten. An der Beseitigung der Schwächen sollte die Bun-desregierung allerdings arbeiten. Dazu gehören die Kon-trolle der Finanzströme
und das Festsetzen der Hintermänner der Piraten; diesesitzen nicht am Strand.
Zudem müssen Atalanta und die Staatengemeinschaftglaubwürdig sein. Die Glaubwürdigkeit wird unterlau-fen, wenn auf frischer Tat ertappte Piraten nicht etwa alsKriminelle hinter Schloss und Riegel kommen, sondernam Strand wieder freigesetzt werden. Wo ist der deut-sche Außenminister, der in New York dafür sorgt, dasses ein internationales Strafgericht zur Behandlung vonPiraten gibt?
Der Verteidigungsminister sagt zu Recht: Die Ände-rung des Mandats muss geeignet sein und Wirkung ha-ben. Dazu gehört aber noch etwas anderes. Es muss ab-gewogen werden, ob die Chancen einer Mandats-änderung in Bezug auf die Risiken verantwortbar sind.
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20712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Rainer Arnold
(C)
(B)
Herr Minister, hier gibt es eigentlich nur zwei Szenarien,über die wir reden müssen. Das erste Szenario ist positiv.Das bedeutet, dass Atalanta am Strand wirkungslosbleibt. Warum? Weil Piraten lernfähig sind. Sie werdenihre Utensilien auf einen Lastwagen verfrachten, um sie2,5 Kilometer landeinwärts zu bringen. Das ist über-haupt kein Problem und kostet nicht viel. Noch schlim-mer ist es, wenn sie sie in urbanes Gelände bringen undsie von der Luft aus nicht mehr erkannt werden können.Am schlimmsten ist es, wenn sie sich in ihrem Piraten-camp mit menschlichen Schutzschilden umgeben.
Auch dann ist die Mission wirkungslos.Die negativen Szenarien sind aber ganz anders, HerrMinister. Es stimmt einfach nicht, dass die Risiken amStrand und auf See gleich sind. Auch Herr Schockenhoffaus Ihrer Fraktion hat das fälschlicherweise behauptet.Auf See wird kein Schiff nur aufgrund von Luftaufnah-men beschossen; vielmehr wird ein Schiff auf See, dasman der Piraterie verdächtigt, aufgefordert, zu stoppen,es wird geboardet und untersucht. An Land ist es anders.Jeder weiß, dass der Einsatz von militärischer Gewalt,wenn er nur auf Informationen beruht, die durch Luftbe-obachtung gewonnen worden sind, immer das Risiko insich trägt, aufgrund einer falschen Entscheidung getrof-fen worden zu sein. Wer die Bilder der Piratencampssieht, stellt ganz schnell fest, dass sie nicht anders ausse-hen als die Lager, in denen die Fischer ihre kleinenBoote und Außenbordmotoren lagern. Deshalb ist dasgefährlich. Wenn es Kollateralschäden gibt und unschul-dige Menschen ums Leben kommen, wird die Mandatie-rung des an sich richtigen Einsatzes Atalanta gefährdetund delegitimiert.
Wenn Bilder von getöteten Zivilisten um die Welt gehen,dann haben wir alle miteinander ein Problem. Dieses Ri-siko gehen Sie ein.Herr Schockenhoff sagt, das Risiko für die Hub-schrauber sei auf See genauso groß. Das ist nun wirklichUnfug. Kein Pirat wird mit einer Handfeuerwaffe einenHubschrauber auf See beschießen, wenn er weiß, dass inder Nähe eine Fregatte ist und er überhaupt keineChance hat. Es gibt auf See auch nicht wie an Land ei-nen Busch, hinter dem er sich gegebenenfalls versteckenkann. Nein, das Risiko für die Hubschrauber ist überLand größer. Wir setzen die Soldaten Gefährdungen aus.Wir haben auch gar nicht sauber geklärt, wie wir für ih-ren Schutz sorgen können und was passiert, wenn tat-sächlich ein Konflikt entsteht. Was ich damit sagen will:Diese Landkomponente birgt das Risiko einer weiterenEskalationsstufe, die im Kampf gegen Schwerkriminellenicht akzeptabel ist.
Nun wissen wir, Herr Minister, dass Sie in Brüsselsperrig waren. Sie selbst haben einmal in einem Inter-view gesagt, Sie seien skeptisch. Ich glaube, Sie habenrecht mit Ihrer Skepsis. Ich habe einfach den Eindruck,dass Ihre Zustimmung in Brüssel und das heutige Man-dat etwas mit alten Fehlern zu tun haben. Sie müssen et-was wiedergutmachen, was Sie in der internationalenPolitik verbockt haben.
Weil Sie zu dem richtigen und notwendigen Mandat derVereinten Nationen zu Libyen Nein gesagt haben,
wollen Sie jetzt bei Atalanta keinen Konflikt mit den eu-ropäischen Partnern. Ich muss Ihnen klar sagen: DiesenScherbenhaufen, den Sie in der Außenpolitik hinterlas-sen haben, müssen Sie schon selbst zusammenkehren.
Sie müssen die Verantwortung und die Risiken für Ata-lanta selbst tragen. Wenn Sie gewollt hätten, dass Sozial-demokraten diesem Mandat insgesamt wieder eine breitepolitische Rückendeckung verschaffen, dann hätten Siedie Mandatserweiterung, die falsch ist und der wir nichtzustimmen werden, nie und nimmer mit dem alten Auf-trag von Atalanta verbinden dürfen. Es gibt die gute Tra-dition, dass eine Mandatserweiterung während einesMandatsjahres getrennt zur Abstimmung gestellt wird.
Dann hätten wir klar Nein zu dieser Erweiterung undebenso klar Ja zum Kampf gegen Piraterie auf See ge-sagt, so wie bisher auch. Dies würden wir gerne tun, aberdiese Möglichkeit nehmen Sie uns. Deshalb haben Sieauch die breite parlamentarische Unterstützung vergeigt.Das finden wir eigentlich schade.Herzlichen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Philipp Mißfelder von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!Herr Arnold, wie Ihr Ja zum Libyen-Mandat im UNO-Sicherheitsrat zu einem Nein zu Atalanta am heutigenTag passen soll, müssen Sie mir erklären. Die Abstrak-tionsfähigkeit, darin eine konsistente Politik zu erken-nen, besitze ich einfach nicht. Unser Vorwurf an Sie istganz klar: Sie versuchen, sich aus dem Staub zu machen.In Wahrheit steckt hinter Ihrem Verhalten, dass Sie nichtnur planen, aus diesem Mandat auszusteigen, sonderndarüber hinaus auch planen, sich der Verantwortung für
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20713
Philipp Mißfelder
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andere Mandate zu entledigen. Das ist etwas, was wir Ih-nen so einfach nicht durchgehen lassen werden; das hatnämlich mit Wahlkampf und mit nichts anderem zu tun.
Der einzige Punkt, bei dem ich mich Ihnen anschlie-ßen will, ist der Dank an unsere Soldatinnen und Solda-ten. Ich sage ganz klar: Sie leisten dort erfolgreiche Ar-beit. Deshalb schiebe ich auch kein Aber hinterher; esgeht nur ein ganz klarer Dank an die Soldatinnen undSoldaten, die für uns dort einen großen Einsatz leisten.
Es ist in der Debatte zu Recht angesprochen worden,dass wir hier über etwas reden, was nicht allein vonDeutschland auf den Weg gebracht worden ist. Wir ha-ben auf europäischer Ebene gemeinsam mit unserenFreunden und unseren Partnern in Verantwortung da-rüber diskutiert, auch kritisch diskutiert, was für diesesMandat und für notwendige weitere Schritte der Weg ist,den wir gemeinsam gehen können. Ich wette mit Ihnen:Wenn das in einer anderen Regierungskonstellation dis-kutiert worden wäre und ein Grüner oder ein Roter alsAußenminister die Verantwortung getragen hätte,
dann wären auch Sie so verantwortungsbewusst gewesenund hätten diesen Schritt mitgetragen – trotz aller be-rechtigten kritischen Fragen. Ich weise die Fragen auchgar nicht zurück, sondern ich sage ganz klar: Wir müssenbei einem solchen Mandat wie bei allen Mandaten disku-tieren. Aber mein Vorwurf an Sie heute geht dahin, dassSie sich in der Parteienkonstellation, in der wir uns ge-rade befinden, vor der Verantwortung drücken. Deshalb:Gehen Sie bitte noch einmal in sich! Überlegen Sie vomheutigen Tage an noch einmal, ob Sie bei der abschlie-ßenden Beratung im Deutschen Bundestag in wenigenTagen nicht vielleicht doch zustimmen! Diese Bittemöchte ich dann doch an Sie richten, meine Damen undHerren.
Der Einsatz ist völkerrechtlich legitimiert. Er orien-tiert sich an unserer wertegebundenen Außenpolitik,weil wir damit auch Afrika einen Dienst erweisen. Wirtragen zur Stabilisierung des Kontinents bei, indem wiruns nicht nur bei diesem Mandat, sondern auch im Rah-men der weiteren politischen Dimension dieser Diskus-sion natürlich vor allem auch um die Ursachen diesesPhänomens der Piraterie und nicht nur um die Bekämp-fung der Symptome kümmern.Zu einer interessengeleiteten Außenpolitik gehörtauch, dass man seine Interessen dort, wo sie attackiertwerden, robust verteidigt. Herr Kollege Schünemann ausNiedersachsen hat vorhin schon Ihren Senator aus Ham-burg, Herrn Neumann, erwähnt. Ich lese Ihnen das gernnoch einmal vor; Kollege Rehberg war so nett, das he-rauszusuchen. Ich zitiere also wortwörtlich:Meine Forderungen an die Bundesregierung sindklar. Erstens muss unsere Marine vor dem Horn vonAfrika verstärkt werden – eine Fregatte reicht nichtaus. Zweitens muss der Einsatz notfalls „robuster“gestaltet werden, dabei müssen, wenn nötig, auchBasislager der Piraten angegriffen werden.So der hamburgische SPD-Innensenator MichaelNeumann.
Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass der Senat inHamburg in dieser wichtigen Frage der Pirateriebekämp-fung wesentlich verantwortungsbewusster handelt – dassoll aber mein einziges Lob für den Senat bleiben –, alsdas die SPD-Bundestagsfraktion an dieser Stelle tut. Ichglaube, dass der Weg, den Sie eingeschlagen haben, ein-fach der falsche ist.Wenn vitale Exportinteressen und Interessen einerHandelsnation wie Deutschland gefährdet werden, danngehört es in einer erwachsenen, in einer wehrhaften De-mokratie dazu, bereit zu sein, seine Interessen auch ro-bust zu verteidigen. Das wird an dieser Stelle in hervor-ragender Art und Weise getan. Wir haben – auch das istangesprochen worden – viele kritische Diskussionen mitReedern hinter uns. Ich sage ganz klar: Ich danke derdeutschen Bundeswehr und der deutschen Marine vor al-lem dafür, dass sie sich an dieser Stelle so einbringen; esist eine im Kern hoheitliche Aufgabe, die Handelswegezu sichern; das ist nicht outzusourcen. Vor diesem Hin-tergrund ist die schwierige Abwägungsentscheidung, diewir bei jeder militärischen Diskussion, die wir hier füh-ren, zu treffen haben, auch in diesem Fall richtig. Wir sa-gen, dass der Staat an dieser Stelle mehr Verantwortungträgt als beispielsweise private Sicherheitsdienste. Wirwollen, dass auch in Zukunft in erster Linie die Bundes-wehr für solche Aufgaben genutzt wird, selbst wenn esüberhaupt keine leichte Mission ist, die unseren Solda-tinnen und Soldaten dort bevorsteht.Abschließend ein Aspekt zu der Frage, warum wirglauben, dass es richtig ist, heute über die Einbringungneuer Maßnahmen im Rahmen von Atalanta zu diskutie-ren. Wir bekämpfen bisher nur die Symptome. Es hatauch kein Redner aus der Koalition für sich in Anspruchgenommen, dass dieser Einsatz die Ursachenbekämp-fung dauerhaft im Mittelpunkt hat. Kein Problem, dasden Kontinent Afrika oder andere Regionen betrifft,werden wir rein militärisch lösen; die Probleme werdenwir immer nur mit einem Gesamtansatz von diplomati-schen und entwicklungspolitischen Initiativen lösen.Dass diese so zäh und schwierig vorangehen und dieEntwicklung Somalias eher negativ als positiv ist, wasdas Phänomen der Piraterie betrifft, ist noch lange keinGrund, deshalb bei der Symptombekämpfung aufzuge-ben und sich aus der Verantwortung zu ziehen, sondernman muss an dieser Stelle seine Interessen deutlich ma-chen.Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9339 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Hochschulen auf das Studierendenhochpla-
teau vorbereiten – Allen Studienberechtigten
die Chance auf einen Studienplatz geben
– Drucksache 17/9173 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Agnes Alpers, Dr. Rosemarie Hein, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bologna-Prozess – Umsteuern für ein besseres
Studium und offene Hochschulen
– Drucksache 17/9197 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach der interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage-
gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Kai Gehring vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! „Die Hochschulenbrauchen langfristige Perspektiven.“ Dies hat Bildungs-ministerin Schavan in einem Interview Mitte März imHandelsblatt betont, und die Forderung ist richtig. Nurmuss diese Forderung auch in die Tat umgesetzt werden.Eine Grundgesetzänderung, die Schwarz-Gelb zur Ver-stetigung der Exzellenzinitiative plant, erfüllt diesen An-spruch sicher nicht.
Wie sieht es mit den langfristigen Perspektiven für dieHochschulen aus, wenn man auf die wichtigste Heraus-forderung, den Ausbau der Studienplätze, blickt? Nimmtman die Verhandlungsposition der Bildungsministerinaus der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, GWK,vor einer Woche zum Maßstab, so ist die Perspektiveziemlich düster.Schon Ende 2013 sind die ursprünglich bis Ende 2015vorgesehenen Mittel für den Ausbau der Studienplätzeerschöpft. Trotzdem hat Ministerin Schavan auf derGWK-Sitzung nur zugestanden, erst im Dezember zuprüfen, ob und wann eine Aufstockung des laufendenHochschulpaktes eventuell notwendig ist. Unter „lang-fristige Perspektiven“ schaffen verstehen wir etwas völ-lig anders als unverbindliche Prüfaufträge.
Ihre Regierungsrhetorik passt nicht zu Ihrer hoch-schulpolitischen Praxis. Der laufende Hochschulpakt2010 bis 2015 springt zu kurz. Er ist unterdimensioniert,und er ist klar unterfinanziert;
denn er ist nur für 335 000 Studienplätze ausgelegt. Esist sicherlich auch den Kolleginnen und Kollegen vonCDU/CSU und FDP nicht entgangen, dass laut neuerStudienanfängerprognose der Kultusministerkonferenzvom Januar weitere zusätzliche 357 000 junge Menschenein Studium aufnehmen wollen. Deshalb kann man sinn-bildlich nur sagen: Es geht nicht nur um einen kurzfristi-gen Studierendenberg, sondern es geht ganz klar um eindauerhaftes, langfristiges Studierendenhochplateau, unddas ist ein erfreulicher Boom.
Wie wollen Sie, Frau Ministerin oder Herr Staats-sekretär, eigentlich auf diese neue Prognose reagieren?
Wir sagen, dieser zusätzliche Boom an Studienanfängerndarf die Länder und die Hochschulen nicht überfordern.Vielmehr muss er ganz klar genutzt werden.
Deshalb sind Planungs- und Finanzierungssicherheitseitens des Bundes innerhalb des Hochschulpaktes dasA und O für einen verlässlichen Studienplatzausbau vorOrt und damit für die Bildungschancen der jungen Gene-ration.
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Kai Gehring
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Es wäre ein schlechtes Zeichen für potenzielle Bil-dungsaufsteiger, wenn Zehntausende trotz Studienab-sicht ohne Studienplatz blieben und so ihre Bildungs-chancen blockiert würden. Dazu darf es nicht kommen.Verschärfter Studienplatzmangel wäre angesichts desMangels an Fachkräften und Bildungsaufstieg unerträg-lich. Ein Nachjustieren des Hochschulpaktes ist daherdringend notwendig und unaufschiebbar.
Oberstes Ziel muss es sein, den Pakt zu einem wirksa-men Instrument zu machen,
das ausreichend Studienplätze sowohl im Bachelor- alsauch im Masterbereich – dort fehlt es besonders – zurVerfügung stellt und flächendeckend zu besseren Stu-dien- und Lehrbedingungen führt und verlässliche Per-spektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs unddas Personal schafft. Das wäre ein wichtiger Beitrag fürmehr Bildungschancen und – auch vor dem Hintergrundder heutigen Bologna-Ministerkonferenz in Bukarest –auch ein Schub für eine womöglich endlich gute Umset-zung der Bologna-Reform in Deutschland.Statt Prüfaufträge anzukündigen, brauchen wir eineklare Ausfinanzierung des Paktes. Auch hier kommenfalsche Signale. Sehen Sie sich einmal Ihre Finanzpla-nung an.
Die Koalition zieht 320 Millionen Euro in das Jahr 2013vor, die eigentlich für den Hochschulpakt in den Jahren2015 und 2016 bestimmt sind. Hier hinterlassen Siegroße Lücken. Es ist ein abenteuerliches Manöver; denndiese Mittel fehlen später. Die Hochschulen brauchenkeine Taschenspielertricks, sondern konkrete Finanzie-rungszusagen – dies gilt allein schon, wenn Personalent-scheidungen zu treffen sind. Sie brauchen keine buch-halterischen Tricks und kein Vorziehen der Mittel,sondern Sie müssen die mittelfristige Finanzplanungverdoppeln, damit die Mittel für den Hochschulpakt ver-bindlich zur Verfügung stehen.
Wenn die Bundesregierung dazu nicht in der Lage ist,sind die Regierungsfraktionen aufgefordert, hier etwasvorzulegen.
Ich erwarte, dass Frau Grütters und andere nicht mit demFinger auf die Länder zeigen. Die machen ihren Job.
Das sieht man. 16 Finger und die Bundestagsoppositionzeigen sofort auf Sie zurück, wenn Sie sich weiter davordrücken, Ihre hochschulpolitischen Aufgaben zu erledi-gen und den Hochschulpakt verlässlich und zukunfts-sicher zu machen und auszufinanzieren. Ich finde eswichtig: Machen Sie Bildungsministerin Schavan undFinanzminister Schäuble schleunigst klar, dass die Zu-kunftsfähigkeit unseres Landes davon abhängt, dass keinTalent vergeudet wird und alle Studieninteressierten ei-nen Studienplatz finden und durch gute Studienbedin-gungen Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsol-venten werden.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Die schwarz-gelbe Möchtegern-Bildungsrepublik
verwaltet sonst den Fachkräftemangel, statt ihn wirksam
zu bekämpfen.
Das Wort hat die Kollegin Monika Grütters von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Gehring! Bereits in der vergangenen Sit-zungswoche stand dieses Thema auf der Tagesordnung.Nun haben Linkspartei und Grüne noch einmal nachge-legt.
Das macht die Sache aber nicht besser. Inhaltlich ist beibeiden Anträgen keinerlei Weiterentwicklung zu erken-nen. Die Argumente, Herr Gehring, sind oft genug aus-getauscht worden und mittlerweile angestaubt.Der Hochschulpakt – darin sind wir uns alle einig –ist gerade wegen seiner Flexibilität ein erfolgreiches In-strument und nicht, wie Sie sagen, ein abenteuerlichesManöver.
Die Studierendenzahlen an den deutschen Hochschu-len erreichen jedes Jahr neue Rekordhöhen, und die Ko-operation zwischen Bund und Ländern funktioniert hier– anders als immer behauptet wird – einigermaßen zu-friedenstellend, bis auf die Leistung, die die Länder nichtausreichend erbringen. Wir haben die spitz abgerechne-ten Zahlen gerade von den Privathochschulen vorgerech-net bekommen. Ich finde es schade, dass die Länder dieSummen, die ihnen zustehen, nicht in neue Studienplätzeinvestiert haben.Die Opposition betreibt ein bisschen Panikmache:Der Hochschulpakt sei unterdimensioniert, weil die Kul-tusministerkonferenz ihre Prognosen immer nach oben
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20716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Monika Grütters
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korrigiert. Aber gemach: Der Hochschulpakt – das wis-sen Sie auch – schüttet seine Gelder nicht nach Progno-sen aus, auch nicht nach Prognosen der KMK, sondernnach der Zahl der tatsächlich geschaffenen Studien-plätze.
Deshalb wird auch nachlaufend finanziert. Für die erstePhase des Hochschulpaktes wurden nur 90 000 zusätzli-che Studienplätze prognostiziert. Erforderlich waren je-doch viel mehr. Was haben wir gemacht? Wir habennicht weniger, sondern fast doppelt so viel ausgeschüttet,und so konnten entsprechend viele neue Studienplätzegeschaffen werden, weil Bund und Länder prompt re-agiert haben.
Das zeigt, dass der Hochschulpakt sich nicht stur an Pro-gnosen orientiert, sondern ein flexibles Instrument istund nachweislich auf unerwartet starke Nachfrage re-agiert hat.Die nachlaufende Finanzierung des Hochschulpaktesist vernünftig. Deshalb können wir alle getrost davonausgehen, dass es auch künftig genug Geld gibt. Bundund Länder haben sich darauf geeinigt, 335 000 neueStudienplätze zu schaffen. Es ist nicht abzusehen, dassdieser Deckel nicht ausreichen würde. Das ist überhauptnicht gesagt. Sollte der Deckel vor 2015 erreicht werden,sind neue Verhandlungen notwendig.
Das hat die GWK der BundesbildungsministerinSchavan deutlich gesagt. Dann wird nachverhandelt. Ichverstehe also Ihr Misstrauen nicht; denn in der Vergan-genheit haben wir genau das getan, was Sie jetzt fordern.
Lieber Kai Gehring, der Fingerzeig, den Sie mir ge-rade in Abrede stellen wollten, muss sein. Dass jedesBundesland seine Pflichten tatsächlich erfüllt, ist bislangnoch nicht erwiesen. Das gilt wohl für den Bund, für dieBundesländer bisher aber nicht. Die beiden vorliegendenAnträge bringen uns in der wissenschaftlichen Debatteauch nicht weiter.
Die Linkspartei lässt sich von der Realität kein biss-chen stören, sondern ergeht sich in Maximalforderun-gen, frei nach dem Oppositionsmotto „Alles für alle, undzwar umsonst“. Die Grünen sind zwar etwas gemäßigter;aber auch hier hat man eher das Gefühl, der parlamenta-rischen Version von „Wünsch dir was“ beizuwohnen, alseinen ernsthaften Debattenbeitrag zu erhalten.Ein buntes Ostersträußchen fröhlicher Forderungenhat uns die Linkspartei vorgelegt. Freude kommt nur beider eigenen Klientel auf; seriöse Politik, mit Verlaub,sieht anders aus.
Die Besoldung des Hochschulpersonals soll geändertwerden; die Hochschulzulassung wollen Sie neu regeln;Sie fordern unbefristete Stellen, und die BAföG-Erhö-hung, das Lieblingsthema der Linken, wird auch gleichmit aufgenommen.
Schließlich wollen Sie noch einen Master für alle Men-schen – das ist, so finde ich, eine schöne Geschichte. DerEntertainmentcharakter Ihres Themenpotpourris ist si-gnifikant höher als Ihre Glaubwürdigkeit.
Statt also Schaufensteranträge zu schreiben, sind ge-rade Sie, liebe Kollegen, dazu aufgefordert, in den Län-dern, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen, fürdie Fortsetzung einer – das ist meiner Meinung nach daswichtigste Thema – erfolgreichen Kooperation zwischenBund und Ländern zu werben, und zwar gerade im Wis-senschaftsbereich.
Sie sollten das Ganze nicht gleich wieder niedermachen,indem Sie sagen: Wenn Sie eine Grundgesetzänderungim Bereich Wissenschaft vorlegen – weil das nachweis-lich gut funktioniert –, machen wir nur mit, wenn Sieden Bildungsbereich auch noch mit einbeziehen. Ent-sprechend äußert sich ja die SPD. Statt wenigstens deneinen Bereich richtig zu machen, wollen Sie gleich beidekaputtmachen.
Es wäre verdienstvoller, wenn Sie von den Grünen Ih-ren einzigen Ministerpräsidenten dazu brächten, aus-nahmsweise über Baden-Württembergs Tellerrand hin-auszuschauen und seine Blockadehaltung zu Fragen derBund-Länder-Kooperation im Bildungsbereich aufzuge-ben. Aber Winfried Kretschmann verbündet sich liebermit dem Steinzeitföderalisten Kurt Beck und erfreut sichan der Forderung nach mehr Umsatzsteuerpunkten,
die mit Sicherheit weniger die Bildungs- als die Finanz-politiker erfreuen würden.
Diese Scharade sollten wir als Bildungspolitiker nichtmitmachen. Im Zentrum unserer Arbeit stehen nicht fi-nanzielle Interessen, sondern bildungspolitische Inhalte.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20717
Monika Grütters
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Die Inhalte sollten die Finanzierung bestimmen undnicht umgekehrt. Deshalb werben wir für ein neues Mit-einander in der Bund-Länder-Kooperation, und zwar vorallen Dingen im Wissenschaftsbereich. Ich erwarte, dassgerade die Wissenschaftspolitiker – und hier geht es umden Bereich Wissenschaft – diesen nächsten Schritt mit-machen. Der Hochschulpakt jedenfalls hat uns gezeigt,wie es gehen kann.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben esgerade wieder bei Frau Grütters gehört: Es gibt bei denMitgliedern der Regierungskoalition eine Art Stan-dardargumentation, wenn es um den Hochschulpaktgeht.
Sie lautet in etwa: Wir haben doch gar kein Problem, im-mer mit der Ruhe, wir haben alles im Griff.
Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen: Sie ha-ben gar nichts im Griff.
Der Hochschulpakt, den wir ja gemeinsam beschlossenhaben, ist wirklich ein großer Erfolg. Gerade deswegenmuss er fortentwickelt werden.
Nur: Die Bundesregierung macht nichts, und das ist dasProblem.
Ich will an die Diskussion zur Aussetzung der Wehr-pflicht erinnern. Sie haben beschlossen, dass die Wehr-pflicht ausgesetzt wird. Wir haben sofort gesagt: Dannmuss es aber auch entsprechende Angebote für diejeni-gen geben, die nicht zur Bundeswehr gehen und auchkeinen Zivildienst ableisten. Diese jungen Leute müssendann die Chance haben, einen Studienplatz zu erhalten.Das haben wir beantragt. Sie haben sich immer wieder,bis zuletzt im Ausschuss, dagegen gewehrt und gesagt:Nein, das geht nicht, das ist Quatsch, das müssen dieLänder machen,
bis dann die Bundeskanzlerin gegen Ihr Votum erklärthat: An der Argumentation ist schon etwas dran; wirmüssen am Hochschulpakt Änderungen vornehmen.
Genau so wird es auch laufen bzw. läuft es schon jetztbei der Diskussion über die Aufstockung des Hochschul-paktes. Wir haben in unserem Antrag seitens der SPDschon im letzten Jahr gemahnt: Der Hochschulpakt ist zuklein dimensioniert.
Immer mehr Leute wollen studieren, und wir müssenentsprechend Studienplätze schaffen. Die Koalition hatdas abgelehnt.
– Hören Sie doch vielleicht einfach mal zu. In der letztenSitzungswoche haben Sie unseren Antrag abgelehnt.Und was passiert jetzt in der Gemeinsamen Wissen-schaftskonferenz von Bund und Ländern? Da hat FrauSchavan nach Kampf und Krampf gesagt: Okay, wirrichten zusammen mit den Ländern eine Arbeitsgruppeein, um zu prüfen.
Sie zieren sich, Sie zögern und zaudern.Dabei liegen doch die Fakten auf dem Tisch: ein offi-zielles Dokument von der KMK, der Kultusministerkon-ferenz, mit einer neuen Prognose für den Zeitraum 2011bis 2015; da sind wir mittendrin und haben schon harteFakten. Über 350 000 Studienplätze müssen demnachzusätzlich geschaffen werden.
Das ist wunderbar; das ist großartig. Das ist eine guteNachricht, meine sehr verehrten Damen und Herren: DieLeute wollen studieren.
Das bestätigt unsere Prognose. Aber die Bundesregie-rung sagt nicht: Jawohl, wir unterstützen das; wir schaf-fen neue Studienplätze und machen etwas. Stattdessenblockiert sie. Das geht so nicht.
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20718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Swen Schulz
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Der Grund dafür liegt auf der Hand: Das kostet natür-lich Geld. Dieses Geld kriegt Frau Schavan von HerrnSchäuble nicht.
Es geht hier keine Debatte vonstatten, ohne dass sich dieRednerinnen und Redner der Koalition wegen derEtatsteigerungen der letzten Jahre selber auf die Schulterklopfen, dass es kracht.
Das ist auch in Ordnung. Wir sind nicht der Meinung,dass Sie das Geld an jeder Stelle richtig ausgeben; aberinsgesamt ist das sehr beachtlich. Nur muss diese Ent-wicklung natürlich weitergehen.
– Ja, Sie lachen. Das Problem ist bloß – das ist leidertraurig –, was die Finanzplanung der Bundesregierungvorsieht, die ich hier vorliegen habe: Im Jahr 2013, imBundestagswahljahr, gibt es noch ein Plus,
und dann, in den Jahren 2014, 2015 und 2016, geht eswieder herunter.
Sie kürzen: insgesamt 570 Millionen Euro weniger. Siewollen über eine halbe Milliarde Euro bei der Bildungkürzen. Das ist die bittere Wahrheit, meine sehr verehr-ten Damen und Herren.
Nach der Bundestagswahl setzen Sie den Rotstift beiBildung und Forschung, bei der Zukunft an. Auf dieseArt und Weise beerdigen Sie die von Ihnen beschworeneBildungsrepublik Deutschland.
Aber für das Betreuungsgeld oder für Steuerentlastungenfliegen die Milliarden hier nur so durch die Gegend. Dasist der falsche Kurs.
Ich habe eine herzliche Bitte: Strafen Sie meine WorteLügen!
Überraschen Sie mich positiv! Fangen Sie endlich an,unsere Vorschläge aufzugreifen.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Peter
Röhlinger das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber HerrSchulz, tatsächlich können Sie zuversichtlich sein, wasdie weitere Entwicklung angeht. Wir haben doch 2009nachgewiesen, dass wir flexibel sind, dass wir in derLage sind, uns neuen Aufgaben zu stellen.
Die Zahlen, die Sie nicht genannt haben, will ich in die-sem Zusammenhang einmal nennen: Wir haben die Mit-tel 2010 gegenüber 2009 um 701 Millionen Euro gestei-gert,
2011 gegenüber 2010 um 783 Millionen Euro, 2012 ge-genüber 2011 um 454 Millionen Euro.
Meine Damen und Herren, es ist aber notwendig, dasin anderen Kategorien und komplexer zu betrachten.
– Herr Gehring, das sage ich insbesondere Ihnen: Siemüssen sich von der Vorstellung verabschieden, dass mitGeld alles zu machen ist. Wer strukturelle Probleme hat,der kann sie mit Geld allein nicht lösen. Wer verpennthat, welch große Rolle Bildung in den Ländern undKommunen spielt, der holt das mit mehr Geld in denJahren 2012, 2013 und folgende nicht mehr ein.
Die Studierenden haben das längst verstanden undstimmen mit den Füßen ab.
Schauen Sie sich an, welch rasante Entwicklung mancheUniversitäten in den neuen Bundesländern genommenhaben: Zum Beispiel sind wir in einer Stadt, die ich jetztnicht nennen will, – mit 5 000 Studierenden an Universi-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20719
Dr. Peter Röhlinger
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tät und Fachhochschule gestartet; jetzt liegt die Zahl bei25 000.
Wissen Sie, was der Standortvorteil ist? Wir habenverstanden, und zwar im Stadtrat, dass die Vereinbarkeitvon Studium und Familie für die junge Generation ent-scheidend ist, dass das für uns im Vergleich mit den gro-ßen, traditionsreichen Universitäten in Deutschland einStandortvorteil ist. Wir haben den Vorteil genutzt undauch für Nachhaltigkeit gesorgt.Lassen Sie mich auf einen zweiten Punkt eingehen.Wir wollen den Wettbewerb zwischen den Ländern, zwi-schen den Kommunen und natürlich auch zwischen denUniversitäten. Das beruht auf der engen Zusammenar-beit vor Ort zwischen Universität, Wirtschaft und Poli-tik. Die muss erreicht werden, um der Komplexität desAnliegens gerecht zu werden. Man kann nicht nur dieHand aufhalten und sagen: Bund, ich brauche Geld!
Nein, man muss dann sagen: Wir schaffen Kitaplätze,ein kulturelles Angebot und Infrastruktur, damit sichjunge Menschen bei uns wohlfühlen.
Ich gehe davon aus, dass wir das in allen Bundesländernschaffen können. Wir können die Studierenden nichtnoch mehr zur Kasse bitten, aber wir können die Rah-menbedingungen attraktiver gestalten und jungen Leuteneine Chance bieten.Zum Schluss möchte ich auf Folgendes hinweisen:Wir haben in den vergangenen Jahren nicht nur dasBAföG erhöht, sondern auch Leistungsstipendien einge-führt. Siehe da: Diese werden gerade in den neuen Bun-desländern, wo nicht viele Konzerne ihren Sitz haben,offenbar gut angenommen.
Ich sehe, der Präsident ruft mich zur Ordnung. Ichwill deswegen zum Schluss kommen. Es war mir eineFreude, Ihnen ein paar Gedanken mitzuteilen.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-
legin Nicole Gohlke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Wir verpflichten uns, das höchstmögliche Niveau derHochschulfinanzierung sicherzustellen“ – diese Formu-lierung wird Ministerin Schavan
wahrscheinlich morgen in Bukarest beim Treffen derBildungsminister der 47 Bologna-Länder unterschrei-ben. Ehrlich gesagt: Eigentlich dürfte Deutschland garnicht unterschreiben, weil jeder weiß, dass das ebennicht sichergestellt ist.
Aber wahrscheinlich wird Frau Schavan unterschreiben,in die Kamera lächeln und sich dann darauf verlassen,dass Papier geduldig ist.Von dem Glanz der internationalen Gipfel kommt inden Hochschulen selbst nur wenig an. Kaum eines dergroßen Ziele der Bologna-Reform ist erreicht. Stattdes-sen sind an den Hochschulen viele neue Probleme ent-standen. Die Finanzierung der Hochschulen bleibt nichtnur weit unter dem höchstmöglichen Niveau zurück,sondern auch weit hinter dem unbedingt nötigen Niveau.
Eine Öffnung der Hochschulen ist eine Voraussetzungfür gesellschaftlichen Fortschritt. Auch das soll in derErklärung der Bukarester-Konferenz stehen. Man kanndas nur unterschreiben, aber wie muss ein solcher Satz inden Ohren Tausender abgewiesener Studienbewerberin-nen und -bewerber klingen,
die in diesen Tagen vor den verschlossenen Türen derHochschulen stehen – es sind immerhin 100 000 –,
während drinnen das Sommersemester beginnt.
Bis 2015 fehlen bundesweit mindestens 350 000 Stu-dienplätze, eher 500 000 Studienplätze,
und der Hochschulpakt reicht bei weitem nicht aus, umdiese Lücke zu schließen.
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Nicole Gohlke
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Nun hat die Ministerin in der Gemeinsamen Wissen-schaftskonferenz eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die bisnächstes Jahr prüfen soll, ob man vielleicht eine Aufsto-ckung braucht. Was gibt es da zu prüfen? Jeder weiß,dass Studienplätze fehlen. Die Studienplätze fehlen imÜbrigen auch nicht erst nächstes Jahr, sondern jetzt.Wenn Sie es ernst meinen mit der Aufstockung, dannmachen Sie es jetzt zu diesem Wintersemester; denndann brauchen es die jungen Menschen.
Wenn Sie die Hochschulen öffnen wollen, so wie esin der Erklärung der Bukarest-Konferenz stehen soll,
also auch für diejenigen, die keine reichen Eltern haben,dann müssen Sie das BAföG erhöhen.
Frau Grütters, ich finde es schon bezeichnend, wenn Siees absurd finden, dieses Thema hier überhaupt anzuspre-chen.
Seit Januar liegt der 19. BAföG-Bericht vor. Er machtdeutlich: Allein um das aktuelle Niveau der Förderungan die gestiegenen Lebenshaltungskosten anzupassen,müsste das BAföG um 5 Prozent steigen.Das Deutsche Studentenwerk hat Sie in der vergange-nen Woche dazu aufgefordert, dies unbedingt zum kom-menden Wintersemester zu tun.Um eine bedarfsdeckende Finanzierung der Studie-renden zu erreichen, ist eigentlich sogar eine Erhöhungvon mindestens 10 Prozent notwendig.
Aufseiten der Bundesregierung sind aber überhauptkeine Aktivitäten erkennbar. Wir fordern Sie auf: LegenSie schnellstmöglich einen Gesetzentwurf zur Erhöhungdes BAföG vor.
Bologna sollte international die Mobilität fördern: EinSemester in Bamberg, eins in Barcelona, der Abschlussin London, und dann der Master in Paris. Das war einesder großen Versprechen; aber davon sind wir weit ent-fernt. Das Wissenschaftszentrum Berlin hat diesenMontag eine Studie vorgelegt.
– Nehmen Sie es doch einfach zur Kenntnis, wenn Ex-perten Studien vorlegen. – Diese Studie zeigt: Seit zwölfJahren stagnieren die Zahlen zu studienbezogenen Aus-landsaufenthalten. Ins Ausland gehen die Studierendennur dann, wenn ihnen Academia quasi bereits in dieWiege gelegt wurde. Von den Akademikerkindern unterden Studierenden geht jedes sechste ins Ausland, vonden Studierenden, die keine Akademiker als Eltern ha-ben, nur jeder zehnte.
Für junge Menschen, die als Erste in ihrer Familie denSchritt an die Hochschule wagen, ist der Auslandsauf-enthalt heute sogar noch unerreichbarer als vor der Bolo-gna-Reform. Am Sonntag erklärte Frau Schavan nichts-destotrotz im Deutschlandradio:Alles in allem ist es ein erfolgreicher Prozess.Für die allermeisten Studierenden aber sieht die Realitätganz anders aus.
Das Studium ist stressiger geworden, aber nicht besser.Es gibt mehr Prüfungen, aber weniger Freiräume fürselbstbestimmtes Lernen. Die internationale Mobilitätstagniert, die innerdeutsche hat sogar abgenommen. Esfehlen Studienplätze für den Bachelor wie für den Mas-ter, und wer mit dem Bachelor die Hochschule verlassenmuss, hat deutlich schlechtere Chancen auf einen gutenJob.Reißen Sie endlich das Ruder herum für eine Hoch-schulreform, die den Namen verdient. Wir haben in un-serem Antrag die Eckpunkte hierfür formuliert.Vielen Dank.
Der nächste Redner ist der Kollege Florian Hahn von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kolle-gen! Ende März hielt ich zur selben Thematik schon ein-mal eine Rede in meinen Händen.
Das spricht nicht gerade für den Ideenreichtum der Op-position. Dennoch beziehe ich gerne erneut Stellung zuden gestiegenen Studierendenzahlen und zum Hoch-schulpakt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20721
Florian Hahn
(C)
(B)
Ich bin davon überzeugt, dass die Universitäten dasStudierendenhochplateau, wie Sie es nennen, meisternwerden. Erst letzten Freitag hat auch unsere Ministerin,Frau Professor Schavan, das noch einmal deutlich ge-macht. So wurde bei der GWK beschlossen, dass eineArbeitsgruppe aufgrund der neuen Anfängerzahlen Ein-zelheiten über die Möglichkeiten einer erweiterten Fi-nanzierung aushandeln soll. Sie sehen also, wir sind vor-bereitet und werden flexibel handeln, wenn gehandeltwerden muss.
Bis jetzt gibt es nur Prognosen, uns liegen noch keineZahlen vor, daher können wir auch nicht mit der Finan-zierung beginnen.Ich möchte an dieser Stelle noch einmal festhalten,dass noch nie zuvor so viele junge Menschen inDeutschland ein Hochschulstudium aufgenommen ha-ben wie unter dieser Regierung. Das ist eine verlässlichePerspektive.
Noch nie wurde so viel in die Bildung junger Menscheninvestiert. Sie kennen die Zahlen: Allein im Studienjahr2011 nahmen rund 516 000 Schulabgänger ein Studiumauf. Mit dem Hochschulpakt wurden schon in der erstenProgrammphase von 2007 bis 2010 182 000 neue Stu-dienmöglichkeiten geschaffen. Das sind doppelt so vielewie ursprünglich geplant.Auch in der zweiten Phase wird die Bundesregierungzeigen, dass sie flexibel und handlungsfähig ist und auchauf extreme Herausforderungen – wie in der Vergangen-heit doppelte Abiturjahrgänge oder die Aussetzung derWehrpflicht – reagieren kann. Dies sind wir den Studien-berechtigten schuldig, und das ist auch ganz im Sinnedes Ziels, Deutschland als Bildungsrepublik zu festigen.An dieser Stelle möchte ich, weil der Kollege von derSPD darauf hingewiesen hat, noch einmal auf die finan-zielle Entwicklung eingehen.
– Herr Schulz, entschuldigen Sie. Wenn Sie darauf Wertlegen, gerne. – Allein in dieser Legislaturperiode gebenwir 13 Milliarden Euro mehr in den Bereich Bildung undForschung hinein. Insofern ist das Schulterklopfen füruns, denke ich, schon berechtigt.
Am Freitag wurde ganz deutlich gesagt, dass auch diezusätzlichen Studierenden nicht vor verschlossenen Tü-ren stehen werden. Auch das ist eine verlässliche Per-spektive. Man weiß, dass man sich auf uns verlassenkann, auch wenn Probleme entstehen. Für den Mehrbe-darf wird also gesorgt. Wie schon in der ersten Phasewird die Regierung eine Lösung für kommende Pro-bleme finden. Schließlich hat sie damals doppelt so vieleStudienplätze mitfinanziert, als ursprünglich geplantwar. Das wird auch in der zweiten Phase gelingen, es seidenn, die Länder können die zusätzlichen Finanzierun-gen nicht stemmen.
Frau Professor Schavan hat zu Recht festgestellt, dassdas zusätzliche Geld des Bundes nicht zu einer Senkungder Landeszuschüsse für die Hochschulen führen darf.Es ist ein Gebot der Fairness, dass der Bund und dieLänder in dieser Sache zu ihrem Wort stehen.Zum Schluss noch ein Wort zu den weiteren Wün-schen und Sehnsüchten der Linken, die in ihrem Antragdeutlich werden. Die Abschaffung der Studiengebühren,wie von Ihnen gefordert, hätte verheerende Folgen:
Mehr als 450 Stellen für wissenschaftliches Personalwürden wegfallen; Exkursionen mit einem Gegenwertvon rund 10 Millionen Euro könnten nicht stattfinden;12 Millionen Euro an Sach- und Investitionsmitteln fürdie Bibliotheken würden fehlen; die Studierendenbera-tung müsste mit 5,5 Millionen Euro weniger auskom-men. Diese Maßnahmen scheinen mir nicht geeignet zusein, ein erfolgreiches Studium zu ermöglichen.Zuletzt möchte ich noch etwas zu dem Appell derGrünen zur Ausweitung der Masterkomponente auf alleBachelorabsolventen sagen. Es muss Ihnen doch klarsein, dass es gerade bei den Bachelorabsolventen nichtbesonders gut ankommt, wenn Sie so tun, als sei ein Ba-chelorabschluss nichts wert.
Der Bachelorabschluss ist eine hochwertige akademi-sche Qualifikation, die zum Einstieg in die meisten Be-rufe befähigt, und es werden eben nicht nur Berufsein-steiger mit Masterabschluss benötigt und gesucht. Ins-besondere mittelständische Unternehmen suchen hände-ringend nach Bachelorabsolventen. So fordert beispiels-weise die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, dassmehr Bachelorstudiengänge geschaffen werden, um dieoffenen Stellen besetzen zu können. Ganz abgesehen da-von geht Ihre Forderung komplett am Bologna-Vertragvorbei. Dieser besagt eindeutig, dass der Bachelorab-schluss berufsqualifizierend ist. Dies wird auch mehrund mehr von den Arbeitgebern in Deutschland aner-kannt. Den Anträgen der Opposition kann ich dahernicht zustimmen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ernst DieterRossmann von der SPD-Fraktion.
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20722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Weil wir uns gerne mit den Linken streiten,will ich als Erstes eine Formulierung in Ihrem Antragaufgreifen. Die Aussage, dass die Hochschulen sich un-ter dem Zeichen von Bologna zu einem „elitären Zirkel“entwickelt haben, wird der Wirklichkeit nicht gerecht;
denn wir haben 2,2 Millionen Studierende. Sie solltenauch zur Kenntnis nehmen, dass zwei Drittel der zusätz-lichen Studienanfängerplätze an Fachhochschulen ent-stehen. Wenn Sie Fachhochschulen als elitär denunzie-ren, tun Sie den Fachhochschulen, den Studierenden undden Fachhochschullehrerinnen und -lehrern unrecht.
Das ist das eine. Man wird der Situation an den Hoch-schulen aber auch nicht gerecht, wenn man tote Pferdeweiter reitet, und die Studiengebühren sind ein totesPferd.
Selbst Herr Röttgen in NRW sagt – dabei nimmt er sichHerrn Koch aus Hessen zum Vorbild –, dass er sie nichtwieder haben will. Sie werden das auch in Bayern und inNiedersachsen erleben.
Studiengebühren lösen nicht die Probleme. Wir wol-len, dass der Zugang zu den Hochschulen weiterhin allenoffensteht. Die Hochschulen brauchen eine bessereGrundfinanzierung. Nicht ohne Grund hat eine Autorität,der wir in hochschulpolitischer Hinsicht folgen – infinanzpolitischer Hinsicht vielleicht nicht so sehr –, Pro-fessor Kleiner, beim Neujahrsempfang der DFG gesagt:An den Hochschulen muss etwas in Milliardenhöhe pas-sieren, damit sie richtig auf die Füße kommen. Er dachtean einen Mehrwertsteuerpunkt. Damit beschrieb er dieDimension von 6 bis 7 Milliarden Euro, die in Deutsch-land in diesem Bereich aufgebracht werden muss.Ich glaube, er hat so eindringlich darauf hingewiesen,weil er die fehlende Grundfinanzierung im internationa-len Vergleich sieht, aber natürlich auch, welchen Zulaufdie Hochschulen haben, und zwar aufgrund der demo-grafischen Entwicklung, aufgrund der veränderten Zu-gangsbedingungen – es kommen in zunehmendem Maßeberuflich Qualifizierte an die Hochschulen, weil es inden Ländern endlich eine entsprechende Bewegung gibt,die bestimmt noch stärker werden wird – und aufgrundder Tatsache, dass sich die Gesellschaft dahin gehendverändert, dass eine akademische Grundbildung in vie-lerlei Hinsicht auch der beruflichen Orientierung dientund auch diese Tendenz sicherlich noch stärker wird.
Deshalb brauchen die Hochschulen zusätzliches Geld.Dabei geht es um die berufliche Seite und um die For-schungsseite. Diese Dimension muss man erkennen. Daswar das Anliegen der Grünen und von Herrn Schulz.Man kann schon jetzt weitere Konzepte vorstellenund eine Alternative für die Zeit ab 2013 erarbeiten.Schwarz-Gelb hat keine Alternative mehr und wird inDeutschland – in den Bundesländern und auf Bundes-ebene – keine Regierung mehr stellen.
Man muss fragen, in welcher anderen Konstellation manzu besseren Lösungen kommt. Der Weg der schwarz-gelben Regierung sind sinkende Haushaltsmittel in dermittelfristigen Finanzplanung im Bildungs- und For-schungsbereich.
Wir sagen freimütig: Unsere Alternative ist, mehr Geld– auch über Steuererhöhungen – einzunehmen, um daseinzulösen, was Professor Kleiner fordert, nämlich einedeutlich höhere Grundfinanzierung und Spitzenfinanzie-rung für die Hochschulen.Die Schwierigkeiten des schwarz-gelben Modellsdarf ich Ihnen an drei Punkten vorführen.In der mittelfristigen Finanzplanung gehen Sie – trotzsteigender Studierendenzahlen – von sinkenden Ausga-ben im Bereich BAföG aus. Wie das zusammenpassensoll, leuchtet niemandem ein. Wollen Sie das BAföGetwa kürzen? Das wäre die einzige Antwort darauf.Sie gehen immer davon aus, dass Sie das große Ver-sprechen an die Forschungsorganisationen von 5 Prozentplus über 2015 hinaus verlängern. Dafür bräuchten SieJahr für Jahr rund 300 Millionen Euro zusätzlich. Dochlaut mittelfristiger Finanzplanung wollen Sie für For-schung und Hochschulen weniger Mittel bereitstellen.Auch das geht nicht auf.Gleichzeitig wollen Sie – bei sinkenden Mitteln – dieHochschulen in Bezug auf die zusätzlichen Studienan-fängerzahlen von rund 370 000 über den Hochschulpaktfinanziell unterstützen. Auch das geht nicht auf.Deshalb ist die Alternative, die Schwarz-Gelb in denRaum stellt, hinsichtlich der mittelfristigen Finanzpla-nung mit vielen Fragezeichen zu versehen. Wir sagenehrlich: Diese Fragezeichen lassen sich nur entfernen,wenn man die Länder und den Bund finanziell stärkt.Das sieht unsere Alternative von zweimal 10 MilliardenEuro für Bund und Länder zur Stärkung von Bildungund Forschung vor. Ich glaube, unsere Alternative ist dierichtige. Sie gibt den Hochschulen Sicherheit, weil siedie Möglichkeit schafft, die gravierenden strukturellenVeränderungen, die unsere Hochschulen erleben, zu fi-nanzieren, konstruktiv zu gestalten und auszubauen, undweil sie auch an anderer Stelle Mittel für die Bildungmobilisiert. Darüber werden wir streiten.Über einen Punkt sollten wir vielleicht nicht streiten.Es handelt sich um eine Bitte, die die Regierung jetzt er-füllen kann. Sie muss jetzt darauf drängen, dass die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20723
Dr. Ernst Dieter Rossmann
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Kompensationsmittel für die GemeinschaftsaufgabeHochschulbau tatsächlich für die Hochschulen weiterzur Verfügung stehen.
Es geht um 700 Millionen Euro. Diese könnten ver-schwinden. Daher sollte diese Regierung dafür sorgen,dass von diesen 700 Millionen Euro möglichst viel fürden Hochschulbereich erhalten bleibt. Wir streiten mitIhnen gerne dafür. Wir wollen mit Ihnen gerne dafürstreiten, dass das Grundgesetz an die erforderliche ver-änderte Leistungsfähigkeit der Hochschulen angepasstwird. Wir würden Sie gerne dafür gewinnen. Es wäreauch im Interesse der Länder; denn sie würden durcheine Reform der Erbschaftsteuer oder der Vermögen-steuer viel Geld bekommen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Dieses Geld könnten Sie für Bildung einsetzen. Dies
sollten Sie jetzt mit vorbereiten. Das wäre im Interesse
der Hochschulen.
Danke.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Sylvia Canel von der
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Herr Dr. Rossmann, 12 Milliarden Euro
mehr als jede Farbkombination zuvor hat Schwarz-Gelb
auf den Tisch gelegt. Ich finde, das ist eine Würdigung
wert.
Ziel des Bologna-Prozesses ist es, die Mobilität und
damit auch die Internationalität europäischer Studieren-
der zu verbessern. Ziel ist es auch, Vergleichbarkeit der
Hochschulsysteme zu schaffen, damit wir eine Basis für
einen fairen Wettbewerb und für mehr Wachstum legen.
Wir sind auf dem richtigen Weg, diese Ziele zu errei-
chen, wenn auch noch nicht alles erreicht wurde. Die
Linke stellt im vorliegenden Antrag vornehmlich die
Probleme fest. Sie verschließt dabei die Augen und argu-
mentiert ausschließlich defizitorientiert, so wie sie nun
einmal ist.
Unter der Überschrift „Bologna“ nur defizitorientiert zu
argumentieren, ist zu konstruiert.
Dabei werden veraltete Datenquellen herangezogen und
einiges an Material einfach ausgeblendet. So wird der
Bologna-Bericht 2012 nicht erwähnt. Dieser bestätigt,
dass die Umsetzung des Bologna-Prozesses gut voran-
kommt und die Durchlässigkeit des Bildungssystems zu-
genommen hat. So ist die Zahl der Studienanfänger von
424 000 im Jahr 2009 auf mehr als 515 000 im Jahr 2011
gestiegen. Noch nie haben so viele Menschen bei uns ein
Studium aufgenommen. Die Hochschulzugangsquote
liegt mittlerweile bei deutlich über 50 Prozent. Das sind
20 Prozent mehr als noch 1998, und das ist noch gar
nicht so lange her.
Auch die Auslandsmobilität der Studierenden ist ge-
stiegen und nicht gesunken. Jeder dritte Absolvent hat
ein studienbezogenes Praktikum im Ausland hinter sich.
Nur 24 Prozent der mehr als 4 000 Masterstudiengänge
waren im Wintersemester 2010/2011 mit einer Zulas-
sungsbeschränkung belegt; das ist gut, auch wenn daran
noch gearbeitet werden muss. Zudem ist der Zugang zu
den Hochschulen heute in allen Bundesländern auch
ohne Abitur möglich. Meister, Techniker und Fachwirte
können studieren.
Es stimmt nicht, dass Bachelorstudiengänge keinen
berufsqualifizierenden Abschluss vermitteln und keine
attraktiven beruflichen Perspektiven bieten. Das habe im
Übrigen auch ich einmal gedacht. Aber mehrere Studien
haben belegt – wir nehmen die Experten nämlich wirk-
lich ernst, Frau Gohlke –:
Absolventen eines Bachelorstudienganges finden auf
dem Arbeitsmarkt genauso schnell eine Stelle wie ihre
Kommilitonen mit Master-, Magister- oder Diplom-
abschluss. Zudem ist die Rate der Arbeitslosigkeit von
Absolventen eines Bachelorstudienganges mit 3 Prozent
nicht höher als die von Absolventen mit anderen Hoch-
schulabschlüssen.
Wir haben in unserem Antrag „Bologna-Prozess voll-
enden – Länder und Hochschulen weiter unterstützen“
den Grundstein für eine gemeinsame und koordinierte
Anstrengung aller Bildungspartner gelegt. Meine Damen
und Herren, die Bildungsgrenzen in Europa öffnen sich.
Sie öffnen sich endlich. Wann öffnen sich endlich auch
die Bildungsgrenzen innerhalb Deutschlands, nämlich
zwischen den Bundesländern, und das nicht nur für die
Hochschulen?
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
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20724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/9173 und 17/9197 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, PeterAltmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, HolgerKrestel, Dr. Birgit Reinemund, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDPFür eine Sicherung der betrieblichen Altersver-sorgung in Deutschland im Zusammenhang mitder Überprüfung des EU-Rahmens für die Vor-sorgesysteme in den Mitgliedstaaten– Drucksache 17/9394 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-tem Redner dem Kollegen Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer inDeutschland bauen ihre Altersvorsorge auf mehrerenSäulen auf, unter anderem auf der Säule der betrieb-lichen Altersversorgung. Deswegen haben wir uns poli-tisch dazu entschlossen, die betriebliche Altersversor-gung deutlich zu fördern und auszubauen. Unteranderem haben wir in der Großen Koalition beschlossen,die Entgeltumwandlung dauerhaft steuer- und sozial-abgabenfrei zu gestalten. Es ist erfreulich, dass immermehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieseChance nutzen. Unser Ziel muss sein, die betrieblicheAltersvorsorge als zusätzliche Säule der deutschenAlterssicherung weiter zu stärken und möglichst vielenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu ermöglichen,in diesem Rahmen Geld anzusparen.
Es ist im Grunde genommen erfreulich, dass sich dieKommission der Europäischen Union in ihrem kürzlichvorgelegten Weißbuch der betrieblichen Altersversor-gung zuwendet, unter anderem dadurch, dass sie ankün-digt, die sogenannte Pensionsfondsrichtlinie zu über-arbeiten. Diese Richtlinie wurde im Jahr 2003 geschaf-fen, um eine Mindestharmonisierung des europäischenFinanzaufsichtsrahmens für Einrichtungen der betrieb-lichen Altersvorsorge zu schaffen. In Deutschland findetdiese Richtlinie auf zwei Durchführungswegen der be-trieblichen Altersversorgung Anwendung, nämlich aufdie sogenannten Pensionsfonds und auf die sogenanntenPensionskassen. Mit der Überarbeitung sollen grenz-überschreitende Aktivitäten von Einrichtungen derbetrieblichen Altersversorgung erleichtert und die Auf-sichtsregeln verbessert werden.Die Kommission hat die Absicht, die Vorschriftenvon Solvency II, die ja für das Versicherungswesen ge-dacht sind, auch auf die Pensionsfonds und die Pensions-kassen zur Anwendung zu bringen. Allerdings wäre eineEins-zu-eins-Umsetzung dieser Bedingungen auf Pen-sionskassen und Pensionsfonds der betrieblichen Alters-vorsorge gerade eben nicht sinnvoll. Die EuropäischeKommission glaubt zwar, damit werde die Sicherheit vorInsolvenz solcher betrieblichen Versorgungssysteme er-höht, aber was nach Sicherheit klingt und Sicherheitbringen soll, würde in Wirklichkeit zu einer Aushebe-lung der betrieblichen Altersversorgung in Deutschlandführen.
Betroffen wären nach derzeitigem Stand rund 8 Mil-lionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihreAltersvorsorgeansprüche in einem Pensionsfonds oder ineiner Pensionskasse ansparen. Wenn die sogenanntenSolvency-II-Vorschriften in vollem Umfang darauf an-gewendet würden, dann entstünde ein zusätzlicher Kapi-talbedarf von über 40 Milliarden Euro, von dem nie-mand weiß, wie er aufgebracht werden sollte. UnserePensionsfonds und Pensionskassen müssten nicht mehr,wie bisher, knapp 5 Prozent der Einlagesumme, sondern30 bis 40 Prozent, also achtmal so viel, zurücklegen. Daswäre Kapital, das in der Liquidität der Unternehmenfehlen würde, Kapital, das ansonsten Investitionen er-möglichen würde, Kapital, das Arbeitsplätze schaffenkönnte. Statt zu investieren und die Wirtschaft anzukur-beln, würde man zwangsweise und letztlich unnötig zu-sätzliche Rücklagen bilden müssen, was Investitionenhemmen würde.Nun müsste man das Argument der Sicherheit, das dieEuropäische Kommission vorträgt, durchaus ernst neh-men, wenn die Kommission die Besonderheiten derdeutschen betrieblichen Altersvorsorge nicht schlicht-weg außer Acht lassen würde:Zum Ersten gibt es bei uns nämlich ausgesprocheneSchutzvorschriften. Die Betriebsrenten in Deutschlandsind im Prinzip meist schon doppelt abgesichert. Einer-seits haften die Arbeitgeber auch dann für die Erfüllungeines Pensionsanspruchs, wenn eine Pensionskasse oderein Pensionsfonds die Rentenzahlungen nicht oder nichtvollständig erbringen kann. Fällt der Arbeitgeber auchaus, dann sorgt der Pensions-Sicherungs-Verein dafür,dass die Betriebsrenten ausbezahlt werden können.Andererseits gibt es noch eine ganze Reihe von Schutz-vorschriften des Betriebsrentengesetzes, damit der Ar-beitnehmer quasi als Verbraucher nicht übervorteilt wirdund die Betriebsrente garantiert erhält. Da Deutschlandalso schon einen doppelten Schutz dieser Betriebsrentengewährleistet, brauchen wir nicht noch zusätzlicheSchutzvorschriften durch die Europäische Kommission.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20725
Peter Weiß
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Zum Zweiten verkennt die Kommission, dass die be-triebliche Altersversorgung bei uns in Deutschland einefreiwillige Leistung ist. Gott sei Dank haben sich vieleBetriebe dazu entschlossen, und hoffentlich entschließensich noch viele weitere Betriebe dafür, eine betrieblicheAltersversorgung auch durch einen eigenen Beitrag desBetriebs, des Arbeitgebers, anzubieten, aber sie sindnicht dazu gezwungen. Sie sind auch nicht auf demfreien Markt aktiv, sondern sie unterstützen mit ihrenEinrichtungen, den Pensionsfonds und den Pensionskas-sen, lediglich ihre eigenen Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter. Es gibt auch keine Gewinnerzielungsabsicht.Deshalb muss klar sein, dass wir Regelungen, dieletztlich dazu führen würden, dass die Betriebe eher Ab-schied von der betrieblichen Altersversorgung nehmenwürden, anstatt neu einzusteigen, mit aller Entschieden-heit zurückweisen müssen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, statt dort, wo esbereits genügend Schutzregelungen gibt, zusätzlicheRegelungen zu schaffen, sollte die Europäische Kom-mission eher Maßnahmen und Initiativen ergreifen, umall die Staaten in der Europäischen Union, in denen eskeine betriebliche Altersversorgung gibt, dazu anzuhal-ten, eine betriebliche Altersversorgung einzuführen.Kurzum: Wir brauchen europaweite Initiativen für mehrAltersvorsorge und keine Regelungen, die letztlich zumAbbau einer betrieblichen Altersversorgung führenwürden.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Josip Juratovic von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor meiner Zeit im Bundestag war ich zu-
nächst am Fließband und dann im Betriebsrat eines gro-
ßen Automobilunternehmens beschäftigt. Wir haben uns
damals intensiv mit der betrieblichen Altersversorgung
beschäftigt, um für unsere Arbeitnehmer im Alter mög-
lichst gute Bedingungen zu schaffen.
Auch in der Politik haben wir viel zugunsten der
betrieblichen Altersversorgung getan. Es ist klar, dass
die gesetzliche Rente die wichtigste Säule der Alters-
vorsorge bleibt. Klar ist aber auch, dass weitere Säulen
notwendig sind, insbesondere die zweite Säule, die
betriebliche Altersversorgung.
Die betriebliche Altersversorgung ist ein Modell, das
für viele Arbeitnehmer und Arbeitgeber attraktiv ist.
2001 hat die SPD dafür gesorgt, dass Beschäftigte einen
Teil ihres Gehalts zugunsten einer betrieblichen Alters-
versorgung umwandeln können, um später eine Betriebs-
rente zu erhalten. Diese Entgeltumwandlung ist bei der
Einzahlung sozialversicherungsfrei.
Gewerkschaften und Arbeitgeber haben gemeinsam
viele Systeme der betrieblichen Altersversorgung ge-
schaffen. Bereits heute erhalten mehr als 1 Million
Menschen eine Betriebsrente. Weitere 6,3 Millionen
Menschen sind im System der betrieblichen Alters-
versorgung, um später eine Betriebsrente zu erhalten.
Das deutsche System der Betriebsrenten ist deshalb ein
Erfolg!
Kolleginnen und Kollegen, auch in der Finanzkrise
waren unsere Betriebsrenten sicher. Mit Freude können
wir feststellen, dass kein einziges deutsches Betriebs-
rentensystem kaputtgegangen ist, übrigens anders als in
anderen Ländern, wie in den USA oder Großbritannien.
Das zeigt: Unser Sicherungssystem für die Betriebs-
renten funktioniert. Erstens ist gewährleistet, dass der
Arbeitgeber bei einer Finanzierungslücke haftet. Somit
ist die Leistung für die Beschäftigten in jedem Fall gesi-
chert. Zweitens gibt es strenge Anlagevorschriften,
wodurch ein Wertverlust quasi ausgeschlossen ist. Drit-
tens gibt es den Pensions-Sicherungs-Verein, der die
Ansprüche bei einer Insolvenz eines Unternehmens
sichert. Dieses Modell der drei Sicherungssysteme hat
sich gerade in der Krise bewährt. Deshalb sehe ich keine
Notwendigkeit, an diesem System etwas zu verändern.
Grundsätzlich ist die Zielrichtung der Kommission
richtig: Für Betriebsrenten braucht man eine möglichst
hohe Sicherheit, damit die Beschäftigten keine Ansprü-
che verlieren. Jedoch sollte die Kommission vorsichtig
sein, den Mitgliedstaaten etwas zu empfehlen, was letzt-
endlich ein sicheres System im jeweiligen Staat zerstö-
ren würde. Das ist der Fall hier in Deutschland: Die
Sicherheit unserer Betriebsrenten besteht nicht nur auf
dem Papier, sondern hat den Praxistest während der
Finanzkrise bestanden. Mehr Eigenkapital der Betriebs-
rentensysteme würde dagegen das deutsche System
infrage stellen. Viele Betriebsrenten wären nicht mehr
finanzierbar.
Es ist selten der Fall, dass eine so große Einigkeit
herrscht, nicht nur bei uns im Bundestag, sondern auch
bei Arbeitgebern und Gewerkschaften. Dies ist ein wich-
tiges Signal nach Brüssel. Ich hoffe, dass wir gemeinsam
für ein Umdenken bei der Kommission sorgen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege BjörnSänger das Wort.
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20726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! In der Tat beschleicht mich das Gefühl, dass wir
heute etwas besprechen, das wir am Ende in großer Ei-
nigkeit beschließen können. Warum ist das so? Die be-
triebliche Altersvorsorge ist eine tragende Säule in unse-
rem Sozialsystem. Neben der gesetzlichen Rente und der
privaten Vorsorge ist sie eine wichtige Säule, die es wei-
ter auszubauen gilt, insbesondere vor dem Hintergrund
der demografischen Entwicklung.
Die betriebliche Altersvorsorge ist insbesondere in
kleinen und mittleren Unternehmen noch unterentwi-
ckelt. Dabei geht es nicht um Pensionsfonds und Pen-
sionskassen, sondern in der Regel um die Entgeltum-
wandlung, die, wie bereits angesprochen wurde, von der
Vorgängerregierung richtigerweise eingeführt wurde.
Pensionsfonds und Pensionskassen haben ihre Heimat
traditionell in großen, international aufgestellten Unter-
nehmen, weil es dort eine kritische Masse an Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern gibt. Es ist eine lange
Historie sozial engagierter Unternehmerinnen und Un-
ternehmer, die schon im 18. oder 19. Jahrhundert diese
Sozialsysteme in ihren Unternehmen eingeführt haben.
Ich denke beispielsweise an die Familie Krupp oder an
Sophie Henschel aus meiner Heimatstadt Kassel.
Die betriebliche Altersvorsorge ist seit jeher eine So-
zialleistung im Unternehmen. Sie bietet auch einen An-
reiz. Unternehmen können damit werben, dass es diese
Sozialleistung gibt, und sich damit erfolgreich dem
Fachkräftemangel entgegenstellen. Sie wird im Arbeits-
vertrag geregelt. Bereits 8 Millionen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer kommen in den Genuss dieser Sozial-
leistung.
Auch die Unternehmen profitieren davon; ich sagte es
bereits. Sie werden dadurch attraktiver. Sie können die
Finanzmittel zum Teil im eigenen Unternehmen verwen-
den und haben dadurch einen Finanzierungsvorteil.
Der Ansatz der EU-Kommission an dieser Stelle ist
richtig und wichtig, grenzüberschreitende Unternehmen
zu betrachten und für eine entsprechende Portabilität zu
sorgen. Das trägt den Anforderungen der Globalisierung
Rechnung. Auch die christlich-liberale Koalition hat die-
sen Gedanken aufgegriffen und das Pension Pooling auf
den Weg gebracht. Dadurch erhalten die Anleger, die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, eine höhere Ren-
dite, wenn die Anlagen von international tätigen Unter-
nehmen gebündelt verwaltet werden. Wir stärken damit
auch den Finanzplatz Deutschland und ziehen das Ganze
unter deutsche Aufsicht.
Aber eine betriebliche Altersvorsorgeeinrichtung ist
kein Finanzprodukt. Sie ist in dem Sinne auch nicht mit
Versicherungen vergleichbar. Die Unternehmen haften
für die entsprechenden Zusagen. Es gibt den Pensions-
Sicherungs-Verein. Wir haben aktuell 130 Milliarden
Euro Deckungsmittel zur Verfügung.
Wir sprechen in der Tat über Großunternehmen mit
einer sehr langen Tradition. Diese Unternehmen gehören
in der Regel zu den 6 Prozent der Unternehmen in
Deutschland, die älter als 100 Jahre sind. Das heißt, es
gibt eine gewisse Sicherheit für diese Anlagen und bis-
her auch keine nennenswerten Probleme. Die Probleme
würden erst dann kommen, wenn wir die Solvency-II-
Regeln auch für dieses Instrument anwenden würden.
Denn die Eigenkapitalanforderungen, die dort vorgese-
hen sind, können die Unternehmen in der Regel nicht
mit eigenen Mitteln erfüllen. Die Attraktivität dieser So-
zialleistung würde folglich leiden.
Natürlich ist auch vollkommen klar, dass eine Vergan-
genheitsbetrachtung nicht viel weiterhilft. Wir können
nicht sagen: Weil in der Vergangenheit nichts passiert ist,
wird auch in der Zukunft nichts passieren. – Insofern ist
es logisch, dass sich die EU-Kommission Gedanken da-
rüber macht, wie man zu einer gewissen Sicherheit
kommt.
Aber es gibt, wie gesagt, schon Sicherungssysteme.
Wir haben den Pensions-Sicherungs-Verein. Auch das
muss in die Überlegungen mit einfließen und eine Wür-
digung finden, dass es diese Sicherungssysteme gibt.
Auf gar keinen Fall kann man diese Regeln auf den Be-
stand anwenden. Das wäre nicht im Interesse der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer. Denn sie müssten mit
einer niedrigeren Rente rechnen. Ich denke, das wollen
wir allesamt in diesem Hause nicht.
Insofern ist der vorliegende Antrag der dokumentierte
Wille der christlich-liberalen Koalition, der Bundesre-
gierung ein Mittel an die Hand zu geben, zu sagen: Der
gesamte Deutsche Bundestag sieht das so; bitte verhan-
delt in Brüssel entsprechend, damit diese Probleme bei
der betrieblichen Altersvorsorge nicht auftreten.
Ich denke, das werden wir heute in großer Einmütig-
keit beschließen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Koch von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ganz so groß ist die Einhelligkeit nun doch nicht.Ich muss leider ein bisschen Salz in die Suppe streuen.Der Antrag von Union und FDP ist an Scheinheiligkeitnicht zu überbieten. Die aktuelle Regierung sowie dieVorgängerregierungen bis zu Rot-Grün haben sich in derRentenpolitik vor allem durch zwei Punkte ausgezeich-net: durch Rentenklau und Vergrößerung der Altersar-mut. Dämpfungsfaktoren und die Rente ab 67 sind ganzklare Rentenkürzungen. Die seit Jahrzehnten verspro-chene Angleichung des Rentenwertes Ost an den Ren-tenwert West ist bis heute nicht erfolgt. Die Inflationfrisst zu zaghafte Rentenerhöhungen fast immer kom-plett auf, selbst die jetzige – wie Sie meinen: übergroße –Rentenerhöhung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20727
Harald Koch
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Die Linke möchte dagegen eine Rente, die den Le-bensstandard sichert und armutsfest ist.
Das Leistungsniveau in der gesetzlichen Rente muss an-gehoben, der Solidarausgleich ausgeweitet und eine er-gänzende Mindestrente von 900 Euro im Monat garan-tiert werden. Man muss auch über die Ausgangswertereden. Für eine wirklich gute Rente sind gute Löhne undgute Arbeit entscheidende Stellschrauben. Daher fordernwir den Abbau prekärer Beschäftigung, einen flächende-ckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro sowieeine sanktionsfreie Mindestsicherung.
Nun bringen Union und FDP einen Antrag ein, mitdem sie eine Schwächung der betrieblichen Altersvor-sorge im Rahmen der Überarbeitung der EU-Pensions-fondsrichtlinie verhindern wollen. Es geht darum, dassauf EU-Ebene diskutiert wird, Solvency-II-Vorschriftenauf Einrichtungen der betrieblichen, kapitalgedecktenAltersvorsorge zu übertragen. Dies soll über eine Neu-fassung der Pensionsfondsrichtlinie geschehen. Sol-vency II führt unter anderem strengere Vorschriften zurEigenkapitalausstattung von Versicherungsunternehmenein. Die Linke ist der Auffassung, dass eine unreflek-tierte Übertragung aller Solvency-II-Vorschriften auf diebetriebliche Altersvorsorge bedenklich ist. Generellmuss der Versicherungsmarkt strikt, aber umsichtig re-guliert werden. Bei übertriebenen Eigenkapitalanforde-rungen besteht die Gefahr, dass die Unternehmer aufDauer ein immer geringeres Leistungsniveau durchdrü-cken, dass Betriebsrenten gekürzt werden müssen oderdass dies bei der Entgeltumwandlung zu höheren Beiträ-gen führt. Hier gilt es, die Versicherten und ihre Be-triebsrenten zu schützen.
Der Antrag von Union und FDP ist aber allzu durch-sichtig. Sie wollen der Versicherungslobby und Arbeit-geberverbänden willfährig Folge leisten, weil diese mehrAufsicht wie der Teufel das Weihwasser fürchten. DieLinke will nicht, dass betriebliche Altersvorsorge zu ei-ner Art Regulierungsoase wird. Die meisten Durchfüh-rungswege der betrieblichen Altersvorsorge in Deutsch-land setzen eher auf risikoarme Anlagen. In diesem Fallsollten die Eigenkapitalanforderungen ohnehin nichttotal überfordernd wirken. Durch eine zu niedrige Re-gelungsdichte flüchtet aber noch mehr Kapital zumBeispiel in Pensionsfonds. Diese sind durchaus Finanz-marktakteure und würden sich aufblähen. Immer mehrrenditesuchendes Kapital käme so auf die Finanzmärkte,wo sich neue Spekulationsblasen bildeten. Alle Siche-rungsmechanismen, die Sie aufgebaut haben, können ge-nerell nicht greifen, weil sie sich an Einzelfällen orien-tieren.Wenn Sie tatsächlich befürchten, dass die Eigenkapi-talanforderungen fast alle Träger der betrieblichen Al-terssicherung überfordern, scheint Ihre vielgerühmte be-triebliche Altersvorsorge doch nicht auf so sicherenFüßen zu stehen. Gerade wenn Ihre Befürchtungen zu-treffen sollten, ist es Ihre Pflicht, eine lebensstandard-sichernde Alterssicherung wieder komplett im Rahmender gesetzlichen Rentenversicherung über ein Umlage-verfahren zu organisieren. Diese ist und bleibt für dieLinke die tragende Säule. Sie ist der beste Schutz fürVersicherte.Ich komme zum Schluss. Die betriebliche Altersvor-sorge kann höchstens noch als Zuckerle obendrauf kom-men. Als einzige Fraktion hier im Hause lehnten undlehnen wir die Privatisierung der Altersvorsorge ab. IhrRentendumping kommt Versicherungskonzernen undGroßunternehmen zugute. Beenden Sie deshalb IhreRentenpolitik, die den meisten Menschen Angst im Altermacht!Danke schön.
Jetzt hat der Kollege Wolfgang Strengmann-Kuhnvon Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ehrlich gesagt, ich bin ein bisschen überrascht über denAntrag. Die bisherige Debatte hat gezeigt, dass wir unsweitgehend einig sind: Die betriebliche Alterssicherungist eine wichtige Säule der Alterssicherung. Wir alle wis-sen, was wir an der betrieblichen Alterssicherung inDeutschland haben.Soweit ich weiß, laufen die Verhandlungen zwischender Bundesregierung und der EU noch, und es ist bisherunklar, wie die konkreten Folgen der Überlegungen derEU für Deutschland tatsächlich sind. Also warum ei-gentlich dieser Antrag? Wenn es darum geht, ein breitesVotum des Bundestags zu bekommen, dann frage ichmich, warum Sie nicht auf uns zugekommen sind, damitwir einen gemeinsamen Antrag stellen. Das wäre einnoch stärkeres Signal gewesen.
Wenn es darum geht, zu zeigen, dass wir alle die be-triebliche Alterssicherung wichtig finden, diese als not-wendige und sinnvolle Säule der Alterssicherung schät-zen und dass wir keine Schwächung der betrieblichenAlterssicherung wollen und ihr keine unverhältnismäßigneuen Lasten aufbürden wollen, hätte man sich schnelleinigen können. Stattdessen gibt es jetzt einen schwarz-gelben Antrag, über den heute im Hauruckverfahren ab-gestimmt werden soll. Warum dieses Verfahren?So, wie der Antrag jetzt ist, sind wir nicht ganz zufrie-den. Wir müssen uns nämlich schon die Frage stellen:Wie wollen wir auf die Finanzkrise reagieren, und wiewollen wir erreichen, dass alle – ich wiederhole: alle –Produkte, die auf den Kapitalmärkten gehandelt werden,auf ihre Risiken sowohl für die Anlegerinnen und Anle-ger als auch, wie uns die Finanzkrise auch gezeigt hat,
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20728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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für die Allgemeinheit überprüft werden können? Die Fi-nanzkrise, die noch lange nicht ausgestanden ist, hatdeutlich gemacht, dass das Risiko von kapitalgedecktenAltersvorsorgeprodukten thematisiert werden muss. Ichfinde, das gilt auch für die betriebliche Altersvorsorge.Sie ducken sich in diesem Antrag jedoch weg, als ob esnie eine Finanzkrise gegeben hätte.Ich bin der Auffassung, dass sowohl aus finanzmarkt-politischer als auch aus sozialpolitischer Sicht – das darfnicht vergessen werden – eine risikoadäquate Betrach-tung der Anlagen auch bei Betriebsrenten wichtig undrichtig ist. Klar ist – da sind wir uns völlig einig –, dassSolvency II nicht eins zu eins auf die Betriebsrenten an-gewendet werden kann und auch nicht angewendet wer-den soll. Aber auch bei den Betriebsrenten müssen wirdie Frage stellen, wo das Kapital angelegt ist, wie sicheres ist und wie gut die Risiken abgesichert sind. Klar istaber auch, dass die Besonderheiten bei den deutschenBetriebsrenten berücksichtigt werden müssen, damitnicht Äpfel mit Birnen verglichen werden.Wir alle wissen, dass die Betriebsrenten in Deutsch-land gut gesichert sind. Das soll auch so bleiben, und diebetriebliche Altersvorsorge darf nicht durch unnötigeund unsinnige Vorschriften überfordert werden. Für Ver-handlungen mit dieser Stoßrichtung hat die Bundesregie-rung unsere Unterstützung. Wir Grünen bekennen unsausdrücklich zu den Betriebsrenten. Wir sind jedochauch der Auffassung, dass die Finanzkrise uns gelehrthat, dass geprüft werden muss, ob alle Anlageformenund damit auch die Betriebsrenten risikoadäquat durchEigenkapital gesichert sind. Das ist in Ihrem Antragnicht enthalten. Wir werden uns deswegen der Stimmeenthalten.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Jetzt hat der Kollege Ralph Brinkhaus von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn mandas Thema von der finanziellen Seite betrachtet, dannmuss man sagen: Die Frage der Altersversorgung ist diezentrale Zukunftsfrage für unser Land. Ich möchte imZusammenhang mit dem System der gesetzlichen, umla-gefinanzierten Rentenversicherung darauf hinweisen,dass wir momentan 20 Millionen Rentenempfänger undcirca 30 Millionen sozialversicherungspflichtige Be-schäftigte haben und der Bundeszuschuss circa 80 Mil-liarden Euro jährlich beträgt. Das Verhältnis von sozial-versicherungspflichtig Beschäftigten zu Rentenemp-fängern wird bald eins zu eins sein. Sie sehen, welcheZeitbombe trotz aller Strukturanpassungen, die diechristlich-liberale Regierung, aber auch die CDU/CSUzusammen mit der SPD vorgenommen haben, hier tickt.Umso wichtiger ist es, dass wir mit der betrieblichen Al-tersversorgung und der privaten Altersversicherung wei-tere Säulen der Altersversorgung haben.Es ist gut und richtig, dass sich die EU-Kommissionmit diesem Thema beschäftigt. Es ist auch deswegen gutund richtig, weil wir gesehen haben, dass diese Problemenicht nur uns in Deutschland betreffen, sondern auch an-dere EU-Länder. Deswegen ist es legitim, dass die EUdieses Thema aufgreift.Das ist nicht nur deswegen legitim, weil es umenorme Summen geht, sondern auch deswegen, weil diefinanzielle Solidität der Altersversorgung, ganz speziellder betrieblichen Altersversorgung – darüber unterhaltenwir uns ja heute –, für die Menschen sehr wichtig ist.Wenn ich mich als junger Mensch darauf verlasse, dassich eine bestimmte Betriebsrente bekomme und mit 65feststelle, dass dieser Plan nicht aufgegangen ist, habeich keinerlei Möglichkeiten mehr, das zu korrigieren undwiedergutzumachen. Deswegen steht der Staat, nicht nurder deutsche, sondern auch der europäische Gesetzgeber,in der Verantwortung, hier einzugreifen.
Was hat die Europäische Kommission nun gemacht?Sie hat sich gedacht: Na ja, wir haben da doch schonetwas, was die Solidität von Altersversorgung betrifft,und das ist das Regulierungswerk von Solvency II. Viel-leicht übertragen wir dieses Regelungswerk auch auf diebetriebliche Altersversorgung. – Wenn man Solvency IIbetrachtet, stellt man fest: Da gibt es drei Säulen. Dieerste Säule sind die quantitativen Anforderungen an dasEigenkapital. Die zweite Säule ist das Risikomanage-ment. Die dritte Säule ist das Berichtswesen.Wenn man sich die erste Säule anguckt, dann stelltman fest: Wenn das, was in Solvency II vorgesehen ist– das ist noch nicht in deutsches Recht umgesetzt –, einszu eins auf die betriebliche Altersversorgung übertragenwürde, dann würden Pensionsfonds und PensionskassenNachschusspflichten haben. Die einen sagen: 30 Milliar-den Euro; andere sagen: 40 oder 50 Milliarden Euro. Daswürde das System der betrieblichen Altersversorgung indie Knie zwingen.Unsere betrieblichen Altersversorger sagen uns: Halt!Wir haben doch ein System, das immer funktioniert hat,bei dem es nie Probleme gegeben hat. Sie sagen: Halt!Wir haben doch ein System, das schon früher reguliertworden ist, gut reguliert worden ist. Sie sagen: Halt! Wirsind doch keine Versicherung; wir wollen keinen Ge-winn machen. Wir haben ein ganz anderes Risikoprofil.Und sie sagen: Halt! Wir haben noch Hosenträger undGürtel; das ist der Pensions-Sicherungs-Verein, und dasist die Nachschusspflicht der Unternehmen, die hinterder betrieblichen Altersversorgung stehen.Also könnte man zu dem Schluss kommen: Es istnichts zu tun. Da sage ich dann: Halt! Und: Nein! Dassin der Vergangenheit nichts Schlimmes passiert ist, istnatürlich kein Beweis dafür, dass auch in Zukunft nichtspassiert. Das haben wir in der Finanzkrise gelernt. Ichsage ferner: Nein! Wir müssen angesichts der enormenSummen, die dort investiert werden, angesichts der Ge-fährlichkeit des Finanzmarkts – wir alle wissen heute
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Ralph Brinkhaus
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kaum noch, wo man Geld sicher anlegt – schon genaubetrachten, was mit diesem Geld geschieht. Wir müssennatürlich auch die demografische Entwicklung im Augebehalten. Bei der Kombination – auf der einen Seite wer-den die Menschen immer älter; auf der anderen Seitehaben wir Unsicherheit von Finanzanlagen – haben wirdurchaus die Pflicht, immer wieder zu schauen: Ist das,was da geschieht, alles richtig? Wir müssen zudem – auchdas gehört zur Wahrheit dazu – immer wieder schauen:Ist der Pensions-Sicherungs-Verein noch vernünftig auf-gestellt?
Wie sieht es mit den Unternehmen aus, die diese Nach-schusspflicht haben?Also doch Solvency II? Nein! Wir sollten das Sol-vency-II-Werk differenziert betrachten. Ich hatte schondavon gesprochen, dass es drei Säulen gibt. Die eineSäule ist das Berichtswesen. Gegen Berichtswesen hatniemand etwas. Ich glaube, es ist richtig und gut, dassauch die Einrichtungen der betrieblichen Altersversor-gung gut berichten, sodass die Aufseher und auch wir alsPolitik wissen, was dort passiert.Die zweite Säule ist das Risikomanagement. Es ist gutund richtig, dass es auch dort Risikomanagement gibt,dass bestimmte Anforderungen an die Personen gestelltwerden, die das Geld verwalten. Insofern haben wir auchdagegen nichts.Es sind also die quantitativen Anforderungen, die unsSorgen bereiten. Meine Vorredner haben schon gesagt,dass das dazu führen kann, dass das komplette Systemder betrieblichen Altersversorgung in Deutschland in-frage steht. Das wollen wir nicht. Nichtsdestotrotz, HerrStrengmann-Kuhn, müssen wir immer schauen: Ist dasDeckungskapital hoch genug? Wir müssen auch quanti-tative Anforderungen stellen, aber nicht so, wie das Sol-vency II vorsieht, weil wir hier einfach andere Bedin-gungen haben. Deswegen stellen wir den Antrag, derheute vorliegt.Zu Ihrer Frage „Warum stellen Sie diesen Antragjetzt, zu diesem Zeitpunkt, wo doch auf europäischerEbene eigentlich erst in acht oder zwölf Monaten einekonkrete Vorlage von der Kommission kommen wird?“muss ich sagen: Gut so! Gut so, dass wir es jetztmachen! Wir reagieren eigentlich immer viel zu spät aufeuropäische Entwicklungen. Ich muss auch sagen, dassdie Branche, die Vertreter der Pensionskassen und Pen-sionsfonds, gut gehandelt hat. Sie haben uns sehr früh-zeitig auf dieses Problem aufmerksam gemacht. Siehaben uns sehr frühzeitig die Zahlen geliefert. Und siehaben uns sehr frühzeitig gesagt: Wir brauchen die Hilfeund Unterstützung des Deutschen Bundestages.Insofern ist gerade dies ein gelungenes Beispiel dafür,wie man frühzeitig auf europäische Entwicklungenreagiert, wie sich der Deutsche Bundestag frühzeitigpositioniert, wie man der Bundesregierung frühzeitig einVerhandlungsmandat mit auf den Weg gibt. Das ist gut;das ist richtig. Deswegen bitten wir um Unterstützungfür diesen Antrag.Danke schön.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Petra Hinz von der SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben gemeinsam an Veranstaltungenteilgenommen, lieber Kollege Weiß. Dort hat man unsdie Sorgen vorgetragen. Alle Redner sind zu Recht da-rauf eingegangen, und ich denke, es ist wichtig, dass dasParlament insgesamt die Wichtigkeit der Betriebsrentenhervorhebt.Ich möchte trotzdem gern noch einmal zur Finanz-krise zurückkommen, um deutlich zu machen, dass inder Tat Solvency II für die Betriebsrenten nicht greifenkann. Wir erinnern uns an die Finanzkrise 2007 und2008. Wir sind aufgeschreckt. Es wurde deutlich, welcherheblichen Handlungsbedarf es gab, aber nicht inBezug auf die Betriebsrenten, sondern auf ganz andereElemente der Finanzmarktregulierung.Die Diskussion hat uns verdeutlicht: Wir müssen hin-schauen – genau das ist auch gesagt worden. Das, was zuverbessern ist, müssen wir immer im Auge behalten undversuchen, das, was bei uns national, in Deutschland,richtig ist, möglicherweise bei unseren Nachbarinnenund Nachbarn in Europa einzuführen. Das ist richtig.Aber ich möchte darauf abheben, dass bereits im Rah-men von Solvency I erhebliche Anforderungen an dieBetriebskassen sowie die Betriebsfonds gestellt wurden.Dies ist auf nationaler Ebene in Deutschland bereits um-gesetzt worden. Im Rahmen des Risikomanagementssind risikoreiche Anlagenteile klar festgelegt. Also trifftdas, was wir üblicherweise von Versicherungen kennen,bei der Betriebsrente überhaupt nicht zu.Eine Spekulation, wie wir sie von den Versicherungenkennen, ist fast ausgeschlossen, da dieser Bereich gede-ckelt ist. Darum lehnen wir die viel strengeren Eigenka-pitalvorschriften – es sind bis zu 40 Prozent, die hier gel-ten sollen – ab. Solvency II darf für die betrieblicheAltersvorsorge nicht greifen.
In vielen Gesprächen – dies sagte ich gerade – ist unsgenau dieses Bild vermittelt worden. Wenn diese Vor-schriften greifen, würden möglicherweise Betriebskas-sen pleitegehen oder die Ausschüttungen würden sehrstark zurückgehen, und letzten Endes würde sich dies fürdiejenigen, die über Jahre hinweg angespart haben, nichtlohnen.Wir sollten unser Drei-Säulen-System, vor allem dieeine Säule, die Betriebsrenten, viel stärker auf EU-Ebenekommunizieren und die Vorteile darlegen, denen wir eszu verdanken haben, dass wir unsere betriebliche Alters-vorsorge gut durch die Finanzkrise gebracht haben.
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20730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Petra Hinz
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Auch wir werden diesem Antrag zustimmen, und ichmöchte noch einmal betonen: Da wir gemeinsam anGesprächen teilgenommen haben, hätten wir uns sehrgewünscht, einen gemeinsamen Antrag zu stellen.Sicherlich: Hätten wir ihn geschrieben, hätte er mögli-cherweise einen etwas anderen Duktus erhalten, und eswären noch andere Aspekte hineingekommen.Aber die Tendenz und die Notwendigkeit sind richtig,dass wir unsere Regierung beauftragen, gegenüber derEU-Kommission nachdrücklich für unsere betrieblicheAltersvorsorge einzustehen und zu kämpfen; denn unserDrei-Säulen-System und die Säule der betrieblichenAltersvorsorge sind richtig. Solvency II darf nicht für dieSäule der betrieblichen Altersvorsorge greifen. DieSicherungen, die Stützen der betrieblichen Altersvor-sorge sind richtig sowie notwendig und nachhaltig imRahmen von Solvency I geändert worden.In diesem Sinne wünsche ich der Regierung und unsgemeinsam, dass wir die richtigen Worte und Argumentefinden, damit wir unser Modell sehr deutlich machen.Allen, die es bisher nicht kennen, sollten wir seine Vor-züge deutlich machen. Ich weiß, dass gerade auch dieGewerkschaften, der DGB, auf europäischer Ebene mitden Kolleginnen und Kollegen unser Modell diskutieren,damit Solvency II nicht zum Tragen kommt.Ich wünsche uns viel Kraft sowie die richtigen Argu-mente, weil unsere betriebliche Altersvorsorge – ichwiederhole es, da ich davon überzeugt bin –, eine derdrei Säulen im Rahmen der Altersvorsorge, das richtigeElement ist.Für Ihre Aufmerksamkeit vielen Dank und für die Ge-spräche in unserem Sinne viel Erfolg!
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/9394 mit dem Titel „Für eine Sicherung der betriebli-
chen Altersversorgung in Deutschland im Zusammen-
hang mit der Überprüfung des EU-Rahmens für die Vor-
sorgesysteme in den Mitgliedstaaten“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Lin-
ken und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Joachim Hacker, Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Konversion gestalten – Kommunen stärken
– Drucksache 17/9060 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Bettina Herlitzius, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Konversion – Zwischen Verwertungsdruck
und nachhaltigen Konzepten
– Drucksache 17/9405 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
tem Redner dem Kollegen Hans-Joachim Hacker von
der SPD-Fraktion das Wort.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bei dem Thema „Standortkonzept der Bundeswehr“wird es für die Kommunen ernst. Nachdem der ehe-malige Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg einungeordnetes Konzept für die Reform der Bundeswehrhinterlassen hat, hat Bundesverteidigungsministerde Maizière Entscheidungen zur Aufgabe von 31 Stand-orten und Reduzierungen bei 90 Standorten verkündet.Hieraus erwachsen für die betroffenen Kommunen gra-vierende Konsequenzen. Der Bund darf die Kommunendabei nicht alleine lassen. Was im Moment fehlt, ist einschlüssiges Gesamtkonzept des Bundes. Dies ist derKern der Forderung im Antrag der SPD-Bundestagfrak-tion „Konversion gestalten – Kommunen stärken“. Diesist kein Geschenk an die Standortgemeinden, sondernentspringt einem ganzheitlichen Ansatz, den die SPD-Bundestagsfraktion hierbei verfolgt.Es ist auch klar, dass die Auswirkungen auf die ein-zelnen Länder und Kommunen unterschiedlich sein wer-den. In der Region Hamburg mit ihrer dynamischenEntwicklung sind die Folgen andere als in den struktur-schwachen Gebieten von beispielsweise Brandenburgund Mecklenburg-Vorpommern. Die Erlöse aus diesenVeräußerungen müssen gerecht verteilt werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20731
Hans-Joachim Hacker
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In meinem Wahlkreis stehen die Bürgerinnen undBürger und die Kommunalpolitiker der Stadt Lübtheennach einer jahrelangen Hängepartie vor der enormenHerausforderung, dass der örtliche Truppenübungsplatzgeschlossen wird. Die Entscheidung ist in der Sacheauch richtig; das will ich hier sagen. Enttäuschung istschon jetzt eingekehrt – nicht nur in Lübtheen, sondernauch anderswo –, da sich die großmundigen Ankün-digungen des Bundesverkehrsministers Dr. Ramsauer,einen sogenannten Finanzierungskreislauf „Konversion“zu etablieren, in Luft aufgelöst haben. Auf eine KleineAnfrage der SPD-Bundestagsfraktion hat die Bundesre-gierung am 16. Januar 2012 geantwortet. Die Kleine An-frage der SPD-Bundestagsfraktion „Künftige Stationie-rung der Bundeswehr“ hat die Bundesregierung zudiesem Punkt so beantwortet, dass die Ankündigung vonDr. Ramsauer vom 8. November 2011 in der Rheini-schen Post sich in Luft auflöst. Das war also eine Luft-nummer und keine Hilfe für die Kommunen.
Die SPD-Bundestagsfraktion verharrt bei diesemThema nicht in Wehklagen und Resignation. Wir wol-len, dass dieser Prozess, der sich über Jahre erstreckenwird – wir werden erst in den Jahren 2013/2014 mit die-sen Aufgaben richtig beginnen –, ganzheitlich gestaltetwird. Wir meinen, ein Ansatz ist zum Beispiel das Pro-gramm „Stadtumbau West“, in dem solche Maßnahmenetabliert sind. Wir fordern ein eigenständiges Programm„Konversion“ für das gesamte Bundesgebiet. Die Mittel,die im Rahmen der Städtebauförderung einzustellensind, müssen angepasst werden. Unabhängig von derKonversionsproblematik besteht bei der Städtebauförde-rung ein Bedarf, der sich auf ungefähr 700 MillionenEuro pro Jahr bemisst. Das muss Maßstab für die Bewer-tung sein.Wir können auch Synergieeffekte erzielen. Erfahrun-gen, die der Bund oder Bundesbehörden in den letztenJahren bei anderen Prozessen gesammelt haben, könnenauf die Kommunen übertragen werden. Strukturschwa-che Kommunen werden bei der Planung, auch bei derBewertung von Umweltfolgen nicht das nötige Know-how haben. Hier ist der Bund gefordert, eine entspre-chende inhaltliche Unterstützung zu geben. Ich willdeutlich sagen, dass die SPD-Bundestagsfraktion denAntrag aus Nordrhein-Westfalen unterstützt, der demBundesrat vorliegt und der eine Erweiterung der Aufga-benstellung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben,der BImA, fordert, damit diese strukturpolitische Zieleverfolgen kann.Dieser Antrag liegt dem Bundesrat vor. Es handeltsich um einen formellen Akt, den Auftrag der BImA indiesem Punkt zu präzisieren. Das wäre eine ganz kon-krete Hilfe für strukturschwache Regionen.
Wir meinen, dass die BImA mehr sein muss als der Im-mobilienmakler des Bundesfinanzministers. Das gilt fürdie Konversionsimmobilien genauso, Herr Staatssekre-tär, wie für die Immobilien der TLG Wohnen GmbH,über die wir in dieser Woche auch diskutiert haben.Der Prozess der Umgestaltung der bisherigen Bun-deswehrstandorte, die aufgegeben werden, kann aucheine Chance für eine moderne Regionalplanung sein.Wir streben die Reduzierung der Inanspruchnahme vonFlächen für bauliche Nutzung an; sie soll auf 30 Hektarpro Tag verringert werden. 30 Hektar pro Tag – das istein hehres Ziel. Im Moment liegen wir ungefähr bei90 Hektar. Wir können diese Immobilien auch für dieReduzierung der Flächeninanspruchnahme nutzen, in-dem wir die Flächen zurückbauen und sie beispielsweisein den nationalen Naturfonds einstellen.Um es auf den Punkt zu bringen: Für die SPD-Frak-tion steht nicht eine Einzelmaßnahme im Vordergrund,sondern wir wollen ein Gesamtkonzept. Das kann abernicht allein darin bestehen, dass die BImA Veranstaltun-gen hier in Berlin durchführt und allgemeine Erklärun-gen abgibt. Das kann nicht der Weg sein. Die Veranstal-tung vom Februar dieses Jahres hat bei den betroffenenKommunen unterschiedliche Resonanz gefunden. Eskann sich hier nur um einen ersten Schritt handeln. Wirbrauchen ein Gesamtkonzept. Hier ist die Bundesregie-rung gefordert, Herr Staatssekretär.Ich appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Koalitionsfraktionen: Machen Sie es sich nichtso leicht. Stimmen Sie die beiden Anträge nicht einfachnieder. Gehen Sie mit uns in eine inhaltliche Diskussion,damit wir am Ende zu guten Ergebnissen kommen fürdie Kommunen, die von den Standortschließungen be-troffen sind.Vielen Dank.
Für die Bundesregierung ergreift das Wort der Parla-
mentarische Staatssekretär Steffen Kampeter.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das Thema Konversion begleitet uns seit demJahr 1990. Das Ende des Kalten Krieges und die erfreuli-che Wiedervereinigung Deutschlands machten einenweitgehenden Truppenabbau nicht nur bei der Bundes-wehr, sondern auch bei den inzwischen befreundetenausländischen Streitkräften in Deutschland möglich. Dasist aufgrund der veränderten sicherheits- und europapoli-tischen Lage auch geboten.In der Konsequenz waren bisher militärisch genutzteLiegenschaften neuen Verwendungen zuzuführen unddie Wirtschaftsstruktur bisheriger Standorte fortzuentwi-ckeln. Der bisherige Konversionsprozess ist ohne ein ge-sondertes Konversionsprogramm des Bundes durchge-führt worden, und zwar auch zu dem Zeitpunkt, als dieFraktionen, deren Anträge wir heute beraten, Regie-rungsverantwortung trugen.Die strukturpolitische Verantwortung des Bundesliegt im Kern in den Instrumenten, die sich als erfolg-reich erwiesen haben. Die Bewältigung der Konver-sionsfolgen liegt nach unserer Verfassung allerdings vor-
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Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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rangig bei den Ländern. Der Bund unterstützt die Länderim Rahmen bestehender Programme und Mittel in erheb-lichem Umfang. Im Rahmen des Eckwertebeschlusseszum Bundeshaushalt 2013 und zum Finanzplan bis 2016haben wir deswegen die Programmmittel für die Städte-bauförderung für 2013 fortgeschrieben und die Mittel fürdie regionale Wirtschaftsförderung angehoben.
Damit sind zwei wesentliche Instrumente zur Konver-sion und zur strukturellen Anpassung stabilisiert wor-den. Es ist jetzt Aufgabe der Länder, durch geeigneteSchwerpunktsetzung Lösungen zu flankieren und Struk-turveränderungen mit nachhaltigen Konzepten zu unter-legen.Die Kommunen und deren Spitzenverbände, aberauch Kolleginnen und Kollegen in den Ländern und imBund haben neben der finanziellen Aufstockung beste-hender Restrukturierungs- oder Förderprogramme eineverbilligte Abgabe von ehemals militärisch genutztenLiegenschaften an die betroffenen Städte und Gemein-den gefordert. Bei allem Verständnis, das ich als kom-munalpolitisch verankertes Mitglied der Bundes-regierung für solche Forderungen habe: Für dieBundesregierung – das haben wir Finanzpolitiker heutebeispielsweise bei der Diskussion des Nachtragshaushal-tes nicht nur betont, sondern auch bewiesen – hat dieKonsolidierung des Bundeshaushalts Vorrang vor kon-kurrierenden politischen Zielsetzungen.Die sogenannten Verbilligungsrichtlinien, die wir alleaus den 90er-Jahren kennen, haben zu Einnahmeausfäl-len und damit zu mehr Schulden beim Bund in Höhe von2,27 Milliarden Euro geführt. Sie waren bzw. sind in ih-ren Nachwirkungen heute noch überaus verwaltungsauf-wendig und prozessanfällig. Ihre Wirksamkeit im klassi-schen Sinne, hinsichtlich der Erreichung ganz konkreter,ablesbarer regionalpolitischer Erfolge, konnte nie ein-deutig belegt werden. Aus diesen Gründen – das sindgute Gründe, liebe Kolleginnen und Kollegen – lehnenwir die Wiedereinführung von verbilligten Grundstücks-verkäufen, egal in welcher Form, ab, damit auch eineÄnderung des BImA-Gesetzes oder gar Öffnungsklau-seln im Haushaltsrecht des Bundes.Ich will mich aber ausdrücklich bei den KollegenFricke und Brackmann aus dem Haushaltsausschuss be-danken, die daran mitgewirkt haben, dass das notwen-dige und anerkennungswürdige Interesse der Kommu-nen an der Gestaltung von Konversionsliegenschaftentrotzdem aufgegriffen worden ist. Der Haushaltsaus-schuss hat nämlich beschlossen, den Kommunen einenErstzugriff auf die in ihrem Gebiet vorhandenen Konver-sionsliegenschaften zu ermöglichen. Dies bedeutet kon-kret: Anstelle einer öffentlichen, überregionalen, mögli-cherweise europaweiten Ausschreibung wird eineFestlegung des Kaufpreises durch die Bundesanstalt aufGrundlage eines unabhängigen Sachverständigengutach-tens erfolgen.Die Bundesanstalt hat auf einer Konversionskonfe-renz in Berlin Vertreter der Kommunen und ihrer Spit-zenverbände sowie Mandatsträger aus Bund und Län-dern umfassend über ihre Verfahren informiert. Dazuwaren alle Mitglieder dieses Hauses eingeladen. Dereine oder andere war da, ebenso viele Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter. Herr Hacker, wenn hier heute von Ihnenbehauptet wird, das sei lediglich eine allgemeine Unter-richtung gewesen, so teile ich diese Ansicht nicht. DieBundesanstalt hat vielmehr aufgezeigt, wie sie die Wert-ermittlung zukünftig vornehmen lassen wird, wie sie inZusammenarbeit, in Kooperation mit den GemeindenNachnutzungen suchen und die Objekte, soweit dies pla-nerisch erforderlich ist, sukzessive verwerten wird. Siesteht als kompetenter, effizienter und zukunftsorientier-ter Dienstleister und Kooperationspartner bereit. DerChef der BImA, unser ehemaliger Kollege Gehb, weiß,wie man mit parlamentarischen Entscheidungsprozessenumgeht und mit parlamentarischen Repräsentanten ko-operiert.Die BImA ist bereit, mit allen von der Konversion be-troffenen Kommunen Gespräche über die konkretenSchritte zur zivilen Nachnutzung aufzunehmen. Dabeiwird der Abschluss von Konversionsvereinbarungen an-geboten, in denen gemeinsame Ziele, das Verfahren unddie jeweiligen Verantwortlichkeiten geregelt werden sol-len. Allerdings glaube ich, dass wir hier noch mehr mitden Kommunen ins Gespräch kommen müssen; dennhier ist die Resonanz noch ausbaufähig. Ich glaube, dassdas in den nächsten Wochen und Monaten besser werdenwird. Aus der BImA aber eine regionalpolitische Institu-tion zu machen, würde geradezu im Widerspruch zumeigentlichen Auftrag der BImA stehen, Bundesliegen-schaften effizient zu verwerten. Die BImA hat einen kla-ren Auftrag, und sie wird ihn allemal erfüllen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir, dieBundesregierung, sind uns der Verantwortung in unse-rem Verantwortungsbereich allemal bewusst. Wir for-dern aber diejenigen, die in den Ländern und Gemeindenin ihrem Verantwortungsbereich ebenso Verantwortungwahrnehmen, dazu auf, in diesen Fragen mit der Bundes-regierung und der BImA kooperativ zusammenzuarbei-ten. Die Lösungen können aber nicht darin bestehen,dass der Bund alles bezahlt. Es geht vielmehr um kon-krete Lösungen, die im Einzelfall kooperativ und ge-meinsam vor Ort identifiziert werden. Das Instrumenta-rium liegt vor. Der Beschluss des Haushaltsausschussesliefert die dafür notwendigen Maßgaben. Ich glaube, wirsind auf einem guten Weg. Wir sollten ihn weiter be-schreiten.
Die Kollegin Ingrid Remmers hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Nähe mei-nes Wahlkreisbüros, an den Bundeswehrstandorten inAhlen und Warendorf in Nordrhein-Westfalen, hatten
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20733
Ingrid Remmers
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viele Menschen Sorge um eine komplette Schließung derdortigen Kasernen. Schließlich stellen Kasernen einennicht zu unterschätzenden Wirtschaftsfaktor dar; sie ha-ben auch zivile Arbeitsplätze geschaffen. Gerade in Zei-ten, in denen Kommunen aufgrund ihrer katastrophalenUnterfinanzierung überall kürzen müssen, fällt nun auchnoch die Konjunkturspritze Bundeswehr weg. Deswegenist es aus unserer Sicht unbedingt notwendig, neben demBundeswehr-Reformbegleitgesetz ein solides Konversi-onsgesetz zu schaffen.
Schließlich ist die zivile Nutzung bisheriger Militär-standorte ein großer Gewinn für unsere Gesellschaft undfür die Menschen vor Ort. Die Abwesenheit von Lärm,gefährlichen Waffen und unzugänglichen militärischenSperrgebieten wird wohl niemand beklagen, das Fehleneines sinnvollen zivilen Nachnutzungsprogrammesschon.Viele Beispiele zeigen, dass bei kluger Planung undbei den richtigen Rahmenbedingungen die Umwidmungder Gelände in den Wirtschafts- und Naturkreislauf her-vorragend gelingen kann. Wir haben schon mehrere Bei-spiele gehört. Mönchengladbach in NRW ist ebenso einBeispiel dafür; denn der ehemalige Bundeswehrstandortist mittlerweile eine erfolgreich arbeitende Schienentest-strecke.Es ist also klar, dass Kommunen und Länder in dieLage versetzt werden müssen, eine sinnvolle Nachnut-zung planen und durchführen zu können. Dazu mussaber aus dem Verteidigungshaushalt ein entsprechenderFonds bereitgestellt werden. Anders als unser Parlamen-tarischer Staatssekretär Kampeter gerade gesagt hat, gehtes eben nicht wie bisher ohne Konversionsprogramm.Wir brauchen einen Fonds, der unter anderem die Kostenfür Machbarkeitsstudien, für Wirtschaftsförderpro-gramme und für Städtebauförderung übernimmt.
Allein die finanzielle Lage der 34 Kommunen inNRW, die in den vermeintlichen Stärkungspakt gezwun-gen wurden, macht die Nutzung bestehender Bundes-und Landesprogramme in diesem Bereich völlig unmög-lich, weil sie gar nicht in der Lage sind, den nötigen Ei-genanteil dafür aufzubringen. Liebe Kolleginnen undKollegen von den Grünen, den Kommunen ist allein mitdem Verweis auf die verschiedenen Förderprogrammeder EU auch nicht geholfen.
Neben der finanziellen Unterstützung sind den Kom-munen ein eindeutiges Vorkaufsrecht der Immobilieneinzuräumen und dazu gegebenenfalls vergünstigte Kre-dite der Kreditanstalt für Wiederaufbau bereitzustellen.Dass die Kommunen immer noch nicht angemessen be-rücksichtigt werden, wie Herr Kampeter eben behauptethat, zeigt der Brief eines CDU-Bürgermeisters aus Hörs-tel in Nordrhein-Westfalen vom 3. April an Finanzminis-ter Schäuble mit der dringenden Bitte, auf die Bundesan-stalt für Immobilienaufgaben einzuwirken, damit dieStadt den dortigen ehemaligen NATO-Flugplatz kaufenkann. Auf ihre Anfrage bei der BImA, Herr Kampeter,zeigte sich diese – ich zitiere – „irritiert“. Das zeigt ein-mal mehr,
dass für dieses Vorkaufsrecht die Geschäftsgrundlageder BImA dahin gehend geändert werden muss, dasskünftig die Realisierung gesamtgesellschaftlicher Inte-ressen durch die Kommunen beim Verkauf solcher Im-mobilien absolute Priorität haben muss.
Auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund for-dert die Möglichkeit einer kostengünstigen oder sogarunentgeltlichen Übertragung von Immobilien, ähnlich– wir haben es eben gehört – der Bundesrat. Die Kom-munen brauchen zur Bewältigung der Konversion alsoausreichend finanzielle Unterstützung, das Vorkaufs-recht für die Immobilien bzw. die kostenlose Übertra-gung der Grundstücke und andernfalls vergünstigte Kre-dite der KfW, um gemeinsam mit den Kommunen undunter breiter Bürgerbeteiligung aus den ehemaligen Mi-litärstandorten endlich etwas Sinnvolles zu schaffen.
Zum Schluss möchte ich mir eine kleine spitzfindigeErinnerung nicht verkneifen. In der Bundestagsdebatteim April des Jahres 2005, also noch unter Rot-Grün,über genau dieses Thema vertrat zum Beispiel der Kol-lege Brinkmann von der SPD – er ist jetzt leider nicht da –noch die Position, dass die BImA, wie nach § 63 Abs. 3der Bundeshaushaltsordnung vorgesehen, auch bei kon-versionsbedingten Verkäufen ausschließlich zu denhöchsten erzielbaren Marktpreisen verkaufen dürfe. DieKollegin Schäfer von der CDU – gerade war sie noch da –hingegen forderte in der gleichen Debatte:Nur die Bereitstellung der Grundstücke an dieKommunen zu verbilligten Preisen fördert dieschnelle, ergebnisorientierte Konversion.
… Wenn es denn kein Geld des Bundes gibt, danngeben Sie den Gemeinden wenigstens die Grund-stücke.
Meine Fraktion und ich freuen uns, dass die SPD in-zwischen zur Einsicht gelangt ist und nehmen die CDU,liebe Kollegin Schäfer, beim Wort.Herzlichen Dank.
Sie hat Ihnen von der Tribüne sozusagen intensiv zu-gehört. – Der Kollege Stephan Thomae hat das Wort fürdie FDP-Fraktion.
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20734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Am 26. Oktober letzten Jahres hat der Bundes-
minister der Verteidigung bekannt gegeben, dass
31 Standorte der Bundeswehr in Deutschland geschlos-
sen werden. Nun steht mit der Konversion, also der Um-
wandlung von militärischer in zivile Nutzung, eine
große Aufgabe für viele Städte und Gemeinden in
Deutschland an. Es wird eines der letzten großen deut-
schen Flächenprojekte sein mit großen strukturellen
Auswirkungen auf viele Städte und Gemeinden.
Dem sehen viele Städte und Gemeinden mit Sorge
entgegen, weil es mit dem Verlust von Wirtschafts- bzw.
Kaufkraft sowie von Arbeitsplätzen für Zivilangestellte
verbunden ist, wenn Soldaten mit ihren Familien abzie-
hen. Viele Kommunen fürchten die Gefahr von Leer-
stand, auch von Verwahrlosung innerstädtischer Flächen.
Aber wie es bei Hölderlin heißt:
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.
Das sind Probleme, die die Kommunen zu gewärtigen
haben. Es stecken aber auch Chancen in dieser Konver-
sion. Wir als Koalition wollen den Kommunen ein faires
Angebot machen, ihnen als Partner in diesem Handel
fair gegenübertreten. Aber wir wollen die Kommunen
nicht mit Heilslehren beglücken.
Schauen wir uns einmal etwa die Vorstellungen der
Grünen an, die die Kommunen mit nachhaltigen Kon-
zepten glücklich machen wollen. Niemand hat etwas ge-
gen Nachhaltigkeit oder langfristige Perspektiven. Der
Bund kann aber nicht von sich aus sagen: Hier baut der
Bund Naturparks auf Kasernengelände. Die Kommunen
haben das Recht, aber auch die Aufgabe, Perspektiven
für diese Flächen zu entwickeln.
Sie haben die Planungshoheit. Ihnen obliegt es, zu ent-
scheiden, ob aus Kasernenflächen Gewerbeflächen wer-
den sollen, ob sie für den Wohnungsbau verwandt wer-
den sollen oder ob darauf Grünflächen entstehen sollen.
Wir wollen die Kommunen nicht bevormunden, son-
dern ihnen ein faires Angebot machen, auch in Überein-
stimmung mit europäischen Beihilferichtlinien, die wir
zu berücksichtigen haben. Im Antrag der Grünen lese ich
Sätze oder Wörter wie: Grün bleibt grün, Renaturierung,
Aufnahme in nationales Naturerbe, Übertragungen an
Naturschutzorganisationen, Zweckbindung an den Na-
turschutz und dergleichen mehr. Das ist nicht grundsätz-
lich falsch. Man muss aber sehen: Manchmal mag Kon-
version eine Chance für den Naturschutz sein, manchmal
ist sie auch eine Chance für Wirtschaftsförderung bzw.
die Förderung örtlicher Unternehmen. Manchmal sind
Bundeswehrgelände optimal für die Ansiedlung von Ge-
werbebetrieben, von Handel und Industrie, aber auch für
Wohnungsbebauung geeignet.
Das ist eine große Chance auch für den Städtebau und
die Stadtentwicklung. Deswegen wollen wir den Kom-
munen im Rahmen eines Erstzugriffsrechtes diese
Grundstücke auf vereinfachtem Wege überlassen.
In dem Antrag der SPD lese ich Vorstellungen, die da-
rauf hinauslaufen, dass man die Kommunen mit dem
Füllhorn bzw. mit neuen Förderprogrammen überschüt-
ten will. Damit scheint man sich den Beifall vieler Bür-
germeister sichern zu wollen; aber sehr originell und
fantasievoll scheint mir das nicht zu sein.
Heute Nachmittag habe ich bei der Einbringung des
Nachtragshaushaltes gehört, dass uns die SPD mahnt,
doch mehr zu sparen.
Jetzt aber will sie in ihrem Antrag neue Förderpro-
gramme. Da zeigt sich ihr wahres Gesicht. Die SPD ist
groß im Erfinden und Auffinden neuer Einnahmequel-
len. Sie ist auch groß im Finden neuer Ausgabemöglich-
keiten.
Was will die Koalition? Wir wollen, dass wir im Rah-
men der europäischen Beihilfe – da gibt es Regeln, die
wir zu beachten haben – einen fairen Umgang mit den
Kommunen pflegen. Wir wollen ihnen ein Erstzugriffs-
recht gewähren; aber wir wollen auch, dass Planungsge-
winne aufgeteilt werden. Auch den Kommunen steht et-
was zu, wenn sie durch Planung für Flächen die
Grundlage dafür schaffen, dass Grundstücke eine Wert-
steigerung erfahren. Aber auch der Bund als Eigentümer
soll nicht das Nachsehen haben, wenn er Grundstücke
zügig und auf einfachem Wege abgibt und die Kommu-
nen ein Erstzugriffsrecht erhalten.
Wenn ich mir die Anträge der Opposition anschaue,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ziehe ich das Fazit: Die
SPD will die Kommunen hätscheln. Die Grünen wollen
die Kommunen gängeln. Wir wollen mit den Kommunen
einen fairen Umgang.
Vielen Dank.
Das Wort hat unsere Kollegin Daniela Wagner für
Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Lieber Kollege Thomae, Sie haben na-türlich recht: Das ist Sache der Kommunen. Wenn abereine Kommune in einem hochverdichteten Ballungs-raum wie dem Rhein-Main-Gebiet drei Jahre lang überden Preis einer solchen Liegenschaft verhandelt, weil sieüberhaupt nicht in der Lage ist, ihn zu bezahlen, wäh-rend gleichzeitig Hunderte von jungen Leuten auf derStraße stehen und nach preiswertem Wohnraum suchen,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20735
Daniela Wagner
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dann ist an dieser Veräußerungspolitik erkennbar etwasfalsch.
Die Liegenschaften einer neuen Nutzung zuzuführen,ist für die BImA, für die Bundesländer und für die Kom-munen zweifellos eine riesige Herausforderung. Die He-rausforderungen sind zwar sehr unterschiedlich, aber im-mer sehr groß. Dennoch hat der Bund – das ist das, wasmich ärgert – bis heute kein zukunftsweisendes Konzeptzur Nachnutzung der militärischen Liegenschaften vonBundeswehr und alliierten Streitkräften vorgelegt. Sieverweisen auf die sattsam bekannten städtebaulichenFörderprogramme, sagen etwas zum Erstzugriffsrechtund wollen eine Gewinnabschöpfung, aber ohne vorhernotwendige Preisnachlässe gewähren zu wollen, dieüberhaupt erst zu einer Situation führen, Gewinn ab-schöpfen zu können. Wir meinen, das ist zu wenig.An dieser Stelle muss ich Ihnen widersprechen, FrauKollegin Remmers. Auch wir verlangen mehr als ledig-lich neue Städteförderungsprogramme oder andere Pro-gramme. Wir wollen dezidiert die Änderung des§ 1 BImA-Gesetz. Wir wollen mehr Freiheit für dieBImA. Wir wollen, dass sie in entsprechenden Situatio-nen auch Gespräche mit Oberbürgermeistern und Pla-nungsdezernenten vor Ort führen kann; denn wir sindder Auffassung, die öffentliche Hand muss bezüglich ih-rer Liegenschaftspolitik, bezüglich der Verwertung ihrerGrund-stücke und Gebäude eine Vorbildfunktion einneh-men. Das gilt für den Bund genauso wie für die Länderund die Kommunen.Unsere Ziele sind zum Beispiel die Stärkung desKlima- und Umweltschutzes, die Reduzierung der Flä-cheninanspruchnahme und eine vernünftige Stadtent-wicklung, die nicht langweilige Investorenarchitektur indie Städte bringt, sondern gewährleistet, dass anspruchs-volle Projekte wie altersübergreifende Wohngruppen-und Mehrgenerationenprojekte Zugriff auf solche Lie-genschaften haben. Dabei geht es nicht nur um neuesund anderes Wohnen, sondern auch darum, dass dort invielen Fällen das geleistet wird, was früher in Familiengeleistet wurde. Deshalb sind gerade Konversionsvorha-ben in hochverdichteten Innenstadtlagen – dort ist derWohnungsmarkt oft besonders angespannt –, die einerWohnnutzung zugeführt werden sollen, ganz besonderssensible Projekte.
Wir sind der Auffassung, dass man die Stadtentwick-lungspolitik der Kommunen stärken und nicht durchvollkommen überzogene Preise für diese Liegenschaftenkonterkarieren sollte.
Herr Kampeter, ich verstehe Sie. Dass Sie als Staats-sekretär im Bundesfinanzministerium Geld in die Kassebekommen wollen – das müssen Sie ja auch –, ist allerEhren wert, aber es ist unsere gemeinsame Aufgabe, esist Aufgabe der Länder, des Bundes und der Städte, zumBeispiel dafür zu sorgen, dass auch bezahlbarer Wohn-raum für diejenigen Mitglieder unserer Gesellschaft zurVerfügung steht, die sich auf dem freien Wohnungsmarktin den Hochpreissegmenten, die zunehmend gebaut wer-den, nicht eigenständig versorgen können.
Ich kann aber keinen sozialen Wohnungsbau, der auchnur annähernd wirtschaftlich ist, auf Grundstücken reali-sieren, die die Gemeinde vorher zu Höchstpreisen vomBund zurückerwerben musste.
Deswegen möchte ich Sie noch einmal bitten: GehenSie über die Instrumentarien, die Sie hier bereits aufge-zählt haben, hinaus. Lassen Sie uns gemeinsam dasBImA-Gesetz ändern. Wir haben gerade gehört, dass so-wohl Sozialdemokraten als auch Christdemokraten da-rüber schon ganz andere Dinge gedacht und gesagt ha-ben. Lassen Sie uns einen Konsens finden und dasBestmögliche für unsere Städte tun; denn dort spielt sichdas Leben ab.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Norbert Brackmann.
Werte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man sich die Reden hier anhört, gewinnt manleicht den Eindruck, dass wir jetzt viele Probleme unse-rer Gesellschaft mit dem Vehikel der Konversion ange-hen sollten, dass wir auf diesem Weg viele Wünsche un-serer Gesellschaft erfüllten könnten. Dem ist aber nichtso.
– Ja, aber die Chancen sind ebenso wie die Risiken über-schaubar. Wir haben 1990 fast 1 Million Soldaten inDeutschland gehabt. Jetzt reduzieren wir von 235 000auf 185 000 Soldaten. Es geht hier um rund 120 Stand-orte, also um einen relativ kleinen Schritt, nachdem wirbereits in zwei großen Konversionswellen Erfahrung ge-sammelt haben. Darauf komme ich gleich zurück; wirbeginnen das Ganze ja nicht neu.Bei der letzten Konversionswelle, seinerzeit unterVerteidigungsminister Struck, hat es überhaupt keineProgramme für die von der Konversion betroffenen Ge-meinden gegeben, um solche Maßnahmen zu unterstüt-zen. Heute befinden wir uns in der Situation – damitmüssen wir uns abfinden –, dass wir alle in einem Boot
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20736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Norbert Brackmann
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sitzen. Warum sage ich das? In den vorliegenden Anträ-gen wird unter anderem die Änderung des BImA-Geset-zes gefordert – dies ist im Antrag der Grünen noch gra-vierender –, und es werden genaue Vorgaben gemacht,was passieren soll. Die Planungshoheit liegt jedoch– dies ist so geregelt – ausschließlich und exklusiv beiden Kommunen. Ein bisschen betroffen sind noch dieLänder über die Entwicklungsplanung. An diese Pla-nungshoheit können, wollen und dürfen wir nicht heran.Das, was unsere Kommunen auszeichnet, ist die Selbst-verwaltung vor Ort; diese müssen wir auch in Zukunftgarantieren.
– Aber die Planungshoheit. Sie wollen ihnen aber Vorga-ben machen.
Was ist unser Anteil als Bund, über den wir hier jetztdiskutieren? Das sind die Grundstücke. Die Grundstückehaben per se, weil sie nur für Verteidigungszwecke vor-gesehen sind, keinen Marktwert.
– Oho? – Allein als Verteidigungsgrundstücke, also so,wie sie heute definiert sind, haben sie keinen Wert. Siehaben erst einen Wertzuwachs, wenn die Kommunen sieumwidmen und darauf eine andere Planung legen. Dasist wie immer im Leben. Der Wind und die Wellen sindimmer bei denen, die den fähigsten Steuermann haben.Weil wir hier zwei Akteure haben, die ins Boot müssen– die Kommunen können nicht ohne den Bund, und derBund kann nicht ohne die Kommunen –, kommt es da-rauf an, dass sich Bund und Kommunen gemeinsam derProbleme annehmen, die es vor Ort gibt.Es gibt sehr unterschiedliche Probleme. Es gibt Lie-genschaften, die sich mitten in Naturschutzgebieten be-finden. Diese können wir nur zurückbauen. Dafür tragenwir als Bund die Kosten. Diese Grundstücke werdendann künftig der Natur wiedergegeben. Dies stellt in derRegel keine besonderen Probleme für die Gemeindendar.Es gibt auch Grundstücke, die mitten in Städten lie-gen und einen hohen Planungswert haben. Die aktivenKommunen nehmen sich dieser Aufgabe an. Ich selbsthabe zum Beispiel in Lüneburg und anderswo Gesprächedazu geführt. Die Kommunen gehen das an und sagen:Wir helfen bei dem warmen Übergang, und wir habenein Interesse daran, gemeinsam mit Bund und BImA da-für zu sorgen, dass wir auch in Zukunft Arbeitsplätzeund Gewerbe mitten in der Stadt haben. Sie ziehen da-raus einen Vorteil. Auch hier machen wir gemeinsameSache. Es ist nur fair, wenn wir uns die entstehendenVorteile teilen. Auch dies ist kein Problem.Die dazwischen gelagerten Fälle verursachen Pro-bleme. Davon gibt es eine ganze Reihe. Um diese müs-sen wir uns gemeinsam mit den Kommunen kümmern.Auch da ist es so: Der Abzug der Bundeswehr wird bere-chenbar, weil das Verteidigungsministerium sehr frühsagt, wann und wo er stattfindet. Wenn sich eine Türschließt, dann dürfen wir nicht nur auf diese schauen;denn wo sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere.Wir müssen auf die Tür schauen, die sich öffnet, undnicht nur auf die starren, die sich schließt. Da haben wirganz unterschiedliche Alternativen. Diese müssen wirangehen.Es ist in der Regel nicht so – das ist die eine Alterna-tive, die Frau Wagner eben angesprochen hat –, dass Ge-meinden den Preis nicht zahlen können. Selbst wenndies der Fall ist, bieten wir eine Alternative an. Eine Er-fahrung der vergangenen Konversionsprozesse ist, dassdie BImA bereit ist, überall dort, wo am Ende ein wirt-schaftlicher Erfolg zu erwarten ist, über Verträge zurstädtebaulichen Entwicklung die Planung und auch dieUmsetzung der Infrastrukturmaßnahmen vorzufinanzie-ren und sich hinterher mit den Gemeinden den Gewinnzu teilen. Das heißt, wenn wir Gemeinden haben, die dasGanze nicht selbst finanzieren können, geht die BImAsogar so weit, es vorzufinanzieren. All diese Problemestellen sich dann gar nicht. Wir reden also von noch we-niger Gemeinden, die demgegenüber sagen: LiebeLeute, wir wollen das aber gerne in einer Hand haben.Wir wollen das Ganze aus dem Gemeindesäckel mitfi-nanzieren.Bisher gilt die Regelung – auch von der EU so gefor-dert; daran kommen wir nicht vorbei –, dass ausge-schrieben werden muss. Deswegen gab es unsere Initia-tive im Haushaltsausschuss, den Gemeinden einErstzugriffsrecht – im Übrigen kein Vorkaufsrecht; dassind zwei völlig unterschiedliche Sachen – auf die Flä-chen zu geben. Damit haben sie die Verfügungsgewalt.Wenn sie mit den Kommunen reden, dann stellen Siefest, dass sich zumindest einige immer noch beschwertfühlen. Wir versuchen aber, jeder einzelnen Kommunezu helfen.Wenn die Kollegin Hasselfeldt, nachdem sie mit Bür-germeistern in Bayern gesprochen hat, auf einen wegender Tatsache zukommt, dass zu diesem Erstzugriffsrechtauch gehört, dass es hinterher eine öffentliche Verwen-dung geben muss, dann sei hier noch einmal deutlich ge-macht und erklärt: Zu verhindern, dass Arbeitsplätzewegfallen, die Wirtschaft wegbricht und die Leute, diedort gearbeitet haben, an anderer Stelle untergebrachtwerden müssen, ist natürlich eine öffentliche Aufgabe,geradezu eine öffentliche Kernaufgabe.
Die bayerische Staatsverfassung sieht sogar ausdrück-lich vor – für diejenigen, die es nachlesen wollen: inArt. 83 –, dass der Wohnungsbau eine Kernaufgabe derKommunen ist. Damit sind alle Rahmenbedingungen er-füllt, um die Gemeinden vor Ort ordentlich unterstützenzu können.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20737
Norbert Brackmann
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Meine Conclusio: Mit Ihren Anträgen helfen Sie denGemeinden nicht. Sie sind schön und fürs Schaufenstergeeignet; denn es geht um einen großen Topf, über denman sich streiten kann. Aber Geldregen alleine führtnoch nicht zur Ernte. Unsere Position dagegen lautet:Respekt vor den Kommunen, die die Planungshoheithaben – sie sollen sie auch behalten; da greifen wir nichtein –, und Respekt vor dem Steuerzahler. Dieser gebietetes, –
Herr Kollege.
– dass wir nur dort, wo tatsächlich Probleme beste-
hen, eingreifen und sie anpacken. Dort wollen wir Unter-
stützung gewähren.
Herr Kollege, Respekt vor der Redezeit!
Herr Staatssekretär Kampeter hat darauf hingewiesen,
dass die ersten 33 Millionen Euro bereits vorgesehen
sind.
Danke schön.
Die Kollegin Kirsten Lühmann hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-
nen! Verehrte Zuhörende! 1998 hatten wir eine Bundes-
polizeireform. Wir haben Liegenschaften entlang der
ehemaligen Grenze zur DDR aufgelöst, weil sie nicht
mehr vonnöten waren. Das ist jetzt fast 15 Jahre her.
Trotzdem sind viele dieser Liegenschaften, zum Beispiel
in meinem Wahlkreis, in Bad Bodenteich, noch nicht
verwertet. 2002 – es wurde schon erwähnt – hatten wir
eine Bundeswehrreform; sie ist noch nicht einmal ganz
zu Ende geführt. Es gibt immer noch zwölf Standorte,
die aufgrund dieses Reformschrittes aufgelöst werden.
2011 gab es eine weitere Bundeswehrreform. Es werden
31 weitere Standorte aufgelöst, der Umfang von 90 zum
Teil deutlich reduziert. 2012 beginnt der Abzug unserer
NATO-Partner. Insgesamt werden 40 Standorte in
Deutschland komplett aufgegeben.
Was bedeutet das? Ich nenne das Beispiel der Ge-
meinde Bergen in meinem Wahlkreis. Bergen hat etwa
17 000 Einwohner sowie 15 000 britische Soldaten ein-
schließlich ihrer Familien. Das heißt, beginnend mit dem
Abzug wird diese Kommune etwa die Hälfte ihrer Be-
völkerung und ihrer Wirtschaftskraft verlieren.
Ich nenne das Beispiel der Gemeinde Rendsburg. Der
Umfang des dortigen Standorts ist bei der ersten Bundes-
wehrreform reduziert worden. Auch von der zweiten
Bundeswehrreform ist der dortige Standort betroffen.
Das heißt, die Gemeinde, die die Folgen der ersten Kon-
version mit Mühe und Not geschultert hat, ist jetzt von
der zweiten Welle der Schließungen betroffen und muss
erneut Anstrengungen unternehmen.
Was tut die Regierung nun, um den betroffenen
Kommunen auf ihrem verantwortungsvollen Weg unter
die Arme zu greifen? Es wurde schon erwähnt: Herr
Ramsauer hat öffentlich eine zusätzliche Finanzquelle
gefordert, und zwar dergestalt, dass aus den Verkaufs-
erlösen der BImA ein Extratopf gebildet wird, aus dem
die strukturschwachen Gebiete gefördert werden. Das ist
ein Vorschlag, den die Kommunen sehr gerne gehört
haben. Allerdings hätte Herr Ramsauer, wie so oft bei
seinen Vorschlägen, vorher vielleicht einmal sein Kabi-
nett und seine Rechtsabteilung fragen sollen. Dieser
Vorschlag wurde kurze Zeit später nämlich wieder zu-
rückgenommen.
Außer Spesen nichts gewesen! So etwas ist unlauter. Das
ist für uns keine Politik.
Was hat die Regierung gemacht, nachdem das vom
Tisch war? In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der
SPD wird gesagt:
Nach der föderalen Aufgabenverteilung liegt die
strukturpolitische Verantwortung für die Bewälti-
gung der Konversionsfolgen vorrangig bei den Län-
dern.
Na, danke schön, meine Herren und Damen. Erst ma-
chen Sie Vorschläge, die nicht funktionieren, und wenn
Sie das festgestellt haben, dann schieben Sie die Verant-
wortung schnell auf die Länder.
Ist doch super. Wir haben doch die Programme für die
Städtebauförderung. – Schauen Sie sich aber doch ein-
mal an, was Sie mit diesen Programmen gemacht haben.
Wenn Sie sich den Bedarf angucken, den die Kommunen
an Konversion haben, dann sehen Sie, dass das schwer
betroffene Land Schleswig-Holstein auf Jahre hinaus je-
des Jahr die kompletten Zuweisungen aus den Mitteln
der Städtebauförderung allein für die Konversionsge-
meinden ausgeben müsste, während alle anderen in die
Röhre gucken. Das ist Ihr Konzept für die Hilfe der
Kommunen.
Das können wir so nicht machen.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage zu-lassen?
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Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, wie sehr wir, begin-
nend ab dem Jahre 1992, nach Möglichkeiten gesucht
haben, der Landeshauptstadt München günstig den Er-
werb von militärischen Liegenschaften zu ermöglichen?
Ich nenne die Stichworte Bayern-Kaserne, Panzerwiese,
Luitpoldkaserne usw. Ist Ihnen bekannt, wie viele neue
Wohnungen versprochen wurden und wie wenig dort
bisher realisiert worden ist, obwohl die Konditionen für
die Stadt München außerordentlich günstig waren?
Frau Kollegin, wenn Sie mit Ihrer Antwort auch
gleich zum Ende kommen, dann halten Sie die Redezeit
noch ein.
Frau Präsidentin, ich bemühe mich.
Wir möchten genauso wie Sie die Kommunen nicht
aus ihrer Verantwortung entlassen, und wir möchten mit
den Kommunen zusammen etwas entwickeln. Das kön-
nen wir nur entsprechend der Finanzkraft der Kommu-
nen tun. Hier hilft es uns wenig, wenn wir den Kommu-
nen Angebote machen, wie zum Beispiel das
Erstzugriffsrecht, obwohl die entsprechenden Kommu-
nen gar nicht in der Lage sind, diese Programme anzu-
nehmen.
Darum machen wir Vorschläge, die den Kommunen
wirklich helfen. Wir bitten Sie, dass wir diese
Vorschläge, die in mehreren Anträgen vorliegen, offen
diskutieren
und dass wir damit den ersten Schritt auf dem Weg zu ei-
ner echten Unterstützung der Kommunen und auf dem
schwierigen Weg zu einem erfolgreichen Strukturwandel
machen.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9060 und 17/9405 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen von
CDU/CSU und FDP wünschen jeweils Federführung
beim Haushaltsausschuss. Die Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen wünschen jeweils Federführung
beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen abstim-
men, also Federführung beim Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung. Wer ist für diese Überwei-
sungsvorschläge? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Überweisungsvorschläge sind damit bei Zu-
stimmung durch die Opposition abgelehnt. Die Koalition
hat dagegen gestimmt.
Ich lasse jetzt über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen,
nämlich Federführung beim Haushaltsausschuss. Wer ist
dafür? – Wer ist dagegen? – Gibt es Enthaltungen? –
Dann sind die Überweisungsvorschläge so angenom-
men, und wir werden so verfahren.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Kauder, Ute Granold, Erika Steinbach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Marina Schuster, Serkan
Tören, Pascal Kober, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Fortbestand des Klosters Mor Gabriel sicher-
stellen
– Drucksache 17/9185 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu sehe
und höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die
Aussprache.
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir beraten heute in erster Lesung einen Antrag derKoalitionsfraktionen, mit dem wir uns für den Erhalt dessyrisch-orthodoxen Klosters Mor Gabriel in der Türkeieinsetzen wollen. Es handelt sich um eines der ältestenKlöster weltweit, gegründet vor 1 600 Jahren, gelegen inder südöstlichen Türkei nahe der syrischen Grenze, dassich aber bedauerlicherweise seit längerem juristischenDrangsalierungen ausgesetzt sieht.Der Orden wird beschuldigt, illegal Land besetzt zuhaben. Es gibt sogar die Befürchtung, dass das Kloster,das erst vor wenigen Jahren mit EU-Fördermitteln res-tauriert wurde, enteignet und entwidmet werden soll. Indiesem Zusammenhang sind derzeit mehrere Gerichts-verfahren anhängig. Darin geht es um die Einstufung dervom Kloster genutzten Ländereien, um den Vorwurf, derKlostervorsteher habe widerrechtlich auf staatlichem
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20739
Pascal Kober
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Land eine Mauer errichten lassen, und um eine ausste-hende Entscheidung des Kassationsgerichtshofs.Eine Verurteilung in einem der anhängigen Verfahrenwürde nicht nur das Kloster gefährden, sondern zugleichauch Religion und Kultur der syrisch-orthodoxen Min-derheit in der Türkei erschüttern und wäre ein deutlicherRückschritt bei der Wahrung des Menschenrechts aufReligionsfreiheit. In unserem Antrag geht es darum nichtausschließlich um die Sicherung der Existenz des Klos-ters, sondern auch um die Bewahrung und Akzeptanzder religiösen Vielfalt in der Türkei, um den Schutz ihrerMinderheiten und um deren Besitz.Besonders vor dem Hintergrund, dass die syrisch-orthodoxe Minderheit während des vergangenen Jahr-hunderts in der Türkei erheblich abgenommen hat,verdient dieses Thema unsere Aufmerksamkeit. Von200 000 Mitgliedern Anfang des 20. Jahrhunderts in derTürkei hat die Zahl ihrer Mitglieder auf heute nur nochcirca 13 000 Personen abgenommen. 3 000 von ihnensind in der Region um Mor Gabriel beheimatet.Auch im Interesse weiterer religiöser Minderheiten inder Türkei sind wir verpflichtet, die Rettung des KlostersMor Gabriel anzumahnen;
denn mit solchen religiösen Wirkungsstätten steht undfällt das geistliche Leben von Glaubensgemeinschaften.Für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist es kon-stitutiv, dass beispielsweise traditionsreiche religiöseStätten erhalten werden dürfen, bzw. überhaupt Orteexistieren dürfen, um den Glauben zu pflegen.Die juristische Auseinandersetzung um das Klosterzeigt exemplarisch, welche Probleme für religiöseMinderheiten bei der Durchsetzung ihrer Rechte bestehen.Zwar garantiert die türkische Verfassung die Religions-und Gewissensfreiheit. Die individuelle Glaubensfreiheitwird respektiert, und die individuelle Religionsausübungist frei möglich. Für nichtmuslimische Minderheiten be-stehen jedoch noch immer Einschränkungen bezüglich ih-rer kollektiven Religionsfreiheit als Gruppen, in Fragender Rechtspersönlichkeit, hinsichtlich der Eigentums-rechte sowie ihrer Möglichkeit, Geistliche auszubildenund Gebetsstätten zu errichten.Darum ist der türkische Staat aufgefordert, hier wei-tere Reformen anzugehen und in diesem konkreten Fallgegenüber dem Kloster Mor Gabriel Gerechtigkeit imSinne des Menschenrechts auf Religionsfreiheit waltenzu lassen. In den vergangenen Jahren haben Vertreter derBundesregierung und des Deutschen Bundestages mehr-fach auf die Probleme des Klosters hingewiesen und diesauch in Gesprächen mit der türkischen Regierung zurSprache gebracht. Dies unterstreicht unser Antrag mitder Forderung, den Erhalt des Klosters Mor Gabriel zusichern.In unserem Antrag wird darüber hinaus gefordert, dersyrisch-orthodoxen Minderheit in der Türkei im Ein-klang mit der Europäischen Menschenrechtskonventionalle Rechte zu gewähren, die auch in der Beitrittspartner-schaft der EU mit der Türkei festgelegt sind. UnsereFraktion will diesen Weg der Türkei in Richtung Europagrundsätzlich unterstützen, nicht zuletzt auch deshalb,weil dies zugleich auch der Weg hin zu mehr Menschen-rechten ist. Die derzeitigen Beitrittsverhandlungen wer-den ergebnisoffen geführt. Daher wollen wir Hand inHand mit Vertretern der türkischen Regierung daraufhinarbeiten, dass die Verhandlungen auch eines Tagesabgeschlossen werden.Bei aller Kritik werden in unserem Antrag darumnicht die Fortschritte verschwiegen, die die Türkei inden letzten Jahren gemacht hat.Im August 2011 beispielsweise verkündete der türki-sche Premier Erdogan eine neue Verordnung, wonachStiftungen der nach dem Lausanner Vertrag anerkanntenreligiösen Minderheiten wie Armenier, Griechisch-Or-thodoxe und Juden Immobilien zurückerhalten sollen,die nach 1936 enteignet wurden. Nach der neuen Verord-nung können diese Stiftungen Immobilien, die sie da-mals registriert und infolge der Krisen an den türkischenStaat verloren haben, zurückfordern. Die neue Verord-nung kehrt zudem die Beweislast zugunsten der Stiftun-gen um und sieht für den Fall eines inzwischen erfolgtenEigentumsübergangs an Dritte auch Entschädigungszah-lungen durch den türkischen Staat vor.Wir wollen auch anerkennen – das begrüße ich aus-drücklich –, dass die religiösen Minderheiten einschließ-lich der Vertreter der syrisch-orthodoxen Minderheit am20. Februar dieses Jahres vor der türkischen Kommis-sion zur Reform der Verfassung angehört wurden. Diesverbinde ich mit der Hoffnung, dass sich die neue türki-sche Verfassung bei der Religionsfreiheit auf europäi-sche Standards stützen wird. Ich möchte die Türkei er-mutigen, an diesem Reformweg festzuhalten.Die Türkei hat seit 2002 große Fortschritte gemacht.Jedoch muss das Land auch im Bereich des Menschen-rechts auf Religionsfreiheit weiterarbeiten. Dies unter-streicht unser Antrag am konkreten Fall des KlostersMor Gabriel. Er soll ein Signal aussenden, dass die in-nerstaatlichen Zustände unseres engen BündnispartnersTürkei den Koalitionsfraktionen wichtig sind. Es machtuns Sorgen, wenn wir feststellen müssen, dass die Zahlder Christen, die die Türkei als ihre Heimat betrachtenund dort leben wollen, rückläufig ist.Ich vertraue darauf und gehe davon aus, dass die Tür-kei weitere Anstrengungen auf dem Weg zur uneinge-schränkten Achtung der Religionsfreiheit unternimmt,um ihr und unser gemeinsames reichhaltiges religiösesErbe zu schützen, zu bewahren und lebendig zu halten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Angelika Graf hat jetzt das Wort für dieSPD-Fraktion.
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Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor über zehn Jahren, Anfang April 2001,fuhren unsere ehemalige Kollegin Monika Brudlewskyvon der CDU/CSU und ich nach Diyarbakir, um dort ei-nen Prozess des türkischen Staates gegen einen syrisch-orthodoxen Priester – Yusuf Akbulut hieß der Mann – zubeobachten. Er stand wegen Äußerungen zum Armenier-Genozid vor Gericht. Er wurde freigesprochen, auch we-gen der internationalen Aufmerksamkeit, die der Prozessauf sich gezogen hat.Nach dem guten Ende dieses Prozesses wurden wirfür einen kurzen Besuch nach Mor Gabriel eingeladen.Ich habe das Bild dieses Klosters, wie es so wehrhaft aufdem Hügel steht, immer noch vor Augen. In der Nachtfing es dann heftig an zu schneien. In der Früh lagen30 Zentimeter Schnee. Um es kurz zu machen: Wir sinddrei Tage geblieben; denn an ein Verlassen des Klosterswar nicht zu denken.Ich habe viel gelernt in diesen Tagen: über die ortho-doxen Riten und Gebräuche, über die aramäische Spra-che, die Sprache Jesu, die so wichtig ist für das Überle-ben der aramäischen Kultur, über die Geschichte des TurAbdin, die christliche Tradition in der Region und ganzspeziell über Mor Gabriel und die Männer und Frauen,die Nonnen und Mönche, die dort lebten. Ich habe langeGespräche mit dem Bischof geführt, auch über dieschwierige Zeit, die man damals überwunden glaubte,die Zeit, als der Kampf der türkischen Republik gegendie PKK und der Kampf der PKK gegen die türkischeRepublik auch das Kloster in seiner Existenz gefährdethat.Aber die Hoffnung damals war, man werde überle-ben. Das Kloster wurde zu einem Symbol des Überle-bens der aramäischen Kultur in der Türkei. „Noch stehtdas Kloster Mor Gabriel“ titelte die Journalistin HelgaAnschütz vor 20 Jahren in der FAZ und beschrieb die Si-tuation in dieser schwierigen Zeit. Heute fragen wir unszu Recht: Wie lange steht dieses Kloster noch? Wielange ist es noch möglich, dort Mönche und Nonnen zubesuchen, die die aramäische Sprache sprechen? Auchheute ist das Kloster existenziell gefährdet – wieder bzw.immer noch.Es ist doppelt gefährdet: einerseits, weil immer weni-ger Menschen in diesem Kloster und den anderen Klös-tern der Region leben, weil die christliche Bevölkerungin den letzten 100 Jahren geflohen ist, und andererseits,weil der Distrikt Midyat auf der Grundlage türkischerGesetze zu Grund und Boden das Kloster zu enteignenversucht. Deswegen sind wir uns, denke ich, alle einig,wenn wir die Türkei und ihre Repräsentanten auffordern,dafür zu sorgen, dass dieser Prozess beendet wird unddie über 1 600 Jahre alten Rechte der aramäischen Chris-ten respektiert werden.
Zu diesen Rechten gehören auch die Ländereien desKlosters Mor Gabriel. Es ist ein Skandal, dass der Stif-tungsvorsitzende des Klosters noch immer wegen An-eignung fremden Bodens vor Gericht steht. Gesternwurde dieser Prozess ein weiteres Mal vertagt. Ich kanngut verstehen, dass sich die syrisch-orthodoxe Gemeindein Mor Gabriel und auch bei uns in Deutschland nichtauf den Vorschlag einlassen möchte, nach einer Enteig-nung die fraglichen Flächen vom Distrikt Midyat wiederzurückzupachten. Wie würde es uns vorkommen, wennuns der Nachbar zwangsweise enteignet und uns dannunseren eigenen, seit Generationen bewirtschafteten undim Familienbesitz befindlichen Garten zur Pacht anbie-tet?Wir haben uns in den letzten Jahren mehrfach mitdem Überlebenskampf dieser alten christlichen Kulturim Südosten des Staatsgebietes der heutigen Türkei be-fasst, in Anträgen und Reden. Wir haben es eigentlichimmer geschafft, deutlich zu machen, dass dies ein An-liegen der breiten Mehrheit dieses Hauses ist.
Im Jahre 2009 gab es einen Antrag zum selben Themamit dem Titel „Schutz des Klosters Mor Gabriel sicher-stellen“. Er ging im beschreibenden Teil ausführlich aufdie kulturellen und historischen Besonderheiten ein, er-wähnte insbesondere auch den Vertrag von Lausanne ausdem Jahre 1923, auf dessen restriktiver Interpretation dieheutige Minderheitenpolitik der Türkei noch immer fußt.Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koali-tionsfraktionen, haben diesen Antrag aus dem Jahre2009 fortgeschrieben und die schwierigen Rechtsstrei-tigkeiten, in die Mor Gabriel gedrängt worden ist, in denVordergrund gestellt. Das kann man machen, obwohl derAntrag dadurch etwas an der Oberfläche bleibt. DerBlickwinkel auf den kulturellen Reichtum, der der Tür-kei durch ihr Vorgehen verloren geht, eröffnet sich nicht.
Eigenartig finde ich es allerdings, dass der Forde-rungsteil Ihres heute vorgelegten Antrags zum großenTeil wortgleich mit den Forderungen des Antrags ausdem Jahre 2009 übereinstimmt. Meinen Sie nicht, manhätte die Chance nutzen können, konkreter auf die neueSituation einzugehen, die sich durch diverse Gerichts-verfahren und Urteile ergeben hat,
zum Beispiel den Prozess gegen Herrn Ergün, den Stif-tungsvorsitzenden, klar anzusprechen, die Revision deranderen Urteile zu fordern oder den Status des Klostersals UNESCO-Weltkulturerbe stärker ins Spiel zu brin-gen?Ich denke, der Fehler, den Sie mit diesem Antrag ge-macht haben, ist, dass Sie ihn nur als Koalitionsantraggestellt haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20741
Angelika Graf
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Der Antrag aus dem Jahr 2009 ist damals auch in Zu-sammenarbeit mit der oppositionellen FDP zustande ge-kommen.
Sie haben bei dem nun vorliegenden Antrag versäumt,durch eine Einbindung der Opposition ein gemeinsamesstarkes Zeichen an die Türkei zu senden, dass wir allesehr besorgt sind über die Entwicklung rund um MorGabriel.
Ich habe lange darüber nachgedacht, warum Sie dasso gemacht haben. Ich hoffe, dass die Verfasserin desgestern in der Frankfurter Rundschau erschienenen Arti-kels nicht recht hat, wenn sie unter dem Titel „Die nütz-liche Geschichte vom Kloster Mor Gabriel“ vermutet,Sie wollten dieses Thema vielleicht für den Wahlkampfnutzen. Das wäre, denke ich, fatal.
Herr Kober, Ihr Redebeitrag hat mich von diesem Tripein bisschen heruntergebracht. Was Sie ausgeführt ha-ben, widerspricht dieser Vermutung. Ich bitte Sie daher,vielleicht doch noch zu versuchen, zu einer gemeinsa-men Lösung dieses Problems zu kommen.Wenn dieses Thema mit dem Wahlkampf in Verbin-dung gebracht würde, wäre das fatal; denn das würdedem Kloster und den wenigen in der Region verbliebe-nen Christen definitiv nicht nutzen, im Gegenteil.
Veränderungen zum Beispiel beim Bodenrecht oder inder Auslegung des Vertrages von Lausanne wird es nurgeben, wenn es uns gelingt, unsere türkischen Ge-sprächspartner davon zu überzeugen, dass eine moderne,an Europa orientierte Türkei auch ein modernes Minder-heitenrecht braucht
und dass die Türkei einen Vorteil daraus ziehen wird,diese alte Kultur, Sprache und Religion in ihrem Ho-heitsgebiet zu behalten und zu erhalten.Damit sich die Türkei auf solche Veränderungen ein-lässt, braucht sie eine Perspektive. Ich möchte, dassdiese Perspektive trotz aller Schwierigkeiten die Euro-päische Union ist – nicht heute, wahrscheinlich nichtmorgen, aber vielleicht übermorgen.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Erika Steinbach hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Frau Graf, Sie haben sehr anrührend Ih-ren ersten Eindruck von und Ihre erste Begegnung mitdem Kloster Mor Gabriel geschildert. Das hat mich rich-tig bewegt; das muss ich sagen. Ihr Engagement für die-ses Kloster kommt aus tiefstem Herzen. Ich kann Sie be-ruhigen: Das Schicksal des Klosters Mor Gabriel wirdvon uns nicht instrumentalisiert, wenn es um ein Ja oderNein zum Beitritt der Türkei zur Europäischen Uniongeht. Unsere Haltung kennen Sie seit vielen Jahren.Diese hat mit dem Kloster Mor Gabriel nichts zu tun.Wir würden eine solche christliche Einrichtung dafürauch niemals missbrauchen wollen.Mit der ersten Beratung unseres heutigen Antragszum Kloster Mor Gabriel blicken wir zwangsläufig aufdie Türkei und auf den Umgang der Türkei mit christli-chen Einrichtungen. Ich freue mich sehr, dass heute Ver-treter der aramäischen Gemeinde in Deutschland hier aufder Tribüne sitzen und unserer Debatte zuhören. Herz-lich willkommen!
Das Kloster Mor Gabriel ist in seiner Existenz be-droht – und das seit langem. Die Situation hat sich auchdurch noch so viele Gespräche bisher leider nicht signifi-kant verbessert. Im Gegenteil, sie ist eher dramatischergeworden. Dabei wird eines deutlich: Es geht nicht nurum dieses Kloster; vielmehr ist das Kloster geradezu zueinem Symbol dafür geworden, wie die Türkei mitchristlichen Einrichtungen und religiösen Minderheitenumgeht. Dieses Kloster steht für eine 1 600 Jahre wäh-rende Tradition als geistliches Zentrum der weltweit ver-zweigten syrisch-orthodoxen Kirche.Wir befürchten – vieles deutet auch darauf hin –, dassdieses Kloster im Zuge von mehreren seit Jahren anhän-gigen Gerichtsverfahren am Ende enteignet und entwid-met wird. Damit droht – darauf haben Sie, Frau Graf,hingewiesen – nicht nur ein Abreißen einer klösterlichenTradition, sondern der Fortbestand der syrisch-orthodo-xen christlichen Kultur wäre gefährdet. Es hat michschon sehr angerührt, als ich vor einiger Zeit eine Redevor Aramäern gehalten habe und sie mir am Ende dasVaterunser – eingerahmt, sodass ich es an die Wand hän-gen konnte – in aramäischer Schrift geschenkt haben;denn es handelt sich um die Sprache Christi.
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20742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Erika Steinbach
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Dieses Kloster ist das Symbol für die schwierigeLage der Christen selbst in der Türkei, die doch in Teilenso westlich geprägt ist. Auch in diesem demokratisch-muslimischen Staat leben Christen heute in einerschwierigen Situation und auch nicht ganz ungefährdet.In der Türkei gibt es, durch die Verfassung garantiert,zwar inzwischen offiziell Religionsfreiheit. Das Landbekennt sich auch zu dem internationalen Anliegen, Re-ligionsfreiheit zu gewähren. Die einschlägigen Men-schenrechtskonventionen sind gezeichnet. Aber in derPraxis haben religiöse Minderheiten – das trifft nicht nurauf die Christen zu – nur sehr eingeschränkte Rechte.Der Bau von Kirchen und auch deren Erhalt sind biszum heutigen Tage nahezu unmöglich. Christliche Geist-liche schweben in Lebensgefahr. Hat Ihnen der Abt viel-leicht auch erzählt, dass er sich nicht in seinem Ornat aufdie Straße wagen kann, dass das für ihn lebensgefährlichist? Predigten, egal wo in der Türkei, bedürfen der Ge-nehmigung. Man kann nicht einfach eine Predigt in sei-ner Kirche halten, sondern man muss sich das genehmi-gen lassen. Selbst in den türkischen Städten – wenn wirhinkommen, sagen wir: das sind ja ganz europäischeStädte; das ist europäische Lebensart – wird einem gera-ten, um den Hals doch bitte schön kein Kreuz zu tragen;es könnte unter Umständen die Gesundheit gefährden.Wenn man all das zusammenträgt, kommt ein ungutesGefühl auf. Dabei lebte in der Türkei eine stattliche An-zahl von Christen. 1915 kam es mit dem Genozid an denArmeniern, aber auch an den Aramäern und den Assy-rern – alle waren davon betroffen, nur werden meist aus-schließlich die Armenier erwähnt – zum Genozid an fast1,5 Millionen Christen. Vor 60 Jahren betrug der Anteilder Christen in der Türkei immerhin noch 20 Prozent.Heute sind es weniger, gerade einmal noch 0,15 Prozent.0,15 Prozent!Der Fortschrittsbericht der Europäischen Union zuden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei macht, vor-sichtig formuliert, die Defizite deutlich. Eigentlich kannman erkennen, dass es im Bereich der Religionsfreiheitnur wenige Fortschritte gibt. Wenn man sich die Praxisanschaut, stellt man fest: Das entwickelt sich in der letz-ten Zeit sogar fast rückwärts, und das ist etwas, wasnicht sein darf.Deshalb beobachten wir mit großer Sorge die juristi-schen Verfahren gegen das Kloster Mor Gabriel. Der Er-halt dieses Klosters ist das Symbol und der Gradmesserfür das Umgehen des türkischen Staates mit religiösenMinderheiten überhaupt.
Das Wort für die Fraktion Die Linke hat Dr. Lukrezia
Jochimsen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Endlich gibt es in unserem Parlament eine Debatte zurProblematik des Klosters Mor Gabriel. Wenn ich abse-hen könnte vom traurigen, inhumanen, menschenrechts-verletzenden Anlass – wie nämlich eine uralte, ein gro-ßes religiöses und kulturelles Erbe vermittelnde, heuteaber zahlenmäßig kleine Minderheit im europäischenBeitrittsland Türkei gnadenlos drangsaliert und diskrimi-niert wird –, würde ich mich freuen, dass nach nunmehrdrei Jahren die Regierungskoalition eine Initiative vonClaudia Roth, Monika Griefahn und mir aufgreift.Es ist mir – mit Verlaub – schon wichtig, hier festzu-stellen, dass die Linke die erste Fraktion war, die 2009einen Antrag zu Mor Gabriel mit dem Titel „Dauerhaf-ten Schutz des Klosters Mor Gabriel sicherstellen“ erar-beitet hat.
In diesem Antrag forderten wir die Bundesregierung auf,sich in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten derEuropäischen Union gegenüber der türkischen Re-gierung aktiv dafür einzusetzen, dass sie die Exis-tenzgrundlage und die Lebensperspektive des Klos-ters Mor Gabriel dauerhaft garantiert
und die syrisch-orthodoxe Minderheit in ihremLand als solche im Sinne des Vertrages von Lau-sanne … anerkennt. Insbesondere gilt es, die Si-cherheit der Klosterbewohnerinnen und -bewohnerund der syrisch-orthodoxen Bevölkerung im Alltagzu gewährleisten.Damals hatten wir, drei Parlamentarierinnen, die vorOrt die bedrohten Lebens- und Arbeitsverhältnisse ken-nengelernt hatten, gehofft, einen fraktionsübergreifen-den Antrag einbringen zu können. Die CDU/CSU warzunächst desinteressiert, kaperte dann aber unseren Ent-wurf und erklärte ihn zum Antrag der Großen Koalitionund der FDP, der ohne Debatte zur Sofortabstimmungeingebracht wurde, ganz schnell, ganz unbemerkt, ganzlautlos.
Claudia Roth nannte dieses Verfahren in einer persönli-chen Erklärung damals keinen angemessenen Umgangin der Sache. 2009 gab es im Parlament drei inhaltlichfast identische Anträge aus rein parteipolitischem Kalkül –bei einem solchen Thema, bei einem solchen christli-chen Hintergrund.Heute nun steht Mor Gabriel endlich auf unserer Ta-gesordnung mit einem Antrag, der die ganze Misere die-ses Falles zwar genau beschreibt und auch die Ohnmachtder EU und der Bundesrepublik, der uns aber in der Sa-che nach meinem Dafürhalten überhaupt nicht weiter-bringt. Es heißt im Antrag selbst, dass Demarchen undGespräche bisher zu keiner substanziellen Verbesserungder Sache geführt haben. Insofern verwundert es, dass
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20743
Dr. Lukrezia Jochimsen
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der Antrag in seinem Forderungskatalog nichts anderesenthält als vor drei Jahren, nämlich sich weiterhin fürMor Gabriel einzusetzen.
Das ist nach dieser ganzen Zeit und all diesen Erfahrun-gen einfach nicht genug.
Wenn wir also hier keine Schaufensterdebatten mitwohlklingenden Appellen führen wollen,
aufgrund derer man sich im Kloster Mor Gabriel – dasgilt auch für die Minderheit – nichts erhoffen kann, dannmüssen wir über andere solidarische Hilfen für MorGabriel nachdenken und uns dafür einsetzen.
Wie wäre es mit einem ständigen Beobachter aus demchristlichen oder zivilgesellschaftlichen Bereich anstelleder bisherigen sporadischen Prozessbeobachter? Wiewäre es mit einem Arbeitsbesuch des Außenministers,der Staatsministerin oder gar der Kanzlerin als nach-drückliches Zeichen der Unterstützung?
Mor Gabriel ist nicht nur das kulturelle Erbe der sy-risch-orthodoxen, sondern auch der syrisch-katholischenund der syrisch-protestantischen Christen. Gerade siekämpfen jetzt alle in Syrien ums Überleben, fliehen überdie Grenze in die Türkei – in die Nähe von Mor Gabriel.Es geht also um ein Exempel, wie ernst dem türkischenStaat Toleranz, religiöse und kulturelle Vielfalt ist. Esgeht auch um ein Exempel, wie viel Solidarität die Euro-päische Union hier ausüben kann, auch und gerade mit-hilfe der Bundesrepublik. Die Vergangenheit hat gezeigt:Nur internationaler Druck hilft in diesem Fall.Danke.
Ute Granold hat nun das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte mich nicht lange mit Verfahren aufhalten.Wir haben im Jahr 2009 hier einen Antrag, eingebrachtvon CDU/CSU, SPD und FDP, sowie einen Antrag derGrünen debattiert.
Es kann nicht sein, dass behauptet wird, dass die Linkeetwas getan hat und sonst niemand. Da irren Sie sich;vielleicht können Sie es im Protokoll noch einmal nach-lesen. So weit zum Verfahren.
In der Zeitung wurde gestern gefragt, wieso der Frak-tionschef der CDU/CSU nicht einfach einmal in der Tür-kei angerufen hat, um das Problem Mor Gabriel zu lö-sen, oder warum der Außenminister nicht einfachhingefahren ist oder einen Brief geschrieben hat: Wennes so einfach wäre, dann wäre dies bestimmt geschehen;aber es ist eben nicht so einfach.Wir haben uns 2009 eingehend mit dem Kloster MorGabriel befasst und Forderungen aufgestellt, die heutenoch so offen sind, wie es damals der Fall war, weil wirkeinerlei Möglichkeit haben, auf die Gerichtsverfahreneinzuwirken. Wenn einmal ein Urteil zugunsten desKlosters rechtskräftig ist, dann wird es einkassiert, so-dass nur die Möglichkeit besteht, wie es der ErzbischofAktas getan hat: Er ist nach Straßburg zum EGMR ge-gangen, um diese Frage klären zu lassen. Inwieweit dieTürkei Entscheidungen aus Straßburg umsetzt, ist eineandere Sache. Deshalb bleibt uns nur, immer wieder zufordern, dass das, was Unrecht ist, nämlich das Klosterzu eliminieren, verhindert wird.Ich war mehrfach im Kloster, zuletzt mit dem Kolle-gen Brinkhaus im Oktober letzten Jahres, und ich zitiere,was Erzbischof Aktas, der Klostervorsteher, schonmehrfach sagte: Ohne das ständige Insistieren aus Eu-ropa, insbesondere aus Deutschland und den skandinavi-schen Ländern, wären wir – damit meint er das Kloster,die Mönche und die Nonnen – nicht mehr existent.Er hat sich ausdrücklich bedankt, dass wir diesesThema nach wie vor behandeln. Deshalb bin ich froh da-rüber, dass wir heute, so denke ich, in der Sache großeÜbereinstimmung haben, dass wir das Kloster inDeutschland und in Europa auf der Agenda haben müs-sen. Ich erinnere daran: Das Europäische Parlament hatEnde März 2012 – es ist noch gar nicht lange her – einenBeschluss gefasst, der inhaltlich dem entspricht, washeute hier debattiert wird: dass wir uns für die Anerken-nung der religiösen Minderheiten in der Türkei einset-zen, insbesondere der Aramäer, der syrisch-orthodoxenMinderheit, und dass wir fordern, dass sie gemäß demLausanner Vertrag endlich anerkannt werden, der vonder Türkei allerdings einseitig interpretiert wird.Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass Priesterausgebildet werden können. Das Priesterseminar aufChalki ist 1971 geschlossen worden. Es muss möglichsein, einen Gottesdienst abzuhalten. Bislang bedurfte eshierfür einer ministeriellen Genehmigung. Ein Fort-schritt – so wird es genannt – ist, dass nun der Gouver-neur darüber entscheiden kann. Ich frage Sie: Was gäbees für einen Aufschrei in Deutschland, wenn das Ord-nungsamt jeden Freitag das Freitagsgebet in den Mo-scheen genehmigen müsste? Nichts anderes wird mit denChristen in der Türkei gemacht. Dagegen wehren wiruns.
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20744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Ute Granold
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Wir möchten auch nicht, dass die Aramäer, die sy-risch-orthodoxen Christen, die ins Ausland geflüchtetsind, in den Schulbüchern als Wirtschaftsflüchtlinge undals diejenigen bezeichnet werden, die die verbliebenenChristen in der Türkei aufwiegeln wollen. Wir akzeptie-ren es nicht, dass sie diffamiert werden. Wir möchten,dass offen und ehrlich über die Situation gesprochenwird. Wir möchten, dass die Christen, die aus Europa zu-rückkommen – viele von ihnen finanzieren die Christenin Tur Abdin –, ihren Glauben frei leben können. Das istunser Petitum. Dafür kämpfen wir.Es geht nicht darum, zu glauben, wir hätten nichts an-deres zu tun, als uns um ein Kloster in der Türkei zukümmern. Herr Kollege Brinkhaus war bei der letztenReise dorthin dabei. Wir haben viele Klöster besucht,nicht nur das Kloster Mor Gabriel. In dieser Region gabes früher 80 Klöster. In einigen Klöstern leben heutewieder Mönche. Diese Mönche haben uns gesagt, dasssie darauf warten, wie es mit dem Kloster Mor Gabrielweitergeht; denn davon hängt der Fortbestand der ande-ren Klöster ab, weil die kleineren Klöster nicht das Geldund die öffentliche Unterstützung haben, um diese Pro-zesse zu führen. Deshalb steht das Kloster Mor Gabrielstellvertretend für alle Klöster in dieser Region.Mesopotamien, das Zweistromland, ist die Wiege un-seres Glaubens. Ich erinnere an Antiochien, 37 n. Chr.Das ist unsere Geschichte. Wenn man in der Bibel liest,weiß man, was das bedeutet.Mor Gabriel ist sehr viel mehr als irgendein Gebäude.Es soll Weltkulturerbe sein. Es wurde mit erheblichen fi-nanziellen Mitteln aus Europa restauriert. Es geht um dieMönche, um den Glauben und um den Anker als zweitesJerusalem, wie es die Aramäer, die syrisch-orthodoxenChristen, bezeichnen. Die Fortschrittsberichte der EU,die diskutiert wurden, sind das eine Thema. Das andereThema ist das, was ich gerade ausgeführt habe.Als wir mit Vertretern des Ausschusses für Men-schenrechte und Humanitäre Hilfe in der Türkei waren,haben wir Gespräche mit dem Gouverneur, der Regie-rung in Ankara und mit zuständigen Ansprechpartnern inIstanbul und anderswo geführt. Wir haben überall die Si-tuation des Klosters angesprochen. Wir haben auch mitden Personen gesprochen, die die Berichte, die die EUverfasst, vorbereiten. Schaut man sich die Berichte dervergangenen Jahre an, dann sieht man, dass es keinenFortschritt im Bereich der Menschenrechte und hier ins-besondere der Religionsfreiheit gab. Es gab auch keineStagnation. Es gab vielmehr einen Rückschritt. Wennsich ein Land ernsthaft bemüht, in die EU einzutreten,dann sollte dieses Land die Wertegemeinschaft der EUanerkennen. Das brauche ich hier nicht weiter auszufüh-ren. Man sollte dann alle Anstrengungen unternehmen,damit in diesem und anderen Klöstern, über die inDeutschland und Europa so viel debattiert wird, dieMönche ihren Glauben frei leben und die individuelleund die kollektive Religionsfreiheit ausüben können.Erzbischof Aktas sagt – Frau Kollegin Steinbach hatdas schon ausgeführt –: Ich kann im Ornat nur mit einerWaffe aus dem Kloster gehen, weil ich nicht weiß, ob ichwieder zurückkomme, wenn ich zum Markt gehe. – Esist wirklich nicht einfach.Heute Morgen habe ich mit einem türkischen Taxifah-rer gesprochen. Ich sagte ihm: Wir diskutieren heuteüber das Kloster Mor Gabriel im Parlament. – Daraufhinsagte er, dass er von diesem Kloster und dem Geschehennichts weiß. Das ist kein Einzelfall. Viele Türken, die ih-ren Glauben in Deutschland leben, sagen: Das kann dochnicht sein. Wir können hier in die Moschee gehen undbeten. Wir wollen, dass die Christen in der Türkei ihreReligion ebenfalls ausüben können.Darum geht es. Die Türken, die Muslime, die hier le-ben, sagen: Wir wollen die Religionsfreiheit, die wir hiergenießen, auch in der Türkei. Das Kloster ist ein Lack-mustest. Es geht um die Frage, wie die Türkei weiter mitdem Kloster Mor Gabriel und damit stellvertretend mitdem Thema Religionsfreiheit umgeht.Ich bedanke mich für die Debatte im Parlament undhoffe, dass wir gemeinsam gute Beratungen haben undwir gemeinsam hinter dem Kloster und der Religions-freiheit für die Christen in Tur Abdin stehen.Vielen Dank.
Josef Winkler hat jetzt das Wort für Bündnis 90/DieGrünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! In dem Antrag der Ko-alition zum Kloster Mor Gabriel steht viel Wahres. Vie-les davon können wir teilen, auch den Großteil der For-derungen. Vorhin ist bereits gesagt worden, dass dieseaus einem alten Antrag übernommen wurden, insofernist das nicht überraschend. Auch in unserer Fraktion sindseit den 90er-Jahren eine ganze Reihe von Abgeordnetenüber diese Thematik im Bilde gewesen und haben sichvor Ort über die Problematik im Kloster informiert.Es ist zutreffend, dass die Existenz des Klosters be-droht ist. Über dessen Bedeutung will ich jetzt nichtsprechen; dazu wurde schon genug gesagt.Ich möchte aber noch ergänzen, dass es bei den ange-sprochenen Gerichtsverfahren nur um die Spitze des Eis-bergs geht. Die Aramäer als nicht anerkannte indigeneMinderheit sind in der Türkei einer Vielzahl von solchenProzessen ausgesetzt. Das ist der Grund für einen fastbiblischen Exodus der Aramäer aus dieser Gegend.Zahlreiche Kirchen, Klöster und aramäische Ort-schaften sowie viele Einzelpersonen aus dem aramäi-schen Bereich wurden oder werden mit Hunderten vonsolchen Enteignungsverfahren überzogen. Diese sehenihr Eigentum bedroht oder wurden schon enteignet undsind weitgehend frei von Rechten. Insofern ist der Falldes Klosters Mor Gabriel nur paradigmatisch zu sehen.Man sollte sich nicht interfraktionell darauf verständi-gen, dass Mor Gabriel das wichtigste und einzige Pro-blem ist; vielmehr ist es Teil einer Gesamtproblematik.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20745
Josef Philip Winkler
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Mor Gabriel ist das sichtbare Symbol für das Gesamt-problem, das gemeinsam angegangen werden muss.
So weit zu den Gemeinsamkeiten.Im Hinblick auf die zweite Forderung, die Sie in Ih-rem Antrag formuliert haben, sehen wir, dass Sie – dashat auch gerade Frau Granold gemacht – eine relativ ein-seitige Perspektive einnehmen, indem Sie immer nur be-trachten, wie es eigentlich mit den Rechten der religiö-sen Minderheiten in der Türkei aussieht. Das Ganzemuss man unserer Meinung nach auch vice versa be-trachten. Deshalb möchte ich kurz darüber reden, wiesich die Situation in Deutschland darstellt.Was Sie vollkommen zu Recht für verfolgte Christin-nen und Christen in anderen Staaten, in diesem Fall inder Türkei, fordern, sind Sie – insbesondere die Damenund Herren von der Union – jedoch nicht bereit, denMusliminnen und Muslimen in Deutschland zuzuerken-nen. Wenn Sie von der türkischen Regierung fordern,dass nichtmuslimische Minderheiten Rechtspersönlich-keit erlangen und als anerkannte Minderheit ihre Rechteuneingeschränkt ausüben können, dann müssten Siediese Pflicht vice versa in Deutschland genauso anerken-nen. Hier gibt es jedoch sehr hohe Hürden, die rechtlicherst einmal zu überwinden sind. Wir müssten uns ge-meinsam dafür einsetzen, dass diese Hürden für die Reli-gionsgemeinschaften gesenkt werden.Ich will Ihnen von einer aktuellen repräsentativenUmfrage berichten, die von der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster für den Bereich Deutschlanddurchgeführt wurde: Die Hälfte der Deutschen ist heuteder Meinung, dass nicht alle Religionsgemeinschaftendieselben Rechte haben sollten. Das richtet sich jetztnicht gegen die Regierung; befragt wurde die deutscheBevölkerung. 42 Prozent der Deutschen finden, die Aus-übung des islamischen Glaubens müsse stark einge-schränkt werden. Nur jeder vierte Deutsche befürwortetden Bau von Moscheen; das sind übrigens weniger Be-fürworter als in der Schweiz.Wir müssen daher sagen: Wenn wir einen Zeigefingerin Richtung Türkei richten, dann müssen wir mindestensvier Finger gegen uns selbst richten.
– Nein, das ist nicht unverschämt. Das war eine Um-frage, die ich nicht selbst durchgeführt habe.
Zurück zur Türkei. Wir fordern gleiche Rechte für dieChristen in der Türkei, wir fordern aber auch gleicheRechte für die Aleviten, die im Übrigen die deutlich grö-ßere Minderheit darstellen. Diese Minderheit wird ge-nauso diskriminiert; das haben Sie ebenfalls nicht ange-sprochen. Die Aleviten bilden die größte religiöse Gruppein der Türkei neben dem sunnitischen Islam. Die Pro-bleme der Aleviten sind ähnlich gelagert; sie werden zurAssimilation gezwungen, beispielsweise durch zwangs-weisen Religionsunterricht im sunnitischen Islam. DieserProblematik muss man sich ebenfalls widmen.Fazit: Es bestehen Gemeinsamkeiten hinsichtlich derForderung nach der Rettung von Mor Gabriel und demSchutz für aramäische Christen. Die Dimensionen imHinblick auf die Situation in Deutschland und die Uni-versalität der Menschenrechte müssen aber ebenfalls be-achtet werden. Da ist aus unserer Sicht noch einiges zutun.Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9185 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. – Dazu sehe ich kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Uta Zapf, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutsche nukleare Abrüstungspolitik weiter-
entwickeln – Deutschlands Rolle in der Nicht-
verbreitung stärken und weiterentwickeln
– Drucksachen 17/7226, 17/8843 –
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der SPD vor.
Interfraktionell wurde verabredet, eine halbe Stunde
zu debattieren. – Auch dazu sehe ich keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe der Kollegin Uta
Zapf für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir diskutieren die Große Anfrage der SPD. Es gabzahlreiche Antworten. Aber es bestehen noch mehr Fra-gen, die meines Erachtens nicht beantwortet wurden.Wir diskutieren dies kurz vor dem NATO-Gipfel, also zueiner Zeit, in der wir vor einer wichtigen Weichenstel-lung für die zukünftige Entwicklung der Sicherheitsar-chitektur in Europa und darüber hinaus – nicht nur inEuropa – stehen.Wenn sich die Hoffnungen einer Mehrheit der Men-schen in der Welt im Zusammenhang mit der Abrüs-tungsinitiative, die aufs Engste mit der Präsidentschaftvon Obama und seiner Prager Rede vom April 2009 ver-bunden ist, erfüllen sollen, wird es dringend erforderlichsein, dass die NATO in Chicago vom Denken des KaltenKrieges Abschied nimmt. Dieses Denken drückt sichnoch immer darin aus, dass die NATO in ihrem Verteidi-gungsdispositiv immer noch an der alten Rolle der Nu-klearwaffen festhält: „Nukes are the reminder of thegood old days.“ Frei übersetzt: Nuklearwaffen sind die
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20746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Uta Zapf
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Überbleibsel der guten alten Zeit. So heißt es ironisch ineiner Studie des US Army War College, die analysiert,dass 311 Nuklearwaffen als Abschreckungsdispositiv fürdie USA völlig ausreichen würden.Wir Sozialdemokraten würden es als Fortschritt be-trachten, wenn in Chicago folgende Ergebnisse zu errei-chen wären:Erstens: die weitere Herabstufung der Rolle von Nu-klearwaffen.Zweitens: eine Erklärungspolitik der NATO, die andie Nuclear Posture Review der USA angeglichen ist,das heißt eine Garantieerklärung gegenüber Nichtnukle-arwaffenstaaten, die sich an den Nichtverbreitungsver-trag halten, keine Nuklearwaffen gegen sie einzusetzen.Drittens: mehr Transparenz und vertrauensbildendeMaßnahmen in Bezug auf Russland, was Nuklearwaffenbetrifft, insbesondere die taktischen Nuklearwaffen, aberauch in Bezug auf die Kooperation bei der Raketenab-wehr.Viertens: ein Beschluss, den von Deutschland und an-deren Partnern geforderten Ausschuss für die Kontrolleund Abrüstung von Massenvernichtungswaffen in derNATO als permanenten Ausschuss zu erhalten.Es muss endlich mutige Schritte geben, um das Den-ken des Kalten Krieges hinter uns zu lassen. Ohne eineechte Kooperation mit Russland, ohne eine echte Per-spektive, in absehbarer Zeit auf Nuklearwaffen zu ver-zichten, ohne fortgesetzte Bemühungen um Abrüstungund Rüstungskontrolle werden wir die notwendige Sta-bilität und Sicherheit in Europa nicht erreichen. DieNATO kann und muss einen Beitrag dazu leisten.Ich will ein paar wenige Worte des Lobes an die Bun-desregierung richten. Das Bekenntnis zur völligen nu-klearen Abrüstung, der Wille zum Abzug der US-Nuklearwaffen aus Deutschland und Europa und derEinsatz für Abrüstung in der NATO, den sie in der Tradi-tion der Vorgängerregierungen fortführt, finden unsereUnterstützung.
Aber – es muss immer ein Aber folgen; darauf haben Siesicherlich gewartet – in der Frage der Umsetzung undder Durchsetzung verlässt sie regelmäßig der Mut.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das spiegelt sich invielerlei Hinsicht auch in der Antwort der Bundesregie-rung auf die Große Anfrage der SPD wider. Der Elan,sich bei der internationalen Abrüstung und Rüstungs-kontrolle insbesondere im Nuklearbereich öffentlich alsBannerträger zu präsentieren, ist der Vorsicht gewichen.Wenn ich bösartig wäre, würde ich sagen: Sie sind alsTiger gestartet und als Bettvorleger gelandet.
– Ja, neben dem Bett.Mangelnder Eifer, mangelndes Engagement und man-gelnde Durchsetzungsfähigkeit sind insbesondere bei derFrage der Entfernung der US-Nuklearwaffen von deut-schem und europäischem Boden zu konstatieren. Mirscheint, Sie haben Angst vor Ihrer eigenen Courage, dieSie am Anfang dieser Legislaturperiode gezeigt haben.Die Bundesregierung versteckt sich dabei hinter dem Ar-gument, diese Fragen seien nur im Konsens aller NATO-Partner zu klären. Das Argument, besonders die osteuro-päischen Partner sträubten sich gegen die Entfernungdieser Waffen, verkennt, dass dort längst ein Umdenkenbegonnen hat, insbesondere in Polen. Um die Sicher-heitsbedürfnisse dieser Länder zu befriedigen, sind Nu-klearwaffen nicht nötig, möglicherweise sind sie sogarkontraproduktiv. Andere, neue Strukturen wären sichermöglich, um die Verlässlichkeit des Art. 5 des NATO-Vertrages zu signalisieren. Hat denn die Bundesregie-rung diese Diskussion jemals mit den betroffenen Län-dern geführt? Ich bezweifle das.Die Bundesregierung macht einen Rückzieher, wennsie die Frage der anstehenden Modernisierung der in Bü-chel stationierten US-Nuklearwaffen in ihrer Antwort als– ich zitiere – „nationale Entscheidung der USA“ be-zeichnet – das ist auch ein bisschen widersprüchlich,nicht wahr? – und damit auf ein Deutschland zustehendesRecht der Mitsprache verzichtet. Gleichzeitig argumen-tiert die Regierung, dass die nukleare Teilhabe unabding-bar sei, um Mitsprache bei der Planung der nuklearenPlanungsgruppe zu haben. Diese Argumentation istfalsch und vorgeschoben; denn auch die Nichtstationie-rungsländer haben dieses Mitspracherecht.
Wenn die USA tatsächlich die taktischen Nuklearwaf-fen modernisieren, wird das Ergebnis eine völlig neueWaffe sein: präziser, treffgenauer, flexibler und je nachTrägermittel von größerer Reichweite. Die Tatsache,dass der Sprengkopf kleiner sein wird und damit beimEinsatz ein geringerer radioaktiver Fallout produziertwürde, macht diese Waffe einsetzbarer und damit mögli-cherweise wieder zu Kriegsführungswaffen. Das istnicht meiner Fantasie entsprungen, sondern das ist dieAnalyse, die wir gestern im Unterausschuss von einemExperten gehört haben.Ich frage Sie: Sind diese Waffen dann noch politi-scher Natur? In ihrer Antwort auf unsere Frage zu denModernisierungsmaßnahmen sagt die Bundesregierung,dass laut Nuclear Posture Review dadurch keine neuenEinsatzzwecke oder -fähigkeiten geschaffen werden.Unsere Anhörung im Unterausschuss Abrüstung, Rüs-tungskontrolle und Nichtverbreitung, die ich gerade er-wähnt habe, hat das Gegenteil ergeben. Diese Maß-nahme steht ebenso im Widerspruch zur Absicht, dieRolle von Nuklearwaffen herabzustufen. Sie führt zu„saubereren“, einsetzbareren und präziseren Waffen mitstrategischem Charakter.Sollen solche Waffen ab 2019 in Deutschland wirk-lich stationiert werden? Bei der Beantwortung unserersehr präzisen Fragen zu diesem Thema hüllt sich dieBundesregierung in Schweigen, oder sie verweist auf
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Uta Zapf
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Geheimhaltung, was sie sehr häufig macht, wenn sienichts sagen will.Zu den Tornados wird nichts Neues gesagt. Vielleichtist dies auch tröstlich, weil die alten Tornados ohne Mo-dernisierung keine neuen US-Nuklearwaffen tragenkönnten.Sie merken, ich bin nicht sehr zufrieden mit der Be-antwortung all der vielen Fragen. Es ist sehr vieles of-fengeblieben. In unserem Entschließungsantrag habenwir 21 Forderungen an die Bundesregierung gestellt.Wir hoffen, dass Sie sich ihn einmal durchlesen und ent-sprechend darauf reagieren.Ich danke Ihnen.
Jetzt hat der Kollege Robert Hochbaum das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wie weit ist der Iran mit seinem Atompro-gramm? Nordkorea testet eine neue Langstreckenraketeund steht womöglich kurz vor einem neuen Atomwaf-fentest. Solche Meldungen und auch andere erreichenuns beinahe täglich.
Sie und die Proliferationsgefahren, die von Staaten wiezum Beispiel dem Iran ausgehen, machen deutlich, wel-chen potenziellen Bedrohungen unsere Welt ausgesetztist.Sie machen aber vor allem deutlich, wie notwendig– Frau Zapf, da sind wir uns einig – Abrüstungspolitikweltweit ist. Unsere Haltung dazu haben wir bereits imMärz 2010 – ich darf mich noch einmal dafür bedanken –in dem interfraktionellen Antrag „Deutschland mussdeutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffensetzen“ dargelegt.
Es war das erste außenpolitische Antragsprojekt, wel-ches die Koalition in der 17. Wahlperiode in Angriffgenommen hat. Dies zeigt die Bedeutung, die das Themaauch für uns hat. Mit dem damaligen Antrag haben wirfraktionsübergreifend ein klares Zeichen für eine über-legte und nachhaltige Abrüstungspolitik gesetzt.Die Bundesregierung hat sich dies ebenfalls zu eigengemacht. Man kann das – so sehe ich es jedenfalls –durchgängig in den Antworten auf die Große Anfrageerkennen, auch wenn Frau Zapf damit nicht zufriedenwar. Hier wird unmissverständlich zum Ausdruck ge-bracht, dass aus Sicht der Bundesregierung Abrüstung,Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung die zentralenBestandteile einer globalen Sicherheitsarchitektur dar-stellen. Die Bundesregierung steht dabei für substan-zielle Fortschritte auf diesem Gebiet und unterstützt klarund deutlich das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt.Lassen Sie mich nun kurz auf einige konkrete Ergeb-nisse, die seither erzielt wurden, eingehen. Zuerst zumneuen Strategischen Konzept der NATO. Als wir unse-ren Antrag im März 2010 verabschiedeten, stand es – Siewissen das – kurz vor seinem Abschluss. Als Mitgliedder Parlamentarischen Versammlung der NATO kann ichIhnen nur bestätigen, dass es auch auf den maßgeblichenEinfluss der Bundesregierung zurückzuführen ist, dassAbrüstung und Rüstungskontrolle sowie das erklärteZiel einer nuklearwaffenfreien Welt im neuen Strategi-schen Konzept als eigenständige Schwerpunkte auf-genommen wurden.Meine Damen und Herren, sicher ist allen klar – diesmuss allen klar sein –, dass Abrüstung und Rüstungs-politik keine Anliegen von gestern sind, sondern Aufga-ben von heute und morgen. Dabei sind Abrüstung undeine nuklearwaffenfreie Welt keine Utopie oder idealisti-sches Wunschdenken. Nein, es ist eine konkrete Ver-pflichtung, für deren Umsetzung Deutschland – ich stehezu hundert Prozent dahinter – national wie internationaleinen wirksamen Beitrag geleistet hat und auch weiter-hin leistet.Interessant ist dabei die Beobachtung – die ich Ihnen,meine Damen und Herren von der Opposition, dringendzur Beurteilung empfehle –, ob denn zum Beispiel auchMittel, das heißt harte Währung, für Abrüstungsschritteaufgewendet werden. Da braucht sich die Bundesrepu-blik Deutschland mit Sicherheit nicht zu verstecken.Eine Liste, welche Projekte das Auswärtige Amt fördert,ist in der Antwort zu Ihrer Großen Anfrage, aber auch imjährlich erscheinenden Abrüstungsbericht zu finden.Hinzu kommen allerdings noch zahlreiche Projekte an-derer Ressorts, die allesamt zeigen, dass es der Regie-rung und uns ernst ist, wenn es um Rüstungskontrolleund Abrüstung geht. Gerade diesen Weg, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der Opposition, sollten alle hierim Haus weiter mit aller Kraft unterstützen.Nicht unerwähnt lassen will ich die zielgerichtetenBemühungen der Bundesregierung, den Aktionsplan ausder NVV-Überprüfungskonferenz 2010 zu operationali-sieren. Mit der Gründung der Nichtverbreitungs- undAbrüstungsinitiative, die sich bekannterweise auch„Freunde des NVV“ nennt und aus Deutschland sowieacht weiteren Staaten besteht, werden das Ziel einerzügigen Umsetzung der Beschlüsse der NVV-Überprü-fungskonferenz sowie weitere Fortschritte bei der nu-klearen Abrüstung und Nichtverbreitung verfolgt. Dasist übrigens im Kern eine der wichtigsten Forderungenunseres damaligen Antrags von 2010.
– Ich hatte gerade schon einiges dazu dargestellt. Nur istmeine Redezeit leider nicht ausreichend, um die vielenErfolge und Fortschritte seither darzustellen.
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20748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Robert Hochbaum
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Die Welt ist gerade in Bezug auf Proliferation undatomare Rüstung in keinem Idealzustand; das wissen wiralle. Dies muss geändert werden. Jedem, der reale Poli-tik betreibt, muss aber klar sein, dass dies nicht überNacht quasi mit dem Zauberstab erfolgen kann.
Selbst Präsident Obama, den sicherlich alle hier ken-nen,
hat davon gesprochen, dass es möglicherweise eineganze Generation oder mehr dauern wird, ehe die Weltnuklearwaffenfrei sein kann. Wichtig ist daher, das Zielfest im Blick zu haben und es mit konkreten, vor allemaber auch nachhaltigen Schritten zu verfolgen. Ichmöchte vor allem Sie, meine Damen und Herren von derOpposition, einladen, dieses Vorhaben im Sinne unseresAntrags von 2010 zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin Inge
Höger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 19 500Atomsprengköpfe gibt es weltweit. Etwa 5 000 davonsind jederzeit einsatzbereit. Dieses Waffenpotenzialreicht aus, um ein Vielfaches allen höheren Lebens zuvernichten.Leider nehmen die Ausgaben für atomare Rüstung inletzter Zeit wieder zu. Die Internationale Kampagne zurAbschaffung von Atomwaffen hat berechnet, dass imletzten Jahr mehr als 100 Milliarden Dollar für atomareRüstung ausgegeben wurden, ein großer Teil davon fürdie Modernisierung von Atombomben. Die Ausgabenfür Atomwaffen stiegen weltweit um 10 Prozent. Dieseneue Aufrüstungswelle muss gestoppt werden.
Die Abrüstung von Atomwaffen wird nicht voran-kommen, wenn nur Druck auf einzelne Länder ausgeübtwird. Die Strategie gegen das bis jetzt noch zivile Atom-programm des Iran ist zum Scheitern verurteilt. Ichmöchte an einen Satz erinnern, der in einem Aufrufsteht, der unter anderem von Albert Schweitzer unter-zeichnet wurde – Zitat –:Das Beispiel der bisherigen Atommächte kannleicht andere Staaten dazu verführen, ebenfalls dieHand nach Atomwaffen auszustrecken.Das bedeutet: Globale oder wenigstens regionaleAbrüstungsinitiativen sind die besten Argumente gegenneue Aufrüstung. Die Linke begrüßt deshalb ganz aus-drücklich die UN-Initiative für einen atomwaffenfreienNahen und Mittleren Osten.Leider trägt die Rüstungsexportpolitik Deutschlandsmit zur Eskalation in der Nahostregion bei.
Ich rede von U-Booten. Drei U-Boote des Typs „Dolphin“wurden bereits nach Israel geliefert. Zahlreiche Expertengehen davon aus, dass diese U-Boote von der israelischenArmee so umgerüstet wurden, dass damit nukleareMarschflugkörper abgefeuert werden können. In dennächsten Monaten werden wohl zwei weitere U-Booteausgeliefert. Außerdem wird, unterstützt mit Geldern ausdem aktuellen Haushalt, ein sechstes U-Boot für Israelgebaut. Damit ist Deutschland mitverantwortlich für dieDestabilisierung in der Region. Dadurch werden Schrittein Richtung Frieden durch Abrüstung und Vertrauens-bildung deutlich schwerer. Ich fordere die Bundesregie-rung auf, weder diese U-Boote noch andere Waffen in denNahen Osten zu liefern.
Deutsche Verantwortung wird noch an weiterenPunkten ganz konkret: 20 US-amerikanische Atombom-ben liegen in Deutschland, in der Eifel, bei Büchel. Jedehat die zehnfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe.Die Atomwaffen liegen dort aufgrund von Verträgen, diedie Bundesregierung abgeschlossen hat. Diese Verträgekönnen gekündigt werden, wenn es politisch gewollt ist.Die deutsche Luftwaffe übt den Einsatz dieser Atomwaf-fen mit Tornados. Diese Vorbereitung auf den Atomkriegkönnte sofort enden.
Die Linke fordert ein Ende der sogenannten nuklea-ren Teilhabe, also ein Ende der Mittäterschaft Deutsch-lands an der Vorbereitung eines Atomkriegs. Solchekonkreten Schritte müssen gegangen werden, sonst lei-det die Glaubwürdigkeit aller anderen diplomatischenBemühungen.
Ich bin froh, dass im vorliegenden Entschließungs-antrag die Bedeutung des NATO-Raketensystems für dieatomare Abrüstung erkannt wird. Das sogenannte Rake-tenabwehrprogramm ist kein rein defensives System. ImGegenteil: Es macht militärische Offensiven wahr-scheinlicher, indem es die Auswirkung von Gegenschlä-gen verringert. Schild und Schwert bilden von jeher eineEinheit. Die SPD teilt offensichtlich unsere Einschät-zung, dass das Raketensystem gegen Russland gerichtetist. Sie fordert deshalb eine Abstimmung mit Russlandhinsichtlich dieses Systems.Die Verhinderung eines bereits beginnenden neuenRüstungswettlaufs zwischen der NATO und Russland ist
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Inge Höger
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auf jeden Fall sinnvoll, doch global gesehen ist ein kom-pletter Ausstieg aus dem Raketenprogramm notwendig,sonst wird eine Front abgebaut und dafür eine andere er-richtet. Die Linke will kein Wettrüsten mit Russland. DieLinke will weltweit kein Wettrüsten.
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hatte recht, als ersagte: „Die Welt ist überrüstet, und Frieden ist unter-finanziert.“ – Das muss sich dringend ändern.
Der Kollege Christoph Schnurr hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Prag, New York, Lissabon, Chicago, Bagdad undWashington – das sind die Orte, an denen Abrüstung undRüstungskontrolle in den letzten Jahren vorangetriebenwurden. Es sind die Orte, auf die wir in den nächstenWochen und Monaten schauen werden – mit Sorge, aberauch mit Hoffnung. Hoffnung gab es kurz, als bekanntwurde, dass sich die USA und Nordkorea auf die Liefe-rung von Lebensmitteln im Gegenzug für ein Atommo-ratorium geeinigt hatten. Hoffnung gibt es jetzt mit Blickauf die Verhandlungen der E3+3 mit dem Iran. Frau Kol-legin Höger, wenn ich Ihnen richtig zugehört habe, dannhaben Sie Israel in Ihrer Rede erwähnt, aber den schwe-lenden Konflikt mit dem Iran mit keinem einzigen Wort.
Die Sorge und das grundsätzliche Problem bleiben:Es gibt Staaten, die nach Atomwaffen streben oder sich– entgegen internationalen Verpflichtungen – bereits sol-che Waffen beschafft haben.
Sie wollen Sicherheit, Prestige und Macht. Sie verursa-chen dadurch aber Unsicherheit, Misstrauen und häufigOhnmacht. Deshalb war es wichtig, dass der amerikani-sche Präsident Obama vor fast genau drei Jahren in Prageinen Paradigmenwechsel eingeleitet hat. Eine Weltohne Atomwaffen – das war seine Vision, und das istauch das Ziel aller Fraktionen in diesem Hause. Dieshaben wir seinerzeit mit unserem gemeinsamen Antragdokumentiert.Schon damals sollte uns allen klar gewesen sein: Wirwerden dieses Ziel nicht über Nacht erreichen. Esbraucht einen langen Atem und viele, viele kleineSchritte, bis der Erfolg sichtbar wird. Irgendwann wirdder Erfolg aber sichtbar. Ein Beispiel dafür ist die erfolg-reiche NVV-Überprüfungskonferenz in New York. Einweiteres Beispiel dafür ist das neue Strategische Kon-zept, das sich die NATO in Lissabon gegeben hat.
Da mögen die Kollegen der Opposition anderer Auffas-sung sein. Das zeigt aber, wie weit Sie sich gedanklichvon der Zeit entfernt haben, in der Sie für die Außenpoli-tik in diesem Lande Verantwortung getragen haben.Abrüstung und Nichtverbreitung sind – anders als inder Vergangenheit – ein wichtiger Teil der Bündnisstra-tegie, nicht als Selbstzweck, sondern weil beides zumehr Sicherheit beiträgt. Die Bundesregierung hat einenmaßgeblichen Anteil daran, dass sich die NATO dazuverpflichtet hat, die Voraussetzungen für eine Welt ohneAtomwaffen zu schaffen. Das ist ein Erfolg für die Bun-desregierung, für Deutschland, für uns alle, die sich füreine Welt ohne Atomwaffen einsetzen.Natürlich – das muss man ganz offen sagen – habenwir uns mehr gewünscht. Aber ich bin optimistisch, dasswir in der NATO bald weitere Fortschritte sehen werden.In gut drei Wochen blicken wir ganz gespannt nach Chi-cago. Dort wird das Bündnis unter anderem beschließen,wie der zur Abschreckung nötige Mix aus nuklearen undkonventionellen Fähigkeiten in Zukunft aussehen soll.Wenn man dem, was vorab über die Presse bekanntwurde, Glauben schenken darf – dazu gibt es guteGründe –, dann werden wir in den Gipfelbeschlüssen ei-nige deutsche Forderungen wiederfinden. Dazu gehörennegative Sicherheitsgarantien, die Verstetigung des Aus-schusses zur Rüstungskontrolle und Abrüstung, aberauch Aussagen zu den in Europa stationierten substrate-gischen Atomwaffen.Dass dieses Thema international überhaupt noch aufder Agenda ist und bleiben wird, ist ohne Zweifel einVerdienst der Bundesregierung und unseres Außen-ministers.
Aber auch hier gilt: Erfolge brauchen Zeit. Substan-zielle Gespräche können wir erst dann erwarten, wenn inWashington der nächste amerikanische Präsident verei-digt ist; auch das haben die Gespräche mit den unter-schiedlichsten Experten gezeigt. Selbst wenn es auchdann noch dauern sollte: Wir rücken nicht ab vom Zieldes Abzugs der Atomwaffen aus Deutschland und Eu-ropa. Wenn aber erst Vertrauen und Transparenz ge-schaffen werden müssen, um alle mit ins Boot zu holen,dann sind wir gut beraten, genau das zu tun. Wir müssenSchritt für Schritt nach vorne gehen und dürfen nicht denzweiten vor dem ersten Schritt machen.Meine Damen und Herren, gleich nach dem NATO-Gipfel blicken wir nach Bagdad. Dort soll das nächsteGespräch der E3+3 mit dem Iran stattfinden. Geradejetzt wäre ein Erfolg in den Verhandlungen wichtig. In-dien hat erstmals eine atomwaffenfähige Langstrecken-rakete getestet, Pakistan eine Rakete mit kürzerer Reich-weite. Nordkorea hat mit dem missglückten Raketenstartgegen Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates verstoßenund sich damit weiter isoliert. Gründe, sich Sorgen zu
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20750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Christoph Schnurr
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machen, gab es in den vergangenen Wochen mehr als ge-nug. Dass es jetzt überhaupt zu einer weiteren Ge-sprächsrunde mit dem Iran kommt, ist deshalb ein gutesZeichen. Es ist auch ein Hinweis darauf, dass der zwei-gleisige Ansatz funktioniert, den die Bundesregierung,aber auch unsere Partner verfolgen: auf der einen SeiteDruck aufbauen und Sanktionen verschärfen und auf deranderen Seite offen für Gespräche bleiben und Entge-genkommen zeigen.Abrüstung und Rüstungskontrolle sind keine Felderfür parteipolitische Spielchen. Wir haben das gleicheZiel. Der Entschließungsantrag der SPD ist überflüssig.Wir müssen in diesem Hohen Hause nicht alle zweiJahre die gleichen Dinge beschließen. Lassen Sie unsweiter gemeinsam an der Sache arbeiten. Dann bringenwir die Sache voran.Vielen Dank.
Die nächste Rednerin ist Agnes Brugger für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In derAbrüstungspolitik fehlt es Schwarz-Gelb gewaltig anIdeen und Elan. Das zeigen die Antworten der Bundesre-gierung auf die Große Anfrage zu den verschiedenstenFacetten der nuklearen Abrüstung. Sie zeigen auch: Au-ßenminister Westerwelle betreibt Abrüstungspolitikohne jede Lust und Leidenschaft, so als gehe es nur umdie Pflege einer deutschen außenpolitischen Routine.Auf diese Weise versäumt es die Bundesregierung,Chancen zu nutzen und sichtbare außenpolitische Ak-zente zu setzen. Sie unternehmen gar nicht erst den Ver-such, wirklich und überzeugt bei der Bevölkerung und inder Weltöffentlichkeit um Unterstützung für Ihre Abrüs-tungspolitik zu werben.
Ohne einen solchen Rückhalt, der über nationalstaatlicheInteressen hinausgeht, kann Abrüstungspolitik ihre Wir-kung aber nicht entfalten.Am augenscheinlichsten wird dies, wenn man be-trachtet, was mit den US-Atomwaffen in Deutschlandgeschehen soll. Mir fehlt noch der Glaube, Herr Schnurr,dass der NATO-Gipfel in Chicago wirklich beschließenwird, dass sie abgezogen werden sollen. Es soll nämlichnicht besonders viel geschehen. Was es gibt, ist allenfallsdie Perspektive, dass sie modernisiert werden und damitihr Verbleib in Deutschland zementiert wird, und das,obwohl im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, dass diein Deutschland stationierten Atomwaffen abgezogenwerden sollen, und obwohl das gesamte Parlament die-ses Vorhaben unterstützt. Der heutige Entschließungsan-trag der SPD, den wir in weiten Teilen wirklich sehr gutfinden, macht das deutlich. Wir teilen allerdings nichtIhre Begeisterung für das NATO-Raketenabwehrsystem.Für uns ist es ein Aufrüstungsprojekt, bei dem sowohlNutzen als auch Kosten nicht absehbar sind.
Daher werden wir uns bei Ihrem Antrag enthalten.Zurück zu Schwarz-Gelb. Wir fordern von der Bun-desregierung, dass sie sich aktiv und mit eigenen Beiträ-gen für eine Welt frei von Atomwaffen einsetzt. Dazugehört beispielsweise auch, für eine Ächtung von Atom-waffen durch eine Nuklearwaffenkonvention zu streiten.Aktiv sollten Sie sich in diese Diskussion einbringen; sohat es nahezu das ganze Haus in einem historischen ge-meinsamen Antrag gefordert. In ihrer Antwort auf dieGroße Anfrage erklärt die Bundesregierung aber lapidar,sie – Zitat – „verfolgt die Diskussion um eine Nuklear-waffenkonvention aufmerksam“. Das heißt im Klartext:Sie beteiligen sich gar nicht daran.
Es grenzt wirklich teilweise an Dreistigkeit, wie dieseRegierung den abrüstungspolitischen Auftrag der Mehr-heit des Parlamentes einfach ignoriert und sich für ihrvermeintliches Engagement in regelmäßigen Abständenselbst beweihräuchert.Meine Damen und Herren, natürlich erfüllen uns dieEntwicklungen im Iran, in Nordkorea, in Indien und inPakistan mit großer Sorge. Erst letzte Woche erreichteuns die Meldung, dass Indien eine neue, atomwaffenfä-hige Langstreckenrakete erfolgreich getestet hat. Nunzog Pakistan mit dem Test einer Mittelstreckenraketenach. Indien investiert bereits seit langem in die konven-tionelle und auch in die nukleare Aufrüstung. Die Teststreiben die bereits auf Hochtouren laufende Rüstungsspi-rale in dieser Region weiter an – und das in einer höchstunsicheren Zeit.Was ist die Reaktion der Bundesregierung? Schwei-gen und Verharmlosen! Gerade weil die Herausforderun-gen so groß und so offensichtlich sind, erwarten wir vonIhnen viel mehr kreative und engagierte Initiativen fürdie Abrüstung und die Rüstungskontrolle.
Im Fall Indien tun Sie aber genau das Gegenteil. Ob-wohl Indien bis heute nicht zu den Unterzeichnerstaatendes Atomwaffensperrvertrages gehört, unterstütztSchwarz-Gelb den Nuklearhandel mit Indien und stehtsogar einer Aufnahme in die Nuclear Suppliers Groupoffen gegenüber.
Dabei hat die Internationale Atomenergie-Organisationweder Einblick in die Atomanlagen noch in die militäri-schen und zivilen Forschungseinrichtungen in Indien.Diese laxe Haltung zum Nuklearhandel mit Indien istfahrlässig, und sie torpediert auch die Nichtverbreitungs-politik der letzten Jahrzehnte.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20751
Agnes Brugger
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Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihnen istbeim Engagement für Abrüstung doch schon lange dieLuft ausgegangen.
Viele Ihrer Initiativen sind zudem – man siehe Indien –auch noch kontraproduktiv. Wir machen Abrüstungs-politik mit langem Atem, mit Lust und mit Leidenschaft.Vielen Dank.
Der Kollege Thomas Silberhorn spricht jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion zu uns.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist jarichtig: Anspruch und Wirklichkeit klaffen in der Abrüs-tungspolitik noch immer auseinander.Im Nichtverbreitungsvertrag verpflichten sich diefünf Atommächte, in Verhandlungen über allgemeineund vollständige Abrüstung einzutreten. Die Unterzeich-nerstaaten, die nicht im Besitz von Kernwaffen sind, er-klären im Nichtverbreitungsvertrag ihren Verzicht aufatomare Rüstung. Beide Ziele des Nichtverbreitungsver-trages – Abrüstung und Nichtverbreitung – sind in derpolitischen Realität bislang nicht erreicht.Unzureichende Fortschritte sind aber nicht allein eineFrage des politischen Willens, sondern hängen auch mitder komplexen Struktur von Interessen zusammen: na-tionale Sicherheitsinteressen, Bedrohungsperzeptionen,aber auch machtpolitisches Kalkül und Prestigedenken.Abrüstung braucht ein friedliches Umfeld, wechselseiti-ges Vertrauen, einen international abgestimmten Rah-men und im Übrigen die Beachtung des Grundsatzes derGegenseitigkeit.Wir wollen alles dafür tun, dass sich der Kreis derAkteure, die Zugriff auf Atomwaffen haben, nicht ver-größert. Das Gebot der Nichtverbreitung muss eingehal-ten werden. Die wohl größte Hürde dabei ist die Verifi-kation, also die Frage, wie sichergestellt werden kann,dass sich tatsächlich alle Staaten an die vereinbarten Ab-rüstungsschritte halten. Diese Frage ist nicht banal, son-dern davon hängt ab, wie freiheitlich verfasste Demokra-tien künftig ihre Werte verteidigen können, in demWissen, dass Akteure nach Atomwaffen streben, diediese Werte nicht teilen.Die internationale Gemeinschaft und wir alle, denenan Abrüstung gelegen ist, müssen darauf eine plausibleAntwort finden. Abrüstung funktioniert aber nicht adhoc und nicht dadurch, dass man den allgemeinen Welt-frieden ausruft. Es wäre wenig hilfreich, die politischenRealitäten auszublenden, unerfüllbare Erwartungen zuschüren und damit Enttäuschungen und Frustration her-vorzurufen. Erfolgreiche Abrüstungspolitik braucht ei-nen Fahrplan mit konkreten Zielmarken.Es ist uns vor über zwei Jahren in diesem Haus gelun-gen, mit einem interfraktionellen Antrag einen Konsensin der nuklearen Abrüstungspolitik herzustellen. Wir ha-ben beschrieben, welchen Beitrag Deutschland aus Sichtdes Parlaments leisten kann.Seitdem sind die Verhandlungen zu allen wesentli-chen Aspekten der nuklearen Abrüstung vorangeschrit-ten. Es gibt einen neuen START-Vertrag zwischen denUSA und Russland. Es gab 2010 eine erfolgreiche Über-prüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag mitder Verständigung auf einen Aktionsplan. Gegenstanddieses Aktionsplans ist unter anderem das Ziel, im Na-hen und Mittleren Osten eine Zone zu schaffen, die freivon Nuklearwaffen und anderen Massenvernichtungs-waffen ist. Schließlich wurde von zehn Staaten eineNichtverbreitungs- und Abrüstungsinitiative gegründet.Auf anderen Feldern sind – das ist zuzugeben – dieFortschritte noch nicht so weit, wie wir uns das alle er-hoffen, was freilich auch an der geschilderten Komplexi-tät der Aufgabe liegt. Für das Inkrafttreten des umfas-senden Teststoppabkommens fehlen nach wie vor achtRatifikationen. Die letzte Ratifikation durch Indonesienim Februar war immerhin ein wichtiger Schritt.Die Aufnahme der Verhandlungen zum Verbot derProduktion von Spaltmaterial für Waffenzwecke in derGenfer Abrüstungskonferenz wird weiterhin durch dieoffene Blockade Pakistans verhindert. In den Atomver-handlungen mit Nordkorea und Iran gibt es bisher keinegreifbaren Fortschritte. Allein diese beiden Fälle ver-deutlichen, wie weit wir noch von einem internationalenKonsens über den Umgang mit Atomwaffen entferntsind.CDU, CSU und FDP haben in ihrem Koalitionsver-trag ein glasklares Bekenntnis zu Abrüstung und Rüs-tungskontrolle abgegeben. Wir sehen dies „als zentralenBaustein einer globalen Sicherheitsarchitektur der Zu-kunft“, so das Zitat aus dem Koalitionsvertrag.Die Bundesregierung hat diesen Worten seit Beginndieser Legislaturperiode Taten folgen lassen. Im neuenStrategischen Konzept der NATO vom November 2010sind Abrüstung und Rüstungskontrolle und auch das Zieleiner nuklearwaffenfreien Welt verankert. Die Bundesre-gierung engagiert sich konsequent für die Stärkung desglobalen Nichtverbreitungsregimes, insbesondere imRahmen der Bemühungen zum iranischen Nuklearpro-gramm. Bei den Verhandlungen zum iranischen Nukle-ardossier hat sich Deutschland neben den fünf ständigenMitgliedern des Sicherheitsrates einen festen Platz alsVerhandlungspartner erarbeitet.Wir haben mit der Verhängung von Sanktionen, dieauch die deutsche Wirtschaft empfindlich treffen, deut-lich gezeigt, dass es uns mit der Doppelstrategie vonAngebot und Druck ernst ist. Das zeigt: Die Bundesre-gierung ist den Handlungsaufträgen aus dem Koalitions-vertrag und aus dem interfraktionellen Beschluss des
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20752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Thomas Silberhorn
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Bundestages vor zwei Jahren im vollen Umfang nachge-kommen.Ich sage aber auch: Der primäre Verhandlungsrahmenfür Deutschland ist die Europäische Union, ist die Nicht-verbreitungs- und Abrüstungsinitiative. Nukleare Abrüs-tung hängt aber nicht in erster Linie von Deutschland ab.Dazu gehören die USA und Russland, die noch immerüber rund 90 Prozent der weltweit vorhandenen Atom-waffen verfügen. Dazu gehören auch aufstrebendeMächte wie China und Indien. Dazu gehört die Frage, obStaaten wie der Iran und Nordkorea zur Einhaltung derglobalen Nichtverbreitungsnormen gebracht werdenkönnen.Fortschritte in der Abrüstungspolitik entstehen nichtdurch hehre Verlautbarungen und Ziele,
sondern dann, wenn Abrüstung von den relevanten Ak-teuren als Teil einer klugen Interessenpolitik verstandenund wenn sie in einem Klima des Vertrauens und derPartnerschaft betrieben wird.Abrüstung ist die Summe vieler einzelner Bausteine.Arbeiten wir gemeinsam darauf hin, dass sich die Teiledieses Mosaiks zu einem ansehnlichen Gesamtbild zu-sammenfügen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9438. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch die ein-bringende Fraktion. Die Koalitionsfraktionen haben da-gegen gestimmt, Linke und Bündnis 90/Die Grünen sichenthalten.Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beglei-
– Drucksache 17/9340 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOHierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist dasso beschlossen, und wir verfahren so.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wortdem Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomasde Maizière.Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-teidigung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir wollen eine leistungsfähige Bundeswehr, die derPolitik im Bedarfsfall ein breites Spektrum an Fähigkei-ten und Handlungsoptionen bietet, die einsatzorientiertund effektiv arbeitet, die nachhaltig finanziert und aus-gerüstet ist und die fest in der Gesellschaft verankert ist,und das alles mit Menschen, die das können und die dasgerne tun. Das ist der Hintergrund, vor dem wir heuteden Entwurf des Bundeswehrreform-Begleitgesetzes be-raten, den ich gerne einbringe.Wir stehen im Zusammenhang mit der Neuausrich-tung der Bundeswehr vor drei Herausforderungen:Erstens. Wir brauchen weniger Personal. Es ist nichtdrum herumzureden: Das ist auch eine Maßnahme desPersonalabbaus. Denjenigen, für die wir in der Bundes-wehr keine angemessene Verwendung haben, müssenund wollen wir eine Perspektive anbieten. Dafür brau-chen wir das Reformbegleitprogramm.Zweitens. Wir müssen das richtige Personal amrichtigen Platz in der Bundeswehr haben. Im konkre-ten Fall bedeutet das eine gute Personalentwicklungeinschließlich Beförderungsmöglichkeiten, Umstiegvom Berufs- zum Zeitsoldaten, Umschulung, Weiter-bildung, Umzüge usw. Dazu wollen wir Anreizeschaffen. Diesen Schritt wollen wir erleichtern, unddafür brauchen wir das Reformbegleitprogramm.Drittens. Wir brauchen neues Personal. Nur wenn esuns gelingt, dass die Bundeswehr als attraktiver Arbeit-geber angesehen wird, werden wir den Wettbewerb umdie besten Köpfe bestehen. Genau die brauchen wir füreine starke und gute Bundeswehr. Auch dafür brauchenwir das Reformbegleitprogramm.Das Reformbegleitprogramm stellt Mittel, Maßnah-men und Möglichkeiten bereit, damit wir dieser dreifa-chen Herausforderung begegnen können. Wir durchlau-fen im Zusammenhang mit der Neuausrichtung derBundeswehr einen Prozess des Aufbaus, Umbaus undAbbaus, und das alles gleichzeitig. Das ist ziemlichkompliziert, aber möglich.Grundsätzlich gilt: Die Weiterverwendung innerhalbund außerhalb der Bundeswehr hat für uns Vorrang. Des-halb wollen wir sie durch vielfältige Maßnahmen för-dern, die Sie in dem Entwurf finden. Ich denke an die er-weiterten Beurlaubungsregelungen, an das Angebotumfassender Weiterqualifizierungsmaßnahmen, an diefinanzielle Förderung einer anderweitigen Weiterbe-schäftigung, an die finanziellen Anreize für eine Status-umwandlung vom Berufs- zum Zeitsoldaten und vor al-lem an die Anhebung der Hinzuverdienstgrenzen.Letzteres ist besonders wichtig. Wer als über 50-jähri-ger Hauptfeldwebel oder Oberstleutnant in der Wirt-schaft arbeiten will, soll und kann, der sollte auch einen
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Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Anreiz haben, das zu tun, zwar nicht in Form von mehrGeld vom Steuerzahler, aber so, dass er möglichst vielvon dem, was er bei einem anderen Arbeitgeber verdientund für das er Steuern und Abgaben zahlt, behaltenkann.
Für diejenigen, die keine Weiterbeschäftigung findenkönnen oder wollen, enthält der Entwurf ein alles in al-lem respektables Angebot, vorzeitig in den Ruhestand zugehen. Dieser Weg wird mit Blick auf die finanzielle Be-lastung für den Bundeshaushalt und auf die Beschäfti-gungsmöglichkeiten und entsprechenden Maßnahmenaußerhalb des öffentlichen Dienstes nicht allen Soldatin-nen und Soldaten bzw. Beamtinnen und Beamten desÜberhangs offenstehen. Auch hierüber wird sicherlichnoch geredet werden.Lassen Sie uns bei der Beratung all dieser Maßnah-men nicht das Ziel aus den Augen verlieren: Es geht da-rum, die Bundeswehr zukunftsfest zu machen. Wir dür-fen uns nicht nur um die kümmern, die die Bundeswehrleider verlassen müssen, sondern müssen uns vor allemum die kümmern, die bleiben und neu dazukommen. Mitdiesem Ziel wollen wir die Attraktivität des Arbeitsplat-zes Bundeswehr steigern. Dazu gibt es viele Maßnah-men, die jetzt nicht gesetzlich geregelt werden müssen.Aber auch der vorliegende Gesetzentwurf sieht hierzuvielfältige Maßnahmen vor.Wir wollen die Vereinbarkeit von Familie und Dienstebenso verbessern wie die Wohn- und Lebensbedingun-gen der zahlreichen Pendler in der Bundeswehr. Dabeiknüpfen wir an die Maßnahmen an, die wir bereits au-ßerhalb des Reformbegleitprogramms umgesetzt haben.Ich denke an das Ziel, die Kasernenunterkünfte, die wirnicht mehr brauchen, Pendlern zur Verfügung zu stellen,das befristete Wahlrecht zwischen Umzugskostenvergü-tung und Trennungsgeld, die Verbesserung der Woh-nungsfürsorge und viele andere Maßnahmen.Es handelt sich bei dem Ihnen vorliegenden Entwurfdes Bundeswehrreform-Begleitgesetzes nur dem Namennach um ein Begleitgesetz. In Wahrheit ist es ein zentra-ler Baustein der Neuausrichtung. Das Gesetz kommt de-nen zugute, die heute in der Bundeswehr sind und dortweiterhin ihre Zukunft sehen. Das Gesetz kommt denenzugute, die sich eine berufliche Zukunft in der Bundes-wehr vorstellen können. Das Gesetz kommt aber auchdenen zugute, die andere berufliche Perspektiven anstre-ben oder leider anstreben müssen. Das Gesetz dient alsodem Erfolg der Neuausrichtung der Bundeswehr insge-samt. Wir brauchen das Bundeswehrreform-Begleitge-setz als Teil der Neuausrichtung, damit die Bundeswehrunserem Land, seinen Interessen und Werten so gut die-nen kann wie bisher oder noch ein bisschen besser.In diesem Sinne bitte ich Sie um gute, zügige Bera-tungen und im Ergebnis um eine breite Zustimmung.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Fritz Rudolf Körper für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bun-deswehrreform-Begleitgesetz zielt in seiner Personal-strukturreform auf drei Punkte. Das Gesetz zielt zum ei-nen auf die Einsatzausrichtung. Bei diesem Thema ist esganz wichtig, dass wir nicht nur das aktuelle Einsatz-szenario in Afghanistan im Blick haben, sondern insbe-sondere auch das, was wir dort zukünftig zu erwarten ha-ben. Das Gesetz zielt zum anderen auf eine Effizienz-steigerung. Das ist ganz wichtig. Zu diesem Schlusskommt man, wenn man vor allen Dingen die rasanteEntwicklung der Militärtechnik sieht. Des Weiteren zieltdas Gesetz auf eine Reduzierung des Personalkörpers.Das alles bedeutet, dass der Qualifikationsanspruch anden einzelnen Soldaten und die einzelne Soldatin sowiean die Mitarbeiter der Bundeswehr – ähnlich wie aufdem sonstigen Arbeitsmarkt – enorm wächst. Zu diesemSchluss kommt man, wenn man sieht, wie die Neuaus-richtung ausgestaltet ist. Die Bundeswehr wird kleinerund spezieller. Das begründet im Prinzip den gestiege-nen Qualifikationsanspruch an den Einzelnen. Das istbesonders zu berücksichtigen.Es kommt, glaube ich, ganz entscheidend darauf an,sehr geehrter Herr Minister de Maizière, dass wir unserAugenmerk nicht nur auf diejenigen richten, von denenwir uns trennen wollen bzw. trennen müssen, sonderninsbesondere auch auf diejenigen, die wir für die zukünf-tige Neuausrichtung der Bundeswehr brauchen. Es istganz wichtig, dass sich die Neuausrichtung an der At-traktivität für junge Menschen orientiert, die ihrenDienst in der Bundeswehr verrichten wollen.
Ich glaube, dass es darüber keinen Streit gibt. Aber manmuss wissen, dass die Bundeswehr bei der Personalge-winnung in einem verschärften Wettbewerb steht. Ange-sichts der Anstrengungen, die die Landespolizeien unddie Bundespolizei unternehmen, um Personal zu rekru-tieren – es handelt sich um einen Personalkörper, an demauch die Bundeswehr interessiert ist –, muss darübernachgedacht werden, wie es die Bundeswehr schaffenkann, qualifiziertes Personal zu gewinnen. Im Mittel-punkt der anstehenden Bundeswehrreform steht dahereine eindeutige Steigerung der Attraktivität des Dienstesfür die aktiv Beschäftigten. Ich hoffe, dass das gelingt.Der Dienst in der Bundeswehr muss aber auch imHinblick auf die Nachwuchsgewinnung attraktiver wer-den. Wir haben bereits eine Debatte über die Ausbil-dung in der Bundeswehr geführt. Ich finde, das ist einFeld, wo nicht reduziert werden darf; denn im Hinblickauf die zukünftige Entwicklung der Bundeswehr in demvon mir skizzierten Sinne ist es wichtig, dass die Bun-
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Fritz Rudolf Körper
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deswehr attraktive Ausbildungsplätze zur Verfügungstellt.
Man sieht, dass das Ziel relativ ehrgeizig ist. Von252 000 Soldatinnen und Soldaten inklusive Wehrpflich-tigen ausgehend streben wir einen Zielkorridor von185 000 Soldatinnen und Soldaten an. Diese Reduzie-rung geht einher mit einer Reduzierung der Zahl der zi-vilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dazu sage ichIhnen, Herr Verteidigungsminister de Maizière, dass dieZahl der Zivilbeschäftigten, die von derzeit 76 000 auf55 000 reduziert werden soll, nach unserer Auffassungsehr willkürlich gewählt ist.
Ich weiß nicht, ob in diesem Zusammenhang einekonkrete Aufgabenanalyse vorgenommen worden ist. Esgibt eine interessante Parallele zu der Entwicklung derfranzösischen Streitkräfte. Diese haben militärischesPersonal abgebaut, was allerdings mit einem Aufwuchsbei den Zivilbeschäftigten einherging. Auch so etwasmuss man berücksichtigen. Ich finde es wichtig, einge-hend zu prüfen, welche Aufgaben zukünftig vom militä-rischen Personal und welche vom zivilen Personal über-nommen werden sollen. Das ist ein ganz wichtigerPunkt. Auch diese Überlegung muss bei der Umsetzungdes Bundeswehrreform-Begleitgesetzes eine Rolle spie-len.Wir müssen auch daran denken, dass Soldatinnen undSoldaten ausscheiden sollen oder müssen. In diesem Zu-sammenhang ist die Freiwilligkeit ganz wichtig. Ent-scheidend ist, wie die Instrumente bei dem Einzelnenwirken. Über die Hinzuverdienstgrenzen sollten wir ge-meinsam nachdenken, damit es für bestimmte Betroffenenicht zu einer spürbaren Absenkung des Nettoeinkom-mens kommt.
Das gilt insbesondere für bestimmte Altersbänder. Indiesem Fall stellt das Altersband II ein gewisses Pro-blem dar. Ich weiß aber auch aus eigener Erfahrung, dassdann, wenn man besondere Regelungen schaffen willund beispielsweise Hinzuverdienstgrenzen anhebt odergar aufhebt, eine Debatte mit anderen, beispielsweisedem Innenministerium, entfacht wird. Aber gerade beiden Hinzuverdienstgrenzen müssen wir auf die Beson-derheit der Neuausrichtung der Bundeswehr und darauf,was wir mit dem neuen Personalkörper wollen, hinwei-sen. Deswegen sollten wir im Sinne der Betroffenen eineadäquate Regelung schaffen.
Ein weiterer Punkt betrifft die Planstellenobergren-zen. Es muss eine Vergleichbarkeit der Bundeswehr mitanderen Stellen des öffentlichen Dienstes und den ent-sprechenden Laufbahnen hergestellt werden. In diesemZusammenhang sollten wir unser Augenmerk insbeson-dere auf die Besoldungsgruppen A 9 und A 13 richten.Die Vergleichbarkeit der Bundeswehr mit anderen Stel-len des öffentlichen Dienstes ist unabdingbar.Wir haben die Gelegenheit, das Bundeswehrreform-Begleitgesetz auch im Rahmen der Anhörung miteinan-der zu diskutieren. Ich bin mir im Moment bei der Be-wertung des vorgestellten Instrumentariums nicht sicher,ob es tatsächlich zu dem gewünschten Effekt kommt,also Freiwillige ausscheiden, und die Bundeswehr dieangestrebte zahlenmäßige Stärke erreicht.Aber deswegen führen wir die Beratungen. Ich sagejedenfalls vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion einekonstruktive Begleitung zu.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Lieber Kollege Fritz Rudolf Körper, ich finde essehr gut, dass sich etwas fortsetzt, was in anderen Berei-chen schon sehr gut praktiziert worden ist, nämlich dasswir gerade im Verteidigungsbereich versuchen, einenmöglichst breiten Konsens in diesem Hause zu erzielen.In diesem Fall geht es darum, die Neuausrichtung derStreitkräfte auf den Weg zu bringen.
Wenn man sich einmal die Situation anschaut, stelltman fest: Unsere Soldatinnen und Soldaten haben inzwi-schen fast 20 Jahre Erfahrung in internationalen Aus-landseinsätzen. Sie sind wesentlicher Teil der Sicher-heitsarchitektur nicht nur Deutschlands, sondern auchder gesamten Welt geworden. Ich glaube, dass Deutsch-land an dieser Stelle sehr stolz auf seine Streitkräfte seinkann, weil sie unter Beweis gestellt haben, dass sie denParadigmenwechsel – weg von der klassischen Landes-verteidigung und hin zu den Einsätzen zur Krisenbewäl-tigung und Krisenprävention – in hervorragender Artund Weise hinbekommen haben.
Wir haben an dieser Stelle natürlich auch einige Leh-ren aus diesen Erfahrungen mit einer Armee im Einsatzzu ziehen. Ein wesentlicher Aspekt war die Entschei-dung dieser Koalition, die Bundeswehr einer Strukturre-form zu unterziehen, die zwei besondere Ziele hat: Zumeinen soll sie die Flexibilität der Streitkräfte erhöhen,und zum anderen soll sie vor allen Dingen die Einsatzfä-higkeit erhöhen. Das hat sich insbesondere in den Vertei-digungspolitischen Richtlinien niedergeschlagen; nachden Festlegungen des Verteidigungsministers soll dieZahl der einsatzfähigen Soldatinnen und Soldaten auf10 000 erhöht werden.
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Elke Hoff
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Das bedeutet aber auch, dass wir die nötigen Mittelfreisetzen müssen, um dieser Aufgabe gerecht zu wer-den. Wenn wir einmal in die Streitkräfteplanungen unse-rer Bündnispartner schauen, aber auch über das Bündnishinaus schauen, so können wir feststellen, dass es aktuellkeine Streitkräfte gibt, die nicht einer Umstrukturierung,einer Reduzierung, einer Transformation der Aufgabenunterzogen werden. Das heißt, die Bundeswehr befindetsich in einem Prozess, der auch an anderer Stelle stattfin-det.Das Entscheidende ist, was wir an Signalen setzen.Deswegen kann ich dem Minister nur zustimmen, dergesagt hat, dass das Bundeswehrreform-Begleitgesetzeigentlich der Kern unserer Anstrengung sein muss. Wirmüssen einerseits versuchen, den Soldatinnen und Sol-daten, die ausscheiden müssen, das Gefühl zu geben,dass wir immer noch für sie da sind, für sie sorgen undihnen den Übergang so leicht wie möglich machen, undandererseits – das hat der Kollege Körper sehr richtig be-tont – müssen wir denen, die bei den Streitkräften blei-ben sollen, das Gefühl geben, dass der Dienst in denStreitkräften, in einer Freiwilligenarmee ein attraktiverist.Wir haben durch den jetzt vorliegenden Gesetzent-wurf der Bundesregierung einen Rahmen bekommen,der in die richtige Richtung geht. Ich mag diesen Aus-druck zwar nicht, aber in dem Fall passt er sehr gut. Nur,wir glauben, dass wir an der einen oder anderen Stelledie Anreize doch noch ein Stück weit erhöhen sollten.Wenn wir in diesem Hause einen möglichst breiten Kon-sens dazu hinbekommen, wäre das das richtige Signal inRichtung unserer Parlamentsarmee.
Wir als liberale Fraktion sind beispielsweise der Auf-fassung, dass die Hinzuverdienstgrenzen nicht nur ange-hoben werden, sondern möglichst völlig entfallen sollen.Wir halten das für einen wesentlichen Anreiz für Männerund Frauen, ihren Weg wieder in den zivilen Beruf hi-nein zu finden.Ich möchte an dieser Stelle noch einen weiteren As-pekt mit ins Gespräch bringen, obwohl das nicht origi-näre Aufgabe des Bundeswehrreform-Begleitgesetzesist, nämlich dass wir an anderer Stelle versuchen, gesetz-geberisch das Thema „Portabilität von Versorgungsan-sprüchen, von Rentenansprüchen“ zu regeln, um hier ei-nen möglichst großen Anreiz zu schaffen, damit dasnotwendige Ziel der Reduzierung der Streitkräfte amEnde auch zu erreichen ist.Dass das Thema Attraktivität ganz oben auf derAgenda steht, ist klar. Insbesondere bei der Attraktivi-tätssteigerung durch Vereinbarkeit von Familie undDienst haben wir noch eine Menge zu tun. Es sind guteAnsätze gemacht worden, aber wenn die Reform so weitabgeschlossen sein wird, muss nach unserer Auffassungnatürlich auch darüber nachgedacht werden, mindestensan den großen Standorten eine substanzielle Kinderbe-treuung zu schaffen, damit für Soldatinnen, die wir inZukunft für die Freiwilligenarmee brauchen, aber auchfür Soldaten wirklich ein Anreiz besteht.
Ich glaube – die meisten unserer Kollegen bekommendas bei ihren Truppenbesuchen mit ins politischeMarschgepäck –, dass viele junge Menschen gerne die-nen möchten, aber natürlich auch Familie haben undKinder in die Welt setzen möchten. Gerade wir als Ge-sellschaft sind besonders darauf angewiesen, dass jungeMenschen bereit sind, für Nachwuchs zu sorgen, da nurso unsere Gesellschaft fortbestehen kann. Ich denke,dass an dieser Stelle die Bundeswehr als großer Arbeit-geber ein großes, gutes und wichtiges Signal setzenkann.Ich gehe davon aus, dass wir uns im Rahmen der par-lamentarischen Beratung auch nach der Anhörung da-rauf verständigen werden, welche Dinge wir möglicher-weise am Gesetz nachjustieren müssen, wir also unsereparlamentarischen Hausaufgaben machen. Ich bin zuver-sichtlich, dass wir das Ziel erreichen werden, unserenSoldatinnen und Soldaten sowie den Zivilbeschäftigtendas Gefühl zu geben, dass wir nicht nur im Dienst für siesorgen, sondern auch dann, wenn sie den Dienst verlas-sen wollen.Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam-keit.
Das Wort hat nun Paul Schäfer für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir spre-chen über einen weiteren Baustein zur Umsetzung derBundeswehrreform. Bisweilen hat man von einem gro-ßen Wurf gesprochen. Wenn wir nun in die Detailsschauen, dann erscheint vieles doch eher unausgegoren,kurzsichtig, ja klein.Sie haben jetzt 1,3 Milliarden Euro mehr für dieDurchsetzung der Reform zur Verfügung. Trotzdembleibt das, was Sie vorlegen, hinter einem nötigen sozial-verträglichen Personalabbau weit zurück. Bis 2017 sol-len circa 20 000 Dienstposten bei den Soldatinnen undSoldaten wegfallen, bei den Zivilbeschäftigten sind escirca 30 000.Wir sprechen jetzt über ein Gesetz, das die Vorausset-zungen dafür schaffen soll, dass insgesamt 2 170 Berufs-soldatinnen und -soldaten in den Ruhestand versetztwerden sollen bzw. können. Beim Zivilpersonal sollen es1 050 Beamtinnen und Beamte sein.Selbst wenn ich die natürliche Fluktuation in Rech-nung stelle, also diejenigen, die in diesem Zeitraum oh-nehin altersbedingt ausscheiden, reicht das nicht aus, umIhre eigenen Vorgaben zu erreichen. Das sagen Ihnenauch die Berufsverbände bzw. der BundeswehrVerband.Sie gehen darüber hinweg und ignorieren es. Hier muss
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Paul Schäfer
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noch nachgebessert werden. Der Vorschlag, man be-komme das Problem gelöst, indem man Personal einfachin andere Behörden verschiebt – ob das zweckmäßig ist,lasse ich einmal außen vor –, ist nichts anderes als Ross-täuscherei; denn auch dann muss es vom Steuerzahlerbezahlt werden.Offensichtlich scheinen Sie, was die sozialverträgli-che Reduzierung des Personalkörpers betrifft, über Ihreeigenen ideologischen Dogmen zu stolpern, sprich:Rente erst ab 67.
Dies verhinderte offensichtlich großzügige Vorruhe-standsregelungen. Auch die Regelung zu den Hinzuver-dienstgrenzen kann man nur kleinkariert nennen.Mit Ihrem Gesetz geraten Sie in trübe Gewässer,wenn Sie nun zivile Dienststellen mit Militärs besetzenwollen. Die Bundeswehrverwaltung ist nicht ohneGrund zivil ausgerichtet. Es ging und es geht darum, ne-ben der strikten Militärlogik eine etwas andere Organisa-tionskultur im Bereich der Streitkräfte zu etablieren. Daswar eine Folgerung aus der deutschen Militärgeschichte.Das wollen Sie nun offensichtlich schleichend aushe-beln, weil es bequemer für Sie ist und Sie die gesamteBundeswehr auf Einsatzarmee trimmen wollen.Ich kann dazu nur sagen: Art. 87 b Grundgesetz regelteine klare Aufgabentrennung. Lassen Sie die Finger vondiesem Grundgesetzartikel! Das kann man Ihnen nur ra-ten.
Wir sprechen hier, liebe Kolleginnen und Kollegen,über die Umsetzung der Reform, wir müssen aber auchüber die Ziele der Reform sprechen. Wenn man schon al-les neu strukturiert, dann hätte am Anfang stehen müs-sen, alles auf den Prüfstand zu stellen, also sozusageneine kritische Betrachtung der Militäreinsätze der letzten20 Jahre. Von einer solchen kritischen Revision des Auf-trags der Streitkräfte kann keine Rede sein. Ihr Motto ist:Weiter so, nur effektiver!Die Linke bleibt dabei: Der wichtigste Einsatz der letz-ten zehn Jahre war Afghanistan. Das ist wahrlich keineBlaupause für die Zukunft; im Gegenteil. Auch die ande-ren Einsätze sind – ich drücke mich vorsichtig aus – nichtnachhaltig erfolgreich. Deshalb schließt sich an dieserStelle der Kreis. Die Ausrichtung auf diesen globalen Mi-litärinterventionismus hat einen Preis. Sie verschlingt vielGeld. Mit anderen Worten: Vom Ausgangspunkt IhrerReform, zu sparen und zur Haushaltskonsolidierung bei-zutragen, redet keiner mehr. Wir jedoch sind nach wie vorder Meinung, man sollte an der richtigen Stelle sparen.Das ist immer gut.
Ihre Hauptsorge ist: Wie kriegen wir das nötige Per-sonal für die künftige Bundeswehr? Unsere Hauptsorgeist: Was machen Sie mit den Menschen? Wir reden vielüber Attraktivitätssteigerung. Es ist nicht alles falsch,was Sie auf den Weg bringen. Aber Attraktivität undAuftrag gehören zusammen. Das sagen Ihnen auch dieStudien des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bun-deswehr. Soldatinnen und Soldaten müssen von derSinnhaftigkeit ihrer Arbeit überzeugt sein. Dort hapert esvor dem Hintergrund der Erfahrungen in Afghanistanoder anderswo. Auch das zeigen die Studien.
Die Zweifel wachsen. Hier müsste die Reform ansetzen –also zurück zum Verteidigungsauftrag, Beendigung derAuslandseinsätze. Das wäre zukunftsweisend.Danke.
Das Wort hat nun Agnes Brugger für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrMinister, nachdem Ihr Vorgänger im Amt den Reform-prozess mit einer überaus hektischen Ankündigungspoli-tik von Anfang an ins Trudeln gebracht hat, weckte Ihrestrukturierte Herangehensweise zunächst Hoffnung.
Eine Hoffnung muss jedoch auch erfüllt werden, unddazu komme ich jetzt.Sie konnten – und wollten vielleicht auch – nicht aus-bügeln, was von Beginn an falsch gemacht wurde. Die-ser Reform fehlt nämlich die grundsätzliche Basis, diebreite gesellschaftliche Diskussion über die zukünftigenAufgaben der Bundeswehr und über die Grenzen desMilitärischen.
Dennoch gab und gibt die Regierung die Parole aus,dass diese Reform der große Wurf wird. Das haben Sie,Herr Minister, nicht nur heute, sondern auch im vergan-genen Jahr anlässlich der Vorstellung der Eckpunkte derNeuausrichtung sehr deutlich gemacht. Ihre Ankündi-gungen vor einem Jahr und auch in Ihrer heutigen Redeklingen dabei ein bisschen wie bei der Werbung für dasÜberraschungsei: Gleich drei Wünsche auf einmal wol-len Sie erfüllen. Sie wollten Verbesserungen für die brin-gen, die kommen sollen, für die, die gehen müssen, unddie, die bleiben wollen und sollen. SozialverträglicherPersonalabbau und Maßnahmen zur Attraktivitätssteige-rung sollten ineinander greifen und sich zu einem rundenGanzen fügen.Was Sie uns bis heute präsentieren, ist aber keinerunde Sache. Stattdessen bieten Sie vor allem den rang-niederen Soldatinnen und Soldaten und den Zivilange-stellten der Bundeswehr einen Sack voll bitterer Pillen.Zuckerstückchen gibt es in diesem Gesetz in erster Liniefür Ihre Spitzenkräfte.
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Agnes Brugger
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Noch vor einem Jahr war die Rede von zu vielen Stä-ben und zu vielen Generalssternen. In der Berichterstat-tung wurde daraus die Formel „Zu viele Häuptlinge undzu wenig Indianer“. Hier Abhilfe zu schaffen, war Ihnenein dringendes Anliegen, Herr de Maizière. Und dochliegt ein Fokus dieses Gesetzentwurfes auf der Schaf-fung diverser neuer hochdotierter Spitzenpositionen fürmilitärische und zivile Verwaltungskräfte. Das ist nichtverhältnismäßig. Wir fordern Sie dringend auf, dies nocheinmal zu überdenken.
Die Bundeswehr muss und sollte kleiner werden. Dasist unumgänglich. Diese Verkleinerung wollten Sie soschonend, so sozialverträglich wie möglich gestalten.
Dieses Ziel kritisieren wir ganz und gar nicht. Aber un-sere Zweifel, ob Sie mit den hier vorgeschlagenen In-strumenten dieses Ziel sozialverträglich erreichen, sindgroß. Für sehr gut ausgebildete Soldatinnen und Solda-ten, für Experten und Spezialisten, erleichtern Sie denWechsel zu anderen Arbeitgebern. Aber diese wollen Siein der Regel gar nicht gehen lassen. Ihr Angebot für denvorzeitigen Ruhestand wiederum kann man kaum als at-traktiv bezeichnen.Sträflich vernachlässigt haben Sie entgegen Ihrer Be-hauptung in Ihrer Rede in diesem Gesetz diejenigen, diebleiben wollen und sollen. Sie behaupten, dass Sie we-sentliche Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivitätbereits vor diesem Gesetz auf den Weg gebracht haben.Das sehe ich anders. Ein ganzheitliches Konzept zur Stei-gerung der Attraktivität haben Sie noch nicht auf denWeg gebracht. Vor allem scheinen Sie zu glauben, dassman mit Geld alle Mängel heilen kann. Aber selbst wenndie Tätigkeit bei der Bundeswehr noch so gut bezahltwäre, würde das die Unzufriedenheit zum Beispiel überüberbordende Hierarchien, die schlechte Vereinbarkeitvon Familie und Dienst oder den bürokratischen Dschun-gel nicht abstellen.
Wenn Sie wirklich attraktive Rahmenbedingungen beider Bundeswehr wollen, müssen Sie sich genau an dieseMängel heranwagen, und das besser gestern als heute.Sie wollten den großen Wurf erreichen, auch in Sa-chen Attraktivität. Dieser Gesetzentwurf ist aber nachdem monatelangen Hin und Her zwischen den Ressortsschließlich nur ein halbherziger Kompromiss geworden.Alle wesentlichen Artikel in diesem Entwurf stellen Siezudem von vornherein zur Disposition. Auf Verlässlich-keit können die Bundeswehrangehörigen so bis 2014warten.So bleibt dieser Vorschlag insgesamt leider weit hin-ter den großen Worten des vergangenen Jahres zurück.Um es noch einmal klarzustellen: Grundsätzlich würdenwir Sie gern bei dem Anliegen unterstützen, die Bundes-wehr kleiner und zu einem besseren Arbeitgeber zumachen. Dafür muss aber in den kommenden Beratun-gen an etlichen Stellen nachgebessert werden. Wirwerden den weiteren Prozess kritisch und mit eigenenVorschlägen begleiten.Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile
ich dem Kollegen Henning Otte für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Bundeswehr – das haben wir gemeinsamfestgestellt – befindet sich in der wohl größten Struktur-reform ihrer Geschichte. Ziel ist es, Strukturen zu errei-chen, die unsere Streitkräfte in die Lage versetzen, inter-nationale Einsätze im Rahmen einer Mandatierungbesser bewältigen zu können.Dieser Umbruch ist sicherheitspolitisch begründet,fraktionsübergreifend gewollt und notwendig. DieseReform zielt darauf ab, mit effektiven Strukturen eineverbesserte Einsatzausrichtung zu gewährleisten. LieberPaul Schäfer – weiter so, aber nur effektiv. Genau so istes. Die Bundeswehr ist eine Erfolgsgeschichte. Wir le-ben in einem friedlichen, freiheitlichen Europa, in demjeder seine Meinung sagen darf; ich betone: jeder, unddas ist gut.
Nach den elementaren Entscheidungen zu Auftragund Umfang der Streitkräfte sowie zur Stationierungwerden nun weitere Bausteine dieser großen Reformumgesetzt. Bis zum Sommer soll die sogenannte Fein-ausplanung erfolgen, sie soll also zügig erfolgen. Ich bindem Minister sehr dankbar, dass er dieses Tempo vor-legt, um möglichst schnell eine Perspektive zu entwi-ckeln. Es geht darum, die Strukturen an den Standortenebenso wie die persönlichen Laufbahnwege der einzel-nen Soldatinnen und Soldaten und zivilen Mitarbeiterauszuplanen.Eine solch tiefgreifende Strukturreform bringt natur-gemäß viele Veränderungen mit sich. Es ist verständlich,dass es in Zeiten des Umbruchs gelegentlich Unruhegibt, da sich viele Angehörige und Familien Gedankenüber ihre Zukunftsplanung machen. Deswegen ist esumso wichtiger, dass wir jetzt möglichst mit einer brei-ten Mehrheit dieses Reformbegleitprogramm parallel zurFeinausplanung umsetzen, um klare Perspektiven zu er-möglichen. Mit dem Bundeswehrreform-Begleitgesetzschaffen wir eine notwendige gesetzliche Regelung, umdem Dienstherrn bei der Umsetzung der Bundeswehr-strukturreform erweiterte Möglichkeiten zur Personal-anpassung und Attraktivitätssteigerung zu eröffnen.Mehrere Instrumente der Personalanpassung sind vonMinister Dr. de Maizière schon dargestellt worden. Sogibt es die Möglichkeit zu Beurlaubungen und anderwei-
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Henning Otte
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tigen Verwendungen in anderen Behörden. Das ist einegute Maßnahme, weil dadurch viele Fachkräfte gehaltenwerden, die weiterhin in Behörden ihren Dienst tun kön-nen. Die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand kanngewählt werden, wenn es notwendig oder gewünscht ist.Weiterhin gibt es die Möglichkeit für Ausgleichszahlun-gen und Verpflichtungsprämien oder Erweiterungen derBerufsförderungsansprüche.Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Katalog ent-hält weitreichende Handlungsfelder zur Gestaltung derPersonalstrukturen. Diese Gestaltungsmöglichkeiten sindnicht klein, lieber Paul Schäfer, vielmehr sind sie sehr de-tailliert. Dieser Gesetzentwurf ist das Mittel zur Umset-zung der Strukturreform. Daher müssen wir im parlamen-tarischen Verfahren jetzt genau prüfen, wie zielführenddie vorgeschlagenen Maßnahmen wirken. Die am 7. Maistattfindende Anhörung gibt uns eine gute Gelegenheitzur Erörterung, die wir nutzen sollten, um zu einem brei-ten parlamentarischen Konsens zu kommen.
Dieses Gesetz muss so attraktiv ausgestaltet sein, dassSoldaten und zivile Mitarbeiter bereit sind, eine verläss-liche Berufsplanung zugunsten einer neuen Perspektivebei Bedarf aufzugeben. Dieses Gesetz muss auch dazuermutigen, diesen Schritt zu wagen. Das ist häufig nurdann möglich, wenn ein Weg finanziell abgesichert istund finanzielle Verbindlichkeiten – mag es die Ausbil-dung der Kinder oder die Abzahlung von Krediten sein –weiterhin beherrschbar bleiben. Nach erster Prüfung desGesetzentwurfs gibt es gute Möglichkeiten, um diesenWeg zu gehen. Aber es hat sich in der Debatte gezeigt,dass wir weitere Punkte diskutieren sollten. ErsterPunkt: Der Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen. HerrMinister de Maizière hat ihn aufgegriffen; Frau Hoff hatihn dargestellt. Das ist ein wirklich wichtiger Punkt, dervielleicht in ganz unbürokratischer Weise angegangenwerden könnte und eine gute Maßnahme sein könnte.Zweiter Punkt: die Erhöhung der Einmalzahlung. DritterPunkt: die Überprüfung der Altersbänder.Meine Damen und Herren, die Arbeit in den Streit-kräften kann – anders als Sie, Herr Körper, es dargestellthaben – nicht mit anderen Tätigkeiten im Staatsdienstgleichgesetzt werden. Die besonderen Härten des Solda-tenberufes, wie häufige Versetzungen und vor allemGefahren für Leib und Leben, rechtfertigen besondereMaßnahmen und eine besondere Fürsorge. Das Bundes-wehrreform-Begleitgesetz muss daher nicht nur auf die-jenigen angelegt sein, die die Bundeswehr verlassen,sondern auch auf diejenigen, die wir im Dienst haltenwollen, und vor allem auf diejenigen, die wir gewinnenwollen.Dieser Gesetzentwurf ist ein Meilenstein auf demWeg zur zukünftigen Zielstruktur der neuen Bundes-wehr. Mit diesem Gesetz und den vorgeschlagenenÜberprüfungen kann es uns gelingen, eine schnelle, ein-satzorientierte und sozialverträgliche Personalanpassungzu schaffen, damit die Bundeswehr auch zukünftig einattraktiver Arbeitgeber ist. Dafür gehen wir jetzt in dieparlamentarische Beratung. Es wäre gut, wenn wir amEnde eine breite parlamentarische Mehrheit dafür hätten.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9340 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatz-
punkt 5 auf:
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Feste Fehmarnbeltquerung auf den Prüfstand –
Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit dem
Königreich Dänemark verhandeln
– Drucksache 17/8912 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Chancen und Risiken ergebnisoffen bewerten –
Verhandlungen mit dem Königreich Däne-
mark über den Ausstieg aus dem Staats-
vertrag über den Bau einer festen Fehmarn-
beltquerung aufnehmen
– Drucksache 17/9407 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Herbert
Behrens für die Fraktion Die Linke das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieUrlauber an der Ostseeküste Schleswig-Holsteins kön-nen sich auf ein neues Angebot einstellen: Statt Meeres-rauschen hören sie ab 2022 donnernde Güterzüge, die anihnen vorbeifahren. 300 000 Übernachtungen im Lärm-korridor: So heißt dann das neue Angebot. Autofahrernehmen künftig nicht mehr die Fähre, sondern zahlen70 Euro Maut und fahren durch den neu gebauten Tun-
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Herbert Behrens
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nel nach Dänemark. Dieses Zukunftsangebot kostet dieSteuerzahler rund 10 Milliarden Euro.
Jetzt können wir uns noch entscheiden, ob wir daswollen. Ich möchte das nicht; denn es gibt heute guteFährverbindungen für Personenzüge und Autos zwi-schen Deutschland und Dänemark. Die Güterzüge fah-ren seit 1997 über den Schienenweg entlang der Jütland-Route; er liegt weit weg von den Tourismusgebieten ander Ostseeküste Schleswig-Holsteins.
Die Linke unterstützt also die Forderung der Gegner ei-ner festen Fehmarnbelt-Querung. Wir brauchen diesesVerkehrsprojekt, das teuerste Europas, nicht.
Sehr geehrte Damen und Herren der Regierungsfrak-tionen, mit unserem Antrag bauen wir Ihnen im wahrs-ten Sinne des Wortes eine Brücke. Das DialogforumFeste Fehmarnbeltquerung muss so gestaltet werden,dass es wirklich alle Fragen bearbeiten kann.
Dazu braucht es mehr Geld. 100 000 Euro reichen nichtaus, wenn 70 000 Euro davon allein für den Personalauf-wand draufgehen. Bürgerinnen und Bürger fordern echteBeteiligung, und das ist ihr demokratisches Recht.
Wenn sich bei der Prüfung herausstellen sollte, dassdie Nachteile des Projekts Belt-Querung größer sind alsdie Vorteile, dann muss mit der dänischen Regierungüber den Ausstieg verhandelt werden.
Genau das wurde im Staatsvertrag zwischen Deutsch-land und Dänemark beschlossen. Dort heißt es in Art. 5Abs. 4:Sollten die Voraussetzungen für das Projekt oderfür Teile des Projekts sich deutlich anders entwi-ckeln als angenommen und anders, als es zum Zeit-punkt des Abschlusses des Vertrages bekannt ist,werden die Vertragsstaaten die Lage aufs Neue er-örtern. Dies gilt unter anderem für wesentlicheKostensteigerungen im Zusammenhang mit denHinterlandanbindungen.
In Art. 22 Abs. 2 heißt es weiter:Die finanziellen Verpflichtungen der Bundesrepu-blik Deutschland betreffen in jedem Fall nur diedeutschen Hinterlandanbindungen.Dass sich die Voraussetzungen deutlich verändert haben,das können wir doch schon heute feststellen. Wir wissendas auch, wenn wir ehrlich gegenüber uns selbst sind.
Ursprünglich war eine Schrägkabelbrücke geplant,heute soll es ein Absenktunnel werden.
Die Verkehrsprognosen für den Schienengüterverkehrwerden halbiert. Was kostet der Spaß? 1996 betrug dieKostenschätzung für eine Brücke rund 2,9 MilliardenEuro.
2011 liegen die Kosten bei rund 5,5 Milliarden Euro füreinen Tunnel.
Wenn das keine wesentlichen Kostensteigerungen sind.
– Die mautpflichtigen Autofahrer.
– Ich spreche über die wesentlichen Kostensteigerungen.
– Ich rede über die Bedingungen, wann die Vertragspart-ner wieder in Gespräche eintreten. Beide Seiten habenwesentliche Kostensteigerungen zu verzeichnen. Das istein Grund, in die Verhandlungen einzusteigen, um die-sem Projekt ein Ende zu bereiten.
Wenn wir die Situation auf der deutschen Seite be-trachten, dann stellen wir fest: Das setzt sich nahtlos fort.Auch die Kalkulation für die Anbindung auf der deut-schen Seite ist nicht mehr zu halten. Der Bundesver-kehrsminister will zwar immer noch für 817 MillionenEuro bauen, aber der Bundesrechnungshof rechnet in-zwischen mit 1,7 Milliarden Euro, 231 Millionen Eurokommen noch obendrauf, wenn Umgehungstrassen mit-einbezogen werden müssen. Die Hinterlandanbindungsoll dann nicht 2018 fertig werden, sondern erst 2022;das sagt Bahnchef Grube. Wir wissen doch, dass beiGroßprojekten die Kosten nicht sinken, wenn der Bauspäter fertig wird, oder?Jetzt haben wir noch die Chance, den Kurs zu ändern.Wir wollen den Staatsvertrag ernst nehmen und mit derdänischen Regierung verhandeln.
Das wollen die Bürgerinnen und Bürger auch und for-dern es zu Recht ein. Wir sagen: Das Projekt feste Feh-marnbelt-Querung ist von gestern. Wir wollen nicht,dass Milliarden in die Ostsee gekippt werden.Vielen Dank.
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Das Wort hat Gero Storjohann für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der festenFehmarnbelt-Querung schaffen wir eine Direktverbin-dung zwischen Skandinavien und Kontinentaleuropa.
Die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellenChancen dieses Verkehrsprojektes sind immens.
Aber leider wird diese Tatsache nicht von allen Fraktio-nen hier im Bundestag so gesehen.
Deswegen werden hier laufend Anträge vorgelegt. Dasist legitim, keine Frage, das kann man immer wiederwiederholen, aber es ist nicht besonders originell, washier passiert.Mit dem geplanten 17,6 Kilometer langen Absenk-tunnel durch den Fehmarnbelt wächst Nordeuropa zu-sammen. Eines möchte ich sagen, Herr Behrens: Es istein starker Wunsch der Dänen und der Schweden, dassdieses Projekt kommt. Wir als Deutsche gehen ihnen ei-nen Schritt entgegen und ermöglichen ihnen, innerhalbvon Europa dichter an uns heranzurücken. Das sollteman nicht kleinreden.
Wir als CDU/CSU-Fraktion bestätigen ihnen heutegerne wieder aufs Neue: Wir sind uneingeschränkt Part-ner für die feste Fehmarnbelt-Querung. Wir wollen dendeutsch-skandinavischen Ballungsraum für Wirtschaftund Wissenschaft in der Fehmarnbelt-Region. Wir wol-len die hierdurch entstehenden Arbeitsplätze für dieMenschen in Schleswig-Holstein und darüber hinausgenerieren, während der Bauphase und auch nach In-betriebnahme des Tunnels.
Deshalb haben wir in der Großen Koalition, HerrHacker, den Staatsvertrag zwischen Deutschland undDänemark auf den Weg gebracht, unterschrieben vomVerkehrsminister Tiefensee, SPD,
und auch angeschoben von vielen schleswig-holsteini-schen Landespolitikern.Ich nenne hier auch den Ministerpräsidenten PeterHarry Carstensen.
Anschließend haben Bundestag und Bundesrat demGesetz zum Staatsvertrag im Juni und im Juli 2009 zuge-stimmt. Es gab also eine breite politische Mehrheit inDeutschland. Ich sage in Klammern: In Dänemark ist diepolitische Mehrheit noch größer. Deshalb sehe ich nichtden Ansatz einer Chance, zu Verhandlungen zu kom-men, wenn ein Partner überhaupt nicht will, sondern die-ses Projekt als Chance sieht.
Die Kollegen haben es Ihnen schon entgegenge-schleudert: Diese Querung wird in erster Linie durchMauteinnahmen finanziert.
Das heißt, das Risiko liegt beim dänischen Staat undbeim Konsortium. Die Finanzierung wird von Dänemarksichergestellt.
Wir sind der festen Überzeugung, dass das funktioniert.Sie haben deutlich gemacht, dass Sie das nicht sind. Ak-zeptieren Sie, dass die politischen Mehrheiten hier nuneinmal anders sind.Deutschland ist nur verpflichtet, die Hinterlandanbin-dung auf deutscher Seite sicherzustellen. Dafür verzich-ten wir im Gegenzug – das ist schade – auf die Mautein-nahmen. Es entsteht aber auch Infrastruktur in Schles-wig-Holstein. Das heißt, es werden Schienenwege ge-baut. Die Grünen, Herr von Notz, haben gesagt: Wirmöchten gerne die Strecke Neumünster–Bad Oldesloezweigleisig ausbauen. Das ist wunderbar. Da soll der ge-samte Jütlandverkehr durchgehen. Das heißt, die Vor-schläge, die Sie hier vorbringen, haben auch Belastun-gen in anderen Regionen zur Folge. Tun Sie nicht so, alswenn alles schön wäre, wenn wir auf das Projekt Feh-marnbelt verzichten würden.
Die Überfahrt mit dem Zug wird nur noch sieben Mi-nuten dauern. Es wird eine leistungsfähige Nord-Süd-Verkehrsachse entstehen, auf der Waren schneller als je-mals zuvor zwischen Nord- und Zentraleuropa transpor-tiert werden können. Das wollen die Schweden und dieDänen. Aus diesem Grunde hat auch die EuropäischeKommission die Fehmarnbelt-Querung als ein vorrangi-ges Projekt in die Transeuropäischen Netze mit aufge-nommen. Auch die Menschen vor Ort werden davonprofitieren. Es werden zusätzliche Arbeitsplätze entste-hen, und es wird eine vernetzte Region Malmö-Kopen-hagen-Hamburg entstehen. In diesem Gebiet wird sich
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Gero Storjohann
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über die Jahrzehnte hinweg etwas Schönes entwickeln.Dazu sollte man auch ein bisschen Hoffnung und Fanta-sie haben.
Es ist eine fantastische Vorstellung, meine Damenund Herren, dass ich zukünftig ganz schnell von Ham-burg aus in Kopenhagen sein kann. Aus Schleswig-Hol-stein komme ich schneller nach Kopenhagen als nachHannover. Das ist schade für Hannover. Ich meine aber,dass wir die Dimensionen betrachten müssen, die wirAnfang 2021 haben werden. Wir werden diese Streckedann in drei Stunden schaffen.Wir haben auch mit den Grünen in Dänemark gespro-chen. Das alles wissen Sie. Die Grünen in Dänemark sa-gen: Natürlich gibt es eine CO2-Ersparnis, wenn wir die-ses Projekt verwirklichen.
Meine Damen und Herren, mit dem Baubeginn ist imSommer 2015 zu rechnen. Darauf freuen wir uns schon.Wir hätten gerne ein bisschen eher begonnen. Auf deranderen Seite haben wir dadurch die nötige Luft, für dieFertigstellung unserer Hinterlandanbindung im LandSchleswig-Holstein zu sorgen. Wir wissen: Das Geld istknapp. Aber wir haben die feste Zuversicht, dass uns dasgelingen wird. Linken und Grünen wird es nicht gelin-gen, die feste Fehmarnbelt-Querung zu verhindern. Esgibt viele überzeugende Argumente für die Querung.Diese guten Argumente werden wir Ihnen im Ausschussgerne noch einmal vortragen.2021 ist Eröffnung. Man kann jetzt schon anfangen,sich auf diese deutsch-dänische Einweihungsveranstal-tung zu freuen.
Das Wort hat nun Hans-Joachim Hacker für die SPD-
Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir führen zu so später Stunde eine Dis-kussion, die wir eigentlich vor einem halben Jahr garnicht mehr erwartet hätten; denn wir meinten, wir hättenmit der Entscheidung am 18. Juni 2009 alles Maßgebli-che entschieden. Scheinbar gibt es aber noch Diskussi-onsbedarf.Meine Damen und Herren, bei den Juristen gibt es ei-nen alten Grundsatz, der lautet: Ein Blick ins Gesetz er-leichtert die Rechtsfindung. In abgewandelter Formkönnte man diesen Grundsatz auch bei diesen beidenAnträgen anwenden. Die zentrale Forderung in beidenAnträgen betrifft die Nachverhandlungen zum Staatsver-trag zwischen dem Königreich Dänemark und der Bun-desrepublik Deutschland über eine feste Fehmarnbelt-Querung, nicht über eine Brücke und nicht über einenTunnel, sondern über ein Querungsbauwerk. Darüber hatder Deutsche Bundestag, wie gesagt, am 18. Juni 2009eine Entscheidung getroffen. Er hat diesen völkerrechtli-chen Vertrag ratifiziert. In beiden Anträgen wird gefor-dert, über einen Ausstieg aus diesem Staatsvertrag mitdem Königreich Dänemark zu verhandeln. Dazu gehö-ren aber zwei Partner und nicht nur einer. Der zweitePartner sieht aber gegenwärtig und, wie ich vermute,auch künftig keinen Anlass. Deswegen sind die beidenAnträge leider
für die Luft geschrieben.
Herr Behrens, seit Mitte der 90er-Jahre hat jede deut-sche Bundesregierung mit Dänemark über dieses Ver-tragswerk verhandelt. Wir haben im deutschen Parla-ment, im Deutschen Bundestag, insbesondere in denJahren 2008 und 2009 eine sehr intensive Diskussion da-rüber geführt. Sie verlief nicht konfliktfrei, auch in derSPD-Bundestagsfraktion nicht. Wir haben schon damalsüber all die Fragen diskutiert, die Sie heute wieder auf-werfen.Wie sieht die Sach- und Rechtslage nun tatsächlichaus? Was steht im Staatsvertrag zu Änderungen der ge-schlossenen Vereinbarung? Herr Behrens, Sie habenArt. 22 Abs. 2 des Vertrages zitiert. In Art. 5 Abs. 4 stehteine Regelung zu den Hinterlandanbindungen. Der Textaus Art. 5 Abs. 4 findet sich im Übrigen in Art. 22 Abs. 2des Vertrages wieder. Der zentrale Kern dieser Vereinba-rung lautet:Die Vertragsstaaten unternehmen alles in ihrerMacht Stehende, um das Projekt gemäß den Annah-men zu verwirklichen.
Sollten die Voraussetzungen für das Projekt oderfür Teile des Projekts sich deutlich anders entwi-ckeln als angenommen und anders, als es zum Zeit-punkt des Abschlusses des Vertrags bekannt ist,werden die Vertragsstaaten die Lage aufs Neue er-örtern.Dafür gibt es heute aus unserer Sicht keinen Bedarf.Sie haben gesagt, dass es sich etwas verzögert hat undKostensteigerungen eingetreten sind.
Ja, selbstverständlich. Herr Behrens, jetzt einmal allenErnstes: Haben Sie schon einmal ein Großprojekt inDeutschland, in Europa, in der Welt gesehen, bei dem esbei den kalkulierten Ursprungskosten geblieben ist?Schauen Sie doch einmal zum Berliner Hauptbahnhof.Der Berliner Hauptbahnhof ist noch nicht ganz fertig. Si-cherlich müssen wir darüber diskutieren, ob man beiGroßprojekten einen Kostenindikator einrechnen sollte.Das war bisher aber nie üblich.
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20762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Hans-Joachim Hacker
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Wir sind immer von den Ursprungskosten ausgegangen.Deswegen sind die Argumente, die Sie hier vortragen,nicht überzeugend.Ich sage es noch einmal: Die Grundlagen ergeben sichaus Art. 22 Abs. 1 und 2 des Vertrages. Wir haben hierzumit dem Partner Dänemark verbindliche Absprachen ge-troffen. Wir können die Frage aufwerfen, ob die drei Va-rianten Änderung, Ausstieg oder Ergänzung verfolgtwerden können. Zum Teil wird der Eindruck erweckt– über diese Frage habe ich in dieser Woche mit Men-schen in Schleswig-Holstein diskutiert –, dass Deutsch-land den Ausstieg erklären könnte. Das geht nicht.Streuen Sie den Leuten keinen Sand in die Augen. Dasgeht nicht. Es sind die Konditionen zu erfüllen, die imVertrag stehen – ohne Wenn und Aber.
Herr Behrens, ich muss Ihnen vorhalten, dass Sie imGrunde genommen auf der Grundlage eines Meinungs-bildes diskutieren, das wir vor ungefähr zehn Jahren hat-ten. Vor zehn Jahren waren diese Fragestellungen mehrals berechtigt. 2008 und 2009 sind wir diese Fragen imDetail durchgegangen, und zwar – das habe ich vorhinschon gesagt – in einem streitigen Prozess. Mir kommtes so vor, als ob Ihre Fraktion nicht mit Großprojektenzurecht käme; denn Sie sind ja auch gegen den Ausbauder A 14 zwischen Schwerin und Magdeburg,
obwohl dort ein enormer Bedarf besteht. Das wäre gutfür die Häfen in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, für die Entwicklung der drei betroffenenBundesländer. Das muss man hier einmal ansprechen.
Was richtig ist, muss hier auch einmal gesagt werdenkönnen.
Was kennzeichnet die gegenwärtige Phase? Natürlichhaben wir Verzögerungen. Die Verzögerungen sind kürz-lich in einer Stellungnahme der Firma, die mit den Pla-nungen beauftragt wurde, dokumentiert worden. Jederkann das ausführlich in der Presseerklärung vom 18. Ap-ril 2012 nachlesen. Darin ist das dokumentiert. Dort sindim Übrigen auch die weiteren Schritte im Planungsver-fahren dargestellt. Ich will das hier nicht vorlesen; meineRedezeit gibt das auch nicht her. Ich will nur darauf ver-weisen, dass die Ursachen für die Verzögerung im We-sentlichen darauf zurückzuführen sind, dass deutschesund dänisches Planungsrecht nicht kompatibel, jeden-falls nicht identisch sind, und wir – wie bei anderenGroßvorhaben auch – EU-Recht zu beachten haben.Dies hat viele der Verzögerungen verursacht.Im Zusammenhang mit den Verzögerungen müssenauch die kontroversen Diskussionen beachtet werden,die wir im Jahr 2000 geführt haben. Ich erinnere daran,dass wir über die Verkehrssicherheit und über die Aus-wirkungen auf Flora und Fauna – Stichwort Schweins-wale – diskutiert haben. Wir haben, auch im Hinblickauf die Windeinflüsse, darüber diskutiert, welche Vari-ante günstiger ist, ein Tunnel oder eine Brücke. Wir ha-ben nicht zuletzt darüber diskutiert, ob das Verkehrsauf-kommen den Bau des Querungsbauwerks rechtfertigt.All diese Fragen bis hin zu der Problematik des Wasser-austauschs zwischen Nord- und Ostsee konnten wir da-mals nicht beantworten. Wir waren uns einig, diese Fra-gen in einem Untersuchungsprozess, der zwei, drei Jahredauern sollte, zu klären. Die damaligen Fragen werdenheute untersucht, und die Planungsgesellschaft wird imPlanfeststellungsverfahren und im Umweltverträglich-keitsverfahren weitere Fragen zu beantworten haben.Ich komme noch auf zwei Punkte zu sprechen, die mirsehr am Herzen liegen. Der erste Punkt, der mir wichtigist, betrifft die Frage, wie der Dialog vor Ort weiterge-führt wird. Vor dem Hintergrund der Diskussion überStuttgart 21 und andere Großvorhaben haben wir, denkeich, einen neuen Erkenntnisstand und eine neue Bewer-tung, dass Großvorhaben heute anders begleitet werdenmüssen als vor fünf oder zehn Jahren.
Das ist im Übrigen auch die Auffassung der SPD-Bun-destagsfraktion. Wir haben dazu Vorschläge unterbreitet,und wir werden über diese hier im Parlament in Zukunftweiter diskutieren. Eine Debatte dazu haben wir schongeführt.Die Bundesregierung ist aufgefordert, den Dialog, derdort begonnen hat und meines Erachtens die neue Quali-tät nach Stuttgart 21 nicht widerspiegelt, anders zu ge-stalten. Herr Mücke, das müssen Sie ernsthaft prüfen.Ich bin der Meinung, dass es nötig ist, dass Sie dieseDiskussion mit den Bürgerinnen und Bürgern ausSchleswig-Holstein, insbesondere aus Ostholstein undvon der Insel Fehmarn, anders führen als zu Beginn desProjekts. Dort besteht Unzufriedenheit. Deswegen lautetmein Appell an die Bundesregierung: Wenn Sie den Be-schluss des Deutschen Bundestages zum Bau der festenFehmarnbelt-Querung ernstnehmen, der hier mehrheit-lich getroffen worden ist, dann müssen Sie diesen inSchleswig-Holstein umsetzen.Ein zweiter Punkt ist mir wichtig. Herr Präsident, ichhoffe, ich kann diesen noch vortragen. Dieser transpa-rente Prozess muss auch die Verpflichtungen umfassen,die wir übernommen und bis zur Inbetriebnahme derQuerung bzw. bis zu sieben Jahren nach Inbetriebnahmezu erfüllen haben. Diese Problematik wird meines Er-achtens nicht ausreichend beleuchtet. Herr StaatssekretärMücke, Sie sind der hier anwesende Vertreter des Bun-desverkehrsministeriums.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20763
Hans-Joachim Hacker
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– Sie und Herr Ferlemann. – Sie müssen diesen Prozessinhaltlich gestalten. Sie müssen, wie ich finde, mit denKommunen und den Bürgern vor Ort nochmals über denBedarf, der sich aus Transporten ergibt, diskutieren.Das ändert nichts daran, dass der Staatsvertrag rechts-gültig ist, dass er beständig ist, dass wir gegenwärtigkeine Grundlage sehen, mit Dänemark nachzuverhan-deln oder auf eine Aufhebung des Staatsvertrages zudrängen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich danke Ihnen, Herr Präsident, für das Wohlwollen
und wünsche Ihnen allen, meine Damen und Herren, ei-
nen schönen Abend.
Das Wort hat nun Kollegin Christel Happach-Kasan
für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichdanke meinem Herrn Vorredner dafür, dass er die juristi-schen Sachverhalte noch einmal klargestellt und deutlichgemacht hat, dass es heute nicht um das Ob geht. Diefeste Fehmarnbelt-Querung wird gebaut. Das ist gut fürdie gesamte Region; das ist für Schleswig-Holstein undauch für Dänemark gut. Wir wollen sie.
Voraussetzung für Wohlstand und wirtschaftlichesWachstum ist eine gute Infrastruktur. Zu einer guten In-frastruktur gehört zum einen die Verkehrsinfrastruktur– da sind wir uns einig; darüber sprechen wir heute –,zum anderen gehören dazu aber auch die Energieinfra-struktur und die Kommunikationsinfrastruktur. In allendrei Bereichen haben wir in Schleswig-Holstein noch ei-niges zu tun. Erst in dieser Legislaturperiode hat Schles-wig-Holstein wieder positive Wachstumsimpulse erfah-ren. Die christlich-liberale Regierung mit Peter HarryCarstensen und Dr. Heiner Garg hat zusammen mitWolfgang Kubicki eine ausgesprochen positive Arbeitgeleistet.
Diese gute Arbeit wollen wir in Schleswig-Holstein inder nächsten Legislaturperiode fortsetzen.
Es ist wohl nicht ganz verwunderlich – auch der Kol-lege Hacker hat das gesagt –, dass wir heute über diesesThema diskutieren. Es ist ja Wahlkampf. Bald findenWahlen statt,
und deshalb müssen die Grünen und die Linken nocheinmal deutlich machen, dass sie gegen Infrastrukturpro-jekte sind. Koste es, was es wolle, und schade es demLand, so viel es wolle: Auf jeden Fall sind Sie zunächsteinmal dagegen. Das machen Sie heute deutlich.
Ich glaube, die wenigsten hier erinnern sich noch andas Jahr 1990. 1990 war ein Jahr, in dem Schleswig-Hol-stein in den Länderfinanzausgleich eingezahlt hat. Könntihr euch das noch vorstellen?
Damals hat Schleswig-Holstein tatsächlich in den Län-derfinanzausgleich eingezahlt. Danach gab es ein paarrot-grüne Regierungsperioden, und es war damit vorbei.
Das müsst ihr sehen: Im Moment steht Schleswig-Hol-stein bei einem deutschlandweiten Vergleich an drittletz-ter Stelle. Deswegen ist es gerade für uns in Schleswig-Holstein wichtig, dass wir sparen; das haben wir ge-macht. Natürlich müssen wir aber auch die Einnahme-seite verbessern. Das bedeutet, dass wir insbesondere inVerkehrsinfrastruktur investieren müssen.
Seit Mitte der 90er-Jahre wird in Schleswig-Holsteinüber eine feste Fehmarnbelt-Querung diskutiert. Die Re-gierung Simonis/Steenblock – das ist schon ein bisschenlänger her – hat dieses Vorhaben positiv begleitet.
Auch Minister Steenblock hat das im Kabinett unterstri-chen.
Ich möchte darauf hinweisen: Große Verkehrsprojektebrauchen eine sorgfältige Planung. Eine sorgfältige Pla-nung braucht Zeit.
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20764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Christel Happach-Kasan
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Mein Vorredner hat deutlich gemacht, dass Deutschlandam 3. September 2008 einen Staatsvertrag mit Däne-mark unterschrieben hat.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Notz?
Aber gerne doch.
Das stimmt; ich spreche gleich. Deswegen tut es mir
auch leid, dass ich mich zu Wort melden musste. Ich
danke Ihnen für die Möglichkeit, Sie kurz etwas zu fra-
gen. Ich möchte Sie nämlich um ein Zitat des Kollegen
Steenblock bitten – er ist leider nicht hier und kann sich
nicht verteidigen –, das Ihre Aussage, dass er dieses Irr-
sinnsprojekt unterstützt hat, belegt. Können Sie ein ent-
sprechendes Zitat anführen? Sie können es mir meinet-
wegen auch gerne morgen nachreichen. Da es ein
solches Zitat aber nicht gibt, weise ich Ihre Aussage aufs
Schärfste zurück.
Werter Herr Kollege, darüber ist im Bundestag bereits
diskutiert worden. Sie werden mir sicherlich nachsehen,
dass ich die Protokolle der Kabinettssitzungen der Re-
gierung Simonis/Steenblock aus der Wahlperiode 1996
bis 2000 nicht auswendig kenne
und es Ihnen hier auch nicht vorlegen kann.
Sie brauchen nur die Plenarprotokolle des Deutschen
Bundestages und die Diskussionsbeiträge von Herrn
Rainder Steenblock nachzulesen, um festzustellen, dass
– ja – er in der damaligen Koalitionsregierung zuge-
stimmt hat
und trotzdem hinterher dagegen demonstriert hat, wie es
auch im Falle der A 20 seine Praxis gewesen ist.
– Das ist so.
Jetzt fahre ich mit meiner Rede fort. Die Zeit, die man
zwischen der Verabschiedung eines Vertrages und der
Realisierung eines Projektes braucht, kann man nutzen.
Wir treten dafür ein, sie zum einen zu nutzen, um das
Projekt zu optimieren, und sie zum anderen zu nutzen,
um im Dialogforum mit den Menschen vor Ort darüber
zu sprechen. Ich finde es gut, dass die Landesregierung
ein Dialogforum mit Herrn Dr. Christoph Jessen als Lei-
ter eingerichtet hat. Das Dialogforum ist dafür gedacht,
von den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort Anregungen
zu bekommen, wie man ein solches gutes Projekt noch
weiter verbessern kann.
Es gibt gute Gründe für dieses Projekt. Der wichtigste
Grund ist, dass die Metropolregion Hamburg mit der Re-
gion Kopenhagen/Malmö zusammenwächst
und wir damit für unsere Region einen enormen Wirt-
schaftsimpuls setzen werden. An dieser Stelle darf ich an
den Kollegen aus Schleswig-Holstein erinnern. Wir in
Schleswig-Holstein leben von der Kraft Hamburgs.
Wenn wir Hamburg nicht stärken, dann hat Schleswig-
Holstein dadurch immense Nachteile. Nur mit einer at-
traktiven Metropolregion Hamburg kann das Land
Schleswig-Holstein existieren. Deswegen müssen wir al-
les tun, um Hamburg weiter zu stärken.
Im Übrigen darf ich darauf hinweisen, dass Dänemark
mit dem Bau von Brücken zwischen seinen Inseln enorm
gute Erfahrungen gemacht hat. Es ist richtig, dass sich
die Verkehrsleistung erhöht hat. Das Wirtschaftswachs-
tum in Dänemark kann sich aber insgesamt sehen lassen.
Daneben verschafft dieses Projekt der Region eine
enorm hohe und positive Aufmerksamkeit. Es ist span-
nend, und ich verspreche mir auch für die Medizinhaupt-
stadt im Norden, Lübeck, eine Steigerung seiner Attrak-
tivität.
Ich finde es schade, dass wir dieses Thema nicht ge-
meinsam positiv begleiten und dass einige die Gelegen-
heit nutzen wollen, sich von der Fahne zu stehlen. Wir
müssen ganz klar machen: Wir brauchen ein solches
Projekt, um Schleswig-Holstein und die Metropolregion
Hamburg zu stärken.
Lieber Kollege von Notz, ich will das eine einmal
festhalten: Kollege Steenblock hat damals im Bundestag
gesagt, er lehne es ab, weil dort eine Brücke gebaut
werde. Sie wissen: Inzwischen ist es ein abgesenkter
Tunnel. Das heißt, das Argument zieht nicht mehr. Ihr
jetziger Antrag baut auf den Kosten auf. Wir alle mit-
einander wissen: Die Befürworter sehen die Kosten et-
was niedriger, und die Gegner führen immer etwas hö-
here Kosten an.
Frau Kollegin.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20765
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Ich darf einfach noch einmal darauf hinweisen, dass
wir beispielsweise eine Menge an Verkehrsprojekten mit
einer enorm positiven Kosten-Nutzen-Bilanz durchfüh-
ren. Ich nenne beispielsweise Geesthacht bei uns. Was
machen die Grünen? Sie sind dagegen. Ganz einfach!
Sie sind immer dagegen.
Von daher kommen wir mit Ihrer Haltung, wie ich
meine, nicht weiter.
Die Bürgerinnen und Bürger haben begriffen, dass sie
diese Projekte brauchen. Sie arbeiten positiv im Dialog-
forum mit. Ich glaube, dass wir für Schleswig-Holstein,
für die Regionen und für die Menschen vor Ort mit die-
sem Projekt eine positive wirtschaftliche Entwicklung
erreichen werden.
Frau Kollegin, wollen Sie Ihre Redezeit noch verlän-
gern? Es gibt den Wunsch, eine Zwischenfrage zu stel-
len.
Ja, gerne.
Bitte schön.
Frau Happach-Kasan, da Sie gerade eben davon ge-
sprochen haben, dass sich welche vom Acker machen
wollen, und auf die 90er-Jahre eingegangen sind, will
ich Sie darauf ansprechen und einmal schauen, ob wir
uns gemeinsam daran erinnern, dass es bei diesem Pro-
jekt in der Tat eine sehr lange Planungsphase und auch
Dialogphase mit Dänemark gab.
Dieses Projekt in Schleswig-Holstein war bis 2006
– dies hat im Übrigen sowohl in Schleswig-Holstein als
auch in Berlin in allen Koalitionsverträgen gestanden –
als ein PPP-Projekt geplant. Für alle die, die nicht wis-
sen, was das ist: Es sollte eine faire Risiko- und Kosten-
aufteilung zwischen der Wirtschaft und der öffentlichen
Hand geben. So war das Gesamtprojekt – sowohl die
Querung als auch die Hinterlandanbindung – geplant.
Vom Acker gemacht bei diesem Projekt hat sich 2004
die Bahn, die dieses Projekt jetzt nur als Auftragnehmer
für das Verkehrsministerium durchführt, es aber nicht
aus ihrem Budget zu finanzieren hat.
Hier kann man ja die berechtigte Frage stellen: Warum
hat sich die Bahn hier eigentlich herausgestohlen und
keine Priorität gesetzt?
2006 hat sich dann die Wirtschaft bei diesem Projekt
vom Acker gemacht. Viele Kollegen waren auf der In-
vestorenkonferenz dabei. Ich weiß gar nicht, ob Sie da-
bei waren; ich war dort. Ich kann mich gut daran erin-
nern, dass sich Hochtief, Bilfinger Berger und große
Banken, die eigentlich mit vollem Risiko in die Finan-
zierung einsteigen wollten, komplett daraus zurückgezo-
gen haben, und zwar deshalb, weil sie rechnen konnten.
– Ich muss keine Frage stellen.
Ein Blick in die Geschäftsordnung hilft manchmal, Frau
Kollegin.
Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, zu präzisieren,
wen Sie denn nun eigentlich damit gemeint haben, dass
er sich hier vom Acker macht. Haben Sie vielleicht die
Bahn gemeint oder vielleicht auch die Wirtschaft, die
zwar viele Forderungen stellt, sich aber nicht mit einem
einzigen eigenen Cent an diesem Projekt beteiligt?
Liebe Kollegin Hagedorn, ich bedanke mich für Ihrenzeitgeschichtlichen Exkurs in die Anfangsjahre diesesJahrtausends.
Das war sehr spannend, aber ich glaube, wir müssen ir-gendwann auch Realitäten anerkennen.Realität ist, dass Herr Minister Tiefensee – in Klam-mern: SPD – am 3. September 2008 den Staatsvertragmit Dänemark unterschrieben hat, dass wir im Bundes-tag diesen Vertrag ratifiziert haben
und dass wir deswegen eine neue Geschäftsgrundlagehaben. Auf dieser Geschäftsgrundlage werden wir diesesProjekt realisieren.Da Sie gerade noch einmal auf die alten Geschichtenverwiesen haben, sollten wir, glaube ich, einfach einmalhervorheben, warum wir damit angefangen haben, diesesProjekt zu diskutieren. Weil wir der Meinung sind, dasses richtig ist, die Metropolregion Hamburg an die Re-gion Kopenhagen/Malmö anzubinden, weil wir uns da-von erwarten, dass die Entwicklungsachse A 1 damit zueiner größeren Entwicklung innerhalb der Region beitra-
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20766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Christel Happach-Kasan
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gen kann, weil wir die Vorteile für den Kreis Stormarn,den Medizinstandort Lübeck, aber auch für den KreisOstholstein sehen.Ich war sehr beglückt, als ich auf einer großenPodiumsdiskussion im Kreis Ostholstein vor mehr als500 Leuten erfahren habe, dass die Menschen in der Re-gion für dieses Projekt sind und sehr deutlich gesagt ha-ben: Wir brauchen große Infrastrukturprojekte. – Daskann man in Schleswig-Holstein gut verstehen. Wo wäreSchleswig-Holstein, wenn wir nicht die A 1 hätten,wenn wir nicht die A 7 hätten, wenn wir nicht den Nord-ostseekanal hätten, wenn wir nicht den Elbe-Lübeck-Ka-nal hätten? Wo wäre Schleswig-Holstein, wenn es dieseProjekte nicht gäbe, wenn es nicht zur Elektrifizierungder Bahn gekommen wäre, für die sich beispielsweiseauch Heide Simonis eingesetzt hat? Wo wäre unser Bun-desland dann? Dann könnten wir nur noch in der Furchekratzen. Dann wären wir absolut weg vom Zentrum.
Deswegen sollten wir hier Fantasie entwickeln undunsere gesamte Kraft dafür verwenden, dass wir nichtmehr über das Ob, sondern über das Wie diskutieren,nämlich wie wir für unsere Region, für Schleswig-Hol-stein, für den Kreis Stormarn,
für die Stadt Lübeck, für den Kreis Ostholstein eine opti-male Anbindung erreichen, damit wir auch die Schie-nenanbindung optimal machen, damit wir einen optima-len Gewinn aus diesem Projekt erzielen. Ich freue mich,dass Sie offensichtlich der Meinung sind, dass Sie diesesMal – vielleicht mit der SPD – dafür stimmen und die-sem Projekt positiv gegenüberstehen. Ich freue mich aufdiese Entscheidung von Ihnen.Danke schön.
Das Wort hat nun Konstantin von Notz für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Nun, geschätzte Kollegin Happach-Kasan, dass Sie jetzt
die ollen Kamellen von der Dagegen-Partei rausholen,
ist wirklich eine traurige Nummer. Dass Sie genauso wie
der Kollege Hacker dieses Dialogforum, bei dem eben
nicht die Fakten auf den Tisch gelegt werden und bei
dem eben nicht ergebnisoffen diskutiert wird, als Posi-
tivbeispiel anführen, ist geradezu verrückt. Sie manifes-
tieren damit, dass Sie aus Stuttgart 21, der Startbahn in
Frankfurt, der dritten Landebahn am Flughafen Mün-
chen und den vielen anderen Projekten nichts gelernt ha-
ben. Das ist sehr traurig.
Vor der Unterzeichnung des Staatsvertrages 2008 gab
es eine sehr intensive Diskussion im Verkehrsausschuss
und auch hier im Plenum. In einer Anhörung wurde ex-
plizit bestätigt, was die Kritiker des Projekts schon ganz
lange befürchtet haben, dass nämlich der verkehrspoliti-
sche Nutzen dieser Querung, ob nun Tunnel oder Brü-
cke, hart gegen null tendiert. Verschiedene Studien kom-
men zu einem Kosten-Nutzen-Verhältnis von 1 : 0,65.
Während der erwähnten Anhörung wiesen die Sach-
verständigen, nicht die Grünen, auf zahlreiche weitere
Risiken hin. Das Baugebiet liegt in einem ökologisch
vielfach geschützten Gebiet, mitten in einer der mit
66 000 Schiffsbewegungen meistbefahrenen Wasserstra-
ßen der Welt.
Hinzu kommt, dass es eine hervorragende bestehende
Fährverbindung mit einer hohen Taktung gibt und dass
viele Urlauber diese Fährfahrt als attraktiven Ferienbe-
ginn nicht missen wollen – glauben Sie es oder nicht.
Ihre ganze Überheblichkeit, wie Sie da sitzen, Herr
Kollege Storjohann, zeigt, dass Sie viele dieser Argu-
mente und viele andere Argumente bei der Entscheidung
hier, vor allen Dingen zum Begleitgesetz des Staatsver-
trages, einfach unter den Tisch haben fallen lassen.
Dann kommt immer das Argument: Wir müssen die
Brücke oder den Tunnel nicht zahlen. Wir zahlen nur die
Hinterlandanbindung. – Das klingt harmlos, ist aber
haushaltspolitisch katastrophal; denn diese Anbindung
wird so richtig teuer. Ich sage allen schleswig-holsteini-
schen Kollegen, die ich hier sehe: Der nächste Doppel-
haushalt in Schleswig-Holstein wird uns die Tränen in
die Augen treiben. Es wird auf jeden Euro, der hier ver-
baut wird, ankommen; das sage ich Ihnen.
Nicht von den Grünen, sondern in der Stellungnahme
des Bundesrechnungshofs – schön, dass Sie zu so später
Stunde zu uns finden, Herr Kollege Döring – werden die
Kosten allein für die Schienenhinterlandanbindung auf
1,7 Milliarden Euro beziffert.
Herr Kollege von Notz, die Frau Kollegin Happach-Kasan möchte noch einmal ihre Redezeit und auch Ihredurch eine Zwischenbemerkung bzw. Zwischenfrageverlängern.
Ich bitte darum. Aber die Uhr muss schon vor zehnSekunden angehalten worden sein.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20767
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Herr Präsident! Herr Kollege von Notz, ich möchte in
keiner Weise meine Redezeit verlängern, sondern nur
auf eines hinweisen und fragen, ob Ihnen das bekannt ist.
Die schleswig-holsteinische Landesregierung hat sich
mit Kabinettsbeschluss vom 14. Dezember 1999 für die
Realisierung einer festen Fehmarnbelt-Querung ausge-
sprochen. Damals habt ihr mitregiert. Dem ist auch ein
Kabinettsbeschluss gefolgt.
Danke schön.
Ich sage Ihnen: Es gibt keine Erklärung eines einzi-
gen Grünen für diese Querung. Wir haben immer dage-
gen gekämpft.
Wir haben immer dagegen gestritten. Sonst wären wir
für Sie auch nicht die Dagegen-Partei. Bei diesem
Thema waren wir im Gegensatz zu Ihnen immer glasklar
aufgestellt.
Der Rechnungshof weist explizit darauf hin, dass
zahlreiche weitere Kosten für den Straßenbau, für Alter-
nativstraßen, Lärmschutzmaßnahmen, den Ausbau des
Knotenpunktes Hamburg usw. usf. noch nicht berück-
sichtigt sind. Das stärkste Stück – das demaskiert Ihre
ganze Doppelzüngigkeit beim Schönrechnen der Zahlen –
ist, dass Sie erst vor zwei Monaten erkannt haben, dass
Fehmarn eine Insel ist.
Denn es gab immer Hinweise, dass der Verkehr, der auf
der Insel anlandet, auch wieder herunterkommen muss.
Ihnen ist vor zwei Monaten aufgefallen: Das geht gar
nicht mit der Fehmarnsund-Brücke; wir brauchen eine
neue Querung.
Jetzt kommt der Vorschlag, für 300 Millionen Euro
eine zweite Querung zu bauen. Das demaskiert Ihre
ganze unsolide Rechentrickserei.
Inzwischen sind die Kosten von 840 Millionen Euro
bis heute auf sage und schreibe 2,5 Milliarden Euro ge-
stiegen. Wer so trickst und versucht, die Menschen hin-
ter die Fichte zu führen, der muss sich nicht wundern,
dass die Skepsis und Ablehnung gegenüber diesem Pro-
jekt heute größer sind denn je.
Unterm Strich bleibt, dass Sie mindestens 2,5 Milliarden
Euro im Fehmarnbelt vergraben wollen, für eine Strecke,
die mit unter 10 000 Fahrzeugen täglich nicht einmal
den Bau einer Umgehungsstraße rechtfertigen würde.
Auch das von der Deutschen Bahn aktuell prognosti-
zierte Bahnverkehrsaufkommen ist nicht imstande, die
Realisierung in irgendeiner Form zu rechtfertigen. Die
Bahn hat ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Staats-
vertrages plötzlich ihre Erwartungen der täglichen Züge
von 210 auf 96 gesenkt.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Das ist al-
les hanebüchen.
Wir als Grüne können die Entscheidung für den Bau
nicht parlamentarisch zurückholen; das ist völlig richtig.
Den ungedeckten Scheck haben Sie unterschrieben.
Wir können nur an die Vernunft der Bundesregierung ap-
pellieren.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Was früher
schon eine haushaltspolitische Geisterfahrt war – –
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit bereits um
33 Prozent überschritten. Das ist ein bisschen viel.
Nehmen Sie die Vertragsverhandlungen auf, und be-
enden Sie das Projekt!
Herzlichen Dank.
Zum Schluss dieser heftigen Debatte erteile ich Kol-legen Ingo Gädechens von der CDU/CSU-Fraktion dasWort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schön, dassauch die Grünen jetzt wissen, dass Fehmarn eine Inselist.
Ich lebe seit fast 30 Jahren auf Fehmarn, habe als echterOstholsteiner dort tiefe Wurzeln geschlagen und michsehr früh für eine positive Entwicklung der Insel einge-setzt.Bereits im Jahr 1988 wurde ich stolzes bürgerlichesMitglied, und seit 1990 war ich bis zum Einzug in denDeutschen Bundestag Stadtvertreter auf der Insel Feh-marn. In all den vielen Jahren war das Thema feste Feh-marnbelt-Querung Gegenstand vieler Diskussionen.Wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen sogar als letzterRedner einen breiten historischen Abriss über die Ge-samtentwicklung, die unterschiedlichsten Diskussionenvor Ort bis hin zur Schließung des Staatsvertrages ge-ben. Leider reicht die vorgegebene Redezeit nicht aus.So möchte, so kann ich nur einige Punkte ansprechen,die mir in dieser Debatte noch wichtig erscheinen.Der wiederkehrende Antrag der Linken und der nach-gereichte Antrag der Grünen lassen erkennen – ChristelHappach-Kasan erwähnte es schon –, dass in Schleswig-Holstein erneut Landtagswahlkampf herrscht und manwieder und wieder versucht, mit einem Thema zu punk-ten, ohne anzuerkennen, dass sich die Mehrzahl derMenschen, die Mehrzahl der Mandats- und Entschei-dungsträger längst auf den Weg gemacht haben, um sichauf die feste Fehmarnbelt-Querung einzustellen.
Wer ehrliche Politik macht, sagt den Menschen, dass esnicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wiegeht.
Alles andere ist Augenwischerei. Es ist einfach naiv, zuglauben, dass es nach knapp drei Jahren, dass es nach derBeschlussfassung, dem Abschluss und der Ratifizierungdes Staatsvertrages mit dem Königreich Dänemark Ver-handlungen über einen Ausstieg geben könnte. Es ist inhöchstem Maße unredlich, dass die Linken „Ausstiegjetzt“ in Schleswig-Holstein plakatieren, Ängste bei denMenschen schüren und Horrorszenarien verbreiten.
In den letzten drei Jahren hat Femern A/S, das däni-sche Baukonsortium, in vorbildlicher Weise und frühzei-tig für Transparenz und Offenheit gesorgt. Dänemark haterhebliche Anstrengungen unternommen und bereits In-vestitionen in siebenstelliger Größenordnung vorgenom-men, um das Projekt zu analysieren, zu planen, Umwelt-verträglichkeiten zu prüfen und die Finanzierung sicher-zustellen. Transparenz und Offenheit wurden dem Kon-sortium sogar von den Gegnern bescheinigt. Davon kön-nen wir in Deutschland lernen, und wir haben bereits da-raus gelernt. Ja, es stimmt: Auf deutscher Seite müssennoch viele Hausaufgaben erledigt werden, gerade mitBlick auf das Thema Hinterlandanbindung. Gerade dasehe ich als direkt gewählter Abgeordneter eine Haupt-aufgabe.Ich war seinerzeit sehr verwundert, ja sogar ent-täuscht, dass der damalige SPD-BundesverkehrsministerTiefensee vor Unterzeichnung des Staatsvertrages sichnicht ein einzige Mal vor Ort hat blicken lassen.
Ich war enttäuscht, dass ein SPD-geführtes Bundes-ministerium nichts von frühzeitiger Bürgerbeteiligungwissen wollte. Erst nach der letzten Bundestagswahl unddem Wechsel im Verkehrsministerium zu MinisterRamsauer und dem Parlamentarischen StaatssekretärFerlemann hat sich das Verfahren deutlich verbessert.
Während die Opposition über Bürgerbeteiligung wortge-waltig lamentiert, hat die christlich-liberale Koalition füreine bessere Bürgerbeteiligung gesorgt.
Die CDU hat auf allen Ebenen die Verfahren eingelei-tet, die für die Menschen für Ort bedeutend sind. Dieostholsteinische CDU-Kreistagsfraktion hat eine wich-tige Betroffenheitsanalyse in Auftrag gegeben.
Nach den von mir initiierten Gesprächen im Ministe-rium gab es den Impuls für ein vorgeschaltetes Raum-ordnungsverfahren, das die CDU-geführte Landesregie-rung beschlossen hat. Von euch, meine lieben Kollegenvon der SPD, kam gar nichts. Darüber hinaus wurde einDialogforum eingerichtet, das vom ehemaligen deut-schen Botschafter Dr. Jessen geleitet wird. Aufgrund un-serer Initiative ist Bundesminister Peter Ramsauer nachOstholstein und auf die Insel Fehmarn gekommen undhat nicht nur im Fahrstand einer Lokomotive den Groß-teil der Bahnstrecke abgefahren,
sondern hat sich in einer Podiumsdiskussion auch denFragen, Anregungen, der Kritik und den Ängsten der
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Ingo Gädechens
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Menschen gestellt. Ja, ja, eure Versäumnisse regeneuch jetzt im Nachhinein auf. Ich kann das verstehen,aber diese Versäumnisse kann man nicht einfach wegwi-schen.Es ist schon bemerkenswert, meine Damen und Her-ren von der SPD-Fraktion, dass gerade diejenigen amlautesten aufschreien und am schärfsten Kritik üben, diein der Vergangenheit nichts für eine bessere Bürgerbetei-ligung getan haben,
während diese Bundesregierung ein Gesetz zur Verbes-serung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitli-chung von Planfeststellungsverfahren vorgelegt hat. Soeine Beteiligung hätte ich mir früher zum Beispiel auchvom damaligen SPD-Verkehrsminister Tiefensee undauch von den anderen Oppositionsparteien gewünscht.Große Bauprojekte stellen alle beteiligten Vorhaben-träger und Planer, aber gerade an erster Stelle die Men-schen in der Region, vor große Herausforderungen.
Herr Kollege, auch Sie müssen einmal zum Ende
kommen.
Ich habe noch nicht die 33 Prozent erreicht.
Nein, wir wollen das nicht zur Regel machen.
Die Dänen haben nicht nur die größere finanzielle
Last und tragen das Risiko, sondern sie helfen auch in
ganz vorbildlicher Weise, die Menschen vor Ort zu in-
formieren.
Die von der IHK initiierte Wirtschaftsregion Hanse-
Belt, die Ausweisung von interkommunalen Gewerbege-
bieten, die Planung eines Infozentrums –
Herr Kollege, ich habe das ernst gemeint.
– und das von Privatfirmen gegründete Kooperations-
modell „Baltic FS“ sind deutliche Zeichen. Wer mag
– Herr Präsident, das ist mein letzter Satz –, soll den
Menschen weiter Sand in die Augen streuen und behaup-
ten, dass ein Ausstieg noch ohne Weiteres möglich sei.
Ich orientiere mich
an der Realität und werde mich
deshalb positiv für Lösungen einsetzen, die den Men-
schen in meiner Heimatregion helfen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Lieber Kollege Gädechens, bei Ihnen betrug dieÜberschreitung der Redezeit 21 Prozent.Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/8912 und 17/9407 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetztzu einer ganzen Reihe von Tagesordnungspunkten, zudenen die Redebeiträge zu Protokoll gegeben sind. Ichbitte Sie, mir bei der Verlesung der Texte und NamenGesellschaft zu leisten.Tagesordnungspunkt 15:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung arzneimittelrechtlicher und ande-rer Vorschriften– Drucksache 17/9341 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
RechtsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zuProtokoll zu geben. – Sie sind damit einverstanden. Eshandelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen:Michael Hennrich, Marlies Volkmer, Kathrin Vogler,Birgitt Bender und Parl. Staatssekretärin Ulrike Flach.1)Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/9341 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 16:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Tabea Rößner, Marieluise Beck ,1) Anlage 3
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Volker Beck , weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPressefreiheit europaweit umsetzen – Medienals wichtigen Grundpfeiler der Demokratiestärken– Drucksachen 17/6126, 17/8203 –Berichterstattung:Abgeordnete Johannes SelleMartin DörmannBurkhardt Müller-SönksenKathrin Senger-SchäferTabea RößnerDie Reden folgender Kollegen sind vereinbarungsge-mäß zu Protokoll gegeben worden: Karl Holmeier,Martin Dörmann, Burkhardt Müller-Sönksen, KathrinSenger-Schäfer und Tabea Rößner.1)Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürKultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/8203, den Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6126abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Ko-alitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositions-fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 26 a und b:a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurVerbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsa-chen– Drucksache 17/9391 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
InnenausschussRechtsausschussHaushaltsausschussb) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Grundgesetzes
– Drucksache 17/9392 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
InnenausschussRechtsausschussHaushaltsausschussFolgende Kolleginnen und Kollegen haben vereinba-rungsgemäß ihre Reden zu Protokoll gegeben:Dr. Günter Krings, Dr. Dieter Wiefelspütz, Dr. StefanRuppert, Halina Wawzyniak und Jerzy Montag.2)Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 17/9391 und 17/9392 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge dazu? – Dasist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Tagesordnungspunkt 17:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzeszur Änderung des Versicherungsaufsichtsge-setzes– Drucksache 17/9342 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für GesundheitFolgende Kolleginnen und Kollegen haben vereinba-rungsgemäß ihre Reden zu Protokoll gegeben: RalphBrinkhaus, Manfred Zöllmer, Björn Sänger, HaraldKoch, Dr. Gerhard Schick, Parl. Staatssekretär HartmutKoschyk.3)Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/9342 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist auch diese Überweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 19:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-PeterBartels, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDKampf gegen wissenschaftliches Fehlverhal-ten aufnehmen – Verantwortung des Bundesfür den Ruf des ForschungsstandortesDeutschland wahrnehmen– zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager,Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENWissenschaftliche Redlichkeit und die Qua-litätssicherung bei Promotionen stärken– Drucksachen 17/5758, 17/5195, 17/9388 –Berichterstattung:Abgeordnete Monika GrüttersRené RöspelDr. Martin Neumann
Dr. Petra SitteKrista SagerFolgende Kolleginnen und Kollegen haben ihreReden zu Protokoll gegeben: Dr. Philipp Murmann,Dr. Reinhard Brandl, Dr. Ernst Dieter Rossmann,Dr. Martin Neumann, Dr. Petra Sitte, Krista Sager.4)1) Anlage 42) Anlage 93) Anlage 54) Anlage 7
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20771
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/9388.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion der SPD auf Drucksache 17/5758. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der SPD bei Enthaltung der Grünen und derLinken angenommen.Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnungdes Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/5195. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünenbei Enthaltung von SPD und Linken angenommen.Wir kommen zu dem Tagesordnungspunkt 18 a und b:a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBildung für nachhaltige Entwicklung dauer-haft sichern – Folgeaktivitäten zur UN-Dekade„Bildung für nachhaltige Entwicklung“ er-möglichen– Drucksache 17/9186 –b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Rosemarie Hein, Jan Korte, Agnes Alpers,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEBildung für nachhaltige Entwicklung ermögli-chen – Gleiche Bildungsteilhabe sichern– Drucksache 17/9395 –Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihreReden zu Protokoll gegeben: Anette Hübinger, AxelKnoerig, Ulla Burchardt, Angelika Brunkhorst, SylviaCanel, Dr. Rosemarie Hein, Kai Gehring.1)Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9186. Wer stimmt fürdiesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Antrag ist mit den Stimmen der antrageinbringendenFraktionen gegen die Stimmen der Linken angenommen.Tagesordnungspunkt 18 b: Abstimmung über den An-trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9395.Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Antrag ist mit dem gleichen Mehr-heitsverhältnis abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 a und c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausBarthel, Heidemarie Wieczorek-Zeul, EdelgardBulmahn, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDFrühzeitige Veröffentlichung der Rüstungsex-portberichte sicherstellen – Parlamentsrechteüber Rüstungsexporte einführen– Drucksache 17/9188 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungAuswärtiger AusschussInnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionc) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Bundesregierung über ihre Ex-portpolitik für konventionelle Rüstungsgüterim Jahr 2010
– Drucksache 17/8122 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger AusschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungFolgende Kolleginnen und Kollegen haben ihreReden zu Protokoll gegeben: Andreas G. Lämmel,Klaus Barthel, Dr. Martin Lindner, Jan van Aken, KatjaKeul.2)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/9188 und 17/8122 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind auch diese Überweisungen so beschlossen.Tagesordnungspunkt 20:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Errichtung eines Nationalen Waffenre-
– Drucksache 17/8987 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 17/9217 –Berichterstattung:Abgeordnete Günter LachGabriele FograscherSerkan TörenFrank TempelWolfgang Wieland1) Anlage 6 2) Anlage 8
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20772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden von den Kolleginnen und Kollegen Günter Lach,Gabriele Fograscher, Serkan Tören, Frank Tempel undWolfgang Wieland zu Protokoll gegeben.
Mit der heutigen Abstimmung werden wir das Natio-nale Waffenregister auf den Weg bringen. Damit erfüllenwir den Auftrag aus Art. 4 Abs. 4 der EU-Waffenricht-linie 91/477/EWG des Rates an die Mitgliedstaaten,spätestens bis zum 31. Dezember 2014 ein computer-gestütztes Waffenregister einzurichten. Auch unter denschwerwiegenden Eindrücken der schrecklichen Amok-läufe von Erfurt und Winnenden hat der Deutsche Bun-destag 2009 im Zuge der Novellierung des Waffenrechtsin § 43 a des Waffengesetzes die EU-Vorgabe in nationa-lem Recht verankert. Damit wurde das ehrgeizige Zielfestgeschrieben, bis Ende des Jahres 2012, bereits zweiJahre früher als gefordert, das Nationale Waffenregisterin Deutschland einzuführen.Dieses Vorhaben wollen wir jetzt mit dem vorliegen-den Gesetz zur Errichtung des Nationalen Waffenregis-ters umsetzen. In den Beratungen des Innenausschusseshat sich gezeigt, dass sich diese Maßnahme auf einebreite parlamentarische Mehrheit aus Union, FDP,Bündnis 90/Die Grünen und SPD stützen kann. Hierwird deutlich, dass der Deutsche Bundestag im Diensteder Sicherheit von Bürgerinnen und Bürgern an einemStrang zieht.Mit der Errichtung des Registers machen wir einenwichtigen Schritt zur Modernisierung des traditionsrei-chen Waffenwesens in unserem Land. Bisher werden in577 lokalen Waffenbehörden die Informationen darübergesammelt, wer im zuständigen Bereich wie viele undwelche Waffen besitzt. Die Daten werden teilweise nochin Papierform auf Karteikarten geführt. Mit der Zustim-mung des Deutschen Bundestages zum vorliegenden Ge-setzentwurf der Bundesregierung werden diese Angabennun aktualisiert und in ein computergestütztes Systemüberführt.Darüber hinaus werden jetzt in ganz Deutschland,von Kiel bis München, erstmals einheitliche Standardsfestgelegt, welche Informationen im Zusammenhang mitWaffenbesitz im Einzelnen festgehalten werden müssen.Bisher kam es vor, dass die gleiche Waffe in verschiede-nen Waffenbehörden mit unterschiedlichen Bezeichnun-gen registriert wurde. Hier findet nun eine Vereinheit-lichung statt. Das Nationale Waffenregister wird fürmindestens 20 Jahre alle wesentlichen Informationenüber Typ, Modell, Fabrikat, Kaliber und Seriennummerder Waffen speichern. Dementsprechend werden zukünf-tig auch die Namen und Anschriften von Waffenlieferan-ten sowie von Käufern und Besitzern einer Waffe erfasst.Erstmals wird es nun also möglich sein, eine genaueZahl von legalen Waffenbesitzer und legalen Waffen inDeutschland zu erhalten. Dies ist auch für den Gesetz-geber von Vorteil. Bei Überlegungen und Diskussionenum das Waffenrecht und mögliche Änderungen konntenwir in der Vergangenheit nur über Zahl und Verbreitungvon legalen Waffen spekulieren. Jetzt kann der Gesetzge-ber sich auf eine belastbare Datengrundlage bei seinenEntscheidungen stützen. Dies dient einer nach meinerAnsicht notwendigen sachlichen Grundlage der Debatteum dieses Thema.Wir werden dann konkret feststellen können, wer zuwelchem Zweck welche Waffen besitzt. Dazu gehören dieaktiven Schützen, die in Vereinen und Verbänden denSchießsport pflegen. Sie nutzen Waffen als präziseSportgeräte, die Konzentration, Treffsicherheit undfachlich umsichtigen Umgang schulen. Hier stehen Ge-meinsamkeit, Tradition und Brauchtumspflege im Mit-telpunkt des Vereinslebens. Eine weitere Gruppe legalerWaffenbesitzer sind Jäger. Sie tragen die Verantwortungfür Pflege, Erhalt und Regulierung unserer Wildtier-bestände und der Natur. So schützen sie die Natur vorSchäden durch Überpopulation und beugen der Verbrei-tung von Tierseuchen vor. Das Register wird auch dieSammler von Waffen erfassen, die sich der Pflege desKulturguts verschrieben haben. Ausstellungen undFachveranstaltungen pflegen das kulturelle Wissen überGeschichte und Entwicklung von Waffentechnik.Positive Erfahrungen mit einer zentralen Registraturder legalen Waffenbesitzer wurden bereits in Hamburgseit 2009 gemacht. Die aus der Hansestadt in den letztendrei Jahren gewonnenen Erkenntnisse konnten in die Er-richtung eines Registers auf nationaler Ebene mit ein-fließen.Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Errichtungdes Nationalen Waffenregisters kann mit dem Aufbau indrei Stufen begonnen werden. Nach der Zusammenfüh-rung der Daten aus den rund 600 einzelnen Waffen-behörden bis zum 31. Dezember 2012 ist erstmals einebundesweite Abfrage möglich. In der zweiten Stufe wer-den dann schließlich Informationen von Waffenherstel-lern und auch Waffenhändlern mit eingebunden. Hinzukommen erweiterte Recherchemöglichkeiten. Schließ-lich bringt die Modernisierung des Waffenwesens auchfür die Bürgerinnen und Bürger wesentliche Vorteile mitsich. Denn ab 2014 sollen in einer dritten Stufe Behör-denangelegenheiten zukünftig durch Onlinelösungenschneller und einfacher zu erledigen sein.Um eines deutlich zu machen: Das Waffenregister isteine sinnvolle Modernisierung des legalen Waffen-wesens in Deutschland. Es gilt aber weiterhin, denKampf gegen den unerlaubten Waffenhandel und denMissbrauch von Schusswaffen sowie die steigende Ge-waltkriminalität in unserer Gesellschaft mit Nachdruckzu betreiben. Die Statistiken zeigen regelmäßig, dass beiGewaltdelikten mit Schusswaffen hauptsächliche ille-gale Waffen eine Rolle spielen. Bei legalen, registriertenWaffen liegt der Missbrauch unter 1 Prozent.Trotzdem sind die Informationen aus dem NationalenWaffenregister über legalen Waffenbesitz ein Gewinn anSicherheit. Der Lebenszyklus einer Waffe kann vomAnfang bis zum Ende verfolgt werden. So wird die Wahr-scheinlichkeit verringert, dass eine Waffe aus dem Blick-feld der Behörden verschwinden kann und aus einer le-galen eine illegale Waffe wird. Darüber hinausunterstützen wir mit diesem Gesetzentwurf die Arbeitvon Polizei und Strafverfolgungsbehörden. Unter Beibe-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20773
Günter Lach
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haltung der föderalen Strukturen werden die aufbereite-ten Daten aus den lokalen Waffenbehörden zusammen-geführt. So stehen sie jederzeit, 24 Stunden am Tag undsieben Tage in der Woche, den abfragenden Behördenzur Verfügung. Dies spielt vor allem in den Abend- undNachtstunden sowie an Wochenenden und Feiertageneine wichtige Rolle, beispielsweise bei einem Polizeiein-satz. Hier können die Beamten zur besseren Eigensiche-rung vorab wertvolle Information darüber erhalten, obund welche Waffen möglicherweise bei dem bevorste-henden Einsatz eine Rolle spielen könnten. Mit Schaf-fung der zentralen Abfrage- und Recherchemöglichkeitüber legale Schusswaffen in Privathaushalten setzen wirauch eine langjährige Forderung vonseiten der Polizeium.Alle Angaben aus den einzelnen Waffenbehörden wer-den bei hohen Standards für Datensicherheit, Übertra-gungssicherheit und Datenschutz in einer zentralenKomponente zusammengeführt. Dafür müssen vor Ortentsprechende technische, organisatorische und perso-nelle Voraussetzungen geschaffen werden. Datenüber-mittlung und Datenauskünfte dürfen aufgrund der hohenSensibilität von personenbezogenen Daten nur über Ver-waltungsnetze erfolgen. Auch im Verwaltungsnetz kanndie Übermittlung der Informationen nur mit speziell ent-wickelten Verschlüsselungstechniken erfolgen. Diesewerden vom Bundesverwaltungsamt, BVA, als Register-behörde in Abstimmung mit dem Bundesamt für dieSicherheit in der Informationstechnik, BSI, vorgegeben.Ein Zugriff auf die waffenrechtlichen Daten von au-ßen über eine Internetverbindung ist nicht möglich. Mitdiesen Maßnahmen wird auch den Befürchtungen Rech-nung getragen, dass auf die gesammelten Informationenüber Personen und Waffenbesitz von Kriminellen aufeinfachem Weg über das Internet zugegriffen werdenkann.Außer den Waffenbehörden vor Ort als sachbearbei-tende Stelle und den Polizeien aus Bund und Ländernkönnen noch weitere Stellen Auskunft aus dem nationa-len Register erhalten. Hierzu zählen die Justiz- und Zoll-behörden, die Steuerfahndung, der Verfassungsschutzvon Bund und Ländern sowie die Nachrichtendienste.Neben dem effizienten automatisierten Verfahren erhal-ten sie Informationen in der Regel durch eine Einzelaus-kunft. Um Verwechslungen auszuschließen, müssen hier-für Mindestangaben gemacht werden. Bei besondersdringenden Fällen und bei mangelhafter Informations-lage können zur Erleichterung der polizeilichen Ermitt-lungen auch Gruppenauskünfte anhand spezifischerMerkmale angefordert werden.Insbesondere für unsere Polizeibeamten, Sicherheits-und Rettungskräfte in außerordentlichen Situationen wiebei Amokläufen und Geiselnahmen ist das NationaleWaffenregister eine Unterstützung der schwierigen Ar-beit. Ich bin überzeugt davon, dass mit der Hilfe dieserabrufbaren Informationen ein Sicherheitsgewinn für dieEinsatzkräfte und für die gesamte Gesellschaft erreichtwerden kann. Denn Aktualität und schnelle Verfügbar-keit von Informationen sind bei einer gegenwärtigenGefahr für Leib, Leben, Gesundheit oder Freiheit einerPerson entscheidend. Daher ist die Umsetzung der EU-Vorgabe bereits bis zum Ende dieses Jahres richtig.Außerdem machen wir damit einen weiteren Schritt hinzu einer modernen Verwaltung. Bürgerinnen und Bürgerkönnen dann auch in diesem Bereich von modernerTechnik und einem effizienten Staat profitieren.
Heute vor zehn Jahren fand der schreckliche Amok-lauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium statt. Bis zudiesem Tag kannten wir in Deutschland Amokläufe nuraus dem Fernsehen und aus anderen Ländern. Wirglaubten nicht, dass es so etwas auch in Deutschland ge-ben kann. Am 26. April 2002 wurden wir leider einesBesseren belehrt. Am gleichen Tag wollten wir hier imBundestag eine Novelle zum Waffenrecht beschließen.Aufgrund des Amoklaufs eines 19-Jährigen mit 17 Totenwurde die Verabschiedung des Waffenrechts verschoben.Der Schock saß tief, Deutschland hatte sich verän-dert. Wir als Politikerinnen und Politiker haben unsgefragt, was wir tun können, um Amokläufe zu erschwe-ren. Neben Änderungen im Waffenrecht wie der Herauf-setzung der Altersgrenzen für den Waffenerwerb und fürdas Schießen mit großkalibrigen Waffen, dem Verbotsogenannter Pumpguns und der Verschärfung der Auf-bewahrungsvorschriften galt und gilt es, die Gründeaufzudecken, die einen jungen Menschen zu so einer Tattreiben. War es das soziale Umfeld, die Schule, das El-ternhaus? Eine abschließende Antwort darauf gab undgibt es nicht.Am 20. November 2006 schoss ein 18-Jähriger aufdem Gelände seiner ehemaligen Schule in Emsdetten umsich, verletzte 11 Personen durch Schüsse und Rauchbom-ben und tötete danach sich selbst. Trotz einesAbschiedsbriefes des Täters ist nicht klar, was ihn dazugebracht hat, diese Tat zu begehen. Am 11. März 2009 er-schütterte der Amoklauf von Winnenden und Wendlingendas ganze Land. Ein 17-Jähriger erschoss 15 Menschenund sich selbst. Auch hier haben wir uns gefragt, was ei-nen Menschen zu einem Amoklauf treibt. Eine Antwortgab und gibt es auch hier nicht. Forderungen nach einerVerschärfung des Waffenrechts wurden wieder laut, doches war uns bewußt, dass das nur ein Baustein sein kann,solche Taten in Zukunft zu erschweren.Neben der Verschärfung der Prüfung des Bedürfnis-ses, der stärkeren Kontrolle der Aufbewahrung vonSchusswaffen und Munition und dem Anheben derAltersgrenze für das Schießen mit großkalibrigen Waffenhaben wir uns auf die Errichtung eines NationalenWaffenregisters bis Ende 2012 geeinigt.Damit setzen wir eine EU-Richtlinie, die die Errich-tung eines Nationalen Waffenregisters bis Ende 2014fordert, zwei Jahre früher um. Die in den 577 Waffenbe-hörden erfassten Informationen werden aufbereitet undin eine zentrale computergestützte Datei überführt. Eswerden verbindliche Standards für die deutsche Waffen-verwaltung unter Beibehaltung der föderalen Struktureingeführt.Zu Protokoll gegebene Reden
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20774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Gabriele Fograscher
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Wir begrüßen es, dass mit der heutigen Verabschie-dung das Nationale Waffenregister früher als von derEU gefordert kommt; es ist längst überfällig.Wir werden dann endlich wissen, wie viele legaleWaffen es in Deutschland gibt und wer wie viele dieserWaffen besitzt. Der gesamte Lebenszyklus einer legalen,erlaubnispflichtigen Waffe wird vom Hersteller bis zumEndbesitzer mit allen Angaben zu Kaliber und Modellnachvollziehbar sein. Die Möglichkeit der Polizei, aufdiese Daten zurückzugreifen, wird die Ermittlungsarbeiterleichtern. Auch wird das Einbeziehen waffenrechtli-cher Informationen in die polizeiliche Lagebildbeurtei-lung mehr Sicherheit für die Polizistinnen und Polizistenim Einsatz bringen.Wir als SPD-Bundestagsfraktion halten dieses Gesetzfür wichtig und richtig, es trägt zu mehr öffentlicherSicherheit bei. Das Waffenrecht ist eine besonderssensible Materie, die von der Öffentlichkeit mit großerAufmerksamkeit begleitet wird. Deshalb ist besondereSorgfalt angezeigt. Umso ärgerlicher ist es deshalb,dass sich im Gesetzgebungsverfahren Fehler und Patzeraneinanderreihten.Angefangen hat die nachlässige Art des Umgangs mitdem Gesetz durch das Bundesinnenministerium damit,dass den Fraktionen des Bundestages der Entwurf nicht,wie es die Geschäftsordnung vorsieht, zeitgleich mit denBundesländern zugeleitet wurde. Anstatt sich zu ent-schuldigen, verschlimmert Staatssekretär Schröder dasGanze noch und erklärt, die Fraktionen würden imRahmen der Ausschussberatungen befasst. Das ist eineRespektlosigkeit gegenüber dem Parlament und einVerstoß gegen die Gemeinsame Geschäftsordnung derBundesministerien.Der Dilettantismus setzte sich in den Ausschussbera-tungen fort. Einige Empfehlungen des Bundesratessollten übernommen werden. Auf meine Frage, wo dennder entsprechende Änderungsantrag der Koalitionsfrak-tionen sei, erklärte Staatssekretär Schröder, es gebe kei-nen und er sei auch nicht notwendig. Daraufhin wurdedas Gesetz im Innenausschuss ohne Änderungen ange-nommen. Es folgte hektisches Treiben bei der CDU unddie Bitte, den Beschluss des Ausschusses aufzuheben,denn man bräuchte ja doch einen Änderungsantrag.Dieser wurde dann als Tischvorlage nachgereicht, undes fand eine erneute, korrigierende Abstimmung statt.Der letzte Akt der Peinlichkeit rund um dieses Geset-zesvorhaben fand am gleichen Tag im mitberatendenSportausschuss statt. Als dieser Tagesordnungspunktdort aufgerufen wurde, erklärte Staatssekretär Bergner,der federführende Innenausschuss hätte den Beschlussüber das Waffenregister vertagt, eine Abstimmung imSportausschuss sei daher noch nicht nötig. Leider warauch diese Information falsch, was die fehlende Kommu-nikation und Unfähigkeit in der Führungsspitze desMinisteriums erneut zeigte. Es ist bedauerlich, dass dieBundesregierung bei solchen wichtigen Vorhaben dienotwendige Kompetenz und Sorgfalt vermissen lässt.Nur weil wir grundsätzlich das Gesetzesvorhaben unter-stützen, haben wir diesen Dilettantismus missbilligendzur Kenntnis genommen.Noch ein Wort zum Waffenrecht. Im Mai findet imInnenausschuss eine Anhörung zu Vorlagen zum Waffen-recht statt. Es geht unter anderem um die Forderungnach einer zentralen Lagerung von Waffen und Munitionund um das Verbot von großkalibrigen kriegswaffenähn-lichen Vollautomaten. Durch solche Anträge zum Waf-fenrecht wird suggeriert, dass allein gesetzliche Vor-schriften zu mehr Sicherheit führen. Für mich liegt aberdas Problem eher im Vollzug und in der Kontrolle dergeltenden Vorschriften. Gesetzesverschärfungen erset-zen keine Kontrollen der Aufbewahrung von Waffendurch die örtlichen Waffenbehörden, sie ersetzen auchkein stärkeres Bewusstsein für einen verantwortungsvol-len Umgang mit Waffen. Meine Fraktion stimmt dem Ge-setz zur Errichtung eines Nationalen Waffenregisters zu.
Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung beendenwir das Gesetzgebungsverfahren zur Einführung desNationalen Waffenregisters in der BundesrepublikDeutschland. Damit erfüllen wir zum einen internatio-nale Verpflichtungen, die die Bundesrepublik Deutsch-land gegenüber den Vereinten Nationen eingegangen ist.Zum anderen setzen wir europäisches Recht um, das sichaus den Verpflichtungen gegenüber den Vereinten Natio-nen ergeben hat. Schließlich kommen wir auch Ver-pflichtungen des Bundesgesetzgebers nach. Im Zuge derÄnderungen deutschen Waffenrechts nach den schreckli-chen Amokläufen an Schulen wurde beschlossen, dassdas Waffenregister bis zum Ende dieses Jahres einge-führt werden muss.Das Ziel der Vereinten Nationen, die Registrierungvon Kleinwaffen auf den Weg zu bringen, besteht darin,das unkontrollierte Zirkulieren von Kleinwaffen welt-weit zu unterbinden. Mit dem neuen Register wird esmöglich sein, einen Überblick über den „Lebenslauf“einer Waffe von der Produktion bis zu einer möglichenendgültigen Vernichtung zu bekommen. Dies wird dazubeitragen, dass der Sumpf der sogenannten illegalenWaffen auf lange Sicht ausgetrocknet wird. Aus meinerSicht stellt dies einen enormen weltweiten Sicherheitsge-winn dar.Neben dem Ziel, weltweit die Sicherheit auf langeSicht zu erhöhen, profitieren wir aber auch in Deutsch-land von diesem Register. So freut es mich, dass sich dieMitglieder des Bundestages darüber einig sind, dass dieEinführung eines nationalen Waffenregisters eine guteSache ist. Schon in meiner Rede zur ersten Lesung habeich auf die Vorzüge des Registers hingewiesen. Dahermöchte ich nur kurz darauf eingehen. Deutschland be-kommt eine einheitliche Verwaltung der legalen Waffen.Lokale Insellösungen, zum Teil noch mit Karteikarten,gehören dann der Vergangenheit an. Die Sicherheitsbe-hörden werden zukünftig einen schnellen Überblick übermöglicherweise vorhandene Waffen im Fall eines not-wendigen Einsatzes bekommen. Die Aufklärung von Ge-waltverbrechen, bei denen Schusswaffen eine Rolle spie-len, wird erleichtert. Schließlich wird es zukünftigschneller und leichter möglich sein, vertauschte, gestoh-lene oder verlorene Sport- und Jagdwaffen dem recht-mäßigen Besitzer bzw. Eigentümer zurückzugeben. ImZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20775
Serkan Tören
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Ergebnis haben wir also die glückliche Lage einer Win-win-Situation für alle Seiten.Was die Forderungen von Bündnis 90/Die Grünennach einer Verbesserung des Waffenrechts angeht, ste-hen wir als Liberale Verbesserungen immer positiv ge-genüber und würden auch konstruktiv an solchen Ver-besserungen mitarbeiten. Allerdings sage ich gleich:„Verbesserungen“, die nur auf eine weitere Verschär-fung des Waffenrechts hinauslaufen, ohne dass dies einMehr an echter Sicherheit für die Bürger bedeutet, leh-nen wir ab.Abschließend noch ein Wort zu der angekündigtenBundesratsinitiative aus NRW im Hinblick auf eine Re-gelanfrage bei den Landesämtern für Verfassungsschutz,wenn eine waffenrechtliche Erlaubnis ausgestellt werdensoll. Mit einer solchen Regelanfrage wird aus unsererSicht allen zukünftigen Legalwaffenbesitzern zunächsteinmal unterstellt, dass sie kriminell sein könnten. Schonheute wird bei der Erteilung von waffenrechtlichen Er-laubnissen die Zuverlässigkeit überprüft. Dies ist Geset-zeslage. Personen die strafrechtlich in Erscheinung ge-treten sind oder bei denen Zweifel bezüglich derZuverlässigkeit besteht, bekommen schon heute keinewaffenrechtliche Erlaubnis. Dies muss reichen. Daherlehnen wir die geplante Initiative aus NRW ab.
Die Linke hat seit langem die Einführung eines natio-
nalen Waffenregisters gefordert; doch hat uns die kon-
krete Ausgestaltung des Gesetzes von einer Zustimmung
im Innenausschuss abgehalten. Die Zugriffsmöglichkeit
der Geheimdienste und der unzureichende Datenschutz,
insbesondere bei der automatisierten Abfrage, haben
uns zur Enthaltung veranlasst.
Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens hat der Bun-
desrat Änderungsbedarf angemeldet. Mit Ausnahme
des Landes Brandenburg haben die Länder letzte Da-
tenschutzansprüche über Bord werfen wollen. Ein-
schränkungen beim Zugriff der Geheimdienste sowie
Begründungs- und Protokollierungsanforderungen soll-
ten wegfallen bzw. extrem gelockert werden.
Nun ist in der vorliegenden Variante des Gesetzent-
wurfs kaum einer der Änderungswünsche des Bundesra-
tes in voller Konsequenz eingebaut worden. Die Strei-
chung konkreter Speicherfristen und der Wegfall einer
Begründungspflicht bei Anfragen an das Waffenregister
mögen eine Erleichterung der Arbeit von Strafverfol-
gungsorganen bewirken; der Datenschutz wurde aber
wieder einmal außen vor gelassen. Unsere Zustimmung
bleibt Ihnen also weiterhin erspart.
Neben der Einführung des Waffenregisters haben wir in
der Vergangenheit weiteren Handlungsbedarf angemahnt.
Die Ergebnisse von Kontrollen der Ordnungsbehörden in
den letzten Monaten lassen aufhorchen. Sie zeigen, dass
die Mehrzahl der Waffenbesitzerinnen und -besitzer Waf-
fen und Munition vorschriftsmäßig lagern. Es sind aber
auch zahlreiche Verstöße festgestellt worden. Ein beson-
ders krasses Beispiel zeigte sich in Bremen, wo bei
75 Prozent der unangekündigten Überprüfungen Ver-
stöße festgestellt worden sind.
Eine Folge solcher Kontrollen ist immer wieder, dass
freiwillig auf Waffen verzichtet wird, weil vielmals ei-
gentlich keine Nutzungsabsichten mehr vorhanden sind.
An diesem Beispiel zeigt sich besonders deutlich, dass
noch viel mehr Anstrengungen möglich wären, um die
Zahl der Waffen in der Gesellschaft zu senken. Doch da-
für müssen gesetzliche und materielle Grundlagen ge-
schaffen werden, um dies zu ermöglichen. Durch das na-
tionale Waffenregister sind die Ordnungsbehörden im
Verwaltungsaufwand deutlich entlastet worden. Frag-
lich ist allerdings, ob die notorisch klammen Kommunen
die freigesetzten Potenziale für stärkere Kontrollen nut-
zen oder aber Personalstellen in den Ordnungsbehörden
streichen.
In vielen Teilbereichen des Waffenrechts liegt einiges
im Argen. Seit Jahren fordern zum Beispiel die Polizei-
gewerkschaften ein Verbot großkalibriger Schusswaffen.
Es gibt keine vernünftige Erklärung, warum diese be-
sonders gefährlichen Waffen zum Schützensport notwen-
dig sind. Sportlich machen eine kleinkalibrige Waffe und
eine großkalibrige Waffe keinen Unterschied, in einer
Amoksituation oder bei einem polizeilichen Zugriff al-
lerdings schon.
Auch die weite Verbreitung von halbautomatischen
Waffen stellt ein großes Problem dar. Halbautomatische
Waffen werden im Schießsport stark genutzt, deshalb
verbieten sich hier schnelle Lösungen. Doch sollte zu-
mindest über Wege nachgedacht werden, wie man lang-
fristig mit dem Problem umzugehen gedenkt.
Das Thema Erbwaffen ist nach wie vor ungeklärt.
Waffen im Besitz von Menschen, die keine genehmigte
Nutzungsabsicht haben, müssen durch Blockiersysteme
oder Abzugsschlösser gesichert werden. Die Waffen
werden dadurch nicht zerstört, aber gegen unbefugte
Nutzung gesichert.
Die Koalition wagt es erst gar nicht, sich solche Fra-
gen zu stellen. Das ist wohl darin begründet, dass man
Wählerstimmen schwinden sieht, wenn Verschärfungen
des Waffenrechts auch nur angedacht werden. Doch
dazu werden wir im Mai eine Anhörung im Innenaus-
schuss haben. Zwei Anträge der Grünen zum Waffen-
recht werden diskutiert. Dann wird eine Positionierung
von allen Parteien erwartet, wie sie mit 10 Millionen le-
galen und 20 Millionen illegalen Waffen in der Gesell-
schaft umzugehen gedenken.
Auf den Tag genau vor zehn Jahren erschoss ein ehe-maliger Schüler des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums inseiner ehemaligen Schule 16 Menschen. Er tat dies mitWaffen, die er legal gekauft hatte. Wir haben damals dasWaffenrecht verändert, um solche Taten in Zukunft zuverhindern. Heute wissen wir: Das ist uns nicht gelun-gen. Es gab weitere solcher Taten, wie vor gut drei Jah-ren den Amoklauf von Winnenden.Meine Fraktion und ich haben uns schon seit vielenJahren für ein restriktiveres Waffenrecht eingesetzt.Zu Protokoll gegebene Reden
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20776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Wolfgang Wieland
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Dazu gehörte auch immer die Forderung nach einemnationalen Waffenregister, wie wir es heute einführen.Die bisherige Praxis gehört seit Jahren schon überarbei-tet, nicht nur, weil es eine EU-Richtlinie so will. Bisherwurden Waffen lokal registriert, seit 2003 besteht aucheine Meldepflicht für jeden Waffenverkauf und -weiter-verkauf. Das hat aber bisher noch nicht zu einem über-sichtlichen und handhabbaren Register geführt; dennnoch speichern Dutzende unterschiedliche Behördennach unterschiedlichen Datenstandards. Und ihre Infor-mationen werden nicht vernetzt.Es war also höchste Zeit, hier Abhilfe zu schaffen.Die Erfahrungen aus Hamburg zeigen, dass ein moder-nes, computergestütztes Register eine große Hilfe seinkann. Wir begrüßen es daher ausdrücklich, dass es dieseKoalition geschafft hat, sich nun sogar schon ein kleinwenig früher zur Einrichtung eines nationalen Registersdurchzuringen, als die EU es zwingend vorschreibt. Ob-wohl es die entsprechende Richtlinie seit 2008 gibt, undein nationales Waffenregister schon viel länger sinnvollist, hatten diese und die Vorgängerregierung sich bishernicht für das Projekt erwärmen können.Die Hoffnung, die sich mit dem Waffenregister ver-bindet, kann aber nur erfüllt werden, wenn auch genü-gend Verwaltungsressourcen dafür bereitstehen. Die bis-herige Praxis krankt ja auch an Vollzugsdefiziten undmangelnder Ausstattung der zuständigen Behörden.Dem Lehrsatz, dass jedes Gesetz nur so gut sein kannwie sein Vollzug, ist also dringend Rechnung zu tragen.Das bedeutet für uns aber auch, dass bei einer Datei, diewir inhaltlich für sehr sinnvoll halten, genauestens dieBestimmungen des Datenschutzes einzuhalten sind, umdas Recht der Waffenbesitzer auf informationelle Selbst-bestimmung zu schützen.Mit der Verbindung der Daten über Waffen, über dieeinschlägigen Erlaubnisse und Einschränkungen, überden Verkauf und den Besitz entsteht mit diesem Registerso etwas wie eine Biografie jeder Waffe. So lässt sichfeststellen, wer wo welche Waffe haben darf, wo eineWaffe sein sollte und ob eine aufgefundene Waffe legalbesessen wird. Und – ein sehr wichtiger Punkt – es lässtsich auch erkennen, wann eine Waffe gegebenenfalls indie Illegalität abgedriftet ist.Aber bei aller Hoffnung, dass das Waffenregisterwirksam gegen den Missbrauch von Waffen sein kann,dass Waffen besser kontrollierbar werden, dass der Be-reich der illegalen Waffen zumindest ein Stück weit ein-gedämmt werden kann: Es ist auch klar, dass dieses Re-gister nicht die Antwort auf alle Probleme ist, die wir inunserer Gesellschaft mit Waffen haben.Wir müssen darüber hinaus mehr tun, auch gemein-sam in der EU und darüber hinaus, gegen illegale Waf-fen und ihre Verbreitung. Und wir müssen unser eigenesWaffengesetz verbessern. Meine Fraktion hat Vor-schläge vorgelegt, spezifisch zum Verbot kriegswaffen-ähnlicher halbautomatischer Waffen, aber auch zur all-gemeinen Verbesserung der Kontrolle von Waffen undMunition.Bei der Regulierung von Waffen geht es uns nicht umdie Drangsalierung von Schützen und Jägern. Es gehtuns nicht um Vorschriften, welches Hobby als gut undwelches als schlecht zu gelten hat. Sondern es geht da-rum, dass Jagd und Schießsport eben mit Waffen ausge-übt werden, die im Fall des Missbrauchs für andere töd-lich sind. Aus der Sportwaffe kann die Mordwaffewerden. Das ist eine einfache technische Wahrheit, unddas ist eben leider auch zu oft eine tödliche Wahrheit.Und das rechtfertigt es, diese Waffen besonders auf-merksam zu registrieren, zu kontrollieren und zu regle-mentieren.Wir wollen weitere Verbesserungen des Waffenrechtsund verbesserte Schutzmechanismen in Angriff nehmen.Das ist der Auftrag, der an uns als Gesetzgeber von denschrecklichen Amoktaten der letzten Jahre ausgeht. Wirwerden in einer Expertenanhörung im Innenausschussam 21. Mai über Beschränkungen von großkalibrigenWaffen zu reden haben, über die getrennte Lagerungvon Munition und Waffen und auch über weitere Maß-nahmen, die den Schutz vor mit Waffen ausgeübter Ge-walt verbessern helfen. Auch mit dem neuen nationalenWaffenregister bleibt also viel zu tun.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/9217, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 17/8987 in der Ausschussfassung anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um Zustim-mung. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltung? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-men von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen beiEnthaltung der Linken.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor an-genommen.Tagesordnungspunkt 23 a und ba) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinKunert, Katja Kipping, Dr. Dietmar Bartsch, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEAufwandsentschädigungen für kommunaleMandatsträgerinnen und Mandatsträger so-wie Amtsträgerinnen und Amtsträger nichtauf Leistungen nach dem Zweiten und Zwölf-ten Buch Sozialgesetzbuch anrechnen– Drucksache 17/7646 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussSportausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20777
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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b) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKipping, Katrin Kunert, Diana Golze, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEKeine Anrechnung von Aufwandsentschädi-gungen für bürgerschaftliches Engagementauf Leistungen nach dem Zweiten und Zwölf-ten Buch Sozialgesetzbuch– Drucksache 17/7653 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussSportausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendFolgende Kolleginnen und Kollegen haben ihreReden zu Protokoll gegeben: Dr. Carsten Linnemann,Ulrich Lange, Angelika Krüger-Leißner, Pascal Kober,Katrin Kunert und Markus Kurth.
Vorab möchte ich das Positive dieser beiden Anträge
herausstellen: In beiden wird aufgezeigt, wie groß das
bürgerliche Engagement in Deutschland ist und wie
wertvoll es für unsere Gesellschaft ist. Ich gebe den
Antragstellern auch Recht in ihrer Feststellung, dass
ehrenamtliches Engagement eine besondere Kultur der
Anerkennung und die entsprechenden Rahmenbedingun-
gen benötigt. Deutschland ist diesbezüglich auch dank
verschiedener Initiativen der CDU/CSU-Bundestags-
fraktion, die bis in das Jahr 1995 zurückreichen, bereits
gut aufgestellt. Wir haben an zahlreichen Stellschrauben
wichtige Verbesserungen erreicht, zum Beispiel bei der
Begrenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen
Vereinsvorständen und bei der Erweiterung des Unfall-
versicherungsschutzes. Auch die jetzige Regierungs-
koalition hat das Ehrenamt voll im Blick: Wie im
Koalitionsvertrag vereinbart, haben wir Ende 2010 eine
„Nationale Engagementstrategie“ auf den Weg ge-
bracht. Diese Koalition braucht sicherlich keine Nach-
hilfe in puncto Stärkung des Ehrenamtes.
Vor allem sind Vorschläge abzulehnen, die eine
unheilvolle Gleichsetzung mit einer Erwerbstätigkeit
bewirken. Bürgerliches Engagement kann keine regu-
läre Arbeit ersetzen. Es kann diejenigen, die Sozialleis-
tungen beziehen, nicht von ihrer Pflicht entbinden, alles
zu tun, um sich aus der Arbeitslosigkeit bzw. aus dem
Zustand der Hilfsbedürftigkeit zu befreien. Übersteigen
die Aufwandsentschädigungen für eine ehrenamtliche
Tätigkeit einen bestimmten Betrag, ist eine Grund-
voraussetzung zum Erhalt von Leistungen durch die So-
lidargemeinschaft nicht mehr erfüllt, nämlich die der
Hilfsbedürftigkeit. Daher ist es vom Grundsatz her rich-
tig, dass Aufwandsentschädigungen im Rahmen einer
ehrenamtlichen Tätigkeit wie Einnahmen aus Erwerbs-
tätigkeit behandelt und auf Sozialleistungen angerech-
net werden.
Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass
gerade Langzeitarbeitslose von einer ehrenamtlichen
Tätigkeit profitieren können, um den Anschluss in der
Gesellschaft nicht zu verlieren und weitere Befähigun-
gen zu erwerben. Ob als Trainer einer Fußballjugend-
mannschaft oder als Chorleiter in einem Musikverein,
diese Tätigkeiten können wertvolle Bausteine sein, um
letztlich wieder den Schritt in das Berufsleben zu schaf-
fen. Denn sie haben zwei wertvolle Eigenschaften: Sie
stärken das Selbstbewusstsein, und sie verschaffen ein
Gefühl des Gebrauchtwerdens.
Der Gesetzgeber hat diese positiven Eigenschaften
des Ehrenamtes bereits berücksichtigt, indem er den
Empfängern von Sozialleistungen einen monatlichen
Freibetrag in Höhe von 175 Euro gewährt. Dieser
Wert knüpft an das an, was für Steuerpflichtige gemäß
§ 3 EStG gilt. Damit ist in den Augen der CDU/CSU-
Fraktion die richtige Balance hergestellt: Der ehren-
amtlich Tätige erhält Anerkennung, auch in materieller
Form, und gleichzeitig bleiben die Grundsätze unseres
Sozialversicherungssystems gewahrt. Aus diesen Grün-
den werden wir die vorliegenden Anträge, die eine
völlige Abkehr von der gängigen Anrechnungspraxis
fordern, ablehnen.
Es ist selten, dass ich eine Debatte der Linken be-grüße; aber ihr Antrag gibt mir die Möglichkeit, die Be-deutung und den Wert der ehrenamtlichen Tätigkeiten zuwürdigen und den vielen Millionen Menschen in unse-rem Land für ihren Einsatz für die Anderen zu danken.Je weiter sich unsere Gesellschaft entwickelt hat,desto unterschiedlicher sind auch die Ausprägungsfor-men des Ehrenamtes geworden. Das zeigen uns schondie verschiedenen Begriffe, die das Ehrenamt umschrei-ben. So heißt es hier Ehrenamt, dort Freiwilligenarbeit,bürgerschaftliches Engagement oder Selbsthilfe. Diessind Vokabeln, die jeweils andere und eigenständige Tä-tigkeitsfelder beschreiben. Aber eines haben sie alle ge-meinsam: Sie beschreiben die aktive Mitwirkung vonMenschen, die unbezahlt oder nur gegen eine geringeAufwandsentschädigung freiwillig Aufgaben überneh-men und Arbeiten zugunsten ihrer Mitmenschen erledi-gen. Das Spektrum ehrenamtlicher Arbeit ist in unsererGesellschaft weitgefächert. Es gibt kaum einen Bereichdes alltäglichen Zusammenlebens, in dem wir ehrenamt-liches Engagement nicht finden könnten.Ehrenamt, das bedeutet gelebte Solidarität und Be-reitschaft zur Übernahme von Verantwortung für denMitmenschen. Ohne den persönlichen Einsatz von etwajedem dritten Bürger der Bundesrepublik Deutschlandwürde in vielen, insbesondere in sozialen Bereichenbuchstäblich das Licht ausgehen. Bei diesem bürgerli-chem Engagement sind alle willkommen; es ist keineFrage des Geldbeutels. Er steht selbstverständlich auchallen Hartz-IV-Leistungsberechtigten offen. Wir freuenuns, wenn sich Personen, die Leistungen aus dem SGB IIerhalten, für diese Gesellschaft engagieren. Dieser Ein-satz wird dadurch gewürdigt, dass ein erhöhter monatli-cher Freibetrag von 175 Euro im Rahmen der pauscha-len Aufwandsentschädigung eingeräumt wird. DieNichtberücksichtigung als Einkommen kommt dann zurAnwendung, wenn die gegenständlichen Leistungen miteiner ausdrücklichen Zweckbestimmung, zum BeispielFahrtkostenentschädigung, Kleidergeld, Materialkos-
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20778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Ulrich Lange
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ten, versehen sind. Die Forderung der Linken, Auf-wandsentschädigungen für ehrenamtliche kommunaleMandatsträger bzw. für bürgerschaftliches Engagementnicht auf die Grundsicherung anzurechnen, ist also inkeiner Weise gerechtfertigt.Mit der Neufassung des SGB II im März 2011 wurdeein wesentlicher Teil von Einnahmen aus unterschiedli-chen freiwilligen bzw. nebenberuflichen Tätigkeiten neugeregelt und zusammengefasst. Diese Einnahmen wur-den systematisch richtig im Wege der Absetzbeträge pri-vilegiert und mit einem einheitlichen Pauschbetrag ver-sehen. Damit wird das freiwillige Engagement auch vonsolchen Personen honoriert, die Leistungen der Grund-sicherung beziehen.Sinn und Zweck der Grundsicherung für Arbeitsu-chende und der Sozialhilfe sind die Verringerung undBeendigung der Hilfebedürftigkeit sowie die Sicherungdes Lebensunterhalts. Wer Einnahmen erzielt, hat diesezur Verringerung seiner Hilfebedürftigkeit einzusetzen.Eine Erhöhung des Absetzbetrags führt zu einem erhöh-ten Leistungsbezug, den die Allgemeinheit zu tragenhätte, und dies ist nicht im Sinne unserer Gesellschaft.
Die heute zu beratenden Anträge der Fraktion DieLinke betreffen die Frage der Anrechnungen von Auf-wandsentschädigungen in den Rechtskreisen des SGB II,also der Grundsicherung für Arbeitsuchende, sowie desSGB XII, des Rechts der Sozialhilfe. Konkret geht es umdie Entschädigungen, die bei Ausübung eines Ehrenam-tes gezahlt werden – sowohl an kommunale Amts- oderMandatsträger als auch für bürgerschaftliches Engage-ment. Dieses Thema interessiert viele Menschen in unse-rem Land. Mehr als 23 Millionen Bürgerinnen und Bür-ger engagieren sich in unserem Land ehrenamtlich. Wirkönnen uns glücklich schätzen, dass sich so viele Men-schen in unserer Gesellschaft freiwillig einbringen.Viele Tausend Frauen und Männer in Deutschland er-klären sich bereit, in ihren Städten und Kommunen einkommunales Amt oder Mandat anzunehmen und damitein Ehrenamt zu bekleiden.Für eine lebendige Demokratie ist die Beteiligung derMenschen unabdingbar. Diese Bereitschaft für bürger-schaftliches Engagement und die Ausübung eines kom-munalen Mandats prägt unser aller Gemeinwohl. DieTatsache, dass so viele Menschen auf vielfältigste Artund Weise Verantwortung übernehmen und sich für so-ziale, kulturelle, integrationsfördernde oder kommunal-politische Belange einsetzen, ohne dass damit ein exis-tenzsicherndes Einkommen verbunden ist, belegt dashohe Maß an Gemeinsinn in unserer Gesellschaft.Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt dies ausdrück-lich und zollt allen ehrenamtlich Tätigen größte Aner-kennung. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratenüberall in Deutschland unterstützen und fördern diesesbürgerschaftliche Engagement. Häufig sind auch sieselbst in ihren Kommunen ehrenamtliche Amts- oderMandatsträger und engagieren sich beispielsweise inVereinen, in der Jugendarbeit, bei Hilfsorganisationenwie dem THW oder bei der freiwilligen Feuerwehr.In den beiden Anträgen, die die Kolleginnen und Kol-legen der Fraktion Die Linke eingebracht haben, geht esdarum, ob und inwieweit Aufwandsentschädigungen fürsolch ein Engagement auf die Sozialleistungen wie Ar-beitslosengeld II oder Sozialhilfe anzurechnen sind. DieFraktion Die Linke fordert in ihren Anträgen, die gesetz-lichen Regelungen dahin gehend zu ändern, dass Auf-wandsentschädigungen für ehrenamtliche kommunaleMandatsträgertätigkeit oder für bürgerschaftliches En-gagement generell nicht auf die Grundsicherungsleis-tungen anzurechnen sind.Die Forderungen klingen auf den ersten Blick gut undnachvollziehbar, gerade angesichts der bereits erwähn-ten großen Bereitschaft zum Ehrenamt. Aber wie so oftbei den Anträgen der Linken trügt der erste Eindruck; dieKonsequenzen der Forderungen wurden leider nicht biszu Ende gedacht. Bereits nach den heute geltenden Re-gelungen bleibt in beiden Rechtskreisen ein monatlicherGrundfreibetrag in Höhe von 175 Euro anrechnungsfrei.Außerdem unterbleibt eine Anrechnung grundsätzlich,wenn ausdrücklich eine Zweckbestimmung bei der Ent-schädigungszahlung erfolgt, zum Beispiel als Fahrkos-tenentschädigung oder Materialkostenpauschale. Da-rüber hinaus sind Einnahmen, die über 175 Eurohinausgehen und nicht höher als 1 000 Euro sind, imRechtskreis SGB II zu 20 Prozent nicht auf die Regelbe-darfsleistung anzurechnen.Die Ehrenamtspauschale ist auf Initiative der SPDein Verhandlungserfolg im Vermittlungsausschussver-fahren zur sogenannten Hartz-IV-Reform gewesen.Diese Regelungen stellen im Verhältnis zu den vorange-gangenen eine deutliche Verbesserung dar. Sie geltenseit nunmehr gut einem Jahr und kommen allen ehren-amtlich Tätigen zugute. Mit den Änderungen gilt dersteuerliche Freibetrag für Einnahmen aus nebenberufli-cher Tätigkeit nach § 3 Nr. 26, 26 a oder b EStG auch fürdas Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld. Privilegiertwerden insbesondere die Personengruppen der Übungs-leiter, aber auch nebenberuflich tätige Ausbilder, Erzie-her oder Betreuer. Sind Aufwandsentschädigungen bun-des- oder landesgesetzlich festgesetzt und als solcheauch im jeweiligen Haushaltsplan ausgewiesen, giltauch hier die Grenze von 175 Euro monatlich. Insoweitgilt, dass diese Tätigkeiten künftig hinsichtlich der Pri-vilegierung der Einnahmen wie Erwerbstätigkeiten be-handelt werden, mit der Folge, dass bei höheren Auf-wandsentschädigungen ebenfalls die Freibeträge nach§11 b Abs. 3 SGB II eingeräumt werden. Höhere erfor-derliche Aufwendungen für die Tätigkeiten können wiebei Erwerbstätigkeiten geltend gemacht werden. Zu die-sem Zweck haben wir durchgesetzt, dass die bisherigeGrenze von 400 Euro, ab der ein höherer Abzug geltendgemacht werden kann, auf 175 Euro abgesenkt wird.Diese Pauschale für das Ehrenamt gilt für die Rechts-kreise des SGB II wie des SGB XII gleichermaßen.Damit ist das Ehrenamt im Hinblick auf pauschal ge-währte Aufwandsentschädigungen bereits deutlich pri-vilegiert im Verhältnis zu den übrigen Anrechnungsrege-lungen für Einkommen während des Bezugs vonLeistungen der Grundsicherung oder der Sozialhilfe.Aufwandsentschädigungen dagegen generell anrech-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20779
Angelika Krüger-Leißner
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nungsfrei zu stellen, wie es die Fraktion Die Linke for-dert, hätte arbeitsmarktpolitisch fatale Folgen. Im Übri-gen liefe es auch dem Rechtsgedanken des SGB IIzuwider. Daher lehnen wir die Anträge ab.Im Kern geht es darum, dass sich Menschen im Leis-tungsbezug des SGB II, also der Grundsicherung für Ar-beitsuchende, befinden und eine Aufwandsentschädi-gung für die Ausübung eines Ehrenamtes bzw. einerkommunalen Mandatsträgertätigkeit erhalten. Vorran-giges Ziel des SGB II ist es, Langzeitarbeitslosigkeit zuüberwinden und ALG-II-Empfänger wieder in den Ar-beitsmarkt zu integrieren, ohne dass sie weiterhin aufLeistungen der Grundsicherung angewiesen sind.Der Arbeitsmarkt braucht diese Arbeitskräfte. Insbe-sondere für die Branchen, die bereits jetzt einen Fach-kräftemangel verzeichnen, ist die Wiedereingliederungder erwerbsfähigen Arbeitsuchenden zum Beispiel nachTeilnahme an Maßnahmen oder Arbeitsgelegenheitenwichtig. Eine gänzlich anrechnungsfreie Aufwandsent-schädigung birgt die Gefahr, dass die Aufnahme einersozialversicherungspflichtigen Tätigkeit verhindert wird.Das kann nicht in unserem Interesse sein. Insofern sinddie aktuell bestehenden Anrechnungsregelungen beiAufwandsentschädigungen für ehrenamtliches Engage-ment sachlich gerechtfertigt. Sie entsprechen der Inten-tion des SGB II.Die Forderung der Fraktion der Linken übersiehtauch, dass bei ihrer Umsetzung eine Ungleichbehand-lung gegenüber Leistungsberechtigten entsteht, die Ein-kommen aus anderen Quellen beziehen, das unverändertder Anrechnung unterliegt. Auch deshalb sind diese An-träge abzulehnen.
Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen der Linken
zum Thema Anrechnung von Aufwandsentschädigungen
für bürgerliches Engagement auf Leistungen nach dem
Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, zuerst
möchte ich Sie fragen, warum es dazu zwei Anträge ge-
braucht hat. Ressourcenschonender wäre es doch gewe-
sen, beides in einen Antrag zu bringen, zumal sich die
Forderung nur in zwei Worten unterscheidet.
Aber nun zum eigentlichen Inhalt Ihrer Anträge.
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist ein staat-
liches Fürsorgesystem, das vom Nachranggrundsatz ge-
prägt ist. Dies bedeutet, dass erwerbsfähige Hilfebe-
dürftige und die mit ihnen in Bedarfsgemeinschaft
lebenden Angehörigen Leistungen der Grundsicherung
nur erhalten, wenn sie hilfebedürftig sind. Hilfebedürftig
ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräf-
ten bestreiten kann. Der Nachranggrundsatz bedeutet
aber auch, dass auf anderen Rechtsvorschriften beru-
hende Leistungen, wie zum Beispiel das Kindergeld oder
das Elterngeld, grundsätzlich Vorrang vor den Leistun-
gen nach Sozialgesetzbuch II haben und damit stets auf
das Arbeitslosengeld II angerechnet werden.
In § 11 a SGB II sind die Einkommensarten zusam-
mengefasst, die nicht oder nur teilweise berücksichtigt
werden, so unter anderem auch Entschädigungen. Auf-
wandsentschädigungen sind nur dann nicht als Einkom-
men zu berücksichtigen, wenn die erbrachten Leistun-
gen ausdrücklich einem anderen Zweck als Leistungen
nach dem SGB II dienen. So sind zum Beispiel pau-
schale Fahrtkostenentschädigungen zu werten, weil sie
der Bewältigung des Aufwandes dienen, um die Tätigkeit
auszuüben.
Das bedeutet, dass die Bestandteile einer Entschädi-
gungsleistung, die der Abgeltung des tatsächlichen Auf-
wands dienen, zu privilegieren und damit nicht anzurech-
nen sind. Hierzu zählen bei ehrenamtlichen kommunalen
Mandatsträgern unter anderem, wie beschrieben, die
Fahrtkosten, aber auch Sitzungsgelder für Plenar- oder
Ausschusssitzungen.
Werden jedoch pauschale Aufwandsentschädigungen
geleistet, dann sind diese mangels hinreichender Zweck-
bestimmung wie Einnahmen aus Erwerbstätigkeit zu be-
handeln. Der für solche Aufwandsentschädigungen zu-
erkannte Freibetrag beläuft sich auf 175 Euro pro
Monat. Diese Summe ergibt sich aus den Regelungen
des Einkommensteuergesetzes. Jedoch wird nicht der in
§ 3 Nr. 26 Einkommensteuergesetz genannte jährliche
Betrag in Höhe von 2 100 Euro anrechnungsfrei gestellt,
sondern der monatliche Anteil in Höhe von 175 Euro.
Dies ergibt sich aus der monatlichen Berechnung des
Arbeitslosengeldes II.
Ich halte diese Vorgehensweise für mit Augenmaß ge-
wählt. Die Systematik des SGB II ist nun einmal, dass
das Arbeitslosengeld II eine Nachrangleistung ist. Wäre
dies nicht so, dann hätten wir auch Probleme, bestehen-
des Vermögen zu berücksichtigen und eine Verwertung
dieser Mittel vor der Inanspruchnahme staatlicher Hil-
fen einzufordern. Dies halte ich aber aus Gründen der
Solidarität für unabdingbar. Es muss weiterhin so sein,
dass die staatliche Unterstützung und die damit verbun-
dene gesamtgesellschaftliche Solidarität der letzte Schritt
ist.
Wer beispielsweise in Bedarfsgemeinschaft mit einem
Menschen lebt, der ein hohes Vermögen hat, sollte nicht
auf Mittel der Gemeinschaft Anspruch haben, sondern
erst einmal aus seinem nächsten Umfeld Unterstützung
bekommen.
Daher muss auch Einkommen, egal aus welcher
Quelle es stammt, berücksichtigt werden. Der Aufwand,
der durch ein Ehrenamt entsteht, muss abgegolten wer-
den, das ist keine Frage und auch, wie beschrieben, Ge-
setzeslage. Wer eine Entschädigung erhält, der keine
konkreten Aufwendungen gegenüberstehen, der erhält
einen Lohn. Und dieser soll auch weiterhin angerechnet
werden, wie jedes Erwerbseinkommen auch angerechnet
wird.
„Ehrenamtliches Engagement braucht Anerken-nung.“ Dieser Satz stammt aus einem Statement derBundeskanzlerin anlässlich des Empfangs von 200 bür-Zu Protokoll gegebene Reden
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20780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Katrin Kunert
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gerschaftlich Engagierten im Bundeskanzleramt im letz-ten Jahr, welches übrigens das Europäische Jahr derFreiwilligentätigkeit war.Auch hier im Hause sind wir uns alle einig, dass bür-gerschaftlich engagierte Bürgerinnen und Bürger einenwichtigen Beitrag zu dieser Gesellschaft leisten unddass bürgerschaftliches Engagement Anerkennung,Wertschätzung und Unterstützung durch Staat und Ge-sellschaft verdient.Blickt man allerdings auf die realen Bedingungen derüber 23 Millionen bürgerschaftlich Engagierten, mussman feststellen, dass noch einiges im Argen liegt. Insbe-sondere gilt dies für diejenigen bürgerschaftlich Enga-gierten, die Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozial-gesetzbuch erhalten, und zum Teil auch für diejenigen,die Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetz-buch erhalten.Was das konkret bedeutet, möchte ich Ihnen anhandvon zwei Beispielen verdeutlichen.Zunächst geht es um einen Ortsteilbürgermeister inThüringen. Dieser Bürgermeister übt sein Amt ehren-amtlich aus und erhält eine pauschale Aufwandsent-schädigung in Höhe von 475,50 Euro im Monat. Mitdiesem Betrag sollen die Kosten, die durch die Wahrneh-mung seines Amtes entstehen, ausgeglichen werden. DerBürgermeister finanziert damit seine Bürgersprech-stunde, Fahrten zu Terminen, die er im Rahmen seinesAmtes wahrnimmt sowie Telekommunikationsmittel undArbeitsmaterialien. Als ALG-II-Beziehender bekommtdieser Bürgermeister aber einen Großteil der Aufwands-entschädigung, nämlich 225,00 Euro auf seinen Regel-satz angerechnet. Ihm bleiben also faktisch nur250,50 Euro pro Monat von seiner Aufwandsentschädi-gung.Jetzt kann man dem Bürgermeister natürlich raten,die Belege für sämtliche Telefonate, Fahrten, Büromate-rialien usw. zu sammeln und beim Jobcenter einzurei-chen, um nachzuweisen, dass die Aufwendungen für seinAmt über den 250,50 Euro pro Monat gelegen haben.Wer wie ich die Tätigkeit als ehrenamtliche Amts- oderMandatsträgerin kennt, weiß aber, dass derartige Rat-schläge an den Bedingungen im realen Leben vorbeige-hen. Wenn man versuchen würde, bei jeder Gesprächs-minute am Telefon, bei jedem gefahrenen Kilometer,jedem verbrauchten Block, jedem Bleistift usw. durch Be-lege nachzuweisen, dass diese Dinge im Zusammenhangmit der Amts- bzw. Mandatsausübung benutzt wurden,entstünde ein Verwaltungsaufwand, der unverhältnismä-ßig und in vielen Fällen praktisch kaum durchführbarwäre. Zudem ist nicht einzusehen, dass jemand imALG-II-Bezug, der sich ehrenamtlich engagiert, diesenVerwaltungsaufwand betreiben muss, während andereEhrenamtliche ihre Aufwandsentschädigung zwar ver-steuern müssen, im Übrigen aber auch ohne die Vorlageentsprechender Belege behalten dürfen.Das Problem der Anrechnung pauschaler Aufwands-entschädigungen betrifft allerdings nicht nur das bür-gerschaftliche Engagement im Bereich der Kommunal-politik. Es betrifft auch ehrenamtliche Übungsleiter inSportvereinen und ähnlichen Einrichtungen. Auf Nach-frage meiner Kollegin, Frau Dr. Kirsten Tackmann, hatdie Bundesregierung erklärt, dass sich auch ehrenamt-lich tätige Feuerwehrausbilderinnen und -ausbilder imSGB-II-Bezug ihre pauschale Aufwandsentschädigungauf den Regelsatz anrechnen lassen müssen. Eine Feuer-wehrfrau aus dem Landkreis Ostprignitz/Ruppin mussnun aufgrund der Auszahlungsweise der Aufwandsent-schädigung sogar ALG-II-Bezüge zurückzahlen. Das istungerecht und für niemanden nachvollziehbar.Die Konsequenzen der aktuellen Rechtslage, die an-hand der beiden genannten Beispiele deutlich werden,müssen uns als Gesetzgeber aufhorchen lassen. Wenn dieGewährung der Aufwandsentschädigung für ALG-II-Be-ziehende nur nach der Erfüllung umfangreicher Nach-weispflichten erfolgt, ist dies kaum mit der von der Bun-deskanzlerin angemahnten Anerkennung zu vereinbaren.Betrachtet man die aktuelle Rechtslage etwas genauer,stellt man fest, dass hinsichtlich des Charakters von Auf-wandsentschädigungen von einer falschen Prämisseausgegangen wird. Aufwandsentschädigungen sind al-leine schon vom Wortsinn her nicht mit Einkommen ausErwerbsarbeit gleichzusetzen. Es soll nicht die Arbeitvergütet, sondern eine Entschädigung für die Aufwen-dungen, die in Rahmen der ehrenamtlichen Tätigkeit ent-standen sind, geleistet werden. Wenn bürgerschaftlichEngagierte im ALG-II-Bezug ihren Aufwand nicht voll-ständig ersetzt bekommen, müssen sie diese Kosten ausdem Regelsatz bestreiten oder ihr Engagement sein las-sen. Diese würde aber im Ergebnis darauf hinauslaufen,das bürgerschaftliche Engagement zu einer Frage desGeldbeutels wird.Die Linke fordert, dass der Zugang zum bürgerschaft-lichen Engagement allen Menschen in diesem Land glei-chermaßen zusteht. Bürgerschaftliches Engagement istBestandteil der gesellschaftlichen Teilhabe und darf we-der unmittelbar noch mittelbar wirkenden gesetzlichenHürden für bestimmte Gruppen in der Gesellschaft un-terliegen. Es darf kein bürgerschaftliches Engagementerster und zweiter Klasse mehr geben.Ich fordere Sie daher auf, unseren beiden Anträgenzuzustimmen.
Das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen undzur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozial-gesetzbuch hat unter anderem zu Änderungen beim nichtzu berücksichtigenden Einkommen sowie bei den Ab-setzbeträgen geführt. Dies hat auch unmittelbare Aus-wirkungen auf die Übungsleitertätigkeit, pauschale Auf-wandsentschädigungen – etwa für kommunale Mandats-trägerinnen und Mandatsträger – sowie für Einkommen,etwa aus einer Erwerbstätigkeit.In den Verhandlungen zum Regelbedarfsermittlungs-gesetz konnten wir Grüne zwar die Bundesregierung da-von überzeugen, die Übungsleiterpauschale nicht zustreichen, dennoch kommt es durch die Neuregelung nunin bestimmten Fällen zu Verschlechterungen. Dies trittetwa dann ein, wenn neben der Übungsleiterpauschalevon 175 Euro monatlich gleichzeitig Einkommen aus Er-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20781
Markus Kurth
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werbstätigkeit, zum Beispiel aus einer geringfügigen Be-schäftigung, erzielt werden. War es vorher etwa mög-lich, 175 Euro Übungsleiterpauschale plus 160 Euroaus einem 400-Euro-Minijob zu behalten – 335 Euroinsgesamt –, gilt der Grundfreibetrag von 100 Eurokünftig für beide Tätigkeiten, sodass monatlich nur noch270 Euro behalten werden dürfen – 175 Euro plus95 Euro; entsprechend 20 Prozent des den Freibetragübersteigenden Betrags von 175 Euro –.Bei pauschalen Aufwandsentschädigungen für kom-munale Mandatsträgerinnen und Mandatsträger sowieAmtsträgerinnen und Amtsträger kam es zu Änderungendahin gehend, dass nunmehr bundesweit ein einheitli-cher Grundfreibetrag von 175 Euro besteht und darüberhinausgehende Entschädigungen wie Einkommen ausErwerbstätigkeit behandelt werden. Letztere Bezügewerden aber gegenüber Einnahmen aus Erwerbstätig-keit insofern privilegiert, als ein erhöhter Grundfreibe-trag von bis zu 175 Euro monatlich eingeräumt wird.Während es vor dem 1. April 2011 je nach Bundes-land und Kommune möglich war, dass etwa ein Bürger-meister im SGB-II-Bezug seine pauschale Aufwandsent-schädigung von 500 Euro anrechnungsfrei behaltendurfte, kann er das seitdem nur noch bis zu einem Betragvon 175 Euro. Alles, was darüber liegt, wird als Einkom-men angerechnet. Aufwandsentschädigungen, die da-rüber hinaus liegen, sind nur dann anrechnungsfrei,wenn der tatsächliche Aufwand belegt wird – zum Bei-spiel Fahrtkosten, Kleidergeld, Materialkosten –.Art und Höhe der Aufwandsentschädigung sind inlandesgesetzlichen Satzungen festgelegt. Meist wird zwi-schen der monatlichen Pauschale – alles inklusive –,Grundbetrag, Sitzungsgeld und Fahrtkosten unterschie-den. Nicht in jedem Fall indes blieb die Aufwandsent-schädigung bis zum 1. April 2011 anrechnungsfrei.Überstieg etwa der monatliche Grundbetrag die Summevon 175 Euro, wurde der übersteigende Betrag ange-rechnet, so die Bundesregierung in einer Antwort aufeine Anfrage der Linken, Drucksache 16/9530. Zwar seider Bundesregierung keine unterschiedliche Handha-bung der Grundsicherungsträger bekannt. Denkbar seies aber, „dass die Aufwandsentschädigungen für kom-munale Mandatsträgerinnen und Mandatsträger unter-schiedlich landesgesetzlich geregelt sind, sodass unter-schiedliche Entscheidungen gerechtfertigt wären“.Wie schon zum Antrag der Bundesregierung zur ViertenÄnderung des SGB IV – Drucksachen 17/6764, 17/7991,17/8003 – kritisieren wir, dass Aufwandsentschädigun-gen für kommunale Ehrenbeamte sowie für ehrenamtlichin kommunalen Vertretungskörperschaften Tätige oderfür Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane, Versicher-tenälteste oder Vertrauenspersonen der Sozialversiche-rungsträger oberhalb einer Jahressumme von 2 100 Euroals Einkommen berücksichtigt werden. Ich halte eine sol-che Rechtsauslegung bzw. -änderung für falsch. Geradeehrenamtliches Engagement in der Kommunalpolitik, inder Rechtspflege und in öffentlich-rechtlichen Körper-schaften wie der Selbstverwaltung der Sozialversiche-rung muss besonders anerkannt werden. Es bildet ge-wissermaßen das Wurzelwerk der Institutionen unseresRechts- und Sozialstaats.Auch aus dem Grundgesetz ließe sich eine solche Ar-gumentation begründen. So heißt es in Art. 28: „Die ver-fassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss denGrundsätzen des republikanischen, demokratischen undsozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzesentsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeindenmuss das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemei-nen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wah-len hervorgegangen ist.“
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/7646 und 17/7653 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind diese Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 22:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fort-
entwicklung des Meldewesens
– Drucksache 17/7746 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Helmut Brandt, Gabriele
Fograscher, Manuel Höferlin, Frank Tempel und
Wolfgang Wieland.
In der heutigen Debatte beschäftigen wir uns in ersterLesung mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Fortent-wicklung des Meldewesens.Im Rahmen der Föderalismusreform 2006 wurde dasMeldewesen in die ausschließliche Gesetzgebungskom-petenz des Bundes überführt. Mit dem nun vorliegendenGesetzentwurf macht der Bund von dieser KompetenzGebrauch und führt das bislang geltende Melderechts-rahmengesetz mit den bestehenden Meldegesetzen derLänder in einem einheitlichen Gesetz zusammen.Auch das Melderechtsrahmengesetz konnte zuletzt einAuseinanderlaufen der einzelnen Landesmeldegesetzenicht mehr verhindern, weil die Schaffung von bundes-weit gültigen technischen Standards im Meldewesen voneiner möglichst einheitlichen und zeitlich aufeinanderabgestimmten Umsetzung in den Ländern abhing. Esstellte sich jedoch heraus, dass zum einen nicht alle Län-der die Melderechtsrahmennovelle gleichzeitig in Lan-desrecht umsetzen konnten und dass zum anderen nichtalle Länder über die dafür notwendige technische Infra-struktur verfügten.Angesichts einer sich stetig wandelnden Informa-tionsgesellschaft und zunehmend grenzüberschreitenderBezüge bei Datenübermittlungen hat das Meldewesenstetig an Bedeutung gewonnen. Vor diesem Hintergrund
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20782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Helmut Brandt
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ist die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf angestrebteVereinheitlichung der unterschiedlichen landesrechtli-chen Vorschriften dringend geboten.Ziel der Vereinheitlichung ist eine verbesserte Infor-mationsmöglichkeit der öffentlichen Stellen. Daher siehtder Gesetzentwurf die Schaffung eines länderübergrei-fenden Onlinezugriffs durch Behörden auf Daten vor-handener Meldedatenbestände vor. Für Sicherheitsbe-hörden ist länderübergreifend ein Onlinezugriff auf dieMeldedaten rund um die Uhr vorgesehen. Um den Zu-gang zu den Meldebeständen zu erleichtern, wird denLändern die Möglichkeit eingeräumt, Abfrageportale zuschaffen.Neben der Vereinheitlichung sieht der vorliegendeGesetzentwurf aber auch die Stärkung des Datenschut-zes für die Bürgerinnen und Bürger vor.In mehr als 5 200 Melderegistern werden die Datenvon rund 82 Millionen Bürgerinnen und Bürgern vorge-halten, Daten, die die Behörden benötigen, zum Beispielfür die Berechnung der Rente oder des Elterngeldes.Das Meldewesen ist gleichsam das „informationelleRückgrat“ der Verwaltung, der Bürgerinnen und Bürger,aber auch der Wirtschaft. Das Melderegister ist zwar inerster Linie ein behördeninternes Register, das sowohldem innerdienstlichen Gebrauch der Meldebehördendienen als auch das Informationsinteresse anderer Be-hörden befriedigen soll. Es hat jedoch außerdem denZweck, dem Informationsbedürfnis des privaten Be-reichs, insbesondere der Wirtschaft, Rechnung zu tra-gen. Der vorliegende Gesetzentwurf trägt diesem Infor-mationsinteresse, aber auch dem Schutz des Einzelnenvor einem Missbrauch seiner Daten Rechnung, indem erdas Recht des Einzelnen auf informationelle Selbstbe-stimmung bei der Melderegisterauskunft stärkt.Zukünftig kann jeder Bürger mittels der Onlineaus-weisfunktion des neuen Personalausweises, der Identifi-zierungsfunktion von De-Mail oder qualifizierter elek-tronischer Signatur auf elektronischem Wege Folgendesvornehmen oder beantragen: Anmeldung, Selbstaus-kunft, Meldebestätigung und Meldeauskunft.Im Sinne des Rechts auf informationelle Selbstbestim-mung kommt dabei der Selbstauskunft gemäß §§ 10 ff.des Gesetzentwurfs eine besondere Bedeutung zu. Da-nach hat jede Person das Recht, zu erfahren, welche Da-ten der Behörde über sie vorliegen, woher die Datenstammen und wer die Daten erhalten hat. Eine wesentli-che Erleichterung stellt hier die Möglichkeit eines Da-tenabrufs im elektronischen Verfahren dar.Leitlinie des vorliegenden Gesetzentwurfs ist nebendem Datenschutzgesetz auch eine Entscheidung desBundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2006. Danachdarf die Meldebehörde eine einfache Melderegisteraus-kunft nicht erteilen, wenn diese erkennbar für Zweckeder Direktwerbung begehrt wird und der Betroffene ei-ner Weitergabe seiner Daten für solche Zwecke zuvorausdrücklich widersprochen hat.Der Abruf melderechtlicher Daten für Zwecke derWerbung und des Adresshandels darf gemäß § 44 Abs. 4des Gesetzentwurfs daher nur erfolgen, wenn der Zweckim Zuge der Anfrage angegeben wurde und wenn derBetroffene nicht zuvor widersprochen hat.Ein weiteres erklärtes Ziel des vorliegenden Gesetz-entwurfs ist die Reduzierung des bürokratischen Auf-wands und der dadurch entstehenden Kosten. DurchVereinfachungen bei der Hotelmeldepflicht und bei mel-derechtlichen Verpflichtungen von Krankenhäusern undähnlichen Einrichtungen entfallen künftig Bürokratie-kosten für die Wirtschaft in Höhe von voraussichtlichrund 117 Millionen Euro jährlich.Bei der Hotelmeldepflicht wird darüber hinaus dieAufbewahrungsfrist für die Meldescheine bundesein-heitlich auf ein Jahr verkürzt und die bislang in Landes-meldegesetzen vorgesehene Aushändigung an die Si-cherheitsbehörden gestrichen.Im Bundesmeldegesetz wird zudem, wie im Koali-tionsvertrag vereinbart, die Mitwirkungspflicht desVermieters bei der Anmeldung von Mietern wieder ein-geführt. Dies ist ein wichtiger Schritt, um Scheinanmel-dungen, also Anmeldungen für eine bestimmte Wohnung,ohne dass ein Bezug der Wohnung erfolgt, zu erschweren.Der vorliegende Entwurf, der unter Einbeziehung derLänder zustande gekommen ist, ist fachlich und politischzu begrüßen. Ich bin überzeugt, dass er den technischenHerausforderungen und fachlichen Anforderungen un-serer Zeit genügt. An der einen oder anderen Stelle be-steht möglicherweise noch Optimierungsbedarf. Dieswerden wir im weiteren Verfahren noch einmal genauprüfen.Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.
Die Meldegesetze in Deutschland sind bisher Landes-gesetze. Der Bundesgesetzgeber ist bzw. war nur für einMelderechtsrahmengesetz zuständig. Verbindlich wur-den Änderungen im Melderechtsrahmengesetz erstdann, wenn sie in Landesrecht umgesetzt waren. Dasheißt, in Deutschland existieren 16 unterschiedlicheFormen von Melderegistern, die unterschiedliche Stan-dards haben und nicht miteinander vernetzt sind. Es gibtkommunale Melderegister und Landesmelderegister.Dies ist weder zeitgemäß noch handhabbar. Eine mo-derne Verwaltung sieht anders aus.Mit Beschluss der Förderalismuskommission I ist diealleinige Gesetzgebungskompetenz auf den Bund über-tragen worden. Der vorliegende Gesetzentwurf soll die-sen Beschluss von 2006 nun umsetzen.Ziel des Gesetzentwurfs ist die Rechtseinheit im Mel-dewesen durch bundesweit einheitliche Vorschriften undStandards, sowohl für die mit dem Melderecht befasstenBehörden als auch für die Bürgerinnen und Bürger. Dassoll durch das Zusammenführen des Melderechtsrah-mengesetzes mit den Landesmeldegesetzen geschehen.Die Dienstleistungsfunktion des Meldewesens als zen-traler Dienstleister für die Bereitstellung von Daten vorallem für den öffentlichen Bereich wird gestärkt. Damitsoll eine bessere und effizientere Erledigung der öffent-lichen Aufgaben ermöglicht werden.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20783
Gabriele Fograscher
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Um diese Ziele zu erreichen, soll aber kein zentralesMelderegister geschaffen werden. Bereits 13 Bundeslän-der haben zentrale Landesregisterstrukturen. Durch die-ses Gesetz soll den Behörden des Bundes und der Länderein Onlinezugang zu diesen Meldedaten eröffnet wer-den. In den Bundesländern, wo es solche Register nichtgibt, soll den Behörden Zugang zu den Datenbeständenauf einer unteren Ebene eröffnet werden.Wir begrüßen es ausdrücklich, dass keine neue Bun-desdatei errichtet wird. 2006 gab es einen Vorschlagvom damaligen Bundesinnenminister Schäuble, ein zen-trales Melderegister in Form einer zusätzlichen, überge-ordneten Datei zu schaffen. Dieses Vorhaben haben wirals SPD-Bundestagsfraktion kritisiert.Wir hatten bereits damals dafür plädiert, dass die be-stehenden Register der Kommunen bzw. der Bundeslän-der vereinheitlicht, optimiert und vernetzt werden soll-ten. Wir wollten keine übergeordnete neue Bundesdatei.Wir wollten nicht, dass die gleichen Daten mehrmals ge-speichert werden; denn je mehr Daten an unterschiedli-chen Orten gespeichert werden, desto größer ist die Ge-fahr des Datenmissbrauchs. Deshalb ist es gut undrichtig, dass der vorliegende Gesetzentwurf dieses da-malige Vorhaben nicht weiter verfolgt, sondern auf dievorhandenen Register zurückgreift und diese für alle Be-rechtigten zugänglich macht.Der Gesetzentwurf regelt zum Beispiel, dass die Mel-depflicht in Krankenhäusern und ähnlichen Einrichtun-gen abgeschafft werden soll. Die Personalien der dortaufgenommenen Personen werden sowieso gespeichert,und deshalb erübrigt sich in Zukunft die Krankenhaus-meldepflicht. Das führt zu einer Entlastung der Bürge-rinnen und Bürger, der Verwaltung und der Einrichtun-gen von Bürokratiekosten.Der Bundesrat problematisiert in seiner Stellung-nahme die Ausnahmen von der Meldepflicht.In § 27 Abs. 1 des Gesetzentwurfs heißt es:
Eine Meldepflicht nach § 17 Absatz 1 und 2
wird nicht begründet, wenn eine Person, die füreine Wohnung im Inland gemeldet ist, eine Gemein-schaftsunterkunft oder eine andere dienstlich be-reitgestellte Unterkunft bezieht, um1. Wehrdienst nach dem Wehrpflichtgesetz zu leis-ten,2. Bundesfreiwilligendienst nach dem Bundesfrei-willigengesetz zu leisten,3. Zivildienst nach dem Zivildienstgesetz zu leis-ten,4. eine Dienstleistung nach dem Vierten Abschnittdes Soldatengesetzes zu erbringen,5. Dienst bei der Bundeswehr als Berufssoldatoder Soldat auf Zeit zu leisten,6. Vollzugsdienst bei der Bundes- oder der Lan-despolizei zu leisten oder7. als Angehörige des öffentlichen Dienstes anLehrgängen oder Fachstudien zur Aus- undFortbildung teilzunehmen.Der Bundesrat kritisiert, dass bisher nur Wehrpflich-tige von der Meldepflicht befreit waren, nun aber auchZeit- und Berufssoldaten bzw. Zeit- und Berufssoldatin-nen, die nicht verheiratet sind oder in einer eingetrage-nen Partnerschaft leben, ebenfalls unter diese Regelungfallen sollen. Diese Neuregelung, so die Befürchtungender Bundesländer, würde für die Bundeswehrstandort-kommunen finanzielle Einbußen bedeuten. Unberück-sichtigt bleiben in der Stellungnahme des Bundesratesdie anderen in § 27 MeldFortG aufgeführten Ausnah-men.Wir teilen die Sorgen der Standortkommunen undnehmen diese ernst. Jedoch gebe ich zu bedenken, dassbei der Neuregelung eine Gleichstellung von ledigenund nicht in einer Partnerschaft lebenden Soldatinnenund Soldaten mit verheirateten oder in einer Le-benspartnerschaft lebenden Soldatinnen und Soldatenvorgenommen werden würde. Ob das eine finanzielleBesserstellung für die Soldatinnen und Soldaten bedeu-tet, hängt von den Heimat- und Standortgemeinden ab.Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages setztsich für die Neuregelung, also für die Befreiung von derMeldepflicht für Zeit- und Berufssoldatinnen und -sol-daten, ein.Ich gebe aber zu bedenken: Wenn wir bei der jetzigenMeldepflicht für Bundeswehrangehörige bleiben, müsstedie Regelung auch für Angehörige des Bundesfreiwilli-gendienstes und der Bundespolizei gelten. Eine unter-schiedliche Behandlung dieser Berufsgruppen führt zuneuen Ungerechtigkeiten.In den anstehenden Ausschussberatungen sollten wirdie Vor- und Nachteile der geltenden und der vorge-schlagenen Regelung sorgfältig diskutieren und gegen-einander abwägen.Ein weiteres Thema, das ich ansprechen möchte, istdie Melderegisterauskunft. Der Gesetzentwurf regelt,dass derjenige, der berechtigt eine Melderegisteraus-kunft erhält, diese nur für den Zweck verwenden darf,für den sie übermittelt wurde. Das gilt sowohl für dieeinfache Melderegisterauskunft – § 44 – als auch für dieerweiterte Melderegisterauskunft – § 45 – und für dieGruppenauskunft – § 46.Dagegen haben sich mehrere Verbände wie der Bun-desverband Deutscher Inkassounternehmen gewandt.Sie beklagen, dass so die Nutzung der Daten für mehrereGeschäftsvorgänge nicht möglich sei und auch die Wei-tergabe an Dritte verhindert werde.Was die Nutzung der Daten für mehrere Geschäfts-vorgänge angeht, sollten wir überlegen, hier eine Lö-sung zu finden, die den Interessen der Unternehmen ent-gegenkommt, aber den Datenschutz nicht aufweicht.Eine Weitergabe der Meldedaten an Dritte kommt füruns nicht infrage und ist auch nicht erforderlich. Wirwollen keine privaten Datenpools oder Schattenmelde-register. Damit wäre der Datenschutz nicht mehr garan-Zu Protokoll gegebene Reden
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20784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Gabriele Fograscher
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tiert, und Auskunftssperren könnten unterlaufen werden.Auch wenn die betroffenen Verbände und Unternehmenbeklagen, dass so Mehrkosten für sie entstehen würden,so kann dieser unternehmerische Mehraufwand nichtzulasten des Datenschutzes gehen.Der Regierungsentwurf ist eine gute Beratungs-grundlage. Über die Fragen, die noch zu beantwortensind, werden wir in den anstehenden Ausschussberatun-gen diskutieren und entscheiden.
Heute beraten wir in erster Lesung den Entwurf eines
Gesetzes zur Fortentwicklung des Meldewesens. Eine
Reform des Meldewesens ist schon lange überfällig und
erstmals haben wir eine bundeseinheitliche Lösung, die
das bisherige Rahmengesetz ablöst. Aufgrund der Föde-
ralismusreform I wird das Melderechtsrahmengesetz mit
den Landesgesetzen in einem Bundesmeldegesetz zu-
sammengeführt.
Die vorhandene, historische, föderale Struktur der
Meldebehörden kann in dieser Form nicht befriedigend
die Herausforderungen moderner Informationstechno-
logie stemmen. Zwar müssten Änderungen des Melde-
rechtsrahmengesetzes von den Ländern umgesetzt
werden, das Rahmengesetz liefert hier aber nicht hinrei-
chend festen Grund, auf dem eine IT-Infrastruktur ge-
baut werden muss. Damit eine Zusammenarbeit in der
digitalen Welt auch über den Tellerrand der eigenen
Kommune hinaus funktionieren kann, muss ein einheitli-
ches Regelwerk geschaffen werden.
Bisher verlief die Umstellung auf neue Kommunika-
tionstechnologien schleppend und von Bundesland zu
Bundesland unterschiedlich. Meldebehörden waren
nicht einheitlich mit Hardware ausgestattet und die In-
frastruktur war uneinheitlich. Vor allem durch verschie-
dene Schnittstellen und Softwarelösungen war oft schon
an der Landesgrenze oder schon auf kommunaler Ebene
Schluss. Deshalb sind bundesweit gültige technische
Standards im Meldewesen so wichtig. Das neue Melde-
gesetz ist ein wichtiger Baustein dazu.
Was wäre denn die Alternative? Es bliebe doch nur
die analoge Führung der Melderegister mit Akten und
Papier, um Informationen über Ländergrenzen hinweg
zu übermitteln! Wenn das die beste Lösung ist und die
höchste Kunst darstellen soll, na dann: Gute Nacht!
Diesen Zustand kann heute, im Jahre 2012, keiner ernst-
haft wollen! Die digitale Welt ist bis in die Mitte der Ge-
sellschaft vorgedrungen. Der Bundestag hat die En-
quete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“
eingesetzt und berät dort über die Welt von morgen und
den Stand der Technik. Wir wollen eGovernment! Ver-
waltungsmodernisierung steht auf unseren Fahnen. Ein
effizienter und damit auch möglichst schlanker Staat ist
unser Ziel. Verwaltungsmodernisierung ist auf der poli-
tischen Agenda weit oben. Diesen umfassenden Prozess
fördern wir mit dem neuen Meldegesetz.
Mit der Föderalismusreform I haben wir die Mög-
lichkeiten für eine besser abgestimmte Umsetzung ge-
schaffen, die ein modernes, maßgeschneidertes Melde-
wesen ermöglicht. Dabei haben wir auch die Situation
der Länder berücksichtigt, die natürlich nicht einheit-
lich über dieselbe Infrastruktur verfügen. Insbesondere
haben wir uns bewusst gegen ein neues Daten-Kraken-
Monster entschieden, das im Gewand eines einzigen
großen Bundesmelderegisters daherkommt. Das ist die
konsequente Haltung der FDP-Fraktion im Bundestag.
Wir stehen ein für diese dezentrale, föderale Lösung. Sie
ist nicht zuletzt auch aus IT-Sicherheitsgründen der
richtige Ansatz.
Nun kommen mit dem Bundesmeldegesetz erstmals
rechtseinheitliche deutschlandweite Vorschriften für die
Bürgerinnen und Bürger sowie für die zuständigen Be-
hörden. Damit ist der Weg für ein modernes Meldewesen
geebnet, das sich mit den Jahren zum unerlässlichen
Werkzeug für alle Verwaltungsbereiche entwickelt hat.
Nicht zuletzt die Bürger profitieren von einem funktio-
nierenden modernen Meldewesen. Alle haben etwas da-
von, dass die Vereinheitlichung der Rechtsgrundlagen
die Verwaltung effizienter macht.
Der Zugang zu Meldedaten kommt langsam in der di-
gitalen Welt an. Heute haben wir in dreizehn Bundeslän-
dern zentrale Registerstrukturen auf Landesebene mit
guten Ansätzen für Onlinezugänge. In den übrigen Län-
dern muss dafür, zumindest vorerst, bei den kommunalen
Melderegistern angesetzt werden. Wir sind auf dem rich-
tigen Weg. Nur ein einheitliches Melderecht kann auch
der Verwaltungsmodernisierung gerecht werden und
sich den Anforderungen der vernetzten Welt stellen.
Diese Umstellung führt unterm Strich für die Wirtschaft
zu einer Entlastung von Bürokratiekosten von rund
117,1 Millionen Euro jährlich. Das ist in jetzigen Zeiten
ein nicht zu verachtender Betrag.
Von den vielen kleinen Anpassungen und Änderungen
im Vergleich zum bestehenden Melderechtsrahmenge-
setz möchte ich eine besonders hervorheben. Melde-
pflichtige sollen sich wieder die Unterschrift des Woh-
nungsgebers holen, wenn sie umziehen. Damit sollen
Vermieter auch eine realistische Chance haben, zu er-
fahren, wer überhaupt bei ihnen wohnt oder angeblich
wohnen soll. In der Vergangenheit hat dies gerade in
größeren Städten zu unnötigen Konflikten und aberwitzi-
gen Situationen geführt. Wenn das SEK bei mir im
Wohnzimmer steht, weil eine polizeilich gesuchte Person
sich eben einmal so unter meiner Anschrift gemeldet hat,
ist die kleine Hürde der Unterschrift nun wirklich zu ver-
nachlässigen.
Nach dieser ersten Lesung heute sind wir in unserer
Aufgabe als Parlamentarier gefordert, vereinzelt Fra-
gen zu beantworten, die der Entwurf möglicherweise of-
fenlässt. Wir arbeiten an der Feinjustierung des Ent-
wurfs. Auf die Diskussionen im Ausschuss freue ich mich
schon.
Manchmal lohnt es sich doch, die Geschichte von Ge-setzentwürfen genauer anzusehen. Nicht immer, viel-leicht sogar nie, ist das, was im Laufe der Verfahren her-ausgenommen wird, auch wirklich weg. Für diesenEntwurf heißt das: Wer ursprünglich – und das immerZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20785
Frank Tempel
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wieder – ein zentrales Melderegister gefordert und dazusogar mit Überlegungen zu einheitlichen Identifikations-nummern geliebäugelt hat, der ist davon nicht grundsätz-lich abgerückt, nur weil es im Wortlaut des jeweils ak-tuellen Entwurfs nicht mehr auftaucht. Die Linke bleibtdabei: Auch miteinander verknüpfte dezentrale Meldere-gister dürfen nicht zu einer solchen Identifikationsnum-mer führen, mit deren Hilfe sich dann eine praktisch un-begrenzte Zahl von Dateien außerhalb des Meldewesensverknüpfen ließe.Mit dem jetzt vorliegenden Gesetz soll das Melde-recht in Deutschland vereinheitlicht werden. Ein zentra-les Melderegister wird damit nicht eingeführt, wohl aberder automatisierte Zugriff auf die 5 200 Melderegisterermöglicht. Angesichts der technischen Entwicklung istdas fast so gut wie ein Zentralregister. Umso schärferwären deshalb Umfang der erfassten Daten, Zweckbin-dung bei Abruf bzw. Weitergabe und Zugriffsberechtigtezu prüfen.Im Gegensatz zu den Forderungen des Bundes- undder Landesdatenschützer werden aber die Datensätzebzw. die erfassten Daten keineswegs auf ihre Kernaufga-ben reduziert. Mit diesen sollten ursprünglich die Iden-tität und der Wohnsitz der Einwohner festzustellen undzu registrieren sein – mehr nicht. Mehr ist heute immernoch nicht nötig. Bemerkenswert ist an dieser Stelle Fol-gendes: Während Sie in Ihrem Gesetzentwurf bei denDatensätzen zu wenig reduzieren wollen, können Sie dasandererseits bei den Auskunftsrechten der Betroffenenziemlich gut. Hier wird plötzlich und bezeichnender-weise über die Datenverwendung und bei den Ein-spruchsmöglichkeiten nicht in erforderlichem Umfangauf deren Erweiterung gesetzt.Gar nicht zu akzeptieren ist es, dass nach Ihren Plä-nen für öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaftendie Meldebehörden als regelrechte Serviceeinrichtungenfungieren sollen, die auch die Daten der Angehörigen,die nicht Mitglied der entsprechenden Religionsgemein-schaft sind, übermitteln dürfen. Gruppenauskünfte sol-len erteilt werden können mit mehr als 14 Grunddaten;das dabei zu berücksichtigende Interesse wird bei Wis-senschaft und Forschung sowie der Gesundheitsvor-sorge offensichtlich grundsätzlich vorausgesetzt.Wenn man sich ihren Gesetzentwurf genauer an-schaut, muss man feststellen, dass offensichtlich auchlängst nicht alle Forderungen der Datenschützer umge-setzt wurden. Forderungen aus den Reihen der wirt-schaftlichen Nutzer der Meldedaten lassen zudem be-fürchten, dass hier im Laufe der parlamentarischenBeratung noch nachgelegt werden soll. Das lässt zumin-dest eine Stellungnahme des Verbandes der Anbieter vonTelekommunikations- und Mehrwertdiensten e. V. ah-nen, die sich gegen die restriktive Zweckbindung bei derMelderegisterauskunft ausspricht. Ihr Ziel: Eine auto-matisierte Bonitätsprüfung bei Vertragsabschlüssen,zum Beispiel beim Abschluss von DSL-Verträgen oderÄhnlichem, soll jederzeit möglich sein. Im Verlauf derparlamentarischen Debatte wird deshalb sehr genau zuuntersuchen sein, wie weit die vom Bundesdatenschutz-beauftragten Schaar noch in Bezug auf einen Vorläufer-entwurf eingeforderten Ziele annähernd konkret erfasstsind. Ich erinnere Sie an dieser Stelle gerne noch einmaldaran, was der Bundesdatenschutzbeauftragte als Krite-rien bei der Fortentwicklung des Meldewesens formu-liert hat: Beschränkung der Aufgaben der Meldebehör-den auf den Identitätsnachweis, schlanker, gesetzlichfestgelegter Merkmalskatalog, strenge Zweckbindungder über die Grunddaten hinausgehenden Angaben, ge-setzlich festgelegte Betroffenenrechte: gebührenfreieAuskunft, Berichtigung, Löschung, Unterrichtung überdie Erteilung sogenannter erweiterter Auskünfte, Über-mittlungs- und Auskunftssperren.Der Bundestag hat auch zu prüfen, ob dies in der vonallen Fraktionen gemeinsam verabschiedeten Be-schlussempfehlung zum 22. BfDI-Bericht ernsthaft be-achtet worden ist, in der es unter Punkt 14 heißt: „In je-dem Fall muss das Melderecht grundsätzlich auf seineKernfunktionen beschränkt werden. Die bisherige Pra-xis der listenmäßigen Übermittlung von Einwohnerda-ten an Dritte sollte überprüft werden.“Angesichts der von der Bundesregierung und ihrerVorgängerin kostenträchtig in den Sand gesetzten Groß-projekte wie ELENA und elektronische Gesundheits-karte muss auch die Frage nach den in diesem Gesetz-entwurf gemachten Einsparungsversprechen genaueruntersucht werden. Auf den ersten Blick macht ja schonstutzig, dass die versprochenen Einsparungen vom Vor-läufer des heutigen Gesetzes, einem Referentenentwurfaus dem Jahre 2008, in etwa denen entsprechen, dieheute erreicht werden sollen. In dem damaligen Referen-tenentwurf war zu lesen, dass „die Saldierung erwarte-ter Mehrkosten und erwarteter Kostenreduzierungen zueiner Bürokratiekostenentlastung von rund 119,4 Millio-nen Euro“ führen werde. Heute heißt es: „Die Saldie-rung erwarteter Mehrkosten und erwarteter Kostenre-duzierungen führt vor diesem Hintergrund für dieWirtschaft zu einer Entlastung von Bürokratiekosten vonrund 117,1 Millionen Euro jährlich.“ Interessant ist dieFrage, wo die 2 Millionen Euro geblieben sind.Damals wurde mit dieser Rechnung ausdrücklich fürein Bundeszentralregister geworben – also für das, wasmit dem heutigen Entwurf gerade nicht angestrebtwird –, und doch bewegen sich die Einsparungen in der-selben Höhe. Erinnert sei an die Auseinandersetzungenum die Einsparungen bzw. die tatsächlichen Mehrkostenbei ELENA. Die Berechnungen der Bundesregierungund die Berechnung des Städte- und Gemeindetages dif-ferierten um zig Millionen Euro. Am Ende hatte sich ein-mal mehr die Bundesregierung verrechnet. Wie beiELENA muss auch bei diesem IT-Großprojekt noch ge-nauestens geprüft werden, ob nicht die Kosten der öf-fentlichen Hand und die Einsparungen der Wirtschaftbloße Propaganda sind.Die Hoffnung der Bundesregierung, dass wir „Mit ei-nem einheitlichen Melderecht … das Meldewesen als,informationelles Rückgrat‘ für die Verwaltung, Wirt-schaft und die Bürgerinnen und Bürger stärken“ wer-den, muss unserer Meinung nach also als ernste Dro-hung aufgefasst werden.Zu Protokoll gegebene Reden
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20786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
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Die Föderalismuskommission I hat schon vor sechs
Jahren den Weg eröffnet und das Meldewesen zur Ge-
setzgebungskompetenz des Bundes gemacht. Wolfgang
Schäuble brachte es als damaliger Bundesinnenminister
nur zu einem ersten Referentenentwurf. Nun soll es also
tatsächlich ein Bundesmeldegesetz geben.
Über Sinn und Unsinn eines bundesweit vollständig
einheitlichen Melderegisters mag man debattieren, ob
das mit diesem Gesetz effektiver gelingt als mit dem al-
ten Rahmengesetz ebenso. Es ist ja schon erfreulich,
dass man, wie noch bei Herrn Schäuble, nicht auch
gleich noch die biometrische Vollerfassung mit geregelt
hat. Aber ob nun Bundes- oder Landesrecht, die Fragen
beim Melderecht bleiben die gleichen: Was wird gespei-
chert? Wer hat Zugang? An wen darf weitergegeben
werden? Wie steht es um die Sicherung der Daten?
Die Daten, die gespeichert werden, sind – bis auf den
Doktortitel, dazu komme ich später – die üblichen; da
gibt es nichts auszusetzen.
Schon schwieriger ist die Frage des Zugangs zu den
Meldedaten, insbesondere des gewerbsmäßigen Zu-
gangs. Es gilt, die Balance zu finden zwischen der Erfül-
lung legitimer Auskunftsbegehren, etwa im Rahmen der
Melderegisterauskunft auf der einen Seite und dem
Schutz der individuellen Daten auf der anderen Seite. Im
Rahmen des europäischen Projekts RISER wurden und
werden hierzu entsprechende Verfahren entwickelt. Wir
werden im weiteren Verfahren prüfen müssen, ob hier
die Grenzen richtig gezogen sind, ob der Wunsch nach
Schutz der eigenen Daten in das richtige Verhältnis zu
den berechtigten Interessen Dritter gesetzt wurde. Eng
damit in Zusammenhang steht die Frage der Mittei-
lungspflichten der Meldebehörden an eine Person, wenn
ihre Daten weitergegeben wurden. Ebenso eng damit
verbunden ist die Frage nach den Bedingungen für eine
Auskunftssperre. Alles dies ist zu prüfen, um den Anfor-
derungen des Datenschutzes und der informationellen
Selbstbestimmung Rechnung zu tragen.
Besonderes Augenmerk verdient auch die Frage nach
der Datensicherheit. Es wird bisher zwar nur angedeutet,
dass dieses Meldegesetz auch als Grundlage für eine
elektronische Auskunft dienen soll; aber wenn dem so ist,
dann müssen alle Speicherungs- und Weitergaberegelun-
gen auch daraufhin geprüft werden, ob etwa der Zugang
zu Registerauskünften per Internet auch zu höheren Hür-
den oder besonderen Restriktionen führen muss. Außer-
dem ist auf hohe technische Sicherungsstandards zu ach-
ten. In der Vergangenheit gab es genügend Fälle, in
denen öffentlich geführte Daten durch technische Unzu-
länglichkeiten oder nicht sachgemäße Bedienung der
entsprechenden Technik offen zugänglich wurden.
Zum Grundsätzlichen und Allgemeinen kommt noch
eine wichtige Einzelheit: der Doktorgrad. Warum die
Bundesregierung immer noch daran festhält, ihn – nicht
aber einen Professorentitel oder auch andere Berufsbe-
zeichnungen oder Bildungsabschlüsse – in Melderegis-
ter, Personalausweis und Reisepass aufzunehmen, bleibt
ihr Geheimnis. Im Pass steht er, entgegen allen interna-
tionalen Usancen und mit entsprechender Irritation bei
nicht wenigen ausländischen Einreisekontrolleuren und
Zollbeamten. Wir sagen schon lange: Das ist überflüs-
sig; der Doktorgrad trägt zur Identifikation der Person
nicht bei, und hilft auch sonst nicht bei der Erfüllung ei-
nes erkennbaren Zwecks des Meldegesetzes. Was man
nicht braucht soll man aber auch nicht speichern. – Wir
werden, wie bei Pass und Personalausweis, also auch
hier einen entsprechenden Antrag vorlegen, wonach der
Doktorgrad aus der Meldekartei zu streichen ist.
Ich fürchte, wir werden in den nächsten Wochen noch
umfangreiche Diskussionen erleben, die erheblich von
spezifischen wirtschaftlichen Interessen an Daten ge-
prägt sind. Wir werden alles daransetzen, dass Daten-
schutz und informationelle Selbstbestimmung nicht aufs
Spiel gesetzt werden.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/7746 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck , Memet
Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Flughafenasylverfahren abschaffen
– Drucksache 17/9174 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Helmut Brandt, Rüdiger
Veit, Hartfrid Wolff, Annette Groth, Josef Philip
Winkler.
In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen die Abschaffung des Flughafenasylverfahrensgemäß § 18 a Asylverfahrensgesetz. Begründet wird derAntrag damit, dass sich seit der Einführung des Flugha-fenverfahrens die tatsächlichen Verhältnisse durch einenRückgang der Personen, die in einem Flughafenverfah-ren um Asyl nachsuchen, erheblich verändert hätten.Insbesondere vor diesem Hintergrund sei eine „Frei-heitsentziehung“, gesprochen wird auch von „Inhaftie-rung“, nicht mehr zeitgemäß. Schon die Begriffe „Frei-heitsentziehung“ und „Inhaftierung“ in Zusammenhangmit dem Flughafenasylverfahren sind unangemessenund obendrein juristisch falsch und dienen ausschließ-lich der Stimmungsmache.Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Ent-scheidung vom 14. Mai 1996 festgestellt, dass das Flug-hafenasylverfahren verfassungsgemäß ist und dass diefür die Dauer des Asylverfahrens auf maximal 19 Tage
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20787
Helmut Brandt
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befristete Unterbringung im Transitbereich weder eineFreiheitsentziehung noch eine Freiheitsbeschränkungim rechtlichen Sinne darstellt. Zu Recht: Das Grund-recht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG schützt die im Rah-men der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gege-bene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vorstaatlichen Eingriffen. Sein Gewährleistungsinhalt um-fasst von vornherein nicht die Befugnis, sich unbegrenztüberall aufhalten und überallhin bewegen zu dürfen.Demgemäß liegt eine Freiheitsbeschränkung nur vor,wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinenWillen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum auf-zusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich– tatsächlich und rechtlich – zugänglich ist. Das ist hieraber gerade nicht der Fall. Jeder Staat ist berechtigt,den freien Zutritt zu seinem Gebiet zu begrenzen und fürAusländer die Kriterien festzulegen, die überhaupt erstzum Zutritt auf das Staatsgebiet berechtigen.Diese Kriterien hat der Gesetzgeber unter anderem inForm des § 18 a Asylverfahrensgesetz bestimmt. Er hatdamals darauf reagiert, dass Asyl nicht nur massenhaftbeantragt wurde, sondern insbesondere weithin – unddas nach wie vor – ungerechtfertigt zum asylfremdenZweck der Einwanderung begehrt wird. Dabei hat erdiejenigen Ausländer in § 18 a Asylverfahrensgesetzeinbezogen, die entweder aus einem sicheren Herkunfts-staat kommen oder sich nicht mit einem gültigen Passoder Passersatz ausweisen können und den Versuch un-ternehmen, auf dem Luftweg in die BundesrepublikDeutschland zu gelangen.Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schreibt hierzuin ihrem Antrag: „Dies führt dazu, dass Personen, diemangels gültiger Reisedokumente auch nicht freiwilligausreisen können, teils über Wochen und Monate fak-tisch inhaftiert sind.“ Liebe Kolleginnen und Kollegenvon Bündnis 90/Die Grünen: Woran liegt es denn, dassdiese Personen keine gültigen Reisepapiere haben? Ichsage Ihnen, woran das liegt. Tatsächlich ist es so, dassimmer wieder Menschen, die in Europa Asyl beantra-gen, sich gezielt vor ihrer Einreise ihrer Papiere entledi-gen, weil sie nämlich genau wissen, dass wir sie nichtzurückschicken können, bis – in einem oftmals langwie-rigen Verfahren – Herkunftsland und Identität nachge-wiesen sind. Im Klartext: Diese Situation wird von denillegal Einreisenden bewusst und gezielt herbeigeführt.Aus eben diesem Grund werden meine Kollegen und ichvon der Union an dem Flughafenverfahren gemäß § 18 aAsylverfahrensgesetz trotz zwischenzeitlich gesunkenerAsylbewerberzahlen festhalten.Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, Sie wissen selbst, dass es sich bei den Per-sonen, die hier am Flughafen ankommen und Asyl be-gehren, häufig um Personen handelt, die aus sicherenDrittstaaten kommen oder die bewusst ohne gültige Aus-weispapiere kommen und die von Schlepperbanden nachDeutschland geschleust werden. Einmal eingereist, mel-den sich nur wenige bei den deutschen Behörden; sietauchen unter. Deshalb brauchen wir das Flughafenver-fahren. Denn nur das Flughafenverfahren bietet die Ge-währ dafür, dass Personen nach einer Ablehnung ihresAsylantrags unverzüglich – unter Ausnutzung von Rück-transportverpflichtungen der Fluggesellschaften undvölkerrechtlichen Rücknahmepflichten der Abflug- oderHerkunftsstaaten – in den Staat des Abflughafens zu-rückgeführt werden, aber eben nur, wenn das Asylver-fahren vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutsch-land durchgeführt wird. Die aus § 18 a Asylver-fahrensgesetz folgende Einschränkung der Bewegungs-freiheit kann deshalb nicht unserem Land angelastetwerden.Abgesehen davon finde ich es keineswegs humaner,diese Menschen erst einreisen zu lassen, um sie dann mitsehr hoher Wahrscheinlichkeit erst nach einer langwie-rigen Feststellung ihrer Identität und der weiteren Fest-stellung, dass sie aus einem sicheren Herkunftslandkommen, Monate später wieder zurückzuführen. Geradevor diesem Hintergrund ist das Flughafenverfahren inmeinen Augen auch unabhängig davon, ob Asylbewer-berzahlen sinken oder steigen, notwendig und richtig.Wenn Sie, meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, hier von „Inhaftierung“ sprechen, ist dasnicht nur unangemessen, sondern auch verantwortungs-los; denn Sie schüren Emotionen in einer Debatte, diewir sachgerecht führen sollten.Das Asylrecht für politisch Verfolgte ist bei unsgrundgesetzlich verankert. Wirklich politisch Verfolgtenwerden wir weiterhin Schutz und Zuflucht gewähren.Ziel sollte es aber auch bleiben, eine unberechtigte Be-rufung auf das Asylrecht zu verhindern und diejenigenAusländer von einem langwierigen Asylverfahren auszu-schließen, die unseres Schutzes nicht bedürfen, weil sieoffensichtlich nicht oder nicht mehr aktuell politischverfolgt sind. Denn Asylpolitik ist keine Politik des Au-genblicks, sondern muss langfristig angelegt werden.Sie muss sich immer wieder – auch kurzfristig – aufschwierige weltpolitische Ereignisse und Gegebenheiteneinstellen und sich auch und gerade dann bewähren.Eine Lockerung der derzeitigen Regelung in Form des§ 18 a Asylverfahrensgesetz, die sich über Jahre be-währt hat, wird es deswegen mit uns nicht geben.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von Bünd-nis 90/Die Grünen, von 1998 bis 2005 hatten Sie untereinem SPD-Bundesinnenminister Otto Schily und einemVizekanzler und Bundesaußenminister Joschka Fischervon den Grünen sieben Jahre Zeit, das Flughafenasyl-verfahren abzuschaffen – sieben Jahre! Sie haben esaber nicht abgeschafft. Eine durch den damaligen Bun-desinnenminister Otto Schily eingesetzte Arbeitsgruppehat das Flughafenasylverfahren gerade auf seine Ver-hältnismäßigkeit hin untersucht. Im Ergebnis hat HerrSchily und haben in der Folge auch Sie am Flughafen-verfahren zu Recht festgehalten. Ich bin mir sicher, Siewussten, warum. Ihren Antrag lehnen wir ab.
Als Gegner des sogenannten Asylkompromisses, des-sen Folge nicht nur die Einführung des Art. 16 a Grund-gesetz war, sondern eben auch die Schaffung des Flug-hafenasylverfahrens, war ich immer auch ein Gegnerdieses Verfahrens und bin es im Grunde immer noch.Zu Protokoll gegebene Reden
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20788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Rüdiger Veit
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Bei Einführung des Flughafenverfahrens 1993 warendie Unterbringungsmöglichkeiten an den Flughäfen ka-tastrophal und die vom Bundesamt für Migration undFlüchtlinge innerhalb von 48 Stunden zu treffenden Ent-scheidungen häufig fehlerhaft. Vor allem dank des auchsehr öffentlichkeitswirksamen Einsatzes vieler NGOshat sich die Durchführung des Verfahrens heute deutlichverbessert. Auch der Standard der Unterbringungssitua-tion ist erheblich angehoben geworden. Ich selbst habemich von Beginn des Neubaus der Unterbringungsmög-lichkeiten für Flüchtlinge in der Cargo-City Süd desFrankfurter Flughafens an immer wieder persönlich vonden Fortschritten überzeugt. Wenn ich Bedenken an derAusführung hatte – was in einigen Fällen so war –, habeich mich schriftlich an das Innenministerium gewandt.Das Flughafenasylverfahren wurde zu einer Zeit ge-schaffen, als in Deutschland über 400 000 Asylanträgejährlich gestellt wurden. Seither sind die Zahlen immerweiter zurückgegangen. 2009 waren laut Statistik desBundesamtes für Migration und Flüchtlinge insgesamt435 Personen im Flughafenverfahren gemeldet, 2010waren es 736 und 2011 waren es 819. Auch wenn dieTendenz in den letzten drei Jahren leicht steigend ist, sosind diese Zahlen insgesamt immer noch sehr niedrig.Es ist also vollkommen berechtigt, nachzufragen, obein Verfahren, das einen derart geringen Anwendungs-bereich hat, weiter sinnvoll und zweckmäßig ist, auchangesichts der Kosten, die die Bereitstellung der Unter-bringungsfazilitäten und des Personals verursachen.Vor diesem Hintergrund habe ich Bedenken, ob es wirk-lich notwendig ist, im neuen Flughafen Berlin Branden-burg eine Unterbringungseinrichtung für im Durch-schnitt 30 Asylsuchende zu schaffen. Aus der Antwortder Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Frak-tion Die Linke geht hervor, das die Bundesregierung mitdurchschnittlich 300 Flüchtlingen pro Jahr auf demFlughafen Berlin Brandenburg rechnet. Mir erscheinendiese Zahlen überzogen: 2011 lagen für Berlin zwölfMeldungen vor.Über Asylersuche im Flughafenverfahren muss inner-halb von 48 Stunden entschieden werden. Daran hältsich das Bundesamt auch. Gegen eine negative Ent-scheidung kann innerhalb von drei Tagen vorläufigerRechtsschutz beantragt werden. Über diesen Antragwird in einem Eilverfahren ohne mündliche Verhandlunginnerhalb von 14 Tagen entschieden. Das Verfahren sollalso insgesamt nicht länger als maximal 19 Tage dau-ern.Durch Rechtsänderungen im Jahr 2007 ist es aus-drücklich ermöglicht worden, zurückgewiesene Perso-nen im Transitbereich des Flughafens festzuhalten, bisdie Ausreise aus der Bundesrepublik möglich ist; aller-dings nur bis spätestens 30 Tage nach Ankunft am Flug-hafen. Danach bedarf es zur weiteren Aufrechterhaltungder Zurückweisungshaft einer richterlichen Anordnung.Diese Haft kann für eine Dauer von bis zu sechs Mona-ten angeordnet werden. In Fällen, in denen der Auslän-der seine Abschiebung verhindert, kann sie um höchs-tens zwölf Monate verlängert werden.Die zum Teil längeren Verweildauern im Flughafen-verfahren ergeben sich also aus der Dauer des Aufent-halts bis zur Zurückweisung oder bis zur Einreise in dieBundesrepublik. 2011 wurde allerdings zum Beispiel nureine Person sechs Monate bis zur Einreise in die Bun-desrepublik Deutschland auf dem Flughafen Frankfurtfestgehalten; bis zur Zurückschiebung waren es in zweiFällen sechs bzw. sieben Monate.Das ist meiner Ansicht nach eine zu lange Zeit in haft-ähnlichen Bedingungen für einen Menschen, der nichtsverbrochen, sondern um Asyl nachgesucht hat. Aller-dings ist das Zahlenmaterial nicht gerade erdrückend.Und das Problem liegt eher oder zumindest dochauch bei den allgemeinen Regeln der Abschiebehaft. Diediesbezüglichen Regelungen des Aufenthaltsgesetzesmüssen insbesondere auf ihre Vereinbarkeit mit derRückführungsrichtlinie und der Asylver-fahrensrichtlinie , in der es in Art. 18 heißt:„Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht alleindeshalb in Gewahrsam, weil sie ein Asylbewerber ist“,überprüft werden. Darauf sollten wir unser Augenmerkrichten, und das werden wir in meiner Fraktion auch tunund dann konkrete Vorschläge für eine Verbesserung derSituation machen.Im Flughafenverfahren landen natürlich auch Perso-nen, die in Anwendung der Dublin-II-Verordnung ohneweitere Prüfung der Asylgründe in das sichere Erstauf-nahmeland zurückgeführt werden. § 34 a Asylverfah-rensgesetz schließt in solchen Fällen einen einstweiligenRechtsschutz aus – wobei demgegenüber der Europäi-sche Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 21. De-zember 2011 auch bei Dublin-Überstellungen die Mög-lichkeit eines einstweiligen Rechtsschutzes verlangt.Hier muss sich etwas ändern, das ist auch unsere Mei-nung. Allerdings bedarf es auch hier eher einer Ände-rung des Dublin-II-Verfahrens insgesamt.Aus meiner Sicht spricht vieles für den Antrag vonBündnis 90/Die Grünen; allerdings haben wir uns in derFraktion noch keine abschließende Meinung gebildet.Zudem arbeiten wir in den genannten Bereichen an eige-nen Vorschlägen.Hartfrid Wolff (FDP):Das Projekt „Flughafen Berlin Brandenburg Interna-tional“ existiert seit über zwei Jahrzehnten. An den Grü-nen scheint dies weitgehend vorbeigegangen zu sein. Je-denfalls nehmen sie die baulichen Vorkehrungen des insechs Wochen in Betrieb gehenden Flughafens für dasFlughafenverfahren jetzt plötzlich zum Anlass, mal wie-der einen ihrer beliebten asylpolitischen Rundum-schläge zu starten.Wie immer in solchen Fällen diffamieren sie dabeidas Vorgehen des Rechtsstaates. Dass dies sehr wohlgute Gründe haben kann, die eindeutig auch im Inte-resse des Betroffenen, hier eines Asylantragsteller, seinkönnen, übersehen sie dabei geflissentlich.Ich meine, dass das zügige Verfahren auch sein Guteshat – gerade für die Betroffenen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20789
Hartfrid Wolff
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Die Grünen kritisieren, dass sich der Flughafen Ber-lin Brandenburg bereits auf die Durchführung des Flug-hafenasylverfahrens einstellt. Das ist typisch wider-sprüchlich: Was wäre, wenn es keine Vorbereitungendafür gäbe? Da wären Sie von den Grünen, den Linkenund der SPD doch die Allerersten, die das als menschen-unwürdig anprangern würden.Die Grünen schießen zudem mit ihrem Antrag überdas Ziel hinaus: Sie sagen selbst, dass es nur eine ge-ringe Anzahl an Fällen für das Flughafenverfahren proJahr gibt. Eine Abschaffung wäre schon alleine aus die-sem Grund nicht erforderlich.Deshalb wäre ich sehr erfreut, wenn die Grünen oderLinken zur Abwechslung einmal nicht ihre immer glei-chen Vorschläge unterbreiteten, wie ausländerrechtlicheVerfahren noch länger gedehnt und Ab- oder Ausweisun-gen unmöglich gemacht werden können, sondern statt-dessen vielleicht einmal einen Vorschlag machten, wieman rasch zu einer angemessenen Entscheidung kommt.Natürlich muss über das europäische Asylsystem wei-ter beraten und nachgedacht und das auch bei den an-stehenden Verhandlungen zum Ausdruck gebracht wer-den.In diesem Zusammenhang plakativ von menschen-und europarechtswidrigen Bestimmungen des deutschenRechts zu sprechen, wie das die Antragsteller schon wie-derholt getan haben, ist völlig überzogen.Ob tatsächlich das von Regierungen vereinbarte Euro-parecht, wie die Grünen das schon mutig behaupteten,das Verfassungsrecht, etwa des Parlamentarischen Ratesin Deutschland, bricht, darüber hat Karlsruhe sich bis-lang nicht so eindeutig geäußert.Als Parlamentarier finde ich, dass Recht, das direktaus einer demokratisch-parlamentarischen Willensbil-dung entsteht, grundsätzlich Vorrang vor intergouverne-mentalen Vereinbarungen haben sollte. Da ist der demo-kratische Einfluss mir denn doch zu indirekt. Insofernsind Reformen zur Stärkung der parlamentarischen De-mokratie auf europäischer Ebene geboten.Dass die EU-Kommission eine immer stärkere Har-monisierung im Bereich Asyl anstrebt, begrüßen wiraber ausdrücklich. Der Druck auf die anderen Staaten,mindestens auch die Mindeststandards zu erfüllen, darfauf gar keinen Fall geringer werden.Der Schutz von Menschen in Not ist für uns ein hohesGut. Ungesteuerte Zuwanderung aber bringt vor allemdie schwächeren unserer Gesellschaft in eine immerschwierigere Lage.Deshalb werden wir uns auch der Verantwortung fürdie Teile unserer Gesellschaft nicht entziehen, die durchungesteuerte Zuwanderung, wie sie die Grünen undauch die Linken hartnäckig fordern, nichts zu gewinnenhaben.Umgekehrt bleibt es wichtig, dass diejenigen, die be-rechtigterweise Asyl in Deutschland begehren, auch an-erkannt werden. Zum Rechtsstaat gehört, dass es gegenamtliche Entscheidungen Rechtsmittel geben muss. DieGrünen ignorieren absichtlich, dass das Schutzniveau inDeutschland – rechtlich und tatsächlich – zu den höchs-ten der Welt gehört. Das könnten Sie wenigstens einmalanerkennen, anstatt immer den Teufel an die Wand zumalen.Natürlich müssen wir immer wieder die getroffenenRegelungen überprüfen: Wird durch diese oder jene Än-derung das Schutzniveau verringert? Wie kann allen In-teressen in der Praxis Rechnung getragen werden?Die Entwicklung wird immer im Fluss sein; ein Ver-harren in überkommenen Denkstrukturen darf es nichtgeben. Die Europäische Union und Deutschland müssenihrer Schutzverpflichtung gegenüber Flüchtlingen im-mer gerecht werden. Und das werden sie auch, auch beiBeibehaltung des Flughafenasylverfahrens.Die FDP wird in der Koalition mit der CDU/CSU dieAsylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensi-bel entwickeln und die EU-Planungen konstruktiv be-gleiten.
Das Flughafenasylverfahren ist Teil des unmenschli-chen Asylverfahrens in Deutschland, das nur den Zweckhat, Flüchtlinge abzuschrecken und das Grundrecht aufAsyl immer weiter einzuschränken. Mit dem Flughafen-asylverfahren wurde eine besonders menschenverach-tende Form der Flüchtlingsabwehr entwickelt. UmFlüchtlinge erst gar nicht nach Deutschland einreisen zulassen, werden die hilfesuchenden Menschen sofort nachihrer Ankunft auf dem Gelände des Flughafens im Tran-sitbereich weggesperrt. In den Abschiebegefängnissenim Transitbereich der Flughäfen wird den Menschen derZugang zu einem grundgesetzlich garantierten Recht aufAsyl durch ein Schnellverfahren verwehrt.Pro Asyl hat mehrfach darauf hingewiesen, dass dasFlughafenverfahren mit einem menschenrechtlich ver-tretbaren Asylverfahren nicht zu vereinbaren ist.Vielfach werden die durchgeführten Anhörungen imFlughafenasylverfahren nicht mit der gebotenen Sorg-falt durchgeführt. Auch das UN-Flüchtlingskommissa-riat UNHCR hat das Flughafenverfahren als äußerstproblematisch bezeichnet.In den letzten zehn Jahren wurden mehr als 3 000 Asyl-suchende im Rahmen des Flughafenverfahrens abge-lehnt, und ihnen wurde die Einreise nach Deutschlandverweigert. 2009 wurden 435 Anträge auf Asyl durchFlüchtlinge gestellt, die über einen internationalenFlughafen nach Deutschland einreisen wollten, 2010waren dies 735 Flüchtlinge und 2011 714 Flüchtlinge.Auch aufgrund dieser niedrigen Zahlen wird überdeut-lich, dass dieses Verfahren völlig unnötig ist. Es dienteinzig und allein der Abschreckung und soll potenzielleFlüchtlinge aus Deutschland fernhalten.Die Fraktion Die Linke unterstützt die EvangelischeKirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, diedas sofortige Ende des Flughafenasylverfahrens und dasRecht aller Flüchtlinge auf den sofortigen Zugang zumnormalen rechtsstaatlichen Asylverfahren ohne vorhe-rige Schnellverfahren gefordert hat. Das Flughafenver-Zu Protokoll gegebene Reden
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20790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Annette Groth
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fahren pervertiert die Idee des Asylrechts, so wie es imGrundgesetz Deutschlands verankert ist. Deutschlandund die Europäische Union haben sich in den letzten20 Jahren zu einer Festung entwickelt. Menschen in Nothaben immer weniger eine Chance, ihr grundgesetzlichverankertes Recht auf Asyl wahrzunehmen. Durch dierestriktive Flüchtlingspolitik wird Flüchtlingen die Ein-reise nach Deutschland verwehrt, und sie werden ihremSchicksal überlassen.Am Flughafen in Frankfurt am Main liegt die größtedieser Einrichtungen. Von 1999 bis 2008 fanden dortmehr als 2 740 Flughafenasylverfahren statt. Alle dieseVerfahren wurden vom Bundesamt für Migration undFlüchtlinge abgelehnt. Bis Ende September 2011wurden 278 minderjährige Flüchtlinge von der Bundes-polizei aufgegriffen. In 31 Fällen wurden die Kinder zu-rückgeschoben, ohne das zuständige Jugendamt einzu-schalten. Ein solches Vorgehen der Bundespolizei stellteinen klaren Verstoß gegen die Anforderungen aus derUN-Kinderrechtskonvention dar, die dem Kindeswohlden absoluten Vorrang bei allem staatlichen Handelneinräumt.Alleinreisende Minderjährige haben ein Recht aufeine sorgsame und altersgerechte Betreuung und Hilfe.Das Jugendamt muss automatisch eingeschaltet werden,wenn ein minderjähriger Flüchtling aufgegriffen wird.Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf einenVormund, der sich um asyl- und aufenthaltsrechtlicheFragen der Kinder und Jugendlichen kümmert. Aus-drücklich verstößt es gegen die Rechte des Kindes, wennunbegleitete Flüchtlingskinder in Haft genommenwerden. Die Fraktion Die Linke verlangt von der Bun-desregierung, dass dieses Verhalten der Bundespolizeisofort beendet wird und die Rechte der Kinder geschütztwerden.Die geplante Errichtung eines Abschiebegefängnis-ses im Berlin-Brandenburger Willy-Brandt-Flughafenist eine Schande für den Namen Willy Brandts, der mitseinem Nord-Süd-Forum für die solidarische Hilfe desreichen Nordens gekämpft hat. Dieser Abschiebeknastwird auf massiven Druck der Bundesregierung gegenden Widerstand der Brandenburger Landesregierunggebaut. Ziel der Bundesregierung ist, dieses undemokra-tische und menschenrechtsfeindliche Verfahren zu einemEU-weiten Standard zu machen.Die Fraktion Die Linke empfindet einen solchenUmgang mit Menschen als völlig inakzeptabel und trittseit langem für die Abschaffung des Flughafenasylver-fahrens ein. Dieser bürokratische Irrsinn auf Kosten derAsylsuchenden muss endlich ein Ende haben. Bund undLänder sollten endlich auf das Flughafenverfahren ver-zichten. Die freiwerdenden Ressourcen lassen sich zumSchutz von Flüchtlingen wirkungsvoller verwenden. DenAntrag von Bündnis 90/Die Grünen können wir voll-inhaltlich unterstützen.
Mit dem vorliegenden Antrag fordern wir zum einen,dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt,mit dem das in § 18 a Asylverfahrensgesetz, AsylVfG,vorgesehene Flughafenasylverfahren abgeschafft wird,und zum anderen, dass die Bundesregierung entspre-chende Vorbehalte gegen die Vorschläge der Europäi-schen Kommission zur Änderung der Aufnahmericht-linie und der Verfahrensrichtlinie fallen lässt.Das Flughafenverfahren – § 18 a AsylVfG – kann ins-besondere auf Asylsuchende angewendet werden, die beiihrer Einreise am Flughafen Asyl beantragen und aus ei-nem „sicheren Herkunftsstaat“ stammen oder keinengültigen Reisepass besitzen. Die Asylsuchenden werdendann während des Asylverfahrens vor der Einreise aufdem Gelände des Flughafens im Transitbereich unterge-bracht. Über den Asylantrag soll das Bundesamt für Mi-gration und Flüchtlinge, BAMF, binnen zwei Tagen nachAnkunft entscheiden. Gegen eine negative Entscheidungdes BAMF kann der Asylsuchende – in einer gegenüberdem regulären Asylverfahren nochmals verkürzten –Frist von nur drei Tagen das Verwaltungsgericht anru-fen, das in einem Eilverfahren ohne mündliche Verhand-lung entscheidet. Die sich daraus ergebende maximaleUnterbringungsdauer am Flughafen von 19 Tagen wirdin der Praxis allerdings häufig deutlich überschritten.So kam es im Jahr 2011 in der Flughafenunterkunft amFrankfurter Flughafen in vielen Fällen zu Verweildau-ern von mehr als 30 Tagen – bei einigen Asylantragstel-lern von über 100 Tagen!Das Flughafenverfahren wurde 1993 zu einem Zeit-punkt eingeführt, als in Deutschland jährlich über400 000 Asylanträge gestellt wurden. Seitdem habensich die tatsächlichen Verhältnisse erheblich geändert.Haben im Jahr 1995 insgesamt 4 590 Personen in einemFlughafenverfahren um Asyl nachgesucht bzw. nach-suchen müssen, sind dies 2010 nur noch 735 Flüchtlin-gen, von denen 57 in das Flughafenverfahren übernom-
Flughafenverfahren werden derzeit in nennenswer-tem Umfang nur in Frankfurt am Main durchgeführt; dieZahl der Flughafenverfahren in Hamburg, Düsseldorf,München und Berlin-Schönefeld ist äußerst gering.Nunmehr werden jedoch auf dem neuen Berliner Groß-flughafen BBI in großem Stile die Voraussetzungen fürdie Durchführung von Flughafenverfahren geschaffen –darunter auch eine Unterbringungseinrichtung, in derdurchschnittlich bis zu 30 Asylsuchende zumindest biszur Entscheidung über ihren Asylantrag verbleiben sol-len. Dabei sind die geschätzten Fallzahlen – die Bundes-regierung geht von circa 300 Flughafenverfahren jähr-lich am Standort BBI aus – nirgends belegt und völligüberzogen. Diese Zahlen sowie die Tatsache, dass dieBundesregierung gegenüber dem Land Brandenburgtrotz der hohen Kosten für die Baumaßnahmen auf dersofortigen Einführung eines Flughafenverfahrens amFlughafen BBI bestanden hat, dienen offensichtlich demZweck, ihre Verhandlungsposition gegenüber der EU-Kommission und den anderen Mitgliedstaaten bei derNeuverhandlung der EU-Richtlinien zum Asylverfahrenzu stützen. Die Bundesregierung hat selbst ausgeführt,dass „ein auch nur vorübergehender Verzicht auf dasFlughafenverfahren die deutsche VerhandlungspositionZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20791
Josef Philip Winkler
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Seit der Einführung des Flughafenverfahrens inDeutschland haben sich aber auch die europarecht-lichen Rahmenbedingungen grundlegend geändert.Denn nunmehr gibt es zu den Bereichen Asylverfahren,Aufnahmebedingungen und Rückführungsbedingungenmit den Richtlinien 2003/09/EG, Aufnahmerichtlinie,2005/85/EG, Verfahrensrichtlinie, sowie 2008/115/EG,Rückführungsrichtlinie, europäische Vorgaben, in derenBild das deutsche Flughafenverfahren nicht mehr passt.Schon bei seiner Einführung wurde das Flughafen-verfahren von Wohlfahrtsverbänden, Menschenrechts-organisationen und Kirchen heftig kritisiert; die grund-sätzlichen Bedenken gegen dieses Verfahren und seinegravierenden Folgen für die Schutzsuchenden bestehenunverändert fort.Die Betroffenen werden für einen nicht genau defi-nierten Zeitraum in einer haftähnlichen Lage gehalten.Das widerspricht Art. 6 der Rückführungsrichtlinie, diefür eine Inhaftierung zum Zwecke der Rückführung einevorherige Rückkehrentscheidung verlangt. Vor einer sol-chen Entscheidung ist eine Freiheitsentziehung unzuläs-sig. Auch Art. 18 der Verfahrensrichtlinie schließt eineFreiheitsentziehung nur aus dem Grunde, dass eine Per-son Asylbewerber ist, aus.Die Anhörung der Asylsuchenden findet unmittelbarnach der Ankunft am Flughafen in einer außergewöhn-lich schwierigen und stressbeladenen Situation statt.Eine Anhörung unter den Bedingungen einer haftähnli-chen Situation kann den Anforderungen an eine ord-nungsgemäße Anhörung nach Art. 12 der Verfahrens-richtlinie nicht gerecht werden. Eine unabhängigeRechtsberatung vor der Anhörung ist nicht vorgesehen.Extrem kurze Rechtsbehelfs- und Begründungsfristenerschweren die Wahrnehmung des Rechtsschutzes. Er-mittlungen und Nachfragen sind unter diesem extremenZeitdruck kaum möglich. Der Europäische Gerichtshoffür Menschenrechte, EGMR, sieht in fehlendem effekti-ven Rechtsschutz eine Verletzung des Rechts auf eine
Auch Kinder und unbegleitete Minderjährige müssendas Flughafenverfahren durchlaufen und werden in derFlughafenunterkunft untergebracht. Gleiches gilt fürandere besonders schutzbedürftige Personen, wie etwaOpfer von Folter und Gewalt. Doch gerade Folteropfer,Traumatisierte und Minderjährige benötigen besondereUnterstützung und Hilfe, um die wichtigen Befragungendurch die Bundespolizei und das BAMF zu bewältigen,sowie angemessene Unterbringung und Betreuung, wel-che im Transitbereich von Flughäfen nicht gewährleistetsind. Vielmehr stellen die haftähnliche Unterbringung,die Isolierung von der Außenwelt und die ungewisse Si-tuation eine massive psychische Belastung dar, die auchimmer wieder zu Suizidversuchen führt.Am Flughafen werden zudem ohne klare rechtlicheGrundlagen Verfahren im Rahmen der europäischen Zu-ständigkeitsregelung für die Behandlung von Asylanträ-gen, Dublin-II-Verordnung, durchgeführt. Der Europäi-sche Gerichtshof, EuGH, hat am 21. Dezember 2011entschieden, dass es im Rahmen von Dublin-II-Verfah-ren keine automatischen Rückschiebungen in denjenigenStaat geben darf, der formal für die Behandlung vonAsylgesuchen zuständig ist, wenn es dort systemischeMängel gibt. Derartige Defizite im Asylverfahren oderdrohende unmenschliche Behandlung können im Flug-hafenverfahren im Einzelfall nicht wirksam vorgebrachtwerden. Rechtsschutz gegen eine Überstellung im Dub-lin-II-Verfahren ist in der Kürze der Zeit praktisch nichtmöglich.Während der Gesetzgeber bei der Einführung desFlughafenverfahrens noch von einer maximalenVerweildauer in der Flughafenunterkunft von wenigenTagen ausging, wird dieser Zeitraum in vielen Fällendramatisch überschritten, seit eine Gesetzesänderungvom August 2007 auch das Festhalten von abgelehntenAsylsuchenden, deren Zurückweisung nicht vollzogenwerden kann, über längere Zeiträume ermöglicht. Diesführt dazu, dass Personen, die mangels gültiger Reise-dokumente auch nicht freiwillig ausreisen können, teilsüber Wochen und Monate faktisch inhaftiert sind.Das Flughafenverfahren bleibt ein Eilverfahren, dasauf Fehler angelegt ist, weil unter dem Druck der Fris-ten und in der verlangten Eilgeschwindigkeit nicht mitder notwendigen Sorgfalt und einer umfassenden Sach-verhaltsaufklärung verantwortlich über Menschenlebenentschieden werden kann. Hinzu kommt der physischeund psychische Druck auf Flüchtlinge unter den Bedin-gungen hermetischer Abriegelung in der Flughafen-unterkunft.Die gravierenden menschlichen Härten und substan-ziellen rechtsstaatlichen Defizite sprechen auch vor demHintergrund der seit der Einführung des Flughafenver-fahrens deutlich zurückgegangenen Flüchtlingszahlenfür die Abschaffung dieses Sonderverfahrens. So hatsich auch der Landtag Brandenburg im Februar 2012für die Abschaffung des Flughafenverfahrens ausge-sprochen .Das deutsche Flughafenverfahren ist auch nicht mitden zwischenzeitlich weiterentwickelten europäischenVerpflichtungen zum internationalen Schutz vereinbar.Nicht zuletzt aus diesem Grunde wehrt sich die Bundes-regierung bei den Verhandlungen zur Änderung derAufnahmerichtlinie und der Verfahrensrichtlinie gegenVorschläge für verbesserte Schutznormen. Die Bundes-regierung muss endlich eine konstruktive Verhandlungs-position einnehmen und diese Vorbehalte fallen lassen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9174 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist auch diese Über-weisung so beschlossen.
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20792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Tagesordnungspunkt 24:Beratung des Antrags der Abgeordneten TankredSchipanski, Dr. Stefan Kaufmann, AlbertRupprecht , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann
, Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPExzellente Perspektive für den wissenschaftli-chen Nachwuchs fortentwickeln– Drucksache 17/9396 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
InnenausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussFolgende Kolleginnen und Kollegen haben ihreReden zu Protokoll gegeben: Tankred Schipanski,Dr. Stefan Kaufmann, Swen Schulz, Dr. MartinNeumann, Dr. Petra Sitte und Krista Sager.
Allen Unkenrufen der Opposition zum Trotz ist es umdie Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses inDeutschland sehr gut bestellt. Durch die Exzellenzinitia-tive, den Hochschulpakt, den Qualitätspakt Lehre undden Pakt für Forschung und Innovation hat diese Bun-desregierung nicht zuletzt auch die Beschäftigungsbe-dingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs nach-haltig verbessert. Das Programm „Zeit gegen Geld“sowie die Einführung der familienpolitischen Kompo-nente im Wissenschaftszeitvertragsgesetz leisten da-rüber hinaus einen Beitrag zur besseren Vereinbarkeitvon Familie und Wissenschaftsberuf.Die Situation der Postdoktoranden hat sich in denvergangenen Jahren erheblich verbessert. Wurden imJahr 2005 noch 184 Nachwuchsforschergruppen an au-ßeruniversitären Forschungseinrichtungen gezählt, wa-ren es 2010 bereits 406 – ein Zuwachs von 120 Prozent.Die Anzahl der von der DFG geförderten Postdoktoran-den hat sich zwischen 2005 und 2009 von 711 auf 1 037erhöht – ein Zuwachs von 46 Prozent. Diese Trends hal-ten weiter an. Zusammenfassend kann man also festhal-ten: Die Situation der Postdoktoranden ist in Deutsch-land so gut wie nie zuvor.Auch bei den Doktoranden gab es gute Fortschritte.Das Promotionssystem hat sich in den letzten Jahren er-heblich weiterentwickelt und differenziert. Die in der Bun-desrepublik besonders große Vielfalt der Promotionsver-fahren bietet Doktoranden in zunehmendem Maße dieMöglichkeit, gemäß ihren individuellen Talenten denrichtigen Weg für eine erfolgreiche Promotion auszu-wählen. Als zukunftsweisend betrachten wir insbeson-dere Promotionskollegs, die großen Wert auf eine klareStrukturierung des Qualifikationsprozesses anhandtransparenter Leistungsvorgaben legen.Trotz dieser positiven Entwicklungen gibt es in eini-gen Bereichen auch Verbesserungsmöglichkeiten. Ei-nige dieser Punkte wurden in den bereits debattiertenAnträgen der Opposition aufgegriffen. Wir wollen denjungen Menschen, die eine wissenschaftliche Karriereeinschlagen, noch bessere, verlässlichere und auf ihreunterschiedlichen Talente und Begabungen zugeschnit-tene Karrierewege eröffnen. Dazu machen wir in unse-rem Antrag eine Vielzahl an Vorschlägen. Lassen Siemich drei Kernbestandteile unseres Antrags herausgrei-fen.Die Evaluation des im April 2007 in Kraft getretenenWissenschaftszeitvertragsgesetzes durch die HIS GmbHhat ergeben, dass 83 Prozent der wissenschaftlichenMitarbeiter in Deutschland in einem befristeten Be-schäftigungsverhältnis angestellt sind. Die Hälfte derVerträge der an Hochschulen beschäftigten Postdocshatte zum Zeitpunkt der Untersuchung eine Laufzeit vonweniger als einem Jahr. Unser Antrag soll einen Beitragdazu leisten, die seit dem Inkrafttreten des Wissen-schaftszeitvertragsgesetzes zu beobachtende überbor-dende Befristungspraxis zu stoppen. Aus eigener Erfah-rung weiß ich: Damit junge Wissenschaftler ihrePotenziale voll entfalten können, brauchen sie verlässli-che und planbare Karriereperspektiven. Zu große exis-tenzielle Unsicherheiten hemmen sie hingegen in ihrerLeistungsfähigkeit.Deshalb fordern wir, die Laufzeit von sachgrundlosbefristeten Beschäftigungsverhältnissen grundsätzlichan die Laufzeit der Projekte zu koppeln, in denen dieNachwuchswissenschaftler beschäftigt sind. Für Dokto-randen in der Qualifikationsphase soll die Vertragslauf-zeit dem für das Qualifikationsvorhaben erforderlichenZeitbedarf entsprechen. Wenn die Vertragsdauer diesemZeitbedarf nicht entspricht, muss die Betreuungsverein-barung eine – gegebenenfalls mehrstufige – Verlänge-rungsoption nach Erreichen bestimmter Zielvereinba-rungen vorsehen, sodass bei erbrachter LeistungPlanbarkeit bis zum Qualifizierungsziel besteht. DasStellensplitting in Einheiten von weniger als einer hal-ben Stelle muss gänzlich unterbleiben.Zweitens wollen wir der Juniorprofessur in Deutsch-land wie international zu mehr Akzeptanz zu verhelfen.Dazu sollen diese in einem ersten Schritt flächendeckendin Assistenzprofessuren aufgehen. Durch diese Maß-nahme soll nicht zuletzt auch mehr internationale Ver-gleichbarkeit mit dem angelsächsischen „Assistant Pro-fessor“ oder dem französischen „professeur assistant“geschaffen werden. Seit der Einführung der Juniorpro-fessur stellen wir jedoch auch fest, dass die Problemedieser Stellenkategorie tiefer liegen. Insbesondere diesechs- bis siebenjährige Befristung ist für viele Forschernicht attraktiv. Generell vertreten wir die Auffassung,dass durch die vorherrschenden Personalstrukturenkeine ausreichenden Anreize für eine Karriere im Wis-senschaftssystem eröffnet werden.Vielmehr ist die derzeitige Stellenstruktur durch einenenormen Flaschenhals unterhalb der W-3-Professur ge-kennzeichnet. Derzeit werden lediglich 14 Prozent derStellen von Professoren besetzt. Ihnen stehen über
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20793
Tankred Schipanski
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80 Prozent weisungsabhängiges, zumeist befristet be-schäftigtes Personal gegenüber. Eine Vollprofessur zuerreichen, ist derzeit in der Regel die einzige langfristigeKarriereperspektive im Wissenschaftssystem und gleich-zeitig nur sehr schwer erreichbar.Deshalb fordern wir drittens – spätestens hier stelltunser Antrag gegenüber den Oppositionsanträgen einesubstanzielle Weiterentwicklung dar – mit der AssociateProfessur die Schaffung einer neuen Stellenkategorie.Diese Stellen sollen unbefristet und in die Besoldungs-gruppen W2 oder gar W3 eingruppiert sein. Sie sollenNachwuchsgruppenleitern, Habilitanden und Junior-professoren gleichermaßen offenstehen. Die neue Pro-fessorenkategorie stellt einen attraktiven Zwischen-schritt auf dem Weg zur vollen W-3-Professur dar.Besonders leistungsstarken Juniorprofessoren – künftig:Assistenzprofessoren – könnte bereits nach der erstenpositiven Evaluation eine solche Professur angebotenwerden. Aber auch herausragenden Nachwuchswissen-schaftlern kann eine solche Stelle deutlich früher als bis-her berufliche Planungssicherheit verschaffen und zu ih-rem Verbleib im Wissenschaftssystem beitragen.Dies sind die drei Kernforderungen unseres Antrags.Selbstverständlich sind längerfristige Vertragslaufzei-ten, eine neue Stellenkategorie und die Umgestaltungder Juniorprofessur nicht ohne die Unterstützung derLänder zu machen. Wir appellieren daher an sie, ge-meinsam mit den Hochschulen Veränderungen im Sinneder Nachwuchswissenschaftler in unserem Land herbei-zuführen. Die grundsätzliche Verantwortung für das wis-senschaftliche Personal und eine auskömmliche Finan-zierung der Hochschulen liegt bei den Ländern. DerBund kann lediglich über die Pakte zur Finanzierungder Hochschulen beitragen und tut dies seit Jahren inerheblichem Ausmaß.Lassen Sie mich kurz einen weiteren Forderungs-punkt ansprechen. Eine erhebliche Zahl der Doktoran-den promoviert nicht mit dem Ziel, eine Karriere in derWissenschaft zu beginnen, sondern um sich für eine an-spruchsvolle Tätigkeit außerhalb des Wissenschaftssys-tems zu qualifizieren. Um den bevorstehenden Berufs-einstieg auch dieser jungen Menschen möglichstfrühzeitig einzuleiten, müssen die Hochschulen geeig-nete Personalentwicklungsmöglichkeiten schaffen. Dazuzählen Angebote zum Erlernen von Eigenverantwor-tung, Selbstständigkeit, Mitarbeiterführung sowie weite-rer berufsrelevanter Schlüsselqualifikationen, aber auchBeratungsangebote und eine verstärkte Zusammenar-beit mit möglichen Arbeitgebern.Einige unserer Forderungen, zum Beispiel die zuletztvorgetragene, richten sich explizit an die Hochschulen. Indiesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich den Be-schluss der Hochschulrektorenkonferenz vom 24. April2012 loben. Die HRK-Mitgliederversammlung hat sichdarin auf Leitlinien für befristete Beschäftigungsver-hältnisse in den Hochschulen geeinigt. Die Hochschulenbekennen sich zu planbaren und verlässlichen Karrier-eperspektiven sowie zu verantwortungsbewusster Perso-nalentwicklung auf Grundlage der Kriterien Transpa-renz, Planbarkeit und Gleichstellung. Auch fordern sieüberfachliche Fortbildungen und Unterstützung bei derKarriereplanung von Nachwuchswissenschaftlern.Die HRK greift also einige der in unserem Antrag ansie gerichteten Forderungen explizit auf. Ich freue michsehr, dass wichtige in unserem Antrag formulierte Ver-besserungsmöglichkeiten auf die Zustimmung der Hoch-schulen stoßen, auch wenn unseres Erachtens insbeson-dere im Hinblick auf die Befristungspraxis nochweiterführende Beschlüsse wünschenswert gewesen wä-ren.
Noch vor zehn Jahren klagte die deutsche Wissen-schaft über den Braindrain, also über die Abwanderungdeutscher Spitzenwissenschaftler vor allem in die USA.Heute haben wir diesen Trend gestoppt. Viele Spitzen-wissenschaftler kehren sogar nach Deutschland zurück.Maßgeblich dazu beigetragen hat die deutsche Exzellenz-initiative, die ungeahnte Kräfte im deutschen Hoch-schulsystem freigesetzt hat. Deutsche Universitäten unddie außeruniversitären Forschungseinrichtungen sindattraktiv wie nie. Wir haben es geschafft, wieder zurWeltspitze aufzuschließen.Das Verdienst hierfür liegt weder allein parteipolitischbei den vergangenen Regierungskoalitionen auf Bundes-ebene noch bei denen auf Länderebene. Diese erfolgrei-chen Bemühungen sind die Früchte einer Gesamtanstren-gung von Politik und Wissenschaft in den vergangenenzehn Jahren. Ein aktuelles und sehr gutes Beispiel fürdiese gemeinsame Anstrengung ist das KIT, das Karls-ruher Institut für Technologie. Die grüne Wissenschafts-ministerin in Baden-Württemberg, Theresia Bauer, setztdie erfolgreiche Politik der christlich-liberalen Vorgän-gerregierung fort und stärkt die Selbstständigkeit desInstituts, mit Unterstützung aller Fraktionen in Baden-Württemberg. Durch das neue Gesetz erhält das KIT dieDienstherrnfähigkeit und Arbeitgebereigenschaft fürseine Beamten und Arbeitnehmer. Die Berufung von Pro-fessoren und anderem Personal führt das KIT zukünftig inEigenregie durch. Die Fachaufsicht über den Universi-tätsbereich gibt das Land weitgehend auf, und das KITwird selbst Eigentümer des Vermögens. Zusätzlich wirdder Spielraum des KIT für Unternehmensgründungen undfür die Beteiligung an Unternehmen erweitert. Damitwerden in gemeinsamer Anstrengung die internationaleWettbewerbsfähigkeit dieser Eliteuniversität weiter er-höht und die Attraktivität für den wissenschaftlichenNachwuchs weiter gestärkt.Auch die neue Rangliste der Alexander-von-Humboldt-Stiftung zeigt, dass das deutsche Wissen-schaftssystem für ausländische Topforscher so attraktivwie nie zuvor ist. Darauf können wir – damit meine ichauch die Kollegen von der Opposition – stolz sein. Wirhaben damit exzellente Perspektiven für den wissen-schaftlichen Nachwuchs in Deutschland geschaffen undsollten dies parteiübergreifend auch mehr betonen, ins-besondere im Ausland.Nichtsdestotrotz wird von einigen zu Recht aufweiterhin bestehende Defizite hingewiesen, die wirabstellen müssen. Dazu gehört nicht nur die durch einZu Protokoll gegebene Reden
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20794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Stefan Kaufmann
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Urteil des Bundesverfassungsgerichts neuzuordnendeProfessorenbesoldung; es bestehen auch Defizite inanderen Bereichen, angefangen bei der mangelndenDatenerhebung bis hin zu Befristungsproblemen an denHochschulen.Selbstverständlich können wir nicht all diese Defiziteabstellen und insbesondere nicht bundesgesetzlichregeln. Vieles kann nur auf Landesebene oder auch nurdirekt durch die Hochschulen gelöst werden. Zu Letzte-rem zählen insbesondere eine übermäßige Bürokratieoder lange Bewerbungsverfahren, die eine Universitätwenig attraktiv machen. Für die weitere Verbesserungder Perspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchseshaben alle Fraktionen im Bundestag ihre Vorstellungenin Anträgen festgehalten.Bevor ich die Vorstellungen der CDU/CSU-Fraktionfür die weitere Verbesserung der Perspektiven des wis-senschaftlichen Nachwuchses erläutere, möchte ich kurzauf einige Punkte der Opposition eingehen.In den Anträgen der Opposition sind einige sinnvolleForderungen enthalten, die auch wir unterstützen bzw.vertreten. So ist die von der SPD geforderte zukünftigeeinheitliche Erfassung aller Promovierenden mit Sicher-heit der erste wichtige Schritt, um überhaupt Problem-felder besser erkennen zu können. Wir gehen deshalbsogar noch einen Schritt weiter und fordern eine voll-ständige Datengewinnungsstrategie bezüglich des wis-senschaftlichen Nachwuchses in Deutschland. Nur sokönnen wir unsere politischen Entscheidungen zukünftigauf eine noch fundiertere Grundlage stellen und somit zuden besten Ergebnissen kommen.Weitere Gemeinsamkeiten ergeben sich, erstens, beider Forderung nach einem konsequenten Ausbau vonModellen der strukturierten Doktorandenausbildung,zweitens, bei der Forderung nach einem einheitlichenDoktorandenstatus, drittens, bei der Forderung nacheiner stärkeren Entkopplung von Betreuung und Bewer-tung des Promovierenden und, viertens, bei der Forde-rung nach einer Betreuungsvereinbarung zwischen Dok-torand und Betreuer, die bei allen Promotionsformen zuBeginn geschlossen wird und unter anderem eine bin-dende Aussage über das Verhältnis von Lehrverpflich-tung, Arbeitsbelastung und Zeit für die Promotion ent-hält.Außerdem fordern wir von den Hochschulen Perso-nalentwicklungs- und Karriereförderungskonzepte fürihre Nachwuchswissenschaftler. Damit werden dieHochschulen auch ihrer weitergefassten Verantwortungals Arbeitgeber gerecht. Dazu gehört im Übrigen auchunsere Forderung nach einer besseren Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf an den Hochschulen und außeruni-versitären Forschungseinrichtungen. Konkret meinenwir damit den Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten,die grundsätzliche Anwendung der familienpolitischenKomponente im Wissenschaftszeitvertragsgesetz und vorallem die Berücksichtigung von Schwangerschaften undElternzeiten bei Stipendien. Als Vorbild möchten wir andieser Stelle die Maßnahmen der Initiative „Familie inder Hochschule“ nennen, die von der Robert-Bosch-Stif-tung, dem Bundesministerium des Innern und dem CHE,dem Centrum für Hochschulentwicklung, gefördert wer-den. Mit einer konsequenten Umsetzung dieser Maßnah-men könnte mit Sicherheit auch eine Verbesserung desAnteils von Frauen an den Professuren erreicht werden.Auch bei der Analyse der übermäßigen Befristungs-praxis gibt es Gemeinsamkeiten. In der Doktoranden-phase sind Befristungen sinnvoll, da es sich hier umQualifikationsphasen handelt. Allerdings muss das Stel-lensplitting in Einheiten von weniger als einer halbenStelle gänzlich unterbleiben.Im Postdoc-Bereich muss es hingegen viel mehr un-befristete Stellen geben. Wir bieten den Hochschulenüber den Hochschulpakt bis 2020 eine sichere Finanzie-rung. Diese Sicherheit muss zumindest ansatzweise auchan die Beschäftigten weitergegeben werden: Eine si-chere Finanzierung muss auch sichere Stellen bedeuten.Für den Bereich der Drittmittelfinanzierung muss gel-ten: Projektdauer gleich Vertragsdauer. Ständige Befris-tungen führen sicher nicht dazu, dass unsere Hochschu-len oder außeruniversitären Forschungseinrichtungendie besten und motiviertesten Mitarbeiter gewinnen.Eine Streichung der Tarifsperre im Wissenschaftszeit-vertragsgesetz, wie von der SPD und den anderen Oppo-sitionsparteien gefordert, wäre hingegen nicht zielfüh-rend, außer dass sich die Tarifpartner, wie schon in derVergangenheit, auf nichts einigen könnten. Dies gilt,zumal die Kolleginnen und Kollegen von der SPD dieTarifsperre in ihrer Regierungszeit bis 2009 selbst mit-getragen haben. Ihre Forderung ist also nichts als Op-positionsgehabe. Zu diesem Oppositionsgehabe zähleich auch die Forderung der Linken nach 10 000 Post-doc-Stellen. Denn gleichzeitig legt die rot-rote Regie-rung in Brandenburg Hochschulen zwangsweise zusam-men. Wie das zusammenpasst, können wahrscheinlichnur die Linken erklären.Auch die Forderung der Grünen nach 4 000 neuenProfessorenstellen oder die der SPD nach 2 500 neuenProfessorenstellen ist nachvollziehbar; jedoch sehe ichim Moment keinen finanziellen Spielraum, um Pro-gramme in einem solchen Umfang starten zu können. Ichbin jedoch auf die Maßnahmen der rot-grünen bzw. dergrün-roten Landesregierungen gespannt und freue michüber jede neue Professorenstelle.Wir meinen hingegen, dass zur Attraktivität nicht nurdie Schaffung immer neuer Stellen beiträgt, sondernauch die Ausgestaltung der Stellen. Deshalb schlagenwir eine neue Personalkategorie in Anlehnung an denbritisch-amerikanischen Associate Professor vor. DieseStellen sind bereits unbefristet und sollen besonders leis-tungsstarken Wissenschaftlern frühzeitig einen attrakti-ven Karriereweg eröffnen. Zusätzliche Attraktivitäterhalten diese Stellen durch umfangreiche Gehaltszu-lagen, weitreichende Freiheiten bei der Personal- undMittelbewirtschaftung, einem Promotionsrecht und demvollen Stimmrecht in den Gremien der Hochschule.Damit kann den besten Nachwuchswissenschaftlern vielfrühzeitiger als bisher eine berufliche Planungssicher-heit geboten werden. Auch das ist wichtig, um dieAttraktivität und Wettbewerbsfähigkeit unseres Wissen-schaftssystems weiter zu steigern.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20795
Dr. Stefan Kaufmann
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Mit unserem Antrag haben wir eine umfangreicheGesamtbetrachtung vorgelegt. Lassen Sie mich unserezentralen Punkte wiederholen: Beendigung der übermä-ßigen Befristungspraxis an den Hochschulen, Schaffungvon vielfältigeren, attraktiveren Karriereperspektivendurch neue Personalkategorien sowie Maßnahmen zurbesseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf an denHochschulen und an den außeruniversitären For-schungseinrichtungen.Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dasswir mit unserem Wissenschaftssystem in Deutschland iminternationalen Vergleich auf einem guten Weg sind. MitExzellenzinitiative, Hochschulpakt, Qualitätspakt Lehreund dem Pakt für Forschung und Innovation hat diechristlich-liberale Koalition viel erreicht. Lassen wirnicht zu, dass dies von der Opposition oder von anderenkaputtgeredet wird, sondern bauen wir auf den Erfolgenauf!
Spätestens seit der Vorlage der HIS-Studie „Wissen-schaftliche Karrieren“ sowie des Evaluationsberichtesdes Wissenschaftszeitvertragsgesetzes liegen uns allenhandfeste Daten und Fakten auf dem Tisch, die zeigen,in welch prekären Beschäftigungsverhältnissen Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland ar-beiten. Der dringende Handlungsbedarf, die Beschäfti-gungsbedingungen zu verbessern, ist nur allzu deutlich.Wir von der SPD-Fraktion haben deshalb bereits vorfast einem Jahr einen Antrag in den Deutschen Bundes-tag eingebracht mit dem Ziel, echte Perspektiven für denwissenschaftlichen Nachwuchs zu schaffen. Leider sindwir sowohl bei der Bundesregierung als auch bei CDU/CSU und FDP auf taube Ohren gestoßen. Auch die Stel-lungnahmen der Sachverständigen und Experten, die inmehreren Anhörungen im Ausschuss für Bildung undForschung den erheblichen Handlungsbedarf deutlichgemacht haben, blieben von der Bundesregierung unge-hört.Wir thematisieren dieses Problem nicht, um einer spe-ziellen Gruppe etwas Gutes zu tun, sondern weil es einProblem für die gesamte Gesellschaft ist. Wir brauchenden wissenschaftlichen Nachwuchs. Einerseits brauchenwir motiviertes, qualifiziertes Personal an den Hoch-schulen. Denn immer mehr Leute wollen studieren undmüssen auch gut ausgebildet werden. Anderseits brau-chen wir Forscherinnen und Forscher, die uns voran-bringen und uns in den verschiedensten Bereichen Pro-blemlösungen anbieten. Dies ist aber nur möglich, wennWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht durchschlechte Arbeitsbedingungen abgeschreckt werden.Das Prinzip gute Arbeit wollen wir auch für die Beschäf-tigten in der Wissenschaft erreichen.Wir wollen erreichen, dass Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler nach ihrer Qualifikationsphase nichtgezwungen werden, in die Wirtschaft oder ins Auslandzu gehen, um eine berufliche Perspektive zu erhalten, umFamilie und Beruf vereinbaren zu können, um Stabilitätzu erhalten, sondern dass auch die öffentlich finanzier-ten Forschungseinrichtungen und Hochschulen gute Ar-beitgeber für die hochqualifizierten Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftler sind.Wir fordern, unterstützt durch die Sachverständigen,unter anderem eine Personaloffensive mit 2 500 zusätz-lichen Professuren bis 2020, 1 000 zusätzliche Junior-professuren bis 2015, die Steigerung des sogenanntenTenure Track, mehr strukturierte Promotionspro-gramme, Einführung einer Frauenquote, Ausbau derKinderbetreuungsangebote, Erhöhung des Anteils unbe-fristet beschäftigten Personals, Aufnahme von Zielver-einbarungen mit den außeruniversitären Forschungs-einrichtungen in das geplante Wissenschaftsfreiheits-gesetz und Aufhebung der Tarifsperre des Wissen-schaftszeitvertragsgesetzes. Dies sind nur Stichworteaus der Reihe von sehr konkreten Vorschlägen unseresAntrags aus dem letzten Jahr. Dies, die Vorlagen ande-rer Fraktionen , die Studien und Berichte sowie die An-regungen der Sachverständigen sollten Material genuggegeben haben, damit sich nun endlich auch die Bundes-regierung und die Koalitionsfraktionen bewegen.Nun haben die Koalitionsfraktionen endlich einenAntrag vorgelegt. So begrüßenswert dies auf den erstenBlick ist, umso enttäuschender ist auf den zweiten Blickdas vorgelegte Ergebnis. Der Antrag erklärt wortreich,dass sie letztlich gar nichts Konkretes machen wollen.Es werden zwar einige richtige Stichworte aufgegriffen,doch es folgen keine klare politische Maßgabe undHandlung.Ich greife exemplarisch für den gesamten Antrag einBeispiel heraus: Gleich beim ersten Punkt im Forde-rungsteil – da sind wir schon auf Seite sieben – wird dieBundesregierung aufgefordert, „darauf hinzuwirken,dass die Vertragsdauer für Nachwuchswissenschaftle-rinnen und -wissenschaftler in der Regel an die Laufzeitder Projekte gekoppelt ist, in denen die wissenschaftli-chen Nachwuchskräfte beschäftigt sind.“ Was heißtdenn das genau, die Bundesregierung solle „darauf hin-wirken“? Es muss doch wohl klar sein, dass hier derBundestag selbst gefragt ist, die rechtlichen Bestimmun-gen so zu ändern, dass niemand auf irgendetwas hinwir-ken soll, sondern dass die Verträge rechtlichen Regelun-gen entsprechend gestaltet werden müssen. DerDeutsche Bundestag ist gefragt, die Regelungen neu zufassen, anstatt die Bundesregierung aufzufordern, ein-mal ein bisschen mit erhobenem Zeigefinger zu schimp-fen.So oder so ähnlich liest sich der Großteil der „Forde-rungen“ des Antrags: Da wird hier ein Leitfaden ange-fordert, dort eine Berichterstattung angemahnt, Datensollen erfasst und Zuschüsse gehalten und einmal sogardie Förderung ausgebaut werden – ohne zu sagen, inwelcher Höhe. Unverbindlicher geht es wirklich nicht.Dafür sollen aber an anderer Stelle des Antrags die Län-der mehr Geld für unbefristete Beschäftigung an Hoch-schulen zur Verfügung stellen. Überhaupt wird viel aufandere verwiesen: auf die Länder, auf die Hochschulen,auf die Forschungseinrichtungen. Auf sie zeigt die Ko-alition. Sie sollen neue Personalkategorien schaffen,sich selbst verpflichten, familienfreundlich zu werden,Perspektiven zu entwickeln usw. usf. Da ist sicherlichZu Protokoll gegebene Reden
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20796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Swen Schulz
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das eine oder andere Richtige oder Diskutable dabei.Alle Akteure müssen gemeinsam an der Lösung der Pro-bleme arbeiten, und nicht alles kann und soll der Bundregeln.Doch mit ihrem Antrag weist die Koalition alle Ver-antwortung von sich und von der Bundesregierung.Stattdessen lehnt sie sich gemütlich zurück und zeigt aufalle anderen. Dieser Antrag ist von Anfang bis Ende einreines Alibi ohne Substanz. Wir brauchen, die Wissen-schaft braucht etwas anderes, nämlich eine Kultur desSelbst-Anpackens statt des Immer-auf-die-anderen-Ver-weisens.
Wenn der wichtigste Rohstoff der Zukunft Deutsch-lands zwischen den Ohren sitzt, dann ruhen die Hoffnun-gen unseres Landes auf den Schultern junger Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler – in der Lehre wie inder Forschung. Diese nehmen eine zentrale Rolle beider Sicherung der Wettbewerbs- und Innovationsfähig-keit ein. Die christlich-liberale Koalition hat sich daherdem Thema Bildung und Forschung bereits in ihrer Ko-alitionsvereinbarung verschrieben. Wir haben dabeiausdrücklich dem wissenschaftlichen Nachwuchs einbesonderes Augenmerk gewidmet: „Wir setzen uns füreine stärkere Durchlässigkeit der Karrierepfade in Wis-senschaft und Wirtschaft ein. Dies fördert auch den Wis-sens- und Technologietransfer. Wir werden unseren Bei-trag für bessere Karrierechancen von Frauen inWissenschaft und Forschung leisten. Die internationaleAnziehungskraft deutscher Hochschulen wollen wir fürStudierende wie für Wissenschaftler steigern. Deshalbwerden wir internationale strategische Partnerschaftenunterstützen und Mobilitätshindernisse, auch im Bereichder sozialen Sicherungssysteme, abbauen.“Der vorliegende Antrag „Exzellente Perspektiven fürden wissenschaftlichen Nachwuchs fortentwickeln“trägt diesem unserem Anspruch deutlich Rechnung. Diechristlich-liberale Koalition macht damit einmal mehrErnst mit ihrem Anliegen, Deutschland zur Bildungsre-publik zu machen; sei es mit den überaus erfolgreich an-gelaufenen Projekten „Qualitätspakt Lehre“, demDeutschlandstipendium oder der weiteren Förderungdes Studienplatzausbauprogramms „Hochschulpakt 2020“.Unser Antrag verfolgt mit 15 konkreten Forderungendas Ziel, die Rahmenbedingungen für Nachwuchswis-senschaftler an unseren Hochschulen und außeruniver-sitären Einrichtungen und für alle weiteren Doktoran-den weiter zu verbessern. Denn wir brauchen begabteund motivierte Hochschulabsolventen, die sich für eineKarriere in der Wissenschaft entscheiden. Diese brau-chen wir heute mehr denn je.Eine Karriere in der Wissenschaft ist nur dann attrak-tiv, wenn diese zumindest rudimentäre Zukunftsperspek-tiven eröffnet. Die Rahmenbedingungen müssen so ge-staltet sein, dass Deutschland in diesem Zusammenhangim internationalen Vergleich nicht zurückfällt. Mehrnoch: Wir müssen für junge Talente im Ausland noch in-teressanter werden.Wissenschafts- und Forschungspolitik unter rot-grü-ner Ägide hat der Attraktivität des Standortes Deutsch-land geschadet. Es waren verlorene Jahre. Fortschritts-feindliche Politik, beispielsweise im Bereich derEnergieforschung und bei der Gentechnologie, hat einegroße Lücke gerissen und die Zukunftsängste des wis-senschaftlichen Nachwuchses beflügelt. FDP und Unionhaben genau hier angesetzt und werden mit ihrer Politik,die Deutschland tatsächlich wieder hin zu einer Bil-dungs- und Fortschrittsrepublik verändert, verlässlicheRahmenbedingungen für den wissenschaftlichen Nach-wuchs schaffen.Doch bei unseren Anstrengungen auf Bundesebenedarf eines nicht aus dem Blick geraten: Wissenschafts-politik und damit auch die Problematik der Beschäfti-gung von Nachwuchswissenschaftlern an Hochschulenund Forschungseinrichtungen ist in erster Linie Länder-sache. Diesem Umstand trägt der vorliegende Antragsehr klar Rechnung. Dennoch, auch die christlich-libe-rale Koalition wird weiter für exzellente Perspektivenfür den wissenschaftlichen Nachwuchs sorgen. So wer-den wir beispielsweise demnächst ein Wissenschaftsfrei-heitsgesetz beschließen, welches auch auf Bundesebenedie Rahmenbedingungen weiter verbessern und beste-hende Hemmnisse im Wissenschaftssystem beseitigensowie die Handlungsspielräume der Hochschulen undForschungseinrichtungen ausweiten wird.Das 2007 eingeführte Wissenschaftszeitvertragsge-setz hat diesem Anspruch für einen bestimmten Rege-lungsbereich – nämlich zur Flexibilisierung der arbeits-vertraglichen Verhältnisse – gerecht werden wollen.Eine wissenschaftliche Evaluation hat gezeigt, dassauch hier Verbesserungen erreicht wurden. Gleichwohlist nicht alles perfekt; denn wie stellt sich die Situationan den Wissenschaftseinrichtungen in unserem Landnun heute dar? Satte 84 Prozent der wissenschaftlichenMitarbeiter an unseren Hochschulen sind befristet ange-stellt. Von diesen ist wiederum die Hälfte mit einem aufunter ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag beschäftigt,und das obwohl der Bund seit Jahren Milliarden bei-spielsweise mit der Exzellenzinitiative und dem Quali-tätspakt Lehre sowie dem Hochschulpakt 2020 zu einerbesseren Ausfinanzierung der Hochschulen und For-schungseinrichtungen in Deutschland beiträgt.Dennoch haben sich die Karriereperspektiven für un-sere Nachwuchswissenschaftler offenbar nicht verbes-sert. Das liegt anscheinend daran, dass die Länder ihrerVerantwortung häufig nicht gerecht geworden sind. DerBund hat seine Anstrengungen erhöht, um dann festzu-stellen, dass seitens der Länder der Beitrag zur Grund-finanzierung von Forschung und Lehre zurückgefahrenwurde. Auf dieses Phänomen wurde im Rahmen der Sit-zung des im Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung am 28. März 2012 durchge-führten Fachgesprächs „Perspektiven für den wissen-schaftlichen Nachwuchs“ mehrfach hingewiesen. Unsergemeinsamer Antrag greift dies auf. Union und FDP ha-ben daher ganz konkrete Vorschläge unterbreitet, wiewir – und zwar Bund und Länder gemeinsam mit denHochschulen und Forschungseinrichtungen – die Rah-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20797
Dr. Martin Neumann
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menbedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchsin Deutschland verbessern können.Was, so werden Sie zu Recht nach einem Blick in dasGrundgesetz fragen, kann der Bund nun tun, um die Per-spektiven und Karriereaussichten für die Nachwuchs-wissenschaftler in unserem Land zu verbessern? EineAntwort darauf geben unsere 15 Forderungen, die imAntrag ausführlich beschrieben werden. Mir ist beson-ders wichtig, dass wir künftig darauf achten, die Ver-tragsdauer von Arbeitsverträgen an die Laufzeit von inder Regel drittmittelfinanzierten Projekten zu koppeln.Nur so können wir sicherstellen, dass die Qualifika-tionsvorhaben im Wissenschaftsbereich eine gewisseVerlässlichkeit erhalten.Ebenfalls hervorheben möchte ich, dass wir es end-lich schaffen müssen, einen einheitlichen Doktoranden-status einzuführen. Nicht zuletzt unser Fachgespräch hateinmal mehr gezeigt, dass dieser Grundlage dafür ist,verlässliche Aussagen treffen zu können über die Zahlder laufenden Promotionsvorhaben, über Abbruchquo-ten und auch die Erfolgszahlen. Auch die bereits vomWissenschaftsrat empfohlene pflichtige Betreuungsver-einbarung zwischen Doktoranden und Betreuern wirddeutliche Verbesserungen für unsere Nachwuchswissen-schaftler zeitigen. In dieselbe Richtung tendiert unserAnsinnen, die strukturierte Doktorandenausbildung bei-spielsweise durch Graduiertenschulen weiter auszu-bauen.Ebenfalls wichtig ist es, dass die Begabtenförde-rungswerke in ihrer Aufgabe, den wissenschaftlichenNachwuchs finanziell wie auch ideell zu unterstützen,weiter gestärkt werden. Nur so kann sichergestellt wer-den, dass auch freie Promotionsvorhaben Aussicht aufErfolg haben. Denn wir werden nicht allen DoktorandenAnstellungen an Hochschulen oder Forschungseinrich-tungen anbieten können. Wirklich als Meilenstein kanndie von uns empfohlene Einführung einer zusätzlichenProfessorenkategorie, der sogenannten Associate Pro-fessur, angesehen werden. Diese neue Personalkatego-rie bietet die Möglichkeit, mehr unbefristete Stellenfür Nachwuchswissenschaftler neben der klassischenW3-Professur zu schaffen. Gemeinsam mit den befriste-ten Assistenzprofessuren, die aus den jetzigen Junior-professuren heraus weiterentwickelt werden sollen, kön-nen die Hochschulen künftig attraktive und verlässlicheKarriereperspektiven aufzeigen. Schließlich werden dieHochschulen in ihrem bereits vielfach erfolgreich prak-tizierten Ansinnen bestärkt, ihre Nachwuchswissen-schaftler frühzeitig auf Karrieremöglichkeiten außer-halb des Wissenschaftssystems vorzubereiten und durcheine gezielte Personalentwicklung fitzumachen für eineanschließende Tätigkeit in Wirtschaft, Verwaltung odersonstigen Arbeitsumfeldern.Diese kleine Auswahl aus der Vielzahl von guten Vor-schlägen, die wir mit unserem Antrag formuliert haben,zeigt: Wir meinen es ernst mit unserem Anspruch, Bil-dung und Forschung zum Kernanliegen der christlich-li-beralen Koalition zu machen. Der Bund hat bereitsgroße Anstrengungen unternommen, die Rahmenbedin-gungen für das deutsche Wissenschaftssystem zu verbes-sern. Uns mangelt es glücklicherweise nicht an klugen,motivierten und engagierten jungen Leuten, die eineKarriere in der Wissenschaft anstreben. Dabei muss esbleiben. Deshalb appellieren wir insbesondere an dieLänder, nicht nachzulassen in ihren Anstrengungen, ins-besondere attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten undverlässliche Karriereperspektiven an ihren Hochschulenzu schaffen. Nur gemeinsam können wir die Zukunftsfä-higkeit Deutschlands sichern.
Unser Wissenschaftssystem steht beschäftigungspoli-tisch vor einem gravierenden Strukturproblem. Dasbescheinigen in den letzten Monaten alle Studien, unddas haben auch zwei Expertenanhörungen im For-schungsausschuss zur Situation von Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftlern an öffentlichen Einrichtungenbestätigt. Zwar sind in den letzten Jahren im Rahmender Exzellenzinitiative und des Hochschulpakts Tau-sende Stellen an Hochschulen neu geschaffen worden.Ein großer Anteil ist aber an zeitlich beschränkte Pro-jekte der Exzellenzinitiative gebunden. Auch die Stellenfür Daueraufgaben aus Lehre und Forschung an denHochschulen sind nur zum geringen Prozentsatz un-befristete Professuren. Dafür gab es 2010 doppelt soviele, meist geringfügig entlohnte Lehrbeauftragte wienoch 2005. Aus der Nähe betrachtet entpuppt sich dievermeintliche Jobmaschine daher als Scheinriese. Wennman nämlich die weitere Perspektive der hochmotivier-ten und hochqualifizierten Menschen in den Augen-schein nimmt, so ist sie im überwiegenden Maße vonUnsicherheit und zunehmend auch von Prekarität ge-prägt.Die statistischen Belege sind bestechend: Nur14 Prozent des wissenschaftlichen Personals an deut-schen Hochschulen besteht aus Professuren und anderenDauerstellen, während dies in Frankreich oder Englandfast zwei Drittel sind. Die Evaluation zum Wissen-schaftszeitvertragsgesetz hat zudem offengelegt, dassmehr als die Hälfte aller Verträge, die heutzutage ge-schlossen werden, für maximal ein Jahr läuft. Über-haupt dürfen sich nur 11 Prozent der befristet Beschäf-tigten glücklich schätzen, dass sie für mehr als zweiJahre eingestellt werden.Um diesen Zuständen einen Riegel vorzuschieben,hat meine Fraktion in ihren Anträgen deutlich gemacht,dass das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, das solcheBefristungen bislang zulässt, nachgebessert werdenmuss. Wir möchten gesetzlich festschreiben, dass sichdie Laufzeit von Verträgen mindestens an der geplantenDauer der Qualifikation ausrichtet und dass Drittmittel-projekte und Verträge unter einem Jahr nicht zulässigsind.Nun legt die Koalition heute eine Position vor, in dersie ebenfalls für Mindestlaufzeiten von Verträgen plä-diert. Immerhin erkennt sie die schwierige Lage der Be-troffenen in diesem Punkt also an. Warum aber, meineDamen und Herren von der Koalition, nehmen Sie Ihrepolitische Verantwortung als Gesetzgeber nicht an undäußern bloße Wünsche an die Hochschulrektorenkonfe-Zu Protokoll gegebene Reden
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20798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Petra Sitte
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renz? Spätestens nach den negativen Erfahrungen mitSelbstverpflichtungen außeruniversitärer Forschungs-einrichtungen in Gleichstellungsfragen wissen wir doch,dass es verbindliche Vorgaben bei Personalfragenbraucht. Sonst bleibt wie bisher alles vom guten Willeneinzelner Entscheider abhängig.Sie wissen, dass Sie auch noch einen alternativenWeg gehen können: die Streichung der Tarifsperre, wiesie GEW und Verdi zu Recht fordern. Dann könnten dieHochschulen ihren guten Willen ganz praktisch in Tarif-verhandlungen unter Beweis stellen und beide Seitenkönnten sachlich gute Regelungen weitgehend ohne denGesetzgeber stemmen. Für eine der beiden Variantenmüssen Sie sich aber entscheiden, wenn wir im Bundes-tag wirklich seriöse Wissenschaftspolitik machen sollen.Um Nachwuchswissenschaftlern und -wissenschaft-lerinnen langfristige Perspektiven an deutschen Hoch-schulen zu geben, braucht es darüber hinaus deutlichmehr Dauerstellen. Man muss der Realität ins Augesehen: Es gibt anhaltend mehr Studierende, was frak-tionsübergreifend gewünscht und gewollt ist. Hierdurchwerden schnellstmöglich deutlich mehr qualifizierteLehrkräfte benötigt. Zugleich schreiben alle politischenKräfte der Forschung eine tragende Rolle für dieZukunftsentwicklung zu. Forschung und Innovationendienen den einen als vorgelagertes Labor für Wirt-schaftswachstum und Wohlstand, den anderen alsImpulsgeber für den notwendigen sozialen und ökologi-schen Wandel unserer Gesellschaft. So gesehen mussman auch bei der Stellenstruktur endlich Ja zu mehrfestangestellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-lern sagen. Dafür könnten Nachwuchswissenschaftlerals Juniorprofessuren und Nachwuchsgruppenleiter mitTenure Track, das heißt Option auf Übernahme beiErfolg, ausgestattet werden. Überall im Ausland ist dasganz normal, nur bei uns kann der sogenannte Nach-wuchs auch im Alter von 40 Jahren nur selten selbst-ständig forschen und lehren.Hier bewegt sich die Koalition nunmehr einen Schrittnach vorne und will die oben genannten Personalkate-gorien sprachlich aufwerten, indem sie sie zu – befriste-ten – Assistenzprofessuren zusammenfasst. Der Kern derNeuerung liegt im Vorschlag für unbefristete Postdokto-randenstellen als sogenannte Associate Professors, dieauch ohne Habilitation unbefristete Beschäftigung undAutonomie in Personal- und Forschungsfragen ermögli-chen. Diese zwei Kategorien würden Sinn machen, wenndie eine als Transferstelle zur Vollprofessur angelegtwäre – wie heute bereits die Juniorprofessur –, die an-dere aber als Zielstation, mit Option auf Aufstieg. Hierist der vorgelegte Antrag aus meiner Sicht aber nichtganz klar. Die unbefristeten Postdoktorandenstellenscheinen als Zwischenstation zwischen Juniorprofessurbzw. Nachwuchsgruppenleitung einerseits und Vollpro-fessur andererseits angelegt zu sein. Wenn sich daraufaber nicht der oder die hervorragende Promovierte be-werben kann, würde damit nur eine Professur zweiterKlasse geschaffen.Doch lässt sich an der Ausgestaltung der Personal-kategorien weiter feilen. Entscheidend ist, wie ein sol-ches Vorhaben finanziert werden kann. Die Linke hattehierzu ein Sonderprogramm des Bundes vorgeschlagen,da es sich um ein wissenschaftspolitisches Ziel von über-greifender Bedeutung handelt. Hier wäre es also span-nend, zu erfahren, ob die Koalition dazu mit ihrenWissenschaftsministerien der Länder im Benehmen ist.Im Antrag schweigt Sie sich zur Finanzierung völlig aus,wodurch jeder noch so gutgemeinte Vorschlag zumPapiertiger wird.Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass dieStellenbasis auch von unten zerbröselt, weil reguläreQualifikationsstellen für Promovierende zunehmenddurch Stipendien ersetzt werden. Das hatte eine Befra-gung unter Promovierenden der Max-Planck-Gesell-schaft ergeben. Dabei sind die Max-Planck-Institute imVergleich zu Hochschulen finanziell gut ausgestattet,sodass man sich für die letzteren ein noch weit größeresAusmaß der gleichen Entwicklung ausmalen kann.Mitnichten liegt diese Entwicklung daran, dass immermehr Promovierende ungebunden an ihrer Qualifikationarbeiten wollen. Denn die Studie zeigt, dass die Stipen-diatinnen und Stipendiaten ähnlich stark in Projekteaußerhalb ihrer eigenen Qualifikation eingebundenwerden wie Angestellte. Sie arbeiten also regulär, nur zueinem für die Institute deutlich günstigeren Tarif. Siewerden weder sozial- noch renten- noch krankenver-sichert. Statt mehr Stipendien, die bei der Bundesregie-rung im Trend liegen, brauchen wir deshalb mehrStellen. Ich hoffe, dass die Diskussion zu diesem Antragin tragfähige Konzepte mündet.
Als wir 2010 in unserem grünen Antrag einen Paktfür den wissenschaftlichen Nachwuchs und bessere Be-schäftigungsbedingungen forderten, haben Vertreter derKoalition noch abgewiegelt und von „Gejammer auf ho-hem Niveau“ gesprochen. Ihrem heutigen – seit langemangekündigten – Antrag kann man jetzt entnehmen, dassinzwischen auch bei Ihnen die Erkenntnis angekommenist, dass die schlechten Beschäftigungsverhältnisse, diemangelnden Perspektiven für den wissenschaftlichenNachwuchs und die überholte Personalstruktur tatsäch-lich ein Problem sind und es bei unserer Kritik ebennicht um bloße Miesmacherei der Opposition geht.Wenn es aber um die notwendigen Konsequenzengeht, sind Sie leider immer noch nicht in der Realität an-gekommen. Der Forderungskatalog Ihres Antrags ist vorallem dadurch gekennzeichnet, dass Sie der Bundesre-gierung nichts, aber auch gar nichts abverlangen. Dabeihätten Sie aus den Fachgesprächen im Ausschuss undden Anträgen der Opposition genügend Vorschläge auf-greifen können. In dieser Beziehung ist Ihr Antrag ärm-lich.Um der Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhält-nisse bei den hauptberuflichen wissenschaftlichen Mit-arbeitern entgegenzuwirken, muss die Unterfinanzie-rung im Hochschulpakt endlich beseitigt werden. Wirbrauchen die Ausfinanzierung von Studienplätzen undnicht nur die Schaffung von Studiermöglichkeiten zumSparpreis. Wir brauchen außerdem eine VerstetigungZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20799
Krista Sager
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der Finanzierung über 2014 hinaus und Anreize undVereinbarungen für die Verbesserung der Beschäfti-gungsperspektiven und der Personalstruktur.Dazu muss ein Bundesprogramm für zusätzliche Juni-orprofessuren mit Tenure-Track-Regelung gehören, wiewir es mehrfach vorgeschlagen haben. Doch statt sol-cher konkreter Maßnahmen schlägt die Koalition ledig-lich vor, dass die Juniorprofessur zukünftig Assistenz-professur heißen soll. Ja, was soll das denn bringen?Es waren CDU und CSU, die jahrelang die Junior-professur blockiert haben, weshalb es davon heute auchnur 1 000 und nicht die geplanten 6 000 gibt. Trotzdemist die Juniorprofessur inzwischen in allen Bundeslän-dern anerkannt und hat sich als Karriereweg bewährt.Aber statt mit einem Förderprogramm kommen Sie miteinem Umbenennungsvorschlag, wobei die Bezeichnung„Assistenz“ den Vorteil der Juniorprofessur, nämlich diefrühe Selbstständigkeit, eher wieder relativiert.Wir haben gefordert, neben und jenseits der traditio-nellen Vollprofessur für qualifizierte und erfahrene Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler Stellen zu schaf-fen, die auch selbstständige Forschung und Lehreermöglichen. Auch diese Einsicht ist nun bei der Koali-tion angekommen, und Sie machen dafür den Benen-nungsvorschlag „Associate-Professur“, aber Sie ma-chen keinen einzigen belastbaren Vorschlag, wie wirdenn zur Einrichtung solcher Beschäftigungsverhält-nisse kommen. Wir haben zum Beispiel mit dem Risiko-aufschlag für die Fortsetzung von Befristungen im Rah-men der Drittmittelförderung immerhin einige Ideenentwickelt.Da, wo die Bundesregierung selbst handeln könnte,ducken Sie sich ebenfalls weg. Zwar kritisieren Sie dieextrem kurzen Laufzeiten bei den befristeten Verträgen,die immer mehr von der Dauer der eigentlichen Aufga-ben abweichen, aber zu einer Änderung des Wissen-schaftszeitvertragsgesetzes sind Sie offenbar nicht be-reit: Aufhebung der Tarifsperre? Für die Koalition keinThema! Verbindliche Ausgestaltung der familienpoliti-schen Komponente? Fehlanzeige!Dort, wo der Bund als Geldgeber, Forschungsförde-rer oder Mitglied von Aufsichtsgremien und Kuratorienvon wissenschaftlichen Einrichtungen aktiv ist, könnteer sich doch direkt für einen Code of Conduct, also dieVereinbarung von Standards für die Beschäftigung deswissenschaftlichen Personals, einsetzen. Stattdessenwollen Sie diese Möglichkeit nur als Appell an die Hoch-schulrektorenkonferenz richten, die diese Woche dazuallgemeine Leitlinien verabschiedet hat, die den Hoch-schulen alle Hintertüren offen lassen, einfach so weiter-zumachen wie bisher.Dass Sie im Bereich der Promotion einige Vorschlägeaufgreifen, die sich in unserem Antrag zu Qualitätssi-cherung finden, wie Betreuungsverträge, stärkere Ein-beziehung externer Gutachter, die Schaffung eines Dok-torandenstatus an den Universitäten, transparente Ver-fahren und größere Verantwortung der Institutionen, istzwar zu begrüßen, aber für die Bundesebene auch rela-tiv wohlfeil. Aber warum wollen Sie den Nachwuchs-gruppenleitern eigentlich nicht wie den Juniorprofessu-ren ein Promotionsrecht zugestehen? Bei Ihrem Antragzu den Beschäftigungsperspektiven für den wissen-schaftlichen Nachwuchs geht es Ihnen offenbar darum,Ihre Bundesministerin Schavan nicht mit diesem Pro-blem zu belämmern.Wenn Sie in ihrem Antrag schreiben, die Stellensitua-tion für Postdoktoranden sei so gut wie nie zuvor, dannhaben Sie offenbar nicht mitbekommen, wie es geradebei diesen Mitarbeitern an den Unis brodelt. Es gibtzwar so viele wie nie zuvor, aber ihre Beschäftigungsbe-dingungen und Perspektiven sind immer schlechter ge-worden. 86 Prozent des wissenschaftlichen Personalsgilt als wissenschaftlicher Nachwuchs bis ins fünfte Le-bensjahrzehnt, 83 Prozent haben befristete Stellen,53 Prozent mit Laufzeiten unter einem Jahr. So sieht derNormalfall an deutschen Universitäten inzwischen aus.Wenn Sie in Ihrem Antrag mehr Teilzeitbeschäftigungfür die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf for-dern, dann haben Sie offenbar nicht mitbekommen, dassdie Anzahl der Teilzeitverträge ebenfalls explodiert ist,aber nicht aus Familienfreundlichkeit, sondern als zu-sätzliche Variante der Prekarisierung, von der Frauennoch stärker betroffen sind als ihre männlichen Kolle-gen.Hochmotivierte und -qualifizierte Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftler sichern oft über viele Jahre dieFunktionsfähigkeit unserer Universitäten, und zwar alsLehrkräfte mit 16 Semesterwochenstunden oder in derProjektforschung mit neun Verträgen in fünf Jahren undohne jede Aussicht auf eine Zukunftsperspektive. Esreicht nicht, in dieser Situation nur auf die Länder zuverweisen. Der Bund muss hier endlich Mitverantwor-tung übernehmen – für die Zukunft, die Qualität und dieWettbewerbsfähigkeit unseres Hochschul- und Wissen-schaftssystems. Denn um nicht weniger geht es.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9396 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Damit ist auch dieseÜberweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 27:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses
– zu dem Antrag der Fraktion der SPDUmsetzung von Basel III: Finanzmärkte sta-bilisieren – Realwirtschaft stärken – Kom-munalfinanzierung sichern– zu dem Antrag der Fraktion der SPDBesonderheiten der nationalen Finanz-märkte bei Umsetzung von Basel III berück-sichtigen– Drucksachen 17/9167, 17/6294, 17/9439 –
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20800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Berichterstattung:Abgeordnete Ralph BrinkhausManfred ZöllmerFolgende Kolleginnen und Kollegen haben ihreReden zu Protokoll gegeben: Ralph Brinkhaus, PeterAumer, Manfred Zöllmer, Björn Sänger, Dr. Axel Troostund Dr. Gerhard Schick.
Die Umsetzung des Basel-III-Pakets in europäischesRecht gehört zu den Grundpfeilern einer neuen Finanz-marktordnung für Europa – einer neuen Finanzmarkt-ordnung, die, wie wir alle in der Finanzkrise 2008 und inder Staatsschuldenkrise 2010 gesehen haben, zwingendnotwendig ist.Die Umsetzung dieses Basel-III-Pakets im Rahmender Verordnung und Richtlinie zu „CRD V“ wird enormeAuswirkungen auf das Handeln von Banken haben. Eswird mehr Eigenkapital verlangt, mehr Liquidität, unddas Berichts- und Meldewesen wird sich verändern. In-sofern ist dieser Prozess – nicht ausschließlich, aber vorallen Dingen – für die kleineren und mittleren Bankenmit vielen Sorgen und Ängsten verbunden. InsbesondereSparkassen und Volksbanken haben dies in den Medienund in vielen Schreiben an uns Abgeordnete adressiert.Diese Sorgen und Ängste sind nicht unbegründet unddaher sehr ernst zu nehmen, auch vor dem Hintergrundder Bedeutung von Sparkassen, Volksbanken und klei-nen Privatbanken für den Finanzplatz Deutschland.Denn diese Institute sind bedeutsam für die Aufrechter-haltung des Zahlungsverkehrs und ganz besonders auchfür die Bereitstellung von Finanzdienstleistungen fürden Mittelstand.Mittelstand ist ein gutes Stichwort. Europa zeichnetsich durch eine außerordentlich vielfältige Wirtschafts-und Bankenlandschaft aus. Charakteristisch für Deutsch-land ist im Besonderen der starke Mittelstand – undzwar nicht nur der realwirtschaftliche Mittelstand, son-dern auch der Mittelstand im Finanzdienstleistungsbe-reich. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern,in denen zumeist große Institute den Markt dominieren,haben wir in Deutschland eine gute Mischung aus Groß-banken auf der einen Seite und mittelständischen, regio-nalen Banken wie Volksbanken, Sparkassen und kleinenPrivatbanken auf der anderen Seite. Diese Vielfalt hateine große Bedeutung für die Stabilität des Finanzsys-tems in Deutschland und eine noch größere Bedeutungfür die Versorgung des Mittelstandes und der ländlichenRäume mit Finanzdienstleistungen.Auf europäischer Ebene ist diese Vielfalt natürlich umein Vielfaches größer, da wir hier von 27 unterschiedli-chen Staaten reden, die sich dementsprechend auch allein Brüssel für die Berücksichtigung ihrer nationalen Be-sonderheiten einsetzen. Strebt man nun eine Reform derbisher bestehenden Regulierung an, insbesondere wennes sich um ein „Mehr“ an regulatorischen Anforderun-gen handelt, wie das bei Basel III der Fall ist, sollten ei-nige Voraussetzungen gegeben sein:Erstens. Der Vielfalt im europäischen Finanzmarktund insbesondere der mittelständischen Strukturen so-wie dem Grundsatz der abgestuften Aufsichtsintensitätsollte entsprechend der Risikostruktur des beaufsichtig-ten Instituts angemessen Rechnung getragen werden.Zweitens. Bei allen Regulierungsreformen sind im-mer die damit einhergehenden Auswirkungen auf die Re-alwirtschaft zu beachten, wobei der Begriff Realwirt-schaft hierbei nicht nur Unternehmen einschließt, sondernauch kommunale Kreditnehmer und Hypothekardarle-hensnehmer.Drittens. Regulierung sollte keine industriepoliti-schen Auswirkungen haben und nicht zu einer Diskrimi-nierung einzelner Anbieter aufgrund ihrer Größe oderihres Kapitalmarktzugangs führen. Höhere regulatori-sche Anforderungen benachteiligen insbesondere klei-nere Institute – nicht wegen der Einhaltung von quanti-tativen Vorgaben wie Eigenkapitalquoten oder Liquidi-tätsvorgaben, sondern aufgrund des höheren adminis-trativen Aufwandes, der mit der Meldung und der Kon-trolle dieser Kennzahlen zusammenhängt.Betrachten wir vor dem Hintergrund dieser drei zen-tralen Punkte den Basel-III- bzw. CRD-IV-Prozess:Ausgangspunkt vieler Überlegungen zu Basel III warinsbesondere das Modell einer angelsächsischen, kapi-talmarktorientierten Bank. Bereits an dieser Stelle ha-ben die deutschen Vertreter im Baseler Komitee daraufhingewirkt, dass die für Genossenschaftsbanken, Spar-kassen und kleinen Privatbanken essenzielle Frage derEigenkapitaldefinition im Sinne der deutschen Finanz-wirtschaft gelöst wurde, indem das Eigenkapital rechts-formneutral definiert worden ist. Auf europäischerEbene konnte – nach bisherigem Verhandlungsstand –zudem erreicht werden, dass die Frage der Risikoge-wichtung von Mittelstandskrediten zeitnah neu justiertwird. Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle darauf hin-weisen, dass auf Bitten der G20 das Basel-III-Paket umRisikozuschläge für global systemrelevante Institute er-gänzt werden soll.Wie sieht nun unsere Bewertung des gegenwärtigenVerhandlungsstandes aus:Erstens. Zunächst muss klar sein, dass CRD IV nichtnur für die deutsche Bankenlandschaft erstellt wurde,sondern für die Gesamtheit der europäischen Banken-landschaft. Es ist daher selbstverständlich, dass die Re-gelungen nicht hundertprozentig auf die deutsche Ban-kenstruktur passen. Hätten wir sie national und nur füruns alleine erstellt, wären wahrscheinlich andere quan-titative Vorgaben und auch andere Governance-Regelndabei herausgekommen. Es ist also abzuwägen zwischender nicht vollständigen Passgenauigkeit von gemeinsa-men europäischen Regeln auf der einen Seite und demVorteil, den wir gerade durch diese gemeinsamen euro-päischen Regeln gewinnen, auf der anderen Seite. Hin-sichtlich des gegenwärtig erreichten Verhandlungsstan-des sind wir der Meinung, dass die durch die Verhand-lungen der Bundesregierung erzielten Kompromisse ver-tretbar sind. Wir sehen allerdings mit großer Sorge, dassinsbesondere aus Großbritannien Forderungen gestelltZu Protokoll gegebene Reden
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werden, den Eigenkapitalbegriff neu zu definieren. Derprinzipienorientierte Eigenkapitalbegriff, der zum Bei-spiel auch Genossenschaftskapital und Formen der stil-len Beteiligungen enthält, ist für uns die rote Linie – einÜberschreiten dieser Linie ist für uns nicht verhandel-bar. Substanz muss über Form stehen.Zweitens. Die Auswirkungen auf die Realwirtschaft:Es wird oft die Kritik geäußert, dass durch die Vorga-ben von CRD IV insbesondere Mittelstandskredite teurerwürden. Das ist richtig – aber nach den uns vorliegen-den Auskünften ist diese Verteuerung signifikant niedri-ger als 0,5 Prozentpunkte am Ende eines mehrjährigenÜbergangszeitraums. Zudem setzt sich die Bundesregie-rung dafür ein, dass die Risikogewichtung für Mittel-standskredite neu justiert wird. Dieser Fragenkomplexist derzeit Gegenstand von empirischen Untersuchungenauf europäischer Ebene. Wir gehen davon aus, dass wirhier noch in diesem Jahr erste Ergebnisse erzielen wer-den.Ein weiteres wichtiges Feld ist die Frage der Kommu-nalfinanzierung. Eine höhere Eigenkapitalunterlegungdieser traditionell margenschwachen Kredite könntedazu führen, dass sich Kommunalkredite a) verteuernbzw. b) sich Institute aus der Kommunalfinanzierung zu-rückziehen.Wir nehmen diese Sorgen sehr ernst. Wir müssen unsder Herausforderung stellen und eine angemessene Ein-beziehung der Risiken von Kommunalkrediten in die Ei-genkapitalunterlegung auf der einen Seite erreichen unddie Auswirkungen auf den Markt für Kommunalkrediteauf der anderen Seite berücksichtigen. Wir werden diessehr genau verfolgen und gegebenenfalls gegensteuern.Die Forderung nach einer europaweiten pauschalen He-rausnahme von Kommunalkrediten aus wesentlichenTeilen des Regelwerks von CRD IV – Leverage Ratio –halten wir allerdings für falsch. Zumal es sich bei derLeverage Ratio zunächst um eine Beobachtungskenn-zahl handelt. Dies würde im Übrigen bedeuten, dassauch Kommunalkredite aus Krisenregionen nicht mit Ei-genkapital zu unterlegen sind. Dies wäre aus Sicht derStabilität der Finanzmärkte sehr gefährlich.Drittens. Sicherstellung der risikoadäquaten Behand-lung von Instituten:Regulierung sollte keine industriepolitischen Auswir-kungen haben. Dies ist bei der Umsetzung von CRD IVin der Tat ein Problem. Beginnen wir mit den global sys-temrelevanten Instituten – den G-SIFIs – global systemi-cally important financial institutions. Diese können sichaufgrund einer impliziten Staatsgarantie
gegebenenfalls günstiger refinanzieren als kleinere In-stitute. Das sollte so nicht sein und entspricht auch nichtder Risikosituation der G-SIFIs. Insofern ist es gut, dassauf Initiative der G20 nunmehr im Rahmen der Beratun-gen des Baseler Ausschusses geprüft wird, zusätzlicheRisikozuschläge auf das Eigenkapital dieser Banken, dieüber die Anforderungen von Basel III hinausgehen, zuverlangen. Wir sollten diese Risikozuschläge möglichstschnell einführen.Wir beobachten allerdings mit großer Sorge, dassvermehrte Regulierung ganz besonders kleine Institute– also Sparkassen, Volksbanken und kleine Privatban-ken – überfordert. Dabei geht es weniger um die Einhal-tung von quantitativen Vorgaben, sondern um den admi-nistrativen Aufwand und das Berichtswesen. Wir fordernan dieser Stelle eine ständige Überprüfung des Auf-sichtshandelns auf Proportionalität, das heißt auf Ange-messenheit im Vergleich zu den tatsächlichen Risikopo-sitionen. Wir glauben, dass dies in der gegenwärtigenund angedachten Regulierung noch nicht ausreichendgelungen ist und fordern an dieser Stelle Nachjustierun-gen. Wenn Regulierungsanforderungen nur noch vongroßen Instituten mit angemessenem Aufwand erfülltwerden können, führt dies zu Wettbewerbsverzerrungenund letztlich zu Konzentration. Diesen Konzentrations-prozess wollen wir in Deutschland im Hinblick auf dieMittelstandsfinanzierung, aber auch auf die Versorgungmit Finanzdienstleistungen in der Fläche vermeiden.Ebenfalls mit Sorge beobachten wir, dass den euro-päischen Aufsichtsbehörden – EBA, ESMA, EIOPA –über delegierte Rechtsakte Grundsatzentscheidungenüber die Ausgestaltung der regulatorischen Rahmenbe-dingungen zugewiesen werden. Diese Grundsatzent-scheidungen sollten ausschließlich den demokratisch le-gitimierten Rechtsetzungsorganen der EuropäischenUnion vorbehalten sein. Diese Sorge haben wir bereitsin unserem kürzlich eingebrachten Antrag „EuropäischeFinanzaufsicht stärken und effizient ausgestalten“ zumAusdruck gebracht.Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Bun-desregierung in den Verhandlungen zu CRD IV in vielenTeilen sehr erfolgreich war. Wir hoffen, dass wir diesePosition auch in den schwierigen abschließenden Ver-handlungen, die momentan auf europäischer Ebenestattfinden, halten können. Gerade die britische Seitewehrt sich – wie schon erwähnt – vehement gegen diefür uns so wichtige rechtsformneutrale Definition vonEigenkapital. Nun gilt es vor allen Dingen, unsere be-reits erreichten Verhandlungsergebnisse zu verteidigenund zudem die bereits erwähnte Nachjustierung bei derEigenkapitalunterlegung bei Risiken aus Mittelstands-krediten zu erreichen.Wir als christlich-liberale Koalition haben unsereKernforderungen an mehreren Stellen bereits deutlichund klar formuliert: zum einen in unserem Antrag „Sta-bilisierung des Finanzsektors – Eigenkapitalvorschrif-ten für Banken angemessen überarbeiten“ vom Mai2010 und zum anderen in unserem Antrag „Effektive Re-gulierung der Finanzmärkte nach der Finanzkrise“ vomJuni 2011. In unserem Antrag zur europäischen Finanz-aufsicht vom März dieses Jahres haben wir unsere Be-fürchtungen bezüglich der Proportionalität der Aufsichtzum Ausdruck gebracht. Die Bundesregierung arbeitetunsere Anregungen und Forderungen konsequent ab.Dafür bedanken wir uns ausdrücklich.Wir begrüßen es, dass sich auch die SPD intensiv mitdieser wichtigen Thematik beschäftigt. Sie sehen, dasswesentliche Teile der Forderungen, die in den vorliegen-den Anträgen der SPD gestellt werden, bereits erfolg-Zu Protokoll gegebene Reden
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reich abgearbeitet werden. In einigen Punkten stimmenwir – wie aus meinen Ausführungen in der heutigen undauch in vorangegangenen Debatten deutlich wurde – inder Diktion und auch im Inhalt nicht mit den SPD-For-derungen überein. Wir halten es insgesamt für sehr ge-fährlich, Maximalforderungen aufzustellen, die im Um-kehrschluss natürlich auch bisher erreichte Verhand-lungsergebnisse infrage stellen. Wer in die Richtung„geteiltes Aufsichtsrecht“ argumentiert, wer fordert,noch einmal die Diskussion über das Thema „Umset-zung in einer Richtlinie oder einer Verordnung“ zu füh-ren, der schnürt auch alle bereits verhandelten Paketewieder auf. Ich weise an dieser Stelle nur auf die bereitsmehrfach erwähnte Eigenkapitaldefinition hin. Ich habedurchaus Verständnis dafür, dass man gut und kontro-vers über diese Themen diskutieren kann. Dies sollteaber nicht dazu führen, bereits Erreichtes zu gefährden.Aus diesen Gründen werden wir den vorliegendenAnträgen nicht zustimmen.
Der Beinahezusammenbruch des internationalen Fi-nanzsystems offenbarte uns deutliche Schwächen imOrdnungsrahmen der Finanzmärkte. Im Verlauf derFinanz- und Weltwirtschaftskrise wurde vor allem dieBedeutung des Liquiditätsrisikos und -managementsdeutlich. Aufgrund dieser Erkenntnisse und Fehlent-wicklungen auf den Finanzmärkten wurde die Notwen-digkeit für eine Überarbeitung der bisherigen Eigenka-pital- und Liquiditätsregeln klar. Der Baseler Ausschussfür Bankenaufsicht veröffentlichte hierzu unter Beach-tung der Vorgaben der G 20 im Dezember 2010 dasMaßnahmenpaket „Basel III“. Im Juli 2011 stellteschließlich die Europäische Kommission ein Gesetzes-paket zur Umsetzung der Vorgaben des Baseler Aus-schusses vor. Die bis heute geltende Kapitalanforde-rungsrichtlinie CRD III soll nach den Vorschlägen derKommission durch eine Richtline, CRD IV, sowie durcheine Verordnung, CRR I, umgesetzt werden.Die neuen Regelungen stellen eines der wichtigstenRegulierungsvorhaben nach der vergangenen Finanz-und Weltwirtschaftskrise dar. Mit den Vorschlägen strebtdie Kommission eine grundlegende Neugestaltung deseuropäischen Bankenaufsichtsrechts an. Hierzu gehörenunter anderem Neuregelungen zur Höhe und Qualitätder Eigenmittel sowie zum Risiko- und Liquiditätsma-nagement. Ziel des Vorschlags ist es, den EU-Banken-sektor widerstandsfähiger zu machen und gleichzeitigdafür zu sorgen, dass die Banken weiterhin die Wirt-schaft und das Wachstum finanzieren können.Wir beschäftigen uns heute mit dem von der SPD-Fraktion eingereichten Antrag zur Umsetzung von Ba-sel III. In ihm fordern Sie, dass die neuen Eigenkapital-und Liquiditätsregelungen nach Geschäftsmodell undGröße der Kreditinstitute differenziert angewandt wer-den sollen, Risikogewichte von Mittelstandskrediten anihr tatsächliches Risiko angepasst werden und bei Kapi-talabzügen für Finanzbeteiligungen die besonderenBedingungen der Finanzverbünde der Sparkassen undGenossenschaftsbanken berücksichtigt werden. Fernerfordern Sie, dass bei der Ausgestaltung der risikounab-hängigen Verschuldungsobergrenze auf das margenarmeHypotheken- und Kommunalkreditgeschäft Rücksichtgenommen wird, die von der europäischen Bankenauf-sicht erarbeiteten Aufsichtsstandards und Meldepflich-ten keine unmittelbare Wirkung für regional tätigeKreditinstitute erhalten, sondern durch die nationaleAufsicht angemessen angewandt werden und dass es eineangemessene Arbeitsteilung zwischen europäischer undnationaler Bankenaufsicht gibt.Wir, meine sehr verehrten Damen und Herren derSPD, beschäftigen uns schon längst mit diesen Fragen.Die Aufrechterhaltung der Mittelstandsfinanzierung so-wie die Berücksichtigung der Besonderheiten unseresdreigliedrigen Bankensystems sind wichtige Punkte beider Umsetzung der Basel-III-Regeln. Die CDU/CSU-Fraktion sowie die Bundesregierung setzen sich aberschon seit langem für diese Besonderheiten und für dieBeachtung der Punkte im Bereich der Mittelstandsfinan-zierung ein. Wir setzen uns hier für eine Absenkung derRisikogewichte ein. Eine Analyse bei der EuropäischenBankenaufsichtsbehörde, EBA, wird zeigen, ob eine Ab-senkung der Anforderung für die Eigenmittelunterle-gung für das Retail- und Mittelstandsportfolio angemes-sen sein wird. Die Bundesregierung hat sich hier bei denVerhandlungen deutlich dafür eingesetzt, dass die Un-tersuchung noch vor der Sommerpause und vor der Ab-stimmung auf europäischer Ebene veröffentlicht wird.Damit können wir das Ziel, das Gesetzespaket noch vorder Sommerpause abzuschließen, erreichen.Die Bundesregierung konnte weitere deutliche Er-folge bei den Verhandlungen auf EU-Ebene, zum Beispieldie Erhaltung der Eigenkapitalinstrumente der stillenEinlagen und der Geschäftsguthaben der eingetragenenGenossenschaftsmitglieder als aufsichtliches Kernkapi-tal, erreichen. Das von Ihnen angesprochene Proportio-nalitätsprinzip ist bereits an mehreren Stellen in denaktuellen europäischen Textvorschlägen ausdrücklichverankert. Die Besonderheiten des deutschen Bankensys-tems müssen Berücksichtigung finden. Dafür haben wirals CDU/CSU-Fraktion in Brüssel verhandelt; dafür hatsich die Bundesregierung bereits frühzeitig eingesetzt.Diese mühsam durch die Bundesregierung ausgehan-delten Kompromisse stellen Sie nun, einige Wochen vordem Abschluss der Verhandlungen, wieder infrage. Das,meine sehr geehrten Damen und Herren der SPD, istverantwortungslos und zeigt, dass Sie den richtigenZeitpunkt zur Einflussnahme verschlafen haben. Es wa-ren und sind die Regierungskoalition und die Bundesre-gierung, die sich bereits seit Beginn der Diskussion fürdie Berücksichtigung deutscher Interessen, besondersfür die Interessen im Bereich der Mittelstandsfinanzie-rung, in Brüssel starkgemacht haben und die dies auchbis zum letztmöglichen Zeitpunkt ausverhandeln werden.Meine Damen und Herren der SPD, Ihre beiden An-träge verkennen die Erfolge, welche die Bundesregie-rung im deutschen Interesse bereits bei den Verhandlun-gen auf europäischer Ebene erreicht hat. Ihren Anträgenkönnen wir somit nicht zustimmen; denn sie blendenZu Protokoll gegebene Reden
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Peter Aumer
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zwei Jahre intensiver Verhandlungen und bereits er-reichte Erfolge komplett aus.
Die Europäische Kommission wird in Kürze Entwürfefür Rechtsakte vorlegen, mit denen die Vorschläge desBaseler Ausschusses für Bankenaufsicht zur Neurege-lung der Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungenfür Kreditinstitute – das sogenannte Basel III – in euro-päisches Recht umgesetzt werden sollen.Mit diesen Neuregelungen sollen Konsequenzen ausden in der Finanzkrise offenbar gewordenen Lücken inder Finanzmarktregulierung gezogen werden. Die ers-ten länderübergreifenden Eigenmittelstandards für Ban-ken – Basel I – sind bereits 1988 verabschiedet worden.Im Jahr 2004 folgte Basel II, das neue Risikokategorieneinführte, aber den großen, international tätigen Institu-ten erlaubte, Risiken mit eigenen Modellen zu bewertenund zu gewichten.Dieses Zugeständnis nutzten die Banken aus, um ihreEigenkapitalausstattung anzupassen. Vom Ergebnis herhielten sie in der Folge dann aber nicht mehr, sondernweniger Eigenkapital. Dies geschah offenbar in derÜberzeugung, die zur Umsetzung von Basel II geschaf-fene Risikomanagementinfrastruktur mache es möglich,Risiken so zuverlässig zu erfassen, dass auch eine Bankmit geringerem Eigenkapital gut geschützt sei.Die Finanzkrise hat diese Haltung als Illusion ent-larvt, und insoweit ist es gut, wenn unter anderem andiesem Punkt nachjustiert wird.Der Großteil der geplanten Basel-III-Änderungensoll nach dem Willen der Europäischen Kommission mit-tels einer Verordnung und nicht wie bisher bei solchenRegelungen üblich durch eine Richtlinie vorgenommenwerden.Wir sind davon überzeugt, dass eine Umsetzung vonBasel III durch eine Verordnung mit großen Nachteilenverbunden wäre. Eine Verordnung stellt gemäß Art. 249 IIEG unionsweit unmittelbar geltendes Recht dar – die so-genannte Verbindlichkeit in allen Teilen. Diese grenzt dieVerordnung von der Richtlinie ab. Die Verordnung istgänzlich geltendes Recht, während die Richtlinie nur hin-sichtlich der Zielbestimmung verbindlich ist. Die Umset-zung der Zielbestimmung bei Richtlinien bleibt jedemeinzelnen Mitgliedstaat vorbehalten.Dem Deutschen Bundestag würden somit seine Mit-wirkungsmöglichkeiten genommen, und nationale Be-sonderheiten könnten nicht berücksichtigt werden. EineRichtlinie eröffnet Spielräume bei der Ausfüllung undKonkretisierung der europäischen Vorgaben durch dieMitgliedstaaten.Die Wahl des Rechtsinstrumentes ist insoweit einewichtige Weichenstellung, als sie die Beteiligungsmög-lichkeiten nicht nur hinsichtlich der aktuellen Reform,sondern auch der künftigen Regulierungsvorhaben be-stimmt.Der Deutsche Bundestag muss die neuen Regelwerkezu Basel III angesichts ihrer hohen Bedeutung sowohlfür die Kreditwirtschaft als auch für die Unternehmenund Anleger aktiv mitgestalten. Eine bloße Begleitungdes europäischen Rechtsetzungsprozesses würde derVerantwortung des Deutschen Bundestages für diewirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landesnicht gerecht. Die Mitwirkung der Parlamente bietet diebeste Gewähr, dass bei der Anwendung der globalenBasel-III-Vorschriften den spezifischen Bedingungender jeweiligen Finanzmärkte ausreichend Rechnung ge-tragen wird.Es steht fest, dass zwischen den Finanzmärktenerhebliche Unterschiede bestehen. Für den deutschenFinanzmarkt sind eine langfristige Orientierung, einebankbasierte Unternehmensfinanzierung und ein dezen-tral ausgerichtetes Bankensystem signifikant. Dem ste-hen Finanzmärkte mit einer kurzfristigen Orientierung,einer kapitalmarktorientierten Finanzierung und einemstärker zentralisierten Bankensystem gegenüber.Eine Umsetzung der Basel-III-Vorschriften ohneRücksicht auf diese Unterschiede wäre gerade für dendeutschen Bankenmarkt mit seinem hohen Anteil kleinerund regionaler Institute nicht angemessen. Es bestündedie Gefahr, dass die auf international tätige und kapital-marktorientierte Bankkonzerne ausgerichteten Vorga-ben die Kreditvergabefähigkeit von Sparkassen undGenossenschaftsbanken über Gebühr einschränken undso zu einer Verringerung und Verteuerung der Kreditver-sorgung für den Mittelstand führen. Das Ergebnis wärenicht mehr Wettbewerbsgleichheit, sondern eine Verzer-rung im Wettbewerb zulasten vieler deutscher Institute.Eine effektive Finanzmarktregulierung setzt gleich-wertige, aber keine uniformen europäischen Vorgabenfür alle Mitgliedstaaten voraus. Es darf keine Regulie-rungsarbitrage zwischen den Mitgliedstaaten geben.Gleichwertige Wettbewerbsbedingungen lassen sichaber auch bei einer Umsetzung der Basel-III-Vorschrif-ten mittels einer Richtlinie erreichen.Uniforme Regelungen würden sich auf verschiedenstrukturierten Märkten sehr unterschiedlich auswirken.Die bei einer Richtlinie vorhandenen Entscheidungs-spielräume ließen es zu, sich den spezifischen Gegeben-heiten entsprechend anzupassen und dadurch eine wett-bewerbsneutrale Wirkung zu erreichen. Dabei kann essich in bestimmten Fällen als erforderlich erweisen,über die europäischen Vorgaben hinaus höhere Stan-dards anzuwenden.Hierbei gehen wir davon aus, dass eine in Rede ste-hende Richtlinie hinsichtlich ihrer Zielsetzung strikt for-muliert sein muss. Den Mitgliedstaaten muss aber dieWahl der Mittel zu ihrer Umsetzung überlassen bleiben.Wir fordern daher mit unserem Antrag die Bundes-regierung auf, sich gegenüber der Europäischen Kom-mission und den Mitgliedstaaten für eine Umsetzung derBasel-III-Vorschriften durch eine Richtlinie einzusetzen;bei den Beratungen über die Richtlinie für eine Berück-sichtigung der Besonderheiten des deutschen Finanz-marktes einzutreten, insbesondere bezüglich der lang-fristigen Finanzierungsorientierung, der bankbasiertenUnternehmensfinanzierung und der dezentralen Ban-Zu Protokoll gegebene Reden
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20804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
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kenstruktur; dem Bundestag frühzeitig und regelmäßigüber den Stand der Beratungen auf europäischer Ebenezu berichten.
Wieder einmal zeigen sich die Sozialdemokraten als
unbelehrbar. Ihre beiden Anträge sind nicht zielführend;
das haben wir ihnen im Rahmen der Beratungen im Ple-
num und Ausschuss ausgiebigst erläutert. Trotzdem sind
sie nicht von Ideen wie der, Basel III in Form einer
Richtlinie umsetzen zu wollen, abzubringen. Wenn in
Brüssel so entschieden würde, dass Basel III im Wege ei-
ner Richtlinie umgesetzt würde, die nationale Freiheiten
lässt, besteht die große Gefahr, dass Abweichungsmög-
lichkeiten von anderen Ländern ungünstig ausgenutzt
werden, was zu Fehlentwicklungen führen kann. Auf
diese hätten wir dann keinerlei Einfluss, müssten aber
notfalls im Zuge europäischer Rettungsmaßnahmen Gel-
der aufbringen. Genau so etwas muss aber vermieden
werden. Wir wollen gleiche Standards für alle Banken in
der Europäischen Union. Dass dies teilweise auch für
unsere Banken aller Säulen mit Schwierigkeiten bei der
Umsetzung verbunden sein kann, ist uns bewusst, und
auch durch unsere Initiativen ist die Bundesregierung
entsprechend sensibilisiert, in Brüssel im Rahmen der
Möglichkeiten entsprechend zu verhandeln.
Wir sind absolut zuversichtlich, was die Umsetzungs-
fähigkeit unserer Banken betrifft. Das ewige Argument
der Benachteiligung kleiner Institute durch ein Büro-
kratiemonster ist ein Ammenmärchen. Schauen wir uns
doch beispielsweise einmal die Solvabilitätsregeln an:
Zur Ermittlung der Eigenkapitalanforderungen für
Kredit-, Markt- und operationelle Risiken wird das Pro-
portionalitätsprinzip angewandt. Damit hängen Umfang
und Schwierigkeitsgrad der anzuwendenden Regelun-
gen vom Risikoprofil eines Kreditinstituts ab. Damit
stehen kleinen und mittleren Kreditinstituten einfache
Standardansätze zur Berechnung der Eigenmittel zu Ver-
fügung. Oder betrachten wir die Liquiditätsregelungen:
Dort sind Ausnahmen von der Erfüllung der Liquidi-
tätsanforderungen auf Einzelinstitutsebene auch für Ver-
bundunternehmen vorgesehen, womit Verbundinstitute
faktisch Konzerngruppen gleichgestellt werden. Auch
die komplexen Regeln im Rahmen der Großkreditüber-
wachung brauchen Institute mit einem kleinen Handels-
buchvolumen nicht anwenden.
Gegebenenfalls wird bei Verwaltungssanktionen auf
die Finanzkraft der kleineren Institute geschaut, um sie
vor Überforderung zu schützen. Auch die ganzen Gover-
nanceregeln müssen dem Umfang und der Komplexität
des Instituts angemessen sein. Das Proportionalitäts-
prinzip ermöglicht es kleinen Instituten so, auf die
Einrichtung etwa des Risiko-, Nominierungs- und Ver-
gütungsausschusses zu verzichten. Das beliebteste
Argument, man würde die kleinen Banken durch uner-
füllbare Meldepflichten so sehr beschäftigen, dass sie zu
nichts anderem mehr kämen, ist auch nicht überzeu-
gend; denn auch dort gilt das Proportionalitätsprinzip.
Wir haben in den vorangegangenen Debatten zur
Aufsicht schon mehrfach ausgeführt: Es besteht auch
kein direkter Zugriff des Schreckgespensts EBA auf die
kleinen Finanzinstitute in den Regionen, es sei denn die
zuständige nationale Aufsichtsbehörde sei völlig un-
tätig, was aus unseren vergangenen Erfahrungen mit
unserer Aufsicht dieser nun wirklich nicht zu unterstel-
len ist.
Wieso also die große Angst vor den europäischen
Regelungen? Auch die Interessenvertreter der Sparkas-
sen und Genossenschaftsbanken, die landauf und landab
postulieren, dass Basel III im Wege einer Richtlinie
umgesetzt werden muss, haben auf ein gemeinsames
Schreiben meines verehrten Kollegen Brinkhaus und mir
überhaupt nicht reagiert, als wir sie um Aufklärung
gebeten haben, welche Spielräume zum Schutze der
kleinen Institute sie sich erhoffen, falls es statt der
Verordnung nun eine Richtlinie mit nationalen Umset-
zungsspielräumen gäbe. Das ist also vor allem Panik-
mache und nicht zielführend auf dem Wege zu einer eu-
ropäischen Harmonisierung der Regelungen für
Finanzinstitute. Wir haben dies verstanden, wissen um
das Proportionalitätsprinzip, das unsere kleineren und
mittleren Institute nicht überfordert, und bauen auf
europäische, vereinheitlichende Regelungen für ein
Mehr an Stabilität.
Wir debattieren über Basel III, das Eigenkapital- undLiquiditätsanforderungen für Banken neu regelt. Europaleidet nach wie vor unter der jüngsten Bankenkrise, dieschwerste in einer Reihe von Bankenkrisen seit Beginnder Deregulierung – seit 1985 gab es weltweit 30 Ban-kenkrisen. Deswegen ist die Stoßrichtung von Basel IIIauch unumstritten. Wir sind uns im Bundestag allerdingsauch relativ einig, dass Basel III für grenzüberschrei-tend tätige Banken konzipiert wurde, die Sparkassen undGenossenschaftsbanken nur wenig an der Krise beteiligtwaren und nicht unter den Dampfzug einer europäi-schen Regulierung geraten sollen.Nach meiner Erfahrung aus sechs Jahren Finanzpoli-tik im Bundestag hat sich der Finanzausschuss beiBasel III und der Umsetzung in europäisches Recht er-kennbar zu wenig für die Belange der Sparkassen undGenossenschaftsbanken eingesetzt. Der Finanzaus-schuss hat daher auf unsere Initiative im Januar einFachgespräch zu Basel III durchgeführt. Dessen Er-kenntnisse sind erkennbar in den Antrag der SPD einge-flossen. Sicherlich haben sie auch die Position der Bun-desregierung beeinflusst. Wir sind aber nicht davonüberzeugt, dass mit der aktuell diskutierten Fassung so-wohl das globale Finanzkasino ausreichend einge-schränkt wird als auch Kollateralschäden auf boden-ständige Finanzgeschäfte vermieden werden.Wir unterstützen daher die Forderungen der SPDnach differenziert nach Größe und Geschäftsmodell ge-stalteten Eigenkapital- und Liquiditätsregelungen undnach einer wohlwollenden Behandlung von Mittel-stands-, Hypotheken- und Kommunalkrediten. UnsereVorstellungen zum Verhältnis der europäischen unddeutschen Bankenaufsicht habe ich bereits in meinerZu Protokoll gegebene Reden
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Rede am 29. März 2012 erläutert. Die SPD bleibt insge-samt jedoch konkrete Vorschläge schuldig.Zu den einzelnen Vorschlägen möchte ich kurze An-merkungen machen. Solange die Leverage Ratio nur alsBeobachtungsinstrument implementiert wird, dürftendie Auswirkungen auf die Kommunal- oder Immobilien-finanzierung überschaubar bleiben. Wir sehen jedochGefahren, sobald sie verpflichtend gemacht würde. Daskönnte mit einer niedrigen Leverage Ratio vermiedenwerden, bei der dann jedoch Derivate nicht saldiert wer-den dürften. Damit wären Zockerbanken betroffen undgerade nicht das risikoarme Geschäft der Sparkassen,Genossenschaftsbanken oder Pfandbriefbanken.Ich weiß, dass die Koalitionsfraktionen im Zusam-menhang mit der Risikogewichtung von Kommunalkre-diten und Staatsanleihen auf der finanziellen Lage eini-ger Staaten und Kommunen herumreiten werden. Siesollten aber ehrlicherweise die Rolle der dafür maßgeb-lich verantwortlichen neoliberalen Wirtschaftspolitikbenennen, der abgeholfen werden könnte.Ich bin im Antrag der SPD über den Begriff „tatsäch-liches Risiko“ gestolpert. Dieser ist ein Widerspruch insich und somit regulierungsuntauglich. Risiken werdenmit vereinfachenden Mitteln analysiert und quantifiziert.Die Ergebnisse sind aber niemals objektiv oder unstrit-tig, weil niemand eine Kristallkugel hat. Warum ich dassage: Gerade deswegen liegen Banken, Ratingagenturenund auch Aufseher in ihrer Einschätzung regelmäßig da-neben. Deswegen muss der Regulierer besondere Vor-sorge für grobe kollektive Fehleinschätzungen treffenund Anreize zum Schönrechnen beseitigen. Dazu reichendie Vorschläge des Basel-Komitees, der EU-Kommis-sion, der Bundesregierung und auch der SPD nicht aus.Das bedeutet: Wenn unter anderem Großbritannienund die Schweiz als Staaten mit einem großen Banken-sektor höhere Eigenkapitalzuschläge anstreben, warumsetzt sich die Bundesregierung nicht dafür ein, dass esEU-weit oder national weit höhere Eigenkapitalzu-schläge für grenzüberschreitend tätige Großbanken ge-ben kann und soll? Damit Basel III einen Beitrag gegendie Too-big-to-fail-Problematik liefert, sollten dieEigenkapitalzuschläge progressiv mit der Bilanzgrößeausgestaltet sein und ambitionierter ausfallen als dieverabredeten 2,5 Prozent für die weltweit größten Insti-tute.Tatsächlich haben Banken schon seit Basel II Anreize,mit internen Risikomodellen Risiken runterzurechnen,um wenig Eigenkapital vorhalten zu müssen. Die Folgesind große Risiken für die Gesellschaft. Ein Schönrech-nen bei Risikogewichtungsmethoden könnte durch ver-pflichtenden Abgleich mit einem Standard-portfolio of-fengelegt werden. Einen wirklichen Durchbruch brächteeine deutliche Komplexitätsreduktion, wie sie mit demvon uns vorgeschlagenen Finanz-TÜV erreicht würde.Wir vermissen auch Forderungen wie zum Entfernen vonVerweisen auf externe Ratings oder auf einen höherenSelbstbehalt bei transferierten Risiken. Ohne diese Maß-nahmen bleibt das Finanzsystem weiterhin stark krisen-anfällig.
Zweifellos: Basel III kann ein Meilenstein im Bereichder Finanzmarktregulierung werden. Viele Details mitoft weitreichenden Wirkungen werden derzeit auf euro-päischer Ebene verhandelt. Für uns Bündnisgrüne istdabei die verbindlich einzuhaltende Einführung einerArt Schuldenbremse für Banken – eine sogenannte Leve-rage-Ratio – sehr wichtig.Eine solche Schuldenbremse begrenzt das Verhältnisvon Bilanz zu vorhandenem Eigenkapital und damit denVerschuldungsgrad einer Bank. Hintergrund ist: Wir ha-ben in der Krise immer wieder gesehen, dass hohe risi-kogewichtete Eigenkapitalquoten bei hohem Verschul-dungsgrad, wie sie insbesondere bei deutschen Bankenanzutreffen sind, eine gefährliche Scheinsicherheit ver-mitteln, die für Aktionäre zwar eine attraktive Divi-dende, aber für den Steuerzahler gefährliche Risikenversprechen. Denn ein hoher Schuldenstand macht Ban-ken sehr instabil, auch und gerade Pfandbriefbanken,denen Sie in Ihrem Antrag ein risikoarmes Geschäftsmo-dell attestieren: Die irische Tochter der Hypo Real Es-tate, die Depfa, agierte mit einem Hebel von 125. Das istnicht risikoarm, das ist hochriskant! Schon kleine Ver-luste zehren dann das geringe Eigenkapital auf, dieBank gerät in eine Schieflage, und der Ruf nach demStaat als Retter der letzten Instanz, der die Verluste so-zialisieren soll, wird laut. Insofern sehen wir in der Le-verage-Ratio einen elementar wichtigen Beitrag fürmehr Stabilität auf den Finanzmärkten und auch einenTeil einer Lösung der sogenannten Too-big-to-fail-Pro-blematik.Die SPD fordert hier die Aufweichung dieses Kon-zepts, weil sie eine Verteuerung des Kommunalkreditsbefürchtet. Auch wir nehmen die dahinter stehenden Be-denken durchaus ernst. Wir sind aber der Überzeugung,dass zur Bewältigung vorhandener Probleme in denkommunalen Haushalten bei den Ursachen angesetztwerden muss: Eine aufgabenadäquate Finanzierung undein Altschuldentilgungsfonds sind die Ansätze, um die esda unserer Ansicht nach gehen muss. Wenn Sie hier Vor-schläge in der Sache machen, haben Sie uns auf IhrerSeite.Die Aufweichung wichtiger Finanzmarktreformen istan dieser Stelle aber fehl am Platz. Das können wir nichtmitmachen. Ich bitte auch zu bedenken, dass die erfor-derliche Eigenkapitalunterlegung nur einer von vielenanderen Faktoren ist, die am Ende über den Kreditzinsentscheiden: Die Wettbewerbssituation, das allgemeineZinsniveau, die Verwaltungs- und Refinanzierungskos-ten und anderes mehr sind ebenso wichtige Determinan-ten.Ferner verlangen Sie, die neuen Basel-III-Regelnnach Geschäftsmodell und Größe zu differenzieren. Vordem Hintergrund der noch immer ungelösten Großban-kenproblematik, wonach zu große Banken gerettet wer-den müssen, fordern wir zwar konzeptionell Ähnliches,konkret: eine Größenbremse für Banken, bei der Eigen-kapitalanforderungen mit der Größe des Instituts über-proportional ansteigen. Wichtiger Unterschied zumvorliegenden Antrag: Der Startpunkt unserer Größen-Zu Protokoll gegebene Reden
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20806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Gerhard Schick
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bremse sind die aktuellen Basel-III-Anforderungen.Nach unseren Vorstellungen für stabile Finanzmärktebetrachten wir die quantitativen Basel-III-Anforderun-gen als regulatorische Minima. Sie hingegen wollen Ba-sel III für bestimmte Institutsgruppen quantitativ nachunten öffnen. Abweichungen nach unten können wir unsfür regionale Banken aber allenfalls in qualitativer Sichtvorstellen, also zum Beispiel hinsichtlich bürokratischerAnforderungen.Außerdem blenden Sie hier einen wichtigen Teil derDiskussion einfach aus: Großbritannien fordert, fürseine Banken über Basel III hinausgehen zu können, umseine Banken stabiler zu machen. Nach den Erfahrungenin Island, Irland und jetzt Spanien, wo zu große Bankendie Solvenz ganzer Staaten bedrohen, finde ich die da-hinter stehende Ratio sehr nachvollziehbar. Die EU-Kommission, die Bundesregierung und die derzeitigefranzösische Regierung wollen das aber nicht zulassen.Wir sind hier ausnahmsweise auf der Seite der Briten:Wer seine Banken mit höheren Anforderungen sicherermachen will, muss das dürfen. Folgte man aber IhremAntrag, wäre solch ein Abweichen nach oben nicht mög-lich.Insgesamt lehnen wir daher Ihren Antrag vom Märzab. Auch den älteren SPD-Antrag vom Juni 2011 sehenwir mit Skepsis: Bei Ihrem Ansinnen, Basel III mittelsRichtlinie umzusetzen, damit die nationalen Parlamentedie Besonderheiten ihrer Bankenmärkte einspeisenkonnten, sehen wir die Gefahr, am Ende einen regulato-rischen Flickenteppich zu erhalten, der gefährlicher Re-gulierungsarbitrage – also der bewussten Ausnutzungregulatorischer Unterschiede – Tür und Tor öffnete. Dainzwischen die Kommission Basel III sowohl mittelsRichtlinie als auch Verordnung umsetzt, betrachten wirIhren Antrag aber bereits weitestgehend als überholtund werden uns daher enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/9439.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/9167. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die
Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken angenom-
men.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrages der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/6294. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei
Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken
angenommen.
Tagesordnungspunkt 28:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Einsatz privater Sicherheitsdienste im Kampf
gegen Piraterie zertifizieren und kontrollieren
– Drucksache 17/9403 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Folgende Kollegen und Kolleginnen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Eckhardt Rehberg, Uwe
Beckmeyer, Paul Schäfer, Dr. Valerie Wilms, Parl.
Staatssekretär Hans-Joachim Otto.
Ich darf zunächst meine Verwunderung zum Ausdruckbringen, dass die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion sich hier so vehement für den Schutz der See-leute auf deutschen Handelsschiffen einsetzen. Das istausgesprochen löblich, jedoch offenkundig nicht konse-quent. Die deutsche Handelsflotte und deren Angehörigewären sicherlich erfreut gewesen, wenn Sie, liebe Kolle-ginnen und Kollegen der SPD, die heutige Ankündigungim Parlament, dem modifizierten Atalanta-Einsatz derBundeswehr nicht zustimmen zu wollen, unterlassen hät-ten. Mit der heutigen Einbringung ist ein weiterer we-sentlicher Schritt zur Pirateriebekämpfung vor derKüste Somalias eingeleitet worden, dem Sie sich verwei-gern wollen. Insofern ist die Ernsthaftigkeit der Inten-tion Ihres Antrages an dieser Stelle zu hinterfragen.Das Problem der Pirateriebekämpfung, liebe Antrag-steller von der SPD, eignet sich wahrlich nicht alsSchlachtfeld parteiinterner Richtungs- und Personal-kämpfe. Dass Sie sich Ihren Ankündigungen zufolgebeim Atalanta-Mandat nur eine Enthaltung abringenwollen, ist in Anbetracht dessen, dass wir hier über dieGefahrenabwehr für deutsche Seeleute diskutierten, diemit ihrer harten und mittlerweile auch nicht mehr unge-fährlichen Arbeit einen erheblichen Beitrag für unser al-ler Wohlstand in Deutschland leisten, eine Blamage undein Offenbarungseid Ihrer Regierungs- und Handlungs-unfähigkeit. Eine Blamage ist es auch deshalb, weil Siegegen jedwede Vernunft argumentieren. Die StiftungWissenschaft und Politik stellte schon im Juli 2010 inder Studie „Piraterie und maritime Sicherheit“ einenzusätzlichen Bedarf militärischer Mittel fest: „Zu die-sem Zweck ist es erforderlich, die Luftaufklärung überSee zu verstärken und zusätzliche Kriegsschiffe außer-halb der Monsunzeiten einzusetzen.“ Insofern konntenauch wissenschaftliche Argumente Sie nicht überzeugen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20807
Eckhardt Rehberg
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Bitte lassen Sie mich ein weiteres Zitat an dieserStelle anbringen: „Meine Forderungen an die Bundesre-gierungen sind klar. Erstens muss unsere Marine vordem Horn von Afrika verstärkt werden – eine Fregattereicht nicht aus. Zweitens muss der Einsatz notfalls ‚ro-buster‘ gestaltet werden, dabei müssen, wenn nötig,auch Basislager der Piraten angegriffen werden.“ DieseForderungen, denen die Bundesregierung im Übrigenmit der Fortsetzung und Modifizierung des Atalanta-Mandats nachkommt, entstammen nicht etwa innenpoli-tischen Kreisen unserer Koalition, nein, diese Äußerun-gen sind auf der Internetseite des hamburgischen SPD-Innensenators Michael Neumann zu finden, datiert mitdem 17. Juli 2011. Ein Blick in Ihren Antrag wiederum,liebe Kollegen von der SPD, verrät uns nun, dass Sie derAnsicht sind – ich zitiere –: „Die Größe des Operations-gebietes steht jedoch in keinem Verhältnis zu der Zahlder zur Verfügung stehenden Einsatzkräfte. Ein flächen-deckender Schutz von deutschflaggigen Handelsschiffendurch den Einsatz der Bundeswehr oder der Bundespoli-zei ist angesichts der hohen Zahl von Schiffspassagenweder personell und logistisch noch finanziell möglich.“Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, ab-gesehen davon, dass Sie damit Ihrem mit maritimen The-men durchaus vertrauten Innensenator der HansestadtHamburg in den Rücken fallen wollen, ist zu fragen, wasSie eigentlich bezwecken. Eine ernsthafte und nach Lö-sungen ringende Beratung, die dem Problem der Pirate-rie angemessen wäre, ist vermutlich nicht Ihr primäresAnliegen. Wenn doch, würden Sie dem Rat Ihres Partei-genossen aus Hamburg folgen und in den parlamentari-schen Beratungen Atalanta zustimmen.Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionenhingegen werden nicht nur durch die Fortsetzung desAtalanta-Mandats der Bundeswehr einen Beitrag zurBekämpfung der Piratenangriffe vor der Küste Somaliaserbringen, sondern arbeiten mit Hochdruck an einemZulassungsverfahren für Bewachungsunternehmen aufSeeschiffen. Um es an dieser Stelle noch einmal festzu-halten: Bisher ist der Einsatz privater Sicherheitsunter-nehmen nicht verboten, sondern bislang nur nicht gere-gelt, da wir es hier mit einer Sondersituation zu tunhaben, deren Ausmaß und Konsequenzen erst in denletzten Jahren deutlich wurde. Der Erfolg von Einsätzenprivater Sicherheitsunternehmen lässt sich bereits jetztfeststellen. Sofern Bewachungsunternehmen an Bordvon Handelsschiffen waren, ließen die Piraten von ihremgeplanten Angriff ab oder die Angriffe konnten erfolg-reich abgewehrt werden.Die Bundesregierungen unter der Großen Koalitionund unter der christlich-liberalen Koalition haben be-reits seit 2008 unterschiedliche Maßnahmen ergriffen,etwa durch die Beteiligung der Bundeswehr im Zuge in-ternationaler Einsätze, um die humanitären Hilfsliefe-rungen für das afrikanische Krisengebiet zu sichern undum natürlich auch dem auftretenden Phänomen derSchiffs- und Besatzungsentführungen sowie der Lösegeld-erpressung wirksam entgegenzutreten. Sie nennen in Ih-rem Antrag zu Recht den Aufbau staatlicher Strukturenals Voraussetzung für den wirtschaftlichen Wiederauf-bau in Somalia und die damit verbundene Eindämmungvon Hunger und Armut. Deutschland leistet hier einenwichtigen Beitrag: Deutsche Soldaten, die Sie durchIhre Ankündigung am heutigen Tag bei Atalanta offen-bar nicht weiter beteiligen wollen, partizipieren bei-spielsweise auch an der EU-geführten Ausbildungsmis-sion „EUTM Somalia“. Bislang konnten dadurch1 800 Soldaten der somalischen Übergangsbundesre-gierung in Uganda ausgebildet werden. Bis Dezemberdieses Jahres sollen es dann 3 000 somalische Soldatensein.Im Februar 2010 wurde als Reaktion auf die weltweitsteigenden Piraterievorfälle das Piraterie-Präventions-zentrum bei der Bundespolizei See in Neustadt in Hol-stein geschaffen. Diese Einrichtung bietet den deutschenReedern unterschiedliche Dienstleistungen zur Vorbeu-gung möglicher Attacken durch Piraten an. Mit Risiko-analysen, der Darstellung technischer Präventionsmaß-nahmen, wie etwa der aktiven Abwehr durch nautischeManöver, und der Vermittlung von Verhaltensgrundsät-zen ist eine wichtige Anlaufstelle eingerichtet worden.Die deutschen Reeder sind gesetzlich dazu angehalten,die Eigensicherung ihrer Schiffe zu unterstützen und dieUmsetzung der Best Management Practice, BMP, derVerhaltensregeln der International Maritime Organiza-tion, IMO, zu gewährleisten. Hierbei kann auch das Pi-raterie-Präventionszentrum zurate gezogen werden, dasdie Umsetzung der jeweils gültigen Fassung der BMPunterstützt. Darüber hinaus informiert die Bundespoli-zei durch Vorträge, Seminare und Workshops, steht zurindividuellen Beratung zur Verfügung und trainiert Ree-der. Eine weitere wichtige Maßnahme ist die Einrich-tung von sogenannten Safety Rooms an Bord der Schiffe.Diese mit besonderen Schutzmaßnahmen ausgestattetenPanikräume bieten im Ernstfall Schutz vor möglichenGeiselnahmen, die durch Lösegeldforderungen für diePiraten besonders attraktiv sind. Neben dem hoheitli-chen Engagement der Bundeswehr in internationalenEinsätzen, der präventiven Arbeit durch die Bundespoli-zei kommt es also auch auf die verpflichtenden Maßnah-men an, die durch die deutschen Reeder gewährleistetsein müssen.Die Bundesregierung bekennt sich aber natürlich zuihrer Verantwortung. Das Bundesministerium für Wirt-schaft und Technologie hat in Übereinstimmung mit denKoalitionsfraktionen Maßnahmen entwickelt und einenentsprechenden Diskussionsentwurf zur Einführung ei-nes Zulassungsverfahrens für Bewachungsunternehmen,die auf Seeschiffen tätig werden, vorgelegt. DieserSchritt, den Sie mit Ihrem Antrag einfordern, ist längstumfänglich vorbereitet, seit langem mit den Betroffenendiskutiert und stellt in dem Bündel an Aktivitäten zur Pi-rateriebekämpfung eine weitere wichtige Ergänzungdar. Damit wird den Forderungen und Bedürfnissen derBranche entsprochen. Diese Arbeit erfährt im Übrigenauch die Würdigung der deutschen Reeder, die nebenanderen Interessensvertretungen und den Bundeslän-dern im Diskussionsprozess eingebunden sind.Bei der inhaltlichen Ausgestaltung gilt es, die Heraus-forderung zu meistern, der Besatzung den nötigen Schutzvor etwaigen Angriffen zu ermöglichen und dabei die Ge-fahr zu minimieren, dass Menschen zu Schaden kommen.Zu Protokoll gegebene Reden
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20808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Eckhardt Rehberg
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Diese anspruchsvolle Aufgabe kann nicht ausschließlichdurch die EU-geführte Atalanta-Mission erfüllt werden.In einem Seegebiet, das 18-mal größer ist als Deutsch-land, ist die Bedrohung für die Schiffsbesatzung und denfreien Warenverkehr nach wie vor hoch. Es sei an dieserStelle erwähnt, dass 95 Prozent des internationalen Wa-renverkehrs und 90 Prozent der europäischen Güterex-porte an Drittstaaten über den Seeweg erfolgen. Nachdem Krisenjahr 2008 hat sich der Welthandel und damitauch die maritime Wirtschaft erholen können. Das führtnun erfreulicherweise dazu, dass der internationale See-verkehr seinen Wachstumsprozess fortsetzt. Auch wenndie Wahrscheinlichkeit eines Piratenüberfalls unter1 Prozent liegt und wir 2011 einen Rückgang von Angrif-fen durch Piraten verzeichnen dürfen, ist der Anlass zurSorge nach wie vor gegeben. Ein wachsender Schiffsver-kehr bedeutet einerseits wirtschaftlich positive Effekte,allerdings auch zusätzliche Angriffsmöglichkeiten für diePiraten. Insbesondere vor den Küsten Somalias, an de-nen 236 der 439 Attacken im Jahr 2011 erfasst wurden,muss also weiter aktiv die Pirateriebekämpfung verfolgtwerden. Auch wenn die Erfolgsquote der Piraten in denletzten zwei Jahren insgesamt betrachtet erheblich ge-sunken ist, besteht also kein Grund zum Aufatmen.Die bisher getroffenen Maßnahmen haben bereits zueiner Reduzierung der Attacken durch Piraten geführt.Dennoch bleibt der Handlungsbedarf, wie eingangs be-reits erwähnt, gegeben. Immer mehr Reeder setzen inter-national agierende Bewachungsunternehmen ein, um inrisikobehafteten Gebieten besseren Schutz in Anspruchzu nehmen. Umso bedeutsamer ist es, dass Bewachungs-unternehmen eingesetzt werden, die über die nötigeProfessionalität, Zuverlässigkeit und ausreichend Er-fahrung verfügen. An erster Stelle muss hier Rechtssi-cherheit geboten werden. Dieser Forderung der Reederwird die Bundesregierung nachkommen, indem von denBewachungsunternehmen und ihren Mitarbeitern ein-deutige Anforderungsprofile gesetzlich eingefordertwerden. Dabei geht es vor allem um die fachliche, derbesonderen Situation auf den Schiffen angepasste Quali-fikation und Eignung derjenigen, die für zusätzliche Si-cherheit an Bord sorgen sollen. Das Personal muss ne-ben den sicherheitstechnischen Anforderungen auchüber maritime Kenntnisse verfügen, denn die Leistungenwerden auf hoher See erbracht und bedürfen einer ge-wissen Vertrautheit mit den Vorgängen an Bord einesSchiffes. Allein hieran wird der Regelungsbedarf deut-lich, dem die Bundesregierung nachkommen wird, wobeisie sich an den noch vorläufigen Leitlinien der IMOorientieren wird. Die Bundesregierung richtet sich dabeiauch an europäischen Nachbarn aus, die ebenso Bewa-chungsunternehmen zertifizieren. Mit der Orientierungan europäischen Standards bilden wir vergleichbare undrechtlich verbindliche Normen für internationale Bewa-chungsunternehmen, die zügig zugelassen werden kön-nen. Für unsere Seeleute und die deutschen Reeder wirdeine notwendige Rahmenbedingung für zusätzliche Si-cherheit an Bord geschaffen. Die Zulassung der Bewa-chungsunternehmen über das Bundesamt für Wirtschaftund Ausfuhrkontrolle mit Unterstützung der Bundespoli-zei erfolgen zu lassen, ist aus Sicht der CDU/CSU-Bun-destagsfraktion richtig.Meine Damen und Herren Antragsteller, es ist erfreu-lich, dass man sich auch aus den Reihen der OppositionGedanken zu möglichen Maßnahmen der Pirateriebe-kämpfung gemacht hat. Jedoch sind Ihre – in weiten Tei-len richtigen – Überlegungen längst von der Bundesre-gierung im Diskussionsentwurf aufgegriffen worden. Ichkann diesem Umstand jedoch entnehmen, dass auch dieSPD-Bundestagsfraktion den Gesetzgebungsprozess beider Zertifizierung privater Sicherheitsunternehmen kon-struktiv begleiten und letztlich den mit Verbänden undBetroffenen beratenen Gesetzentwurf der Bundesregie-rung befürworten wird. Insofern bedarf es keiner Zu-stimmung zu Ihrem Antrag, da alle aufgeführten Punktebereits Berücksichtigung erfahren haben.Gestatten Sie mir noch einen Hinweis zu Ihrem vor-letzten Forderungspunkt, der die Rückflaggung der un-ter anderen Flaggenstaaten fahrenden Schiffe deutscherReeder umgesetzt sehen will. Auch wenn Sie damit einThema jenseits der Pirateriebekämpfung an dieser Stelleeröffnen, möchte ich Ihnen entgegnen, dass die Koali-tion mit dem Maritimen Bündnis für Beschäftigung undAusbildung, auch schon unter der Regierungsbeteili-gung der SPD, wichtige Grundlagen geschaffen hat.Insofern können Sie in den Fragen der maritimen Wirt-schaft unserer politischen Arbeit unbesorgt und ver-trauensvoll entgegensehen.
Immer wieder überfallen Piraten Handelsschiffe aufhoher See. Auch ein international geführter Militärein-satz kann das Problem bisher nicht lösen. Wurden imJahr 2006 noch 239 Piratenüberfälle gemeldet, ist ihreZahl in 2011 auf 439 gestiegen; in diesem Jahr warenbisher 62 Übergriffe zu verzeichnen. Der regionaleSchwerpunkt liegt am Golf von Aden und vor der KüsteOstafrikas, insbesondere vor Somalia.Da hier eine der wichtigsten internationalen Han-delsrouten verläuft, können die Reedereien nicht aus-weichen. Der UN-Sicherheitsrat hat wiederholt festge-stellt, dass die internationale Sicherheit in diesemGebiet gefährdet ist. Moderne Piraten sind mit Raketen-werfern und Schnellbooten ausgerüstet, und die Seeräu-ber gehen nach einem Bericht des InternationalenSchifffahrtsbüros immer brutaler vor und setzen immergrößere Waffen ein.Jährlich passieren allein mehr als 1 700 deutscheSchiffe die gefährliche Seeregion. Zwar geht auch diedeutsche Marine dort im Rahmen der EU-Mission Ata-lanta gegen Piraten vor. Ein flächendeckender Begleit-schutz durch die Bundeswehr direkt an Bord deutscherSchiffe stößt aber nicht nur auf verfassungsrechtlicheBedenken. Der Marine fehlen – ebenso wie der Bundes-polizei – schlicht die personellen, logistischen undfinanziellen Kapazitäten für einen solchen Einsatz.Dabei ist Deutschland aufgrund seiner Position inder internationalen Handelsschifffahrt besonders vonPiraterie betroffen; schließlich macht die deutsche Han-delsflotte einen Anteil von 34 Prozent an der Welthan-delsflotte aus, und im Bereich der Containerschiffe liegtDeutschland im internationalen Vergleich sogar an ers-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20809
Uwe Beckmeyer
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ter Stelle. Sichere Seewege tragen wesentlich dazu bei,Deutschlands Rolle als eine der führenden Exportnatio-nen in der Welt aufrechtzuerhalten, und eine ungefähr-dete Durchfahrt dieser Seeregion ist für die maritimeWirtschaft in unserem Land von strategischer Bedeu-tung.Piraterie stellt jedoch nicht nur eine Gefahr für denWelthandel dar. Neben dem wirtschaftlichen Schadendurch Piraterie, der nach Schätzungen rund 5 bis 6 Mil-liarden Euro pro Jahr beträgt, tritt die Gefahr fürkörperliche Unversehrtheit und Leben der Schiffsbesat-zungen. Bei den 439 Piratenangriffen, die laut dem Jah-resbericht des Internationalen Schifffahrtsbüros in 2011registriert worden sind, wurden 802 Seeleute als Geiselngenommen, 10 von ihnen wurden ermordet.Die Bundesregierung will nun den Weg für einen ver-stärkten Einsatz privater Sicherheitskräfte auf deut-schen Handelsschiffen frei machen. Trotz ablehnenderHaltung der Gewerkschaft der Polizei und großer Be-denken bei den maritimen Verbänden haben Union undFDP entschieden, künftig verstärkt auf privates Sicher-heitspersonal im Kampf gegen Piraterie zu setzen.Wenn die Bundesregierung den Schutz vor Piratendurch private Sicherheitsdienste will, dann muss sie dienotwendigen rechtlichen Voraussetzungen dafür schaf-fen. Anschließend müssen dafür geeignete Sicherheits-unternehmen ausgewählt werden. Bis Ostern wollte dieBundesregierung einen abgestimmten Entwurf ins Bun-deskabinett einbringen; geschehen ist bisher nichts.Die SPD hat ihre Forderungen auf den Tisch gelegt.Bisher ist der Einsatz der Sicherheitskräfte an Bord vonSeeschiffen nicht klar geregelt. Dabei haben nach letz-ten Studien bereits 12 Prozent der Schifffahrtsunterneh-men in Deutschland private Firmen engagiert, die aufgefährlichen Routen mitfahren.Unsere Forderung lautet daher: Der Einsatz privaterSicherheitsunternehmen an Bord von deutschen Han-delsschiffen ist gesetzlich klar zu regeln und zu begren-zen, und nur qualifizierte Sicherheitsdienstleister dürfenmit diesen sensiblen Aufgaben betraut werden. Die fürden Einsatz vorgesehenen Sicherheitsfirmen müssen inBezug auf ihre bisherigen Unternehmensaktivitäten, dieErfahrungen im Bereich der maritimen Sicherheit unddie fachliche und soziale Kompetenz des Personals um-fassend geprüft werden.Notwendig ist ein Sachkundenachweis, wie er bereitsheute von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vonprivaten Sicherheitsdiensten erforderlich ist, die Kon-trollgänge im öffentlichen Verkehrsraum durchführen.Der Schiffssicherheitsausschuss der IMO hat im ver-gangenen Jahr „Vorläufige Leitlinien für Schiffseigner,Schiffsbetreiber und Schiffsführer“ als wesentliche Vor-arbeiten für ein künftiges Zertifizierungssystem verab-schiedet, die als Grundlage für alle weiteren Planungender schwarz-gelben Bundesregierung dienen müssen.Dazu gehört auch, dass die Kommandokette an Bordeindeutig geregelt wird. Die Beschäftigten der Sicher-heitsfirma dürfen erst auf Anweisung des Kapitäns tätigwerden. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass dieSicherheitslage von Kapitän und privaten Sicherheits-kräften unterschiedlich beurteilt wird. Und: Der Erwerbund Einsatz von Kriegswaffen nach dem Kriegswaffen-kontrollgesetz müssen für private Sicherheitskräfte anBord deutschflaggiger Handelsschiffe auch künftig ver-boten bleiben. Es gilt, der Gefahr einer gegenseitigen„Aufrüstung“, die sich bereits heute abzeichnet, und da-mit letztlich einer weiteren Eskalation der Gewalt entge-genzuwirken.Eines ist aber auch klar: Langfristig ist ein Ende derGefahrensituation nur durch eine Stabilisierung derLage in Somalia herbeizuführen. Auch dafür muss sichdie Bundesregierung gemeinsam mit den europäischenund internationalen Partnern einsetzen.
Es ist gut, dass sich der Bundestag jetzt mit dem mög-lichen Einsatz privater Sicherheitsdienste gegen Piratenbeschäftigt.Demnächst will die Bundesregierung einen Gesetz-entwurf präsentieren, der den Einsatz von sogenanntenprivaten bewaffneten Sicherheitsfirmen, PBS, an Bordvon Schiffen erlauben soll, die unter deutscher Flaggefahren. Damit würde erstmals der Einsatz von bewaffne-ten Militär- und Sicherheitsdienstleistungsunternehmenaus Deutschland außerhalb Deutschlands erlaubt wer-den. Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dassdamit unweigerlich die Tür für eine Legalisierung vonSöldnerfirmen à la Blackwater/Xe Systems, Dyncorpoder Gurkha Services in Deutschland aufgestoßen wird.Natürlich kann man trefflich über die Begriffe strei-ten. Ob „Söldner“ oder „Sicherheitsdienstleister“ oder„Militärexperte“ – klar ist: Sie üben ihre Tätigkeit we-gen des Geldes aus. Und im Fall des Einsatzes auf Schif-fen gegen Piraten üben sie ihre Tätigkeit im Auftrag vonUnternehmen aus. Das heißt, es geht den Sicherheits-unternehmen nicht um Ideale wie die freie Seefahrt oderum politische Ziele wie den Schutz von Transportwegen.Es geht ihnen um Profit. Dessen sollte man sich immerklar sein, wenn man Privatpersonen erlaubt, Waffenge-walt anzuwenden.An diese Töpfe wollen die deutschen Sicherheits-unternehmen nun heran und machen Lobbyarbeit in ei-gener Sache – auch unterstützt von einigen Reedern.Mit dem vorliegenden Antrag will sich nun auch dieSPD in diesen Reigen einreihen. Sicherlich: Einige Be-denken werden geäußert, es wird zur Vorsicht gemahnt.Aber unter dem Strich bleibt: Die SPD will private be-waffnete Sicherheitsdienstleister an Bord – und am bes-ten deutsche Sicherheitsdienstleister. Erneut drängt sichdie Analogie zu Rüstungsexportfragen auf: Streitkräftebrauchen Waffen. Daher wäre es doch gut, wenn es deut-sche Waffen nach deutschen Qualitätsstandards sind. Sowurde Deutschland zu einem der größten Rüstungs-exporteure. Soll das nun auch in dieser Branche so wer-den? Die Linke lehnt das ab.Während auf internationaler Ebene eher darum ge-rungen wird, das Problem, das diese privaten bewaffne-ten Sicherheitskräfte in den vielen Konfliktregionen dar-Zu Protokoll gegebene Reden
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20810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Paul Schäfer
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stellen, einzuhegen, wollen Bundesregierung und nunauch SPD also die Voraussetzung schaffen, dass auchvon Deutschland aus Söldnernachschub kommt. Ent-scheidende rechtliche und ethische Fragen werden aus-geblendet, der Öffentlichkeit wird Sand in die Augengestreut und suggeriert, dass die Risiken privater be-waffneter Sicherheitskräfte beherrschbar sind.Es soll der Anschein erweckt werden, dass an Borddie Einhaltung menschenrechtlicher Standards, die Ein-haltung des humanitären Völkerrechts gewährleistetwerden kann – auf dem Papier sicherlich, genauso wieauf dem Papier der Endverbleib deutscher Rüstungs-exporte jedesmal verbindlich zugesichert wird. Aber woes keine Kontrollen gibt, keine Rechenschaftspflicht undde facto kaum Klagemöglichkeiten der betroffenen mut-maßlichen Piraten, wird es mit diesen Standards nichtweit her sein.Die Bundesregierung hat dies bereits in ihrer Antwortauf eine Kleine Anfrage der Linken bestätigt: Der Waf-feneinsatz durch Privatpersonen an Bord führt nicht au-tomatisch zu einem Ermittlungsverfahren. Und: „Einefortlaufende Überwachung und Aufsicht der Bewa-chungsunternehmen auf Seeschiffen ist nicht möglich.“Die privaten bewaffneten Sicherheitskräfte dürfenalso quasi im rechtsfreien Raum agieren. Das soge-nannte Jedermanns- bzw. Notwehrrecht wird auf dieseFirmen ausgedehnt.Hier sei noch angemerkt, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der SPD: Das Verbot von Kriegswaffen anBord von Handelsschiffen ist schön und gut – aber auchandere Kleinwaffen sind tödlich. HalbautomatischeWaffen zählen zum Beispiel nicht per se zu den Kriegs-waffen.Der Vorstoß der Bundesregierung, aber auch der An-trag der SPD offenbart nicht nur Ratlosigkeit darüber,wie Seewege wirkungsvoll und im Einklang mit dem Völ-kerrecht geschützt werden können. Beide Initiativen sindin hohem Maße fahrlässig.Ärgerlich ist auch, dass eine Initiative mit einer solchgroßen Tragweite auf so dünner Wissensgrundlage vo-rangetrieben wird. Die Bundesregierung räumt ein, dasssie im Vorfeld des Gesetzesvorhabens nicht einmal einegenaue Analyse der bisherigen Erfahrungen andererStaaten vorgenommen hat: genaue Zahlen – Fehl-anzeige. Man verlässt sich auf einige wenige Auskünftevon wahrlich nicht altruistischen Reedereien. Auch dieSPD ist kaum besser informiert.Die Fragen, wie viele mutmaßliche Piraten von pri-vaten Sicherheitskräften, die von anderen Handelsflot-ten eingesetzt werden, bereits verwundet oder getötetwurden, scheint auch keine Nachforschung wert gewe-sen zu sein.Nein, der Antrag der SPD wird dem Problem der si-cheren Seeschifffahrt nicht gerecht. Der Antrag schafftzudem eine unübersichtliche Zahl neuer Probleme. Daszeigt sich schon im Kleinen. Im Bestreben, eine mög-lichst eindeutige Kommandokette an Bord zu gewähr-leisten, soll die Rolle des Kapitäns aufgewertet werden.Aber hat man die Kapitäne gefragt, ob sie sich für aus-reichend qualifiziert halten, quasi als Oberbefehlshaberden Waffeneinsatz zu befehlen und den Tod andererMenschen in Kauf zu nehmen? Sind die Kapitäne bereit,die Haftung dafür zu übernehmen?Es zeigt sich auch im Großen: Viele Staaten werdensich zu Recht weigern, die Fahrt von ausländischenSchiffen mit schwerbewaffneten Privatpersonen an Borddurch ihre Hoheitsgewässer zu erlauben. Die RegierungSüdafrikas hat zum Beispiel jüngst der britischen Regie-rung eine entsprechende Absage erteilt.Natürlich wäre eine Legalisierung praktisch: prak-tisch für die Reeder, praktisch für die Sicherheitsunter-nehmen und praktisch für den Staat. Die Bundesregie-rung würde sich damit der leidigen Frage nach einerpolitischen und völkerrechtlichen Lösung des Piraterie-problems entledigen – und die Haftung für getötete undverletzte mutmaßliche Piraten abgeben. Erinnert sei nuran den Fall, dass italienische Soldaten indische Fischerfälschlicherweise für Piraten gehalten und diese getötethaben. Jetzt steht die italienische Regierung unterDruck. Das wäre natürlich mit privaten Sicherheitskräf-ten nicht passiert – ein zynischer Gedankengang.Der gegenwärtige Kurs von SPD und Bundesregie-rung ist verantwortungslos. Die Auslagerung vonSicherheitsaufgaben darf sich nicht an Opportunität undKosten orientieren. Auf hoher See das Recht des Stärke-ren zu fördern – das ist gefährlich. Da geht die Linkenicht mit.
Piraterie ist kein Phänomen des 21. Jahrhunderts.Seit es Seefahrt und Handel gibt, tritt das Phänomen auf.Verändert hat sich nicht nur die internationale Seeschiff-fahrt, sondern verändert haben sich auch die Mittel, dievon Piraten bei Übergriffen zum Einsatz kommen. Hier-gegen müssen Maßnahmen ergriffen werden. Eine ge-setzliche Regelung zum Einsatz privater Sicherheits-dienste an Bord deutscher Schiffe soll nun in einembisherigen rechtlichen Graubereich Klarheit schaffen.Die deutsche Handelsflotte ist – nach Eignern undAnzahl der Schiffe – die größte weltweit. Sie zählt über3 700 Schiffe und ist weltweit im Einsatz. Keine andereNation steht also in einer solch großen Verantwortunggegenüber ihren Reedern und der auf den Schiffen Be-schäftigten wie Deutschland.Wegen anhaltender wirtschaftlicher und politischerInstabilität ist vor allem die Küste vor Somalia ein welt-weiter Brennpunkt der Piraterieangriffe auf Handels-schiffe.Die bereits seit Jahren anhaltende Piraterie vor derKüste Somalias geht bis weit in den Indischen Ozean hi-nein. Derzeit wird versucht, die Piraterie militärischdurch die Operation Atalanta einzudämmen bzw. zu ver-hindern.Dass bei dieser militärischen Operation nicht alle Pi-ratenübergriffe auf internationale Handelsschiffe ver-hindert werden können, steht außer Frage. DennochZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20811
Dr. Valerie Wilms
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steht Deutschland in der Pflicht zum Schutz der Men-schen auf deutschen Schiffen. Die Schiffsbesatzungensind diejenigen, die am stärksten unter der Piraterie zuleiden haben. Es ist nicht zu verantworten, sie und ihreAngehörigen bei jeder Passage im Ungewissen zu las-sen. Sie haben als Hauptbetroffene Recht auf Schutz undeinen sicheren Arbeitsplatz, so wie auch jeder Ange-stellte hier in Deutschland keine Angst auf seinem oderihrem Arbeitsplatz haben will. Nach deutschem Recht istdieser Schutz eindeutig eine Polizeiaufgabe – und keinemilitärische. Ein Einsatz von Polizei auf Schiffen deut-scher Flagge ist jedoch aus Kapazitäts- und Kosten-gründen für die öffentlichen Haushalte nicht möglich.Daher bedient man sich nun der Idee des Einsatzes pri-vater Sicherheitsdienste an Bord von Schiffen. Es wer-den bereits heute private Sicherheitsdienste an Bord vonausländischen Handelsschiffen eingesetzt. Wir brauchenauch klare Regeln für deutsche Schiffe.Verschiedene offene Fragen müssen jedoch bei einemEinsatz privater Sicherheitsdienste an Bord von deut-schen Handelsschiffen berücksichtigt werden: WelcheAspekte gehen in eine gesetzlich zu regelnde Zertifizie-rung ein? Welche Arten von Bewaffnung sind erlaubt?Wie wird sichergestellt, dass beim Einsatz von Sicher-heitsdiensten auf deutschen Handelsschiffen keineKriegswaffen eingesetzt werden? Inwieweit wird der Ka-pitän im Rahmen seiner Anweisungsbefugnis bei der Ge-fahrenabwehr für die Folgen haftbar gemacht?In einem bevorstehenden Gesetzesvorschlag der Bun-desregierung müssen die oben genannten Fragen ge-klärt sein. Es darf nicht sein, dass auf Schiffen deutscherFlagge private Sicherheitsdienste Kriegswaffen einset-zen. Das fördert eine Gewaltspirale. Auch müssen dieBesatzungen und Sicherheitsdienste im Umgang mit Pi-raten gut geschult werden. Daher finde ich die Forde-rung der SPD, eine menschenrechtliche und humanitäreSchulung von Sicherheitsdienstleistern in einem Geset-zesvorhaben mit aufzunehmen, sehr sinnvoll.Geklärt werden muss auch die Weisungsbefugnis desKapitäns und dessen Haftung. Es kann nicht sein, dasssich der Kapitän strafbar macht, wenn es zu Personen-schäden kommt. Damit dürfen Kapitäne nicht allein ge-lassen werden.Ein Lizenzierungsverfahren der Sicherheitsdienste istauch deshalb erforderlich, weil ohne Registrierungs-und Genehmigungspflicht deutsche Behörden bei ver-mutetem strafrechtlich relevantem Verhalten erst nachkonkreten Verdachtsmomenten handeln können.Wir fordern daher die Bundesregierung auf, uns zügigeinen Gesetzesvorschlag vorzulegen, der sich im Rah-men der Lizenzierung und Zertifizierung privater Si-cherheitsdienste auf internationale Abkommen stütztund die Beschränkungen des Grundgesetzes zum Kriegs-waffeneinsatz auf deutschen Schiffen nicht außer Achtlässt. Der Antrag der SPD geht hier voran und sollteauch von der Koalition in den Ausschüssen offen und un-voreingenommen debattiert werden.H
Die wirkungsvolle Bekämpfung der Piraterie auf Seeist für diese Bundesregierung und für mich als Koordi-nator für die maritime Wirtschaft eine Aufgabe, der wirsehr große Bedeutung zumessen. Bei der Bekämpfungder Seepiraterie geht es zuallererst um die Gesundheitund die allgemeine Sicherheit der Seeleute.Es geht überdies um erhebliche wirtschaftliche Inte-ressen Deutschlands als Exportnation. Mehr als 90 Pro-zent des interkontinentalen Warenverkehrs werden überden Seeweg abgewickelt. Außerdem gehört unser Landzu den führenden Seefahrtnationen der Welt.Die komplexe Herausforderung der Bekämpfung derSeepiraterie kann nur mit einem Bündel von kurz-, mit-tel- und langfristig wirkenden Gegenmaßnahmen bewäl-tigt werden. Ich habe deshalb frühzeitig die betroffenenRessorts innerhalb der Bundesregierung, die Seever-kehrs- und Versicherungswirtschaft und Gewerkschaftenzusammengerufen, um über wirksame Gegenmaßnah-men zu beraten.Es hat sich gezeigt: Aus operativen, logistischen, per-sonellen und finanziellen Gründen ist ein flächende-ckender Einsatz von hoheitlichen Kräften nicht möglich.Die militärischen Kapazitäten sind mit der für die Stabi-lisierung der Sicherheitslage am Horn von Afrika über-aus wichtigen EU-Mission Atalanta ausgeschöpft.Auch Gefahrenabwehrkräfte der Bundespolizei kön-nen keinen umfassenden Schutz der deutschen Handels-flotte gewährleisten. Allerdings weise ich darauf hin,dass umfangreiche Beratungsleistungen beim Pirate-riepräventionszentrum der Bundespolizei See inNeustadt/Holstein angeboten und auch nachgefragtwerden. Vor kurzem habe ich mir bei einem Besuch inNeustadt einen persönlichen Eindruck von der großenKompetenz und Einsatzbereitschaft der Bundespolizeibei diesem Thema verschafft.Bei der Abwehr von Piratenangriffen auf hoher Seehat sich die Einhaltung der „Best Management Practi-ces“ der International Maritime Organization, IMO, alssehr wirkungsvoll erwiesen. In Ergänzung und Umset-zung der IMO-Richtlinien setzen immer mehr Reeder in-ternational agierende Sicherheitsunternehmen ein.Erfreulicherweise gibt es bisher keinen einzigen Fall,in dem ein durch private bewaffnete Sicherheitskräftegeschütztes Schiff erfolgreich angegriffen wurde, – auchdies nehme ich mit Freude und Beruhigung zur Kennt-nis – die vielfach befürchteten Gewalteskalationen sindbisher ausgeblieben. Jetzt geht es darum, sicherzustel-len, dass nur solche Sicherheitsfirmen eingesetzt wer-den, die über die nötige Zuverlässigkeit und Erfahrungverfügen.Mit dem neuen Zulassungsverfahren für Bewa-chungsunternehmen auf Seeschiffen kommt die Bundes-regierung auch einem Wunsch der Reeder nach. Diesefordern berechtigterweise mehr Rechtssicherheit bei derBeauftragung von privaten Bewachungsunternehmen.Zu Protokoll gegebene Reden
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20812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Otto
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Wenn ich mir den Antrag der SPD ansehe, der Grund-lage der heutigen Debatte ist, könnte ich zu zweierleiSchlussfolgerungen kommen. Zum einen könnte ich ihnfür überflüssig halten, da dessen wesentlicher Inhalt vonder Bundesregierung längst auf den Weg gebracht istund wir bereits in Kürze einen Gesetzentwurf im Bun-deskabinett beschließen werden.Zum anderen – und diese Lesart möchte ich mir zu ei-gen machen – nehme ich mit Freude zur Kenntnis, dassauch die SPD bei dieser wichtigen und für die Seeleuteexistenziellen Frage auf der Linie der Bundesregierungist. Dies würde ich mir – am Rande bemerkt; dies ist jaheute nicht unser Thema – auch für die OperationAtalanta wünschen, die eine ähnlich zentrale Bedeutungfür die Sicherheit der deutschen Handelsflotte und ihrerBesatzungen hat.Lassen Sie mich abschließend noch einige Eckpunkteunseres Vorschlages skizzieren und auch hier die Über-einstimmung mit den Forderungen Ihres Antrages fest-stellen: Erstens. Die privaten Sicherheitsdienste werdenkeine Kriegswaffen mit sich führen. Zweitens. § 106 See-mannsgesetz bleibt unangetastet. Der jahrhundertealteGrundsatz, dass auf jedem Schiff allein der Kapitän dasSagen hat, bleibt unverändert, auch im Verhältnis zu denSicherheitsdiensten. Drittens. Die Befugnisse derSicherheitsdienste werden bewusst nicht erweitert. Esbleibt in klarer Abgrenzung zu „Söldnerdiensten“ beiden „Jedermannsrechten“ der Notwehr und Nothilfe.Viertens. Mit dem neuen Zulassungsverfahren werdenwir sicherstellen, dass Bewachungsunternehmen nurzuverlässiges und sachkundiges Personal einsetzenwerden.Schließlich fünftens. Wir wissen, dass wir in denGefahrenregionen keine funktionierenden staatlichenStrukturen, aber wirtschaftliche Armut haben. Deshalbwird die Bundesregierung über die Instrumentarien derEntwicklungszusammenarbeit und anderer langfristigangelegter Aufbauprojekte zum Beispiel in Somalia wei-terhin flankierend aktiv bleiben.Auf der Grundlage dieser gemeinsamen Überzeugun-gen hoffe ich, dass wir bei dem anstehenden parlamen-tarischen Verfahren mit einer breiten Unterstützungaller Fraktionen zu einer schnellen und guten Lösung imSinne und zum Wohle der Seeleute und der Seeschifffahrtkommen werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9403 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP
wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie. Die Fraktion der SPD wünscht die Fe-
derführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD, also Federführung beim Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs-
vorschlag ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfrak-
tionen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion von CDU/CSU, also Federführung beim Wirt-
schaftsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? Ent-
haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenom-
men.
Tagesordnungspunkt 29:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Maurer, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Freilassung der „Miami Five“
– Drucksachen 17/7416, 17/8395 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Egon Jüttner
Dr. Rolf Mützenich
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden der folgenden Kollege zu Protokoll gegeben:
Dr. Egon Jüttner, Dr. Wolfgang Götzer, Klaus Barthel,
Marina Schuster, Heike Hänsel und Hans-Christian
Ströbele.
Mit ihrem Antrag „Freilassung der ‚Miami Five‘“möchte die Fraktion Die Linke die Freilassung respek-tive Begnadigung und Ausreise von fünf Kubanern er-reichen, denen vorgeworfen wird, die exilkubanischeOrganisation Alpha 66 infiltriert zu haben, um weitereAnschläge auf ihr Heimatland Kuba zu verhindern.„Miami Five“ bezeichnet eine Gruppe von Kubanern,die im Jahre 1998 als Anführer eines Spionagenetzwer-kes in Miami verhaftet und zu hohen Strafen verurteiltwurden. In Kuba werden Antonio Guerrero Rodríguez,Fernando González Llort, Gerardo Hernández Nordelo,Ramón Labañino Salazar sowie René GonzálezSehwerert von der Propagandamaschine des Regimesder Castro-Brüder als ungerecht inhaftierte National-helden verehrt, da sie im Auftrag der kubanischenRegierung neben der Ausspähung von US-Militärein-richtungen unter anderem auch Informationen über Ak-tivitäten in exilkubanischen Organisationen sammelten.Ohne sämtliche Aktivitäten von Alpha 66 und anderendem bewaffneten Kampf nicht abgeneigten Gruppen derkubanischen Opposition gutheißen zu wollen, setzt die-ser Antrag völlig falsche Akzente und zeigt einmal mehrdie Treue, die von den Linken der Terrorherrschaft desCastro-Regimes entgegengebracht wird. Dieser Antragreiht sich ein in eine ganze Reihe von peinlichen Anbie-derungsversuchen seitens der Linken gegenüber der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20813
Dr. Egon Jüttner
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kubanischen Regierung. Ich erinnere hier nur an dasGlückwunschschreiben von Frau Lötzsch und HerrnErnst zum 85. Geburtstag Fidel Castros, in dem von ei-nem „kampferfüllten Leben und erfolgreichen Wirken“die Rede war und in dem Kuba als „Beispiel und Orien-tierungspunkt für viele Völker dieser Welt“ gepriesenwird.Ein weiteres Beispiel der Kuba-Verherrlichung durchdie Linke war der Antrag „Für eine Normalisierung der
das totalitäre Regime in Kuba fand, dafür aber unhalt-bare Vergleiche mit Ländern wie Mexiko, Kolumbienund Peru angestellt wurden. Wie zu erwarten, wurde dasAnsinnen der in dieser Frage auf europäischer Ebenevöllig isolierten damaligen spanischen Regierung vonallen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Unionnicht unterstützt.Insofern überrascht es nicht, dass die Fraktion DieLinke nun die Freilassung bzw. Begnadigung von fünfPersonen verlangt, die wegen Spionagetätigkeit und ineinem Fall sogar wegen Verschwörung zum Mord ange-klagt und in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu hohenHaftstrafen verurteilt worden sind. Es ist bedenklich,dass hierüber im Hohen Hause nicht völlige Einigkeitbesteht, aber Spionagetätigkeit und Verschwörung zumMord sind keine Kavaliersdelikte, bei denen man dieVerurteilten „einfach mal so“ freilässt oder begnadigt.Das Ansinnen der Linken ist mit dem eines demokratischgewählten und legitimierten Parlaments nicht in Ein-klang zu bringen. Die Linke hat durch diesen Antrag ein-mal mehr bewiesen, dass sie von einer demokratischenPartei nach dem Verständnis des deutschen Grundgeset-zes weit entfernt ist.Besonders bedenklich und befremdlich ist, dass dieLinke nicht einmal eine Gegenleistung von kubanischerSeite für deren Freilassung oder Begnadigung fordert.In dem Antrag findet sich kein Wort zu den inakzepta-blen Umständen in Kuba. Das Land ist eines der totali-tärsten Länder der westlichen Hemisphäre, in dem diebürgerlichen und politischen Rechte stark eingeschränktsind, Regierungskritiker inhaftiert werden und aus demfreigelassene Häftlinge berichten, dass sie während derHaft geschlagen worden seien.So wenig rechtsstaatlich und so politisch, wie Sie,meine Damen und Herren von der Linken, das Verfahrender amerikanischen Justiz in dem zur Abstimmung vor-liegenden Antrag darstellen, ist dieses aber nicht. Oderwie beurteilen Sie die Tatsache, dass dem bereits freige-lassenen, aber mit einer Fußfessel in den USA lebendenRené González Sehwerert am 19. März 2012 eine huma-nitäre Sondergenehmigung für einen zweiwöchigen Be-such seines in Kuba lebenden kranken Bruders gewährtwurde? Von solchen humanitären Sondergenehmigun-gen können die Gefangenen auf Kuba nur träumen.Schlimmer noch: Setzen sich deren Familienangehörigefür eine Verbesserung der Haftbedingungen ein, so wer-den auch diese den Repressalien des Castro-Regimesunterworfen und ihre persönlichen Freiheitsrechte aufsStärkste eingeschränkt. Wie es leider schon Tradition beiIhren Anträgen zu Kuba ist, findet sich im Antrag „Frei-lassung der ‚Miami Five‘“ zu den Zuständen auf Kuba,die einzig und allein das totalitäre Regime dort zu ver-treten hat, kein Wort.Einmal mehr wird durch diesen Antrag deutlich, wodie ideologischen Partner der Linken zu finden sind. Siesind nicht beim kubanischen Volk zu finden, sie sindnicht in den kubanischen Gefängnissen zu finden, undsie sind nicht bei der großen, in der Regel friedlichen ku-banischen Diaspora zu finden, nein, sie sind an denSchalthebeln der Macht in Kuba zu finden.Wir werden deshalb dem Antrag der Linken nicht zu-stimmen.
Auf Antrag der Fraktion Die Linke befassen wir unsheute mit der Freilassung der sogenannten Miami Five,fünf Kubanern, die in den USA 2001 wegen Spionagetä-tigkeit und Beihilfe zum Mord verurteilt wurden. DiesenAntrag lehnen wir entsprechend der Beschlussempfeh-lung des Auswärtigen Ausschusses ab.Bei den Verbrechen der Miami Five handelt es sichnicht um Kavaliersdelikte. Die USA haben nach einemmehrjährigen Gerichtsverfahren hohe Haftstrafen ver-hängt. Diese wurden in Revisionsverfahren teils bestä-tigt und teils reduziert. Dabei wurde die Haft von RenéGonzález vorzeitig wegen guter Führung ausgesetzt. ImMärz dieses Jahres durfte er seinen kranken Bruder inKuba besuchen. Somit ist die Behauptung der FraktionDie Linke, die USA würden René González die Ausreiseverweigern, gegenstandslos.Wenn die Fraktion Die Linke nun eine Begnadigungder übrigen Vier fordert, dann ist das ganz offensichtlichmit ihrer verqueren Ideologie zu erklären, die offeneSympathie für kommunistische Diktaturen zeigt. LassenSie mich an dieser Stelle nur kurz an das unselige Glück-wunschschreiben von Klaus Ernst und Gesine Lötzsch zuCastros Geburtstag letztes Jahr erinnern.Dabei erwartet Die Linke noch nicht einmal eine Ge-genleistung von Kuba für eine Begnadigung der vier Ku-baner. Diese Forderung ist ausschließlich der politi-schen Nähe der Fraktion Die Linke zu dem kubanischenRegime geschuldet und setzt die völlig falschen Akzenteim Umgang mit Kuba.Da Menschenrechtsverletzungen und starke Ein-schränkungen bürgerlicher und politischer Rechte undFreiheiten in Kuba nach wie vor an der Tagesordnungsind, muss es uns darum gehen, den Weg Kubas in einefreie und demokratische Zukunft zu unterstützen.Für eine Verbesserung der Lebensbedingungen undfür demokratische Reformen gibt es positive Anzeichen,die die EU in ihrer zweigleisigen Politik gegenüberKuba auch entsprechend würdigt. Dies ist der richtigeAnsatz. Man kann über die Lockerung von Sanktionennachdenken, wenn Fortschritte in Richtung Demokratiezu verzeichnen sind, und damit weitere Anreize für de-mokratische Reformen setzen.Zu Protokoll gegebene Reden
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20814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Dr. Wolfgang Götzer
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Unsere Bereitschaft zum Dialog und zur Unterstüt-zung der schwierigen Wirtschaftsreformen Kubas bleibtdabei ungebrochen. So hat die EU in den vergangenen20 Jahren mehr als 200 Millionen Euro bereitgestellt,um Reformen in Kuba zu unterstützen. An dieser Politikwerden wir festhalten. Sie hat in den vergangenen Jah-ren erste Früchte getragen und kann Kuba den Weg indie Gemeinschaft westlicher Demokratien weisen.
Der Papst war kürzlich zu Besuch auf Kuba. Auchaus der evangelischen Kirche hört man, die BlockadeKubas habe sich historisch überlebt. Das Gipfeltreffender Staaten Nord-, Mittel- und Südamerikas in Kolum-bien ist kürzlich ohne Abschlusserklärung grandios ge-scheitert, weil allein die USA – und Kanada – weiter aufdem Ausschluss Kubas bestehen und damit ziemlich iso-liert dastehen. Man könnte beim Thema Kuba den Ein-druck gewinnen: Alle bewegen sich, nur die USA und dieBundesregierung nicht.Für die Miami Five scheinen die Dinge geradesofestgefahren: Kritisch und mit großer Sorge beobachtenwir seit längerer Zeit Verlauf und Ergebnis des Strafver-fahrens gegen die fünf Kubaner, nämlich FernandoGonzález Llort, René González Sehwerert, AntonioGuerrero Rodríguez, Gerardo Hernández Nordelo undRamón Labañino Salazar, die im Dezember 2001 voneinem Bundesgericht in Miami, Florida, zu langjährigenStrafen verurteilt worden sind. Sie waren am 12. Sep-tember 1998 verhaftet worden. Schon vor knapp achtJahren – mit Briefen vom 1. Juli 2004 und später vom16. Juni 2006 – hatten Abgeordnete des Deutschen Bun-destages ihre Kolleginnen und Kollegen im US-Kon-gress auf die Problematik dieses Falles aufmerksamgemacht und sie aufgefordert, leider vergeblich, sich fürdie baldige Freilassung der fünf Gefangenen einzuset-zen. Sie bzw. wir waren weltweit nicht die Einzigen, diedas getan haben, sondern es gibt eine weltweite Solida-ritätsbewegung.Wir wissen, dass der ordentliche Rechtsweg erschöpftist, dass aber zurzeit noch über Anträge in dem von denVerurteilten anhängig gemachten sogenannten Habeas-Corpus-Verfahren zu entscheiden ist. Die Regierung hathierzu inzwischen wohl Stellung genommen und bean-tragt, die Anträge zurückzuweisen. Einen Termin zurVerhandlung in diesen Verfahren hat die zuständigeRichterin bisher nicht anberaumt.In diesem Stadium des Verfahrens bitten wir alle Be-teiligten nachdrücklich, sich für die Freilassung der fünfMänner und ihre Rückkehr in ihr Heimatland Kuba ein-zusetzen. Es sollte geprüft werden, ob es möglich ist, diefünf auf dem Wege eines Gnadenerlasses in die Freiheitund nach Kuba zu entlassen. Der Präsident der Verei-nigten Staaten hätte nach der Verfassung das Rechthierzu. Amnesty International hat dies in der ausführli-chen und nach unserer Auffassung zutreffenden Stel-lungnahme vom Oktober 2010 ausdrücklich angeregt.Gemeinsam mit der Arbeitsgruppe zu willkürlichenInhaftierungen des Menschenrechtsausschusses der Ver-einten Nationen in der Entscheidung vom Mai 2005, mitAmnesty International und vielen anderen sind wir derÜberzeugung, dass die fünf in Miami keinen fairen Pro-zess hatten. Im Report 2011 von Amnesty Internationalist diese Kritik ausdrücklich wiederholt worden.Die fünf Kubaner sind, wie bereits gesagt, seit Sep-tember 1998, also seit mehr als 13,5 Jahren inhaftiert.Unstreitig haben sie dadurch gegen US-Recht versto-ßen, dass sie als Agenten eines fremden Staates tätig ge-worden sind, ohne dies den zuständigen Stellen anzuzei-gen; einige von ihnen haben auch unter falscherIdentität gearbeitet. Dabei lassen wir offen, ob diesnicht dadurch gerechtfertigt sein kann, dass sie Schadenvon ihren eigenen Landsleuten, aber auch von US-Bür-gern abwenden wollten. Es sind ja gerade die USA, dieihrerseits in anderen Ländern US-Agenten und -Militärsnicht der jeweiligen Justiz unterwerfen wollen. Für ihreVerfehlungen haben die fünf nach unserer Überzeugungnach so langer Zeit mehr als gebüßt. Wir kommen zudieser Überzeugung, weil die übrigen Mitglieder derGruppe kubanischer Agenten, die sich mit der Staatsan-waltschaft geeinigt hatten, wesentlich milder bestraftworden sind und sich inzwischen alle in Freiheit befin-den.Selbstverständlich sollte es sein, dass die Familien-angehörigen der fünf, solange jene sich noch in den Ver-einigten Staaten aufhalten müssen, die erforderlichenVisa erhalten, um in dem üblichen Rahmen die Gefange-nen besuchen zu können. Das gilt insbesondere für OlgaSalanueva, die Gattin von René González, und fürAdriana Pérez, die Gattin von Gerardo Hernández,denen bisher immer die Erteilung von Besuchsvisa ver-weigert worden ist. Auch insoweit hat Amnesty Interna-tional des Öfteren das Verhalten der zuständigen US-Behörden beanstandet. Der Fall von Adriana Pérez undGerardo Hernández ist aus noch einem weiteren Grundmenschlich in hohem Maße unbefriedigend. Frau Pérezist heute 42 Jahre alt; die Ehe ist bisher kinderlos ge-blieben. Das Ehepaar hat indessen den dringenden undnachvollziehbaren Wunsch nach einem Kind. DieserWunsch ist unter den gegebenen Umständen unerfüllbar.Positiv ist zu vermerken: René González, der inzwi-schen auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wor-den ist, zurzeit aber noch unter sogenannter überwach-ter Freiheit in Florida zu bleiben hat, ist es gestattetworden, für zwei Wochen nach Kuba auszureisen, umseinen schwerkranken Bruder zu besuchen.Keine Frage: Die Miami Five müssen endlich freige-lassen werden! Aber die völlige Unbeweglichkeit derUS-Regierung wird sicher nicht dadurch gelockert,wenn auf der anderen Seite ebenso gebetsmühlengleichund reflexartig die immer gleichen Appelle an die USAgerichtet werden. Was wir brauchen, sind politischeWege, die festgefahrene Kuba-Politik der USA aufzulo-ckern, in enger Abstimmung mit den Ländern Mittel-und Südamerikas und den zahlreichen EU-Partnern, diedazu bereit sind. Eine Korrektur der europäischenKuba-Politik ist überfällig. Der Gemeinsame Stand-punkt ist überholt.Auf Kuba ist ein interessanter „Anpassungsprozess“im Gang. Beobachter sprechen von relativ weit reichen-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20815
Klaus Barthel
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den, vor allem wirtschaftlichen Reformen. Auch wennich an dieser Stelle nicht ins Detail gehen kann: Es lohntsich, diesen Prozess viel stärker zu beachten und zu ana-lysieren.Der Punkt ist: Gerade diejenigen, die von der kubani-schen Regierung gebetsmühlenartig die Freilassung vonGefangenen und innere Reformen verlangen, ignorierendie positiven Veränderungen. Sie scheinen damit denVerdacht zu bestätigen, es gehe ihnen weder um Men-schenrechte noch um Reformen, sondern lediglich umMachtdemonstrationen gegen eine missliebige Regie-rung. Aber auch umgekehrt scheint es manchem Appellauf Freilassung der Miami Five weniger um die betrof-fenen Menschen zu gehen, weniger um eine insgesamtveränderte Kuba-Politik, weniger um eine Unterstüt-zung der zunehmenden Integration Kubas in Lateiname-rika, sondern vor allem darum, sich politisch zu profilie-ren. Über die Reflexe in den USA braucht man sich dannnicht zu wundern.Was mich allerdings schon wundert, ist das Verhaltender Koalitionsabgeordneten in dieser Frage. Was in denReden zu diesem Thema hier zu Protokoll gegebenwurde, atmet den Geist einer längst vergangenen Epo-che. Selbst wenn einem die kubanische Regierung nichtpasst, muss man doch in einer solchen humanitärenFrage einmal über seinen eigenen Schatten springenkönnen und Objektivität walten lassen.Die SPD-Bundestagfraktion fordert die Bundesregie-rung auf, sich innerhalb der EU für eine grundlegendeKorrektur des Gemeinsamen Standpunktes einzusetzen.Dies wäre auch ein Schritt, die eigene Lateinamerika-Strategie ernst zu nehmen und mit Leben zu füllen. Derdort immer wieder geforderte Dialog muss auch mitKuba geführt werden. Wer die positiven Veränderungenin Kuba unterstützen will, muss den konfrontativen Geistund die diskriminierende Praxis, die im offiziellen EU-Standpunkt enthalten sind, aufgeben. Am Ende – spätes-tens – wird sich auch die US-Regierung bewegen müs-sen, auch hinsichtlich der Miami Five. Jenseits der heu-tigen Antragsdebatte könnte die Bundesregierung ohnegroßen Lärm einiges dazu beitragen.Eine konkrete und umfassende Neuausrichtung derKuba-Politik ist nötig. Symbolanträge verhärten dieFronten mehr, als dass sie helfen. Wir werden uns zudem Antrag enthalten, weil wir sein Ziel teilen, aber denWeg für nicht zielführend halten.
In dem uns vorliegenden Antrag fordert die Links-Fraktion eine Freilassung der Miami Five – von denensich mittlerweile noch vier Personen in amerikanischerGefangenenschaft befinden. René González war im Ok-tober 2011 mit drei Jahren auf Bewährung, während de-rer er die USA nicht verlassen darf, aus der Haft entlas-sen worden.Die Anklage in den USA lautete auf Spionage. Diefünf Angeklagten sind im Jahr 2001 für schuldig erklärtund verurteilt worden.Unmittelbar nach der Freilassung von René Gonzálezim vergangenen Jahr hatten die USA Kuba den Vor-schlag unterbreitet, González gegen Alan Gross auszu-tauschen. Alan Gross war im April 2011 von einem ku-banischen Gericht zu 15 Jahren Haft wegen „Vergehengegen die Unabhängigkeit und Integrität des Staates“verurteilt worden und ist nun in Havanna inhaftiert.Diesen Vorschlag hatte Kuba jedoch ausgeschlagen.Die USA und Kuba befinden sich also in Fragen derFreilassung bzw. Überstellung von Gefangenen in Kon-takt. Der Antrag der Links-Fraktion ist dahin gehendobsolet.In der Frage des Besucherrechts stimme ich jedochmit den Antragstellern überein. Dies genügt jedochnicht, dem Antrag zuzustimmen.Uns muss es darum gehen, Kuba auf dem Weg in einefreie und demokratische Zukunft zu unterstützen. Es giltdeshalb, die vorsichtigen positiven Zeichen zu sehen,aber gleichzeitig die negativen Signale nicht auszublen-den.So liegt zwischen der ersten Beratung dieses Antragsund heute der bemerkenswerte Besuch des Papstes inKuba. Selbst die große Aufmerksamkeit der Weltöffent-lichkeit hat das Regime nicht davon abhalten können, imMonat des Besuchs mehr als 1 100 Personen festzuneh-men. Das ist die höchste Zahl in einem einzigen Monatseit 50 Jahren. Mehr als die Hälfte der Festnahmen istvor und während des Besuchs von Papst Benedikt XVI.erfolgt. Die kubanische Regierung behandelt Oppositio-nelle und Regimekritiker nach wie vor mit harter Hand.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie dür-fen diese Ereignisse nicht ausblenden, was Sie jedochleider immer wieder tun. Auch deshalb war es richtig,dass die Koalitionsfraktionen Ihren Antrag im vergange-nen Dezember abgelehnt haben.Der Missstand im politischen sowie menschenrechts-politischen Bereich ist weiterhin besorgniserregend. Be-reits im September 2011 wurden mehr als 560 Dissiden-ten vorübergehend festgenommen. Das war – bis zumvergangenen Monat – die größte Festnahmewelle seit30 Jahren.Der seit 1996 geltende „Gemeinsame Standpunkt“der EU setzt dennoch auch auf Dialog mit der kubani-schen Regierung, um diese an ihre Verantwortung fürdie Menschenrechte zu erinnern und auf Reformen derkubanischen Gesetze und die Einhaltung internationalerÜbereinkünfte hinzuwirken. Ich zitiere: „In dem Maße,wie die kubanische Regierung Fortschritte auf dem Wegzur Demokratie macht, wird die Europäische Union die-sen Prozess unterstützen, insbesondere durch Intensivie-rung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Vertie-fung des Dialogs.“Leider haben uns die Ereignisse der vergangenenMonate weitestgehend enttäuscht, weshalb – abgesehenvon dem in großen Teilen nicht zustimmungsfähigen In-halt – der Zeitpunkt des vorliegenden Antrags nicht mitder Wirklichkeit der aktuellen Lage übereinstimmt.Zu Protokoll gegebene Reden
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20816 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
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Es ist zynisch, dass in diesem Jahr im Rahmen desUN-Ausschusses gegen Folter, CAT, vom 7. Mai bis1. Juni einschlägige Organisationen von US-Exilkuba-nern eine Beobachtungsreise auf kubanisches Territo-rium missbrauchen, um Kuba wegen Folter anzuklagen.Es sind die Regierungen der USA, die mit ihrerunmenschlichen Handels-, Wirtschafts- und Finanz-blockade offen gegen die Menschenrechte verstoßen undauf dem besetzten kubanischen Territorium im Gefange-nenlager Guantánamo sich der massiven Folter schul-dig machen. Es ist erwiesen, dass Guantánamo einrechtsfreier Raum ist.Dass die EU und die Bundesregierung mit zweierleiMaß an das Thema Menschenrechte und Kuba herange-hen, zeigt sich auch im Umgang mit den fünf Kubanern,die seit 1998 in den USA gefangen gehalten werden.Antonio Guerrero Rodríguez, Fernando González Llort,Gerardo Hernández Nordelo, Ramón Labañino Salazarund René González Sehwerert hatten exilkubanischeTerrorgruppen in den USA infiltriert, um Attentate aufihr Land zu verhindern.Dafür gebührt ihnen Respekt.Die US-Justiz hat sie indes unter dem Vorwurf derSpionage zu hohen Haftstrafen verurteilt. Wir erwartenvon der Bundesregierung, dass sie sich für die Freiheitder fünf einsetzt. Aber wir erkennen keinerlei Bemühun-gen. Dabei bestätigen weltweit Menschenrechtsorgani-sationen und auch die UNO, dass Verhaftung, Prozess-verlauf und Haftbedingungen rechtsstaatlichenStandards völlig entgegenliefen. Seit Jahren dürfen zumBeispiel die Ehefrauen ihre Männer nicht im Gefängnisbesuchen.Wir freuen uns, dass René González Sehwerert nunzumindest aus dem Gefängnis entlassen wurde und zumzweiwöchigen humanitären Besuch in Havanna in die-sem Jahr weilen konnte.Wenn die Bundesregierung Glaubwürdigkeit in ihrerAußenpolitik erreichen will, darf sie nicht mit zweierleiRaster messen und einerseits mit Ländern wie Mexikound Kolumbien, in denen Journalisten und Gewerk-schafter ihres Lebens nicht sicher sind, kooperieren undandererseits bei Kuba Bedingungen stellen, deren Erfül-lung die Aufgabe und Auflösung des dortigen sozialis-tischen Systems bedeuten würde.Wenn die im Mai 2011 beschlossenen Maßnahmenzur Zulassung eines nicht staatlichen Sektors im Dienst-leistungssektor und die selbstständige Bewirtschaftungbei der Landwirtschaft erfolgreich sein sollen, kanninternationale Unterstützung hilfreich sein. Gerade dievon Minister Niebel gern angesprochene trilaterale EZund die Süd-Süd-Kooperation könnten vom BMZ unter-stützt werden. Die Linke wirbt dafür, die erfolgreicheSüd-Süd-Kooperation Kubas mit anderen lateinameri-kanischen, afrikanischen und asiatischen Ländern zuunterstützen.Voraussetzung dafür ist, endlich vom unsäglichensogenannten Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Kubaabzurücken. Die EU braucht einen neuen Ansatz, eineechte Kooperation mit diesem Land, das für denAufbruch in Lateinamerika, für die sozialen und demo-kratischen Fortschritte und für die regionalen Integra-tionsprozesse dort eine wichtige Rolle spielt.Zum Schluss möchte ich daran erinnern, dass in vielenLändern der Welt, auch in den USA und sogar in Miamiselbst, Solidaritätskomitees bestehen, die den Prozessgegen die Miami Five als politisch beeinflusstes Verfah-ren sehen und der US-amerikanischen Justiz schwereMenschenrechtsverletzungen und Rechtsbeugung vor-werfen, darunter die zehn Nobelpreisträger José Ramos-Horta, Wole Soyinka, Adolfo Pérez Esquivel, NadineGordimer, Rigoberta Menchú, José Saramago, GünterGrass, Alice Walker, Mikis Theodorakis und NoamChomsky.Die Fraktion Die Linke fordert gemeinsam mit diesenvielen Menschen weltweit: Freiheit für AntonioGuerrero Rodríguez, Fernando González Llort, GerardoHernández Nordelo und Ramón Labañino Salazar unddie freie Ausreise für René González Sehwerert! DasEmbargo gegen Kuba muss beendet werden, denn dieBlockade Kubas ist völkerrechtswidrig und schadet derkubanischen Bevölkerung.
Das Schicksal der sogenannten Miami Five gehört zuden dunklen Kapiteln der US-Justizgeschichte. Es ist imZusammenhang mit der jahrzehntelangen Embargopoli-tik der USA gegen Kuba zu sehen, die sogar der Papstbei seinem jüngsten Besuch in Kuba kritisiert hat. Es hatzu tun mit aggressiven und kriegerischen Aktionen vonExilkubanern in Florida gegen Kuba.Im September 1998 wurden die Miami Five, die fünfKubaner Antonio Guerrero Rodríguez, FernandoGonzález Llort, Gerardo Hernández Nordelo, RamónLabañino Salazar und René González Sehwerert in denUSA von der Bundespolizei FBI verhaftet. Ihnen wurdevorgeworfen, Mitglieder eines „Wasp Network“ zu sein,das exilkubanische Gruppen ausspioniert haben soll.Um Anschläge auf Einrichtungen und Personen aufKuba zu verhindern, sollen sie exilkubanische Terror-organisationen in Florida unterwandert haben, die kri-minelle Akte gegen Kuba planten. Drei Monate vorherwar seitens der Regierung in Havanna einer Delegationdesselben FBI umfangreiches Aktenmaterial übergebenworden, aus dem sich ergeben sollte, dass Gruppen vonExilkubanern in Florida weit über 100 Anschläge aufKuba geplant haben sollen. Die fünf Gefangenen kamensofort in Isolationshaft. Sie wurden der Verschwörungzur Spionage angeklagt, einer von ihnen auch der Ver-schwörung zum Mord. Im Dezember 2001 wurden sie zulebenslangen Gefängnisstrafen verurteilt. Prozess-beobachter kritisierten, dass der Prozess in Miami nichtfair gewesen sei und Beweise fehlten. Die Verurteiltenlegten Berufung ein.Im Mai 2001 stellte die UN-Arbeitsgruppe für will-kürliche Verhaftungen – Menschenrechtskommission –nach Prüfung des Falles fest, dass die Freiheitsentzie-hung der Miami Five willkürlich ist und einen VerstoßZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20817
Hans-Christian Ströbele
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gegen Art. 14 des Internationalen Paktes über zivile undpolitische Recht darstellt. Die Arbeitsgruppe fordertedie US-Regierung auf, die notwendigen Schritte zu un-ternehmen, der Situation abzuhelfen. In Atlanta fand2005 eine Anhörung vor drei Richtern des Berufungsge-richts statt, bei der ausländische Juristen, auch solcheaus Deutschland, als Beobachter teilnehmen konnten.Die Richter stellten fest, dass die Strafurteile wegen vor-urteilsbelasteter Atmosphäre ergangen waren und auf-zuheben seien. Ein Jahr später hob das Gericht in ande-rer Zusammensetzung dieses Urteil auf. Wieder warenausländische Beobachter anwesend, auch zwei deutscheJuristen. Diese bestätigten übereinstimmend die erhebli-chen Zweifel daran, dass die Verurteilung der MiamiFive in Florida in einem fairen Prozess nach rechts-staatlichen Prinzipien zustande gekommen ist.Äußerst problematisch waren und sind auch die Haft-bedingungen der Verurteilten. Sie wurden in Hoch-sicherheitsgefängnisse auf die USA verteilt. Lange Zei-ten waren sie immer wieder in Isolationshaft. Selbst denEhefrauen zweier Inhaftierter wurde und wird das Be-suchsrecht bei Ihren Ehemännern dauerhaft verweigert,indem sie keine zeitlich begrenzten Visa für die USA er-halten. René González Sehwerert wurde im Oktober2011 freigelassen. Allerdings darf er nicht weiter nachKuba ausreisen. Er muss bis 2014, versehen mit einerelektronischen Fußfessel, in den USA bleiben.Nicht nur Amnesty International, der UN-Menschen-rechtsrat, sondern auch zahlreiche weitere Menschen-rechts- und Solidaritätsgruppen haben in den vergange-nen Jahren viel Aufklärungsarbeit zum Schicksal derMiami Five geleistet. Sie haben sich unermüdlich für dieFreilassung der fünf eingesetzt, für bis zur Freilassungverbesserte Haftbedingungen und für das Besuchsrechtder Ehefrauen. Angesichts der gravierenden Menschen-rechtsverletzungen, der schwerwiegenden Verfahrens-mängel und der auffallend schlechten Haftbedingungenunterstützen wir diese Forderung. Dem Antrag der Lin-ken, der diese Forderungen enthält, stimmen wir zu. Esgeht um die Einhaltung von Menschenrechten und dasRecht auf ein faires Verfahren, die wir überall einfor-dern, auch von den USA.Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sichfür die Freilassung der Miami Five einsetzt. Es ist einehumanitäre Selbstverständlichkeit, dass die Ehefrauenihre Männer im Gefängnis besuchen können und dassder freigelassene Kubaner in seine Heimat Kuba ausrei-sen kann. Ideologische Brillen sind hier doch fehl amPlatze.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8395 , den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/7416 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der
SPD angenommen.
Tagesordnungspunkt 30:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Dr. Hermann E. Ott, Hans-Josef Fell, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
EU-Klimaziel anheben – 30 Prozent Emis-
sionsminderung bis 2020
– Drucksache 17/9175 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Andreas Jung, Frank
Schwabe, Michael Kauch, Eva Bulling-Schröter, Bärbel
Höhn.
Auch wenn es derzeit weitere große Herausforderun-gen innerhalb der Europäischen Union zu bewältigen giltund wir den Kampf um die Stabilisierung des Euro zuführen haben, hat der internationale Klimaschutz nichtan Bedeutung verloren und weiterhin in der Politik derBundesregierung und der Koalition hohe Priorität. Ef-fektiver Klimaschutz ist eine wichtige Vorsorge für einelangfristig tragfähige wirtschaftliche und ökologischeEntwicklung und zugleich ein Wettbewerbsmotor fürneue Technologien. Deutschland muss und wird seineVorreiterrolle im Klimaschutz fortführen, gerade auchnach der Weltklimakonferenz in Durban und auch mitBlick auf die Konferenz in Rio dieses Jahr. Gerade in die-sem symbolträchtigen Jahr, 20 Jahre nach der Konfe-renz, die als Ausgangspunkt für die gemeinsamen inter-nationalen Anstrengungen für nachhaltige Entwicklunggilt, halte ich es für notwendig, deutliche positive Signalefür einen erfolgreichen internationalen Klimaschutz zusetzen.Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestaghaben sich zum Ziel gesetzt, die Emissionen in Deutsch-land bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu reduzie-ren. Dabei sind wir auf einem guten Weg. So konnteDeutschland im Jahr 2010 seine Verpflichtungen ausdem Kioto-Protokoll erfüllen. Gegenüber dem Basisjahr1990 sind die Treibhausgasemissionen Deutschlands2010 um fast 25 Prozent zurückgegangen. Das ent-spricht einer Verminderung um mehr als 295 MillionenTonnen Kohlendioxid pro Jahr und zeigt: Ein großesStück des Wegs haben wir bereits geschafft. Wir könnenfeststellen, dass von unserer Klimaschutzpolitik gleich-zeitig kräftige Impulse für Wirtschaftswachstum, Inno-vation und Beschäftigung ausgehen.Allein die Tatsache, dass wir uns in Deutschland aufden Weg machen, mit neuen Technologien und erneuer-baren Energien dieses Ziel zu erreichen, und darin aucheine wirtschaftliche Chance sehen, löst Diskussionenund ein Umdenken bei Staaten auf der ganzen Welt aus.Deutschland demonstriert, dass es machbar ist, den Kli-maschutz voranzutreiben, ohne an wirtschaftlichemSchwung zu verlieren.
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20818 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Andreas Jung
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Diese Impulse gilt es nun auch international zu nut-zen, vor allem auch innerhalb der Europäischen Union.Ich halte es für notwendig und realistisch, die bereits ge-steckten Ziele von 20 Prozent Emissionsreduzierung in-nerhalb der Europäischen Union bis 2020 auf einehöhere Prozentzahl zu setzen. Eine Initiative der däni-schen Ratspräsidentschaft, das EU-Klimaschutzziel auf30 Prozent bis 2020 zu erhöhen, wurde auf der Sitzungdes Umweltministerrats vom 9. März 2012 von Deutsch-land und 25 anderen Mitgliedstaaten unterstützt. Sie istjedoch an der Ablehnung Polens gescheitert. Aus meinerSicht ist es jetzt notwendig, dass wir weiter intensiv fürein 30-Prozent-Ziel werben, die Bedenken auf polni-scher Seite ausräumen und so einen gesamteuropäi-schen Schritt im Klimaschutz nach vorne gehen. Europamuss nach meinem Dafürhalten den positiven Nachweiserbringen, dass Klimaschutzpolitik eine leistbare Zu-kunftsvorsorge darstellt, dass sie kein Gegensatz zuwirtschaftlicher Entwicklung ist, sondern dass die Inte-gration von modernen Technologien natürliche Ressour-cen schonen und klimaschädliche Emissionen nachhal-tig reduzieren kann. Denn eine technologische Moderni-sierung ist es, die uns wettbewerbsfähiger, produktiver,wirtschaftlich erfolgreicher macht und darum auch wirt-schaftlich zu empfehlen ist.Dafür reicht es nicht, dass die Europäische Union beiihrem 20-Prozent-Reduzierungsziel bleibt, sondern wirbrauchen mehr. Denn die 20 Prozent CO2-Reduzierun-gen bis 2020 werden wir in Europa aller Voraussichtnach ohne weitere Anstrengungen erreichen. Aber wennwir uns nur das vornehmen, was wir ohne zusätzlicheMaßnahmen erreichen, dann ist das zu wenig. Dann istes auch kein Anreiz für Technologieentwicklung, dannsenden wir keine positiven Signale an andere Länder,die es ungleich schwerer haben, ihren CO2-Ausstoß zureduzieren.Ziel der gemeinsamen Anstrengungen sollte ein Wett-bewerb auf Augenhöhe sein. Deutschland hat sich be-reits zu einem ehrgeizigen unbedingten Reduktionszielbekannt. Deshalb ist es auch in unserem wirtschaft-lichen Interesse, dass die Europäische Union und damitdie anderen EU-Staaten gleichziehen. So erreichen wirgemeinsam mehr Klimaschutz und schaffen einheitlicheWettbewerbsbedingungen.Am Mittwoch, dem 23. Mai 2012, wird es eine Anhö-rung zur Erhöhung des EU-Klimaziels auf 30 Prozentgeben. Auch von dieser Anhörung verspreche ich mirnochmals wichtige Hinweise für die Diskussion um dieErhöhung des Klimaziels der Europäischen Union. Wirsollten jeden Spielraum nutzen, den uns die Technolo-gieentwicklung lässt, um den Klimaschutz internationalvoranzubringen. Klimaschutz kann nicht isoliert betrie-ben werden. Deutschland hat mit seinem Engagementgezeigt, dass der Weg gangbar ist. Nun gilt es, denErfolg auch innerhalb der Europäischen Union fortzu-schreiben, um auch international entsprechende Schritteanzustoßen.
Ich möchte meine Rede mit einem Zitat beginnen:„Das Europäische Emissionshandelssystem produziertnicht länger die anfangs angestrebten Ergebnisse undmuss deshalb repariert werden.“ Diese Aussage stammtnicht etwa von einer Umweltschutzorganisation, son-dern von der Chefin einer großen Investorengruppe. Siekündigt sogar an, auch zukünftig Druck für mehr Klima-schutz zu machen. „Solange der Klimawandel negativenEinfluss auf die Wirtschaftssysteme, in denen unsereMitglieder aktiv sind, und die ihnen anvertrauten Ver-mögenswerte haben kann, solange werden Investorenein entschlossenes Vorgehen fordern“, so schreibt sieweiter und fordert die Erhöhung des viel zu niedrigenKlimaziels der EU. Dies fordern auch viele Unterneh-men, so zum Beispiel die Deutsche Telekom oder Alstom.Denn es gibt viele gute Argumente für eine Erhöhungder Klimaschutzbemühungen der EU, jedoch keine da-gegen.Aber die Bundesregierung konnte sich lange nicht ei-nigen, ob sie das auch will: Der Umweltminister schriebZeitungsartikel dafür, der Wirtschaftsminister hat dage-gengehalten, und die Kanzlerin hat geschwiegen. Nunscheint es so, dass auch die Bundesregierung ein euro-päisches Klimaziel von 30 Prozent unterstützt, wenn vonDeutschland nicht mehr als das deutsche 40-Prozent-Ziel gefordert wird und andere EU-Mitgliedstaaten ei-nen fairen Beitrag zur Zielerreichung leisten. So steht esim Fortschrittsbericht 2012 der nationalen Nachhaltig-keitsstrategie der Bundesregierung. Da die Grünen inihrem Antrag genau diese Formulierung aufgenommenhaben, haben die Vertreterinnen und Vertreter von CDU,CSU und FDP kein Argument, diesem Antrag nicht zuzustimmen.Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition,Sie wissen, wie wichtig das 30-Prozent-Ziel für den Kli-maschutz, aber auch für die Finanzierung der deutschenEnergiewende ist und wie wichtig der Meinungsaus-tausch hierüber beim informellen Umweltministerratletzen Donnerstag war. Die dänische Ratspräsident-schaft hatte geladen, damit alle Mitgliedstaaten ihreMeinung zur Zukunft des Emissionshandels abgebenkönnen. Die meisten Länder waren durch ihre Ministervertreten.Und Deutschland? Wo war Röttgen? Kein Minister,am zweiten Tag des Treffens nicht einmal mehr eineStaatssekretärin, niemand aus der Leitungsebene desBMU. Deutschland war durch einen Beamten des Um-weltministeriums vertreten. Es ist einfach nur peinlichund ärgerlich, wie wenig Bedeutung Norbert Röttgendem wichtigen Thema Klimapolitik gibt, sein Minister-amt vernachlässigt und lieber Wahlkampf in NRWmacht. Aber Energiewende und Klimapolitik brauchenden vollen Einsatz eines Ministers, ein Teilzeitministerist damit überfordert.Brisant ist auch, dass Staatssekretärin Reiche aufmeine Frage in der Fragestunde am 28. März 2012 nochberichtet hat, dass geplant sei, dass der Minister in Hor-sens anwesend sei. Sie hat sogar noch angefügt, dassRöttgen sowohl Wahlkampf als auch Umweltpolitik ma-chen könne. Offensichtlich hat sie da etwas übertrieben.Röttgen schwankt zwischen Düsseldorf und Berlin; Kli-mapolitik und Energiewende geraten weiter in Schief-lage.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20819
Frank Schwabe
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Auch wenn die Debatte über das 30-Prozent-Zielschon über zwei Jahre geführt wird, möchte ich die Ar-gumente noch einmal anführen. Wie sich vor allem amCO2-Preis gezeigt hat, haben unsere Argumente an Be-deutung gewonnen. Sollte die Politik das Klimaziel nichterhöhen oder durch eine andere Maßnahme in denMarkt eingreifen, so gehen die Analysten der DeutschenBank davon aus, dass der Preis die nächsten Jahre dau-erhaft unter 10 Euro bleiben wird. Für das Jahr 2012gehen sie von einem Preis von 6 Euro aus. Man sollteaber auch in Erinnerung behalten, dass die Prognosendieser Bank auch schon zu hoch angesetzt waren. Dieschweizerische UBS geht sogar von einer Untergrenzedes Preises der EUA von 3 Euro aus. UBS sieht einenÜberschuss an Zertifikaten von etwa 2 Milliarden Euround geht davon aus, dass wir eine bessere Preissituationerst nach dem Jahr 2020 haben werden, da sich dieÜberstände erst in zehn Jahren abgebaut haben werden.Andere Marktanalysten haben ähnliche Prognosen,wenn die Politik das Klimaziel nicht erhöht.Durch den Preisverfall auf dem CO2-Markt ist auchdie Finanzierung der Energiewende gefährdet. Denn dieErlöse aus dem Emissionshandel fließen in den Energie-und Klimafonds, der wichtige Projekte und Programmeder Energiewende finanziert. Bleibt es beim gegenwärti-gen 20-Prozent-Klimaziel der EU, verliert die Bundesre-gierung durch die niedrigen Zertifikatspreise im Ver-gleich zu den erwarteten Erlösen ab 2013 jährlichEinnahmen in Milliardenhöhe. Um dem Preisverfall zubegegnen, ist es nicht nur wichtig, die Zertifikatemengezu verringern, sondern auch, die Menge an Zertifikatenaus CDM/JI-Projekten zu verkleinern. Die Kosten eines30-Prozent-Ziels sind durch die Finanz- und Wirt-schaftskrise erheblich gesunken. Zu diesem Ergebniskommen auch Modellrechnungen der EU.Auf dem letzten Umweltministerrat scheiterte einepolitische Einigung am Widerstand Polens. Nachdemdie polnische Regierung schon im vergangenen Jahrambitionierte Klimaschutzziele verhindert hatte, legtesie auch beim Treffen am 9. März dieses Jahres ihr Vetoein. Nun ist der nächste Rat im Juni entscheidend. DieZeit bis dahin gilt es mit Hochdruck zu nutzen. Die Bun-desregierung muss alles tun, damit Polen nicht auchbeim nächsten Treffen eine Einigung blockiert. Jetztkommt es auf die Staats- und Regierungschefs an. Des-wegen habe ich einige Fragen an die Bundesregierung:Wie möchte die Bundesregierung die polnische Blo-ckade bis Juni auflösen? Wie zeigt die Bundesregierung,dass sie die polnischen Sorgen ernst nimmt? Welche An-gebote möchte die Bundesregierung Polen machen?Kann sich die Bundesregierung zum Beispiel vorstellen,die bilateralen Umweltprojekte zwischen Deutschlandund Polen auszubauen? Sind vor dem Juni-Rat Gesprä-che zwischen Merkel und Tusk geplant? Umweltver-bände fordern die Schaffung eines Sonderbotschafters,der Pendeldiplomatie zwischen den Hauptstädten derEU betreibt. Unterstützt die Bundesregierung diese For-derung nach einem Sonderbotschafter? Gibt es in derdeutschen Botschaft in Warschau überhaupt jemand, derzu Klimapolitik arbeitet? Wenn nein, warum nicht? Eswäre unverantwortlich, wenn die Bundesregierung inder Zeit bis Juni nicht mit allem Engagement daran ar-beiten würde, Polen ins Boot zu holen. Denn realisti-scherweise wird sich das Zeitfenster für das 30-Prozent-Ziel mit dem Ende der dänischen Ratspräsidentschaftschließen.Um dieses Thema noch einmal ganz oben auf die Ta-gesordnung zu setzen, werden wir im Umweltausschussam 23. Mai eine öffentliche Anhörung durchführen.Grundlage der Anhörung werden die Anträge der Oppo-sitionsfraktionen zum 30-Prozent-Ziel sein. Nach demStandpunkt der Bundesregierung, wie sie ihn im Fort-schrittsbericht 2012 der nationalen Nachhaltigkeitsstra-tegie beschrieben hat, müssen die Regierungsfraktionenden Anträgen zustimmen. Zustimmen allein reicht je-doch nicht. Die anderen Staaten Europas warten auf einstarkes Signal aus Deutschland für mehr Klimaschutz.Nach jahrelangem Herumlavieren muss die Bundesre-gierung anderen Staaten erklären, dass für sie ein höhe-res Klimaziel von vitalem Interesse ist. Wenn sie weiter-hin nur stumm am Rande steht, macht sie sichmitschuldig, den Klimaschutz zu verhindern. Angesichtsder Opfer, die der Klimaschutz heute schon fordert, kanndas niemand wollen.
Deutschland ist und bleibt Vorreiter beim Klima-schutz. Wir als christlich-liberale Koalition haben Kli-maschutzziele beschlossen, wie sie noch keine Bundesre-gierung zuvor beschlossen hat. 40 Prozent national undunkonditioniert bis 2020, 80 bis 95 Prozent bis 2050 –das ist international vorbildlich, und es ist ein Signal derGlaubwürdigkeit Deutschlands insbesondere gegenüberden Schwellen- und Entwicklungsländern.Wir brauchen im internationalen Klimaschutz Mit-streiter; denn allein national werden wir nicht die Er-folge erzielen, die wir erzielen müssen. 2 Grad als Per-spektive werden wir nur dann schaffen, wenn wir andereLänder – die großen Emittenten dieser Welt – ins Bootholen. Deutschland allein kann nur einen Akzent setzen.Deshalb war es so wichtig, dass es bei der UN-Konfe-renz in Durban gelungen ist, eine Allianz mit Afrika, denInselstaaten und den am wenigsten entwickelten Län-dern zu schmieden. Deshalb war es so wichtig, dassauch Brasilien und Mexiko in die gleiche Richtung gear-beitet haben. Diese Allianzen waren das Momentum vonDurban; diese Allianzen haben den Druck auf die gro-ßen Emittenten ausgeübt. Allerdings hat sich auch einesherausgestellt: Die Frage einer Anhebung des EU-Kli-maziels hat bei den Verhandlungen in Durban keineRolle gespielt.Die Frage einer Anhebung des EU-Klimaziels überdas 20-Prozent-Ziel hinaus sollte vielmehr aus binnen-wirtschaftlichen Gründen diskutiert werden. Bliebe esbeim 20-Prozent-Ziel der EU und beim 40-Prozent-ZielDeutschlands, so müssten in Deutschland vorrangig dieSektoren, die nicht vom Emissionshandel erfasst werden,die Emissionseinsparungen erbringen; denn der Emis-sionshandel ist europäisch bestimmt, die anderen Sekto-ren sind es national. Am Ende würden vor allem die pri-vaten Haushalte, das kleine Gewerbe und dieZu Protokoll gegebene Reden
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20820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Michael Kauch
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Verkehrswirtschaft die Lasten zu schultern haben. Wirsagen: Wir brauchen eine Balance der Anstrengungenvon Industrie und privaten Haushalten. Allerdings lägeein europäisches 30-Prozent-Ziel in Kenntnis der übli-chen Verteilung der Anstrengungen in der EU über dendeutschen 40 Prozent. Daher müssen wir eine mittlereLösung innerhalb der Bandbreite zwischen 20 und30 Prozent finden.Dabei müssen Produktionsverlagerungen bei energie-intensiven Branchen vermieden werden. Es ist wichtig,hier einen für alle gangbaren Weg zu finden. Denn Pro-duktionsverlagerungen in Länder, die es mit Klima-schutz nicht ernst meinen, helfen niemandem: der Um-welt nicht und schon gar nicht den Arbeitsplätzen inDeutschland. Deshalb prüfen wir derzeit, ob ambitio-nierte Klimaschutzziele im Rahmen der begrenzten fi-nanziellen und beihilferechtlichen Möglichkeiten mitKompensationen für diejenigen energieintensiven Un-ternehmen verbunden werden können, die im internatio-nalen Wettbewerb stehen.
Im letzten Jahr hatte Die Linke anlässlich der UN-Klimakonferenz in Durban bereits in einem Antraggefordert, die europäischen Klimaschutzziele den Reali-täten anzupassen. Wir waren und sind der Meinung, werbereits fast 16 Prozent Treibhausgase gegenüber 1990eingespart hat, verspielt die Vorreiterrolle im Klima-schutz, wenn als Ziel für 2020 lediglich 20 Prozent an-gepeilt werden. Folglich haben wir 30 Prozent gefor-dert, und wir tun dies auch heute.Warum brauchen wir diese 30 Prozent? Erstens weilsie dem Weltklima nützen. Zweitens weil sie technischund wirtschaftlich erreichbar sind. Drittens weil das einBeitrag wäre, die Blockade bei den UN-Klimaverhand-lungen aufzubrechen. Nicht wer sich als Erster bewegt,hat bei Letzteren verloren, sondern wer sich als Letztesbewegt, wird der Verlierer sein. Schließlich würde das30-Prozent-Ziel, wenn es mit Programmen und Instru-menten unterlegt ist, einen Schub an Innovationenauslösen, nicht nur in erneuerbare Energien, Speicher-systeme und intelligente Netze, sondern auch in Energie-einspartechnologien und alternative Verkehrssysteme.Ein solcher Schub schafft Beschäftigung und spart teureImporte von Kohle und Öl. Das kann im internationalenWettbewerb nur von Vorteil sein.Wie ich bereits gesagt habe, muss ein solches Ziel un-terlegt sein. Darum wiederholen wir auch unsere Forde-rung vom Antrag im letzten Jahr, überschüssige Zertifi-kate im EU-Emissionshandelssystem stillzulegen. DiePreise für die Emissionsberechtigungen dümpeln gegen-wärtig um die 7 Euro je Tonne CO2. Dafür investiertniemand in Energieeffizienz. Dafür bräuchten wir jene20 bis 25 Euro, die für das System ursprünglich voraus-gesagt waren. Die Lenkungswirkung des Emissionshan-dels ist also genauso abgestürzt, wie der CO2-Preis. Wa-rum? Weil deutlich mehr Emissionsrechte am Markt sindals benötigt werden. Dafür gibt es drei Gründe:Erstens hatten und haben wir in weiten Teilen Euro-pas eine Wirtschafts- und Finanzkrise, durch die Emis-sionen zwischenzeitlich rückläufig waren.Zweitens wurden, selbst wenn es gar keine Krise ge-geben hätte, viel zu viele Emissionsrechte verteilt, vorallem an die Industrie.Drittens haben wir noch eine Schwemme an Emissi-onsgutschriften aus CDM-Auslandsprojekten. Vieledavon sind zweifelhafter Herkunft, blähen also das Sys-tem mengenmäßig auf, ohne dass dahinter eine entspre-chende CO2-Minderung im globalen Süden steht.Natürlich drückt in der Tendenz auch ein Mehr anEnergieeffizienz oder erneuerbaren Energien auf denCO2-Preis. Dies dürfte aber nur marginal der Fall sein;denn diese Entwicklung wurde ja bei der Festsetzungder Emissionsobergrenzen weitgehend berücksichtigt.Unter dem Strich bleibt die Feststellung: Wenn dau-erhaft eine solche Menge überschüssige Zertifikate amMarkt ist, warum auch immer, wurde das System falschjustiert. Die Klimaschutzziele waren dann offensichtlichnicht ambitioniert genug. Doch solch niedrige Zertifi-katspreise sind nicht akzeptabel, weil sie Investitionen inEnergieeffizienz hemmen.Darum ist die Linke der Auffassung, dass es notwen-dig ist, jene Menge der Emissionsberechtigungen ummindestens 1,4 Milliarden CO2-Zertifikate zu kürzen, diein der nächsten Handelsperiode versteigert bzw. ander-weitig vergeben werden soll. Denn die Überschüsse sindja leider dahin übertragbar. Andernfalls wird Europadie innovationsfeindlich niedrigen CO2-Preise in dieferne Zukunft schleppen. Die EU-Kommission hat füreine solche Kürzung mehrfach Vorstöße gemacht.Deutschland hat sich hier jedoch stets bedeckt gehaltenoder gar blockiert, wie auch bei der EU-Energieeffi-zienz-Richtlinie.Dennoch gibt es ein ermutigendes Signal aus Brüssel.Klimakommissarin Connie Hedegaard hat beim infor-mellen EU-Umweltministerrat letzte Woche angekün-digt, Änderungen an der EU-Versteigerungsverordnungin Angriff nehmen zu wollen. Deutschland muss dies un-terstützen, und zwar mit dem Ziel, die Emissionsrechtenicht nur eine Weile beiseitezulegen, sondern endgültigstillzulegen. Dieser Prozess muss verbunden werden mitder Verschärfung des europäischen Klimaschutzziels aufminus 30 Prozent bis 2020 gegenüber 1990. Um dies beiallen Mitgliedstaaten durchsetzbar zu machen, haltenwir es für geboten, Solidarität zu üben. Staaten, die be-sonders schlechte Voraussetzungen für die zusätzlichenCO2-Einsparungen haben, sollte unter die Arme gegrif-fen werden, auch und gerade von Deutschland.Konkret sollte die gegenwärtig prosperierendeBundesrepublik seinem Nachbarn im Osten helfen. Denndas Kohleland Polen wird einem ambitionierten gemein-samen Klimaschutzziel nur zustimmen, wenn es Unter-stützung erhält. Diese Unterstützung sollten wir gewäh-ren. Das wäre auch ein Beitrag dazu, Europa wieder zueinem starken Verhandlungspartner bei den UN-Klima-verhandlungen zu machen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20821
(C)
(B)
Die europäische Klimapolitik steht vor einer zentra-
len Weichenstellung. Die Staaten der Europäischen
Union müssen entscheiden, ob sie ihr Klimaschutzziel
für das Jahr 2020 von den bisher vereinbarten 20 Pro-
zent Emissionsminderung auf 30 Prozent anheben. Dazu
ist realistischerweise nur noch bis Ende Juni Zeit. Dann
schließt sich mit dem Ende der dänischen Ratspräsident-
schaft auch das Zeitfenster, um die dringend notwendige
Anhebung des EU-Klimaziels zu beschließen.
Grüne und Umweltverbände haben diesen Schritt seit
Jahren immer wieder gefordert. Nach langem Zögern
hat jetzt auch die Bundesregierung ihren Widerstand ge-
gen eine Anhebung des EU-Klimaziels aufgegeben.
Diese Kursänderung ist zu begrüßen. Besser spät als
nie! Aber es ist schon bitter, welche Chancen durch die
Blockadehaltung der Bundesregierung vertan wurden.
Sie hat über die Jahre viel klimapolitisches Porzellan
zerschlagen und Europas Position bei den Klimaver-
handlungen geschwächt.
2009 in Kopenhagen hätte die Anhebung des EU-Kli-
maziels neue Dynamik in die festgefahrenen Klimaver-
handlungen bringen können. Bundeskanzlerin Merkel
hat das mit ihrem Widerstand verhindert. Auch in Can-
cún 2010 und in Durban 2011 war die Bundesregierung
nicht bereit, das 30-Prozent-Ziel mitzutragen. Dabei
war längst offensichtlich, dass das alte 20-Prozent-Ziel
durch die Wirtschaftskrise jede klimapolitische Legiti-
mation verloren hatte. Das 20-Prozent-Ziel war von An-
fang an nicht übermäßig ehrgeizig. Durch den Rückgang
des Treibhausgasausstoßes in der Wirtschaftskrise von
2008/2009 wurde es endgültig Makulatur. Unter den ge-
änderten Umständen bedeuten 20-Prozent Emissions-
minderung praktisch acht Jahre klimapolitischen Still-
stand. Das ist mit dem Anspruch an Deutschland und die
EU, Vorreiter im Klimaschutz zu sein, nicht vereinbar.
Die Anhebung des Klimaziels auf 30 Prozent ist aus
drei Gründen geboten:
Erstens wäre sie ein wichtiges Signal an die interna-
tionale Gemeinschaft, dass die EU am Kurs einer ehr-
geizigen Klimaschutzpolitik festhält. Das würde die in
Durban angebahnte Allianz zwischen EU und Entwick-
lungsländern stärken und positive Impulse für die Kli-
maverhandlungen in Doha geben.
Zweitens erleichtert es ein 30-Prozent-Ziel der EU
Deutschland, das eigene 40-Prozent-Minderungsziel bis
2020 zu erreichen. Denn ohne zusätzliche Emissionsre-
duktionen bei den vom europäischen Emissionshandel
erfassten Industrien und Kraftwerken wird auch das
deutsche 40-Prozent-Ziel nur schwer zu erreichen sein.
Drittens ist die Verschärfung des EU-Klimaziels un-
verzichtbar, um das angeschlagene Emissionshandels-
system wieder auf die Beine zu bringen. Das lasche
20-Prozent-Ziel hat zu einem gewaltigen Überangebot
an Emissionszertifikaten und einem dramatischen Ein-
bruch des CO2-Preises geführt. Investitionen in Energie-
effizienz und erneuerbare Energien werden dadurch we-
niger attraktiv. Außerdem brechen die Einnahmen aus
der Versteigerung von Emissionszertifikaten weg, aus de-
nen die Bundesregierung die Energiewende in Deutsch-
land bezahlen will. Die Anhebung des EU-Klimaziels ist
der richtige Weg, um diese Fehlentwicklungen zu korri-
gieren.
Nach dem Umdenken der Bundesregierung besteht
jetzt die Chance, dass Deutschland in der EU mit breiter
Unterstützung des Bundestages für das 30-Prozent-Ziel
werben kann, insbesondere bei unseren polnischen
Nachbarn, die sich noch gegen die Anhebung des Klima-
ziels stemmen. Wir haben unseren Antrag bewusst so
formuliert, um eine breite, parteiübergreifende Zustim-
mung möglich zu machen. Lassen Sie uns deshalb ge-
meinsam ein Signal setzen für mehr Klimaschutz in
Deutschland und in der EU.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9175 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 31:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Stüber, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Neue Flusspolitik – Ein „Nationales Rahmen-
konzept für naturnahe Flusslandschaften“
– Drucksache 17/9192 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Ingbert Liebing, Waltraud
Wolff, Horst Meierhofer, Sabine Stüber, Nicole Maisch.
„Wasser ist keine übliche Handelsware, sondern einererbtes Gut, das geschützt, verteidigt und entsprechendbehandelt werden muss.“ Dieser Auszug aus denErwägungsgründen der europäischen Wasserrahmen-richtlinie beschreibt die Überzeugung, aus der herausdie Gemeinschaft ihre integrierte Gewässerschutzpolitikentwickelt hat. Dieser Überzeugung fühlen sich auch dieBundesregierung und die CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion in ihrem Handeln verpflichtet, der Schutz der Um-welt steht weit oben auf ihrer politischen Agenda. Sie istund bleibt weltweit Schrittmacher beim Umweltschutz.Dies gilt nicht nur, aber insbesondere auch für den Be-reich der Wasserpolitik. Deutschland verfügt hier – wiein vielen anderen Bereichen – über ein internationalvorbildliches Umweltschutzniveau.Vor diesem Hintergrund suggeriert nun die FraktionDie Linke im vorliegenden Antrag, es sei anlässlich derUmsetzung der Wasserrahmenrichtlinie vor einem hal-ben Jahr zu einem umfassenden Vertragsverletzungsver-fahren der Europäischen Kommission gegen Deutsch-land gekommen. Die Beschreibung des Vorgangs fällt
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20822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Ingbert Liebing
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kurz und undifferenziert aus, dient aber dennoch alsAufhänger für einen Antrag, der das Engagement derBundesregierung in der Gewässerpolitik kritisieren will.Die verfälschende Darstellung zieht sich von Anfang bisEnde des Antrags hin – immerhin ein roter Faden, dendieser Antrag für sich in Anspruch nehmen kann. Aberwahrlich kein rühmlicher!Bevor ich auf die Forderungen des Antrags im Einzel-nen eingehe, möchte ich zunächst die bereits erwähnteInitiative der Europäischen Kommission richtig einord-nen:In einer Ende September 2011 an Deutschland undandere EU-Mitgliedstaaten versendeten, mit Gründenversehenen Stellungnahme greift die Europäische Kom-mission im Wesentlichen das sogenannte Kostende-ckungsprinzip nach Art. 9 Wasserrahmenrichtlinie auf.Die Europäische Kommission äußert Befürchtungen,Deutschland verschaffe einzelnen WirtschaftsbereichenKostenvorteile – zum Beispiel Gewässerausbau für dieSchifffahrt, Hochwasserschutz, Energieerzeugung durchWasserkraft –, da diese Bereiche kostenlos Wasser-dienstleistungen in Anspruch nähmen.Wie für andere EU-Mitgliedstaaten auch sind inDeutschland nur die Bereiche „Wasserversorgung“ und„Abwasserbeseitigung“ Wasserdienstleistungen, andereBereiche sind Wassernutzungen. Letztere sind inDeutschland ordnungsrechtlich geregelt und müssen ih-rerseits einen angemessenen Beitrag zur Kostendeckungleisten, wenn sie sich verteuernd auf die Wasserdienst-leistungen auswirken.Zusammenfassend geht es hier im Kern um eineRechtsauffassung der Europäischen Kommission, diesich im Bereich des Kostendeckungsprinzips von derRechtsauffassung verschiedener EU-Mitgliedstaatenunterscheidet. Keinesfalls wird das deutsche Umset-zungsverfahren insgesamt bzw. das umgesetzte deutscheSchutzniveau kritisiert. Die Bundesregierung hat ihreRechtsauffassung der Europäischen Kommission am31. Januar 2012 fristgerecht mitgeteilt. Eine Reaktionder Europäischen Kommission lag bis zum 20. April2012 nicht vor.Nun zur Kernforderung des Antrags der Fraktion DieLinke, zur Schaffung eines nationales Rahmenkonzeptsfür naturnahe Flusslandschaften. Diese Forderung rich-tet die Fraktion an den Bund, offensichtlich in Unkennt-nis der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung zwi-schen dem Bund und seinen Ländern. Diese besagtnämlich, dass die Bundesländer für die Bewirtschaf-tungsplanung mit den darin für die Gewässer integrier-ten Maßnahmenprogrammen zuständig sind. Die Be-wirtschaftungspläne sind ein wesentliches Element zurUmsetzung der Wasserrahmenrichtlinie.Deutschland hat der Europäischen Kommission frist-gerecht am 22. März 2010 die Bewirtschaftungspläneinklusive einer Zusammenfassung der Maßnahmenpro-gramme zur Verfügung gestellt. Die Realisierung derProgramme erfolgt durch die Bundesländer. DiesePhase muss bis Ende 2012 abgeschlossen sein. Bewirt-schaftungspläne und Maßnahmenprogramme müssenalle sechs Jahre überprüft und nötigenfalls angepasstsowie aktualisiert werden. Die im Antrag geforderteEvaluierung findet – darauf möchte ich die Linken auf-merksam machen – also bereits statt. Darüber hinausgibt es im Zuge der Umsetzung der Wasserrahmenricht-linie bereits flussgebietsweite Planungen.Gleiches gilt für die Antragsforderung nach einer in-terministeriellen Arbeitsgruppe auf Bundesebene: DieEinsetzung einer solchen ergibt nicht nur vor dem Hin-tergrund der bereits genannten Kompetenzverteilungkeinen Sinn. Die Forderung verkennt auch, dass sich diezuständigen Ministerien auf Bundes- und Länderebenebereits im engen Austausch befinden. Darüber hinauswurden Vertreter interessierter Kreise frühzeitig in dieUmsetzung der Wasserrahmenrichtlinie eingebunden.Dies macht deutlich: Die Wasserrahmenrichtlinie– wie übrigens auch die im Antrag zitierte Hochwasser-risikomanagement-Richtlinie – verlangen bereits heutenach einer intensiven Kooperation aller beteiligten Ak-teure und einer aktiven Beteiligung der Öffentlichkeit.Dem ist die Bundesregierung selbstverständlich umfas-send nachgekommen. Dabei hat sie zugunsten einermöglichst breiten Einbindung der Öffentlichkeit zum Teilinnovative Wege beschritten.Forderungen der Fraktion Die Linke nach einer Be-teiligung der Öffentlichkeit und der Entwicklung neuerBeteiligungsverfahren im Rahmen der deutschen Ge-wässerschutzpolitik sind schlichtweg überflüssig: Dieseexistieren bereits; sie wurden in den relevanten Gesetzenverankert und von der Bundesregierung umgesetzt.Unkenntnis der föderalen Kompetenzverteilung bzw.der allgemein geltenden Rechtslage erklären meiner An-sicht nach auch weitere Forderungen des Antrags:Sie fordern eine bundesweite Regelung für die Ko-ordination der Gefahrenabwehr bei Hochwasserereig-nissen und beim vorbeugenden Hochwasserschutz nachGewässereinzugsgebieten: In Umsetzung der Hochwas-serrisikomanagement-Richtlinie nach § 80 Abs. 2 Was-serhaushaltsgesetz sind Hochwasserrisikomanagement-pläne und der damit einhergehende Hochwasserschutzbereits von den zuständigen Landesbehörden flussge-bietsbezogen zu koordinieren. Hintergrund ist eine Be-stimmung des Grundgesetzes, wonach der Katastro-phenschutz in erster Linie in den Verantwortungsbereichder Länder fällt.Sie fordern ein generelles Verbot von Grünlandum-bruch: Nach § 38 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 Wasserhaushalts-gesetz ist die Umwandlung von Grünland in Ackerlandbereits heute verboten. Darüber hinaus sind nach § 77Wasserhaushaltsgesetz Überschwemmungsgebiete alsRückhalteflächen zu erhalten bzw. frühere Überschwem-mungsgebiete soweit möglich wieder herzustellen.Sie fordern die Gewährleistung einer öffentlichenFinanzierung, die vorrangig auf Synergien zwischendem Hochwasserschutz und dem Erhalt bzw. der Ent-wicklung freifließender Flüsse mit naturnahen Auenausgerichtet ist: Die geltenden finanzverfassungsrecht-lichen Rahmenbedingungen besagen, dass die Finanzie-rungsverantwortung vorrangig bei den Ländern liegt.Zu Protokoll gegebene Reden
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Ingbert Liebing
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Nichtsdestotrotz engagiert sich die Bundesregierung imRahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur undKüstenschutz“ für die Finanzierung des Hochwasser-schutzes. Auch setzt sie sich auf EU-Ebene stets dafürein, dass der Hochwasserschutz in den einschlägigeneuropäischen Förderprogrammen Berücksichtigung fin-det.Sie fordern, an den Grenzflüssen für eine zwischenden Anrainerstaaten abgestimmte Flusspolitik Sorge zutragen: Innerhalb der internationalen Flussgebiete bzw.an den Grenzflüssen wird schon seit langer Zeit zuguns-ten des Gewässerschutzes kooperiert. Die Kooperationfindet Ausdruck in der Gründung internationaler Fluss-gebiets- und Grenzgewässerkommissionen, zum Beispielbei der vor über 60 Jahren geschaffenen InternationalenKommission zum Schutz des Rheins, IKSR.Abschließend möchte auf das im Antrag aufgewor-fene Thema „Forschung“ eingehen. Beispielshaft ver-weise ich auf umfangreiche Arbeiten, die Grundlage desAuenzustandsberichts und des Kartendienstes „Fluss-auen in Deutschland“ waren. Darüber hinaus werdenim Rahmen des Umweltforschungsplans des Bundes-umweltministeriums regelmäßig Vorhaben zur Unter-stützung der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie er-möglicht.Zusammenfassend stelle ich fest: Die Bundesregie-rung setzt sich aktiv ein für die Harmonisierung des Ge-wässerschutzes und die Verbesserung des Zustands derGewässer innerhalb der EU. Dazu dient als zentrales In-strument die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie innationales Recht. Das Herzstück der EU-weit verbindli-chen Richtlinie ist es, bis 2015 einen guten ökologischenund chemischen Zustand bei oberirdischen Gewässernund einen guten quantitativen und chemischen Zustandbeim Grundwasser herzustellen.Zur Realisierung dieses ambitionierten Ziels werdenwir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach Kräftenbeitragen. Den uns vorliegenden Antrag der Linken leh-nen wir ab. Dieser Antrag strotzt vor Unkenntnis, for-dert Dinge, die längst erledigt oder auf den Weggebracht sind, und er verfolgt ein falsches Ziel: Er willneben der Wasserrahmenrichtlinie ein neues Instrumen-tarium schaffen und so vom erfolgreichen Instrumentder Wasserrahmenrichtlinie ablenken. Anstatt über dieErstellung neuer theoretischer Rahmenkonzepte nachzu-denken, setzen wir uns lieber ganz praktisch für eineoptimale Umsetzung bereits beschlossener Konzepteein. Wir verzetteln uns nicht, wir handeln. So leisten wireinen aktiven Beitrag zum Schutz der Umwelt und unter-stützen die Bundesregierung auf nationaler und europäi-scher Ebene bei der Umsetzung der Wasserrahmenricht-linie.
Wasser ist Leben. Ohne Wasser gibt es kein Leben,ohne Wasser ist auch unsere Industriegesellschaft nichtvorstellbar. Die Nutzung unserer Flüsse ist – das wissenwir alle – nicht ohne Konflikte mit dem Ziel des Erhaltsder Flusslandschaften und vor allem der ökologischenFunktionen dieser Flusslandschaften.Die Flüsse und vor allem die Flussauen sind die Le-bensadern unserer Landschaft. Sie sorgen im Naturkreis-lauf für sauberes Trinkwasser, leisten einen wichtigenBeitrag zur Gewässerqualität, sind wichtige Erholungs-räume für den Menschen sowie länderübergreifendeAchsen für den Biotopverbund. Sie sind Wasserstraßenund durch die Wasserkraft Energielieferanten.Mit der Wasserrahmenrichtlinie wurde auf europäi-scher Ebene ein Instrument geschaffen, Gewässer in ih-rer Multifunktionalität zu betrachten und integrierteMaßnahmen zu entwickeln. Nach den Kriterien dieserRichtlinie ist der chemische Zustand unserer Flüsseüberwiegend gut. Hier sind wir auf einem guten Weg.Anders beim ökologischen Zustand: Lediglich 10 Pro-zent der deutschen Oberflächengewässer erreichen ei-nen guten oder sehr guten ökologischen Zustand.Fließgewässer und Auen sind durch Nutzungen wieSchifffahrt, technischen Hochwasserschutz, Wasserkraftund Landwirtschaft vielfach verändert worden. 80 Pro-zent unserer Fließgewässer sind deutlich bis vollständigverändert, nur noch 15 bis 20 Prozent der natürlichenAuen sind erhalten. 83 Prozent aller Biotoptypen derFlüsse und Auen sind gefährdet. Lediglich 5 700 Hektarnaturnahe Hartholzauwälder, entsprechend 1 Prozentdes ursprünglichen Bestandes, sind bundesweit erhaltengeblieben. Feuchtgebiete, die natürlicherweise großeFlächenanteile einnehmen würden, umfassen mit rund10 000 Hektar nur noch circa 2 Prozent der Über-schwemmungsauen und deutlich weniger als 1 Prozentder Altauen. Flüsse und Auen beherbergen in Deutsch-land die größte Artenvielfalt. Zwei Drittel aller bei unsvorkommenden Lebensgemeinschaften sind hier in vie-len verschiedenen, eng verzahnten Biotopen zu Hause.Die Konflikte zwischen Nutzung und Erhalt sind alsonicht gelöst, es gibt demzufolge deutlich sichtbarenHandlungsbedarf.Im Vordergrund muss dabei der Erhalt der ökologi-schen Funktionen stehen. Die Eingriffe des Menschenwirken sich bereits jetzt erheblich aus. Biotope, wie zumBeispiel naturnahe Auen, die bei Überschwemmungenzu einem großräumigen Anstieg des Grundwassers füh-ren, oder Moore, die ebenfalls für einen hohen Grund-wasserstand sorgen, verschwinden allmählich aus unse-rem Landschaftsbild. Als Folgen des Klimawandelswerden in Deutschland die Niederschläge im Winter zu-,im Sommer jedoch abnehmen. Die Hochwasserwahr-scheinlichkeit im Winter und Frühjahr steigt, imSommer wird es häufiger Niedrigwassersituationen ge-ben. Die Binnenschifffahrt wird mit einer Häufung extre-mer Wasserstände zu kämpfen haben. Nachhaltig undkostengünstiger ist es, dem zu begegnen, indem natürli-che Wasserrückhalte wie naturnahe Gewässer, Auwäl-der, naturnahe Auen geschützt und renaturiert werden.Notwendig ist ein neues integriertes Konzept, das so-wohl den Naturschutz als auch die Binnenschifffahrt be-rücksichtigt. Es muss gemeinsam mit den Ländern denErhalt aller noch intakten Gewässer und Auen fördern.Es muss aber vor allem die verschiedenen Fachpolitikenverzahnen. Viele Einzelforderungen drängen sich natür-lich auf: eine Binnenschifffahrt, die stärker an dieZu Protokoll gegebene Reden
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20824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Waltraud Wolff
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Flüsse angepasst ist; eine Landwirtschaft, die die Rück-haltefunktion der Böden erhält, oder aber auch eineRückverlegung von Deichen. Entscheidend ist aber, dassFlüsse als multifunktionale Systeme gesehen werden unddie Politik auch so ausgerichtet ist.Entscheidend ist also, dass die Flusspolitik in der Zu-sammenarbeit der Ressorts und in der Zusammenarbeitvon Bund und Ländern gestaltet wird. Wichtig dafür sinddie Prozesse. Das kann zum Beispiel heißen, die gesetz-lichen Grundlagen bei der Raumplanung dafür zu schaf-fen, dass ein ausgeglichener Wasserhaushalt und derWasserrückhalt in der Fläche stärker als bisher, vor al-lem in vom Klimawandel besonders betroffenen Regio-nen, beachtet wird. Das muss vor allem heißen, dassKonzepte für die einzelnen Flüsse mit einer echten Be-teiligung von Bürgern und Verbänden entwickelt wer-den. So können von Anfang an alle Interessen in dieKonzepte mit einbezogen werden.
Der Antrag der Linken zur Flusspolitik ist ein seltsa-mes Konstrukt: Einerseits befinden sich darin einzelnegute und diskussionswürdige Ansätze. Andererseits be-sticht er durch eine etwas wirre und unsystematische An-einanderreihung merkwürdiger Ansichten auch auf-grund unvollständiger und fehlerhafter Annahmen.Zuerst möchte ich einige Dinge geraderücken: DerAntrag beginnt damit, dass die europäische Gewässer-schutzpolitik angeblich von der Bundesregierung bisheute nicht wirkungsvoll umgesetzt worden ist. Der An-trag begründet dies mit einem von der Kommission imSeptember 2011 eingeleiteten Vertragsverletzungsver-fahren.Ich gehe davon aus, dass Sie damit das Mahnschrei-ben der Kommission meinen, das sich gegen die Ausle-gung des Begriffs Wasserdienstleistungen im deutschenRecht richtet. Hier sind drei Aspekte anzumerken:Erstens. Bei diesem Mahnschreiben selbst handelt essich noch nicht um das eigentliche Vertragsverletzungs-verfahren, sondern lediglich um ein Vorverfahren.Zweitens. Es geht hierbei um einen juristisch höchstumstrittenen Teilbereich, der nicht geeignet ist, eine an-geblich falsche Politik zu belegen.Drittens. Hinter diesem Streit steckt die Kernfrage, inwelcher Konsequenz das Verursacherprinzip verfolgtwird. Und gerade hierauf legen wir als FDP wahrschein-lich den höchsten Wert von allen Parteien.Danach überraschen Sie in Ihrem Antrag mit der Be-hauptung, dass seit dem 19. Jahrhundert der Zustandder Flüsse immer schlechter und schlechter gewordensein soll und diese vorwiegend von Landwirtschaft, In-dustrie und Schifffahrt geprägt seien. Ich bitte Sie: Ge-rade die Linke müsste doch wissen, dass sich beispiels-weise an Elbe und Saale seit der Wiedervereinigung derZustand doch nicht ganz unwesentlich verbessert hat.Dass gerade die Elbe oder andere Flüsse vorwiegendvon Schifffahrt und Industrie geprägt sein sollen, halteich gelinde gesagt für eine maßlose Übertreibung. Set-zen Sie sich doch einmal ein paar Stunden in Dessau andie Elbe. Wenn Sie Glück haben, erwischen Sie vielleichteinmal ein Schiff. Das sieht im Hamburger Hafen definitivanders aus. Aber auch, dass man im Rhein wieder badenkann, ist ein Riesenerfolg, der in den 70er- und 80er-Jah-ren nie und nimmer denkbar gewesen wäre.Jetzt aber noch zu Ihren 27 Forderungspunkten, dieSie katalogartig und ohne inneren Zusammenhang ab-spulen: Richtig ist, dass Sie ein Hochwasserwarnsystemmit bundeseinheitlich verbindlichen Standards fordern.Flüsse machen nun einmal nicht an den LändergrenzenHalt. Dabei übersehen Sie leider nur, dass genau die vonIhnen geforderten Standards in Form von Hochwasser-risikokarten und Hochwassermanagementplänen schonlängst in der Bearbeitung sind. Ein Blick in die Unterla-gen der Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser ausdem Jahr 2010 wird Wunder tun.Dann bieten Sie eine Reihe von Vorschlägen an, dievollkommen unkonkret sind: Beispielsweise fordern Sie,die derzeit diskutierte Klassifizierung der Bundeswas-serstraßen mit den Ländern, der Binnenschifffahrt undTransportlogistik, den Umweltverbänden sowie derSport- und Tourismuswirtschaft abzustimmen. Was solldas? Glauben Sie ernsthaft, die Klassifizierung würde imwillkürlichen Alleingang des Ministeriums erfolgen?Oder auch die Forderung, die Erfordernisse zum Erhaltder biologischen Vielfalt und des vorbeugenden Hoch-wasserschutzes besonders zu berücksichtigen: Selbstver-ständlich hat dies zu erfolgen. Das ist im Koalitionsver-trag in einer ähnlichen Formulierung festgeschrieben.Ich gehe davon aus, dass dies bei allen Maßnahmen ent-sprechende Berücksichtigung findet. Wenn Ihnen gegen-teilige konkrete Punkte bekannt sind, müssen Sie diesenennen. Sonst ist es nicht mehr als eine bloße Worthülse.Sie fordern auch die Entwicklung neuer Beteiligungs-verfahren, die garantieren sollen, dass alle Interessen-vertretungen von vornherein eingebunden werden. Da-bei sprechen Sie explizit von der Einbindung sichbildender Bürgerinitiativen. Mit Verlaub – das ist voll-kommen absurd. Wie stellen Sie sich das vor? Es könntesich vielleicht eine Bürgerinitiative bilden. Diese solldann das Anrecht auf Teilnahme an einem Runden Tischhaben, ohne wahrscheinlich einen Ansprechpartner be-nennen zu können. Vielleicht sind Ihnen einzelne Ent-wicklungen der vergangenen Jahre entgangen. Aberdass beispielsweise an der Donau eine unabhängigeMonitoringgruppe aus Wissenschaft, Gesellschaft, Um-welt- und Wirtschaftsvertretern bereits im Vorfeld vonAusbaumaßnahmen eingesetzt wurde, müsste Ihnen ei-gentlich bekannt sein. Gerade im Umweltbereich hatsich eine Vielzahl unterschiedlichster Beteiligungsfor-men gebildet. Diese Entwicklungen verfolgen wir selbst-verständlich weiter.Auch der Ansatz, wie Sie die Wasser- und Schiff-fahrtsverwaltung in Ihr Rahmenkonzept einbinden wol-len, erscheint mir wenig durchdacht. Die 13 000 Ange-stellten der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung wollenSie ganzheitlich erhalten und ihnen vornehmlich neueAufgaben im Bereich Flussschutz zukommen lassen.Dass grundsätzlich eine Akzentverschiebung erforder-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20825
Horst Meierhofer
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lich war, gestehe ich Ihnen gerne zu. Auch hier habenwir im Koalitionsvertrag verabredet, die Aufgaben derVerwaltung stärker an ökologischen Erfordernissen aus-zurichten. Nur müssen Sie auch bedenken, dass die An-gestellten ausschließlich für Bundeswasserstraßen zu-ständig sind und auch nur sein dürfen. Sofern ich IhrRahmenkonzept richtig verstehe, soll dieses ja geradenicht nur für Bundeswasserstraßen, sondern für alleFlüsse wirken. Abgesehen davon, dass Sie offenkundigeine Mischverwaltung – also ein ähnliches Problem wiebei den Jobcentern – herbeiführen wollen, schaffen Siedamit eine Monsterbehörde voller „Umwelt-Ranger“,ohne in irgendeiner Form die Aufgabenverteilung weiterzu konkretisieren. Das ist schlichtweg nicht durchdacht.Zu guter Letzt fehlt mir in Ihrem Antrag aber auch dieErwähnung von Problemen, die ich dringend für lö-sungsbedürftig halte und mit denen wir uns intensiv aus-einandersetzen: Als Beispiel sei der Streit zwischenBund und Ländern über die Frage, wer für wasserwirt-schaftliche Ausbaumaßnahmen zuständig ist, genannt.Darunter fallen diejenigen Maßnahmen zum Wohle desFlusses, die mehr sind als reine Unterhaltung, also ins-besondere Verbesserungen der Sohlenstruktur, der Strö-mungsdiversität, Tiefen- und Breitenvarianz, Längs- undQuerbänke und einiges mehr. Dieses Problem ist seitüber zehn Jahren ungelöst und führt an unterschiedli-chen Flüssen immer wieder zu Problemen. Hier sehe ichbeispielsweise Handlungsbedarf und auch einiges, wasSie als Opposition politisch hätten einbringen können,ja vielleicht sogar müssen.Ihr Antrag hat einige ernst zu nehmende Anregungen.Leider ist er an manchen Stellen derartig fehlerbehaftetund unsystematisch, dass wir ihn ablehnen müssen.
Der Äquator hat eine Länge von rund 40 000 Kilome-
tern. Die Flüsse bringen es in Deutschland auf rund
127 000 Kilometer Länge. Auch wenn hierbei die klei-
nen Wasserläufe mitgezählt werden, aneinandergereiht
reichen unsere Flüsse dreimal um den Äquator. Das ist
eigentlich unvorstellbar, macht uns aber klar, wie stark
unsere Landschaft durch Fließgewässer geprägt ist.
Flüsse waren schon immer Lebensadern, an denen die
großen Städte entstanden, und schon immer wurden sie
nach den jeweils mächtigsten Wirtschaftsinteressen aus-
gebaut und verändert. Wirklich „zähmen“ lassen sie
sich allerdings nicht.
Oft genug schlagen sie zurück und treten mit reißen-
den Fluten über die Ufer. Wir alle kennen die dramati-
schen Bilder: Hochwasser, das nicht nur immense mate-
rielle Schäden hinterlässt, sondern überdies Mensch und
Tier in Gefahr bringt.
Auch wenn längst bekannt ist, dass Flüsse nicht ein-
fach so beherrschbar sind, wurden sie weiter begradigt,
vertieft, umverlegt und aufgestaut. Dabei gehen Über-
flutungsflächen und Auen verloren, während im Gegen-
zug die Hochwassergefahr steigt. Vom Verlust der Arten-
vielfalt in den Flussauen will ich gar nicht erst sprechen
oder von den wandernden Fischen, die in unseren Flüs-
sen zu Hause sind und die, wenn sie Glück haben und
eine Fischtreppe finden, auch überleben. Deshalb müs-
sen wir das Verständnis, Flüsse vor allem unter wirt-
schaftlichen Aspekten als Wasserstraße zu sehen, end-
gültig korrigieren und um einen umfassenden
Gewässerschutz erweitern.
Wie immer ist Deutschland gut, wenn es um techni-
sche Lösungen geht. Und so gibt es selbstverständlich
Erfolge bei der industriellen und kommunalen Abwas-
serreinigung. Trotzdem sind die Flüsse verseucht. Es ge-
langen viel zu viele Nährstoffe und Pflanzenschutzmittel
aus der Land- und Forstwirtschaft in die Gewässer. Und
so muss es nicht erstaunen, wenn der ökologische Zu-
stand der Flüsse wesentlich schlechter ist als erwartet.
Wer jedoch genau hinschaut, hat ihn genauso erwartet.
Es gibt viele, nicht selten in Konkurrenz stehende In-
teressen und Ansprüche, angefangen von der Binnen-
schifffahrt über die Freizeitschifffahrt und den Touris-
mus, den Gewässer- und Naturschutz, den Hochwasser-
schutz bis hin zur Industrie und Energiegewinnung.
Hinzu kommen die Belange von Fischerei und Landwirt-
schaft, und auch kommunale Gesichtspunkte spielen
eine Rolle.
Sauberes Wasser ist für alle unverzichtbar. Da sind
wir in Mitteleuropa, gemessen an anderen Regionen die-
ser Welt, zwar in einer komfortablen Situation. Noch
gibt es bei uns ausreichend sauberes Wasser. Damit das
so bleibt, soll nach EU-Recht bis 2015 die Wasserrah-
menrichtlinie umgesetzt werden. Das heißt, bis dahin
soll für die europäischen Gewässer ein guter chemischer
und ökologischer Zustand erreicht werden. Deutschland
ist derzeit davon meilenweit entfernt. Da gibt es jede
Menge unerledigte Hausaufgaben, die wir in unserem
Antrag von der Bundesregierung einfordern. Wir brau-
chen eine neue Flusspolitik mit dem Ziel, die Ressource
Wasser zu erhalten. Dazu müssen wir unsere Flussland-
schaften naturnah entwickeln. Um das zu erreichen, sol-
len in einem nationalen Rahmenkonzept ökologische
Eckpunkte festgeschrieben werden, die bundesweit für
alle Flussgebiete gelten. Das bedarf des politischen Wil-
lens und kann auch dann nur gemeinsam mit der Zivilge-
sellschaft und im Einvernehmen mit den verschiedenen
Interessengruppen entwickelt werden. Dafür ist ein brei-
ter gesellschaftlicher Dialog die entscheidende Voraus-
setzung. Den Anstoß muss die Politik geben, und genau
das wollen wir mit dem Antrag erreichen.
Es geht um viel, es geht um gesellschaftliche Partner-
schaft für einen umfassenden Gewässerschutz. Mit der
Elbe wird ein erster Schritt getan, aber es ist nur ein An-
fang. Wir brauchen einen Handlungsrahmen für das
ganze Land. Dann kann auch der gesellschaftliche Dia-
log im ganzen Land beginnen und nicht nur an der Elbe.
Jetzt – wann sonst? – wollen wir endlich Ernst ma-
chen mit der Befreiung unserer Flüsse.
Natürliche und naturnahe Gewässer sind von heraus-ragender Bedeutung für die Erhaltung der biologischenVielfalt. Flüsse, Bäche, Seen, Übergangs- und Küstenge-wässer sind ein riesiger Lebensraum für eine VielzahlZu Protokoll gegebene Reden
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20826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Nicole Maisch
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von Tier- und Pflanzenarten. In einigen Regionen wirdein nicht unwesentlicher Teil des Trinkwassers ausOberflächengewässern gewonnen. Auen und Flussufersind zudem Überflutungsräume, die wesentlich zumSchutz vor Hochwasserschäden beitragen können.Doch der Zustand unserer Gewässer und Flüsse istschlecht. Verbauung und Entwässerung der Flussuferund Auen, die mitunter viel zu hohen Nährstoffeinträgeaus der Landwirtschaft sowie Abwasser- und Abwärme-einleitungen bedrohen die biologische Vielfalt.Die Bundesregierung versagt beim Schutz unsererGewässer und Flusslandschaften. Nicht einmal 20 Pro-zent der Oberflächengewässer in Deutschland werdenbis 2015 einen guten ökologischen Zustand erreichen,wie es die Wasserrahmenrichtline verlangt. Statt aktiv zuwerden und für besseren Gewässerschutz zu sorgen, spe-kuliert die Bundesregierung auf Fristverlängerungen.Dabei wurde Deutschland bereits mehrfach wegen Ver-säumnissen bei der Umsetzung der Wasserrahmenricht-linie von der EU-Kommission ermahnt, unter anderemaufgrund von Fristversäumnissen bei der Festlegungder Bewirtschaftungspläne und jüngst erneut wegen der– nach Auffassung der Kommission – falschen Ausle-gung des Begriffs der Wasserdienstleistungen, die zunicht angemessenen Wassergebühren und zu einer nichtadäquaten Kostendeckung in Deutschland führt. Das istpeinlich!Wir fordern die Bundesregierung auf, die Wasserrah-menrichtlinie endlich konsequent umzusetzen und dafüreine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzuberufen. Hiermüssen insbesondere der Schutz von Gewässerrand-streifen und die Kostendeckung bei allen Wasserdienst-leistungen im Sinne des Verursacherprinzips gewähr-leistet werden. Außerdem müssen die Maßnahmen desGewässerschutzes stärker als bisher in die unterschied-lichen Politikbereiche wie Land- und Verkehrswirt-schaft, Siedlungsentwicklung, Industrie, Energiewirt-schaft und Hochwasserschutz integriert werden.Darüber hinaus fordern wir von der Bundesregierung,endlich das lange angekündigte nationale Fluss- und Au-enprogramm aufzulegen. Überall dort, wo es möglich ist,sollen Auen renaturiert und frei fließenden Flüssen Vor-rang gewährt werden. Dazu sind Deichrückbauten undRücknahmen von Flussbegradigungen notwendig, diesich nicht nur auf hydrologische Maßnahmen beschrän-ken, sondern auch auf die Wiederherstellung der auenty-pischen Vielfalt gerichtet sein müssen. Die Bewirtschaf-tungsauflagen bei Gewässern und ihren Auen, die Teildes europaweiten Schutzgebietssystems Natura 2000sind, bedürfen einer besseren Durchsetzung.Auch eine Novelle des Hochwasserschutzgesetzes istnotwendig, die ein allgemeines Bau- und Nutzungsver-bot der Auen innerhalb eines bestimmten Korridors undEinschränkungen für den Einsatz von Pestiziden undDüngern in Hochwassergebieten enthalten sollte.Auch in der aktuellen Neuordnung der Bundeswas-serstraßen müssen sich die Schwerpunkte Hochwasser-schutz und Auenrenaturierung konsequent spiegeln.Nehmen Sie Gewässerschutz endlich ernst!
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9192 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit offen-
sichtlich einverstanden? – Dann haben wir die Überwei-
sung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 32:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,
Volker Beck , Uwe Kekeritz, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Transparenz im Rohstoffsektor – EU-Vor-
schläge umfassend umsetzen
– Drucksachen 17/8354, 17/8914 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Dr. Sascha Raabe
Harald Leibrecht
Niema Movassat
Ute Koczy
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Jürgen Klimke,
Dr. Sascha Raabe, Joachim Günther, Heike Hänsel, Ute
Koczy.
Am 25. Oktober des vergangenen Jahres hat die EU-Kommission Vorschläge für mehr Transparenz im Roh-stoffsektor gemacht.Diese Transparenzrichtlinie der EU hat dabei zweiZiele. Es geht zunächst darum, kleinen und mittlerenbörsennotierten Gesellschaften den Zugang zu Märktenzu erleichtern, vor allem durch die Streichung der Ver-pflichtung zur Offenlegung von Quartalsberichten.Der vorliegende Antrag der Grünen, der den Anlassfür die heutige Debatte liefert, geht darauf jedoch nichtein. Er beschäftigt sich vielmehr ausschließlich mit demanderen Aspekt der Richtlinie: Es handelt sich dabei umdie Verpflichtung für börsennotierte Unternehmen sowieGroßunternehmen der Rohstoff- und Forstbranche, ihreZahlungen an Regierungen offenzulegen.Ziel dieser Regelung ist es, die Zivilgesellschaft inrohstoffreichen Ländern besser über die Zahlungsströmezu informieren und einem Ausverkauf von Rohstoffenvorzubeugen. Auf der anderen Seite wird schlechter Re-gierungsführung und Korruption in den rohstoffreichenEntwicklungsländern vorgebeugt, wenn bekannt ist, wel-che Einnahmen die Regierungen in diesem Bereich er-zielen.Diese auch und gerade für die Entwicklungspolitikwichtige Zielstellung nutzen Bündnis 90/Die Grünen füreinen eigenen Antrag, in dem sie sich für die Umsetzungder EU-Vorschläge einsetzen und an einigen Punktenauch noch darüber hinausgehen wollen. So sollen die im
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20827
Jürgen Klimke
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Kommissionsvorschlag bestehenden Ausnahmeregelun-gen gestrichen werden. Das betrifft vor allem den Um-gang mit einem Offenlegungsverbot der Empfängerlän-der für solche Zahlungen. In diesem Fall will die EU-Kommission von einer Offenlegung absehen, währenddie Grünen dadurch – sicher nicht ganz zu Unrecht –eine Verwässerung der Schlagkraft des Vorschlages be-fürchten. Andererseits ist schwer vorstellbar, inwieweitman europäische Unternehmen zu einem Rechtsbruch indiesen Staaten anhalten kann.Noch gravierender als die Streichung von Ausnahmenist die im Antrag vorgebrachte Forderung nach einerumfassenden Offenlegung anderer Unternehmensdatenin deren Geschäftsverkehr mit Regierungen. Hierbei be-ziehen Bündnis 90/Die Grünen auch nationale Regelun-gen in ihre Überlegungen zur Ausweitung mit ein. DieseÜberlegungen lehnen wir ab, und sie sind auch derHauptgrund, warum wir dem Antrag trotz guter Ansätzenicht zustimmen können.Auch wir Entwicklungspolitiker der Union halten dieVorschläge der EU-Kommission für entwicklungspoli-tisch zielführend. Wir unterstützen deshalb grundsätz-lich die Umsetzung dieser Vorschläge, die ja mit den Re-gelungen des Dodd-Frank-Act bereits ein Vorbild in denUSA haben.Trotzdem sind bei der Ausgestaltung der Transpa-renzrichtlinie noch einige Fragen offen:Da stellt sich zunächst die Frage der Definition derGröße der von der Regelung betroffenen Unternehmen.Hier spricht die EU zunächst ganz allgemein von „gro-ßen“ Unternehmen. Dazu brauchen wir klarere Anga-ben. Eine weitere Frage betrifft die konkrete Umsetzungder Regelungen: Es soll ja eine projektbezogene Offen-legungspflicht geben – da müsste man klären, wie einesolche Verpflichtung ohne bürokratische Überforderungder Unternehmen umgesetzt werden soll. Schließlichgeht es auch darum, inwieweit europäischen Unterneh-men Wettbewerbsnachteile aus den Regelungen erwach-sen könnten.Es ist klar, dass eine europäische Regelung in diesemBereich einer nationalen Regelung bei weitem vorzuzie-hen ist. Noch besser ist aber eine internationale Rege-lung, bei der verbindliche Standards auch für die immerstärkeren Akteure gerade aus dem asiatischen Raumgelten. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass sichauch die Grünen in ihrem Antrag für globale Standardsim Tranzparenzbereich einsetzen.Die Verantwortung der Unternehmen für die Verbes-serung der Bedingungen in Entwicklungsländern ist in-zwischen allgemein anerkannt. Auch die Unternehmenselbst erkennen sie zunehmend und unterstützen freiwil-lig internationale Übereinkommen wie die Leitlinien derVereinten Nationen oder der OECD zur Unternehmens-verantwortung. Auch eigene, darüber hinausgehendeCSR-Verpflichtungen sowie die Durchführung entwick-lungspolitischer Projekte in den Produktionsländernsind keine Einzelfälle mehr. Auch für dieses Thema Cor-porate Social Responsibility hat die EU grundlegendeVorschläge gemacht, die sich zunehmend vom Konzeptder Freiwilligkeit hin zu einer verpflichtenden Verant-wortung der Unternehmen bewegen. In diesem Zusam-menhang ist auch die Transparenzrichtlinie mit der Zah-lungsoffenlegung zu bewerten.Über diese Aktivitäten auf europäischer Ebene wer-den wir in den kommenden Wochen und Monaten sichernoch häufiger diskutieren. Hier gilt es, die Folgen imPositiven und Negativen gut abzuwägen. Auch wenn wirals Entwicklungspolitiker diese Impulse aus Europagrundsätzlich begrüßen, sehe ich zu den Detailfragennoch viel Erklärungsbedarf. In manchen Fragen gibt esauch Diskussions- und Abstimmungsbedarf zwischenWirtschafts-, Entwicklungs-, Außen- und Menschen-rechtspolitikern.In der ganzen Diskussion darf uns jedoch ein Aspektnicht verloren gehen. Es ist nicht die Hauptaufgabe derWirtschaft, sich als Entwicklungshelfer oder Menschen-rechtsorganisation zu betätigen. Eigentlich sollte es ge-nügen, wenn sich die Unternehmen an die jeweiligenGesetze halten. Das eigentliche Problem besteht darin,dass in vielen Staaten die Gesetze nicht im Sinne der ein-fachen Bürger sind, dass der Regierung die Mittel feh-len, diese Gesetze durchzusetzen, oder dass Korruptiondie Rechtsstaatlichkeit nur auf dem Papier entstehenlässt.Es sind die Regierungen und die staatlichen Insti-tutionen der Entwicklungsländer, die für nachhaltigeVerbesserungen zuständig sind. Hier setzt unsere Ent-wicklungs- und Menschenrechtspolitik deshalb auch zuRecht an.Dieses Bekenntnis zur Verantwortung der Regierun-gen in den rohstoffreichen Ländern kommt mir beim An-trag der Grünen zu kurz. Hier wird alle Verantwortungauf die Unternehmen abgewälzt. Auch die Zielstellungdes Grünen-Antrags, die darin besteht, dass Europä-erinnen und Europäer das Recht haben, zu erfahren, obdie europäischen Unternehmen weltweit fair agieren,zeugt von dieser Haltung. Denn den Schaden durch un-gerechtfertigt geschlossene Verträge und Mangel anTransparenz haben die Menschen in den Entwicklungs-ländern. Hier sollen gerade die Wege eröffnet werden,sich über die Einnahmen der Regierung besser zu infor-mieren, um Korruption und schlechter Regierungsfüh-rung vorzubeugen.Es ist eine Tatsache, dass der Rohstoffreichtum vielerStaaten der Bevölkerung nur wenig zugutekommt undder Entwicklung der Staaten oft nicht förderlich ist. Umdies zu ändern, betreiben wir Entwicklungspolitik – zumBeispiel durch konkrete Projekte zur Verhinderung ille-galen Abbaus, für den Aufbau von Wertschöpfungskettensowie zum Aufbau einer staatlichen Finanzverwaltung.Wir knüpfen unsere Hilfen zudem verstärkt an Verbesse-rungen der Menschenrechtssituation in den Partnerlän-dern und konnten durch diese Konditionierung bereitsErfolge feststellen.Die stärkere Einbeziehung von Unternehmen kanndiese Bemühungen nicht ersetzen. Sie bildet aber einenweiteren ergänzenden Baustein unserer entwicklungs-politischen Arbeit – nicht mehr und nicht weniger.Zu Protokoll gegebene Reden
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20828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
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Transparenz im weltweiten Handel mit Rohstoffen istdie absolute Grundvoraussetzung dafür, dass künftigmehr Menschen in Entwicklungsländern von den Gewin-nen, die erzielt werden, profitieren können. Jährlich wer-den enorme Summen im Rohstoffhandel umgesetzt; zuden Gewinnern dieser Geschäfte zählen aber nur einigewenige. Dabei würde dieses Geld dringend benötigt, umHunger und Armut zu bekämpfen, um Bildungs-, Gesund-heits- und soziale Sicherungssysteme aufzubauen. Es istjenes Paradoxon, das uns unbegreiflich erscheint undwütend macht: Trotz des vorhandenen Rohstoffreichtumsihrer Länder müssen Menschen um ihr tägliches Überle-ben kämpfen.Wo aber bleibt das Geld? Vieles davon versickertnach wie vor in den Taschen korrupter Regierungen undinternational operierender Unternehmen, weil die Zah-lungsflüsse nicht aufgedeckt werden müssen. Ein gutesGeschäft für einige wenige Reiche, die sich ungeniertbedienen, ein schlechtes für die vielen Armen. Sie dürfenallenfalls in den Minen schuften; von dem, was sie dortaus dem Boden holen, haben sie nichts. Und da vieledieser Geschäfte im Dunkeln bleiben, haben die Armenauch kaum eine Chance, ihren gerechten Anteil einzu-fordern.Seit Jahren schon setzt sich die SPD gemeinsam mitder Zivilgesellschaft für mehr Transparenz ein. Es ist einUmdenken angestoßen worden, und selbst die USA ha-ben erkannt, dass etwas passieren muss. Sie haben mitdem Dodd-Frank-Act, mit dem börsennotierte Unter-nehmen verpflichtet werden sollen, die Zahlungsströmezu melden und so nachvollziehbar zu machen, einen sehrguten Aufschlag gemacht. Auch die EU-Kommission hatreagiert und im vergangenen Oktober zwei Richtlinien-vorschläge vorgelegt, die sehr weitgehende Offen-legungspflichten für Unternehmen im Rohstoffsektor be-inhalten. Darin ist vorgesehen, dass Unternehmen ihreZahlungen, die sie im Zusammenhang mit der Gewin-nung von Rohstoffen an Regierungen leisten, offenlegenmüssen. Neben der klassischen fördernden Industrie,also etwa Öl, Gas, Bergbau, betrifft dies auch die holz-gewinnende Industrie. Das ist grundsätzlich klar zu un-terstützen, und daher werden wir auch dem Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen zustimmen, der unterbestimmten Voraussetzungen eine Umsetzung der Richt-linien fordert.So weit, so gut. Allein die Bundesregierung spielt beiden noch laufenden Verhandlungen eine undurchsich-tige Rolle oder, um es auf einen kurzen Nenner zu brin-gen: Beim so wichtigen Thema Transparenz herrscht beider Bundesregierung alles andere als Transparenz. DieUnterrichtung zum aktuellen Verhandlungsstand, diewir in dieser Woche im Ausschuss für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung auf der Tagesord-nung hatten, hat mich jedenfalls einigermaßen ratlosund verärgert zurückgelassen. Während das Entwick-lungsministerium Hü sagt, sagt das federführendeJustizministerium Hott und tritt kräftig auf die Bremse.Dafür hagelt es zu Recht heftige Kritik vonseiten vielerNichtregierungsorganisationen. Nicht umsonst hat derDeutschlandchef der Organisation ONE, Tobias Kahler,die Bundesregierung erst in dieser Woche zum wieder-holten Male aufgefordert, endlich ihren Widerstand ge-gen die Korruptionsbekämpfung in der Rohstoffpolitikaufzugeben.Eigentlich sollen die Verhandlungen über die Richt-linien noch in der dänischen Ratspräsidentschaft bis zurJahresmitte abgeschlossen werden. Ob das gelingt,scheint angesichts der vielen ungeklärten Fragen zwei-felhaft. So ist beispielsweise noch offen, ob es eineWesentlichkeitsgrenze geben soll, also eine festgelegteGrenze des jeweiligen Geschäftsumfangs, unterhalbderer eine Berichtspflicht nicht besteht. Hier wird manaufpassen müssen, dass eine solche Grenze keine Ein-fallstore für Tricksereien – etwa das Splitten eines Ab-schlusses in mehrere kleinere Geschäfte zur Umgehungder Offenlegungspflicht – eröffnet.Ebenfalls keine Einigkeit gibt es bislang darüber, obsich die Berichtspflichten auf einzelne Projekte beziehensollen oder ob nur Gesamtsummen pro Land genanntwerden müssen. Und wohlgemerkt: Die Uneinigkeit indiesem zentralen Punkt besteht nicht nur innerhalb derEU, sondern ganz offensichtlich auch zwischen den be-teiligten Ressorts innerhalb der Bundesregierung. Dabeihandelt es sich hier um eine der entscheidenden Fragen:Wird der Vorschlag der Kommission von einigen Regie-rungen der Mitgliedstaaten so weit aufgeweicht, dass erzum zahnlosen Tiger wird, oder wird er am Ende wirk-lich ein wirksames Instrument zur Bekämpfung vonKorruption und dreckigen Geschäften sein können? Ausunserer Sicht kann es da keine zwei Meinungen geben:Ohne die eindeutige Projektbezogenheit macht dieOffenlegung wenig Sinn. Eine klare Festlegung derBundesregierung – so es sie nicht in Wirklichkeit schongibt; die Töne, die von deutschen Regierungsvertreternin Brüssel angeschlagen werden, klingen jedenfalls ein-deutiger als das, was uns hier in Berlin erzählt wird –wäre dringend angezeigt. Aber leider Fehlanzeige – dasBundesjustizministerium laviert uns gegenüber im Aus-schuss herum und versteckt sich hinter der Aussage,dass es in diesem Punkt auch zum Dodd-Frank-Act nochkeine Ausführungsbestimmungen gibt. Das ist zum einennur die halbe Wahrheit; denn die Dodd-Frank-Regelun-gen sind in puncto Projektbezogenheit bereits recht ein-deutig, und da der US-amerikanische Wertpapier- undBörsenausschuss bei der Formulierung der technischenAusführungsbestimmungen an die Buchstaben des Geset-zes gebunden ist, ist absehbar, dass er die Project-by-Pro-ject-Regelung umsetzen muss. Der Interpretationsspiel-raum ist hier nach Aussagen von Senator Cardin, einemder Urheber von Dodd-Frank, äußerst begrenzt. Würdealso eine EU-Regelung nicht die eindeutige Projektbezo-genheit umfassen, wäre die Industrie demnächst zweiStandards unterworfen. Man kann sich das Chaos, dasdann entsteht, ungefähr ausmalen.Eine Prognose über die Entscheidung der Amerika-ner ist also nicht so schwer, wie es uns die Bundesregie-rung glauben machen will. Aber selbst wenn wir demJustizministerium folgend davon ausgehen, dass es nochder Ausführungsbestimmungen zum Dodd-Frank-Actbedarf, kann man andererseits nur sagen: Dann gehenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20829
Dr. Sascha Raabe
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Sie doch mutig voran und treffen Sie eine eigene Ent-scheidung für eine wirksame und kraftvolle Regelung!Die Bundesregierung scheint – zumindest in Teilen –auf Zeit zu spielen. Sie lässt sich statt von kritischenNichtregierungsorganisationen lieber vom BDI beraten,um mit dem Scheinargument, eine übermäßige Bürokra-tie verhindern zu wollen, eine möglichst weichgespülte,industriefreundliche Fassung der Richtlinie zu bekom-men. Dabei hält sogar der frühere BP-Chef Lord JohnBrowne die Einwände seiner ehemaligen Kollegen, dasseine Umsetzung der Richtlinien für die Unternehmen zukostspielig sei und möglicherweise zu Konkurrenznach-teilen führen könnte, für abwegig. So hat er es in dieserWoche in einem Beitrag für die „Financial Times“ ge-schrieben. Lord Browne – und das ist bemerkenswert –sieht insbesondere die deutsche Regierung in derPflicht. Als einstmals treibende Kraft hinter der Initia-tive für Transparenz in der Rohstoffwirtschaft, EITI, undals, wie er schreibt, „Champion der guten Regierungs-führung“ sollte gerade Deutschland dieses Gesetz un-terstützen. Es werden also international in dieser Fragegroße Erwartungen an die Bundesregierung geknüpft.Bisher hat sie diese Erwartungen leider enttäuscht. Undsolange sie ihre Blockadehaltung nicht ablegt, macht siesich zum Handlanger jener korrupten Regime und skru-pellosen Konzerne, die die Bevölkerung gnadenlos aus-beuten.Rohstoffe dürfen nicht länger Fluch, sondern sie müs-sen Segen für die ärmsten Länder sein.
Es ist auf den ersten Blick schon paradox: Einige derressourcenreichsten Länder der Erde, zahlreiche davonin Subsahara-Afrika, gehören zugleich auch zu denärmsten und am wenigsten entwickelten Ländern welt-weit.Ein geradezu klassisches Beispiel für dieses Phäno-men ist Nigeria: Während in den Böden des Niger-Del-tas Ölvorkommen von schier unvorstellbarer Größeschlummern, gehört die nigerianische Bevölkerung zuden ärmsten der Welt. So liegt das Land beim HumanDevelopment Index weit abgeschlagen auf dem 156. von187 Plätzen.Dieses in der Fachwelt als „Ressourcenfluch“ be-zeichnete Phänomen ist hinreichend beschrieben wor-den. So werden wertvolle natürliche Ressourcen geradein den ärmsten Ländern in besonderem Maße für Bür-gerkriege, Korruption, schlechte Regierungsführungund bewaffnete Konflikte verantwortlich gemacht. Sowird ein Reichtum an Bodenschätzen vom Segen schnellzum Fluch für die gesamte Bevölkerung.Einer der Wege, wie man dieses Phänomen bekämp-fen kann, ist, Transparenz zu schaffen. Denn Transpa-renz ist ein Schlüsselfaktor für gute Regierungsführungund damit auch für nachhaltige Entwicklung.Indem Zahlungen an Regierungen, die von rohstoff-fördernden Unternehmen in den Ländern ihrer Ge-schäftstätigkeit geleistet werden, offengelegt werden,wird transparent gemacht, wie viel eine Regierung ausden natürlichen Bodenschätzen des Landes einnimmt.Dies macht es möglich, eine Regierung gegenüber ihrenBürgern und der Zivilgesellschaft zur Rechenschaft zuziehen. Es können Schlussfolgerungen gezogen werden,ob die Höhe der Einnahmen angemessen erscheint, oderes kann Aufklärung darüber verlangt werden, wofür dieEinnahmen verwendet wurden.Eine international abgestimmte Regelung zur Her-stellung von Transparenz im Bereich der Rohstoffunter-nehmen ist somit auch im Interesse einer nachhaltigenEntwicklungspolitik. Unser Ziel ist, Entwicklungsländerdabei zu unterstützen, Einnahmen aus dem Rohstoffsek-tor rohstoffreicher Entwicklungsländer gezielt für diesoziale und ökonomische Entwicklung dieser Länder zunutzen. Eine Offenlegung der Einnahmen aus dem Roh-stoffsektor durch Rohstoffländer und Unternehmen trägtzur Herstellung von Transparenz und guter Regierungs-führung bei der Rohstoffgewinnung bei und ist ein Kern-ziel der weiterentwickelten Rohstoffstrategie der Bun-desregierung.Anders als im Antrag der Grünen dargestellt, unter-stützt die Bundesregierung aktiv die Vorschläge der EU-Kommission und regt einen Dialog an, wie diese Vor-schläge mit dem Ziel einer effizienten Regelung ohne„Schlupflöcher“ erst verbessert und schließlich reali-siert werden können. Im Zuge dessen hat die Bundesre-gierung bereits im Vorfeld des Vorschlags verschiedenewichtige Hürden aus dem Weg geräumt, welche die ge-wünschte Transparenz im Rohstoffsektor gefährdet hät-ten: So sind beispielsweise Regeln formuliert worden,die übermäßige Bürokratie und damit zusammenhän-gende Kosten verhindern. Ferner wurden aufgrund vonAnregungen der Bundesregierung Aspekte des Daten-schutzes bei der Ausgestaltung des Detaillierungsgradesder Aufschlüsselung berücksichtigt, sodass der Schutzvon Betriebsgeheimnissen gewährleistet sein wird. Einweiterer wichtiger Aspekt zur Verbesserung des Vor-schlags ist die Kohärenz mit anderen Transparenzinitia-tiven, insbesondere EITI und Dodd-Frank. Wichtig füruns ist, dass sowohl die Belastungen der Wirtschaft undderen Interesse am Schutz von Geschäftsgeheimnissenausreichend berücksichtigt werden, als auch das Ziel ei-nes globalen Level-Playing-Field, also gleiche Voraus-setzungen für alle Marktteilnehmer, für die betroffenenUnternehmen beachtet wird.Sie sehen: Um die Vorteile einer umfassenden Trans-parenz im Rohstoffsektor zu gewährleisten, bedarf es ei-ner genauen Betrachtung der zusammengetragenen Vor-schläge.Es ist schließlich festzuhalten, dass die Bemühungenfür die Gestaltung einer transparenten Rohstoffwirtschaftinsbesondere für rohstoffreiche Entwicklungsländer um-fassende Potenziale freisetzen können. Transparenz stellteinen Schlüsselfaktor für gute Regierungsführung darund eröffnet vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten für dieZivilgesellschaft, sodass diese an der Entwicklung ihresLandes konstruktiv teilhaben können.Wie Sie nunmehr vernommen haben müssten, tritt dieBundesregierung keineswegs „bremsend“ auf, wie imAntrag voreilig formuliert wurde. Vielmehr unterstützenZu Protokoll gegebene Reden
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20830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Joachim Günther
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wir die Vorschläge der Kommission und setzen uns dafürein, dass die Bemühungen für mehr Transparenz im Roh-stoffsektor weder von Staaten noch von Unternehmenumgangen werden können und so ihr gesamtes Potenzialzum allseitigen Nutzen entfalten können.Folglich sind die Forderungen im Antrag der Grünenzwar geleitet von gutem Willen, berücksichtigen aberwesentliche Punkte nicht und sind deshalb abzulehnen.
„Die deutsche Großindustrie steckt ihr Terrain imWettrennen um die weltweite Rohstoffversorgung ab:Zehn deutsche Großkonzerne haben sich nun offiziell zueiner Allianz zusammengeschlossen“, stand vor zwei Ta-gen im „Manager Magazin online“ geschrieben. Finan-ziert werden sollen die Beteiligungen an diesem Roh-stofffonds teils durch Eigeninvestitionen, aber auchdurch „außenwirtschaftliche Instrumente des Bundes“,etwa Fördermittel für Industrieansiedlung in Entwick-lungsländern. Der Zugang zu Rohstoffen ist nach Ein-schätzung von Kanzlerin Angela Merkel eine der wich-tigsten Voraussetzungen für weiteren Wohlstand inDeutschland.In diesen Tagen ist einmal mehr die Rohstoffstrategieder Bundesregierung besiegelt worden, die vom Bundes-verband der Deutschen Industrie – BDI – verfasst wor-den war. In dieser im Oktober 2010 veröffentlichtenRohstoffstrategie soll „durch die Schaffung politischer,rechtlicher und institutioneller Rahmenbedingungen einBeitrag zu einer nachhaltigen, international wettbe-werbsfähigen Rohstoffversorgung der deutschen Indus-trie“ geleistet werden. Was hinter den Schlagwörtern„Rohstoffsicherheit“ und „Rohstoffallianz“ steckt, istnichts anderes, als eine vollständige Liberalisierung desHandels zu erwirken, um den Rohstoffhunger der deut-schen Industrie zu stillen. Entwicklungspolitik wird im-mer offensiver für Interessen der deutschen Unterneh-men instrumentalisiert, wie von EntwicklungsministerNiebel massiv propagiert. Nicht um die Entwicklung derLänder des Südens geht es, sondern um den Profit derdeutschen Wirtschaft, denn die Rohstoffstrategie derBundesregierung fordert den Abbau der Exportzölle undumfasst Drohungen gegen Länder des Südens, falls siebei der vollständigen Liberalisierung nicht mitmachen.Die Gewinnung und Vermarktung von Rohstoffen ru-fen vielfach soziale Verwerfungen hervor und sind oftvon Gewalt begleitet, sie erzeugen in den Rohstofflän-dern Konflikt- und Kriegssituationen oder heizen solchean, wie es in der Demokratischen Republik Kongo oderin Nigeria seit vielen Jahren zu beobachten ist. Um Roh-stoffe werden Kriege geführt, wie im Irak, in Afghanis-tan oder in Libyen.Jüngst berichtete die „NZZ“ – 17. April – davon,dass der Rohstoffkonzern Glencore im Kongo Klein-schürfer ausnützt, die Umwelt schädigt und Steuern ver-meidet. In Kolumbien werden Kleinbauern vertriebenund Gewerkschafter bedroht, die sich im KohlentagebauCerrejón für ihre Rechte und den Schutz ihres Landeseinsetzen. Bei diesen und vielzähligen anderen Beispie-len weltweit werden Menschenrechte, Umwelt-, Sozial-und Arbeitsstandards mit Füßen getreten. Dennochschließt die Bundesregierung Freihandelsabkommen mitLändern des Südens ab. Wir fordern die Bundesregie-rung auf, das EU-Freihandelsabkommen mit Peru undKolumbien nicht zu ratifizieren. Die Rohstoffstrategieder Bundesregierung hat eine klare neokoloniale undausbeuterische Agenda.Die Bundesregierung lehnt die hoffnungsvolle Initia-tive Ecuadors ab, zum Schutz des Regenwaldes Yasuniauf die Erschließung von Ölfeldern zu verzichten. DasITT-Projekt ist aber wegweisend, um die zerstörerischeAusbeutung in den Ländern des Südens zu stoppen.Die Grünen unterstützen in ihrem Antrag die Vor-schläge der EU-Kommission für mehr Transparenz imRohstoffsektor. Den Vorschlägen zufolge sollen europäi-sche Konzerne verpflichtet werden, ihre Zahlungen anRegierungen von Rohstoffländern offenzulegen. Ange-sichts der Riesensummen – so werden in Deutschlandpro Jahr Rohstoffe im Wert von circa 140 MilliardenEuro verbraucht –, die durch das Rohstoffgeschäft um-gesetzt werden, bemängeln sie zu Recht, dass zu wenigGeld in die Entwicklung der Länder des Südens inves-tiert wird. Dafür machen sie korrupte Regierungen undIntransparenz in den Ländern verantwortlich und for-dern mehr Kontrolle der Unternehmen und der Rohstoff-länder. Wir halten die Forderungen nach Transparenzfür notwendig, aber bei weitem nicht ausreichend. DieWeigerung der Bundesregierung, auf europäischerEbene die Transparenzregeln für jedes einzelne Roh-stoffprojekt festzuschreiben, ist nicht zu akzeptieren.Wir kritisieren seit langem den Druck der EU beisämtlichen Freihandelsabkommen, Ausfuhrzölle zu sen-ken oder abzuschaffen, die eine wichtige Einnahme-quelle für Rohstoffländer sind. Auch die fehlende Wert-schöpfung in den Rohstoffländern durch massiveKonkurrenz europäischer Konzerne ist ein großes Ent-wicklungshindernis. Bestrebungen lateinamerikanischerStaaten, die Rohstoffindustrie zu renationalisieren, umdamit Sozialprogramme zu finanzieren, wie zum Beispielin Bolivien, Venezuela und jüngst Argentinien, haltenwir deshalb für einen wichtigen Beitrag zur Armutsbe-kämpfung.Auch können sich die Forderungen nach Transparenznicht nur an die Regierungen in den Ländern des Südensrichten, sondern auch an die Industrieländer. Die Ein-flussnahme von Lobbyverbänden der Industrie auf dieeuropäische Handels-, Investitions- und Rohstoffpolitikist ein Skandal und gehört verboten. Die deutsche Bun-desregierung und die EU-Kommission agieren in Han-delsfragen völlig intransparent; deshalb fordern wir seitlangem die Offenlegung von Vertragsentwürfen und einebreite Beteiligung von Zivilgesellschaft.Ein gutes Beispiel hierfür ist die jüngste Kritik desUNO-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nah-rung, Oliver De Schutter, der die Deutsche Bank für ihreGeschäfte mit dem Rohstoff-Indexfonds scharf angegrif-fen hat – „UNO-Experte greift Deutsche Bank an“,Spiegel 24. April 2012. Die Spekulation mit Rohstoffensei verantwortungslos und müsse verboten werden, Nah-rungsmittelspekulation verschärfe Hungersnöte. DeZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20831
Heike Hänsel
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Schutter fordert die Politik zum Handeln; auf die Fi-nanzmärkte müssen stärker direkt reguliert werden. Esreicht nicht aus, nur die Transparenz der Märkte zu er-höhen, auf denen Agrargüter physisch gehandelt wer-den. Ebenso wichtig sei es, Regeln für die Finanzmärktezu schaffen. Die FDP-Blockade gegen eine Finanztrans-aktionsteuer ist hier nochmals klar zu verurteilen.Die Linke lehnt eine Rohstoffpolitik, die Kriege undBürgerkriege, Umweltzerstörung, Menschenrechtsver-letzungen verursacht und vom Geist des Neokolonialis-mus getragen ist, strikt ab. Dafür muss das Konzept derRohstoffpartnerschaften fallen gelassen werden. Men-schenrechte, soziale Mindeststandards und Umwelt-schutz dürfen nicht der Profitgier deutscher Wirtschafts-unternehmen geopfert werden.Wir weisen in diesem Sinne die in den 2011 vorge-stellten verteidigungspolitischen Richtlinien formulierteVorstellung zurück, der Zugang der deutschen Wirt-schaft zu Rohstoffen und ihren Vertriebswegen sei deut-sches Sicherheitsinteresse und im Zweifelsfall militä-risch durchzusetzen.Wir brauchen eine grundsätzlich andere Weltwirt-schaftspolitik, Rohstoffreichtum darf nicht mehr Armutfür die Bevölkerungen der Länder des Südens bedeuten.Entscheidend ist, den Rohstoffverbrauch in den Indus-triestaaten zu senken.
Mich regt das auf: Rohstoffabbau bedeutet viel zuhäufig: Gewalt, Menschenrechtsverletzungen, massiveökologische Schäden, Misswirtschaft und Korruption.Es gelingt zu selten, den Rohstoffreichtum so zu nutzen,dass sich die Lebensverhältnisse der lokalen Bevölke-rung verbessern. Deswegen drängen wir auf eine inter-national gerechte, nachhaltige Rohstoffpolitik, die dieseUngerechtigkeit beendet.Jetzt gibt es eine große Chance, mehr Transparenz imRohstoffsektor zu verankern. Die EU-Kommission hatVorschläge vorgelegt, nach denen Rohstoffunternehmenverpflichtet werden sollen, ihre Zahlungen im Rohstoff-sektor offenzulegen.Mit diesen Vorschlägen geht die Kommission einenrichtigen und wichtigen, einen dringend notwendigenSchritt. Wir wissen: Transparenz ist eine entscheidendeVoraussetzung für den Zugang zu Informationen und fürKorruptionsbekämpfung im Rohstoffsektor. Mit denKommissionvorschlägen steht das Fenster dafür offen.Die Beratung der Kommissionvorlagen läuft – Euro-päisches Parlament und Europäischer Rat setzen sich indiesen Wochen damit auseinander. Und was hören wirvon der Bundesregierung? Sie opponiert, wo sie nurkann. Aus Brüssel erfahren wir, dass Schwarz-Gelb aufdie Bremse tritt, um die EU-Vorschläge zu verwässern.Die Bundesregierung ist gegen eine Offenlegung derZahlungen auf Projektbasis. Die Bundesregierung istgegen eine Offenlegung von Zahlungen an EU-Mitglied-staaten. Ich könnte diese Liste fortführen.Auch der Ende März vorgestellte Berichtsentwurf deszuständigen Berichterstatters im EP, Klaus-HeinerLehne, Mitglied der EVP und damit Ihr Kollege, meinesehr verehrten Damen und Herren aus der Unionsfrak-tion, geht deutlich weiter als das, was die Bundesregie-rung für vertretbar hält. So spricht sich der Lehne-Be-richt etwa für eine Offenlegung auf Projektebene aus.Ich kann in keinster Weise nachvollziehen, wie die Bun-desregierung ihre ablehnende Haltung rechtfertigt. Wirwissen doch alle, dass nur eine umfassende Veröffentli-chung der Zahlungen auf Länder- und Projektebene esParlamentarierinnen und Parlamentariern, der Zivilge-sellschaft und den Bürgerinnen und Bürgern rohstoffrei-cher Länder ermöglicht, ihre Regierungen zu kontrollie-ren und eine angemessene Beteiligung an den Ein-nahmen einzufordern. Ich sage zugespitzt auch: Das Zielmuss sein, den Kleptokraten das Handwerk zu legen.Mit den EU-Vorlagen wird es konkret. Jetzt zeigt sich,wer sich einsetzt für entwicklungsfördernde Maßnah-men. Obwohl die Bundesregierung nicht müde wird, zubetonen, dass auch für sie Transparenz im Rohstoffsek-tor ein wichtiges Anliegen sei, wurde unser Antrag
, in dem wir die EU-Vorschläge
unterstützen, in den Ausschüssen von Schwarz-Gelb ab-gelehnt. Ich fordere substanzielle Politik statt Lippenbe-kenntnisse!Die ewigen Argumente der Bundesregierung gegenumfassende Offenlegung, wie sie uns im Ausschuss vor-getragen wurden – zuletzt gestern –, sind Wettbewerbs-nachteile und Kosten für die Rohstoffunternehmen. Wirwissen, dass diese Argumente nicht greifen. Die Datenwerden sowieso erhoben, sind in der Branche bekannt,und die Veröffentlichung bezöge sich auf Zahlen der Ver-gangenheit, also nach Abschluss des Börsenjahres. Dasheißt: weder Auswirkungen auf die Kostenstruktur nochauf den Wettbewerb. Wenn selbst der ehemalige BP-ChefLord Browne Deutschland öffentlich dazu aufruft, einekonstruktivere Haltung bei der Korruptionsbekämpfungim Rohstoffsektor einzunehmen, wie gestern geschehen,dann frage ich mich schon: Wessen Interessen meinenSie zu vertreten?Mit unserem Antrag „Transparenz im Rohstoffsektor –
mission und fordern die Bundesregierung auf, ihre Blo-ckadehaltung aufzugeben und sich in Brüssel für einenumfassenden Ansatz bei der Offenlegung stark zu ma-chen. Denn freiwillige Maßnahmen reichen nicht aus.Wir Grüne fordern verbindliche Maßnahmen für eineentwicklungsförderliche und faire internationale Roh-stoffpolitik.Noch ist es nicht zu spät. Die Beratungen in Brüssellaufen. Ich möchte die Bundesregierung eindringlichdazu auffordern, die EU-Vorschläge nicht zu blockierenund sich für eine umfassende Offenlegung einzusetzen.Wir stehen vor der einmaligen Chance, jetzt Pflöcke ein-zuschlagen für mehr Transparenz im Rohstoffsektor.Diese Chance müssen wir nutzen.Zu Protokoll gegebene Reden
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20832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
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Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/8914, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/8354 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung
der Linken angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-
Schröter, Sabine Stüber, Ralph Lenkert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Umfassendes Elbekonzept erstellen
– Drucksache 17/9160 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Ulrich Petzold, Waltraud
Wolff, Horst Meierhofer, Sabine Stüber, Stephan Kühn.
„Die Elbe ist eine internationale Wasserstraße undsoll es auch bleiben.“ Dieser Satz des Antrags lässt aufmehr Realitätssinn hoffen als in den vielen vorhergehen-den Anträgen zur Elbe, mit denen wir uns bislang be-schäftigen mussten.Wenn ich dann jedoch den ersten Satz der Begrün-dung lese, muss ich an die alte Weisheit denken: Diehinterhältigste Lüge ist die Auslassung.Der Antrag zitiert in diesem ersten Satz der Begrün-dung die Überschrift des zweiten Anstrichs einer Aus-arbeitung des Umweltbundesamtes mit dem Titel „DieElbe: Schifffahrt und Ökologie im Einklang?“ mitfolgenden Worten: „Der ökologische Zustand der deut-schen Binnenelbe ist in weiten Teilen ‚unbefriedigend‘“.Diese Überschrift geht jedoch weiter, und hier erlaubeich mir auch deshalb weiter zu zitieren: „Er ist damitbesser als der aller anderen großen Bundeswasserstra-ßen, aber bei weitem noch nicht gut genug.“Wenn man zitiert, sollte man also vollständig zitieren:„Der ökologische Zustand der deutschen Binnenelbe istin weiten Teilen ‚unbefriedigend‘. Er ist damit besser alsder aller anderen großen Bundeswasserstraßen, aberbei weitem noch nicht gut genug.“Wer jedoch unbefangen den Antrag der Linken andieser Stelle liest, muss zu der Annahme kommen, dieSituation an der Elbe sei eine einzige Katastrophe, denn„unbefriedigend“ heißt im Volksmund die Note 5 unddamit nicht bestanden.Genau das stimmt aber nicht. In den Ausführungenzur Erläuterung des zitierten Anstrichs heißt es: „Derökologische Zustand der Binnenelbe ist mäßig bis unbe-friedigend. Dies entspricht den Stufen 3 und 4 der fünf-stufigen EG-Klassifikation …“ Das ist wahrlich keinGrund, sich auf den unzweifelhaften Erfolgen auszu-ruhen, aber es ist eben beileibe keine Katastrophe, wieuns der Antrag weismachen will, sondern ein ökologischqualitativer Zustand, wie er an keinem anderen Fluss inDeutschland erreicht wird, der schifffahrtlich genutztwird.Fazit: Der vorliegende Antrag operiert mit Halb-wahrheiten, die dann den gesamten Antrag diskreditie-ren.Der Philosoph Arthur Schnitzler sagt dazu: „Eine so-genannte Halbwahrheit, sie mag sich aufspielen, wie siewill, wird niemals eine ganze Wahrheit werden. Ja, wennwir ihr nur scharf genug ins Auge sehen, so ist sie immereine ganze Lüge gewesen.“Trotzdem will ich mich bemühen, mich objektiv mitdem Antrag auseinanderzusetzen und die Forderungnach einem Elbekonzept zu untersuchen. Deshalb dieerste Frage: Ist die Forderung nach einem umfassendenElbekonzept neu?Wer bei Google in die Suchmaske „Elbekonzept“ ein-gibt, bekommt sofort 183 Einträge dazu angezeigt. Diessind Ausarbeitungen mit sehr unterschiedlichem Niveau.Als Beispiel sei hier das „Konzept für eine nachhaltigeEntwicklung der Region Elbtalaue“ des Instituts fürökologische Wirtschaftsförderung Wuppertal genannt,das bereits aus dem Jahr 1995 stammt. Aber auch Kon-zepte mit ganz gegenläufigen Aussagen finden sich dort.Wenn ich in einem früheren Redebeitrag darüber be-richtet habe, dass für das Ministerium für Landesent-wicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt69 Elbe-Studien evaluiert worden sind, so muss man da-von ausgehen, dass so gut wie jede dieser 69 Studien inein Konzept eingeflossen ist. Dabei gehört das Konzeptdes Wuppertaler Instituts mit seinen 264 Seiten bestimmtzu den umfangreicheren Konzepten mit sehr weitrei-chenden Handlungsempfehlungen.Die Forderung nach einem Elbekonzept ist also bei-leibe nicht neu, sodass ein Neuigkeitswert des Antragsnicht gegeben ist.Warum dann also der Antrag jetzt und in dieserForm?Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt-entwicklung und das Bundesministerium für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit sind im vorigen Jahrübereingekommen, in Absprache mit den Elbanlieger-ländern ein gemeinsam abgestimmtes Konzept für dieElbe zu entwickeln. Denn leider war in den vergangenenLegislaturperioden immer wieder zu beobachten, dassbei Einzelmaßnahmen unterschiedliche Zielvorstellun-gen existierten, die dann in der Folge mühevoll mitei-nander abgestimmt werden mussten. Forderungen desUmweltministeriums überforderten das Verkehrsminis-terium und umgekehrt, da die Ansätze und Zielrichtun-gen verschiedene waren. Dazu kam, dass die unter-schiedlichen Bundesländer ebenfalls mit unterschied-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20833
Ulrich Petzold
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lichen Konzepten an die Nutzung der Elbe herangingen.Während Sachsen-Anhalt sehr viel Wert auf die Schiff-barkeit der Elbe für den Güterschiffsverkehr legte, wardas in Dresden nicht die große Herzensangelegenheit.Während Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Nieder-sachsen das Biosphärenreservat Elbe vorantrieben, warSachsen dabei eher zurückhaltend. Dieses zu überwin-den, war also bereits im vorigen Jahr das Anliegen derBundesregierung. Demzufolge finden seitdem zielfüh-rende Gespräche zwischen den Ministerien des Bundesund der Länder statt, wie zum Beispiel in der vorigenWoche und am 4. Juli wieder. Dieses Bemühen scheintsich bis zur Fraktion der Linken herumgesprochen zuhaben, die nun scheinbar auf den fahrenden Zug auf-springen wollen.Die Gespräche zu einem Elbekonzept sind bisherdurchaus zufriedenstellend gediehen und zeigen mit ers-ten Eckpunkten gute Ergebnisse. So hat man sich alsBeispiel darauf geeinigt: die Unterhaltungsgrundsätzezur Wiederherstellung des Status quo ante 2002 in engerAbstimmung mit den zuständigen Landesbehörden um-zusetzen und weiterzuentwickeln; die sich im Rahmender wasserwirtschaftlichen Unterhaltung ergebendenMöglichkeiten zu ökologischen, ökonomischen und ver-kehrlichen Verbesserungen zu nutzen; ein aktualisiertesStromregelungskonzept für die BundeswasserstraßeElbe zu erarbeiten.Es wurde zu einem hydromorphologischen Maßnah-menkatalog Einigung erzielt, der sich mit den Fragen zueinem Sohlenstabilisierungskonzept, einem Konzept zurDurchgängigkeit im Elbeeinzugsgebiet, dem Hoch-wasserschutz und auch dem Naturschutz unter Betrach-tung auch der Auenentwicklung befasst.Es wird anerkannt, dass die Verantwortlichkeit desBundes für ökologische und wasserwirtschaftlicheBelange künftig über eine Berücksichtigung bei der Er-füllung seiner verkehrlichen Aufgaben hinausgeht.Aus diesen Eckpunkten wird bis zum Herbst eine fun-dierte Diskussionsgrundlage erarbeitet, die nach derPlanung dann auch in der Öffentlichkeit breit diskutiertwerden soll. Der Nachteil aller bisherigen Elbekonzeptewar, dass sie entweder gar nicht öffentlich oder aber nurmit einer kleinen Gruppe diskutiert wurden, möglichstnoch begrenzt auf Gleichgesinnte, wie man an denExpertenlisten unschwer erkennen konnte. Ich finde essehr gut und mutig, dass diese Bundesregierung nichtwieder den Weg der Wunschexperten geht.Sie sehen also, dass der Grundgedanke des Antragssich längst in der Realisierung befindet und somit keineNeuheit darstellt. Lassen Sie mich deshalb einzelneGedanken des Antrags aufgreifen und auf ihren für einElbekonzept verwertbaren Inhalt untersuchen:Da fallen dem Leser Sätze auf wie: „Eine möglichstnatürliche Entwicklung ist für die Elbe und ihre Neben-flüsse zu gewährleisten.“ Wer kann einen solchen Satzablehnen? Doch höchstens die, die unsere Flüsse kana-lisieren wollen – und wer will das schon? Was heißtüberhaupt: „möglichst natürliche Entwicklung“? Wersich diesen Satz genau überlegt, wird zu dem Schlusskommen: Lyrik ohne Aussage.Viel spannender ist da der nächste Satz: „Das bedeu-tet auch, einen Elbe-Saale-Kanal darf es nicht geben.“.Es ist schon verwunderlich, wenn im gleichen Antragder Ausbau und die Nutzung des Elbe-Seitenkanals ge-fordert werden und gleichzeitig ein Saale-Seitenkanalaus Naturschutzgründen verboten werden soll.Ist mit einer solchen Vorfestlegung einem Elbekon-zept wirklich gedient?Wenn wir ein Elbekonzept entwerfen wollen, sollte esnicht bereits Vorfestlegungen von Ergebnissen geben.Die Bundesregierung macht genau dieses mit ihremElbekonzept nicht. Wenn die Linke in ihren Antrag ge-schrieben hätte: „Wir lehnen den Saale-Seitenkanalab“, wäre das durchaus nachvollziehbar gewesen undsteht als Meinungsäußerung jeder Partei zu. Mit derFestlegung: „darf es nicht geben“, enthüllt die Linkeihre Herkunft, indem sie in die alte SED-Rhetorik zu-rückfällt.Wenn dann im Antrag geschrieben wird: „Flusspoli-tik auf Kosten der Ökologie darf es nicht geben“, reibtman sich schon verwundert die Augen über diese weiseund späte Einsicht der Linken. Denn nicht nur für michstellt sich die Frage: Wann ist denn an der Elbe zuletztauf Kosten der Ökologie Missbrauch getrieben worden,und das über Jahrzehnte?Denn erst seit wenigen Jahren wird jährlich der Elbe-badetag festlich begangen. Ich kann mich noch gut erin-nern, dass wir als Kinder in der Elbe gebadet haben,aber spätestens seit 1960 war das nicht mehr möglich –die Elbe war zu verschmutzt. Sie wurde von der DDR im-mer mehr als billiger Abwasserkanal missbraucht. Esfreut mich ja, wenn die Linke sich heute von dieserökologisch katastrophalen Politik des real existierendenSozialismus distanziert, aber die Verantwortung als da-malige Regierungspartei hat sie dafür nie übernommen.Damit erinnert mich die Forderung des Antrags nach ei-ner ökologischen Flusspolitik schon an das Motto „Hal-tet den Dieb!“.So stammen die PCB- und HCH-belasteten Sedi-mente, deren Beobachtung und Beseitigung der Antragfordert, nicht aus irgendeiner grauen Vorzeit, sondern inerster Linie von der DDR-Chemie und von ungeklärtenHaus- und Gewerbeabwässern des DDR-Sozialismus.Dass dieses Problem angegangen werden muss, war derBundesrepublik schon vor dem Zusammenbruch derDDR klar. Deswegen bekamen solche Städte undChemiestandorte wie meine Heimatstadt Wittenbergschon 1988 das Angebot der Finanzierung eines Klär-werks durch die Bundesrepublik, was dann auch ab1990 realisiert wurde.Grotesk wird es, wenn der Antrag fordert, dass, wennkeine Verursacher der chemischen Verschmutzung fest-zustellen sind, die Allgemeinheit für die Kosten der Er-fassung und Beseitigung der Belastungen aufzukommenhat. Seien Sie ehrlich: Wir, aber auch Sie, kennen dieVerursacher.Zu Protokoll gegebene Reden
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20834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Ulrich Petzold
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Die Länder der Bundesrepublik – und hier kann ichfür das Land Sachsen-Anhalt sprechen – haben sich inhervorragender Weise in die Beseitigung dieser Hinter-lassenschaften eingebracht, indem dort seit circa zweiJahren ein Schadstofferfassungs- und -minderungskon-zept läuft:In der sehr schwierigen Situation, dass durch die vie-len Hochwasserereignisse seit der Entstehung derSchadstoffbelastung sich Hotspots der belasteten Sedi-mente in den Flussauen gebildet haben, nehmen dieLandesbetriebe für Altlasten nicht nur die Schäden auf,sondern sind aktiv bei der Entwicklung von Beseiti-gungsstrategien wie zum Beispiel auf den Elb- undMuldewiesen um Dessau. Dabei soll nicht nur die Auf-nahme der Belastung durch Nutzvieh verhindert werden,sondern die Belastung allgemein zurückgeführt werden.Beim Nutzvieh fördert darüber hinaus das Landesamtfür Umweltschutz, LAU, des Landes Sachsen-Anhalt dieEigenprüfung der Viehbestände und ergänzt diesesdurch Stichprobenkontrollen. Es ist erfreulich, dass sichAuffälligkeiten dabei in ganz engen Grenzen halten.Jedoch stimmt es mich nachdenklich, dass selbst beiBiobetrieben Auffälligkeiten festgestellt wurden, dienachweisen, dass nicht in jedem Fall sorgfältig genugmit der Nutzung von Futter von den Flussauenwiesenumgegangen wird.Dass die Kontrolle und Aufsicht in diesem Fall ent-sprechend unseres Föderalismusprinzips bei den Län-dern liegt, ist nicht nur in der Tradition begründet. Nurdie Länder haben fachlich qualifizierte Aufsichtsbehör-den und sind mit ihren Verwaltungen näher am Problem.Auf der anderen Seite ist es richtig und wichtig, dassder Bund die Kosten für die Flussbaumaßnahmen über-nimmt, wie zum Beispiel im Rahmen der Sohlenstabili-sierung. Die qualifizierten Behörden, wie die Wasser-und Schifffahrtsverwaltung, sind nun einmal beim Bundangesiedelt. Aber es wird nicht gegeneinander, sondernkonstruktiv miteinander gearbeitet. Gemeinsam wurdevon Bund, Ländern, Biosphärenreservatsverwaltungund Umweltverbänden ein Sohlenstabilisierungskonzepterarbeitet, was letztendlich einhellige Zustimmung er-fahren hat. Einer weiteren Fahrrinnenvertiefung, wie imAntrag befürchtet, wird damit Einhalt geboten. DieAbstimmung gerade auch mit den Umweltverbändensichert eine breite Unterstützung, der sich auch dieAntragssteller nicht entziehen sollten.Aber nicht nur an dieser Stelle gehen WSV und dieUmweltverbände aufeinander zu. Ein schönes Beispielist auch die ökologisch optimierte Buhne als Knick- undFlutmuldenbuhnen oder auch als Totholzbuhnen. Hiermuss nicht erst, wie im Antrag gefordert, etwas entwi-ckelt werden, sondern hier ist bereits etwas vorhanden,womit die WSV Ost für alle anderen Schifffahrtsverwal-tungen ein Vorbild ist. Und jetzt einmal ganz vorsichtig –sind die Natursteine der Pflasterungen oder Schüttun-gen keine natürlichen Materialien? Wenn Sie also imAntrag fordern, dass als Baumaterialien für Flussbau-werke nur natürliche Materialien verwendet werden sol-len, dann ist die Redensart von der „Steinigung unsererFlüsse“ kaum aufrechtzuerhalten.Einen interessanten Gedanken bringt der Antrag mitseinen Ausführungen zur Nutzung mobiler Kleinstwas-serkraftwerke ein. Inwieweit das jedoch an der Elbenutzbar ist, steht sehr infrage. So schlägt das Unterneh-men selbst in der Elbe nur einen Standort stromaufwärtsvon Dresden vor, da hier die Strömungsbedingungendurch die Felseinengungen die geforderten Parametererreichen. Da eine solche Anlage eine Wassertiefe vonmindestens 2 Metern benötigt, ist die Zahl der nutzbarenStellen in der Elbe bei der angestrebten Fahrrinnentiefevon 1,6 Metern an 340 Tagen im Jahr wohl eher einHinderungsgrund. So kritisch, wie die Naturschutz-verbände jedoch allgemein Laufwasserkraftwerkengegenüberstehen, befürchte ich, auch hier auf einenvehementen Widerstand zu stoßen, und bezweifle, dassselbst auch nur eine Erprobung akzeptiert würde. Alsschnellstfließender Fluss Mitteleuropas scheint mir da-her die Mulde für die Erprobung dieser Technologieeher geeignet zu sein.Positiv bewerten möchte ich auch die grundsätzlicheZustimmung des Antrags zu einer flussverträglichenSchifffahrt. Recht gut den Gegebenheiten der Elbe an-gepasst, verkehren bereits jetzt in merklicher ZahlSchubverbände insbesondere aus der Tschechischen Re-publik. Das seit 2000 existierende Konzept für ein flach-gehendes Elbschiff wurde leider nie umgesetzt, aber mitAlbatros haben wir seit mehreren Jahren einen Linien-verkehr auf der Elbe, der die Bahn integriert. Wir müs-sen jedoch feststellen, dass die Kapazität der Bahntrans-porte nach Hamburg durch den Schienenengpass umHamburg so gut wie ausgereizt ist und Schienenlärminsbesondere im Elbtal nördlich von Dresden ein Pro-blem darstellt. Ein weiterer ökologisch angepassterTransport in den Hamburger Hafen ist nur mit demBinnenschiff ausbaubar. Unverständlich ist dabei, dassdurch die Hafenverwaltung das Binnenschiff systema-tisch wirtschaftlich benachteiligt wird. Solange derUmschlag eines Containers vom Binnenschiff zumHochseeschiff mehr als doppelt so teuer ist wie derUmschlag von allen anderen Verkehrsträgern, ist keinfairer Wettbewerb möglich. Wenn wir jetzt als Bund denHamburger Hafen wieder mit sehr viel Steuermitteln un-terstützen sollen, muss diese ökologische Fehlsteuerungbeseitigt werden.Zusammenfassend kann ich für meine Fraktion nurfeststellen, dass ich mich freue, dass sich auch die Linkein die Erarbeitung eines umfassenden Elbekonzepts kon-struktiv einbringen will. Allerdings ist hierfür schon vie-les geschehen, was uns dieser Antrag als Neues verkau-fen will, aber wir werden natürlich den Antrag gern imAusschuss weiter beraten.
Die Elbe ist durch menschliche Eingriffe geprägt, undsie fließt durch eine menschlich geprägte Kulturland-schaft. Sie ist deutlich verkürzt worden, durch Buhnenund Deiche ist ihr Lauf befestigt worden, ihre Fließge-schwindigkeit hat sich im Laufe der Schiffbarmachungerhöht. Damit einhergegangen ist eine Veränderung derLandschaft und der Lebensräume entlang der Elbe.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20835
Waltraud Wolff
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Das Flussprofil wurde enger. Das bedeutet: Ufer wur-den steiler, weniger Fläche wird bei Hochwasser über-schwemmt, Nebenarme, Kiesbänke und Inseln ver-schwanden. Kurz: Lebensräume haben sich verändert.Trotz der starken Veränderungen für die Schifffahrthat sie in weiten Strecken immer noch den Charakter ei-nes frei fließenden Flusses. Die Elbe besitzt immer nocheinen großen ökologischen Wert. Der Elbebiber hat hiersein Hauptverbreitungsgebiet, die größten zusammen-hängenden Auenwälder Mitteleuropas befinden sich ent-lang der Elbe. Gerade diese Auenwälder sind wichtigerLebensraum, sie sind geprägt durch eine hohe Artenviel-falt. Die Elbe ist trotz der starken Veränderungen ein le-bendiger Fluss geblieben.Die Europäische Wasserrahmenrichtlinie schreibt ei-nen guten ökologischen Zustand mit weitgehender Wie-derherstellung natürlicher Prozesse für das gesamteEinzugsgebiet der Elbe vor. Im Fokus des Regelwerksstehen die integrierte Betrachtung der Fließgewässermitsamt ihren Auen und angrenzenden Feuchtgebietensowie ihren verbundenen Grundwasserleitern. Verstärktwird dieser Entwicklungsanspruch durch das Natura-2000-System der EU. Viele Flüsse sind Bestandteile vonSchutzgebieten nach der Flora-Fauna-Habitat-Richtli-nie und der Vogelschutzrichtlinie.Gerade im Bereich des vorsorgenden Hochwasser-schutzes können auch Maßnahmen zum Einsatz kom-men, die Änderungen der Nutzungen in Überschwem-mungsgebieten mit sich bringen können, etwa beiMaßnahmen zur Reduzierung der Flächenversiegelung,bei der Rückverlegung von Deichen oder Maßnahmen,die zu Beschränkungen landwirtschaftlicher Tätigkeitenund in der Siedlungsentwicklung führen können. Demgegenüber stehen große Vorteile für die Menschen wieder Schutz materieller Werte und damit verbunden derdauerhafte Schutz von Arbeitsplätzen und Wohngebie-ten, die Verminderung finanzieller Schäden durch Hoch-wasser, die größere Rechtssicherheit beim Erwerb vonGrundstücken und beim Versicherungsabschluss sowieder Zugewinn an Lebensqualität durch die Erhaltungund Schaffung naturnaher Gebiete für Erholung undNaturerlebnis für heutige und für kommende Generatio-nen.Der Schutz der Elbe als Naturraum und ihre wirt-schaftliche Nutzung als Bundeswasserstraße schließensich nicht aus. Flüsse haben eine wichtige Bedeutung fürenergiesparenden und umweltverträglichen Gütertrans-port durch die Binnenschifffahrt. Auch die Elbe ist eineWasserstraße. Sie hat im Vergleich der Jahrestonnagen– soweit die Tonnage als Indikator geeignet ist – andererBundeswasserstraßen nur eine untergeordnete Bedeu-tung. Sie hat jedoch relevantes Potenzial als Verkehrs-achse mit unmittelbarer Anbindung an die Hochseehä-fen. Schwer- und Projekttransporte sind weder über dieStraße noch über die Schiene abzuwickeln. Das Poten-zial der Schiene begrenzt sich durch bestehende Eng-pässe in den Knoten und Trassen; sie ist allein nicht inder Lage, die Transporte der Zukunft aufzunehmen.Hinzu kommt das Problem der Lärmbelastung entlangder Gütertrassen.Auf der Elbe sollen weiterhin an den Fluss ange-passte Schiffe fahren. Das steht für mich außer Frage.Außer Frage steht aber auch, dass der ökologische Zu-stand der Flusslandschaft Elbe dabei den Rahmen setzt.Notwendig ist ein Elbekonzept, das den unterschiedli-chen Funktionen der Elbe Rechnung trägt. Sie ist eineWasserstraße, sie ist Lebensraum für viele Arten, sie istErholungsraum. Notwendig ist ein gemeinsames Elbe-konzept von Bund und Ländern, das mit einer echten Be-teiligung von Bürgern und Verbänden entwickelt wird.So können von Anfang an alle Interessen in die Konzeptemit einbezogen werden.
In meiner Funktion als Vorsitzender der parlamentari-schen Gruppe „Frei fließende Flüsse“ habe ich großeSympathie für den Schutz von Flüssen und Auen. Auch dieKoalition aus Union und FDP hat sich im Koalitionsver-trag klar zur Verbesserung der Ökologie und Durchgän-gigkeit der Flüsse bekannt.Beim Lesen Ihres Antrags entsteht der Eindruck, dassdie Koalition eine Flusspolitik auf Kosten der Ökologiebetreibt und anstrebt. Das ist sachlich falsch. Ich kannnur empfehlen, sich anhand der von Umwelt- und Ver-kehrsministerium beschlossenen Eckpunkte des Gesamt-konzepts Elbe ein Bild über die Schwerpunkte der ge-planten Maßnahmen zu machen. Das Konzept betrachtetdabei neben den erforderlichen Maßnahmen zur Auf-rechterhaltung der schifffahrtlichen Nutzung gleichran-gig die Anforderungen an den Gewässer-, Auen- undNaturschutz. Hierzu gehören auch die zu erwartendenAuswirkungen des Klimawandels auf die Elbe.Aufrechterhaltung der schifffahrtlichen Nutzungmeint dabei gerade nicht die Durchführung eines ver-kehrsbedingten Ausbaus oder ähnlicher Schwerstein-griffe in den Fluss, wie sie noch in den vergangenenJahrzehnten erfolgt sind. Vielmehr sind Sohlstabilisie-rungskonzepte oder ähnliche Maßnahmen erforderlich,die nicht nur Vorteile für die Umwelt, sondern auch fürden Verkehr mit sich bringen. Schließlich ist das Binnen-schiff als solches auch eines der umweltfreundlichstenTransportmittel. Darum sollte man nicht nur Schlauch-und Luftkissenboote im Blick haben, wenn es um die Be-lange der Elbe geht. Das Elbehochwasser von 2002 hatauch den Schiffsverkehr erschwert, sodass nicht nur dieökologischen Schäden, sondern ebenso die dadurch be-dingten Verkehrsprobleme umweltverträglicher Lösun-gen harren.Insofern ist die von der Koalition ergriffene Initiativezur Erstellung eines Gesamtkonzepts zur Elbe seit lan-gem überfällig und im Interesse aller Beteiligten. Manmuss sich aber auch darüber klar werden, dass dieZiele, die wir im Gesamtkonzept verfolgen, nicht von ei-nem auf den anderen Tag erreicht werden können.Durchgängigkeit, Auenschutz, Naturschutz, Sohlstabili-sierung und die Nutzung der Unterhaltungsmöglichkei-ten zur Verbesserung der ökonomischen, ökologischenund verkehrlichen Belange sind große Aufgaben. Diedafür erforderliche Koordinierung zwischen Bundes-und Landesbehörden und anderen Beteiligten ist an-Zu Protokoll gegebene Reden
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20836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
Horst Meierhofer
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spruchsvoll genug. Insofern geht mir Ihr Ansatz, in dieseKoordinierung gleichzeitig die Nachbarstaaten einzu-binden, zu weit. Wenn man sich die tschechischen Plänemit der von der FDP abgelehnten Staustufe in Decin be-trachtet, wird klar, dass zwischen Deutschland undTschechien große Differenzen über die Prioritäten in derFlusspolitik bestehen. Wenn man diese Differenzen demGesamtkonzept aufbürdet, verlangsamt man das eigeneVorankommen oder hält schlimmstenfalls den Prozessganz auf. Ich halte deshalb den Vorschlag der Linken andieser Stelle nicht für sachgerecht.Auch an einigen anderen Stellen wirft der Antragmehr Fragen auf als er tatsächlich löst. Ihr Vorschlagzur Einrichtung eines Fonds zur Analyse der Dioxinbe-lastung tierischer Produkte, die auf flussnahen Flächenproduziert werden, halte ich zwar für eine nette Idee. Ichsehe aber bei dieser Frage keine Verantwortlichkeit desBundes, sondern eine der Länder. Auch zur Finanzie-rungsstruktur, zum Umfang, zur Organisationsform undzu weiteren Fragen beziehen Sie keine Stellung.Des Weiteren halte ich auch die von Ihnen ange-strebte Förderung von flussangepassten Schiffstypennicht für die Aufgabe der Politik. Diese im Interesse derBranche stehende Fortentwicklung ist zwar sinnvoll undrichtig, aber verdient dennoch keine staatliche Förde-rung. Solide Haushaltspolitik kann man nicht verfolgen,wenn man immer wieder versucht, jede erdenklicheBranche mit Subventionen aufzupäppeln. Aus welchemGrund die Schifffahrt das nicht selbst leisten soll, er-schließt sich mir nicht. Wir wollen gerade nicht mit ge-öffnetem Füllhorn das Geld verschleudern, bis die unsallen bekannten Haushaltslöcher zu saarländischenoder berlinerischen Verhältnissen führen, wo marodeVerwaltungen nicht einmal mehr Mittel für die notwen-digsten staatlichen Aufgaben haben.Es freut mich, dass Sie es als gutes Zeichen anerken-nen, dass in unserem Gesamtkonzept die Elbe ab Lauen-burg nicht weiter ausgebaut werden soll. Dass Sie den-noch jegliche Flussbettvertiefung auch im Bereich desHamburger Hafens ablehnen, halten wir für nicht sach-gerecht. Es handelt sich hier um einen globalen Wirt-schafts- und Verkehrsknotenpunkt, wo zwar jede Aus-baumaßnahme genauestens abgewogen werden muss,Absolutheitsansprüche jedoch fehl am Platz sind.Insgesamt sind wir mit dem Gesamtkonzept auf einemsehr guten Weg. Ihr Antrag hat helle Momente, teilt dieWelt dennoch in Gut und Böse ein und wird den Realitä-ten dabei nicht immer gerecht. Deshalb können wir demAntrag nicht zustimmen.
Sie erinnern sich noch an das große Elbehochwasserim Sommer 2002? Dresden – die Altstadt stand unterWasser, die Semperoper war überschwemmt. OderGrimma – ganze Häuser wurden vom Wasser wegge-spült. Seitdem ist klar, dass hier die Politik gefragt ist.Ein Flusskonzept für die Elbe, davon war schon 2005die Rede.Das alles ist jetzt Jahre her, und wir haben immernoch kein Konzept für die Elbe. Im Sommer 2011 hat dieBundesregierung zumindest ein Eckpunktepapier vorge-legt. Sie will so den veränderten Bedingungen Rechnungtragen, seien es die Auswirkungen des Klimawandelsoder rechtliche Vorgaben der Europäischen Union zumGewässerschutz. Dazu muss die Elbe von der Quelle biszur Mündung und mit all ihren Nebenflüssen betrachtetwerden. Das bedeutet in der Konsequenz, die Elbe nichtweiter auszubauen, sondern naturnah zu entwickeln.Nur so kann ein guter ökologischer Zustand des Flusseserreicht werden. Dazu verpflichtet uns auch die europäi-sche Wasserrahmenrichtlinie. Doch ich denke, unsereeigene Verantwortung für die Umwelt und den Natur-reichtum unserer Landschaften ist uns genauso Ver-pflichtung.Trotz ständiger Eingriffe ist die Elbe heute noch überweite Strecken einer der wenigen naturnahen Flüsse inDeutschland und prägt die Kulturlandschaft in ihremEinzugsbereich.Auch wenn es noch kein Gesamtkonzept für die Elbegibt, ist die gesellschaftliche Debatte zu den verschiede-nen Nutzungsansprüchen längst in vollem Gang. ZumBeispiel verändert sich seit einigen Jahren der Schiffs-verkehr auf der Elbe. Das gesamte Transportaufkommenist gesunken und nimmt weiterhin ab. Dafür sind nunmehr und mehr Schwer- und Sondertransporte auf demFluss unterwegs, und auch der Wassertourismus wächstund gewinnt zunehmend an wirtschaftlicher Bedeutung.Ob ein guter ökologischer Gewässerzustand, ein effi-zienter Hochwasserschutz oder ein attraktiver Wasser-tourismus, all das ist nur mit einer naturnahen Elbe zuerreichen. Das strategische Ziel muss daher sein: dieEntwicklung der Elbe als freifließender Fluss in seinemEinzugsgebiet und mit seinen Nebenflüssen und angren-zenden Lebensräumen. So kann auch der Artenreichtumder Elbauen erhalten werden und sich weiterentwickeln.Alles andere ist langfristig weder ökologisch noch wirt-schaftlich sinnvoll. Das alles ist seit Jahren bekannt undwird immer wieder unter verschiedenen Fragestellun-gen auch wissenschaftlich belegt.Von Tschechien bis nach Hamburg gibt es etliche Nut-zungsinteressen. Die Liste der Ansprüche ist lang unddie Konkurrenz manchmal groß: Von der Binnenschiff-fahrt über den Hochwasserschutz, den Gewässer- undNaturschutz zum Tourismus und zu der Industrie bis hinzur Energiegewinnung. Hinzu kommen die Bedürfnisseder Fischerei sowie der Land- und Forstwirtschaft, undauch kommunale Aspekte spielen eine Rolle.Genau da liegt das Problem, aber auch eine Chance:Wir brauchen nicht nur ein Konzept zu Entwicklungs-maßnahmen für einen naturnahen Elbraum. Nein, wirbrauchen, damit das kein Sturm im Wasserglas wird,eine breite gesellschaftliche Akzeptanz, und das in allenAnrainerländern.Das bedeutet Umdenken. Andere Wege zu suchen, istimmer ein hartes Stück Arbeit. Auch wenn das Ziel klarist, braucht man dazu Partnerschaften, Kooperation undZeit. Akzeptanz ist die Voraussetzung für eine naturnaheZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20837
Sabine Stüber
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Flusslandschaft Elbe. Dafür müssen wir werben, indemalle Interessen gehört und beraten werden, um gemein-same Lösungen zu finden. Das betrifft die ökologischen,wirtschaftlichen und sozialen Interessen gleichermaßenund ist ein Grundanliegen in unserem Antrag für ein um-fassendes Elbekonzept. Wir wollen, dass aus den Eck-punkten für ein Gesamtkonzept Elbe auch ein umfassen-des Konzept für die gesamte Elbe wird mit dem Ziel,diesen wunderbaren Fluss mit seinen Landschaften sonaturnah wie möglich zu entwickeln.Das geht nur länderübergreifend und grenzüber-schreitend und vor allem gemeinsam mit allen Nutzernder Elbe.
Die Debatte zum Elbekonzept kommt zum richtigen
Zeitpunkt. Im vergangenen Sommer haben die Parla-
mentarischen Staatssekretäre Enak Ferlemann und
Katherina Reiche endlich die Erarbeitung eines Ge-
samtkonzepts Elbe angekündigt und ein Eckpunktepa-
pier vorgelegt. Ein solches Konzept ist lange überfäl-
lig und wird von unserer Fraktion schon seit Jahren
gefordert. Doch bei der Ankündigung ist es bisher ge-
blieben. Die für Sommer 2011 anvisierten Gespräche
zwischen den Umweltverbänden, Kirchen, Verbänden
der Binnenschifffahrt und des Tourismus mit Bund,
Ländern und Kommunen hat es bisher nicht gegeben.
Der Prozess steht still. Auf Anfragen, wie es jetzt kon-
kret weitergeht, gibt es keine Antwort.
Wie groß das Bedürfnis der einzelnen Interessengrup-
pen – sei es aus Wirtschaft oder der Umwelt –, ins Ge-
spräch zu kommen, ist, hat unsere Elbekonferenz mit fast
100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern am 16. April in
Magdeburg gezeigt. In der Diskussion wurden drei
Dinge deutlich:
Erstens. Die Wirtschaft hat sich auf die schwanken-
den Wasserstände der Elbe bereits eingestellt und plant
ihre Transporte entsprechend.
Zweitens. Im Hinblick auf die Transportkapazitäten
hat der Ausbau der Eisenbahninfrastruktur wesentlich
höhere Bedeutung.
Drittens. Die Binnenschifffahrt wird in Zukunft nicht
an Bedeutung zunehmen, sondern eher die Nische der
Sonder- und Schwertransporte füllen.
Das Gesamtkonzept muss jetzt weiter vorangebracht
werden, bevor jedes Jahr mehr und mehr Steuergelder in
Baumaßnahmen zur Schiffbarkeit investiert werden. Al-
lein 2012 sollen in die Unterhaltung der Infrastruktur
sowie für Um-, Aus- und Neubau der Anlagen und Ob-
jekte an der Elbe 24 Millionen Euro investiert werden.
Die Baumaßnahmen haben es bisher weder geschafft,
eine verlässliche Fahrrinnentiefe herzustellen, noch,
mehr Verkehr auf die Elbe zu locken. Seit 1997 wurde
das Ziel einer ganzjährigen Fahrrinnentiefe von
1,60 Meter auf allen Elbestrecken nur 2002 und 2010
erreicht. Allein 2011 wurde die angestrebte Mindesttiefe
beispielsweise an der Elbestrecke 4 zwischen Elster-
und Saalemündung an 116 Tagen unterschritten. Ent-
sprechend niedrig sind auch die Transportzahlen für die
Elbe: Im letzten Jahr wurden auf der Stadtstrecke Mag-
deburg beispielsweise nur 0,8 Millionen Tonnen Güter
transportiert. Statt einen tatsächlichen Nutzen zu haben,
greifen die Baumaßnahmen stark in den Wasserhaushalt
der Elbauen ein und gefährden das empfindliche Öko-
system. Hier werden auch in diesem Jahr wieder Tatsa-
chen geschaffen, wird das Gesamtkonzept Elbe ver-
schleppt und womöglich an anderer Stelle hintertrieben.
Als Beispiel hierfür seien nur die Pläne der EU-Kom-
mission genannt, die Elbe in die Liste der Kernnetzkor-
ridore aufzunehmen und einen entsprechenden Ausbau
zwischen Hamburg–Dresden–Paradubice vorzusehen.
Staatssekretär Enak Ferlemann behauptet, die Bundes-
regierung wäre an dem Vorschlag nicht beteiligt gewe-
sen. Doch aus dem EU-Parlament wissen wir, dass bei
derartigen Vorschlägen die Mitgliedstaaten die Projekt-
listen mindestens über ein IT-System mitarbeiten.
Viele Punkte im Antrag sind richtig: Bund, Länder,
Kommunen müssen mit den Verbänden und den zivilge-
sellschaftlich aktiven Initiativen vor Ort an einen Tisch.
Die ökologische Durchgängigkeit muss verbessert wer-
den, Hochwasserschutz darf den Fluss nicht weiter ein-
engen, sondern muss ihm mehr Raum geben. Die Aus-
wirkungen des Klimawandels müssen im Gesamtkonzept
Elbe Berücksichtigung finden. Die Staustufe Decin muss
ebenso wie vom Freistaat Sachsen auch von der Bundes-
regierung abgelehnt werden. Die Priorität muss beim
Ausbau der Schieneninfrastruktur liegen. Selbst in
Tschechien wird dem Ausbau der Schiene im Hinblick
auf die Transportkapazitäten eine wesentlich höhere Be-
deutung beigemessen. All diese Punkte sind Teil unseres
Antrags „Elberaum entwickeln – Nachhaltig, zukunfts-
fähig und naturverträglich“, Drucksache 17/4554, den
wir bereits im letzten Jahr eingereicht haben. Inwiefern
allerdings die Unterhaltungsmaßnahmen tatsächlich na-
turnah erfolgen können, bleibt zu bezweifeln. Denn die-
ser Spagat wird nicht immer funktionieren: Schotterung
bleibt Schotterung. Das heißt für uns Grüne weiterhin:
Sämtliche Baumaßnahmen müssen hinsichtlich ihrer
Auswirkungen auf Natur und Umwelt überprüft werden
und bei negativen Folgen konsequent unterbleiben. Nur
so kann die einzigartige und wertvolle Natur- und Kul-
turlandschaft Elbe erhalten werden, und nur so können
ihre Potenziale, zum Beispiel beim naturverträglichen
Tourismus, weiter ausgebaut werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9160 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Damit sind wir vollkommen überraschend am Schluss
unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages ein auf morgen, Freitag, den 27. April 2012,
9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe.