Protokoll:
17175

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 175

  • date_rangeDatum: 26. April 2012

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:45 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/175 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 175. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Wolfgang Börnsen (Bönstrup) . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 21 b und d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Begrüßung der Parlamentspräsidentin Litau- ens, Frau Irena Degutienė . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuausrichtung der Pfle- geversicherung (Pflege-Neuausrichtungs- Gesetz – PNG) (Drucksache 17/9369) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Kathrin Senger- Schäfer, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Pflege tatsächlich neu aus- richten – Ein Leben in Würde ermögli- chen (Drucksache 17/9393) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem An- trag der Abgeordneten Hilde Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ein- führen – Chancen zu nötigen Verände- rungen nutzen (Drucksachen 17/2480, 17/7082) . . . . . . . Daniel Bahr, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Willi Zylajew (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Yvonne Ploetz, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Hartz-IV-Sonderregelung für unter 25-Jährige abschaffen (Drucksache 17/9070) . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungseinschränkungen im 20603 A 20603 B 20604 B 20604 B 20604 D 20604 D 20605 A 20605 A 20605 B 20607 B 20609 A 20609 C 20611 A 20612 C 20614 B 20615 C 20617 A 20620 A 20620 D 20621 D 20623 B 20624 D 20626 C Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 Zwölften Buch Sozialgesetzbuch ab- schaffen – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte der Arbeitsuchenden stär- ken – Sanktionen aussetzen (Drucksachen 17/5174, 17/3207, 17/6391) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Yvonne Ploetz (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . . . Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 40: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (Drucksache 17/9370) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur finanziellen Beteiligung am Eu- ropäischen Stabilitätsmechanismus (ESM- Finanzierungsgesetz – ESMFinG) (Drucksache 17/9371) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Bundesschulden- wesengesetzes (Drucksache 17/9372) . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanis- mus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist (Drucksache 17/9373) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Vorschlag der EU-Kommission zum Klimaschutz im Kraftstoffbereich un- terstützen (Drucksache 17/9404) . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Markus Kurth, Daniela Wagner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Barrieren abbauen – Mobilität und Wohnen für alle (Drucksache 17/9406) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: b) Antrag der Abgeordneten Klaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund und der Fraktion der FDP: Rechtssicherheit beim Zugang zu einem Basiskonto schaffen (Drucksache 17/9398) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Cornelia Behm, Ute Koczy, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Verantwortung für die entwicklungspolitische Dimen- sion der EU-Fischereipolitik überneh- men (Drucksache 17/9399) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 41: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Ar- beitszeit von selbständigen Kraftfah- rern (Drucksachen 17/8988; 17/9258) . . . . . . . 20626 D 20627 A 20628 C 20629 A 20630 A 20631 C 20631 D 20632 B 20633 A 20633 D 20635 D 20637 B 20638 B 20639 C 20640 D 20641 B 20643 C 20644 D 20645 B 20647 A, B 20656 D, 20659 A 20647 C 20647 D 20647 D 20648 A 20648 A 20648 A 20648 B 20648 C 20648 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 III b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Euro- just-Gesetzes (Drucksachen 17/8728; 17/9434) . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung: Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bun- destages hier: Stärkung der Rechte kommuna- ler Spitzenverbände im Gesetzgebungs- verfahren (Änderung § 69 Absatz 5, § 70 GO-BT) (Drucksache 17/9387) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Anpassung der Marktprämie – Mitnahmeeffekte streichen (Drucksache 17/9409) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 1: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Auswirkungen des deutsch- schweizerischen Steuerabkommens auf die grenzüberschreitende Steuerhinterziehung Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Norbert Walter-Borjans, Minister (Nordrhein-Westfalen) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bun- deshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2012 (Nachtragshaushaltsgesetz 2012) (Drucksache 17/9040) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Fraktion der SPD: Neurege- lung der elterlichen Sorge bei nicht ver- heirateten Eltern (Drucksache 17/8601) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Dr. Diether Dehm, Heidrun Dittrich, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Neuregelung des Sorgerechts für nicht miteinander verheiratete El- tern (Drucksache 17/9402) . . . . . . . . . . . . . . . Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Opera- tion Atalanta zur Bekämpfung der Pirate- rie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Verein- ten Nationen (VN) von 1982 und der Reso- lutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 20649 A 20649 B 20649 C 20649 C 20649 C 20651 A 20652 C 20653 C 20655 B 20661 B 20663 A 20666 B 20667 D 20668 D 20670 A 20671 C 20673 A 20674 C 20676 A 20676 B 20678 B 20680 A 20681 B 20681 D 20682 C 20683 C 20685 A 20686 A 20687 D 20689 C 20690 C 20692 A 20692 A 20692 B 20693 C 20695 B 20696 C 20698 A 20699 B 20700 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. De- zember 2008, 1897 (2009) vom 30. Novem- ber 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. November 2011 und nachfolgender Resolutionen des Si- cherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/ 437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des Rates der EU vom 23. März 2012 (Drucksache 17/9339) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Schünemann, Minister (Niedersachsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Hochschulen auf das Studierendenhochplateau vorberei- ten – Allen Studienberechtigten die Chance auf einen Studienplatz geben (Drucksache 17/9173) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Agnes Alpers, Dr. Rosemarie Hein, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bologna-Prozess – Umsteuern für ein besseres Studium und offene Hochschulen (Drucksache 17/9197) . . . . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Klaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für eine Sicherung der betrieblichen Al- tersversorgung in Deutschland im Zusam- menhang mit der Überprüfung des EU- Rahmens für die Vorsorgesysteme in den Mitgliedstaaten (Drucksache 17/9394) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Konversion gestalten – Kommunen stärken (Drucksache 17/9060) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, Britta Haßelmann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Konver- sion – Zwischen Verwertungsdruck und nachhaltigen Konzepten (Drucksache 17/9405) . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Remmers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 20702 A 20702 B 20703 C 20704 A 20705 A 20706 C 20707 B 20708 A 20709 B 20710 B 20711 B 20711 C 20712 D 20714 A 20714 A 20714 B 20715 C 20717 A 20718 C 20719 C 20720 D 20722 A 20723 B 20724 A 20724 A 20725 B 20726 A 20726 D 20727 C 20728 B 20729 C 20730 B 20730 C 20730 D 20731 D 20732 D 20734 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 V Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Brackmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Volker Kauder, Ute Granold, Erika Steinbach, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Serkan Tören, Pascal Kober, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Fortbe- stand des Klosters Mor Gabriel sicherstel- len (Drucksache 17/9185) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Große Anfrage der Abgeordneten Uta Zapf, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Deutsche nukleare Abrüstungspolitik wei- terentwickeln – Deutschlands Rolle in der Nichtverbreitung stärken und weiterentwi- ckeln (Drucksachen 17/7226, 17/8843) . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robert Hochbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Begleitung der Reform der Bun- deswehr (Bundeswehrreform-Begleitgesetz – BwRefBeglG) (Drucksache 17/9340) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Rudolf Körper (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Feste Fehmarnbeltquerung auf den Prüfstand – Ausstieg aus dem Staats- vertrag mit dem Königreich Dänemark verhandeln (Drucksache 17/8912) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Chancen und Risiken ergebnisoffen bewerten – Verhand- lungen mit dem Königreich Dänemark über den Ausstieg aus dem Staatsvertrag über den Bau einer festen Fehmarnbelt- querung aufnehmen (Drucksache 17/9407) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . Ingo Gädechens (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset- zes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Drucksache 17/9341) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20734 D 20735 D 20737 B 20738 A 20738 C 20738 D 20740 A 20741 C 20742 C 20743 B 20744 D 20745 C 20745 D 20747 A 20748 B 20749 A 20750 A 20751 A 20752 B 20752 C 20753 C 20754 C 20755 D 20756 C 20757 C 20758 C 20758 C 20758 D 20760 A 20761 B 20763 A 20764 A 20765 B 20766 B 20767 A 20768 A 20769 D VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Kultur und Medien zu dem An- trag der Abgeordneten Tabea Rößner, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Presse- freiheit europaweit umsetzen – Medien als wichtigen Grundpfeiler der Demokratie stärken (Drucksachen 17/6126, 17/8203) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen (Drucksache 17/9391) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 93) (Drucksache 17/9392) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Ge- setzes zur Änderung des Versicherungs- aufsichtsgesetzes (Drucksache 17/9342) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Kampf gegen wissenschaftliches Fehlverhalten aufnehmen – Verantwortung des Bun- des für den Ruf des Forschungsstandor- tes Deutschland wahrnehmen – zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Ekin Deligöz, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wissen- schaftliche Redlichkeit und die Quali- tätssicherung bei Promotionen stärken (Drucksachen 17/5758, 17/5195, 17/9388) . . Tagesordnungspunkt 18: a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bildung für nachhaltige Entwicklung dauerhaft sichern – Folgeaktivitäten zur UN-Dekade „Bildung für nachhal- tige Entwicklung“ ermöglichen (Drucksache 17/9186) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bildung für nachhaltige Ent- wicklung ermöglichen – Gleiche Bil- dungsteilhabe sichern (Drucksache 17/9395) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: a) Antrag der Abgeordneten Klaus Barthel, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Edelgard Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Frühzeitige Veröffent- lichung der Rüstungsexportberichte si- cherstellen – Parlamentsrechte über Rüstungsexporte einführen (Drucksache 17/9188) . . . . . . . . . . . . . . . c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüs- tungsgüter im Jahr 2010 (Rüstungsexportbericht 2010) (Drucksache 17/8122) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Nationalen Waffenregisters (Nationales-Waffenregis- ter-Gesetz – NWRG) (Drucksachen 17/8987; 17/9217) . . . . . . . . . . Günter Lach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: a) Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Katja Kipping, Dr. Dietmar Bartsch, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Aufwandsentschädigungen für kommunale Mandatsträgerinnen und Mandatsträger sowie Amtsträgerinnen und Amtsträger nicht auf Leistungen 20769 D 20770 A 20770 B 20770 C 20770 C 20771 A 20771 A 20771 B 20771 C 20771 D 20772 A 20773 C 20774 C 20775 A 20775 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 VII nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch anrechnen (Drucksache 17/7646) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Katrin Kunert, Diana Golze, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Anrechnung von Aufwandsent- schädigungen für bürgerschaftliches Engagement auf Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialge- setzbuch (Drucksache 17/7653) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Fortentwicklung des Meldewesens (MeldFortG) (Drucksache 17/7746) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Flughafenasylver- fahren abschaffen (Drucksache 17/9174) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Tankred Schipanski, Dr. Stefan Kaufmann, Albert Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Exzellente Perspektive für den wissenschaftlichen Nachwuchs fortentwickeln (Drucksache 17/9396) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Um- setzung von Basel III: Finanzmärkte stabilisieren – Realwirtschaft stärken – Kommunalfinanzierung sichern – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Be- sonderheiten der nationalen Finanz- märkte bei Umsetzung von Basel III be- rücksichtigen (Drucksachen 17/9167, 17/6294, 17/9439) . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Einsatz privater Sicherheitsdienste im Kampf gegen Piraterie zertifizieren und kontrollieren (Drucksache 17/9403) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . 20776 D 20777 A 20777 A 20777 C 20778 A 20779 B 20779 D 20780 D 20781 C 20781 D 20782 D 20784 A 20784 D 20786 A 20786 C 20786 D 20787 D 20788 D 20789 C 20790 B 20792 A 20792 A 20793 C 20795 A 20796 A 20797 C 20798 D 20799 D 20800 A 20802 A 20803 A 20804 A 20804 C 20805 C 20806 C 20806 C 20808 C 20809 C VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Ulrich Maurer, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Freilassung der „Miami Five“ (Drucksachen 17/7416, 17/8395 (neu)) . . . . . Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Dr. Hermann E. Ott, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: EU-Klimaziel anhe- ben – 30 Prozent Emissionsminderung bis 2020 (Drucksache 17/9175) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Antrag der Abgeordneten Sabine Stüber, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Neue Flusspolitik – Ein „Nationales Rah- menkonzept für naturnahe Flusslandschaf- ten“ (Drucksache 17/9192) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- ordneten Ute Koczy, Volker Beck (Köln), Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Trans- parenz im Rohstoffsektor – EU-Vorschläge umfassend umsetzen (Drucksachen 17/8354, 17/8914) . . . . . . . . . . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: Antrag der Abgeordneten Eva Bulling- Schröter, Sabine Stüber, Ralph Lenkert, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Umfassendes Elbekonzept erstel- len (Drucksache 17/9160) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Petzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Katja Dörner, Uwe Kekeritz, Memet Kilic, Sylvia Kotting- Uhl, Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Beate Müller-Gemmeke, Dr. Hermann E. Ott, Lisa Paus und Dorothea Steiner (alle BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Ab- stimmung über die Beschlussempfehlung und den Bericht zu dem Antrag: Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leis- tungseinschränkungen im Zwölften Buch 20810 D 20811 C 20812 C 20812 D 20813 C 20814 A 20815 B 20816 A 20816 C 20817 C 20817 C 20818 B 20819 C 20820 A 20821 A 20821 C 20821 D 20823 B 20824 A 20825 B 20825 D 20826 C 20826 D 20828 A 20829 B 20830 A 20831 A 20832 A 20832 A 20834 D 20835 C 20836 B 20837 A 20837 D 20839 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 IX Sozialgesetzbuch abschaffen (Tagesordnungs- punkt 4 b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 15) Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Flach, Parl. Staatssekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Pressefreiheit europaweit umset- zen – Medien als wichtigen Grundpfeiler der Demokratie stärken (Tagesordnungspunkt 16) Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . . Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Än- derung des Versicherungsaufsichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 17) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Bildung für nachhaltige Entwicklung dauerhaft sichern – Folgeaktivitäten zur UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Ent- wicklung“ ermöglichen – Bildung für nachhaltige Entwicklung er- möglichen – Gleiche Bildungsteilhabe si- chern (Tagesordnungspunkt 18 a und b) Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Axel Knoerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Burchardt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Kampf gegen wissenschaftliches Fehlver- halten aufnehmen – Verantwortung des Bundes für den Ruf des Forschungsstand- ortes Deutschland wahrnehmen – Wissenschaftliche Redlichkeit und die Qualitätssicherung bei Promotionen stär- ken (Tagesordnungspunkt 19) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Antrag: Frühzeitige Veröffentlichung der Rüstungsexportberichte sicherstellen – Parlamentsrechte über Rüstungsexporte einführen – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- rung über ihre Exportpolitik für konven- tionelle Rüstungsgüter im Jahr 2010 (Rüs- tungsexportbericht 2010) (Tagesordnungspunkt 21 a und c) 20839 C 20840 B 20841 D 20842 D 20843 C 20844 A 20845 B 20846 C 20847 C 20848 B 20849 A 20850 A 20851 C 20852 B 20853 A 20854 B 20855 C 20856 C 20857 C 20858 C 20859 B 20860 A 20860 D 20861 C 20862 D 20863 D 20864 D 20866 A 20867 A 20868 A X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Entwürfe: – Gesetz zur Verbesserung des Rechtsschut- zes in Wahlsachen – Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 93) (Tagesordnungspunkt 26 a und b) Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20869 A 20869 D 20871 A 20871 C 20872 B 20873 B 20875 B 20875 C 20876 C 20877 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20603 (A) (C) (D)(B) 175. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20839 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn, Katja Dörner, Uwe Kekeritz, Memet Kilic, Sylvia Kotting-Uhl, Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Beate Müller-Gemmeke, Dr. Hermann E. Ott, Lisa Paus und Dorothea Steiner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zur namentlichen Abstimmung über die Beschluss- empfehlung und den Bericht zu dem Antrag: Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungseinschränkungen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaffen (Tagesordnungspunkt 4 b) Gegenwärtig setzt die Arbeitsmarktpolitik vor allem auf Sanktionen, nicht auf Angebote, um „Gegenleistun- gen“ der Transferempfänger und -empfängerinnen zu er- reichen. Das ist falsch. Der Grundbedarf, der für eine Teilhabe an der Gesellschaft notwendig ist, muss jeder- zeit gewährleistet sein und darf nicht durch Sanktionen angetastet werden. Die Frage nach der Gegenleistung wird nicht durch Zwang, sondern vor allem durch faire Spielregeln und positive Anreize beantwortet. Die Erwartung einer „Gegenleistung“ darf nicht zum Ausgangspunkt werden für bürokratische Zumutungen, bei denen am Ende die Würde der Betroffenen auf der Strecke bleibt. Stattdessen müssen zwingend die Fähig- keiten, Vorstellungen und Wünsche der Hilfebedürftigen berücksichtigt werden. Es muss ein Wunsch- und Wahl- recht geben, das Recht jeder und jedes Einzelnen, selbst vorzuschlagen, wie sie am besten zum Nutzen der Ge- sellschaft beitragen können und wollen. Eigeninitiative soll gefördert werden, wobei Engagement bei der Jobsu- che, Existenzgründung, Aus- und Weiterbildung, Fami- Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Aigner, Ilse CDU/CSU 26.04.2012 Bär, Dorothee CDU/CSU 26.04.2012 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.04.2012* Becker, Dirk SPD 26.04.2012 Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.04.2012 Brandner, Klaus SPD 26.04.2012 Dr. Braun, Helge CDU/CSU 26.04.2012 Brinkmann (Hildes- heim), Bernhard SPD 26.04.2012 Fischer (Karlsruhe- Land), Axel E. CDU/CSU 26.04.2012* Friedhoff, Paul K. FDP 26.04.2012 Grindel, Reinhard CDU/CSU 26.04.2012 Groschek, Michael SPD 26.04.2012 Jelpke, Ulla DIE LINKE 26.04.2012 Kolbe, Manfred CDU/CSU 26.04.2012 Korte, Jan DIE LINKE 26.04.2012 Möller, Kornelia DIE LINKE 26.04.2012 Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.04.2012 Dr. Neumann (Lausitz), Martin FDP 26.04.2012 Nord, Thomas DIE LINKE 26.04.2012 Pflug, Johannes SPD 26.04.2012 Röspel, René SPD 26.04.2012 Rupprecht (Tuchen- bach), Marlene SPD 26.04.2012* Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 26.04.2012 Schlecht, Michael DIE LINKE 26.04.2012 Schneider, Ulrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.04.2012 Süßmair, Alexander DIE LINKE 26.04.2012 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 26.04.2012 Werner, Katrin DIE LINKE 26.04.2012 Dr. Westerwelle, Guido FDP 26.04.2012 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 20840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) lienarbeit, Pflege und Ehrenamt berücksichtigt werden sollen. Eine angemessene, auch monetäre Anerkennung und Würdigung von Ehrenamt, bürgerschaftlichem En- gagement bzw. gemeinwohlorientierter Arbeit darf nicht einhergehen mit Kürzungen der Sozialleistungen. Wir sind deshalb für die Abschaffung der Sanktionen im SGB II und treten zudem für Reformen der sozialen Sicherung in Richtung eines bedingungslosen Grundein- kommens ein. Einfach nur die Sanktionen bei Hartz IV abzuschaf- fen, wie das die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag for- dert, ist zu einfach und geht uns nicht weit genug. Des- halb und weil wir einen eigenen besseren Antrag gestellt haben, enthalten wir uns bei dem Antrag der Linken. In unserem Antrag – Bundestagsdrucksache 17/3207 – fordern wir, dass es bei der Grundsicherung keine Kür- zungen unter den Bedarf, der für eine Teilhabe an der Ge- sellschaft notwendig ist, geben darf, konkrete Maßnah- men zur Verbesserung der Rechte von Arbeitslosen und die Aussetzung aller Sanktionen – Sanktionsmorato- rium –, bis die Rechte der Arbeitsuchenden gestärkt wor- den sind. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset- zes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 15) Michael Hennrich (CDU/CSU): Wir haben uns heute zur ersten Lesung des Entwurfs eines Zweiten Ge- setzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften versammelt. Es ist ein Gesetz, das nach dem AMNOG das zweite große gesetzgeberische Vorha- ben auf dem Arzneimittelsektor ist. Alles in allem lässt sich feststellen, dass es im Arzneimittelbereich gut und ruhig verläuft. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren sind bisher auch keine Entschließungsanträge der Oppo- sition eingegangen. Ich verstehe das so, dass Sie, werte Damen und Herren von der SPD, den Grünen und der Linken, mit unserer Arzneimittelpolitik durchaus zufrie- den sind. Anders, ich erinnere mich lebhaft, war das noch beim AMNOG vor gut eineinhalb Jahren. Bei der Verabschie- dung des AMNOG waren Sie noch nicht ganz so weit, und Sie haben damals bei der namentlich Abstimmung – die übrigens bezeichnenderweise am 11.11. stattfand – geschlossen mit Nein gestimmt. Heute haben sich die Zeichen gewendet, wie ich erst neulich auf einer Veran- staltung des BPI feststellen konnte. Frau Bender von den Grünen ist im Hinblick auf das AMNOG so etwas wie der Lordsiegelbewahrer, der bereit ist, in die Bresche zu springen, wenn es Überlegungen gibt das Gesetz zu ver- ändern. Aber in der Tat wir können mit der Arzneimittelpoli- tik der Koalition zufrieden sein. Die mit dem GKV- Finanzierungsgesetz verabschiedete Erhöhung des Her- stellerabschlags zeigt Wirkung. In der Folge konnten die Arzneimittelausgaben – übrigens als einziger Teilbereich des öffentlichen Gesundheitssystems – deutlich reduziert werden. Auch mit dem AMNOG haben wir Maßnahmen auf den Weg gebracht, die zu einer Stabilisierung der Arzneimittelausgaben führen. Einen wesentlichen Bei- trag hierzu leisten zweifelsohne der Apothekenabschlag und die Großhandelsvergütung. Die frühe Nutzenbewer- tung stellt in Bezug auf die Effektivität der Arzneimittel- versorgung einen wahren Quantensprung dar, und zwar ohne dass den Menschen in Deutschland der Zugang zu Innovationen verkürzt wurde. Heute wird das AMNOG im Ausland selbst von denje- nigen gepriesen, die es vor eineinhalb Jahren noch vehe- ment bekämpft haben. Auch den Vertretern des GKV-Spit- zenverbands, die das Gesetz ursprünglich als „Pharma- beglückungsgesetz“ bezeichneten, konnte – wenn auch mühsam – die Wirkungsweise der Vorgaben verständlich gemacht werden. Selbst die Industrie hat das neue Sys- tem zwischenzeitlich anerkannt, sodass wir uns in erster Linie auf die Umsetzung der AMG-Novelle konzentrie- ren können. Mit dem Gesetz sollen zwei Richtlinien der Europäi- schen Union umgesetzt werden, zum einen die Richtlinie zur Pharmakovigilanz, zum anderen die Richtlinie zum Schutz vor Arzneimittelfälschungen. Beide Richtlinien verbindet das Ziel, den Schutz der Patienten und Versi- cherten im Bereich der Arzneimittelversorgung verbes- sern zu wollen. Vor diesem Hintergrund greifen Sie in viele Bereiche des Arzneimittelgesetzes ein. Wir haben dadurch die Chance, einige Vorschriften ganz grundsätz- lich zu überdenken und auf den Prüfstand zu stellen. Einen großen Teil der Neuerungen halte ich für durchaus begrüßenswert. So werden etwa die Risiko- managementsysteme der Zulassungsinhaber optimiert. Und auch die Zusammenarbeit der Gesundheitsbehörden wird verbessert, indem die europäische Vernetzung end- lich forciert wird. Dem Schutz der Versicherten dient, dass etwa der Begriff der Nebenwirkung erweitert wird. § 4 Nr. 13 AMG erfasst dann auch Überdosierungen, Medikationsfehler und Missbrauch. Zugute kommt ihm auch, dass die Meldewege bei Verdachtsfällen verkürzt werden. Hier werden bereits in den Patienteninformatio- nen Hinweise zu finden sein, wohin man sich bei Ver- dachtsfällen wenden soll. Für die Fachinformation wird eine gleichlautende Regel erlassen werden. Gleichzeitig werden die Informationsmöglichkeiten der Verbraucher verbessert. Ein nationales Internetportal wird aufgebaut und mit europäischen Datenbanken vernetzt werden, um Transparenz für den Versicherten zu schaffen und ihm eine umfassende Aufklärung zu ermöglichen. Begrüßenswert halte ich auch den Schritt, zum Schutz der legalen Vertriebswege die Anforderungen an Her- steller und Vertreiber zu konkretisieren und auf diese Weise transparenter zu gestalten. Besonders fälschungs- gefährdete Arzneimittel etwa erhalten in diesem Rahmen zusätzliche Sicherheitsmerkmale zur Identifizierung ein- zelner Arzneimittelpackungen. Die Richtlinien bringen überdies Veränderungen im Bereich Betäubungsmittel- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20841 (A) (C) (D)(B) recht sowie die Anpassung des Heilmittelwerbegesetzes an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Ich möchte nicht verschweigen, dass diese Neurege- lungen teilweise zu erheblichen finanziellen Belastungen für die Industrie führen. Allerdings halte ich – unabhän- gig davon, dass uns sowieso nur ein geringfügiger Um- setzungsspielraum verbleibt – die Vorgaben mit Blick auf Schutz und Sicherheit der Patientinnen und Patienten für notwendig. Natürlich werden wir uns im Zuge der AMG-Novelle noch einmal mit dem AMNOG beschäftigen. Allerdings muss nicht immer der Gesetzgeber Probleme lösen, manchmal obliegt diese Aufgabe allein der Selbstver- waltung. Teilkomplexe hat die Selbstverwaltung bereits guten Lösungen zugeführt; ich denke an dieser Stelle zum Beispiel an die Orphan Drugs. Trotzdem müssen die Beteiligten zukünftig weiter miteinander arbeiten und sich auf praxisgerechte Lösungen einigen. Aufmerksam beobachten wir in diesem Zusammen- hang etwa das Thema Vergleichstherapie. Hier muss bei der Auswahl der Vergleichstherapie die Frage im Mittel- punkt stehen, ob ein tatsächlicher Zusatznutzen für das neue Arzneimittel im Vergleich zum bisherigen Thera- piestandard besteht. Erst bei den Preisverhandlungen steht dann die Kostenfrage im Mittelpunkt. Es ist zudem sicherzustellen, dass keine Studien mit einer Vergleichs- therapie verlangt werden dürfen, die aus ethischen Grün- den nicht genehmigt würden. Beim Thema Beratungsgespräche hat sich vieles posi- tiv gewendet. Aber in Bezug auf die Verbindlichkeit des Beratungsgesprächs beim GBA findet sich durchaus noch etwas Sand im Getriebe. Möglich wäre es etwa, dass die Vergleichstherapien vor Studien der Phase III gemeinsam verbindlich vereinbart werden. Hier wäre dann zum Beispiel die Frage zu klären, welche Ver- gleichstherapie für ein Solitärmedikament zu wählen ist. Der vom GBA durchgeführte Workshop am 22. März zeigt aber, dass man hier auf einem guten Weg ist. Die Preisfindung ist sicherlich ein Komplex, bei dem wir erst einmal abwarten sollen, wie verhandelt wird. Entspannt sehe ich übrigens der Forderung der Indus- trie nach der Vertraulichkeit des Erstattungsbetrags ent- gegen. Hier sollten wir uns überlegen, ob uns das nicht sogar entgegenkommt, weil in vertraulichen Verhand- lungen mehr Spielraum für eine Rabattgewährung ver- bleibt. Überprüft werden muss aber die Möglichkeit zur Ausschreibung von Zytostatika; denn es droht zu einem Oligopol in der Versorgung der Krebspatienten zu kom- men. Zudem drohen Qualitätseinbußen und Probleme in der Flächendeckung, wenn die Krankenkassen mit ein- zelnen Apothekern Selektivverträge über die Zytostati- kaversorgung abschließen. Dabei will ich die Wirkweise der Rabattverträge nicht infrage stellen. Sie tragen maß- geblich zu Einspareffekten bei Arzneimittelversorgung bei. Allerdings ist auch Teil unserer Aufgabe, die Versor- gungssicherheit zu gewährleisten; Lieferengpässe müs- sen vermieden werden. Gleiches gilt übrigens für die Oligopolbildung. Was passiert mit den sogenannten Portfolioverträgen? Seit dem Jahr 2009 wird hier vergeblich nach einer ein- vernehmlichen Lösung gesucht. Dabei behindern die Er- weiterungs- und Aufnahmeklauseln unstreitig den Wett- bewerb. Ohne gesetzgeberische Maßgaben scheint sich hier aber nichts zu tun. Dieses Fazit gilt leider auch für den Umgang mit der personalisierten Medizin. Die be- sondere Diagnostik, die hier notwendig wird, wird letzt- lich wegen einer fehlenden Abrechnungsziffer im EBM nicht ausreichend erbracht. Das kann und darf nicht sein. Abschließend möchte ich noch auf die Rahmenbedin- gungen für Apotheker eingehen. Am Pick-up-Verbot halten wir fest. Nachdem auch die Bundesregierung ein Verbot des Versandhandels anstrebt, liegt es in den Hän- den des Bundesrates, hier die richtigen Entscheidungen zu treffen. Nach Auslaufen der Sparmaßnahmen Ende dieses Jahres ist der Apothekenabschlag erneut zu ver- einbaren. Um hier eine faire Verhandlungsbasis zu schaffen, soll der für 2009 und 2010 geltende Abschlag als Grundlage dienen. Wie ich eingangs ankündigte, nutzen wir die AMG- Novelle auch, um die bestehende Regelung kritisch zu hinterfragen. Unsere Pläne in diese Richtung habe ich Ihnen gerade vorgelegt. Ich möchte die Gelegenheit aber auch nutzen, an alle Beteiligten zu appellieren: Lassen Sie uns konstruktiv miteinander tätig werden und nicht in allgemeines Wehgeschrei ausbrechen, wie es beim AMNOG der Fall war. Diese Worte richte ich auch noch einmal explizit an die Industrie, die immer wieder ge- droht hat, bestimmte Produkte nicht auf den deutschen Markt zu bringen. Damit schneidet man sich ins eigene Fleisch. Ich gebe zu bedenken, dass unsere europäischen Nachbarländer über keine rosige Finanzlage verfügen. Das gilt auch für Frankreich, wo Sarkozy gerade ange- kündigt hat, 4,5 Milliarden Euro Einsparungen allein bei der Arzneimittelversorgung erzielen zu wollen. Spanien geht in eine ähnliche Richtung, und Griechenland will ich hier gar nicht erwähnen. Zu denken, dies wäre ein europäisches Problem, ist naiv. lndien ist ja nicht einmal mehr bereit, Patente und Eigentumsrechte anzuerkennen. Insofern wünsche ich keine weitere Drohungen, sondern den konstruktiven Dialog aller Beteiligten, auf den ich mich freue. Dr. Marlies Volkmer (SPD): Mit der aktuellen AMG-Novelle wollte die Bundesregierung eigentlich nur eine recht fade Suppe zusammenköcheln. Es ging ur- sprünglich nur darum, europäisches Recht umzusetzen, namentlich die Pharmakovigilanz- und die Fälschungs- richtlinie. Nun ist die Novelle ein Artikelgesetz und lädt damit geradezu zum Missbrauch als Omnibus ein. Zu- dem ist sie zustimmungspflichtig, seit der Föderalismus- reform gerade für Gesundheitsgesetze eine Seltenheit. Also entscheiden die Länder hier mit. So standen plötz- lich viele selbsternannte Köche aus unserem Gesund- heitssystem Schlange, um die Suppe kräftig nachzuwür- zen. 20842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) Die EU-Vorgaben sollen die Arzneimittelsicherheit erhöhen, was natürlich ein lobenswertes Ziel ist. Um das zu erreichen, werden die Meldepflichten für Verdachts- fälle von Arzneimittelrisiken verschärft und die Melde- fristen für vermutete Nebenwirkungen verkürzt. Die De- finition von Nebenwirkungen wird erweitert und umfasst auch unerwünschte Wirkungen, die bei Medikationsfeh- lern sowie bei nicht-bestimmungsgemäßem Gebrauch auftreten können. Die Möglichkeiten für Patientinnen und Patienten, sich zu informieren, werden etwas ver- bessert. Zukünftig kann beispielsweise der Beipackzettel von Arzneimitteln im Internet eingesehen werden. Das ändert allerdings nichts an der oft unverständlichen Sprache, in der diese Patienteninformationen verfasst sind. Für besonders fälschungsgefährdete Arzneimittel sind Sicherheitsmerkmale wie einzigartige Strichcodes, Siegel, Hologramme vorgesehen – allerdings erst ab dem Jahr 2017. Hinzu kommen noch weitere technische Regelungen. Auch die Anforderungen an Hersteller, Importeure und Vertreiber von Wirkstoffen, die Transparenz der Handelswege zu erhöhen, sind sicherlich sinnvoll. Aller- dings wird der größte Teil der gefälschten Arzneimittel nicht über die reguläre Lieferkette vertrieben. Der Bun- desrat fordert ein Verbot des Versandhandels für ver- schreibungspflichtige Medikamente. Hintergrund ist, dass er sich davon einen gangbaren Weg für ein Verbot der Pick-up-Stellen verspricht. Die Bundesregierung lehnt diese Forderung aus verfassungsrechtlichen Grün- den ab. Allerdings hat sie bisher keinen anderen Vor- schlag gemacht, wie Pick-up-Stellen untersagt werden können. Die Forderung nach Abschaffung steht aber im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP. Es ist an der Zeit für Sie, hier endlich einmal aktiv zu werden und eine verfassungskonforme Regelung vorzuschlagen. Ein bisschen Würze hat die Bundesregierung dann doch noch hereingebracht, indem sie die pharmazeuti- schen Vertreter aus dem Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht verbannt hat. Auch die Erlaubnis für die Landesbehörden, bei erheblichem Versorgungs- mangel eine Bereitstellung der Arzneimittel zu erzwin- gen, schmeckte nicht jedem. Auch das Heilmittelwerberecht will die Koalition durch die vorliegende Novelle an die EU-Vorgaben an- passen. Hier hatten Sie bei der Umsetzung der Richtlinie etwas freiere Hand, und da bemerkt man schon den ers- ten Hautgout: Die Pharmaunternehmen dürfen künftig mit Krankengeschichten und Patientenschicksalen wer- ben. Auch ausgewählte Gutachten und fachliche Veröf- fentlichungen dürfen zu Werbezwecken gebraucht wer- den. Schwer verdaulich ist auch die Lockerung des Werbeverbots für rezeptfreie Schlafmittel und Stim- mungsaufheller. Diese Maßnahmen sind sicher förderlich für den Ab- satz der Hersteller, aber ganz sicher nicht für die Ge- sundheit und die Sicherheit der Patientinnen und Patien- ten. Sie fördern hierdurch die zunehmende Sorglosigkeit im Umgang mit Medikamenten nach dem Motto „Es ist ja rezeptfrei, damit harmlos“. Medikamente sind jedoch keine Konsumgüter wie Kaugummis oder Schnittblu- men, die man mal eben vom Einkauf mitbringt. An die- sem Montag lief ein Bericht über rezeptfreie Medika- mente im Fernsehprogramm des NDR. Hier wurde erstens darauf hingewiesen, dass frei verkäufliche Arz- neimittel oft nicht für Kinder und ältere Menschen ge- eignet sind. Zweitens enthalten viele Medikamente iden- tische Wirkstoffe. Wenn sie gemeinsam eingenommen werden, kann es daher zu einer unfreiwilligen Überdo- sierung und Schäden kommen. Sie sehen, eine unabhän- gige und objektive Information der Patientinnen und Pa- tienten ist notwendig. Das ist zuerst Aufgabe der Apothekerinnen und Apotheker. Sie sind dazu gesetzlich verpflichtet; aber auch die Verbraucherzentralen und die Stiftung Warentest nehmen diese Aufgabe wahr und ver- dienen unsere Unterstützung. Das ist allemal sinnvoller, als die Werbemöglichkeiten der pharmazeutischen Un- ternehmen zu vereinfachen. Aber nicht nur das Gesundheitsministerium, auch die Arbeitsgruppe Gesundheit der CDU war nicht untätig. Fleißig haben die Kolleginnen und Kollegen alle Forde- rungen der pharmazeutischen Industrie gesammelt und in einem Positionspapier zusammengefasst. Diese Würz- mischung mit neuen Regelungen zu früher Nutzenbe- wertung, Apotheken und Rabattverträgen sorgte in den Medien und bei den Krankenkassen für Ablehnung und Empörung. In der aktuellen Version hat das Papier zwar etwas an Schärfe verloren, wirklich bekömmlich ist es aber noch immer nicht. So stellen Sie die mühsam gefundene Lösung für die Referenzländer bei den Preis- verhandlungen zwischen Krankenkassen und Arzneimit- telherstellern infrage. Sie setzen sich für die Geheimhal- tung der zwischen GKV-Spitzenverband und Herstellern ausgehandelten Arzneimittelpreise ein. Heute wurde schon der erste Schwung von 30 Ände- rungsanträgen in die Welt gesetzt, die auch einige Vor- schläge aus dem Positionspapier von CDU und CSU um- fassen. So ist leider eine schwerverdauliche Suppe entstanden. Auslöffeln müssen sie die Versicherten. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Bei der AMG-No- velle geht es unter anderem um den Schutz vor gefälsch- ten Arzneimitteln. Dabei soll die systematische Überwa- chung der Sicherheit eines Medikaments nach seiner Zulassung verbessert werden, um unerwünschte Wirkun- gen zu entdecken und das Risiko für Patientinnen und Patienten zu vermindern. Aber es geht auch um andere Regelungen im Arzneimittelbereich. In einigen dieser Punkte können wir schnell Überein- stimmung herstellen. Ich möchte mich aber auf diejeni- gen Fragen konzentrieren, in denen der vorliegende Ge- setzentwurf Widerspruch erfordert. Fangen wir mit den Plänen zum Kampf gegen ge- fälschte Medikamente an. Der weltweite Umsatz mit ge- fälschten Arzneimitteln hat den Umsatz aus dem Dro- genhandel längst überholt. Arzneimittelfälschungen sind in einigen europäischen Staaten und insbesondere im In- ternethandel ein erhebliches Problem. Doch in Deutsch- land handelt es sich bei den meisten gemeldeten Fällen nur um falsch deklarierte Reimporte, also um echte Me- dikamente, die sicher und wirksam sind. Reimporte ma- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20843 (A) (C) (D)(B) chen aber nur Sinn, wenn die Arzneimittelpreise in Deutschland weit höher sind als etwa in Griechenland. Das könnten wir ganz einfach abstellen, wenn sich die hiesigen Preise am europäischen Durchschnitt orientie- ren müssten. Doch gegen eine solche Regelung stemmt sich insbesondere die CDU. Die Gefahren aus dem illegalen Internethandel könnte man leicht eindämmen: Verbieten Sie den Versandhandel von Medikamenten; denn zuverlässige und kontrollierte Handelswege sind bislang der beste Schutz vor Arznei- mittelfälschungen. Die Linke fordert das seit Jahren, und nun unterstützt auch der Bundesrat die Initiative, den Versandhandel zumindest für verschreibungspflichtige Medikamente komplett zu verbieten. Für Patientinnen und Patienten sind seriöse und unseriöse Internetanbieter kaum zu unterscheiden. Dieses Einfallstor für Fälschun- gen bekommt man auch nicht mit aufwendigen Siegeln und Packungsnummern in den Griff. Dafür sollen die Unternehmen in den nächsten zehn Jahren je nach Schät- zung zwischen 1 und 9 Milliarden Euro ausgeben. Dass diese Kosten auf die Preise geschlagen und letztlich von den Kranken und den Versicherten bezahlt werden müs- sen, versteht sich von selbst. Zum Thema Arzneimittelpreise. Die Linke hat dem Bundestag ein Konzept für eine nutzenorientierte Preis- bildung bei Arzneimitteln vorgelegt; aber die Mehrheit war ja dagegen und setzt lieber auf die völlig intranspa- renten Rabattverträge. Die Lockerungen im Werbever- bot, die uns mit diesem Gesetzentwurf vorgelegt wird, ist ein Skandal. Statt Beratung und Information bekom- men die Patientinnen und Patienten demnächst Manipu- lation und Emotionen frei Haus geliefert. Man sage jetzt bitte nicht, dass man doch nur eine ent- sprechende EU-Richtlinie umsetze, wozu man schließ- lich vertraglich verpflichtet sei. Schließlich war die Bun- desregierung an den Beratungen über diese Richtlinie beteiligt. Nachdem der Europäische Gerichtshof sie für weitgehend bindend erklärt hat, hat sich die Bundesre- gierung auch nicht bemüht, diese Richtlinie zu ändern. Die Linke will, dass Arzneimittel eben nicht wie Smar- ties beworben, sondern in der Apotheke nach kompeten- ter Beratung an Patientinnen und Patienten abgegeben werden. Besonders gespannt sind wir auch auf eventuelle Än- derungsanträge. Es kann nämlich durchaus noch schlim- mer kommen. Wir wollen einmal schauen, wie standhaft sich hier Herr Bahr und seine FDP zeigen werden. Die Arbeitsgruppe Gesundheit der Union hat hier Vorstellun- gen vorgelegt, die sich lesen wie der Weihnachtswunsch- zettel der Pharmakonzerne. Wenn die Union sich damit in der Bundesregierung durchsetzt, dann werden mit ei- nem Federstrich gleich mehrere Milliarden Euro Versi- chertengelder auf die Konten der Pharmaaktionäre ge- spült. Der Beifall auf den Aktionärsversammlungen von Bayer und Co ist wohl sicher. Die Linke verzichtet gerne auf Beifall aus dieser Ecke. Wir würden mit dem Geld der Versicherten lieber die Praxisgebühr abschaffen. Wenn SPD, Grüne und FDP, wie sie das im Wahlkampf in Schleswig-Holstein und NRW versprechen, an dieser Stelle mitziehen würden, dann könnten wir gemeinsam etwas für die Menschen in diesem Land tun. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ge- fordert wird viel rund um dieses Gesetz, in dem eigent- lich Pharmakovigilanz und Fälschungssicherheit ste- cken. Kollege Spahn und die AG Gesundheit der CDU/ CSU-Fraktion melden sich mit Forderungspapieren zu Wort. Hört der Minister ihnen nicht zu, oder ist er ande- rer Meinung? Befremdlich, wie diese Koalition via Presse kommuniziert. Kaum sind die Regeln zur Preisbildung neuer Arznei- mittel in Kraft, will die Union sie aufweichen und die Regierung prüft, ob Rabatte, die Hersteller hierzulande mit Krankenkassen für neue Arzneimittel aushandeln müssen, der Vertraulichkeit unterliegen. Die Industrie trägt vor, dass das Nichtwissen anderer Länder, wie hoch denn der in Deutschland real existierende Preis sei, allen Beteiligten zum Vorteil gereiche. Nun scheint man in der Pharmaindustrie die europäischen Entscheider für ziem- lich unbedarft zu halten. Hierzulande muss jedenfalls gelten: Verhandlungsergebnisse sollten nicht als Ge- heimsache behandelt und der Kontrolle entzogen wer- den. Wie sonst soll denn die Öffentlichkeit beurteilen, ob die neuen Regeln was bringen, ob die Preisverhandlun- gen zwischen Kassen und Pharmaindustrie tatsächlich zu niedrigeren und stärker am Zusatznutzen eines Arznei- mittels ausgerichteten Preisen führen? Bei der Gesundheitsreform 2003 handelte Rot-Grün mit der Union und der – zum Schluss abgesprungenen – FDP Kompromisse aus. Wir mussten auf die Positivliste verzichten und akzeptierten als Krücke den Ausschluss von nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln aus der Erstattung. Bedingung waren Ausnahmen für schwerwiegende Erkrankungen. Bedingung war außer- dem, dass der therapeutischen Vielfalt Rechnung zu tragen ist. In der Folge gab es Streit, zum Beispiel um die Misteltherapie bei Krebserkrankungen. Die vom Ge- meinsamen Bundesausschuss beschlossene Regelung wurde aus gutem Grund vom BMG kritisiert: Die in der Arzneimittelrichtlinie enthaltene Koppelung dieser bei- den Ausnahmen war vom Gesetzgeber nicht gewollt. Sie bedeutete eine deutliche Einschränkung der therapeuti- schen Vielfalt. Daher verweigerte das BMG die Geneh- migung der Richtlinie und ließ bis vor das Bundessozial- gericht nicht locker. Konsequenterweise hätte man nach dem verlorenen Prozess bei diesem Gesetzgebungsver- fahren eine Klarstellung vornehmen müssen, die dem damaligen Willen von Grünen, SPD und CDU/CSU ent- spricht – aber Fehlanzeige. Unsere Kleine Anfrage förderte zutage, dass das BMG nicht mehr zu wissen scheint, was es noch bis vor kurzem vertrat. Gesundheitsminister Bahr lehnt es ab, die Therapievielfalt zu erhalten. Das Ganze ist aber kein exotisches Hobby der Grünen. Sehr viele Krebspatien- tinnen und Krebspatienten bekamen auch bei schul- medizinischer Behandlung eine ergänzende Mistel- therapie. Nun müssen viele Patientinnen und Patienten auf diese häufig verordnete Behandlungsoption verzich- 20844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) ten oder die Therapiekosten selbst tragen. Wir Grünen erwarten von der Koalition eine gesetzliche Klarstel- lung, damit die therapeutische Vielfalt greift und damit Krebspatientinnen und Krebspatienten wieder eine zu- sätzliche Therapieoption zur Verfügung steht. Die Neverending Story „Verbote für den Versandhan- del“: Wann hat diese Koalition, wann hat dieser Minister endlich den Mut, sich von nicht haltbaren Wahlverspre- chen zu verabschieden? Wann hört das Verstecken hinter den Verfassungsressorts auf, die bisher – ich prophezeie: auch in Zukunft – jeden Vorschlag ablehnten, da ein Missbrauch an die Wand gemalt wird, der in der Realität des legalen Versandhandels aber nicht existiert? Die Apothekerlobby ihrerseits sollte sich, statt diese symbo- lische Monstranz weiter vor sich her zu tragen, endlich mit konkreten Perspektivfragen für die Apothekerschaft beschäftigen. Wo bleiben die Ideen für die Arzneimittel- versorgung der Zukunft, die wirkungsvolle Einbezie- hung der Kompetenzen der Apothekerinnen und Apothe- ker in die Behandlung von Patientinnen und Patienten oder die Lösungen für Versorgungsprobleme vor Ort? Stattdessen höre ich von der ABDA nichts anderes als Forderungen nach mehr Geld, und das ist, wie die Union in diesem Fall völlig richtig sagt, überzogen. Ulrike Flach, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- minister für Gesundheit: Der von der Bundesregierung beschlossene und heute eingebrachte Entwurf für ein Zweites Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften stärkt und strafft die bestehen- den Regelungen zur Arzneimittelsicherheit im Arznei- mittelgesetz. Ein weiterer Schwerpunkt des Gesetzes ist der Schutz vor gefälschten Arzneimitteln. Gefälschte Arzneimittel stellen auch in Europa ein wachsendes Pro- blem dar. Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus Änderun- gen in anderen Gesetzen und Anpassungen der einschlä- gigen Rechtsverordnungen. Nachfolgend möchte ich Ihnen die wichtigsten Ände- rungen des Gesetzentwurfs vorstellen. Ich beginne mit dem Arzneimittelgesetz: Die wichtigsten Änderungen im Arzneimittelgesetz gehen auf zwei europäische Richtlinien zurück: die Richtlinie zur Verbesserung der Pharmakovigilanz und die Richtlinie zur Verhinderung des Eindringens ge- fälschter Arzneimittel in die legale Lieferkette. Die im Bereich Pharmakovigilanz, das heißt der Arz- neimittelsicherheit, vorgesehenen Regelungen schaffen mehr Transparenz über zugelassene Arzneimittel, bes- sere Überprüfungsmöglichkeiten für Zulassungsbehör- den und eine stärkere Einbeziehung der von Patientinnen und Patienten gemeldeten Nebenwirkungen. Die erhebliche Ausweitung des Nebenwirkungsbe- griffs auch auf Medikationsfehler zielt schließlich auf mehr Sicherheit für Patientinnen und Patienten ab. Typi- sche Fehler zu erkennen und zu beschreiben, ist die beste Gewähr, sie zukünftig zu vermeiden. Mit der Umsetzung der Fälschungsrichtlinie werden die Anforderungen an Hersteller, Importeure und Ver- treiber von Wirkstoffen konkretisiert und transparenter gestaltet. So ist zum Beispiel zukünftig bereits die allei- nige Arzneimittelvermittlung anzuzeigen. Die wichtigste Neuregelung ist die Einführung einer Sicherheitskenn- zeichnung auf der Packung für besonders fälschungsge- fährdete Arzneimittel. Bevor dies in Europa Realität werden kann, müssen jedoch noch die genauen Anforde- rungen auf europäischer Ebene festgelegt werden. Ein weiterer Beitrag zur Stärkung der legalen Ver- triebskette betrifft den Versandhandel. Damit Patientin- nen und Patienten den legalen Versandhandel sicher erkennen können, wird ein Versandapothekenlogo zu- künftig europaweit eingeführt, wie wir es in Deutschland bereits kennen. Weitere Änderungen des Arzneimittelgesetzes betref- fen notwendige Klarstellungen und Änderungen auf- grund der Erfahrungen aus der Praxis und aus dem Voll- zug. Folgende möchte ich hervorheben: Für klinische Prüfungen mit Arzneimitteln werden Änderungen vorgesehen, die insbesondere Belange der nichtkommerziellen Forschung an Hochschulen aufgrei- fen. Dies wird zu Einsparungen bei den eingesetzten Ressourcen und zur Kostensenkung beitragen. Damit auch in Zukunft die flächendeckende Arzneimit- telversorgung für Patientinnen und Patienten gewährleis- tet ist, erhalten die Länder eine effektivere Möglichkeit, den öffentlichen Bereitstellungsauftrag durchzusetzen, der den pharmazeutischen Unternehmern und dem Groß- handel nach dem Arzneimittelgesetz obliegt. Die Länder können künftig Maßnahmen treffen, um erheblichen Stö- rungen bei der Bereitstellung von Arzneimitteln entge- genzuwirken. Dies betrifft die für die Versorgung beson- ders wichtigen Arzneimittel, nämlich solche, die der Behandlung schwerwiegender oder lebensbedrohlicher Erkrankungen dienen. Wir wollen, dass die Verbraucherinnen und Verbrau- cher auch beim Versandhandel mit Arzneimitteln einen hohen Gesundheitsschutz haben. Daher halten wir es für erforderlich, dass auch der Versandhandel den einheitli- chen Apothekenabgabepreis zu gewährleisten hat. Wir wollen nicht, dass Apotheken Rabatte auf verschrei- bungspflichtige Arzneimittel geben. Das ist erforderlich, damit Arzneimittelmissbrauch vermieden wird und Pa- tienten in der besonderen Situation der Krankheit von ei- nem Preisvergleich verschont bleiben und nicht durch Rabatte oder andere Vorteile beeinflusst werden. Dies muss ebenso für den Einkauf bei ausländischen Ver- sandapotheken gelten. Das vom Bundesrat geforderte Verbot des Versand- handels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln be- gegnet verfassungsrechtlichen Vorbehalten, da es zu ei- nem ungerechtfertigten Eingriff in die grundrechtlich geschützte Berufsausübungsfreiheit führen würde. Der Vorschlag nebst seiner Begründung zeigt jedoch, dass die Mehrheit der Länder zumindest ein isoliertes Verbot von Pick-up-Stellen zwischenzeitlich ebenfalls für ver- fassungsrechtlich bedenklich hält. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20845 (A) (C) (D)(B) Fragen der Arzneimittelsicherheit werden und sollten zuallererst aus wissenschaftlicher Perspektive beurteilt werden. Daher haben wir uns entschlossen, dass im Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht al- lein Vertreter der Wissenschaft und der Arzneimittel- kommissionen stimmberechtigt sein sollen. Mit den Änderungen des Arzneimittelgesetzes sind Änderungen in anderen Rechtsvorschriften verbunden, die nicht im Zusammenhang mit den Änderungen im Arzneimittelgesetz stehen. Das betrifft das Apotheken- gesetz, das Heilmittelwerbegesetz, das Betäubungsmit- telgesetz sowie das Medizinproduktegesetz. Besonders hervorheben möchte ich die Änderungen im Heilmittelwerberecht. Diese sind erforderlich, um der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nachzu- kommen. Da die nationalen Gerichte die europäische Rechtslage bereits berücksichtigen, werden die Auswir- kungen der Änderungen in der Praxis gering sein und ha- ben eher klarstellenden Charakter. Sie sehen, der Entwurf enthält wichtige Maßnahmen, um europäisches Recht umzusetzen und dabei Arznei- mittelsicherheit und Arzneimittelversorgung auf hohem Niveau zu halten und weiter zu verbessern. Nicht zuletzt wegen der europarechtlichen Bezüge müssen wir den Entwurf rasch umsetzen. Lassen Sie uns daher mit voller Konzentration in die nun anstehenden Beratungen ge- hen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Pressefreiheit europa- weit umsetzen – Medien als wichtigen Grund- pfeiler der Demokratie stärken (Tagesord- nungspunkt 16) Karl Holmeier (CDU/CSU): Als Abgeordneter des Deutschen Bundestages finde ich es mittlerweile beschä- mend, in welcher Weise die deutschen Oppositionspar- teien ihre Kampagne gegen Ungarn betreiben. Unter dem Deckmantel der Wahrung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten gefährden Sie mit ih- ren Anfeindungen inzwischen die traditionell guten Be- ziehungen zu Ungarn. Dabei sind Sie es, die Tatsachen ignorieren und falsch darstellen, das europäische Recht und Grundprinzipien wie Zuständigkeiten, Subsidiarität und begrenzte Einzelermächtigung missachten und da- rüber hinaus jeden Respekt sowie die Beachtung diplo- matischer Gepflogenheiten vermissen lassen. Ich möchte daher an dieser Stelle noch einmal einiges klarstellen. Ungarn war immer ein freiheitsliebendes Volk, und gerade wir Deutschen haben Ungarn aufgrund dieser Freiheitsliebe sehr viel zu verdanken. Ich wage sogar die These zu sagen, dass die deutsche Einheit ohne das Vertrauen der ungarischen Freunde in die Freiheit nicht möglich gewesen wäre. Das scheinen einige inzwi- schen völlig vergessen zu haben; denn genau diesen Un- garn wird vorgeworfen, sie würden elementare Grund- werte einer freiheitlichen Gesellschaft missachten. Ich möchte daher an dieser Stelle noch einmal allen ans Herz legen, den Weg zu Sachlichkeit und respektvollem Um- gang zurückzufinden. Wenn Sie sachlich Kritik anbringen möchten, tun Sie dies bitte im direkten Dialog mit den ungarischen Kolle- gen, aber nicht in der unwürdigen Weise, in der dies zurzeit geschieht. Ja, in Ungarn regiert eine Zweidrittel- mehrheit. Die Regierungspartei wurde mit einer über- wältigenden Mehrheit der Bevölkerung gewählt. Dieses Ergebnis hatte seinen Grund in der katastrophalen Bilanz der Vorgängerregierungen. Und dieses demokratisch zu- stande gekommene Ergebnis sollte jeder respektieren. Im Übrigen sollten alle einmal die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass den Kritikern im In- und Aus- land auch heute noch eine Mehrheit von ungarischen Bürgerinnen und Bürgern gegenübersteht, die die unga- rische Regierungspolitik befürworten. Ich mahne daher dringend dazu, diese Menschen nicht vor den Kopf zu stoßen. Mit ihrer Zweidrittelmehrheit ist die Regierung Orban jetzt in der Lage, jahrelang aufgeschobene Reformen an- zustoßen und dies tut sie auch. Bei der Vielzahl der an- gestoßenen Reformen haben die Ungarn unbestritten auch Fehler gemacht. Aber: Erstens. Der Deutsche Bun- destag hat nicht darüber zu befinden, ob die Gesetze an- derer Länder gegen höherrangiges Recht verstoßen. Zweitens. Es ist absolut unangemessen gegenüber einem befreundeten Land und widerspricht nicht nur diplomatischen Gepflogenheiten, sondern dem Selbst- verständnis eines souveränen Staates, ihn „unmissver- ständlich“ zur Änderung seiner nationalen Gesetze auf- zufordern. Drittens. Es scheint an Ihnen offenbar vorbeigegan- gen zu sein, dass die Regierung Orban sofort, nachdem die EU-Kommission Kritik an dem Mediengesetz geäu- ßert hatte, angekündigt hat, das Gesetz entsprechend den Kritikpunkten zu korrigieren. Darüber hinaus ist doch gerade das ungarische Mediengesetz das beste Beispiel dafür, dass das ungarische Verfassungsgefüge durchaus noch intakt ist. Ja, ob Sie es glauben oder nicht, verehrte Opposi- tionskollegen, auch Ungarn hat eine Verfassung. Und wer sich die Mühe macht, einen Blick in diese Verfas- sung zu werfen, wird sehen, dass dort ausführlich die von Ihnen eingeforderten Grundrechte und Grundfrei- heiten anerkannt werden und festgeschrieben sind, unter anderem auch die Meinungs- und Pressefreiheit. Auf dieser Grundlage hat das ungarische Verfassungsgericht auch bereits wesentliche Teile des Mediengesetzes kas- siert und damit gezeigt, dass Meinungsfreiheit und Pres- sefreiheit in Ungarn nach wie vor gelten. Vor diesem Hintergrund wirkt die Kritik der deutschen Opposition eher unaufrichtig als besorgt. Des Weiteren hat mich Ihre Forderung, die EU-Kom- mission solle als Hüterin der Verträge nach Maßgabe der EU-Grundrechtecharta die Einhaltung der Pressefreiheit in der gesamten EU prüfen – nicht nur in Ungarn, son- dern ausdrücklich auch in Deutschland, Frankreich und 20846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) Italien –, vorsichtig formuliert, ein wenig erstaunt. Sie werfen also allen Ernstes auch noch Deutschland, Frank- reich und Italien die Missachtung europäischer Grund- werte vor. So allmählich habe ich das Gefühl, wir reden nicht mehr über europäische Länder, sondern über Schurkenstaaten. Ich habe jedenfalls von den weißrussi- schen Zuständen bei uns noch nichts gemerkt. Sollte ich mich hier irren, wovon ich nicht ausgehe, vertraue ich al- lerdings vollkommen auf die Funktionsfähigkeit unseres Rechtsstaates. Ich bin überzeugt, dass in letzter Instanz unser Bundesverfassungsgericht darauf achtet, dass die Pressefreiheit in Deutschland auf allen Ebenen respek- tiert wird. Außerdem möchte ich auf Folgendes hinweisen: Ich bin zwar kein Jurist, habe mich aber sachkundig gemacht und erfahren, dass – so wie Sie es wollen – die EU-Kom- mission überhaupt nicht dazu berechtigt ist, das ungari- sche Mediengesetz auf seine Vereinbarkeit mit der EU- Grundrechtecharta zu überprüfen. Das gilt übrigens auch für andere nationale Gesetze. Hierzu fehlt der EU und da- mit auch der Kommission schlichtweg die Zuständigkeit. Schauen Sie bitte in Art. 51 der Grundrechtecharta. Dort ist der Anwendungsbereich der Charta beschrieben. Die EU-Kommission weiß das auch und hat sich daher bisher auf eine Prüfung der Vereinbarkeit des Mediengesetzes mit der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste be- schränkt. Vielleicht sollten Sie, meine sehr verehrten Op- positionskollegen, einmal überlegen, inwieweit Sie sich mit Ihren Forderungen im Rahmen des geltenden Rechts bewegen, bevor Sie andere auf die Anklagebank setzen. Abschließend noch eine kurze Anmerkung zu der Forderung über die sogenannte Taskforce Media. Ich kann die Forderung nicht ganz nachvollziehen, da sie den Eindruck erweckt, die Taskforce hätte ihre Arbeit beendet und es sei dringend ein Handeln erforderlich, was derzeit nicht stattfindet. Nur zu Ihrer Information: Die Taskforce Media gibt es noch, und sie befasst sich unter anderem genau mit den von Ihnen genannten Punkten. Sie fordern also Dinge, die keiner Forderung bedürfen. Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn Sie sich künftig etwas genauer mit den Fakten und den Tat- sachen auseinandersetzen, bevor Sie Anträge in einem Parlament stellen. Zusammenfassend muss ich leider feststellen, dass die bisherigen Anträge, die die Opposition im Deutschen Bundestag bereits gegen Ungarn eingebracht hat und mit denen angeblich ein ehrlicher Dialog geführt werden sollte, bisher alles andere als ehrlich waren. Es mangelt Ihnen stark am notwendigen Respekt ge- genüber einem befreundeten europäischen Land und dessen Menschen. Und es mangelt ihnen leider auch an Ehrlichkeit und sachlicher Richtigkeit. Ich habe mich ei- gentlich von Beginn der Debatte über Ungarn an dage- gen gewehrt, als Anwalt Ungarns aufzutreten. Denn das können die Ungarn selbst viel besser. Aber die Kampa- gne, die die deutsche Opposition betreibt, zwingt mich dazu, öffentlich klarzustellen, dass es auch noch andere Meinungen in Deutschland gibt und Grüne, SPD und Linke nicht für ganz Deutschland sprechen. Ich möchte mich daher an dieser Stelle in aller Form beim ungari- schen Volk und der ungarischen Regierung für die Kam- pagne der deutschen Oppositionsfraktionen entschuldi- gen. Martin Dörmann (SPD): In den letzten Monaten haben wir im Zusammenhang mit den Euro-Rettungs- schirmen so oft über Europa diskutiert wie wohl kaum jemals zuvor. Von fast allen Fraktionen wurde dabei nicht nur die wirtschaftliche Bedeutung der Europäi- schen Union hervorgehoben, sondern auch die gemein- samen Werte und politischen Zielsetzungen betont. In der Tat: Die EU ist eine Wertegemeinschaft, die wir stär- ken und erhalten müssen. Wenn dies aber so ist, dann müssen wir gemeinsam konsequent dafür eintreten, dass diese Werte und die darauf bezogenen Normen der Ver- träge von allen Mitgliedstaaten eingehalten werden. Bei unserer heutigen Debatte geht es um die Stärkung der Pressefreiheit und Medienvielfalt in Europa. Die SPD-Bundestagsfraktion teilt nachdrücklich die ent- sprechende Zielsetzung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dabei geht es vordringlich um das ungarische Mediengesetz, das gerade diese Presse- freiheit und Medienvielfalt in Ungarn fundamental in Zweifel zieht. Hierzu hatte die SPD-Bundestagsfraktion gemeinsam mit den Grünen bereits frühzeitig einen um- fassenden Bundestagsantrag eingebracht, der leider auch damals keine Zustimmung bei den Koalitionsfrak- tionen gefunden hat. Ich halte es für in keiner Weise nachvollziehbar und geradezu skandalös, dass insbesondere die Medienpoliti- ker der Unionsfraktion im Hinblick auf das ungarische Mediengesetz eine beschwichtigende Haltung einneh- men, die an den Auswirkungen des Gesetzes völlig vor- beigeht. So wird ausweislich des Berichts des Ausschus- ses für Kultur und Medien von der Union vorgetragen, das oft kritisierte Ausgewogenheitsgebot im ungarischen Mediengesetz, das der dortige Medienrat zu überwachen habe, spiele in der Praxis keine Rolle. Bisher sei nur ein einziger Fall vorgekommen, der sich noch dazu als Kri- tik an einer zu positiven Berichterstattung über die Re- gierung entzündet habe. Sämtliche Befürchtungen ent- behrten demnach einer realen Grundlage. So weit die Position der Medienpolitiker der Union. Ich möchte Ihnen gerne ein Zitat von Andreas Weiss, dem früheren Koordinator Internationales bei der ARD, entgegenhalten. Der Ausschuss für Kultur und Medien hatte im Juli letzten Jahres ein öffentliches Expertenge- spräch zur Gefährdung der internationalen Pressefreiheit durchgeführt. Dabei ging es auch um die Auswirkungen des ungarischen Mediengesetzes. Andreas Weiss hat hierzu ausgeführt: „Es herrscht dort bereits ein Klima der Einschüchterung. Das bedeu- tet, unsere Korrespondenten finden immer weniger Bereitschaft, dass Menschen vor ausländischen Medien aussagen. Die sonst hilfreichen Kollegen in den Medien selber unterwerfen sich der Selbstzensur, auch amtliche Stellen verweigern jetzt zunehmend die Zusammenar- beit. Früher war das kein Problem, aber jetzt sichern sich alle nach oben ab, bis auf die Ebene von Ministerpräsi- dent Orban.“ Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20847 (A) (C) (D)(B) Und weiter führte Andreas Weiss aus: „Das ist ein- fach nicht mehr würdig einer normalen demokratischen Medienverfasstheit. Da kann man von Freiheit nicht mehr sprechen. Ich finde es sogar äußerst bedrückend, wenn sich Angst in einem EU-Mitgliedsland so breit macht, dass man sich nicht mehr traut, sich in die Öffent- lichkeit zu begeben.“ Andreas Weiss wies darauf hin, dass Deutschland und die Europäische Union zu der mit dem ungarischen Mediengesetz einhergehenden möglichen Kontrolle und Beschränkung der Presse-, Meinungs- und Informations- freiheit in Ungarn nicht schweigen dürften. Ansonsten würden sie in Zukunft jegliches Recht verspielen, Miss- stände außerhalb der Staatengemeinschaft aufzuzeigen und glaubhaft zu kritisieren. Genau dies ist das Anliegen der SPD-Fraktion: Wir wollen, dass es über unsere gemeinsamen Werte Presse- freiheit und Medienvielfalt eine breite öffentliche Debatte in Europa gibt, damit die Regierungen der ein- zelnen EU-Mitgliedsländer sowie die Europäische Kom- mission konsequenter und nachhaltiger tätig werden als in der Vergangenheit. Wir sind der Auffassung, dass das ungarische Mediengesetz gegen Art. 11 der Grund- rechtecharta verstößt. Die Kommission als Hüterin der Verträge müsste hier noch entschiedener als bisher vor- gehen. Insoweit ist es zu bedauern, dass die von der EU- Kommission in den letzten Tagen angekündigte Klage gegen Ungarn wegen Verletzung der EU-Verträge vor dem Europäischen Gerichtshof sich auf andere Vertrags- verstöße beschränkt und das ungarische Mediengesetz nicht ebenfalls mit angreift. Umso notwendiger ist die breite Diskussion hierüber, auch im Bundestag. Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel benennen, an dem die subtile Vorgehensweise der ungarischen Regierung Orban deutlich wird. Wir sollten uns zunächst vor Augen halten, dass rund 80 Prozent der ungarischen Medien als regierungsnah einzuschätzen sind. Es gibt nur wenige kritische Stimmen. Dazu zählt der unabhängige private Radiosender „Klubradio“, der ein traditionelles Profil als populärster Talkradiosender in Ungarn hat. Nun wurde seitens der neuen ungarischen Medienbehörde ein Anfang dieses Jahres anstehendes Bieterverfahren zur Neuausschreibung der entsprechenden Frequenzen so gestaltet, dass der Sender nicht zum Zuge kam, sondern ein anderer völlig unbekannter Sender. Wie hat man das angestellt? Nun, ganz einfach: Man hat einfach die Aus- schreibungsbedingungen so festgelegt, dass sie mit dem bisherigen Profil des Radiosenders „Klubradio“ nicht in Einklang zu bringen waren, indem man einen Musik- anteil von 60 Prozent festgeschrieben hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, Sie sollten sich die Frage stellen, ob Sie tatsächlich sol- chen Praktiken tatenlos zusehen wollen oder mit uns gemeinsam die europäischen Werte hochhalten. Es geht hierbei nicht um politische Entscheidungen des deutschen Parlamentes über innere Angelegenheiten Ungarns. Es geht um das Verteidigen der gemeinsamen Werte der Europäischen Union, sei es in Ungarn, Italien, Frankreich oder Deutschland. Es geht um Pressefreiheit und Medienvielfalt als Grundlage einer funktionsfähigen Demokratie. Das ungarische Volk ist der EU ja gerade aus diesen Gründen beigetreten. Es darf nicht sein, dass eine konservative ungarische Regierung, die aus anderen Gründen eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parla- ment errungen hat, diese zu einer Machtzementierung missbrauchen darf. Sie hat eine Medienkontrollbehörde einseitig mit lauter Parteigängern und diese für eine überlange Amtszeit von neun Jahren eingesetzt, um kri- tische Stimmen einzuschüchtern und kleinzuhalten. Lassen Sie uns unsere Stimme für das ungarische Volk und für eine lebendige Demokratie erheben. Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Der Wert der Pressefreiheit für die demokratische Grundordnung kann kaum überschätzt werden. Entsprechend fand das Bun- desverfassungsgericht anlässlich seines Spiegel-Urteils von 1966 deutliche Worte: Ein freie, nicht von der öffentlichen Gewalt ge- lenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbeson- dere ist eine freie, regelmäßig erscheinende politi- sche Presse für die moderne Demokratie unentbehr- lich. ... In der repräsentativen Demokratie steht die Presse zugleich als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen ge- wählten Vertretern in Parlament und Regierung. Sie dient der politischen Willensbildung. Wir Liberale verstehen diesen Leitsatz als Richt- schnur und auch als Motivation, den Schutz der Presse- freiheit ernst zu nehmen und auszubauen. So hat die Koalition auf Initiative der Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger jüngst das Presse- freiheitsgesetz verabschiedet und weitet damit den Schutz investigativ tätiger Journalisten deutlich aus. Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ge- nießt weltweit Ansehen und hat Vorbildfunktion. Das verschafft uns Autorität, die wir nutzen sollten. Gerade gegenüber unseren ungarischen Freunden, denen wir ih- ren Mut zur Freiheit 1989 nicht vergessen werden, müs- sen wir nun Mut zusprechen. Erinnern wir sie an ihren erfolgreichen Weg hin zum europäischen Wertekanon und ermutigen wir sie zu mehr Freiheit! Mit den Ungarn verbindet uns inzwischen längst mehr als die gemeinsame Geschichte. Uns verbindet die europäische „Einheit in Vielfalt“. In Europa sind wir als Wertegemeinschaft vereint. Nicht nur die Verträge, son- dern insbesondere Art. 11 der EU-Grundrechtecharta bindet auch die ungarische Regierung, wonach jede Person das Recht auf freie Meinungsäußerung hat. Ich zitiere: „Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behörd- liche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet.“ Gerade weil wir uns mit den Ungarn verbunden füh- len, müssen wir sie an diese gemeinsamen Werte erin- nern. Je einstimmiger dieser Aufruf seitens der EU ins- gesamt erfolgt und je nachdrücklicher die Kommission die Beachtung einfordert, umso größer ist die Chance, 20848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) dass die Ungarn aus eigener Überzeugung den Mut zur Freiheit fassen. Das ungarische Verfassungsgericht hat bereits we- sentliche Teile des Mediengesetzes als unrechtmäßig qualifiziert. Und in der Bevölkerung formiert sich be- reits bürgerschaftlicher Widerstand wie zum Beispiel die Bewegung „Eine Million für die Pressefreiheit“. Ich so- lidarisiere mich ausdrücklich mit diesen Strömungen, weil sie demokratisch vom Souverän ausgehen: dem ungarischen Volk. Ich bin überzeugt, dass wir den res- pektvollen Ton unter Freunden halten und gleichzeitig die Ungarn zu demokratischen Reformen aufrufen kön- nen, ohne sie dabei in ihrer Souveränität zu verletzen. Außenpolitik mit der Brechstange stärkt die falsche Seite in Ungarn, weil dann die Regierung gegen Einflüsse des Auslands leicht die Karte der nationalen Solidarität spie- len könnte. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert in ihrem Antrag eine unmissverständliche Positionierung der Bundesregierung. Ich muss den Kolleginnen und Kolle- gen entgegenhalten, dass die Position der Bundesregie- rung eindeutig ist. Sowohl der ehemalige Staatsminister Werner Hoyer als auch sein Nachfolger im Amt, Michael Link, fanden ebenso angemessene wie deutliche Worte, als sie die Ungarn an unseren europäischen Wertekanon erinnerten und Änderungen am Mediengesetz forderten. Entsprechend hat die Bundesregierung gegenüber der EU-Kommission ihre Erwartung formuliert, dass die Einhaltung der Grundrechtecharta gewährleistet wird. Als erster, wenn auch kleiner Erfolg dieser abge- stimmten Politik darf die Gesetzesänderung aus dem Frühjahr gelten, in der zum Beispiel von der Verpflich- tung der Presse zu einer „ausgewogenen Berichterstat- tung“ Abstand genommen wurde. Insofern werden wir den heute zur Abstimmung ste- henden Antrag ablehnen. Das Anliegen, die Ungarn zu einer liberalen Mediengesetzgebung zu bewegen, wer- den wir aber ohne Nachlassen weiterverfolgen. Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen befasst sich mit einem Thema, das seit Jahren Unbehagen hervorrufen muss: Die Aushöhlung der Informationsfreiheit – hier, mitten in Europa. Als Beispiele nennt der Antrag Ungarn, Ita- lien und Frankreich. Dazu gehört unbedingt auch der Abhörskandal in Großbritannien. Dankenswerterweise wird auch die Einflussnahme deutscher Politiker auf die Medienpolitik des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in unserem Land angesprochen. Alle diese Prozesse und Verfehlungen untergraben in der Tat, wie es in dem Antrag heißt, den europäischen Wertekanon, also auch den Wertekanon in den Kernländern der westlichen De- mokratie. Dieser Kritik, so wie sie in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen benannt wird, kann sich meine Fraktion anschließen. Deswegen können wir dem Antrag auch zustimmen. Was uns fehlt – dies ist für die Fraktion Die Linke ein generelles Problem –, ist, dass der Begriff der Pressefrei- heit relativ vage bleibt. Tatsache ist, dass der Prozess der Medienkonzentration aus wirtschaftlichen Gründen einer ungehinderten Meinungsäußerung aller Bürgerinnen und Bürger immer noch sehr enge Grenzen setzt. Oder, nach den Worten des Publizisten Paul Sethe – ich zitiere –: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“ Tatsache ist auch, dass die Meinungs- und Pressefreiheit gerade von den Mächtigen des Landes zur Stimmungsmache und zur pu- blizistischen Beeinflussung missbraucht wird. Sie erinnern sich doch bestimmt an folgende Schlag- worte: „Die faulen Griechen“, „ALG-II-Empfänger als Sozialschmarotzer“, „Der Krieg in Afghanistan als huma- nitäre Intervention“. Das alles ist mediale Irreführung – im Namen der Pressefreiheit. Es gibt noch ein weiteres Argument: Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen spricht davon, dass durch die Einflussnahme von Regierungen und Konzernen auf Journalistinnen und Journalisten die Medien – Zitat – „ihre Aufgabe als Wachhund nicht mehr effektiv wahr- nehmen“ können. Der Wachhund ist allerdings von sich aus schon ziemlich zahnlos geworden, und das nicht nur wegen der Macht des Geldes der großen Medienhäuser und nicht nur wegen der Bemühungen vonseiten der politisch Herrschenden. Die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit der Medien wird beschnitten. Manchmal reicht schon der direkte Griff zum Telefon, wie jüngst erlebt. Die Zahnlosigkeit hat auch damit zu tun, dass die Demokra- tie selbst sich nicht mehr hinterfragt und dass dadurch journalistisches Handeln beeinflusst wird. Gleichzeitig ist der Berufsstand von Journalistinnen und Journalisten in der Zwickmühle, Täter und Opfer in einer Person sein zu müssen. Senden oder schreiben Journalistinnen und Journalis- ten entlang der natürlich unausgesprochenen Vorgaben des herrschenden Meinungsklimas, behalten sie ihren Job länger und verlieren schneller ihren kritischen Geist. Senden oder schreiben sie gegen den Strom, kann es passieren, dass der nachfragende Beitrag ihr letzter beim alten Arbeitgeber war. Die alternative Ausweichbewe- gung in den Onlinebereich führt eher zur Annahme eines handfesten Zweitjobs als zur einträglichen Beschäfti- gung im erlernten Beruf. Die Presse- und Medienfreiheit hängt also nicht im luftleeren Raum. Das gilt auch für die Erweiterung durch die Netzrealität. Um Digitalisierung und Netzaffinität wird man in der Mediendebatte nicht mehr herumkom- men. Das Internet ist unzweifelhaft ein neues integriertes Gesamtmedium, das traditionelle Inhalte neu verteilt, aufbereitet und mit bislang undenkbarer Geschwindig- keit überallhin transportiert. Nun passiert vonseiten der Politik etwas Seltsames: Die Vorzüge des Netzes – der ungehinderte Informa- tionsaustausch, die mitgestaltende Medienproduktion und Mediennutzung, die verwertungsfreie Kommunika- tion – werden zu wenig als wesentliche und bewahrens- werte Güter demokratischer Teilhabe verteidigt. Statt- dessen unterstützen die politisch Verantwortlichen Teilinteressen von Unternehmen, Verwertungsgesell- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20849 (A) (C) (D)(B) schaften, Presseverlagen und Einzelverbänden, um aus Rentabilitätsgründen marktgängige Vergütungsformen durchzusetzen. Dadurch werden die Verteilungskämpfe für bestmögliche Verkaufspositionen auf dem Feld der Information nun im Internet fortgeführt. Der Freiheits- aspekt der Medien, der sich zum ersten Mal in der Ge- schichte technisch wirklich realisieren lässt, wird hier nicht in seiner vollen Tragweite ernst genommen. Die Achtung rechtsstaatlicher Grundsätze, von der in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen die Rede ist, bedarf sicherlich in allen Medienformaten der Verteidi- gung. Dazu gehört auch eine ethisch verantwortungs- volle mediale Präsentationsform. Die Linke im Deut- schen Bundestag streitet für eine Pressefreiheit, die auch die konkrete ökonomische und inhaltliche Ausgestaltung im Fokus hat. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am 3. Mai ist der Internationale Tag der Pressefreiheit. An diesem Tag werden wir wieder an die Verstöße gegen die Pressefreiheit erinnert werden. Diese finden leider nicht nur in diktatorischen Regimen statt, sondern auch in Eu- ropa. In der Rangliste der Pressefreiheit, die die Organi- sation Reporter ohne Grenzen zu diesem Tag veröffent- licht, war Ungarn vergangenes Jahr zu Recht nur auf Platz 40, Frankreich auf Platz 38, Italien auf Platz 61. Das zeigt erst einmal: Es gibt einiges zu tun. Ich bin überzeugt, dass das Hohe Haus das gemeinsame Ziel an- strebt, die Pressefreiheit in ganz Europa zu verbessern. Wir wollen in allen europäischen Staaten Champions ha- ben, die auf Platz 1 erscheinen. Es ist zu hoffen, dass sich die von uns im vorliegenden Antrag kritisierten Missstände wenigstens ein Stück weit verbessert haben und dass sowohl Deutschland als auch Ungarn in der Rangliste von Reporter ohne Grenzen nächste Woche weiter oben erscheinen. Wir Grünen sind der Überzeugung, dass eine freie Presse ein wesentlicher Bestandteil einer funktionieren- den Demokratie ist. Sie ist die Grundlage der Meinungs- findung und Willensbildung. Nach Art. 11 der Grund- rechtecharte der Europäischen Union ist die Meinungs- äußerung und Informationsfreiheit zu achten. Wir for- dern daher gegenüber den Regierungen der Mitgliedstaa- ten der Europäischen Kommission, dass die Missach- tung der Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit innerhalb der Staatengemeinschaft in keiner Weise tole- riert werden. Als wir Grünen diesen Antrag vor fast einem Jahr ein- gebracht haben, ist diese Vorgabe der Grundrechtecharte der EU jedoch in einigen europäischen Ländern erodiert. Gerade in Ungarn waren die Zustände besorgniserre- gend. Die Kollegen aus der Regierungskoalition haben in den Beratungen des Antrags im Ausschuss behauptet, dass die strittigen Befugnisse des dortigen Medienrates in der Praxis keine Rolle spielen. Ich sehe das anders: Einem kritischen Radiosender wurde zum Beispiel seine Sendelizenz entzogen. Seit wir unseren Antrag einge- bracht haben, hat zwar auf Druck der Europäischen Kommission die ungarische Regierung unter Viktor Orban das Gesetz partiell abgeschwächt, aber die Ein- schränkungen der Pressefreiheit sind dort noch immer massiv: So ist der Medienrat nur mit Parteigängern des Ministerpräsidenten besetzt und die Vorgabe der „ausge- wogenen Berichterstattung“ bleibt für Rundfunk und Fernsehen erhalten. Wer dagegen verstößt, muss mit Strafzahlungen rechnen. Darunter kann niemand ernst- haft eine Lösung des Problems verstehen. Angesichts dessen möchte ich deshalb noch einmal deutlich betonen, dass das Klima in Ungarn unter den Journalisten dort häufig ein ängstliches ist. Angst ist aber eine dramatisch schlechte Voraussetzung für kriti- sche Berichterstattung, die in einer Demokratie als Kon- trollfunktion und als vierte Gewalt im Staat elementar ist. Das ungarische Mediengesetz entspricht zudem selbst nach der Auffassung des Auswärtigen Amtes nicht den Standards, die in Europa allgemein gelten müssten. Gerade wenn in der aktuellen Euro-Debatte immer wie- der – und das zu Recht – mit der europäischen Wertege- meinschaft argumentiert wird, dann müssen wir genau- estens darauf achten, dass diese Werte nicht nur als Orientierung dienen, sondern auch eingehalten werden. Leider findet sich Deutschland in der Rangliste von Reporter ohne Grenzen aber auch nicht unter den Top 10, sondern erst an Stelle 16. Während der Aus- schussberatungen wurde kritisiert, dass die Situation in Deutschland mit Frankreich oder Italien nicht zu verglei- chen sei. Das ist auch nicht der Fall. Aber in Deutsch- land herrschen Missstände, die in einer Demokratie an- gesprochen werden müssen. Zum einen hat die Exekutive in der Vergangenheit immer wieder versucht, journalistisches Material zu be- schlagnahmen – zum Beispiel durch die Polizei bei den jüngsten Castortransporten – und die Herausgabe von journalistischen Mobilfunkverbindungsdaten bei der Strafverfolgung Dritter zu erzwingen. Zum Zweiten sind Journalisten von der Auswertung ihrer Verbindungsda- ten durch Polizei und Justiz betroffen. Zum Dritten macht die Umsetzung des Rechts auf Zugang zu den Ak- ten öffentlicher Stellen nur langsame Fortschritte. Zum Vierten bereitet die zunehmend restriktive Akkreditie- rungspraxis von privaten und halböffentlichen Veranstal- tern Probleme. Sie schränken die Berichterstattung ein oder machen die Akkreditierung von einer vorherigen Überprüfung durch den Verfassungsschutz abhängig. Der Deutsche Journalisten-Verband kritisiert außer- dem Versuche seitens der Politik, Einfluss auf Sendun- gen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu nehmen, um unliebsame Berichterstattung zu vermeiden. Darüber hinaus gab es in der Vergangenheit immer wieder Fälle, in denen Vertreter des Staates bei der Besetzung von zentralen Positionen bei den öffentlich-rechtlichen Rund- funkanstalten eingegriffen haben und Aufsichtsgremien in den öffentlich-rechtlichen Anstalten oft nicht ausrei- chend staatsfern, sondern mit Ministerpräsidenten oder anderen Mitgliedern der Exekutive besetzt sind. All diese Punkte lassen keinen Platz eins zu. Unsere Regierung ist daher aufgerufen, weitere Schritte anzustoßen, um die Pressefreiheit in Deutsch- land und Europa zu verbessern. Deshalb bitten wir um die Unterstützung unseres Antrags. 20850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zehnten Ge- setzes zur Änderung des Versicherungsauf- sichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 17) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Mit dem heute ein- gebrachten Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Ände- rung des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) machen wir den ersten Schritt zur Realisierung eines der wich- tigsten EU-Reformvorhaben im Finanzdienstleistungs- bereich der letzten Jahre: Wir setzen die EU-Richtlinie über die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und Rückversicherungstätigkeit – besser bekannt unter dem Namen „Solvency II“ bzw. „Solvabilität II“ – in nationales Recht um. Mit Solvency II erfolgt im Versicherungsbereich eine grundlegende Reform des Versicherungsaufsichtsrechts in Europa. Insbesondere die Eigenkapital- und Risiko- managementvorschriften für Versicherer werden voll- ständig modernisiert. Die Zusammenarbeit der Aufseher in Aufsichtskollegien und die Aufsicht über Versiche- rungsgruppen werden verbessert. Solvency II gehört damit in die Reihe der großen Finanzmarktreformen wie Basel II und III oder die Er- richtung des Europäischen Finanzaufsichtssystems. Auch wenn der Beginn der Arbeiten an Solvency II lange vor der Krise lag, ist Solvency II inzwischen wesentlicher Bestandteil der Finanzmarktreformen, die wir als Konsequenz aus der letzten Krise bereits umge- setzt haben. Als weitere Beispiele nenne ich hier nur das Restrukturierungsgesetz, das Leerverkaufsverbot, die Regeln zu Vergütungen, die Regulierung der Rating- agenturen, das Anlegerschutz- und Funktionsverbesse- rungsgesetz oder das Finanzanlagenvermittlergesetz. In naher Zukunft werden weitere Regulierungsvorhaben, wie die Regulierung der außerbörslichen Derivate- märkte, MiFID 2 sowie die Regulierung von Hedge- fondsmanagern und des Schattenbankenwesen folgen. Versicherungen haben eine erhebliche volkswirt- schaftliche Bedeutung. Der europäische Versicherungs- markt und insbesondere der Versicherungs- und Rück- versicherungsmarkt in Deutschland haben ein immenses Volumen. So beträgt der Kapitalanlagebestand der deut- schen Erst- und Rückversicherer mehr als 1 Billion Euro. Die Beitragseinnahmen der Lebensversicherung betrugen im vergangenen Jahr gut 85 Milliarden, die der Schadens- und Unfallversicherung gut 55 Milliarden Euro. Hinzu kommen noch Beiträge an die private Kran- kenversicherung in Höhe von knapp 35 Milliarden Euro. Fast jeder Bürger ist auch Versicherungsnehmer, sei es zur Absicherung von Lebensrisiken oder zur Alters- vorsorge. In Deutschland haben einige der größten Ver- sicherer der Welt, aber auch viele kleinere Versiche- rungsunternehmen ihren Sitz. Diese Unternehmen beschäftigen direkt fast 300 000 Arbeitnehmer. Darüber hinaus sind über 250 000 selbstständige Versicherungs- vermittler und -berater in diesem Bereich tätig. Diese Zahlen verdeutlichen, dass wir in den nächsten Monaten ein Gesetz mit enormer Bedeutung für jeden Bürger und für den Standort Deutschland beraten. Neben seiner finanzpolitischen Bedeutung spielt vor allen Dingen auch seine sozialpolitische Bedeutung eine große Rolle, denn es werden insbesondere auch Lebens- risiken abgedeckt und Altersvorsorgen durch Versiche- rungen gesichert. Dies ist gerade auch vor dem Hin- tergrund der demografischen Entwicklung und der steigenden Lebenserwartung essenziell. Es ist also gut und richtig, dass wir uns – gerade im Hinblick auf die vergangenen Finanzkrisen – nun auch mit Regulierungs- reformen im Versicherungsbereich beschäftigen. Mit Solvency II erfolgt eine Neuordnung der regula- torischen Landkarte für europäische Versicherungsunter- nehmen. Die Umsetzung führt zu einem Paradigmen- wechsel bei ihren wert- und risikoorientierten Entscheidungsprozessen. Solvency II ist ein unglaublich komplexes Regelwerk, über das bereits auf europäischer Ebene sehr viel diskutiert und verhandelt wurde. Zu Sol- vency II wurden zahlreiche Auswirkungsstudien erstellt. Viele Einzelfragen waren und sind noch zu klären. Das Solvency-II-Projekt ist im Übrigen auch noch nicht abgeschlossen. Solvency II wird – wie mittler- weile sehr viele europäische Regulierungsvorhaben – auf Basis des sogenannten Lamfalussy-Verfahrens um- gesetzt. Das bedeutet, dass das Europäische Parlament und der Europäische Rat nur noch eine Rahmenrichtli- nie verabschieden. Die technischen Fragen und Ausfüh- rungsdetails werden dann in weiteren Schritten von der Kommission und der Europäischen Aufsichtsbehörde EIOPA ausgearbeitet und umgesetzt. Die europäische Rahmenrichtlinie wurde bereits 2009 verabschiedet; eine Umsetzung in nationales Recht war bis zum 31. Oktober 2012 vorgesehen. Wesentliche technische Details sind aber noch immer in der Erarbeitung. Inhaltlich lässt sich feststellen, dass sich die aufsichts- rechtlichen Bestimmungen durch Solvency II wesentlich stärker als zuvor an qualitativen Vorgaben orientieren werden. Darüber hinaus gewinnen auch die Instrumente, die im Bankenbereich seit Jahren üblich sind, wie bei- spielsweise ein professionelles Risikomanagement, an Bedeutung. Damit sind dann auch Versicherungsunter- nehmen besser in der Lage, Risiken zu erkennen, zu be- urteilen und entsprechend zu steuern und zu überwa- chen. Die Veränderungen durch Solvency II im Bereich Risikomanagement und beim Kapitalallokationsprozess der Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen sind daher wichtig und begrüßenswert. Selbstverständlich sind wir uns darüber im Klaren, dass die Umsetzung von Solvency II einen erheblichen Kraftakt für die Versicherungs- und Rückversicherungs- branche bedeutet. Wir glauben aber, dass sich dieser Auf- wand lohnt. Denn die regulatorischen Neuerungen durch Solvency II dienen vor allen Dingen dem besseren Schutz von Versicherungsnehmern und Versicherungsnehmerin- nen sowie Begünstigten. Zudem dient das Regelwerk der Integration des europäischen Versicherungsmarktes und einer Verbesserung seiner Wettbewerbsfähigkeit. Auch werden regulatorische Unterschiede zwischen dem Ban- ken- und Versicherungsbereich beseitigt. Und ganz wich- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20851 (A) (C) (D)(B) tig: Die Umsetzung von Solvency II dient in großem Maße der Erhöhung der Finanzmarktstabilität. Wir werden den Gesetzentwurf nun in die Ausschüsse überweisen und dort bearbeiten. Wie Sie alleine dem Seitenumfang des Gesetzentwurfs entnehmen können, wird die Beratung sehr arbeitsintensiv. Es werden sich im Verlaufe des parlamentarischen Prozesses noch sehr viele Einzelfragen ergeben. Wir werden daher den inten- siven Kontakt zur Branche und zu den betroffenen Un- ternehmen, aber auch zur Opposition suchen und hoffen hier auf eine konstruktive Zusammenarbeit. Zwei Aspekte von Solvency II wurden bisher leider politisch zu wenig beachtet: Erstens. Die Auswirkungen von Solvency II auf die Anlagestrategie von Versicherungsunternehmen und da- mit auf andere Marktteilnehmer in der Finanzwirtschaft. Hier ist die erhebliche Bedeutung des Versicherungsbe- reichs für die Bankenfinanzierung zu nennen, aber auch die Auswirkung auf die Realwirtschaft; hierzu gab es im Vorfeld zum Beispiel umfangreiche Diskussionen mit der Immobilienwirtschaft. Zweitens: die Interdependenzen zwischen dem Sol- vency-II-Regelwerk und anderen Regulierungsvorha- ben, wie zum Beispiel Basel III oder CRD IV. Wohl wissend, dass unser Gestaltungsspielraum auf nationaler Ebene hierbei sehr gering ist, werden wir diese Fragen bei der Umsetzung der VAG-Novelle sehr genau im Auge behalten. Zusätzlich zu der ohnehin sehr hohen Vielschichtig- keit des Gesetzentwurfs ergibt sich eine weitere Kom- plexität: Wie eingangs erwähnt, müssten wir die Sol- vency-II-Rahmenrichtlinie nach derzeitiger Rechtslage bis Ende Oktober umgesetzt haben. Allerdings wird sich der Zeitplan, wie die EU-Kommission heute angekün- digt hat, weiter verschieben. Hintergrund sind die lau- fenden Verhandlungen auf EU-Ebene zur Omnibus-II- Richtlinie, die auch Änderungen an der bereits bestehen- den Rahmenrichtlinie vorsehen. Natürlich ist es wün- schenswert, die durch die Omnibus-II-Richtlinie entste- henden Änderungen noch im laufenden Gesetz- gebungsverfahren zur zehnten Novelle des VAG aufzu- nehmen und umzusetzen, um ein nachträgliches, erneu- tes Aufreißen des Versicherungsaufsichtsgesetzes zu vermeiden. Ich möchte Sie daher bereits jetzt darauf vorbereiten, dass möglicherweise sehr viele Änderungs- anträge gestellt werden und sich der Gesetzgebungspro- zess insgesamt verzögern wird. Sie sehen: Die zügige Umsetzung des gesamten Vor- habens wird eine große Herausforderung darstellen. Diese Herausforderung können wir nur meistern, wenn wir alle gemeinsam intensiv daran arbeiten. Wir laden Sie ein, sich intensiv an den Beratungen zu beteiligen. Denn so komplex der Sachverhalt und das Regelwerk auch sein mögen: Ich denke, am Ende wird sich der Auf- wand lohnen, wenn wir damit eine höhere Stabilität des Versicherungssektors erreichen. Manfred Zöllmer (SPD): Wir debattieren heute über den Entwurf des Zehnten Gesetzes zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes. Auch dieses Gesetz hat mit den Folgen der Finanzkrise zu tun. Mit diesem Zehn- ten Änderungsgesetz wird die Solvency-II-Richtlinie im deutschen Gesetz verankert. Solvency II ist insgesamt eines der wichtigsten Projekte im Bereich Finanzdienst- leistungsaufsicht auf der EU-Ebene. Die heutigen Eigen- mittelanforderungen für Versicherungsunternehmen sol- len damit zu einem konsequent risikoorientierten System weiterentwickelt werden. Die neuen Regelungen sollen Versicherungsunternehmen vor der Insolvenz bewahren und zu einer verbesserten Eigenmittelausstattung von Versicherungsunternehmen führen. Darüber hinaus wird mit Solvency II eine angemessene Harmonisierung der Aufsicht in Europa angestrebt. Dies ist zu begrüßen wie auch das übergeordnete Ziel, nämlich die Erst- und Rückversicherungsunternehmen in der Europäischen Union, die bislang vergleichsweise gut durch die Finanzkrise und die jetzige europäische Staats- schuldenkrise gekommen sind, auch für die Zukunft kri- senfest zu machen. Die Kernelemente des Vorhabens sind die Verbesserung des Schutzes der Versicherungs- nehmer, die Modernisierung des regulatorischen Rah- mens, eine vorausschauende, risikobasierte Aufsicht und die Integration des europäischen Versicherungsmarktes. Gleichzeitig sollen regulatorische Unterschiede zwi- schen Banken und Versicherungen verringert werden, was sinnvoll ist, da die Finanzkrise durchaus gezeigt hat, dass es zu vergleichbaren Risiken kommen kann, die der Steuerzahler womöglich auffangen muss. Die Berechnung der Eigenmittelanforderungen von Versicherungsunternehmen wird mit dem Gesetz neu ausgerichtet. Um das Insolvenzrisiko von Versiche- rungsunternehmen zu minimieren, soll mithilfe einer so- genannten Drei-Säulen-Strategie den Risiken begegnet werden. Im Rahmen der ersten Säule wird geregelt, wie hoch die Eigenmittel der Versicherer künftig sein müs- sen. In der zweiten Säule werden die Aufsichtsrechte der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, und der europäischen Versicherungsaufsichtsbehörde, EIOPA, festgelegt. Weiterhin ist geregelt, wie sie ihre in- nere Organisation, Governance, gestalten müssen. Die dritte Säule befasst sich mit Marktdisziplin, Transpa- renz, Veröffentlichungspflichten und dem Meldewesen gegenüber den Aufsichtsbehörden. Wie bei jedem umfangreichen Gesetz – dieser Gesetz- entwurf umfasst fast 350 Seiten – liegen einige Pro- bleme im Detail. So werden wir uns anschauen müssen, inwieweit das Gesetz den in Deutschland besonders wichtigen Bereich der betrieblichen Altersversorgung, Pensionskassen und Pensionsfonds berührt. Ich denke, es ist keinem damit geholfen, wenn wir Eigenkapitalvor- schriften in einer Form ausweiten, die einer etablierten und erfolgreichen betrieblichen Altersversorgung entge- genstehen. Im Moment sieht der Gesetzentwurf bei- spielsweise vor, dass Pensionskassen nicht die Möglich- keit eröffnet wird, sich per Antrag der Anwendung der Solvency-II-Rahmenrichtlinie zu unterwerfen. Ausweis- lich der Gesetzesbegründung dient dies dem Ziel, den aktuellen Überlegungen auf EU-Ebene, die Solvency-II- 20852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) Rahmenrichtlinie auf Pensionskassen und Pensionsfonds zu übertragen, nicht vorgreifen zu wollen. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme bereits darauf hingewiesen, dass eine Eins-zu-eins-Übertragung den Unterschieden zwischen Versicherern und Einrichtungen der betriebli- chen Altersversorgung nicht gerecht würde. Wir werden uns nachdrücklich dafür einsetzen, dass die Einrichtun- gen der betrieblichen Altersversorgung auch in Zukunft ihre Aufgaben erfüllen können. Einen kritischen Blick werden wir auf die Regelun- gen zur Geschäftsorganisation werfen. Hier scheint es ei- nige Inkonsistenzen mit anderen europäischen Rechts- vorschriften zu geben. Sowohl der Bundesrat als auch die Versicherungsunternehmen haben darauf verwiesen, dass geprüft werden muss, ob die Anforderungen an die Einstufung handelsrechtlicher Rückstellungen für Bei- tragsrückerstattung, RfB, als Eigenmittel weiter konkre- tisiert werden könnten. Für die deutschen Versicherer ist es von Bedeutung, in welcher Höhe ihre RfB als Eigen- mittel, Qualitätsklasse 1, aufsichtsrechtlich anerkannt werden. Hier scheint das vorliegende Gesetz noch wenig präzise zu sein. Der Bundesrat fordert in seiner Stellungnahme unter anderem, das 2009 in das Versicherungsaufsichtsgesetz aufgenommene Kreditaufnahmeverbot für Versicherer wieder zu streichen. Die Aufnahme von Fremdmitteln solle im engen Rahmen zulässig sein. Die Bundesregie- rung will den Vorschlag offenbar prüfen. Es gibt Hin- weise, dass diese Regelung mit dazu beigetragen hat, dass die deutschen Versicherungsunternehmen relativ unbeschadet durch die Finanzkrisen der letzten Jahre ge- kommen sind. Eine Reihe von weiteren Punkten werden wir sicher- lich in der kommenden ausführlichen Anhörung erör- tern. Die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht soll bis zum 31. Oktober 2012 erfolgen. Offenbar erwägt die Europäische Kommission, die neuen Anforderungen an die Versicherungsunternehmen erst zum 1. Januar 2014 in Kraft zu setzen. Wir brauchen ein novelliertes Versicherungsaufsichtsgesetz und sollten uns die not- wendige Zeit für ein intensives Beratungsverfahren neh- men. Björn Sänger (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetz- entwurf zur Novellierung des Versicherungsaufsichts- gesetzes wird dieses komplett umgekrempelt. Das seit 1901 bestehende Versicherungsaufsichts- gesetz wird mit dem Artikelgesetz siebenteilig geglie- dert. Es gibt zunächst die Allgemeinen Vorschriften, dann die Vorschriften über die Erstversicherung und die Rückversicherung, die Betriebliche Altersvorsorge, Gruppen von Versicherungsunternehmen, die Aufsicht, die Straf- und Bußgeldvorschriften und schließlich die Übergangs- und Schlussbestimmungen. Der versicherungsaufsichtsrechtliche Neustart wird durch die europäische Richtlinie 2009/138/EG, genannt Solvency II, nötig. Diese entschlackt das europäische Aufsichtsrecht ebenfalls: war die Versicherungsaufsicht zuvor in 13 Richtlinien geregelt, gibt es nun nur noch diese eine. Doch warum war ein solcher Neustart nötig? John Maynard Keynes sagte schon: „Markets can remain irra- tional a lot longer than you can remain solvent“. Zwar verlief die Finanzmarktkrise für die europäischen Versi- cherungskonzerne recht glimpflich, doch hat man am Beispiel des US-amerikanischen Unternehmens AIG ge- sehen, welches Szeanrio droht, sollte es Turbulenzen im Versicherungssektor geben. War zuvor die tatsächliche Risikoexposition der Ver- sicherer nur unzureichend berücksichtigt, gibt es nun mit Solvency II einen ökonomischen und risikobasierten Ansatz, in dessen Zentrum die eigenständige Ermittlung und Beherrschung der Unternehmensrisiken durch die Versicherer stehen. Die Aufsicht beruht dabei auf drei Säulen: Die erste Säule normiert die quantitativen Eigen- mittelanforderungen im Hinblick auf die Bezugsgrößen Zielsolvenzkapital und Mindestkapital. In der zweiten Säule geht es um das Governanceregime in den Versi- cherungsunternehmen, und die dritte Säule erlegt den Unternehmen umfangreiche Berichtspflichten gegenüber den Aufsehern und der Öffentlichkeit auf. Zudem sieht die im Lamfalussy-Verfahren verab- schiedete Rahmenrichtlinie Solvency II eine Gruppen- aufsicht für komplexe Unternehmensverpflichtungen, die im Versicherungssektor häufig zu finden sind, vor und beschränkt sich bei der Betrachtung nicht nur auf EU bzw. EWR, sondern ermöglicht auch die Einbezie- hung von Drittstaaten. Ebenso wie diese Vollharmonisierung des Aufsichts- rechts einen Meilenstein darstellt, ist sie auch hochkom- plex und stellt besonders kleine und mittlere Versiche- rungsunternehmen vor erhebliche Probleme durch etwa die aufwendigen Eigenmittelkalkulationen. Das Propor- tionalitätsprinzip muss daher stets Beachtung finden. Die Eigenmittelregelungen beeinflussen das Investi- tionsverhalten der Versicherungsunternehmen erheblich und verändern damit auch die Rahmenbedingungen für die Anbieter von Finanzprodukten als potenziellen Investitionen. Die Anrechnungsfähigkeit und Klassi- fizierung der Eigenmittelbestandteile hat enorme Aus- wirkungen auf die Anlagepolitik. So gibt es etwa enorm hohe Kapitalanforderungen für Immobilieninvestments, die pauschal privilegierten EU- Staatsanleihen gegenüberstehen. Da muss man sich dann fragen, ob das ganze Solvency-II-Projekt tatsächlich dem eigenen Anspruch an eine risikoangemessene und verhältnismäßige Regulierung gerecht werden kann. Wie schon in unserem Antrag aus dem Sommer ver- gangenen Jahres formuliert, sollte darauf ein besonderes Augenmerk bei den weiteren Verhandlungen zur konkre- ten Ausgestaltung des Regelungsrahmens liegen. Außerdem muss es beim Übergang in eine komplett neue Versicherungsaufsichtswelt praktikable Übergangs- fristen geben. Dies erscheint inzwischen sogar der EU- Kommission fraglich, weshalb sie das Scharfschalten der neuen Regelungen gestern um mindestens ein halbes Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20853 (A) (C) (D)(B) Jahr verschoben hat. So wichtig diese Regelungen sind, so wichtig ist es auch, nichts mit heißer Nadel zu stri- cken und so nicht nur die Versicherer gegebenenfalls in die Bredouille zu bringen, sondern es kann auch die ganze Finanzindustrie durch unausgereifte Investment- vorschriften unangemessen betroffen werden. Die schon jetzt vorhandene Komplexität wird durch die Erlassung von korrespondierenden Level-2- und Level-3-Rechtsakten weiter erhöht. Wir werden daher bei der Umsetzung von Solvency II ins deutsche Versicherungsaufsichtsrecht sehr genau hinschauen müssen, welche Auswirkungen die notwen- digen Maßnahmen haben, um nicht ein unnötiges Büro- kratiemonster zu schaffen oder die Finanzierung ganzer Branchen abzuwürgen. Harald Koch (DIE LINKE): Wir beraten heute einen Gesetzentwurf zur Änderung des Versicherungsauf- sichtsgesetzes, dessen Inhalte uns – ähnlich wie bei Basel III – schon monate-, ja sogar jahrelang beschäfti- gen. Die Rede ist von der Umsetzung der EU-Richtlinie zu Solvency II. Damit soll künftig verhindert werden, dass Versicherer pleitegehen und Verpflichtungen gegen- über Kunden und Geschädigten nicht mehr erfüllen kön- nen. Dies bringt einiges an Neuem für die Versicherungs- unternehmen mit sich. In der Tat handelt es sich um ein ambitioniertes und hochkomplexes Projekt. Im Kern geht es in der Neuregelung darum, dass die Versicherer zumeist mehr Eigenkapital unterlegen müs- sen. Dem liegt nun eine „ganzheitliche Risikobetrach- tung“, ein neues Risikomanagement zugrunde. Die Eigenkapitalanforderungen sollen sich an den tatsächlich eingegangenen Risiken in der Kapitalanlage orientieren und nicht mehr am Prämienvolumen. Je höher das ermit- telte Risiko, desto mehr Eigenmittel müssen zukünftig zur Unterlegung dieses Risikos bereit stehen. Es werden des Weiteren neue Bewertungsvorschriften aufgestellt. Und das Aufsichtsrecht im europäischen Binnenmarkt soll einheitlichen Regelungen folgen. Die Linke unterstützt es, dass in dem neuen System nicht nur reine Versicherungsrisiken, wie noch unter Sol- vency I, berücksichtigt werden. Die Versicherer sollen zukünftig auch für Markt-, Kredit- und sonstige betrieb- liche Risiken Kapital vorhalten müssen. Wenigstens hier werden ökonomische Scheuklappen ein klein wenig abgelegt und ein realistischerer, weil umfassender Blick auf die Risiken am Kapitalmarkt an den Tag gelegt. Die hohen Anforderungen des Solvency-Projekts – zum Beispiel bei der Eigenmittelausstattung – sind auch drin- gend notwendig, um Risiken zu vermindern. Eine ge- sunde Eigenkapitalanforderung kann zum Teil verhin- dern, dass sich Versicherer „verheben“, immer mehr Kapital in die Finanzmärkte pumpen und in der Hatz nach Rendite spekulativ über die Stränge schlagen. Ob bei Banken oder Versicherungen lehnen wir es ab, dass die Steuerzahlenden dann die Retter für zu groß gewor- dene und sich um Kopf und Kragen gezockte Unterneh- men spielen müssen. In diesem Zusammenhang ist auch ein weitreichendes Kreditaufnahmeverbot für Versiche- rungsunternehmen nötig, das zuletzt immer weiter auf- geweicht wurde. Der Kontokorrentkredit beispielsweise ist jedoch von diesem Verbot auszunehmen. Hingegen erscheint die Komplexität von Solvency II für kleine Versicherer teilweise wirklich problematisch. Hier sollte man nachdenken, ob auf diese Versicherer alle geplanten Regelungen uneingeschränkt Anwendung finden sollen. Einen ähnlichen Fall stellt die Übertra- gung von Basel III auf Sparkassen und Genossenschafts- banken dar. Kleine Institute arbeiten oft sehr kundennah und verbraucherorientiert und sind nicht unbedingt sys- temrelevant oder Großzocker auf den Finanzmärkten. Auch bei den Eigenkapitalanforderungen muss man aufpassen, dass kleine Versicherer durch überhöhte An- forderungen nicht vom Markt gedrängt werden. Denn Die Linke ist gegen eine verbraucherfeindliche Monopo- lisierung des Versicherungsmarktes, aber für eine um- sichtige und durchgreifende Regulierung! Nach großem Gejammere und saftigem Selbstmitleid hat die wirkmächtige Versicherungslobby schließlich dafür gesorgt, die Kapitalregeln für alle aufzulockern. Sie boxte eine Reihe von Anpassungen durch, um erfor- derliche Rückstellungen der Versicherer zu senken. Zwei Dämpfungsfaktoren wurden daher noch kurz- fristig eingepflanzt: der antizyklische Zuschlag, Coun- tercyclical Premium, sowie der symmetrische Anpas- sungsfaktor, Matching Premium. Niemand analysierte im Vorfeld, welche Auswirkungen diese Veränderungen an Solvency II haben. Das ist doch blauäugig! Der antizyklische Zuschlag zum Beispiel verringert in schlechten Zeiten versicherungstechnische Rückstellun- gen, ohne in guten Zeiten Reserven aufzubauen. Sol- vency II bevorzugt so in hohem Maße pauschal alle OECD-Staatsanleihen bei der Eigenkapitalunterlegung. Weil es sich oftmals um langfristige Anlagen handelt, sollen die Versicherer nicht mehr ganz so hohe Rückstel- lungen leisten müssen. Begründet wird dies damit, dass der Wertverfall von Staatsanleihen und Schwankungen auf dem Finanzmarkt so für Versicherer und deren Bilanz gemildert werden sollen. Dabei wird zum einen das durchaus vorhandene Risiko von Staatsanleihen ausgeblendet. Wollen Sie uns etwa weißmachen, dass eine Anlage in griechische Staatsanleihen risikolos ist? Zum anderen können Versi- cherer dadurch wieder riskanter anlegen und drauflos- zocken. Ebenso muss man erwähnen, dass die festgelegten Anlagegrundsätze viel zu dehnbar sind. Nach § 115 Abs. 1 Nr. 6 VAG neu sollen auf „vorsichtigem Niveau“ sogar Finanzinstrumente erlaubt sein, die nicht auf einem geregelten Finanzmarkt zugelassen sind. Die Bundesregierung tut also wieder mal so, als ob es nie eine Finanzkrise gegeben hätte. Sie hofieren zum x-ten Mal Ihre Lobbygruppen und setzen die Versicher- ten höheren Risiken aus. Die Linke streitet dagegen für den Schutz der versicherten Menschen! 20854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) Ein grundlegendes Defizit fällt obendrein ins Auge: Für Basel III bei den Banken und Solvency II bei den Versicherungsunternehmen liegt kein einheitlicher Re- gulierungsansatz zugrunde. Kapitalanforderungen für die jeweils gleiche Anlage unterscheiden sich in den beiden Regelungssystemen teils enorm. Hier hätte sich besser abgestimmt werden müssen, damit nachvollzieh- barere und sinnigere Ergebnisse erzielt werden. Der Blick muss sich doch darauf richten, welche Risiken von Banken und welche Risiken von Versicherungen samt ihrer jeweiligen Branchengruppen besser geschultert werden können. Über die Frage, in welcher Form Solvency-II-Rege- lungen auf Einrichtungen der betrieblichen Altersvor- sorge anwendbar sein sollten, haben wir im Plenum bereits an diesem Abend debattiert. Wie so oft waren Verbraucherschützer und Gewerk- schaften in den ganzen Gesetzgebungsprozess völlig unzureichend eingebunden. Wenn es eine konsequente Linie in der Regierungspolitik gibt, dann die: Schutz der Steuerzahler, Verbraucherschutz sowie stabile und durchgreifend regulierte Finanzmärkte spielen eine nebensächliche Rolle! Viele Versicherer beklagen in der ewig gleichen Leier die unberechenbaren kurzfristigen Marktausschläge, die ihre Bewertungen erschweren. Darauf kann man doch nur eine klare Antwort geben: Die Finanzmärkte dürfen nicht länger der uferlosen Spekulation ausgesetzt sein, die zu übertriebenen Schwankungen führt. Daher sind sie umfassend zu regu- lieren. So können schließlich auch Versicherer wieder solider wirtschaften. Dies wäre hoch effektives Risiko- management! Versicherte müssen auf den Schutz ihrer Ansprüche und die versprochenen Leistungen vertrauen können. Deshalb steht Die Linke ebenfalls für eine strikte, aber umsichtige Regulierung des Versicherungssektors und kämpft für die Interessen der Verbraucher! Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Solvency II ist für die Versicherungswirtschaft ein regu- latorischer Meilenstein, fast vergleichbar mit der großen Deregulierung 1994. Stand heute gibt es aber einige Zweifel an dieser Neuordnung. Solvency II wird die im Bankenbereich bereits übli- chen mathematischen Verfahren zur Eigenkapitalermitt- lung auch auf Versicherer übertragen. Versicherern wird wie Banken dabei die Möglichkeit gegeben, mittels in- terner Modelle selbstständig die Höhe des von ihnen vorzuhaltenden Eigenkapitals zu berechnen. Dabei gilt das Eigenkapital eines Instituts dann als ausreichend, wenn das mathematische Modell eine Wahrscheinlich- keit von 99,5 Prozent anzeigt, dass das Institut innerhalb eines Jahres nicht insolvent wird. Offen bleiben dabei, entgegen allen Bekenntnissen der Bundesregierung, jegliche Aspekte makropruden- zieller Regulierung. 99,5 Prozent Wahrscheinlichkeit, nicht insolvent zu werden, heißt, die Güte des Modells vorausgesetzt, dass die Versicherung alle 200 Jahre in- solvent wird. Was passiert aber, wenn alle Versicherer ähnliche Modelle nutzen? Was, wenn die Modelle unge- nau sind oder die Zukunft anders ist, als durch das Mo- dell eingeschätzt? Außerdem stellt sich die Frage, ob der Einjahreshori- zont bei der Kapitalermittlung angemessen ist. Versiche- rungen haben ein sehr langfristiges Geschäftsmodell. Lebensversicherer legen die Mittel ihrer Kunden oft bis zu 50 Jahre an. Ist es dann sinnvoll, dass sie ihr Eigenka- pital so bestimmen müssen, dass es die Insolvenzwahr- scheinlichkeit in einem Jahr minimiert? Fördert das nicht eine sehr kurzfristige Perspektive? Ein weiteres Problem ergibt sich durch die Prozykli- zität der Regulierung. 2006, bei der Umsetzung von Ba- sel II, habe ich hier im Plenum nach den problemati- schen prozyklischen Wirkungen von Basel II gefragt. Das Problem wurde von der damaligen Bundesregierung als völlig irrelevant dargestellt. Nun, eine Finanzkrise später, sind sich alle einig, dass man Basel II reformieren muss, gerade auch um die prozyklischen Wirkungen ein- zudämmen. Nun stehen wir bei Solvency II an einem Punkt, der mit der Einführung von Basel II 2006 ver- gleichbar ist. Und wieder frage ich: Wirkt diese Regulie- rung nicht prozyklisch? Da mit Solvency ähnliche Erfordernisse an Versiche- rungen gestellt werden wie an Banken, werden die nun zukünftig paralleler agieren als vorher: Das heißt, beide bekommen gleichzeitig aufsichtsrechtliche Anreize oder Hemmnisse für die Investition in bestimmte Anlagefor- men. Bislang haben die unterschiedlichen Aufsichtsan- forderungen Versicherern die Möglichkeit gegeben, bei Panikverkäufen von Banken als Käufer aufzutreten – was allzu starke Kursabstürze abfedern kann. Wenn alle Investoren aber ihr Kapital nach den gleichen Modellen steuern, werden die Ausschläge am Markt größer. Unter- schiedliche Verhaltensweisen im Markt hingegen ma- chen das System stabiler. Solvency II tut seinen Teil für eine gleiche Ausrichtung von Banken- und Versiche- rungsindustrie. Wie in Basel II gibt es neben der Möglichkeit, interne Modelle zu entwickeln, auch ein Standardverfahren für kleine Versicherer. Und wie viel Eigenkapital muss ein Versicherer in diesem Modell für Staatsanleihen vorhal- ten? Richtig: nichts. Und warum wird Solvency II über- haupt eingeführt, wenn Versicherer doch bisher so we- nige Probleme hatten? Richtig: weil Solvency II die Risiken besser einschätzen soll. Wie kann man von einer risikobasierten Eigenkapitalunterlegung sprechen, wenn ein Akteur bestimmte Geschäfte tätigen und Geld he- rausgeben darf, ohne dass er dafür einen Cent eigenes Kapital vorhält? In einem solchen System ist der Begriff „risikobasierte Kapitalunterlegung“ nichts als ein Eu- phemismus dafür, dass faktisch weniger Kapital verlangt wird! Auch bleibt die Frage, welche Konsequenzen Sol- vency II auf die aktuellen Marktstrukturen hat. Regulie- rung führt generell zu Konzentrationstendenzen. Der deutsche Versicherungsmarkt ist aber traditionell sehr kleinteilig strukturiert. Es gibt viele kleine Anbieter, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20855 (A) (C) (D)(B) manche davon arbeiten ehrenamtlich, die nun mit kom- plizierten Anforderungen und Meldepflichten konfron- tiert werden. Die Idee ist, dass, wenn Versicherer alle ihre Risiken und Engagements melden und überwachen, sie dann bestimmt auch mit weniger Eigenkapital aus- kommen. Erstens hat sich diese Annahme schon im Ban- kenbereich als Trugschluss erwiesen, und zweitens könnte sie in der Versicherungsbranche zum Verschwin- den von kleinen Akteuren führen, die sich etwas mehr Eigenkapital zwar leisten könnten, aber nicht zwei neue Vollzeitstellen zur Bearbeitung aufsichtsrechtlicher Formulare. Insbesondere bei der Frequenz und dem Detaillierungsgrad muss es Erleichterungen für solche Versicherer geben, die ein weniger komplexes Ge- schäftsmodell betreiben. Ich spreche dabei bewusst nicht von „kleinen Versicherern“, sondern von weniger kom- plexen Geschäftsmodellen. Wenn ein Versicherer ein komplexes Geschäftsmodell wie zum Beispiel die Le- bensversicherung anbietet, bei der Sterbetafeln kalkuliert werden und Kapital lange angelegt werden muss, dann braucht er auch die Expertise dafür, und der Aufseher hat das Recht und die Pflicht, sich diese dokumentieren zu lassen. Aber gerade die vielen kleinen Sachversicherer mit langjähriger Erfahrung und teilweise oft in genos- senschaftlicher Struktur haben sich bislang als stabilisie- rend für den deutschen Versicherungsmarkt erwiesen. Eine durch Regulierung veranlasste Marktbereinigung würde vielleicht die Marktanteile zugunsten mancher großer Versicherungen verschieben, für die Stabilität des Finanzsystems wäre sie aber sich nicht von Vorteil. Versicherer sind bisher dank einer strengen Regulie- rung und der konservativen Regulierung nicht in Pro- bleme geraten. Die Begrenzung auf bestimmte Anlage- formen soll nun aufgehoben werden – mit ungewissen Konsequenzen. Basel II hat mit der Eigenkapitalermitt- lung durch mathematische Modelle dazu geführt, dass Banken heute faktisch deutlich weniger Eigenkapital ha- ben als noch vor zehn Jahren. Mit Solvency II könnte sich dieser Prozess nun bei Versicherungen wiederholen. Das wäre falsch. Was heißt das konkret für den vorliegenden Gesetz- entwurf? Das Projekt Solvency II hat eine lange Vorlaufzeit. Der Beginn des Projekts datiert von vor der Finanzkrise. Und immer wieder haben Experten gewarnt. So empfahl der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschafts- ministerium 2009, von Solvency II „vorerst abzusehen und darauf hinzuwirken, dass die europäische Be- schlussfassung zu diesem Thema aufgrund der Erfahrun- gen mit den systemischen Wirkungen der Eigenkapital- regulierung in der Finanzkrise neu durchdacht wird“. Inzwischen liegen die europäischen Regelungen vor. Wir müssen sie umsetzen und haben dabei als deutscher Gesetzgeber nur wenige Entscheidungsspielräume. Deshalb wird nun für meine Fraktion die Frage im Vordergrund stehen, was wir in der parlamentarischen Umsetzung in Deutschland tun können, um absehbare problematische Auswirkungen zumindest zu dämpfen. Außerdem muss es darum gehen, für die europäische Ebene eine Diskussion anzustoßen, damit mögliche Fehlentwicklungen frühzeitig adressiert werden. Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Mit dem heute ein- gebrachten Gesetzentwurf leistet die Bundesregierung einen wichtigen Beitrag sowohl zur Stärkung der Versi- cherungswirtschaft, als auch zur Verbesserung des Anle- gerschutzes in unserem Land. Der Versicherungsstandort Deutschland wird durch eine Modernisierung des Aufsichts- und Regulierungsrahmens gestärkt. Der Gesetzentwurf dient der Umsetzung einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates in deutsches Recht und normiert die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit. Die Arbeiten an dem als „Solvency II“ bekannten Projekt begannen bereits vor mehreren Jahren. Gleich- wohl hat die Finanzmarktkrise die Entwicklung von Solvency II nachdrücklich mitbestimmt. Solvency II weist in seiner Struktur Parallelen zur Ban- kenregulierung im Rahmen von Basel II bzw. Basel III auf. Die erste Säule betrifft die quantitative Neuregelung der Eigenkapitalunterlegung, die von den Prämieneinnah- men entkoppelt wird und stattdessen alle Risiken abdeckt. Bei der zweiten Säule geht es um die behördliche Aufsicht und die Vorschriften für das Risikomanagement der Versi- cherer. Die dritte Säule umfasst die Publizitätsvorschriften zur Erhöhung der Marktdisziplin und Transparenz. Ziel der Regelungen ist, das Risiko der Insolvenz ei- nes Versicherungsuntemehmens auch künftig so gering wie möglich zu halten. Gleichzeitig dient die Richtlinie der Harmonisierung des Aufsichtsrechts im europäi- schen Binnenmarkt. Viele bisher an das Versicherungsaufsichtsgesetz oder an die zu dessen Durchführung erlassenen Verordnungen adressierte Fragen werden künftig auf europäischer Ebene entschieden werden. Viele bisher nationale Rege- lungen müssen aufgehoben oder geändert werden. Es bleibt jedoch weiterhin Spielraum für den nationalen Ge- setzgeber. Das bestehende Recht wird dort geändert, wo es durch die Richtlinie zwingend vorgegeben ist. Im Übrigen soll es unverändert bleiben. Außerdem soll in besonders wichtigen Bereichen, wie zum Beispiel der Lebensversicherung, der Schutz der Versicherten aus- gebaut werden. Schließlich berücksichtigt der Entwurf auch das Ur- teil des Europäischen Gerichtshofs vom 1. März 2011, das mit Wirkung vom 21. Dezember 2012 das Verbot für die Versicherungsuntemehmen beinhaltet, für Frauen und Männer unterschiedliche Prämien zu verlangen. Im Gesetzentwurf werden die zwingenden Vorgaben des Gerichts umgesetzt. Bei manchen Betroffenen gibt es noch eine gewisse Skepsis gegenüber Solvency II. Diese richtet sich insbe- sondere gegen die Komplexität des Regelwerks und die befürchteten Auswirkungen auf lang laufende Lebens- versicherungsverträge. Lassen Sie mich noch einmal klarstellen: Für uns steht seit Beginn des Solvency-II-Projekts fest, dass Sol- 20856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) vency II nicht zu einer Marktbereinigung führen darf, sondern wettbewerbsneutral sein muss. Die große Viel- falt und der starke Wettbewerb im deutschen Versiche- rungsmarkt haben sich bewährt und sollen weiter fort- bestehen. Im Koalitionsvertrag haben wir es bereits formuliert: „Solvency II als eines der wichtigen europäi- schen Projekte im Bereich der Finanzdienstleistungs- Wirtschaft ist so umzusetzen, dass der deutsche Versi- cherungsmarkt gestärkt wird.“ Ich denke, das ist mit dem vorlegenden Entwurf gelungen. Der Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, hat zusammen mit seiner damaligen französi- schen Amtskollegin Christine Lagarde eine Verein- fachungsinitiative zur Verringerung der Komplexität von Solvency II erfolgreich imitiert. Ich darf Ihnen versi- chern, dass die Bundesregierung das Thema Vereinfa- chung im Rahmen dieses Projekts auch weiterhin verfol- gen wird. Im Bereich der Lebensversicherungen bleibt der Bundesregierung wichtig, dass dauerhafte Garantien finanzierbar bleiben müssen. Wir dürfen den Blick daher nicht vor dem langfristig größten Risiko einer dauerhaf- ten Niedrigzinsphase für die Versicherer verschließen. Eine Niedrigzinsphase würde die Erträge und die Erfüll- barkeit von vertraglichen Garantien erheblich belasten und hätte jahrelange Nachwirkungen. Insbesondere die Lebensversicherer, deren Portfolien unter Druck geraten könnten, wären stark betroffen. Dies gilt umso mehr angesichts des demografischen Wandels und der steigen- den Lebenserwartung der Versicherungsnehmer. Die Solvency-II-Rahmenrichtlinie ist am 17. Dezem- ber 2009 im Amtsblatt der Europäischen Union veröf- fentlicht worden. Der Rechtsrahmen dieses Projekts muss nunmehr von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden. Noch sieht die Solvency-II- Richtlinie den 31. Oktober 2012 als Umsetzungsdatum vor. Gleichzeitig wird auf europäischer Ebene bereits die Diskussion über eine Anpassung der Solvency-II-Richt- linie an die neue EU-Aufsichtsstruktur geführt. Die so- genannte Omnibus-II-Richtlinie beinhaltet zudem auch Übergangsregelungen und eine Verschiebung des Um- setzungsdatums. Diskutiert wird als neuer Umsetzungs- termin ein Datum in 2013 und für eine Anwendung durch die Versicherungswirtschaft ab 2014. Wir setzen uns für eine zeitnahe Klärung ein, um Rechtssicherheit für die nationale Umsetzung zu erlan- gen. Der avisierte Zeitplan für die Befassung des Bundestags wird entsprechend angepasst, um auch die Vorgaben der Omnibus-II-Richtlinie im laufenden Ge- setzgebungsverfahren berücksichtigen zu können. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Bildung für nachhaltige Entwicklung dauer- haft sichern – Folgeaktivitäten zur UN- Dekade „Bildung für nachhaltige Entwick- lung“ ermöglichen – Bildung für nachhaltige Entwicklung ermög- lichen – Gleiche Bildungsteilhabe sichern (Tagesordnungspunkt 18 a und b) Anette Hübinger (CDU/CSU): Mit der heutigen De- batte treten wir über Fraktionsgrenzen hinweg für ein wichtiges Thema ein. Mit dem Konzept der UNESCO „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ und unserem un- terstützenden Antrag wollen wir die Zukunft unseres Landes, sogar der ganzen Welt prägen. Das sind ohne Zweifel große Worte und große Erwartungen. Wer sich aber keine hohen Ziele steckt, kann diese erst gar nicht erreichen. Warum ist dieses Thema so wichtig? In einem Satz zusammengefasst: Es ist sowohl ein zentrales Gegen- warts- als auch Zukunftsthema und betrifft Entwick- lungs- und Schwellenländer genauso wie alle Industrie- länder, also auch uns. Wirtschafts- und Schuldenkrisen führen uns genauso wie alle ökologischen Herausforderungen immer wieder vor Augen, dass das Streben nach immer mehr Wachs- tum an seine Grenzen stößt. Es wird und soll Wachstum bzw. Entwicklung weiterhin geben, aber im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung. Dazu brauchen wir einen Be- wusstseinswandel bei allen Menschen rund um den Glo- bus. Das ist gewaltige Herausforderung, der wir uns in Kooperation mit unseren internationalen Partnern stel- len. Eine solche Entwicklung werden wir allerdings nicht mit einem Ansatz, der von oben verordnet wurde, ansto- ßen und umsetzen können. Denn die Menschen müssen diesen Bewusstseinswandel in unsere Gesellschaften tra- gen, und dazu müssen wir jedes Individuum befähigen. Deshalb wurde die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ins Leben gerufen. Es war vor acht Jahren ein richtiges und wichtiges Si- gnal, dass die deutsche Umsetzung der UN-Dekade auf der Grundlage eines einstimmigen Bundestagsbeschlusses auf den Weg gebracht wurde. Die bisherigen Erfolge zei- gen, dass wir in Deutschland auf dem richtigen Weg sind, dieses innovative Lehr- und Lernmodell in allen Bildungsbereichen – vom Kindergarten bis zur Erwach- senenbildung – zu verankern. Die deutsche Umsetzung gilt im internationalen Ver- gleich als vorbildlich bzw. modellhaft. Ein Grund dafür ist, dass viele Akteure hinter dem Konzept stehen. Ein besonderes Lob möchte ich an die Deutsche UNESCO- Kommission richten, die die vielfältigen Maßnahmen in Deutschland koordiniert. Auf den bisherigen Erfolgen können wir uns aller- dings nicht ausruhen. Dieses Thema wird auch in den kommenden Jahrzehnten weltweit höchst relevant sein, weil wir die großen Herausforderungen, zum Beispiel Klimawandel, Energieeffizienz, Gleichstellungs- und Teilhabeaspekte, nur dann bewältigen, wenn die Bürge- rinnen und Bürger ihre Rolle bei der Problemlösung ver- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20857 (A) (C) (D)(B) stehen und annehmen. Für die deutschlandweite Umset- zung der UN-Dekade heißt das, bestehende Defizite abzubauen und „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ weiter so energisch wie bisher voranzutreiben. Dazu sind wir gewillt, und der vorliegende Antrag unterstützt diese Bemühungen. Etwas anders stellt sich die weltweite Umsetzung dar. Bei allem Lob für die deutschen Bemühungen dürfen wir nicht vergessen, dass bei der internationalen Veranke- rung ein gewaltiges Nord-Süd-Gefälle klafft. Viele Re- gionen dieser Welt sind nicht im Ansatz so weit wie wir. Deshalb muss es gerade vonseiten der internationalen Staatengemeinschaft weitere Anstrengungen auch nach Ablauf der UN-Dekade im Jahr 2014 geben. Die ersten Anzeichen in diese Richtung sind ermuti- gend. So hat die Generalkonferenz der UNESCO im No- vember 2011 eine Resolution verabschiedet, wonach Optionen für die Umwandlung der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ in einen institutionalisier- ten Prozess entwickelt werden sollen. Dies ist dringend erforderlich, damit das Thema in allen Regionen der Welt Fahrt aufnimmt. Hier ist auch deutsches Engage- ment gefragt. Aus diesem Grunde ist „Bildung für nach- haltige Entwicklung“ seit vielen Jahren ein fester Be- standteil unserer Entwicklungszusammenarbeit. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung trägt diesen Ansatz in unsere Partner- länder weltweit. Auch hier wäre Stillstand ein Rück- schritt. Wir schlagen deshalb vor, „Bildung für nachhal- tige Entwicklung“ als Themenschwerpunkt der Ent- wicklungskooperation mit unseren zehn Partnerländern – mit denen wir im Bereich Bildung eng zusammenar- beiten – zu integrieren. Die Bundesregierung kann auf internationalem Par- kett aber auch noch an anderer Stelle aktiv werden. Des- halb fordern wir in unserem Antrag die Bundesregierung auf, sich im Rahmen der UNESCO und auf der anste- henden UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung „Rio+20“ für Folgeaktivitäten der UN-Dekade einzuset- zen. Die Ausrufung einer Folgedekade oder eines Welt- aktionsprogramms wäre sicherlich das Tüpfelchen auf dem i. Ein grundsätzliches Problem teilen die deutsche und die weltweite Umsetzung. So ist es uns noch nicht in ge- nügendem Maße gelungen, die vielen, oft sehr erfolgrei- chen Einzelprojekte strukturell zu verankern. Erst wenn wir diesen Schritt gemeistert haben, haben wir unser Ziel erreicht. Schaut man sich im internationalen Vergleich die bisherigen Umsetzungen an, wird schnell deutlich, dass noch ein langer Weg vor uns liegt. Für Deutschland muss in den kommenden Jahren das Ziel sein, als eines der ersten Länder die strukturelle Ver- ankerung der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ auf allen Ebenen umzusetzen. Die Voraussetzungen sind ge- geben, da wir in Deutschland über eine Vielzahl von qualitativ hochwertigen Einzelprojekten verfügen. So wurden seit 2005 rund 1 400 beispielhafte Aktivitäten im Bildungsbereich ausgezeichnet. An mangelnden Ideen und Impulsen kann es also nicht scheitern. Bildung für nachhaltige Entwicklung gehört meines Erachtens als ganzheitliches Konzept in die Lehrpläne der Schulen, der Hochschulen sowie in die berufliche Aus- und Weiterbildung. Sie ist ein unverzichtbarer Teil einer qualitativ hochwertigen Bildung und Ausbildung. Eine Verankerung in den Lehrplänen wäre ein Meilen- stein im internationalen Vergleich, und Deutschland sollte beispielgebend vorangehen. Lassen Sie uns also gemeinsam die noch ausstehen- den Herausforderungen im nationalen Kontext lösen. Lassen Sie uns gemeinsam mit der Bundesregierung im Rahmen der Vereinten Nationen für Folgeaktivitäten zur UN-Dekade werben. Zu guter Letzt: Verhelfen wir der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ auch in den Re- gionen der Erde zum Durchbruch, wo es im Rahmen der UN-Dekade bisher noch nicht gelungen ist. Axel Knoerig (CDU/CSU): Der fraktionsübergrei- fende Antrag zur UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ macht deutlich, dass es im Deutschen Bundestag hierzu einen breiten Konsens gibt. Die von den Vereinten Nationen weltweit angestrebten Bildungs- ziele sollen auch in Deutschland weiterhin umgesetzt werden. Nur die Linke hat sich diesem Antrag verweigert und pocht auf eigene Bildungsstrategien. Der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ wurde ur- sprünglich nur in ökonomischen oder ökologischen Zu- sammenhängen verwandt. Seit Ende der 1980er-Jahre findet er auch Anwendung im sozialen und kulturellen Bereich. So legte die damalige UN-Bildungsbeauftragte Gro Harlem Brundtland 1987 einen Bericht vor, der diesen Aspekt in den Mittelpunkt der internationalen Bildungspolitik stellte. Inzwischen ist die „nachhaltige Entwicklung“ längst zum Leitbegriff in allen Politik- feldern geworden. Aktuelle Entwicklungen wie die Finanzkrise in Europa und der Klimawandel haben gleichzeitig auf anschauliche Weise deutlich gemacht, dass nur eine nachhaltige Politik zukunftsfähig ist. Dabei impliziert der Begriff „Nachhaltigkeit“ gleich eine ganze Reihe von gesellschaftspolitischen Zielen, wie Generationen- gerechtigkeit, sozialen Zusammenhalt, Lebensqualität und die Wahrnehmung internationaler Verantwortung. Um diese Ziele zu verwirklichen, muss vor allem im Be- reich Bildung angesetzt werden. Die Vereinten Nationen haben das Jahrzehnt von 2005 bis 2014 zur sogenannten Weltdekade ausgerufen: Das Konzept „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ wurde in diesem Zusammenhang als einheitliches Ziel von allen 193 Mitgliedstaaten anerkannt. In dem genann- ten Zeitraum sollen neue Maßnahmen im Bildungsbereich eingeführt werden, um die Vorgaben der Agenda 21 zu unterstützen. Dieses Aktionsprogramm der Vereinten Nationen zur Entwicklungs- und Umweltpolitik wurde 1992 in Rio de Janeiro beschlossen und 2002 in Johan- nesburg noch einmal bestätigt. Das ganzheitliche Konzept umfasst alle Bereiche des Bildungssystems: Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen, Weiter- 20858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) bildungs- und Kultureinrichtungen sowie Forschungs- institutionen. Dazu gehören auch das außerschulische, lebenslange Lernen sowie informelles Lernen außerhalb traditioneller Bildungsstätten. Als Organisation der Vereinten Nationen ist die UNESCO für die Bereiche Erziehung, Wissenschaft und Kultur zuständig. Die deutsche UNESCO-Kommission hat 2004 ein Nationalkomitee berufen, um einen Ak- tionsplan für die Bundesrepublik zu erstellen. Dieser wurde durch einen Beschluss des Bundestages bestätigt sowie durch einen Staatssekretär-Ausschuss und den „Rat für nachhaltige Entwicklung“ begleitet. Ergebnis ist ein umfangreicher Maßnahmenkatalog, der weiterhin laufend ergänzt wird. Gemeinsam mit der UNESCO und der Deutschen UNESCO-Kommission hat das Bundesbildungsministe- rium 2009 eine internationale Konferenz ausgerichtet. Unter dem Titel „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ fand die Tagung in Bonn statt. An dieser Stelle möchte ich Frau Ministerin Professor Schavan noch einmal für ihr besonderes Engagement danken. Ergebnis des Gip- fels war die Forderung, die globalen Bildungssysteme gemäß dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung neu auszurichten. Bisher sind von der Bundesregierung drei „Berichte zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ veröffentlicht worden. Der vierte Bericht wird bis zum Ende dieser Legislaturperiode 2013 folgen. Für die verbleibenden drei Jahre der laufenden Weltdekade sieht der Nationale Aktionsplan vor, die Vernetzung der Ak- teure und der Bildungsfelder zu intensivieren. Ich möchte zwei Beispiele aus dem „Nationalen Ak- tionsplan für Deutschland 2011“ anführen: Da ist zum einen der Girls’ Day zu nennen, der vom Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend ausgerichtet wird. Diese Veranstaltung gehört in den Bereich „außerschulische Bildung und Weiter- bildung“. Zum anderen ist die Förderinitiative „Deutsch- land – Land der Ideen“ zu erwähnen, die zukunftsorien- tierte Projekte in „365 Orten“ auszeichnet. Darunter sind auch zwei Firmen aus meinem Wahlkreis Diepholz/ Nienburg, die sich für einen nachhaltigen Umgang mit der Ressource Wasser einsetzen: die Internationale Geo- textil GmbH und EcoRain International, beide ansässig in Twistringen. Mein heimatliches Bundesland Niedersachsen hat sich der „Norddeutschen Partnerschaft zur Unterstüt- zung der UN-Dekade“ angeschlossen. Die Mitglieder haben sich verpflichtet, alle zwei Jahre länderübergrei- fende Konferenzen zum Thema abzuhalten. Die Nach- haltigkeitsstrategie des Landes Niedersachsen sieht vor, junge Menschen am Konzept „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ zu beteiligen. Ein erfolgreiches Projekt hierbei trägt den Titel „Umweltschule in Europa/Interna- tionale Agenda 21-Schule“. Jede teilnehmende Schule setzt sich mit zwei Themen aus dem Bereich Umwelt/ Nachhaltigkeitsbildung auseinander, zum Beispiel mit den Themen Energie, Abfall, Naturschutz und Mobilität. Dabei geht es auch um passgenaue und ganzheitliche Bildungskonzepte für den ländlichen Raum. Eine Jury zeichnet die besten Arbeiten aus. In meinem Wahlkreis nehmen im Zeitraum 2010 bis 2013 insgesamt 15 Schu- len an diesem Wettbewerb teil. Man sieht: Es gibt vielfältige Möglichkeiten, „Bil- dung für nachhaltige Entwicklung“ umzusetzen. Haupt- sächlich kommt es aber darauf an, künftige Genera- tionen auf neue Herausforderungen vorzubereiten. Ich fordere deshalb alle bildungspolitischen Akteure im Hohen Haus auf, sich angesichts der erfolgreichen Bilanz des deutschen Aktionsplans für eine Fortsetzung von „Bildung durch nachhaltige Entwicklung“ ab 2015 einzusetzen. Ulla Burchardt (SPD): Wissen Sie eigentlich, wie Ihr Essen unser Klima beeinflusst? Nein? Dann haben Ihnen die Schüler der UNESCO-Projektschulen von heute an einiges voraus. Unter dem Motto „Hinterm Tel- lerrand geht’s weiter“ haben sich ihre Schüler heute an einem deutschlandweiten Projekttag mit Fragen wie „re- gionale Lebensmittel“, „fairer Handel“ oder „zukünftige Welternährung“ befasst. Das Thema ist an die UN-De- kade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ angelehnt, deren Schwerpunkt in diesem Jahr im Bereich Ernäh- rung liegt. Diese Dekade wird im Jahr 2015 auslaufen. Wir wol- len den Bildungsansatz dieser Dekade dauerhaft veran- kert wissen, da eine zukunftsfähige Weltgesellschaft noch mehr Anstrengungen in diesem Bereich braucht. In dem vorliegenden Antrag fordern wir die Bundesregie- rung daher auf, sich auf internationaler Ebene, auf der UN-Konferenz „Rio+20“, dafür einzusetzen, entweder eine Folgedekade oder ein nachfolgendes Weltaktions- programm auszurufen. Bildung für nachhaltige Entwick- lung soll darüber hinaus bei der internationalen Koope- ration Deutschlands und in der Entwicklungszusammen- arbeit stärker in den Vordergrund rücken. Gerade in Deutschland wurde die UN-Dekade vor- bildlich umgesetzt; aber es gibt immer noch viel zu tun. Daher müssen auf nationaler Ebene bisherige Initiativen fortgesetzt werden. Schließlich wollen wir, dass durch Bildung für nachhaltige Entwicklung Kommunen mehr Unterstützung erfahren, ehrenamtliches Engagement von Bürgern gewürdigt und bildungsferne Schichten besser integriert werden. Die Leitidee der Nachhaltigkeit muss endlich dauerhaft in informellen Bildungsprozes- sen wie in den klassischen Bildungsinstitutionen veran- kert werden, von der Grundschule bis zur Hochschule und in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Aber vor allem international liegen noch große He- rausforderungen vor uns. Insbesondere im subsahari- schen Afrika muss das Konzept der Bildung für nachhal- tige Entwicklung noch besser mit Bildungsprogrammen verknüpft werden. 2002 rief die UNO die Weltdekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ aus. Ziel war, das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung in allen Bil- dungsbereichen zu verankern und allen Menschen die Chance zu geben, sich Wissen und Werte für eine le- benswerte Zukunft anzueignen. Alle müssen lernen, ihre täglichen Entscheidungen zu ändern. Weniger wird dann mehr: mehr Wohlstand und mehr Lebensqualität durch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20859 (A) (C) (D)(B) weniger Energie- und Ressourcenverbrauch, weniger Schadstoffe, Emissionen und Abfälle. Die Weltdekade ist wie die nachhaltige Entwicklung kein Projekt, das sich von oben beschließen lässt. Ohne die Beteiligung vieler Menschen aus den unterschied- lichsten gesellschaftlichen Bereichen ist eine nachhaltige Zukunftsgestaltung nicht zu machen. Um ihren Einsatz sichtbar zu machen und zu würdigen, zeichnet das Nationalkomitee der UN-Dekade Projekte für herausra- gendes Engagement im Bereich BNE aus. Preisträger sind Kitas, Schulen und Hochschulen, aber auch Kom- munen, Verwaltungen, Betriebe und Medien. So ver- schieden die Ausgezeichneten, so vielfältig sind auch die Projekte: In meiner Heimatstadt Dortmund etwa lernen die „fairspielten Kinder“, wie man mit Sonne kochen kann. Im Projekt „Welt:Klasse“ reisen Schüler nach Kenia oder Thailand, um dort an Partnerschulen zu unterrich- ten, Bäume zu pflanzen oder Spielplätze zu bauen. In ei- nem anderen Projekt werden die Prinzipien der Bildung für nachhaltige Entwicklung systematisch in die Ausbil- dung junger Lehramtsanwärter verankert. 1 400 Projekte wurden so inzwischen ausgezeichnet. Hinzu kommen 13 Kommunen. Damit aus der Vision Nachhaltigkeit auch Wirklich- keit wird, reicht Wissen allein nicht aus. „Sustain abili- ties“, das meint Fähigkeiten, dieses Wissen auch anwen- den zu können. Das genau sind die Fähigkeiten, die hierzulande bislang zu wenig gefördert werden: vernetz- tes und vorausschauendes Denken, Probleme angemes- sen kommunizieren zu können und nicht zuletzt die Fä- higkeit zu lebenslangem Lernen. Wir fordern, die Leitidee der Nachhaltigkeit in allen Bildungsbereichen zu verankern. Gelänge dies, wäre das für das Bildungs- angebot wie die Bildungspraxis in Deutschland ein qua- litativer Meilenstein. Ich danke den vielen Unterstützern dieses Antrags für die gute Zusammenarbeit: der Deutschen UNESCO- Kommission, dem Büro des Vorsitzenden des National- komitees Bildung für nachhaltige Entwicklung und na- türlich den Kollegen der anderen Fraktionen, mit denen wir diesen Antrag gemeinsam eingebracht haben. Angelika Brunkhorst (FDP): Seit 2005 hat die UN- Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, BNE, zahlreiche Erfolge erzielt. Insgesamt 1 400 Beispiele aus der Praxis wurden als „Offizielle deutsche Dekade-Pro- jekte“ deklariert. Alle zeichneten sich besonders durch ihre innovativen und qualitativ hochwertigen Aktivitäten aus. Eine ähnliche Würdigung erhielten ebenso 13 Kom- munen, die sich das Thema nachhaltige Entwicklung zum Leitmotiv gemacht haben und sich als „Offizielle deutsche Dekade-Kommune“ bezeichnen dürfen. In fast allen Bundesländern existieren Beratungs- und Unter- stützungsstrukturen, die zu einer Festigung der BNE in der Gesellschaft führen sollen. Eine nahezu flächen- deckende Implementierung dieser Thematik ist daher deutlich erkennbar. Deutschland hat sich damit zu Recht, auch aus internationaler Sicht, zum Vorzeigeland für die Umsetzung der UN-Dekade entwickelt. Bildung für nachhaltige Entwicklung erhöht die Bil- dungsqualität und führt dazu, dass gerade Kinder und Ju- gendliche aus bildungsfernen Schichten besser integriert werden. Insbesondere die verknüpfte Vermittlung von Fachwissen mit Werten und Kompetenzen und prakti- schen Fertigkeiten bietet Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, sich dem Thema nachhaltige Entwicklung auf unterschiedliche Weise zu nähern. Daher ist eine Verankerung von nachhaltigkeitswirksamen Themen in der gesamten Bildungskette von essenzieller Bedeutung: von der Kita, den Schulen, den Berufsschulen, den Uni- versitäten bis zu den Erwachsenenbildungseinrichtun- gen. Die Abschlusserklärung der UNESCO-Weltkonferenz in Deutschland vom Frühjahr 2009 hat gezeigt, dass Bil- dung für nachhaltige Entwicklung immer mehr als natio- nales und auch internationales Handlungsfeld akzeptiert wird und einen wesentlichen Beitrag zur Steigerung der Bildungsqualität leistet. Nichtsdestotrotz ist es notwen- dig, sich für Folgeaktivitäten der UN-Dekade einzuset- zen, um eine umfassende Verankerung der BNE in allen Bereichen der Bildung zu erreichen. Vier Handlungsfelder, die im Antrag zum Ausdruck kommen, möchte ich daher besonders hervorheben, da sie in meinen Augen für Deutschland von ganz besonde- rer Bedeutung sind. Das erste Handlungsfeld ergibt sich in der Elementar- pädagogik. Hier muss gezielt die Begeisterungsfähigkeit der Jüngsten genutzt werden, um sie spielerisch mit dem Thema BNE vertraut zu machen. Dafür ist es wichtig, dass gerade Erzieherinnen und Erzieher die Möglichkeit bekommen, sich durch Fort- und Weiterbildungsmaß- nahmen gezielt zu qualifizieren. Ein weiteres Handlungsfeld ist die Förderung der so- genannten Entrepreneurship skills, also des unternehme- rischen Denkens und Handelns, wie es bereits in nach- haltigen Schülerfirmen erlernt wird. Diese Fähigkeiten sind insbesondere für Unternehmen von besonderem In- teresse und oftmals Anreiz für Public Private Partner- ships. Darüber hinaus leisten private Investitionen von Firmen oder Bürgern in vielen anderen Bereichen einen wichtigen Beitrag zur Verankerung des Themas Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Gesellschaft. Priva- tes Engagement trägt dazu bei, dass nicht nur die Le- bensqualität in den Kommunen gesteigert wird, sondern auch dazu, dass das Bildungsniveau der Bürgerinnen und Bürger verbessert wird. Weitere private Investitio- nen sollten daher mobilisiert werden. Auch im Bereich der sogenannten MINT-Fächer leis- tet die gezielte Implementierung von BNE durch ihren interdisziplinären Ansatz einen positiven Beitrag und führt zur Steigerung der Attraktivität von naturwissen- schaftlichen Themen. Studenten und spätere Absolven- ten erlernen so ganzheitlich einen ressourceneffizienten Umgang. Die Einbindung technisch-naturwissenschaftli- cher Expertise in BNE kann so direkt auch dem Fach- kräftemangel entgegenwirken. Ein weiteres Handlungsfeld ist die Implementierung und Verfestigung von BNE im Rahmen der deutschen 20860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) Entwicklungszusammenarbeit. Hier gilt es, die Vorbild- funktion Deutschlands zu nutzen und gezielt das Thema global weiter auszubauen und zu festigen. Denn häufig besitzen die Menschen in vielen Entwicklungsländern nicht die Möglichkeit zur Grundbildung. Insbesondere der afrikanische Kontinent stellt hier eine große Heraus- forderung dar. Dieser Antrag würdigt die Arbeit der vielen Men- schen, die in diesem Bereich tätig sind; ehrenamtlich oder professionell. Sie werden durch die Forderung für Folgeaktivitäten der UN-Dekade in ihrem Handeln be- stärkt. Ich möchte all jenen danken, die es sich zur Auf- gabe gemacht haben, das Thema Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Gesellschaft zu implementieren und dieses innovative Lehr- und Lernmodell in der Praxis an- wenden. Es zeigt sich jedoch, dass zehn Jahre nicht aus- reichen, um die Denkweise und den Lebensstil einer Ge- sellschaft nachhaltig zu verändern. Daher setzen wir uns als FDP-Fraktion für eine Weiterführung von BNE nach 2014 ein. Sylvia Canel (FDP): Die Zunahme und Intensivie- rung globaler Verflechtungen in den Bereichen Wirt- schaft, Politik, Kultur, Umwelt und Kommunikation hat Auswirkungen auf den Alltag jedes Einzelnen. Denn un- ser Handeln hat Einfluss nicht nur auf uns selbst, son- dern auch auf unsere Mitmenschen, auf die Umwelt, die Wirtschaft, die Politik. Aber unser heutiges Handeln hat auch entscheidenden Einfluss auf das Leben von Men- schen, mit welchen wir nicht unmittelbar zusammenle- ben, auf Menschen in anderen Weltregionen und auf die Chancen und Möglichkeiten zukünftiger Generationen. Dies ist umso bedeutender in einer Zeit, in welcher Kri- sen zum Kennzeichen der Gegenwart geworden sind: Fi- nanzkrise, Staatsschuldenkrise, Euro-Krise, Klimakrise. Die damit verbundenen Herausforderungen und auch Bedrohungen verlangen eine Änderung der Politik und des individuellen Verhaltens. Bildung für nachhaltige Entwicklung hat deshalb zum Ziel, den Umgang mit den daraus resultierenden globa- len, oft sehr abstrakten Problemen zu erlernen und zum nachhaltigen Handeln anzuleiten. Nachhaltigkeit bezieht sich auf drei Bereiche: Ökologie, Ökonomie und Sozia- les. Vor allem der ökonomische Aspekt sollte meines Er- achtens noch viel stärker in den Fokus rücken, gerade im Angesicht der Debatte um die europäische Staatsschul- denkrise. Nachhaltigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang auch, eine verantwortliche Haushaltspolitik zu betreiben, die eben nicht auf Schulden aufbaut und die Handlungs- spielräume zukünftiger Generationen massiv einschränkt. Wir sehen uns mit immer größeren Belastungen und Fehl- entwicklungen in Politik und Wirtschaft konfrontiert, die immer größere Belastungen für die Gesellschaft bedeu- ten. Schülerinnen und Schüler sollten deshalb in den Schulen grundlegende ökonomische Zusammenhänge erlernen und reflektieren. Wie gehen wir mit diesen Kri- sen um? Wie wollen wir in Zukunft leben? Dies sind grundlegende Fragen, die in einer Pädagogik, die für ein Leben im Welthorizont befähigen will, aufgegriffen wer- den müssen. Die Herausforderung für Lehrende und Ler- nende liegt daher in der Bewusstmachung und Vermitt- lung einer globalen Perspektive des Denkens, Urteilens und Handels in den Bereichen Ökonomie, Ökologie und Soziales. Um globale Probleme wahrzunehmen, zu re- flektieren und um einen Umgang mit Kontingenzerfah- rungen zu ermöglichen, müssen Kompetenzen ausgebil- det werden, die den Weg für ein motiviertes und engagiertes Problemlösehandeln bereiten. Dies ist im Besonderen im Bereich der ökonomischen Bildung an Schulen grundlegend. Ökonomische Zusammenhänge müssen an den Schulen gelehrt, gelernt und reflektiert werden. Die Bedeutung einer Bildung für nachhaltige Entwicklung liegt in ihrem Innovationspotenzial für die Bewältigung von Krisen vor dem Hintergrund der Nach- haltigkeit und für die Gestaltung des Bildungswesens. Dies entspricht einer der Forderungen, die in der Bon- ner Erklärung von den Teilnehmerinnen und Teilneh- mern der ersten UNESCO-Weltkonferenz „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, die vom 31. März bis 2. April 2009 in Bonn stattfand, verankert ist: „BNE unterstützt Gesellschaften beim Umgang mit verschiedenen Hand- lungsfeldern und Themen, darunter Wasser, Energie, Klimawandel, Katastrophenvorsorge, Verlust der Arten- vielfalt, Nahrungsmittelkrisen, Gesundheitsgefährdun- gen, soziale Verwundbarkeit und Unsicherheit. Sie ist entscheidend für die Entwicklung neuen ökonomischen Denkens.“ Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir, dass diese gute und zukunftsweisende Arbeit weitergeführt wird. Die Erfolge sind sehr gut. Nun muss es um die dauer- hafte Implementierung der Bildung für nachhaltige Ent- wicklung im Unterricht an den Schulen und allen ande- ren Bildungseinrichtungen gehen und auch um die Stärkung des ökonomischen Aspekts. Es bedarf weiterer Anstrengungen, um das Leitbildung- und Bildungskon- zept noch tiefer im Bewusstsein der Bevölkerung, im Alltag der Schulen und in der Aus- und Weiterbildung des Lehrpersonals zu verankern. Aus diesem Grund set- zen wir uns für Folgeaktivitäten ein, um die Verbreite- rung einer zukunftsfähigen Bildung national und interna- tional voranzutreiben. Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Bildung für nachhaltige Entwicklung soll bewirken, dass Menschen sich ihrer Verantwortung für Natur und Gesellschaft be- wusster werden und begreifen, dass die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und die Gestaltung einer sozial gerechten und nach ökologischen Grundsätzen ge- stalteten Gesellschaft das verantwortliche Handeln aller erfordert. Nachhaltig zu denken und zu handeln, das er- fordert, die Zusammenhänge in der Welt zu begreifen, die Wirkungen neuer Technologien ebenso vorausschau- end zu beachten und die Folgen eines hemmungslosen Ressourcenverbrauches im Blick zu haben. Dabei ist es wichtig, das soziale und ökologische System der Erde als System kommunizierender Röhren zu begreifen, was heißt, dass verantwortungsloses Handeln, zum Beispiel in Europa, verheerende Folgen am Nordpol oder in Süd- amerika haben kann. Bildung für nachhaltige Entwick- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20861 (A) (C) (D)(B) lung will Menschen in die Lage versetzen, diese Zusam- menhänge zu verstehen und danach zu handeln. Das ist ein ehrenwertes Ziel. Es ist aber nicht umzusetzen, wenn große Teile der Bevölkerung von diesem gemeinsamen Lernprozess aus- geschlossen sind, wenn ihnen Bildung nicht oder nur un- zureichend zugänglich ist. Darum fordert Die Linke, dass Bildung selbst nachhaltig sein muss, wenn Bildung für nachhaltige Entwicklung erfolgreich sein soll. Der- zeit aber sind wir selbst in einem so hochentwickelten Land wie Deutschland davon weit entfernt. Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Neulich war ich in meinem Wahlkreis Schönebeck in einer Einrichtung eines freien Trägers der Jugendhilfe, Rückenwind e. V. „Unser Hauptaugenmerk gilt jungen Menschen und ihren Entwicklungsmöglichkeiten und -un- möglichkeiten“, so kann man auf der Internetseite des Vereins lesen. Innerhalb seines Angebotes bietet „Rü- ckenwind“ unter anderem Hilfe bei Schulproblemen, und der Träger beteiligt sich am ESF-Programm „2. Chance“. Auf dem Flur der Lernstätte finden sich Plakate mit den Erfolgen des Programmes. Silke S. – der Name ist erfunden, das Mädchen nicht – hat über dieses Programm ihren Realschulabschluss geschafft und eine Lehre aufgenommen. Silke S. kam in dieses Programm aus der Förderschule Lernen und hatte dort gar keinen Abschluss erreichen können. Was war falsch gelaufen in der Bildungskarriere die- ser jungen Frau, die erst an die Förderschule für Lernbe- hinderung verwiesen wurde und nun doch ihren Real- schulabschluss mit gutem Erfolg gemacht hat? Warum konnte sie die erste Chance, die Regelschule, nicht er- folgreich meistern? Was hat sie gehindert, nachhaltig zu lernen? Diese und andere Fragen müssen wir stellen, wenn es um nachhaltige Bildung geht. Wenn junge Menschen, wie die LEO-Studie nach- wies, trotz Hochschulabschluss zu funktionalen An- alphabeten werden oder gleich ohne ausreichende Grundbildung die Schule verlassen, dann ist Bildung nicht nachhaltig, dann stimmt etwas nicht in unserem Bildungssystem. Wenn frühkindliche Bildung zwar pos- tuliert, aber nicht mit ausreichend gut ausgebildeten Fachkräften besetzt werden kann und Tausende Fach- kräfte fehlen, dann stimmt etwas nicht in unserem Bil- dungssystem. Wenn Kindern aus sozial benachteiligten Familien nicht genügend Bildung in- und außerhalb der Schule zugänglich gemacht werden kann und selbst Bil- dungspakete nicht wirklich greifen, dann stimmt etwas nicht in unserem Bildungssystem. Wenn private Nach- hilfe der Notanker ist, weil Lehrerinnen und Lehrer sich nicht in der Lage sehen, alle Schülerinnen und Schüler ausreichend zu fördern, dann stimmt etwas nicht in unse- rem Bildungssystem. Wenn Kommunen Schulen nicht angemessen ausstatten können und moderne Lehr- und Lernmittel unerschwinglich sind, dann stimmt etwas nicht in unserem Bildungssystem. Wenn im Jahre 2009 über 1,5 Millionen Menschen im Alter zwischen 25 und 35 Jahren keinen Berufsabschluss haben, dann stimmt etwas nicht in unserem Bildungssystem. Wenn so vieles in unserem Bildungssystem nicht stimmt, dann kann Bil- dung nicht nachhaltig sein, dann läuft auch Bildung für nachhaltige Entwicklung für einen großen Teil von Men- schen ins Leere. Die nachhaltige Entwicklung unserer und der Weltge- sellschaft wird aber nur erreichbar sein, wenn möglichst alle an diesem Entwicklungsprozess teilhaben können, wenn sich alle Bildung für nachhaltige Entwicklung an- eignen können. Diese Dimension ist im Antrag der Gro- ßen Koalition von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen leider nicht enthalten. Darum haben wir diesen Antrag gestellt. Möglicherweise werden die Antragstellerinnen und Antragsteller des anderen Antrages unserem nicht zu- stimmen. Doch das Problem wird bleiben, und wir wer- den nicht müde, es immer wieder zu thematisieren. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die große Mehrheit dieses Hauses legt heute eine Initiative vor, um die „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, BNE, dauerhaft zu sichern und Folgeaktivitäten zur gleichnamigen UN-Dekade zu ermöglichen. Die Auffor- derung des Parlaments geht also an die Bundesregie- rung, hier mehr Engagement zu zeigen, Impulse zu setzen und zu entsprechenden internationalen Verhand- lungen und Vereinbarungen zu kommen. Denn die BNE ist für den gesamten Bereich der Nachhaltigkeit eine Art „Schlüsselkatalysator“. Und das gilt auch für die Bildung in Deutschland. Seit fast 20 Jahren, seit der UN-Konferenz für Um- welt und Entwicklung, auch bekannt als Rio 1992, ist Nachhaltigkeit ein zentraler Begriff und eine Herausfor- derung in der internationalen Politik. Vor 20 Jahren wurde auf dem „internationalen Parkett“ endlich Thema, dass die großen Menschheitsherausforderungen nicht von einzelnen Staaten, sondern nur in einer globalen Partnerschaft gelöst werden können. Die nachhaltige Entwicklung aller Staaten, Gesellschaften und Wirt- schaftssysteme wurde als Voraussetzung identifiziert, um Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu reduzieren, Ar- mut, Hunger und Krankheit sowie Analphabetismus zu verringern, aber auch um die Zerstörung der Ökosys- teme zu verringern, die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit zu erhalten und das Klima zu schützen statt zu zerstören. Für all diese Ziele ist Bildung eine zentrale Vorausset- zung. Dies hat auf Bundesebene schon die rot-grüne Bundesregierung mit ihrer „Nationalen Nachhaltigkeits- strategie“ 2002 aufgegriffen. Im Jahr 2005 wurde ein rot-grüner Parlamentsantrag für einen Aktionsplan zur UN-Weltdekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ einstimmig angenommen. Ende Juni 2012 steht nun, wiederum in Rio, die „UN- Konferenz für nachhaltige Entwicklung 2012“ an. Wir Grüne wollen, dass dort nicht nur Bilanz gezogen wird, sondern dass vor allem auch weitergehende Lösungen für die Zukunft erarbeitet, präsentiert und verabredet werden. Deswegen muss es nicht um ein „Rio+20“ gehen, sondern um ein „Rio20+“. Das gilt auch für die Bildungsinitiativen. 20862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) In dieser Woche hat das Kinderhilfswerk der Verein- ten Nationen, UNICEF, mit einem Bericht erst wieder deutlich gemacht, dass zum Beispiel der Analphabetis- mus in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern noch immer ein riesiges Problem ist. Wenn in den ärmsten Ländern der Erde rund ein Viertel der jungen Frauen und ein Drittel der jungen Männer nicht lesen und schreiben kann, sind sie damit fast zwangsläufig vom sozialen Fortschritt abgeschnitten und ihrer individuellen Rechte, Teilhabechancen und Zukunftsperspektiven beraubt. Auch hier müssen internationale Vereinbarungen entge- genwirken. Es ist daher eine Minimalforderung, dass alle Bundesministerien zukünftig BNE zu einem Kernbe- standteil in der Umsetzung der jeweiligen Internationali- sierungsstrategie machen. Wir halten es für notwendig, dass darüber hinaus alle Ressorts gefordert sind, BNE sowohl in ihren nationalen Strategien zu verankern als auch sich international für ihre Sicherung, Verstetigung und Umsetzung starkzumachen. Aber auch auf unserer nationalen Ebene ist noch eini- ges zu tun: Qualitativ hochwertige Bildung muss sowohl nach- haltigkeitsrelevante Themen einbeziehen als auch nach- haltige Methoden wählen. Im Rahmen der Bonner Erklä- rung der UNESCO-Weltkonferenz „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ hat sich die damalige Bundes- regierung 2009 unter anderem dazu verpflichtet, „das Leitbild der Nachhaltigkeit in die Lehrer-Ausbildung … (zu) integrieren.“ In der letzten Woche hat Bundesbildungsministerin Schavan mit den Wissenschaftsministerinnen und -minis- tern der Länder verabredet, die Qualität der Lehrerausbil- dung mit einem – noch zu konkretisierenden – gemein- samen Programm weiter zu steigern. Wir fordern die Bundesregierung nun auf, ihre 2009 in Bonn eingegan- gene Verpflichtung umzusetzen und die Stärkung des Leitbildes der Nachhaltigkeit in dieses Programm mit aufzunehmen. In der Jugendpolitik steht unter Ministerin Schröder eine weitere Verpflichtung des Jahres 2009 aus: Das Recht junger Menschen auf Mitsprache bei der Umset- zung von BNE muss gestärkt werden. BNE muss zudem stärker in der Kita Schule machen. Nebenbei in diesem Zusammenhang: Die schwarz-gelbe Antikitaprämie Be- treuungsgeld ist das glatte Gegenteil einer nachhaltigen Bildungspolitik. Außerdem fordern wir als grüne Fraktion die Bundes- regierung auf, im Mai 2012 eine Grundgesetzänderung vorzulegen, die nicht nur die Kooperation von Bund und Ländern bei der Finanzierung von Einrichtungen an Hochschulen erleichtert, sondern die es vor allem er- möglicht, dass Bund und Länder ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung für die Bildung gemeinsam nachkommen können. Dabei können und müssen die Koalitionsfrak- tionen einen energischen Beitrag leisten. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, der erste Schritt dahin ist mit dem vorliegenden gemeinsamen BNE-Antrag getan: Dort erkennen die Koalitionsfraktio- nen BNE als innovatives Lehr- und Lernmodell an sowie als ein wichtiges Leitbild für alle Bildungsbereiche und die nachhaltige Gestaltung der Organisation der Bil- dungseinrichtungen selbst. Wer in der Lage ist, so vernetzt zu denken, und die Bildungseinrichtungen als befähigenden Teil einer um- fassenden Bildungskette vom Kindergarten bis zur Er- wachsenenbildung ansieht, der sollte doch auch den einen weiterführenden Schluss daraus ziehen können: Nur die verfassungsrechtliche Ermöglichung einer ge- samtstaatlichen, ebenenübergreifenden Verantwortung stellt sicher, dass diese Anforderungen auch erfüllt wer- den können. Wir wollen dabei keine Verfassung, in der der Bund zum zentralstaatlichen Lenker aller Bildungsprozesse wird. Wir wollen eine Ermöglichungsverfassung, damit Bund, Länder und Kommunen zum Wohle der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen kooperieren können, wo es sinnvoll und notwendig ist. Zum Antrag der Linksfraktion: Wir lehnen ihn ab, weil er zwar bildungspolitische Forderungen enthält, aber letztlich kein Antrag zum Thema ist. Wer die Schul- denbremse abschaffen und die Bologna-Reform kom- plett rückabwickeln will, liegt nicht nur haushalts- und bildungspolitisch falsch, sondern dem scheint es am Grundverständnis für BNE zu mangeln. Die Bundesregierung fordere ich im Namen meiner Fraktion auf, gemäß dieses fraktionsübergreifenden Par- lamentsbeschlusses zu handeln: das heißt, mit den Stake- holdern ein Konzept für Folgeaktivitäten zu entwickeln und vorzulegen, das sie dann mit Rückenwind dieses Hauses auf internationaler Ebene einspeisen können. Deutschland hatte und hat hier eine Vorreiterrolle und Vorbildfunktion und war wichtiger Impulsgeber – dies müssen wir auch künftig bleiben. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Kampf gegen wissenschaftliches Fehlverhal- ten aufnehmen – Verantwortung des Bundes für den Ruf des Forschungsstandortes Deutschland wahrnehmen – Wissenschaftliche Redlichkeit und die Qua- litätssicherung bei Promotionen stärken (Tagesordnungspunkt 19) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): „Der Geist stiehlt, wo er kann.“ Davon war zumindest Paul Valéry, ein französischer Dichter des 19. Jahrhunderts, über- zeugt. Plagiate gibt es eben nicht erst seit der Erfindung des Internets. Plagiate gibt es auch nicht erst seit der Er- findung des Buchdrucks. Plagiate sind so alt wie die Menschheit. Wir alle hier im Bundestag kennen be- rühmte Plagiatsfälle aus ganz unterschiedlichen Lebens- bereichen: Ob in der Literatur mit Bertolt Brecht, in der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20863 (A) (C) (D)(B) Musik mit Johann Sebastian Bach oder in der Kunst, wo Rubens von Michelangelo kopierte. Natürlich oder, bes- ser gesagt, leider kennen wir auch berühmte Plagiatsfälle aus der Wissenschaft: Dazu zählt zum Beispiel die Dok- torarbeit von Martin Luther King: Große Teile seiner Ar- beit übernahm der amerikanische Bürgerrechtler von an- deren Autoren, ohne diese Abschnitte entsprechend zu kennzeichnen. Heute debattieren wir hier, weil es wieder aktuelle Plagiatsfälle gegeben hat. Wir alle kennen die Namen, die ich an dieser Stelle aber nicht nennen werde. Das er- spare ich mir aus einem guten Grund. Denn das eigentli- che Problem sind nicht die wenigen Fälle, wo bekannte Personen ihre Arbeiten kopiert oder gar gefälscht haben. Das eigentliche Problem geht noch tiefer: Seriöse Schät- zungen gehen davon aus, dass mittlerweile bis zu 10 Prozent aller wissenschaftlichen Arbeiten Plagiate sind – 10 Prozent! Im Jahr 2010 gab es fast 26 000 Pro- motionen in Deutschland. Damit sind wir Spitze im in- ternationalen Vergleich. Freuen können wir uns dabei insbesondere über die deutliche Steigerung bei den Pro- motionen in den MINT-Fächern. Aber 26 000 Promotio- nen bedeuten dann auch: 2 600 davon werden wissen- schaftlichen Maßstäben nicht gerecht. Um es deutlich zu sagen: Jedes Plagiat, jede Kopie, jedes bewusste, aber auch jedes unbewusste Fehlverhalten ist zu verurteilen. Jedes Plagiat schadet dem Ruf des Wissenschaftsstand- ortes Deutschland massiv. Was ist also die Ursache für das Fehlverhalten von so vielen angehenden oder auch bereits etablierten Wissen- schaftlern? Natürlich ist es heutzutage viel einfacher, Textabschnitte zu kopieren und als die eigenen auszuge- ben. Vielfach führen aber auch einfach Zeitdruck oder Auftragsüberlastung dazu, dass Quellen nicht mehr ord- nungsgemäß angegeben oder recherchiert werden. Für viele erhöht ein akademischer Grad auch den sozialen, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Rang: Die Mo- tivation zum Beispiel für das Schreiben einer Doktorar- beit kann also auch ganz entscheidend sein für deren Qualität. Aber die eigentliche Ursache für wissenschaft- liches Fehlverhalten liegt woanders. Für mich liegt diese Ursache in einem generellen moralischen Fehlverhalten. Dies bezieht sich aber auf unsere gesamte Gesellschaft und nicht nur auf einzelne Fälle in der Wissenschaft. Ge- sellschaftliches Fehlverhalten spiegelt sich eben auch im Fehlverhalten in der Wissenschaft wider. Was können wir also machen, um dieses Fehlverhal- ten abzustellen? Ich denke, wir sollten gemeinsam zwei Ziele anstreben. Erstens. Wir brauchen in unserer Ge- sellschaft eine Rückbesinnung auf Werte. Wir brauchen mehr Ehrlichkeit, mehr Sein als Schein; darauf muss es in unserer Gesellschaft wieder ankommen. Dies bezieht sich auf alle Lebensbereiche und nicht nur auf die Wis- senschaft. Moralisch einwandfreies Verhalten kann man aber nicht verordnen; das kann man nur vorleben. Und gerade dafür brauchen wir Vorbilder: in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kirche und in allen weiteren ge- sellschaftlichen Bereichen. Zweitens – ich habe es bereits betont –: Niemand kann Moral und Anstand verordnen oder gar gesetzlich regeln. Das gilt eben auch für die Wissenschaft. Die Uni- versitäten, Fachhochschulen oder Forschungseinrichtun- gen müssen in erster Linie selbst dafür sorgen, dass sie die sogenannte gute wissenschaftliche Praxis umsetzen. Die entsprechenden Empfehlungen der DFG sind dabei eine sehr gute Maßgabe. Es reicht aber nicht aus, nur die Symptome zu bekämpfen, also die Kontrollmechanis- men der Hochschulen zu verbessern, verstärkt auf Soft- ware zu setzen, die Plagiate aufspürt, oder konsequent Bestrafungen umzusetzen. Das ist alles wichtig und rich- tig, keine Frage. Zum Beispiel ist für die Redlichkeit ei- ner Promotion vor allem der Doktorand verantwortlich. Genauso tragen aber auch der Doktorvater oder die Zweitprüfer eine große Verantwortung für die wissen- schaftliche Arbeit; für ihre Betreuung und die Benotung. Es kommt also gerade auch in unserem Wissenschafts- system darauf an, dass sich alle Beteiligten korrekt, an- ständig und vor allem ehrlich verhalten. In Deutschland brauchen wir Innovationen, um auf Dauer wettbewerbsfähig zu bleiben und um unseren Wohlstand zu sichern. Innovationen beruhen aber nicht auf Kopien. Innovationen beruhen nicht auf Plagiaten. Innovationen beruhen auf neuen, kreativen Ideen. Wir brauchen also ein transparentes Wissenschaftssystem, in dem Innovationen gefordert und gefördert werden. Das stärkt den Ruf des Wissenschaftsstandortes Deutschland, und es stärkt dadurch auch unseren Wirtschaftsstandort. Grundlage dafür ist – ich habe es bereits betont – ein Mehr an Ehrlichkeit: ein Mehr an Ehrlichkeit des Einzel- nen, ein Mehr an Ehrlichkeit der Gesellschaft. Eben weil wir mehr Ehrlichkeit brauchen, rufe ich Sie dazu auf: Lassen Sie uns Vorbild sein, ein Vorbild, vielleicht mit „kleinen Fehlern“, wie es unser Kollege Wolfgang Börnsen in seinem Buch so treffend beschrieb, aber trotzdem ein Vorbild. Ich fordere die Universitäten dazu auf: Gehen Sie offen, transparent, aber auch konsequent mit wissenschaftlichem Fehlverhalten um. An all diejenigen, die vielleicht darüber nachdenken, ihre eigene wissenschaftliche Arbeit „abzukürzen“, an sie kann ich nur appellieren: Machen Sie es nicht. Blei- ben Sie ehrlich. Wenn dieser Appell nicht hilft, kann ich nur eines sagen: Ihr Fehlverhalten wird aufgedeckt – eher früher als später. Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): In den vergange- nen Monaten haben diverse Plagiatsaffären für mediale Aufmerksamkeit gesorgt. Dies hat zu hitzigen Diskus- sionen in Wissenschaft und Politik über die Zukunft des deutschen Promotionssystems geführt. Damit beschäfti- gen sich auch die heutigen Anträge von SPD und Bünd- nis 90/Die Grünen. Im Fokus des Antrages der SPD steht die Einführung von Maßnahmen gegen wissenschaftli- ches Fehlverhalten. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen kritisiert in ihrem Antrag die nicht einheitlichen Qualitätsstandards bei Promotionen und die daraus re- sultierenden Lücken in der Selbstkontrolle der Wissen- schaft. Auch ich halte diese Debatte für wichtig, um den Qualitätsstandard des Promotionssystem in Deutschland zu sichern. Jedoch ist der Adressat der Falsche. Nicht der 20864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) Bund bzw. die Bundesregierung ist hier gefordert, wie dies in den Anträgen der Oppositionsfraktionen formu- liert wurde, sondern Wissenschaft und Hochschulen in ihrer grundrechtlich geschützten Selbstverantwortung und Selbstorganisation, etwa in der HRK, Hochschulrek- torenkonferenz, und DFG, Deutsche Forschungsgemein- schaft. Der Bund ist sich seiner Verantwortung zur Un- terstützung und konstruktiven Begleitung bewusst und wird dieser auch in Zukunft nachkommen. Eine Qualitätssicherung der Promotion erreichen wir nachhaltig nur, indem wir Veränderungen im Wissen- schaftssystem vornehmen. Die Hauptverantwortung liegt hier aber bei den Hochschulen und nicht beim Bund – und das ist auch richtig so. Die Hochschulen müssen ihre Qualitätssicherungssysteme konsequent weiterentwickeln. Uns ist es besonders wichtig, dass das Vertrauen in die Arbeit der Hochschulen und in die Selbstverantwortung des Wissenschaftssystems in Deutschland erhalten wird. Denn eine gute wissenschaft- liche Praxis darf nicht auf staatliche Vorgaben oder Re- gularien angewiesen sein, sondern muss auf einem inten- siven Austausch innerhalb des Wissenschaftssystems beruhen. Gerade im Zuge der Exzellenzinitiative liegt es im Eigeninteresse jeder Universität, möglichst gute For- schungsergebnisse zu erzielen und einen herausragenden Beitrag für die Wissenschaft zu leisten. Wir unterstützen das Vorhaben der generellen Quali- tätssicherung von Promotionen in Deutschland. Aller- dings sollte das Augenmerk weniger auf Sanktionsmaß- nahmen gerichtet werden, wie dies im Antrag der Oppositionsparteien gefordert wird, sondern auf die In- strumente für die Vermeidung von wissenschaftlichem Fehlverhalten. So wird es erst gar nicht zu Sanktionen kommen müssen. Des Weiteren ist eine Vereinheitli- chung von Sanktionen durch die Bundesregierung, wie sich das die Antragsteller vorstellen, gar nicht möglich. Aufgrund der grundgesetzlich garantierten Hochschul- autonomie sowie der richtigen Kulturhoheit der Länder gibt es gute und klare Verantwortungen. Wer dies – wie Sie – ignoriert, offenbart seine Ideenlosigkeit und schreibt Schaufensteranträge. Uns ist selbstverständlich bewusst, dass es klare He- rausforderungen auf dem Weg zu gestärkten Qualitätssi- cherungssystemen gibt: Denn bisher existiert weder eine rechtlich noch eine praktisch geregelte Erfassung der Pro- movierenden. Es fehlen in Deutschland empirisch belast- bare Aussagen über die Anzahl der Promovierenden, die Abbruchs- und Erfolgsquoten, die Promotionsdauer und die prozessualen Daten zu Betreuungsqualitäten. Auf- grund dieser Problematik startete das Bundesministerium für Bildung und Forschung bereits eine Initiative, um mit den entscheidenden Stakeholdern einen Dialog über eine mögliche Lösung des Problems zu initiieren. Auch die im Antrag der Oppositionsparteien gefor- derte gemeinsame Stelle der Wissenschaft existiert be- reits seit 1999. Das von der Deutschen Forschungsge- meinschaft eingesetzte Gremium „Ombudsmann für die Wissenschaft“ ist eine unabhängige Instanz, die allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutsch- land als Ansprechpartner zur Verfügung steht, wenn es um die gute wissenschaftliche Praxis und um Verletzun- gen durch wissenschaftliche Unredlichkeit geht. In der Zwischenzeit sind die erwarteten Empfehlungen des Wissenschaftsrates für die Hochschulen veröffent- licht worden. Die Hochschulrektorenkonferenz nimmt ihre Verantwortung wahr: Am 24. April 2012 hat sie elf substanzielle Leitlinien zur Qualitätssicherung in Promo- tionsverfahren verabschiedet. Die Promotionsordnung muss in Zukunft so gestaltet und angewandt werden, dass zu jeder Zeit die Transparenz und die Integrität der wis- senschaftlichen Praxis sichergestellt werden können. Ein weiterer wichtiger Punkt für die Doktoranden ist, dass da- für Sorge getragen wird, dass die Arbeit an einer Disser- tation in der Regel in drei Jahren abgeschlossen werden kann. In der gleichen Sitzung hat sich die HRK mit klaren Empfehlungen an ihre Mitglieder auch der Frage der Be- fristungspraxis bei Nachwuchswissenschaftlern gestellt. Wir als christliche liberale Koalition werden die Hochschulen bei der Umsetzung der Empfehlungen und Leitlinien im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstüt- zen. Was unterscheidet uns also? Nichts weniger als das Grundverständnis. Während Sie letztlich dem zentralen Dirigismus das Wort reden, setzen wir auf Subsidiarität und Unterstützung und Stärkungen der Verantwortlichen in den Ländern und Hochschulen. Dies trägt Früchte, wie Sie an den Aktivitäten der DFG, des Wissenschafts- rats, der HRK und an vielen Hochschulen in Deutsch- land sehen können. Dies haben wir politisch begleitet. Zentralisierung und Schwächung der Verantwortlichen vor Ort ist historisch bei vielen Themen gescheitert. Hie- raus sollten Sie zumindest langsam beginnen zu lernen. Ich bin überzeugt davon, dass Promotionen in Deutschland weiterhin für eine exzellente wissenschaft- liche Qualifikation stehen, und gehe davon aus, dass un- sere Universitäten unserem wissenschaftlichen Nach- wuchs weiterhin eine gute Betreuung zukommen lassen. Es kann immer Einzelfälle wissenschaftlichen Fehlver- haltens geben, die zu sanktionieren sind – keine Frage; aber es dürfen nicht jede Doktorandin und Doktorand unter Generalverdacht gestellt werden. Die gestärkte Eigenmotivation und Eigenverantwortung von Wissen- schaftlern und Wissenschaftlerinnen und ihre starke intrinsische Motivation, die Grenzen der Erkenntnis ständig zu verschieben, sind das beste Qualitätssiche- rungssystem für die Wissenschaft. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Als wir Anfang Mai letzten Jahres den vorliegenden Antrag für die SPD in den Bundestag eingebracht haben, hätte wohl keiner von uns geahnt, dass innerhalb eines Jahres allein sechs prominente Politikerinnen und Politiker – im Wesentli- chen mit einem konservativ-liberalen Hintergrund – per- sönliche und politische Konsequenzen aus Plagiatsvor- würfen ziehen mussten. Aber mehr noch als die indi- viduellen Fälle provozierte das lange Schweigen promi- nenter Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Politik zum Fall Guttenberg einen enormen und ver- ständlichen Sturm der Entrüstung. Insbesondere diejeni- gen, die selbst als Promovierende in das Blickfeld der öffentlichen Wahrnehmung rückten, waren schockiert Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20865 (A) (C) (D)(B) von dem Verhalten dieser „Würdenträger“. Diesem Auf- schrei mussten nach unserer festen Überzeugung politi- sche und parlamentarische Reaktionen folgen. Die Entrüstung war mehr als gerechtfertigt; denn das wissenschaftliche Fehlverhalten Einzelner gefährdet den Ruf des gesamten deutschen Wissenschaftssystems. Um es klarzustellen: Bei wissenschaftlichem Fehlverhalten geht es nicht nur um das Kopieren ganzer Textpassagen bzw. Ideen ohne Nennung des Urhebers. Viel verbreite- ter ist die Manipulation ganzer Datensätze. So gab zum Beispiel letzten Herbst der renommierte niederländische Sozialpsychologe Diederik Stapel zu, massenweise Da- ten gefälscht bzw. sogar erfunden zu haben. Solche Fälle können das Vertrauen in das Siegel der „wissenschaftlich fundierten“ Ergebnisse zerstören. Das dürfen wir nicht zulassen. Genau deshalb sollten wir, Politik wie Wissen- schaft, ein großes Interesse daran haben, dem entgegen- zuwirken. Überall dort, wo wissenschaftliches Fehlver- halten bekannt wird, müssen Wissenschaft und Politik mit starker Stimme das Wort führen für eine „saubere“ Wissenschaft und Forschung. In der öffentlichen Anhörung Ende letzten Jahres zu diesem Thema haben wir ausführlich mit den geladenen Expertinnen und Experten über die Problematik disku- tiert. Dabei kam unter anderem heraus, dass nicht einmal bekannt ist, wie viele Promovierende es in Deutschland überhaupt gibt. Es existiert bisher keine Stelle, wo diese Zahlen für Deutschland zentral gesammelt werden. Wir wissen somit auch nicht, wie viele Doktoranden ihre Promotion vorzeitig abbrechen, geschweige denn, wa- rum. Das muss sich ändern. Nötig sind diese Zahlen auch deshalb, da uns in der Anhörung sehr deutlich ge- sagt wurde, dass zur Verbesserung des wissenschaftli- chen Arbeitens die Betreuung der Promovierenden ver- bessert werden muss. Man muss sich schon fragen, wie ein einzelner Professor bzw. eine einzelne Professorin zehn oder mehr Promovierende adäquat betreuen kann. Hier muss es dringend ein Umdenken innerhalb des Wis- senschaftssystems geben. Statt Masse brauchen wir hier Klasse! Doktorandenbetreuung ist kein „Nebenge- schäft“, sondern eine Grundaufgabe von Professorinnen und Professoren, die aus dem besonderen Privileg, letzt- lich Doktorgrade verleihen zu dürfen, auch Verpflichtun- gen eingehen, dass diese wissenschaftliche Auszeich- nung durch wahrhaftige und eigenständige Arbeit zu- stande gekommen ist. Ein ähnliches „Massenproblem“ haben wir auch im Bereich der Publikationen. Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Gefühl haben, dass sie jedes Jahr eine gewisse Anzahl von Publikationen veröffentli- chen müssen, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn am Ende auch geschummelt wird, um diese Zahl zu erreichen, oder wenn die „least publishable unit“ ein Maßstab für das eigene Publikationsverhaltens wird, ob- wohl es sich nur noch um wissenschaftliche Brosamen, aber mit imponierendem Titel in Publikationslisten han- delt. Der Beschluss der DFG, gegen diese Publikations- flut anzugehen, war auch in dieser Hinsicht eine richtige Entscheidung und sollte von weiteren Institutionen über- nommen werden. Wir registrieren mit Freude, dass die DFG hiermit auch für andere Wissenschaftsorganisatio- nen und für die Hochschulen ein Zeichen gesetzt hat. Auch müssen wir uns selbst die Frage stellen, ob nicht der Druck zur verstärkten Einwerbung von Drittmitteln ein Faktor darstellt, der zu Plagiaten und Datenmanipu- lationen führt. Wo frei geforscht wird, können Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler auch einfacher den Misserfolg eines Experiments kommunizieren, ohne Angst zu haben, dass ihnen die Gelder für das nächste Projekt gestrichen werden. Ändern muss sich auch, dass festgestelltes Fehlver- halten von Promovierten und Habilitierten anders bzw. geringer geahndet wird als das von Studierenden. Im Sinne der Gerechtigkeit, aber auch im Sinne des Vorbild- charakters kann so etwas nicht sein. Wir brauchen des- halb eine Vereinheitlichung der Sanktionen, unabhängig vom Status des Beschuldigten. Die kürzlich getroffene Verabredung, dass entsprechende Erklärungen zur eigen- ständigen Erarbeitung der Promotion verbindlich und einheitlich an allen Hochschulen abgegeben werden müssen, unterstützt das Anliegen, den Flickenteppich an Regelungen durch klare, eindeutige und gleiche Ver- pflichtungen und Sanktionen in ganz Deutschland abzu- lösen. Viele wissenschaftliche Themen sind so speziell, dass Datenmanipulationen oder Ideenklau nur durch wenige Spezialisten aufgedeckt werden können. Im Zweifel sind dies sogar die eigenen Kollegen oder Teammitglieder. So haben zum Beispiel im oben genannten Fall des nie- derländischen Psychologen seine eigenen Nachwuchs- wissenschaftler den entscheidenden Tipp zur Aufde- ckung der Datenmanipulationen gegeben. Diese Whistle- blower setzten durch ihren Mut aber im Zweifel auch ihre eigene Karriere aufs Spiel. Um diese Whistleblower zu schützen, existieren in Universitäten und Instituten spezielle Ombudsfrauen und -männer. In der Anhörung wurde darauf verwiesen, dass in einigen deutschen Uni- versitäten diese Personen nur schwer zu finden sind. Das muss sich ändern. Studierende und Mitarbeiter müssen über die Funktion und die Kontaktmöglichkeiten dieser Anlaufstellen deshalb noch besser informiert werden. In Zeiten des Internets sollte es doch kein Problem sein, diese Personen leicht auffindbar zu machen und An- sprechpartner klar zu benennen. Zu einer weiteren wichtigen Frage, die wir als SPD in unserem Antrag angesprochen haben, konnten uns ins- besondere die Vertreterinnen und Vertreter der Bundes- regierung keine Antwort geben, nämlich wie wir wirk- sam gegen das „akademische Ghostwriting“ vorgehen. Es kann doch nicht sein, dass man sich ganze Publikatio- nen einfach fremdschreiben lässt und dann nur noch sei- nen eigenen Namen darüber setzt. Gegen diese kommer- ziellen Angebote muss die Bundesregierung nun endlich etwas unternehmen. Professorinnen und Professoren sollten sich aber auch fragen, ob sie es wirklich verant- worten können, dass ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter forschen, die Ergebnisse dann aber nur unter dem Na- men der Professorinnen und Professoren veröffentlicht werden. Hier hat sich eine Aneignung von geistigem Ei- gentum qua Herrschaft und Abhängigkeit eingeschli- chen, die dann die guten Sitten hin zu einem noch viel extremeren Missbrauch verdirbt. 20866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) Im Ganzen haben die Anhörung und unsere Beratun- gen gezeigt, wie weitläufig das Problem des wissen- schaftlichen Fehlverhaltens ist. Es geht eben nicht allein um „copy and paste“, sondern genauso um eingefahrene Strukturen, die zu Plagiaten und Datenmissbrauch er- muntern. Genauso klar haben die Expertinnen und Ex- perten aber auch dargestellt, dass das Problem nicht al- lein bei Promotionen liegt. Der uns vorliegende Grünen- Antrag betrachtet somit nur die Spitze des Eisberges. Wie aber CDU/CSU und FDP nach dieser Anhörung noch immer jeglichen Handlungsbedarf des Bundes beim Thema wissenschaftliches Fehlverhalten negieren können, ist uns, ehrlich gesagt, schleierhaft. Das hängt doch hoffentlich nicht mit einer gerüchtweise im konser- vativen-liberalen Umfeld vorhandenen Auffassung zu- sammen, dass ein Doktortitel jemanden zu einem besse- ren Menschen oder Politiker macht. Aufgabe der Politik wie auch der Wissenschaft ist es, die Rahmenbedingungen für ein gutes wissenschaftli- ches Arbeiten zu gewährleisten. Dazu müssen jetzt Strukturen reformiert werden. Die schwarzen Schafe des Wissenschaftssystems und in der Politik sollten hinge- gen wissen, dass die Wissenschaftsgemeinschaft ihnen am Ende auf die Schliche kommt und dass ihre Verfeh- lungen spürbare Konsequenzen haben. Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Um es vorne- weg klar und deutlich zu sagen: Die FDP-Bundestags- fraktion misst der Wissenschaft und der wissenschaftli- chen Redlichkeit einen großen Stellenwert bei. Wir vertrauen daher – im offenkundigen Gegensatz zu den Oppositionsfraktionen – im Kampf gegen Plagiate und gegen Fehlverhalten in wissenschaftlichen Arbeiten auf die Selbstkontrollmechanismen der Hochschulen und Wissenschafts- und Forschungsorganisationen. Die Wissenschaft und wissenschaftliches Arbeiten ge- rieten in 2011 durch einzelne Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Ein Zerrbild wissenschaftlicher Praxis entstand für einen kur- zen Zeitraum in der öffentlichen Wahrnehmung. Wenige Einzelfälle führten zu einem Generalverdacht von Dokto- randen. Es wurden Fragen zur Selbstkontrolle der Wis- senschaft aufgeworfen, die zu einer intensiven Debatte und Selbstreflexion innerhalb des Wissenschaftssystems und ihrer Institutionen führte. Mittlerweile haben sich sowohl Wissenschaftsrat, außeruniversitäre Forschungs- einrichtungen als auch Hochschulrektorenkonferenz mit Positionspapieren, Leitlinien und Vorschlägen zur Siche- rung guter wissenschaftlicher Praxis zu Wort gemeldet. Nicht zuletzt an den Universitäten, an denen die Plagiats- fälle publik wurden, setzte eine Selbstbefassung in den Fachbereichen und Hochschulgremien über Promotions- verfahren und Mechanismen der Qualitätssicherung ein. Es zeigt sich, dass das Wissenschaftssystem sich selbst ei- ner kritischen Überprüfung unterzogen hat und weiter un- terzieht und generell zu Selbstkontrolle in der Lage ist. Es zeigt, dass es nicht des Staates braucht, und bestätigt da- mit unsere Auffassung. Die von Bündnis 90/Die Grünen und SPD vorgeleg- ten Anträge lassen tief blicken, mit welcher Denkweise Grüne und SPD dem deutschen Wissenschaftssystem ge- genüberstehen. Wie überzogen und offensichtlich unbe- dacht viele der Forderungen sind, zeigt sich in dem an die Bundesregierung erhobenen Anspruch, als Korrektiv tätig zu werden. Bundestag und Bundesregierung sollen die Initiative ergreifen, um wissenschaftliche Missstände zu beheben. Wissenschaft und Forschung – so der Tenor – müssen durch staatliches Handeln reglementiert und normiert werden, um mehr Transparenz und einheit- liche Kriterien zu fassen. Per Beschluss des Deutschen Bundestags soll der Wissenschaft mehr Redlichkeit zu- geführt werden. Per Beschluss soll die Bundesregierung beauftragt werden, in die Selbstkontrolle der Wissen- schaft einzugreifen und wissenschaftliche Standards und Qualitätskriterien begleitend zu erarbeiten. Dabei übertrifft die SPD sogar die Grünen in ihren Forderungen. In ihrem Antrag „Kampf gegen wissen- schaftliches Fehlverhalten aufnehmen“ verfallen die So- zialdemokraten in Überlegungen zu bundeseinheitlichen Strafen und Sanktionen für wissenschaftliches Fehler- verhalten, anstatt zum Kern des Problems vorzudringen. So fordert die SPD stattdessen die Bundesregierung dazu auf, die Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V. eine Stellungnahme erarbeiten zu lassen, die Sanktionen bei wissenschaftlichem Fehlverhalten nachgeht. Weiter im Antrag heißt es dann, dem Ansinnen der SPD nach soll es eine „zentrale Stelle der Wissenschaft“ geben, wo unter Anonymität wissenschaftliches Fehlverhalten an- gezeigt werden kann. Nach Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion ist ein Eingreifen von Bundesregierung oder Bundestag weder erforderlich noch zielführend. Denn die Wissenschaft lässt sich keine fremden Kriterien oder einheitliche Stan- dards überstülpen, sondern folgt ihren eigenen, selbster- arbeiteten Qualitätsstandards in der eigenen Fachkultur. Der Wissenschaftsrat verweist in seinem Positionspapier „Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promo- tion“ vom November 2011 genau auf diese Selbststän- digkeit: „Eine Verständigung über inhaltliche Standards, die an eine Promotion angelegt werden, kann nur fach- spezifisch erfolgen.“ Der beste Schutz vor wissenschaftlichem Fehlverhal- ten liegt aber nicht nur in der Erarbeitung neuer Stan- dards und Kriterien. Wichtiger als die Formulierung neuer und abstrakter Standards und Kriterien ist ein kla- res Bekenntnis der Wissenschaftler zu den eigenen Stan- dards und Kriterien sowie zu den Rekrutierungs- und Begutachtungsprozessen. Diese müssen selbst als Instru- mente begriffen werden. Denn das Promotionsrecht ist ein vom Staat an die Universitäten verliehenes Recht. Mit diesem Recht sind zugleich unteilbar die Verantwor- tung und die Pflicht für die Einhaltung wissenschaftli- cher Standards verbunden. Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt es jedenfalls ab, eine weitere Verrechtlichung und Bürokratisierung der deutschen Hochschulen voranzutreiben. Wir sind davon überzeugt, dass die deutschen Hochschulen ein Mehr an Autonomie und Selbstbestimmung benötigen – und nicht ein Mehr an Bürokratie. Das deutsche Wissenschaftssys- tem weiß selbst am besten, wie die gute Qualität wissen- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20867 (A) (C) (D)(B) schaftlichen Arbeitens zu sichern ist, unter Einsatz ihrer Reputation. Die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und SPD werden diesem Anspruch an das Wissenschaftssystem nicht gerecht. Die erhobenen Forderungen sind vollkom- men überzogen und werden aus diesem Grund abge- lehnt. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Vor etwas mehr als ei- nem Jahr hat die Debatte über richtiges Zitieren, über Plagiate und über wissenschaftliches Fehlverhalten ins- gesamt die Schlagzeilen beherrscht. Sie führte zu einer intensiven Diskussion in der Wissenschaft selbst, aber auch in der Politik. Heute debattieren wir am „Welttag des geistigen Eigentums“ eine spezielle Facette dieses schillernden Begriffs. Da wir hier im Bundestag bereits mehrfach unsere Positionen zum Problem verdeutlichen konnten, wähle ich heute für meinen Beitrag eine des Themas angemes- sene Form und zitiere – gewissermaßen „auf den Schul- tern von Riesen“, so Robert K. Merton, stehend –: „Viel- leicht sind wir altmodisch und vertreten überholte konservative Werte, wenn wir die Auffassung hegen, dass Aufrichtigkeit und Verantwortungsbewusstsein Werte sein sollten, die auch außerhalb der Wissenschaft gelten sollten. Herr zu Guttenberg schien bis vor kurzem auch dieser Meinung zu sein.“ Zu finden ist dieses Zitat in: Offener Brief von Doktoranden an die Bundeskanz- lerin. 2011. Online. Richtig bleibt: „Wissenschaftler, die ihre Tätigkeit in erster Linie als Weg zu Ruhm, Macht und Reichtum se- hen, sind vermutlich eher als andere dazu prädisponiert, über ein ganz spezielles Hindernis zu stolpern – den so- genannten Mogelfaktor.“ Geschrieben von: Fischer, Klaus: Spielräume wissenschaftlichen Handelns. Die Grauzone der Wissenschaftspraxis. Denn: „Die Forderung nach Uneigennützigkeit hat ihre feste Grundlage im öffentlichen und überprüfbaren Cha- rakter der Wissenschaft.“ Zu lesen in: Merton, Robert K.: Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur. Daraus folgt: „Die Plagiatsaffäre weist an dieser Stelle weit über den spektakulären Einzelfall hinaus. Im- merhin hat sie auch in der Rechtswissenschaft eine Selbstvergewisserung über das Grundverständnis der Profession angestoßen. Diese Reflexion bezieht sich der- zeit in erster Linie darauf zu fragen, wie die Dokto- randenausbildung so reformiert werden kann, dass es unwahrscheinlicher wird, eine allzu fehlerhafte Doktor- arbeit mit summa cum laude zu bewerten, und dass es wahrscheinlicher wird, Plagiate aufzudecken.“ Aus: Fischer-Lescarno, Andreas: Guttenberg oder der „Sieg der Wissenschaft“. Richtig ist auch: „Außerhalb der Täuschung in Quali- fikationsschriften ist das Rechtsfolgenregime bisher in der Praxis nur unzureichend entwickelt. Deutliches Fehl- verhalten (Plagiate) wird von Hochschulen bisher nicht immer seinem moralischen (und rechtlichen) Fehlverhal- tensgewicht entsprechend behandelt. Es geht nicht an, dass Hochschullehrern solches Fehlverhalten nicht mit der gleichen Härte vorgehalten wird wie Autoren von Doktorarbeiten oder Habilitationsschriften.“ Gehört von: Löwer, Wolfgang: Stellungnahme vor dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, 7. November 2011. Wir müssen uns folgendes vergegenwärtigen: „Die Hinweise kommen von Wissenschaftlerinnen und Wis- senschaftlern aus unterschiedlichen Karrierestufen. So waren unter den Hinweisgebern 16 Prozent Nichtgra- duierte, 50 Prozent Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler und 34 Prozent Professorinnen und Professoren. Dagegen betrug bei den Angezeigten der Hochschulleh- reranteil 61 Prozent, es kamen 35 Prozent aus dem Mit- telbau und 5 Prozent waren Nichtgraduierte.“ Ombuds- mann der DFG: Bericht 10 Jahre Ombudsarbeit. Darüber hinaus bedenken wir Folgendes: „Überden- kenswert ist, ob jenseits der Reputationswahrung weitere Anreiz- und Belohnungsstrategien nicht die Wahrschein- lichkeit von Fehlverhalten steigern, wie dies im Diskurs über die parameterisierte Mittelverteilung etwa nach der Zahl der Dissertationen zuletzt diskutiert worden ist. Wenn es keine Grundfinanzierung der naturwissen- schaftlichen Fächer gibt, die dem Eigensinn Raum geben, wenn jeder Euro wettbewerblich eingeworben werden muss, steigt die Abhängigkeit vom Einwer- bungserfolg; Abhängigkeit ist im Ergebnis eine zusätz- liche moralische Last, die die Standard-Einhaltung gege- benenfalls im einzelnen Fall lockert.“ Analysiert von: Löwer, Wolfgang: Stellungnahme vor dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, 7. November 2011. Und: „Das Schizophrene liegt im guten Glauben von- seiten der Ministerien, dass eine hohe Anzahl von Veröf- fentlichungen irgendeine Qualität beweist. Das bereitet den Boden für Plagiatoren, obwohl es nach wie vor die bewusste Entscheidung des Einzelnen ist, die Grenze zum wissenschaftlichen Fehlverhalten zu überschrei- ten.“ Stellt fest: Weber-Wulff, Deborah: Unter Schizo- phrenen. Plagiate bekämpfen mit Open Access. Überraschend die Feststellung: „Anhängern quantita- tiver Evaluation sollte zu denken geben, dass etliche viel zitierte hot papers … inzwischen eindeutig als gefälscht gelten: Zitationsraten sind keineswegs wie oft behauptet ein Qualitätsmaß.“ Fröhlich, Gerhard: Plagiate und unethische Autorenschaften. Ich teile die folgende Position: „Wissenschaftliche Werke gehören in die Öffentlichkeit. Sie dürfen, entspre- chend den Potenzialen elektronischer Räume, nicht exklusiv privatisiert werden.“ Zu lesen bei: Kuhlen, Rainer: Guttenberg und Wissenschaftsethik. Ich unterstütze die Forderung nach Open Access in der Wissenschaft: „Das Verfassen einer Dissertation er- fordert hohe Präzision beim Formulieren und Gestalten eigener und der Wiedergabe übernommener Daten, Gra- fiken und Texte. Aus informationswissenschaftlicher Sicht gehört dazu eine deutliche Trennung von eigenen und zitierten Passagen, verbunden mit einer klaren und nachvollziehbaren Quellenangabe. Elementare Bedin- gungen zur Gewährleistung der Einhaltung dieser 20868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) Grundsätze sind Offenheit und Nachprüfbarkeit. Dies kann durch eine allgemeine Verpflichtung zu Open- Access-Veröffentlichungen erreicht werden. Damit wird den Möglichkeiten und Versuchungen moderner Kom- munikationssysteme (Internet) eine gleichgewichtige Überprüfungsmöglichkeit entgegengesetzt. Open Access ist dann gegeben, wenn weltweit im Internet frei und vollständig wissenschaftliche Qualifizierungsarbeiten digitalisiert zur Verfügung stehen.“ Gelesen bei: Deut- sche Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis, Brief an die Hochschulrektorenkon- ferenz vom 7. November 2011. Zum Abschluss zur Kultur in der Wissenschaft: „Nicht das Fehlermachen an sich, sondern das Nichtaus- seinen-Fehlern-Lernen, Die-Fehler-nicht-Zugeben sei der eigentliche Fehler. Eine auf einer fehler- und damit menschenfreundlicheren Anthropologie aufbauende Kulturphilosophie, Methodologie und Wissenschafts- ethik könnte vielleicht gerade durch die Enttabuisierung, die Entemotionalisierung und die teilweise psychische Entlastung fehlerentdeckender oder von anderen fehler- überführter Wissenschaftler dazu führen, dass Betrug und Selbstbetrug abnehmen zugunsten unbefangener, mit weniger Schadenfreude und Scham verbundener Fehlersuche – bei sich und anderen.“ Erdacht von: Fröh- lich, Gerhard: Betrug und Täuschung in den Sozial- und Kulturwissenschaften. In: Hug, T. (Hg.): Wie kommt die Wissenschaft zu ihrem Wissen? Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich finde es erfreulich, wie resistent und renitent der Wissen- schaftsbereich sich gezeigt hat gegenüber Versuchen, wissenschaftliches Fehlverhalten und Plagiate zu baga- tellisieren. Bei der Koalition herrschte lange der Eindruck vor, dass wir sie nur mit politisch prominenten Plagiatsfällen ärgern wollten. Aber es hat sich ja gezeigt, dass auch der Wissenschaftsbereich selbst sich mit der Frage, wie die Qualität wissenschaftlicher Arbeiten und gute wissen- schaftliche Praxis in Zukunft besser gesichert werden können, kritisch auseinandergesetzt hat. Auch die Wis- senschaftsorganisationen wie die DFG, die MPG und jüngst die HRK mit ihren Empfehlungen zur „Qualitäts- sicherung in Promotionsverfahren“ haben dieses Thema aktiv aufgenommen. Der Wissenschaftsrat hat in seinem Positionspapier zur „Qualitätssicherung der Promotion“ im letzten Herbst eine Reihe von Empfehlungen abgege- ben; beide Papiere untermauern viele der Forderungen aus unserem Antrag. Wir halten strukturelle Veränderungen für notwendig und wollen, dass die Universitäten mehr institutionelle Verantwortung im Promotionsverfahren übernehmen. Dazu zählt, dass Betreuungsvereinbarungen das Verhält- nis zwischen Promovierenden und Betreuerinnen und Betreuern klar und transparent regeln und dass verstärkt externe Gutachter zur Bewertung einer Promotion hinzu- gezogen werden. Dazu gehört auch, dass ein einheitli- cher Doktorandenstatus an den Universitäten eingeführt wird. Diese Forderungen haben die Koalitionsfraktionen ja nun auch in ihrem aktuellen Antrag zum wissenschaft- lichen Nachwuchs übernommen. Es setzt falsche Anreize, wenn die Leistung der Pro- fessorinnen und Professoren rein quantitativ nach der An- zahl der Promotionen gemessen wird. Darüber waren sich auch alle Sachverständigen im Fachgespräch im Bil- dungs- und Forschungsausschuss einig. Deshalb wollen wir, dass in die leistungsbezogene Mittelvergabe auch qualitative Gesichtspunkte bei der Betreuung, aber auch Zweitgutachtertätigkeiten und die Mitwirkung an Prüfun- gen berücksichtigt werden. Der Wissenschaftsrat hat sei- nerseits vorgeschlagen, eine binäre Notenskala einzufüh- ren und nur noch die Noten „Bestanden“ oder „Mit besonderem Lob“ zu vergeben. Diese Idee kann helfen, die örtlich sehr unterschiedlichen Praktiken bei der No- tenvergabe zu vereinheitlichen. Das Fachgespräch hat auch gezeigt, dass die Unis ihre Kompetenzen zur Erken- nung von Plagiaten erweitern müssen. Anti-Plagiatssoft- ware ist dabei kein Allheilmittel, sondern kann stets nur ein ergänzendes Hilfsmittel sein. Wir halten es auch für sinnvoll, dass alle Doktoranden, wie es bereits in Berlin und München praktiziert wird, eine eidesstattliche Erklä- rung unterzeichnen, um sich darin zu verpflichten, die Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis einzuhalten und es hier nicht unterschiedliche Standards von Uni zu Uni gibt. Strukturierte Promotionsverfahren in Graduier- tenschulen und Graduiertenkollegs sollten ausgebaut und gestärkt werden. Wir wollen aber auch die Vielfalt der Wege zur Promotion weiter offenhalten, also auch ex- terne Promotionen weiter ermöglichen. Die Bedeutung von wissenschaftlicher Redlichkeit und guter wissenschaftlicher Praxis sollte schon zu ei- nem frühen Zeitpunkt im Studium vermittelt werden. Die Zugänge und die Zulassung zur Promotion sollten fair und transparent geregelt werden und nicht allein der subjektiven Intimität eines „Meister-Schüler-Verhältnis- ses“ überlassen bleiben. Promovierenden, die auf soge- nannten Qualifizierungsstellen Aufgaben an der Univer- sität in Forschung, Lehre und Management übernehmen, muss hinreichend Raum für ihre eigene Qualifizierung gegeben werden. In sehr vielen unserer Vorschläge und Forderungen sehen wir uns von den deutschen Wissenschaftsorganisa- tionen unterstützt. Dass sich am Ende auch der Aus- schuss gemeinsam und ernsthaft mit dem Thema befasst hat, ist erfreulich; denn deutsche Promovierte genießen auch international ein hohes Ansehen, das es gegen „schwarze Schafe“ zu verteidigen gilt. In diesem Zusam- menhang kam aus der Wissenschaft auch der Hinweis, dass der Doktorgrad von gesellschaftlichen Überhöhun- gen befreit und nicht länger wie eine Art „bürgerlicher Adelstitel“ behandelt werden sollte. Der Doktor sollte vielmehr auf seine eigentliche Bedeutung – als Nach- weis der besonderen wissenschaftlichen Qualifikation – zurückgeführt werden. Als Schritt dazu haben wir in ei- nem gesonderten Gesetzentwurf beantragt, den Doktor- grad künftig nicht mehr in Pass und Personalausweis einzutragen. Diese Forderung wird inzwischen auch durch eine Bürgerpetition unterstützt, die demnächst im Petitionsausschuss beraten wird. Damit unterstützen wir auch eine alte Forderung des Bundesinnenministeriums, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20869 (A) (C) (D)(B) auf die Sie weniger reflexhaft reagieren sollten, als dies bisher der Fall war. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – Antrag: Frühzeitige Veröffentlichung der Rüstungsexportberichte sicherstellen – Par- lamentsrechte über Rüstungsexporte einfüh- ren – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- rung über ihre Exportpolitik für konventio- nelle Rüstungsgüter im Jahr 2010 (Rüs- tungsexportbericht 2010) (Tagesordnungspunkt 21 a und c) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Das Thema Rüs- tungsexporte hat uns alle im letzten Jahr sehr bewegt, wir haben es sehr häufig hier im Deutschen Bundestag debattiert. Heute legen uns die Sozialdemokraten einen Antrag vor, der sehr an die Debatte vom 20. Oktober des letzten Jahres erinnert. Das Thema ist emotional sehr aufgeladen, und es befindet sich in einem Spannungsfeld aus notwendiger Geheimhaltung in sicherheitspoliti- schen Fragen und den Transparenzerfordernissen unse- rer Demokratie. Bei Debatten um Rüstungsexporte ist immer zu beto- nen, dass Deutschland sich selbst eine strenge Selbstbe- schränkung auferlegt hat. Das zuständige Bundesminis- terium für Wirtschaft und Technologie richtet sich bei der Genehmigung von Rüstungsexporten nach den „Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen“ aus dem Jahr 2000. „Liefe- rungen an Länder, die sich in bewaffneten äußeren Kon- flikten befinden oder bei denen eine Gefahr für den Aus- bruch solcher Konflikte besteht, scheiden (…) grundsätzlich aus“, heißt es. Auch bei dem „hinreichen- den Verdacht“, dass deutsche Waffen zur Unterdrückung der Bevölkerung oder „sonstigen fortdauernden (…) Menschenrechtsverletzungen“ im Empfängerland miss- braucht werden, gibt es grundsätzlich keine Exportge- nehmigung. Die Genehmigung von Rüstungsexporten unterliegt also ständiger Abwägung und Reaktion auf politische Ereignisse. Diese Regelung, aufgestellt von einer rot-grünen Bundesregierung, wurde von der christ- lich-liberalen Regierung nicht aufgeweicht, wie es hier stets angedeutet wird. Auch die Geheimhaltung der Be- schlüsse des Bundessicherheitsrates und die jährliche Publikation des Rüstungsexportberichtes geht auf Ent- scheidungen der rot-grünen Bundesregierung zurück. Warum haben Sie denn die in Ihrem Antrag geforderten Maßnahmen nicht bereits im Jahr 2000 umgesetzt? Wenn die SPD nun also Änderungsbedarf an ihren da- maligen Entscheidungen sieht, so ist dies grundsätzlich in Ordnung, allerdings fehlt mir dann in ihrem Antrag ein Wort der Selbstkritik. Ihre Forderung nach einem parlamentarischen Kon- trollgremium für den Bundessicherheitsrat, wie es im Bereich der Geheimdienste praktiziert wird, klingt spon- tan zunächst charmant. Allerdings ist Ihre begleitende Forderung nach einer Veröffentlichung der Abwägungs- erwägungen des Bundessicherheitsrates, falls er oder die Bundesregierung einer Empfehlung des Kontrollgre- miums nicht folgen, im Rüstungsexportbericht naiv, wenn nicht sogar schädlich. Nicht jede Debatte, die wir in der Außen- und Sicherheitspolitik mit und gerade über andere Länder führen, können wir öffentlich führen. Ge- rade in diesen sensiblen Feldern muss es Räume der Ver- traulichkeit und der Nichtöffentlichkeit geben. Der Zu- stand der Vertraulichkeit ist die Voraussetzung, dass vor einer wichtigen Entscheidung alle – auch geheime – Fakten auf den Tisch kommen, um wohlinformierte und sorgfältige Abwägungen vornehmen zu können. Die Notwendigkeit der Nichtöffentlichkeit trifft insbeson- dere auf den Umgang mit unseren Verbündeten zu. Es ist sicherlich nicht förderlich für unsere Bündnisfähigkeit und Zuverlässigkeit, insbesondere in der NATO, wenn jede vertrauliche Information oder Anfrage von unseren Partnern umgehend veröffentlicht wird. Der letzte Punkt im Antrag, der Punkt neun, ist jedoch unerhört. Sie fordern, dass Rüstungsunternehmen bei Exportanträgen offenlegen sollen, ob diese Spenden an Parteien geleistet haben. Das ist einerseits überflüssig, da Spenden ab 10 000 Euro anzeigepflichtig sind und in den Rechenschaftsberichten der Parteien sowie in Mit- teilungen des Präsidenten des Deutschen Bundestages veröffentlicht werden. Das „Mindestmaß an Transparenz und Öffentlichkeit“ ist also längst gewährleistet, Ihr Ak- tionismus ist daher nicht erforderlich. Im Rechenschafts- bericht 2010 findet sich übrigens eine Spende von EADS an die SPD, aber das nur am Rande. Andererseits ist die- ser Punkt deswegen ärgerlich, weil Sie suggerieren, Ent- scheidungen einer Bundesregierung – unabhängig von der parteipolitischen Färbung – seien über Parteispenden käuflich. Sie mögen damit auf die aktuelle Koalition zie- len, aber Sie treffen die gesamte politische Landschaft in diesem Land. Sie beschädigen damit das kostbare und verletzliche Vertrauen in die Politik als Ganzes. Darauf sollte sich die SPD nicht einlassen. Hier liegt ein klassischer Oppositionsantrag vor, der Forderungen enthält, die frei von Verantwortungsbe- wusstsein aufgestellt sind. Sollten Sie in diesem Land ir- gendwann wieder Regierungsverantwortung tragen, so werden Sie diese Forderungen niemals umsetzen. Klaus Barthel (SPD): Die Rüstungsexportpolitik der jetzigen schwarz-gelben Bundesregierung entwickelt eine ähnlich fatale Dynamik wie zu Zeiten von Helmut Kohl. Nach und nach werden die Restriktionen, die sich Deutschland aus gutem Grund gesetzlich auferlegt hatte und die in den rot-grünen Richtlinien aus dem Jahr 2000 weiter konkretisiert wurden, zwar nicht formal aufgeho- ben, aber auf leisen Sohlen aufgeweicht, uminterpretiert und schließlich im Ergebnis umgangen. Obwohl auch schon früher die eine oder andere Einzel- entscheidung umstritten war: Die derzeitige Regierung 20870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) bricht alle Rekorde, die ihr bei anderen Wachstumsraten versagt bleiben. Beim Anstieg der Rüstungsexporte ge- genüber dem Zeitraum 2002 bis 2006 schafft sie sage und schreibe 37 Prozent, so SIPRI. Kein anderer als Helmut Schmidt hat in diesen Tagen die Kanzlerin in Sachen Export von Panzern nach Saudi- Arabien und U-Booten nach Israel deutlich kritisiert und die Rückkehr zu dem Grundsatz, „Kriegswaffen nur an Verbündete zu liefern“, gefordert. Bahrein, Mexiko, Pa- kistan, Ägypten, Libyen, das sind weitere Weltregionen, die das Problem deutscher Waffen in den falschen Hän- den veranschaulichen. Die Bundesrepublik ist wieder, wie nach der angebli- chen Sondersituation der deutschen Wiedervereinigung mit den Altbeständen der NVA, mit 9 Prozent Anteil am weltweiten Waffenhandel auf dem dritten Platz. Unsere einschlägigen Ausfuhren wuchsen damit deutlich schnel- ler als der Gesamtmarkt. Selbst dort, wo es um unsere eu- ropäischen Verbündeten geht, muss man sich doch nach der Sinnhaftigkeit dieses Treibens fragen: Ausgerechnet die Krisenstaaten Griechenland und Portugal waren und sind derzeit Hauptempfänger deutscher Waffenlieferun- gen. De facto leiht und garantiert der deutsche Steuerzah- ler derzeit Griechenland als Abnehmer von 13 Prozent der deutschen Rüstungsexporte das Geld für deren Be- zahlung. Absurder geht es doch nicht in einer Verschul- dungssituation, in der wir alles andere brauchen als U-Boote und Panzerhaubitzen für Athen. Da könnte man sagen: Okay, das sind Fehler der Ver- gangenheit. Der Gipfel ist aber, dass diese Bundesregie- rung gar kein Problem damit hat. Im Gegenteil: Weder verlangt sie bei den Sparauflagen an die Krisenstaaten, dass dieser Unfug ein Ende hat, während die Hälfte der Jugendlichen auf der Straße steht, noch plant sie, ihre ei- gene Genehmigungspraxis zu ändern. Alle Antworten auf entsprechende parlamentarische Anfragen haben eine klare Botschaft: Weiter so! Es gäbe noch viel zu erzählen über die „Segnungen“ einer konfusen Außenpolitik und einer Sammlung ge- fährlicher Rüstungsexportentscheidungen, denen unter dem Strich nur noch eines gemeinsam ist: Der Vorrang kurzfristiger betriebswirtschaftlicher Einzelinteressen. Wegen 0,2 Prozent unserer Gesamtexporte riskiert die Bundesregierung Menschenleben und Menschenrechte, außenpolitische Glaubwürdigkeit und Handlungsspiel- räume. Eines will ich an dieser Stelle aus sozialdemokrati- scher Sicht noch einmal klarstellen: Uns sind die Be- triebe, die für die Ausstattung der Bundeswehr und unse- rer Verbündeten arbeiten, und die Arbeitsplätze dort nicht egal, im Gegenteil. Solange wir das noch brauchen – aus meiner Sicht hoffentlich möglichst bald nicht mehr – wollen wir nicht von anderen abhängig werden und sind gut beraten, die technologischen und industriellen Kapa- zitäten im Land zu halten. Etwas ganz anderes ist es aber, wenn eine Bundesre- gierung den besonderen Charakter der Ware Waffe nicht mehr zu erkennen scheint und Waffenexporte als Teil ih- rer weltweiten Exportstrategie begreift, so nach dem Motto: Egal was und egal wie, Hauptsache wir können wem auch immer möglichst viel andrehen. Eine solche Exportpolitik sichert keine Arbeitsplätze, sondern ge- fährdet sie. Das kann man doch an den Beispielen, die ich genannt habe, gut nachvollziehen, gleich ob es sich um die südeuropäischen Krisenländer handelt oder um den Flurschaden im Nahen Osten. Auch ist es ein völlig falsches Signal an die Rüstungsindustrie, dem Druck nachzugeben, der sich aus der Bundeswehrreform ergibt, und dabei entstehende Umsatzverluste durch verschärfte Exportanstrengungen kompensieren zu wollen. Die Un- ternehmen haben es schon in den 90er-Jahren vorge- macht, dass es möglich ist, sehr erfolgreich auf zivile Produkte umzusteigen. Diejenigen, die es nicht geschafft haben, hatten die falschen Manager und die falschen Konzepte. Die anderen stehen heute besser da als in den Zeiten, da sie Hoflieferanten der Bundeswehr waren. Gerade in der Region, aus der ich komme, im Groß- raum München, hat die Umstrukturierung von Rüstungs- betrieben gerade nicht zu Ödnis und Stillstand geführt, sondern die Innovationskraft und Marktchancen der Be- triebe erhöht. Die Zahlen des Bundesverbandes der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie für das Jahr 2011 bestätigen diese Tendenz. Wegen der Kürzungen in den staatlichen Budgets sei erstmals seit 15 Jahren der Umsatz im Segment Sicherheit/Rüstung um gut 1 Pro- zent gesunken, und das bei einem Gesamtwachstum der Branche um 4,1 Prozent. Die Beschäftigung stieg dabei um 2 Prozent auf 97 400. Also: Nicht der militärische Bereich braucht Staatsaufträge und Exportgenehmigun- gen, sondern der zivile Bereich bringt Wachstum und Beschäftigung. Da kann sich richtig verstandene Indus- triepolitik Lorbeeren erwerben. Nicht das ist aber der Kern unseres Antrags, sondern die Frage, wie wir wieder zu einer restriktiven Genehmi- gungspraxis beim Rüstungsexport zurückkehren können. Dazu brauchen wir dauerhaft wirkende Mechanismen parlamentarischer Kontrolle und öffentlicher Transpa- renz, angefangen von einer zeitnahen Vorlage des Rüs- tungsexportberichts über eine wirksame parlamentari- sche Beteiligung bis hin zur Erfassung von Parteispenden beteiligter Unternehmen. Im Detail kann man das alles in unserem Antrag nachlesen. Ähnliche Vorstellungen entwickeln gerade die Grünen. Wir lösen damit das ein, was wir bei der letzten Debatte in diesem Hohen Haus angekündigt ha- ben, als wir von Vertretern der Koalition gefragt wurden, wie wir uns das eigentlich alles konkret vorstellen mit der Transparenz und der Parlamentsbeteiligung. Damals hieß es auch seitens einzelner Redner der Koalition, man wolle das ja im Grunde auch. Wir sind jetzt gespannt auf Ihre Antwort, auf Ihre Kri- tik und auf Ihre Alternativen und Verbesserungsvor- schläge. Ich kann mir jedenfalls gut vorstellen, dass es im gemeinsamen Interesse von uns Abgeordneten liegt, rechtzeitig informiert und beteiligt zu sein, wie das in anderen Ländern längst üblich ist, ohne dass deren Bündnisfähigkeit gefährdet wäre oder deren Unterneh- men ihre Geschäftsgeheimnisse nicht gewahrt sähen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20871 (A) (C) (D)(B) Wir alle sollten es leid sein, über geplante oder schon genehmigte Rüstungsexporte zuerst in den Medien zu hören und zu lesen, dann erst medial dazu gefragt zu werden und dann auch noch nichts dazu sagen zu können und zu dürfen, weil wir Genaueres, wenn überhaupt je- mals, vielleicht eineinhalb Jahre später dem Rüstungs- exportbericht entnehmen dürfen. Wir alle erinnern uns doch an einschlägige gespenstische Fragestunden, Ak- tuelle Stunden, Ausschuss- und Plenardebatten. So, wie das jetzt geregelt ist, bei aller Anerkennung des Letztent- scheidungsrechtes der Exekutive, kann es für ein Parla- ment und eine Informationsgesellschaft im 21. Jahrhun- dert nicht bleiben. Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Ähnliche Anträge zu dem Themenkomplex „Frühzeitige Veröffent- lichung der Rüstungsexportberichte sicherstellen – Parla- mentsrechte über Rüstungsexporte wahren“ haben wir schon im Wirtschaftsausschuss ausführlich behandelt. Dort haben wir die inhaltsleeren Argumente der Opposi- tion zurückgewiesen. Die in diesem Antrag gewünschten parlamentarischen Beteiligungsrechte an Rüstungsex- portentscheidungen der Regierung sowie eine größere Transparenz in diesem Bereich hat die SPD-Fraktion in Regierungsverantwortung nie gefordert. Sie selbst haben unter Rot-Grün die Rüstungsexportpolitik nach den „Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ im Jahr 2000 neu ausgerichtet. Eine verfrühte Veröffentlichung der Rüstungsexport- berichte ohne weitergehende Prüfung dieser schwierigen Materie ist verantwortungslos. Zumal die Mehrheit der deutschen Rüstungsexporte an die verbündeten EU- oder NATO-Staaten geht. Des Weiteren erfolgen die Entscheidungen über Aus- fuhranträge jeweils im Einzelfall insbesondere unter Be- rücksichtigung der außenpolitischen Situation und der Menschenrechtslage im Empfängerland. Eine verfrühte, vierteljährliche Vorlage des Rüstungsexportberichts ist aufgrund der notwendigen Auswertung umfangreicher Statistiken kaum realisierbar. Hinzu kommt die Abstim- mung zwischen den einzelnen Ressorts über die Darstel- lung und Bewertung des zusammengeführten Daten- materials. Daher kann der Rüstungsexportbericht in der Regel frühestens in der zweiten Jahreshälfte des Folge- jahres dem Deutschen Bundestag vorgelegt werden. Eine noch weitergehende Ausgestaltung mit Angaben über Dual-Use-Ausfuhren würde die Erstellung des Rüs- tungsexportberichts noch weiter erheblich verzögern. Dies würde genau der hier geforderten frühzeitigeren Veröffentlichung der Berichte in Gänze entgegenstehen. Hier zeigt sich die unausgereifte Forderung des SPD- Antrages. Auch die Forderung nach Einsetzung eines Kontrollgremiums im Bundestag missachtet die verfas- sungsrechtlichen Grundsätze der Gewaltenteilung. Denn Genehmigung von Rüstungsgüterexporten ist Aufgabe der Exekutive. Die Forderungen dieses Antrages sind populistisch und wider besseres Wissen nicht zielführend zur Verbes- serung der Rüstungsexportbestimmungen angelegt. Des- halb lehnen wir diesen Antrag der SPD-Fraktion ab. Jan van Aken (DIE LINKE): Seit Jahren ist Deutschland weltweit der drittgrößte Exporteur von Rüs- tungsgütern; nur die USA und Russland verkaufen noch mehr. Rund 11 Prozent aller weltweiten Rüstungsaus- fuhren stammen aus Deutschland. Als sich im vergange- nen Jahr die Bevölkerungen Nordafrikas und des Mittle- ren Ostens gegen die jahrzehntelange Unterdrückung erhoben, haben wir die direkten Folgen dieser Politik sehen können. Gekämpft wurde mit Kriegsgerät aus Deutschland: Aus Libyen erreichten uns Bilder von Panzertransportern aus deutscher Produktion. Wir sahen in Gaddafis Palast ein Lager mit nagelneuen Sturmge- wehren des Typs G 36 von Heckler & Koch. Mubaraks Truppen waren mit der Maschinenpistole MP 5 ausge- rüstet; deutsche Wasserwerfer trieben die Protestieren- den auf dem Tahrir-Platz auseinander. Das ließe sich jetzt noch lange fortführen. Das reicht aber schon. Es reicht, weil es auch der deutschen Bevöl- kerung reicht. Im Herbst des vergangenen Jahres sprach sich in einer repräsentativen Umfrage die überwälti- gende Mehrheit von 78 Prozent gegen den Verkauf von Rüstungs- und Kriegsgerät aus. Es gibt kaum jemanden in Deutschland, der dieses Geschäft mit dem Tod gut- heißt. Es freut mich, zu beobachten, dass auch hier im Bun- destag die Waffenexporte zunehmend kritischer gesehen werden. Noch hat das keine Konsequenzen, noch geneh- migt diese Bundesregierung ungebremst jede Waffen- ausfuhr, bis hin zu Kampfpanzern für Saudi-Arabien. Aber das wollen wir ändern, und das werden wir ändern. Der erste Schritt dahin ist, dass sich in der SPD etwas ändern muss. Im letzten Jahr gab es viel Kritik an Rüs- tungsexporten von den Sozialdemokraten. Jetzt haben sie hier dazu einen Antrag eingebracht. Der ist allerdings eine einzige Frechheit. Im Kern fordert die SPD näm- lich, möglichst gar nichts zu ändern. Wenn Sie von der SPD glauben, Sie könnten hier der Öffentlichkeit weis- machen, Sie wollen etwas an den grenzenlosen Waffen- exporten ändern, dann müssen Sie die Menschen wirk- lich für komplett naiv halten. Drei Beispiele: Erstens. Die SPD fordert: „Keine Lizenzen zur Waffenproduktion mehr an Drittstaaten vergeben, die den Endverbleib nicht zweifelsfrei sicherstellen kön- nen.“ Ihrer Vorstellung nach dürfen also deutsche Hersteller weiter ganze Waffenfabriken in Ländern wie Saudi-Arabien bauen. Ihre Einschränkung, dass der End- verbleib „zweifelsfrei sichergestellt“ sein muss, ist eine Nebelkerze. Denn das gilt heute schon: Jedes Empfän- gerland muss den Endverbleib bestätigen, und die Ex- portrichtlinien sehen vor, dass keine Waffen an Länder geliefert werden, bei denen es Anlass gibt, an diesem Endverbleib zu zweifeln. Alle wissen, dass der End- verbleib natürlich nicht gesichert ist. Die G 36 in den Händen von Gaddafi-Getreuen und Panzerabwehrrake- ten des Typs MILAN bei den Aufständischen in Libyen 20872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) haben das wieder mal gezeigt. Deshalb muss man hier etwas grundsätzlich verändern. Ich persönlich plädiere für ein generelles Verbot solcher Exporte. Aber die SPD beantragt hier schlicht und einfach nur, dass alles so bleibt, wie es ist. Das ist beschämend. Zweitens. Wir sind uns alle einig, dass es mehr Trans- parenz bei den Rüstungsexporten braucht. In anderen Ländern ist es bereits gang und gäbe, dass alle drei Monate die aktuellen Exportzahlen veröffentlicht wer- den. Auch im Bundestag wurde dies schon diskutiert. Was schlägt die SPD jetzt vor? Es bleibt, wie es ist: Ein- mal im Jahr wird ein Bericht veröffentlich, nur etwas früher als bislang. Offen gesagt: Das lässt mich ratlos zurück! Wen will die SPD mit diesem Kleinstvorstoß täuschen? Die Öffentlichkeit? Oder ist das eine Art Selbstbetrug, damit man behaupten kann, irgendetwas irgendwann einmal vorgeschlagen zu haben? Drittens: Die SPD möchte ein Parlamentsgremium einrichten, in dem die Bundesregierung in geheimer Sitzung über die im Bundessicherheitsrat getroffenen Waffenexportentscheidungen unterrichtet. Also: In ge- heimer Sitzung wird über geheime Entscheidungen des geheim tagenden Bundessicherheitsrates unterrichtet. Glauben Sie wirklich, das ist transparent? Es ist ein Trauerspiel, dass die Waffenlobby selbst auf eine SPD in der Opposition noch mehr Einfluss hat als einige Abgeordnete in den eigenen Reihen, die sich ja wirklich ehrlich und ernsthaft für eine Beschränkung von Waffenexporten einsetzen. Wie kann es denn sein, dass Rüstungslobbyisten wie Johannes Kahrs bei Ihnen so viel Einfluss haben – so viel Einfluss, dass Sie uns hier diesen lächerlichen Antrag vorlegen? Ich kann aus Ihren heutigen Forderungen nur einen Schluss ziehen: Sollte es der SPD gelingen, 2013 an die Regierungsmacht zurückzukehren, wird sie an der Praxis der deutschen Rüstungsexporte nichts, aber auch gar nichts ändern. Denn genau das beantragen Sie hier. So traurig das ist: Es überrascht eigentlich auch kaum. In der letzten SPD-Regierungszeit wurden die Rüstungs- exporte schließlich deutlich ausgeweitet. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland gar keine Waffen mehr exportieren sollte. Aber das geht offensichtlich nur mit einer starken Linken und einer schwachen SPD. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was für ein erfreulicher Antrag und was für eine unerfreuliche Uhrzeit! Dieses Thema sollten wir nicht am späten Abend zu Protokoll reichen, sondern am helllichten Tage laut diskutieren. Denn Licht ist dringend nötig im Dickicht der deutschen Rüstungskontrolle. Im Dezember 2011 wurde uns der Rüstungsexportbe- richt für das Jahr 2010 endlich vorgelegt. Was für eine Schmach, dass es so lange dauert, bis ein paar Zahlen zu- sammengefasst wurden. So verschleppt man die Debatte auf einen Zeitpunkt, an dem sich kaum noch jemand für die längst abgewickelten Vorgänge interessiert. Zumin- dest zeitgleich mit dem Jahresabrüstungsbericht könnte auch der Rüstungsexportbericht vorliegen. Vor 2000, als es noch keinen Rüstungsexportbericht gab, konnte das Wirtschaftsministerium die Zahlen als Reaktion auf eine jährlich wiederholte Anfrage der Grünen ebenfalls be- reits im März vorlegen. Warum geht dies inzwischen im- mer erst so spät? Warum setzt die Regierung den Export- bericht nicht selber zur Debatte auf, so wie sie das mit dem Abrüstungsbericht tut? Andere Nachbarländer der EU gehen mit dem Thema inzwischen weit offener um, als es hier im drittgrößten Waffenexportland üblich ist. So werden beispielsweise in England die Zahlen zu den Rüstungsexportgenehmigungen vierteljährlich bis je- weils zum nächsten Quartalsende vorgelegt und in einem gesonderten Ausschuss debattiert. Das sollte auch bei uns machbar sein. Transparenz ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie. Dies muss für alle Bereiche der Politik gelten. Wenn man sich den Bericht dann einmal genauer anschaut, versteht man allerdings, warum möglichst lange geheim bleiben soll, was die Bundesregierung da treibt. Wenn Spannungsgebiete, wie Indien und Pakistan, gleicherma- ßen hochgerüstet werden, Waffen zur Unterdrückung des arabischen Frühlings fleißig genehmigt wurden und die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien keine Rolle spielt, ist dieser Bundesregierung natürlich daran gelegen, zu verbergen, wie inkonsequent ihre Außenpolitik ist. Diese Bundesregierung tut sich gerne als Waffenmak- ler hervor und versucht, wie zum Beispiel im Falle der Eurofighter für Indien, Werbung für die deutsche Rüs- tungsindustrie zu machen. Wenn Vermittler und Geneh- migungsbehörde identisch sind, kann es mit der Kon- trolle ja nicht mehr weit her sein. Deswegen sieht unser Grundgesetz ja auch vor, dass der Bundestag die Regie- rung kontrollieren soll. Der wird aber so spät informiert, dass eine wirkliche Kontrolle nicht mehr möglich ist. Deshalb wollen auch wir Grünen eine Unterrichtung des Bundestages im Vorfeld von Genehmigungen in einem zu schaffenden fachpolitischen Gremium. Ich bin aber dagegen, daraus ein weiteres geheimes parlamentari- sches Kontrollgremium zu machen. Damit haben wir nicht wirklich gute Erfahrungen gemacht. Dann geht das mit der Geheimniskrämerei gerade so weiter, und die Parlamentarier dürfen sich nicht einmal untereinander informieren. Vertraulichkeit ist nur da angebracht, wo berechtigte Interessen Einzelner geschützt werden müs- sen. Aber auch nur da. Das ist im Einzelfall zu begrün- den. Spätestens wenn eine Genehmigung erteilt wurde, ist diese vor dem Parlament öffentlich zu begründen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, in dieser Sache sollten wir uns nicht hinter der jeweiligen Regierung verstecken. Hier ist der Zusammenhalt aller Parlamentarier gegenüber der Exekutive angesagt. Sie haben sich doch insgeheim selbst darüber geärgert, dass die Regierung uns im letzten Sommer nicht einmal sagen wollte, ob sie nun über die Panzerlieferung nach Saudi- Arabien entschieden hat oder nicht. Vergessen Sie nicht: Das gilt dann auch nach einem Regierungswechsel. Auch die Forderung nach einer tatsächlichen Endver- bleibskontrolle ist richtig. Die Bundesregierung vertraut auf Endverbleibserklärungen, die oft noch nicht einmal das Papier wert sind, auf dem sie stehen. Dies konnte Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20873 (A) (C) (D)(B) man zum Beispiel in Mexiko beobachten. Aber auch die in Libyen gefundenen G-36-Gewehre hätten Ägypten nie verlassen dürfen, wenn sie überhaupt jemals dort ge- wesen sein sollten. Die Vergabe von Lizenzen, also der Verkauf von ganzen Waffenfabriken in Drittstaaten, ist nicht zu verantworten, da hier eine Kontrolle nach dem Verkauf so gut wie unmöglich ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, meine Fraktion teilt fast alles, was Sie hier in Sachen Transpa- renz und parlamentarischer Beteiligung einfordern. Das reicht uns aber nicht. Wir haben gerade erst im Februar Eckpunkte für ein künftiges Rüstungsexportkontrollge- setz beschlossen. Unser Vertrauen in Grundsätze, Richt- linien und freiwillige Ansätze ist nämlich restlos aufge- braucht. Die Kriterien der Menschenrechtslage und die Gefahr innerer Repression wollen wir gesetzlich kodifi- zieren, genauso wie die Berichtspflichten. Der Gesetzes- rang gäbe diesen Kriterien mehr Gewicht gegenüber den ohnehin stets gut vertretenen Wirtschaftsinteressen. Spannend wäre auch ein Verbandsklagerecht, wie bei- spielsweise im Umweltrecht, um dem Menschenrechts- kriterium zur Durchsetzung zu verhelfen. Um den Blick- winkel auf Rüstungsexportanträge zu verändern und die Menschenrechtslage stärker in den Fokus zu rücken, wollen wir außerdem die Zuständigkeit für Rüstungsex- porte ins Auswärtige Amt übertragen. Trotz allem: Ihre Vorschläge weisen in die richtige Richtung, und vielleicht denken Sie im Verlauf der wei- teren Verhandlungen noch einmal über unseren Vor- schlag für eine gesetzliche Regelung nach. Ich kann mir vorstellen, dass die Union, sobald sie wieder in der Op- position ist, diesem Vorhaben plötzlich offener gegen- überstehen wird. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden Zur Beratung – Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 93) (Tagesordnungspunkt 26 a und b) Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Vorliegender Ent- wurf, den wir heute in erster Lesung beraten, beinhaltet streng genommen nicht nur die Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen, sondern er führt einen solchen Rechtsschutz im Subjektiven überhaupt erst ein. In einem ansonsten fast schon hypertroph ausgebildeten gerichtlichen Rechtsschutz in unserem Land klafft aus- gerechnet bei dem vornehmsten Bürger- und Mitwir- kungsrecht des Wahlrechts eine eklatante Lücke. Hierauf hat uns inzwischen sogar die OSZE hingewiesen und explizit eine Subjektivierung des Rechtsschutzes gefor- dert. Mit diesem Gesetzentwurf schließen wir diese Lücke. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat das in einem Gespräch unlängst sehr prägnant und ein wenig sarkastisch zusammengefasst: „das System sei deshalb konsistent, weil es vor der Wahl keinen Rechtsschutz gebe und danach auch keinen“. Der Handlungsbedarf ist also in Wissenschaft und Politik anerkannt und unbe- stritten. Daher freut es mich besonders, dass mit der Union, der FDP, der SPD und Bündnis 90/Die Grünen vier Fraktionen den Entwurf gemeinsam und im Kon- sens einbringen, nachdem wir in einer fraktionsübergrei- fenden Arbeitsgruppe lange und konstruktiv diskutiert haben. Wir lösen als Koalitionsfraktionen zugleich ein Ver- sprechen aus der Debatte zur Reform des Bundestags- wahlrechts vom 30. Juni letzten Jahres ein, indem wir diesen gemeinsamen Vorschlag zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen erarbeitet haben und heute in die parlamentarische Beratung geben. An dieser Stelle daher herzlichen Dank an die Kollegen aus den anderen Fraktionen für die gemeinsame Arbeit, die sehr sachorientiert, offen und frei von parteitaktischem Kal- kül war. Das Wahlrecht ist vom Bundesverfassungsgericht schon im ersten Band seiner Entscheidungssammlung als das vornehmste Recht des Bürgers bezeichnet wor- den. Jeder Bürger kann wählen und gewählt werden. Nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsge- richts soll der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt sogar in der Würde des Men- schen verankert sein. Auch wenn man über diese Veran- kerung in Art. 1 unserer Verfassung trefflich streiten kann, so wird damit jedenfalls deutlich und ist unbe- streitbar, dass die Bedeutung des Wahlaktes nicht hoch genug angesetzt werden kann. Von wo sind wir bei unseren gemeinsamen Reform- überlegungen nun gestartet? Natürlich sollten Rechts- schutzmöglichkeiten auch dazu dienen, häufige Fehler- quellen abzustellen. Ein Rechtsschutz, der alle denkbaren Fehler im Wahlvorbereitungsverfahren er- fasst und gerichtliche Abhilfe noch vor dem Wahltermin garantiert, ist rechtsstaatlich sicherlich wünschenswert, aber nicht praktikabel. Wichtiger Maßstab muss sein, dass die termingerechte Durchführung der Wahl nicht gefährdet wird. Daher haben wir uns entschlossen, die Rechtsschutzmöglichkeiten auf wesentliche Lücken zu konzentrieren. Das Recht aus Art. 38 des Grundgesetzes ist ein ver- fassungsbeschwerdefähiges Recht. Die Bürger können sich also prinzipiell gegen mögliche Eingriffe mit einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht zur Wehr setzen. Dies gilt jedoch nur eingeschränkt. Ge- rade bei einer möglichen Verletzung des subjektiven Wahlrechts ist diese Möglichkeit durch die Ausschließ- lichkeit des Wahlprüfungsverfahrens bislang stark einge- schränkt. Das Wahlprüfungsverfahren und die anschließend mögliche Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht gewährleisten Rechtsschutz nur nach der Wahl und nur, wenn die Gültigkeit der Wahl betroffen ist, dass heißt, sich die Verletzung subjektiver Rechte als mandatsrele- vant erweist und somit eine Verletzung objektiven Wahl- 20874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) rechts vorliegt. Bei „bloß“ subjektiver Rechtsverletzung besteht zurzeit überhaupt kein Rechtsschutz. Politisches Ziel ist es daher, gerade auch den Wahlberechtigten, den Bürgerinnen und Bürgern, einen verbesserten Rechts- schutz zu gewähren. Ebenso düster sieht es für den Rechtsschutz von Par- teien gegen die Nichtzulassungsentscheidung des Bun- deswahlausschusses vor der Wahl aus. Während gegen zentrale Entscheidungen der Wahlbehörden im Vorfeld der Wahl der Rechtsbehelf der Beschwerde bei dem je- weils übergeordneten unabhängigen Wahlorgan möglich ist, gibt es bislang keine Möglichkeit für eine Partei, die ablehnende und für sie existenzielle Entscheidung des Bundeswahlausschusses über ihre Parteieigenschaft prüfen zu lassen. Der Regelungsinhalt des vorliegenden Gesetzent- wurfs lässt sich somit in zwei zentrale Blöcke aufteilen. Die Gewährung von Rechtsschutz vor der Wahl und nach der Wahl. Vor der Wahl führen wir jetzt eine neue Beschwerde- möglichkeit für Parteien bzw. Vereinigungen zum Bun- desverfassungsgericht ein, wenn ihre Wahlteilnahme durch den Bundeswahlausschuss abgelehnt wurde. Da- mit schließen wir die bislang bestehende Rechtsschutz- lücke. Diese Möglichkeit eines explizit für Vereinigun- gen bzw. Parteien ausgestalteten Rechtsschutzes ist auch aufgrund der verfassungsrechtlichen Stellung der Parteien und ihrer Aufgaben überfällig. Hatten Parteien in der deutschen Geschichte auch nicht immer einen leichten Stand, so gilt Deutschland heute als eine Parteiendemo- kratie. Die Parteien sind als zentraler Bestandteil unseres politischen Systems anerkannt und in Art. 21 GG veran- kert. Sie tragen dazu bei, dass sich die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen hin vollzieht und nicht umgekehrt. Parteien sind ein Scharnier zwischen Bürger und Politik und stehen als solche im engen Bezug zur grundrechtlichen Freiheitsidee. Dies hat das Bundesver- fassungsgericht im KPD-Urteil prägnant formuliert: „Ein Staat, der seine verfassungsrechtliche Ordnung als frei- heitlich-demokratisch bezeichnet und sie damit in die große verfassungsgeschichtliche Entwicklungslinie der liberalen rechtsstaatlichen Demokratie einordnet, muss aus dem Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung ein grundsätzliches Recht der freien politischen Betäti- gung und damit auch der freien Bildung politischer Par- teien entwickeln, wie in Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG ge- schehen.“ Werden Parteien nicht zur Wahl zugelassen, fehlt den Konkurrenten der Wettbewerbsdruck, dies kann zu feh- lender Auseinandersetzung und somit zu einer unzurei- chenden politischen Willensbildung im demokratischen Sinne führen. Wird einer Partei die Wahlteilnahme ver- sagt, so ist dies im Endeffekt fast genauso einschneidend wie ein Parteiverbot, das nur das Bundesverfassungs- gericht unter strengsten Voraussetzungen aussprechen kann. Daher ist die vorgesehene neue Beschwerdemög- lichkeit zum Bundesverfassungsgericht eine konse- quente, richtige und eigentlich überfällige Lösung. So wichtig allerdings die Parteien für die Demokratie sind, so klar ist auch, dass im Mittelpunkt des Wahl- rechts der Wahlbürger steht. Die anstehende Reform bliebe also noch nicht einmal auf halbem Wege stecken, wenn sie sich auf diese Beschwerdemöglichkeit der Par- teien beschränken würde. Vielmehr ist es ein rechtsstaat- liches Gebot, dass auch der Bürger – als Wähler und Kandidat – eine Rechtschutzmöglichkeit erhält, die prin- zipiell unabhängig von einem knappen oder klaren Wahlausgang sein muss und die der Durchsetzung seines subjektiven Rechts gilt. Ebenso wichtig ist aber auch, dass diese Rechts- schutzmöglichkeit nicht den Termin und den geordneten Ablauf einer Bundestagswahl gefährden darf. Denn un- verzichtbar ist nicht nur die Wahrung der subjektiven Rechte bei einer Wahl, sondern auch, dass die Wahl überhaupt stattfindet. Wir implementieren den subjekti- ven Rechtsschutz daher innerhalb des bewährten Wahl- prüfungsverfahrens, das sich nach der Wahl anschließt. Künftig sollen also Bundestag und das Bundesverfas- sungsgericht grundsätzlich eine eigene Rechtsverletzung der Rechte aus Art. 38 des Grundgesetzes prüfen und ge- gebenenfalls feststellen. Auch wenn diese Feststellung nach dem Wahltermin erfolgen wird, führt ihre Tenorie- rung zweifellos nicht nur zu einer Genugtuung, sondern hat direkte Folgewirkungen für eine mögliche Wieder- holung eines solchen Fehlers bei der nächsten Wahl. Wir schaffen hier also eine Konstellation, wie sie im Rahmen etwa von Fortsetzungsfeststellungsklagen im deutschen Verwaltungsrecht seit langem bekannt ist und sich her- vorragend bewährt hat. Zwar gab es in der historischen Entwicklung der Wahlprüfung unter der Reichsverfassung von 1871 und der Weimarer Reichsverfassung bereits eine Prüfung nicht mandatsrelevanter Fehler. Aber die bisherige, jah- relang erprobte Praxis des Wahlprüfungsausschusses un- ter dem Grundgesetz kennt eine solche Maßgabe nicht. Auch wenn unsere Reformüberlegungen ersichtlich am gerichtlichen Rechtsschutz durch das Bundesverfas- sungsgericht ausgerichtet sind, so verkennen wir doch nicht, dass jegliche Verbesserungen im Hinblick auf das verfassungsgerichtliche Verfahren auch Rückwirkungen auf die Arbeit des Wahlprüfungsausschusses zeitigen. Und wir nehmen die dort zum Teil vorgebrachten Be- sorgnisse nach einer Veränderung und Vermehrung der parlamentarischen Arbeit ernst. Letztlich läuft es zwar auf eine Abwägung zwischen diesen Bedenken im Hin- blick auf die Arbeitsweise einerseits und dem rechts- staatlichen Gebot, eine eklatante Rechtsschutzlücke zu schließen, andererseits hinaus. Dennoch scheint es mir möglich, die Besorgnisse im Kern auszuräumen, indem wir aus meiner Sicht während der parlamentarischen Be- ratungen auch durch eine Erweiterung des Gesetzesan- trages deutlich machen können, dass auch und gerade im Rahmen der Amtsermittlung eines Bundestagsausschus- ses und schließlich des Bundesverfassungsgerichts die Intensität der Beweiserhebung je nach der politischen Relevanz einer potenziellen Rechtsverletzung variieren kann. Das scheint auch deshalb geboten, weil den Rechtsschutzsuchenden kaum mit einer Verlängerung der Dauer der Wahlprüfung geholfen wäre, zumal deren Dauer anerkanntermaßen bereits heute ein Problem der Wahlprüfung darstellt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20875 (A) (C) (D)(B) Konsequente Folge der Einführung des subjektiven Rechtsschutzes ist ferner die vorgesehene Abschaffung der 100 Unterstützerunterschriften für die Wahlprü- fungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Abge- sehen davon, dass die Beibringung von 99 weiteren Un- terschriften im Internetzeitalter ohnehin keine ernsthafte Hürde mehr darstellt, hat danach auch formal jeder für sich die Chance, unabhängig von der Beteiligung ande- rer, seine Rechte geltend zu machen. Der Entwurf verschließt auch nicht die Augen vor der Frage der Zusammensetzung der Wahlausschüsse. Ne- ben dem Bundeswahlleiter bzw. dem jeweiligen Landes- wahlleiter gehören diesen derzeit ausschließlich von den Parteien vorgeschlagene Wahlberechtigte als Beisitzer an. Ich bin sicher nicht allein, wenn ich diesen Zustand für sehr unbefriedigend halte. Hier schlagen wir vor, richterliche Kompetenz mit in die Ausschüsse zu geben, indem der Bundeswahlausschuss um zwei Richter des Bundesverwaltungsgerichts und die Landeswahlaus- schüsse um zwei Richter des jeweiligen Oberverwal- tungsgerichts ergänzt werden. Dies unterstützt und be- tont den besonderen Charakter der Ausschüsse auch als Beschwerdeinstanz für die Rechtsbehelfe im Wahlvorbe- reitungsverfahren. Mit den heute vorgelegten Vorschlägen, füllen wir eine Rechtsschutzlücke im Wahlrecht. Und ich freue mich auf die Beratungen, die wir mit dem Ziel einer praktischen Konkordanz zwischen rechtsstaatlichen, de- mokratischen und Praktikabilitätserwägungen führen werden. Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): In dem hochkomple- xen Verfassungsstaat Deutschland gibt es bei allem Per- fektionsdrang, der uns Deutschen eigen ist, Lücken. Eine geradezu erstaunliche Lücke wollen wir mit dem vorlie- genden Gesetzentwurf schließen. Wir haben in Deutschland das Wahlrecht zu Bundes- tagswahlen im Großen und Ganzen sehr präzise und de- tailliert geregelt. Dabei klammere ich hier den aktuellen Verfassungsstreit über das negative Stimmgewicht und Überhangmandate aus. Das Bundestagswahlrecht ist na- hezu perfekt geregelt. Die Durchführung der Bundes- tagswahlen vollzieht sich bundesweit immer wieder mit äußerster Präzision. Gleichwohl existiert eine bemer- kenswerte Lücke. Bei der durchaus bedeutsamen Frage, ob eine Gruppierung als politische Partei zu einer Bun- destagswahl zugelassen wird, gibt es bislang keinen an- gemessenen Rechtsschutz. Gegen Entscheidungen des Bundeswahlausschusses über die Parteieigenschaft exis- tiert bislang kein Rechtsbehelf. Dies ist für etablierte Parteien kein Problem, weil ihre Parteieigenschaft nicht infrage steht. Bei Neugründungen oder „jungen Par- teien“ kann eine Entscheidung des Bundeswahlaus- schusses eine Entscheidung von existenzieller Bedeu- tung sein. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll dieses vielfach beklagte Problem beseitigt werden. In Umsetzung des neuen Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 c GG wird vor der Wahl die Beschwerde zum Bundesverfassungs- gericht gegen die Wahlvorschlagsberechtigung vernei- nende Feststellungen des Bundeswahlausschusses zuge- lassen. Wir haben andere Varianten geprüft, wir sind aber in- terfraktionell der Auffassung, dass Statusfragen der Par- teien im Beschwerdeverfahren vom Bundesverfassungs- gericht entschieden werden sollten. Der vorgeschlagene Weg schließt eine unrühmliche Lücke im Bereich des Rechtsschutzes gegen zentral wichtige hoheitliche Ent- scheidungen ohne substanziell, oder gar störend, in die Effektivität des Wahlverfahrensrechtes einzugreifen. Gegenstand der Wahlprüfung durch den Bundestag nach der Wahl und der Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ist nicht die Verletzung subjek- tiver Rechte, sondern die Gültigkeit der Wahl. Beschwer- den werden darum bisher zurückgewiesen oder verwor- fen, wenn sie sich auf die Mandatsverteilung nicht ausgewirkt haben können, auch wenn Recht verletzt wurde. Diese Gegebenheiten wollen wir weiterentwickeln. Im Wahlprüfungsverfahren nach der Wahl werden Rechts- verletzungen des Einsprechenden beziehungsweise des Beschwerdeführers künftig vom Bundestag und vom Bun- desverfassungsgericht im Entscheidungstenor festgestellt, auch wenn sie keine Auswirkungen auf die Gültigkeit der Wahl haben. Das subjektive Wahlrecht eines Bürgers hat in der Demokratie einen so hohen Stellenwert, dass eine Verletzung dieses Rechtes auch dann festgestellt werden sollte, wenn die Gültigkeit der Wahl insgesamt nicht in- frage steht. Dr. Stefan Ruppert (FDP): Wir leben in einem demokratischen Rechtsstaat. Jeder Einzelne kann in Deutschland gegen Schulnoten, Dachrinnen und die Höhe von Gartenhecken klagen. Wenn man als Bürger jedoch an der Teilnahme an Wahlen gehindert wird, hatte man dagegen bisher kein subjektives Klagerecht. Gerade weil Wahlen aber zum Fundament unserer Demokratie gehören, darf der individuelle Rechtsschutz hier nicht fehlen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir diesen unbefriedigenden Zustand ändern. Auf diese ge- meinsame Initiative von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und uns Liberalen bin ich stolz. Zur Bundestagswahl 2009 schickte die OSZE auf Einladung der Bundesregierung ein Team von Wahl- beobachtern nach Deutschland. Das Fazit der OSZE- Mission zu den Wahlen fiel überwiegend positiv aus. Dennoch rügten die Wahlbeobachter einige Lücken im Rechtsschutzsystem, die vor ihnen lediglich in der rechtswissenschaftlichen Literatur Erwähnung gefunden hatten. Insbesondere kritisierte die OSZE die mangeln- den Einspruchsmöglichkeiten gegen die Entscheidung des Bundeswahlausschusses vor der Wahl. Ebenso bean- standeten die Wahlbeobachter, dass der einzelne Bürger im Prüfungsverfahren nach der Wahl keinen freien Zu- gang zur Justiz habe. Denn bisher muss jeder Bürger erst 100 Unterschriften sammeln, bevor er die Entscheidung des Wahlprüfungsausschusses vom Bundesverfassungs- gericht überprüfen lassen kann. Ich bin froh, dass wir die entscheidenden Anregungen der OSZE im vorliegenden Gesetzentwurf aufnehmen konnten. Allerdings hat sich in unseren Beratungen auch 20876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) herausgestellt, dass nicht alles, was theoretisch für ein Mehr an Rechtsschutz bei den Wahlen wünschenswert wäre, aus praktischer Sicht auch machbar ist. So hatte die OSZE beispielsweise angeregt, viele gerichtliche Überprüfungen bereits vor der Wahl zuzulassen. Jedoch ist die Vorbereitung von Bundestagswahlen von der Ein- reichung der Unterlagen der zahlreichen Parteien und Wahlkreiskandidaten bis zur eigentlichen Abstimmung ein hochsensibler Akt. Eng aufeinander abgestimmte Fristen bis zum Wahltag lassen es praktisch nicht zu, jede einzelne Entscheidung noch vor der Wahl gericht- lich überprüfen zu lassen. Deswegen haben wir nur den wichtigsten Fall, nämlich die Zulassung von Parteien durch das Bundesverfassungsgericht, vor die Wahl verle- gen können. Diese Entscheidung ist richtig. Denn ver- einfacht gesprochen haben die Bürger nichts davon, wenn sie zwar rechtmäßig wählen dürfen, sich ihr Wahl- favorit aber in einem Rechtsstreitverfahren befindet und noch nicht antreten darf. Insgesamt haben wir mit Blick auf den Bericht der OSZE einen guten Kompromiss ge- funden. Wie sieht die Neuregelung nun genau aus? Sie besteht aus zwei wichtigen Bausteinen. Erstens geben wir Par- teien, die vom Bundeswahlausschuss nicht zur Wahl zu- gelassen wurden, die Möglichkeit, noch vor dem Wahl- tag beim Bundesverfassungsgericht zu klagen. Diese notwendige Verbesserung wurde vor allem vor der letz- ten Bundestagswahl diskutiert. Damals wurden „Die PARTEI“ des bekannten Satirikers Martin Sonneborn sowie die „Freie Union“ um Gabriele Pauli vom Bundes- wahlausschuss nicht zur Wahl zugelassen. Freilich ist gerade im ersteren Fall fraglich, ob die Vertreter ein ernsthaftes Interesse an Politik verfolgen. Fakt ist je- doch, dass beide Vereinigungen keine Chance hatten, die Entscheidung des Bundeswahlausschusses gerichtlich überprüfen zu lassen. Das ist deswegen mit einem „Geschmäckle“ behaftet, weil im Bundeswahlausschuss die etablierten Parteien über die Zulassung von neuen Parteien entscheiden, noch dazu in einem sehr hohen Tempo. Auch die OSZE hat in ihrem Bericht diesbezüg- lich einen Interessenkonflikt vermutet. Deshalb ist es gut, dass wir nicht zugelassenen Parteien nun den ge- richtlichen Rechtsschutz noch vor der Wahl eröffnen. Zweitens, und nicht weniger wichtig, ist die Verbesse- rung des Rechtsschutzes für den Einzelnen nach der Wahl. Diese Subjektivierung des Wahlprüfungsverfah- rens wird durch zwei wesentliche Änderungen erreicht. Zum einen wird die Hürde von 100 Unterschriften, die bei einer Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht bisher notwendig waren, zukünftig wegfallen. Zum an- deren stellen nun der Wahlprüfungsausschuss des Bun- destages sowie das Bundesverfassungsgericht explizit fest, wenn dem einzelnen Bürger oder einer Gruppe von Personen Wahlrechtsfehler widerfahren sind. Im Sinne des Grundsatzes des Rechtsfriedens ist das eine sehr be- grüßenswerte Reform. Abschließend danke ich den Kollegen Krings, Wiefelspütz und Montag noch einmal ausdrücklich für die wirklich sehr guten und kollegialen Gespräche der vergangenen Wochen. Ich finde es sehr positiv, wie sach- lich wir uns mit dem Problem auseinandergesetzt und gemeinsam Lösungen erarbeitet haben. Ich freue mich, dass wir nun zusammen einen Antrag zum Wahlrechts- schutz vorlegen können. Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion lade ich auch ausdrücklich ein, dem vorliegenden Kompromiss im weiteren Verfahren zuzu- stimmen. Sie haben zwar schon vor zwei Monaten einen Gesetzentwurf zum gleichen Thema vorgelegt. Aller- dings waren ihre Lösungsvorschläge damals noch nicht ausgereift. Unserem Gesetzentwurf können sie nun mit gutem Gewissen zustimmen. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Ich freue mich außerordentlich, dass auch Sie mit dem vorgelegten Ge- setzentwurf zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen eine Sonneborn-Regelung einführen wollen, auch wenn Sie diese nicht so nennen und auch wenn es nur eine halbe Sonneborn-Regelung ist. Ich will den vorgelegten Gesetzentwurf an den „Krings-Kriterien“ messen, also an den Punkten, die Herr Krings im Rahmen der letzten Debatte am Gesetz- entwurf der Linken kritisiert hat. Das tut mir jetzt ein wenig leid für die anderen Parteien, aber wir sollen ja hier Rede und Gegenrede halten. Erstens. Die Fristen zwischen der Entscheidung des Bundeswahlausschusses und der Entscheidung des Bun- desverfassungsgerichtes sind bei Ihrem Gesetzentwurf knapper als beim Gesetzentwurf der Linken. Entgegen der Gesetzesbegründung betragen sie bei Ihnen nicht 20 Tage sondern im schlechtesten Fall 16 Tage. Der Bundeswahlausschuss soll spätestens am 79. Tag vor der Wahl eine Entscheidung treffen, die Beschwerde muss spätestens am 4. Tag nach der Bekanntmachung beim Bundesverfassungsgericht eingereicht werden. Das ist dann der 75. Tag vor der Wahl. Da die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts am 59. Tag vor der Wahl erfolgen soll, ergibt dies 16 Tage. Die Linke hat in ihrem Gesetzentwurf die Frist, bin- nen der über die Entscheidung des Bundeswahlausschus- ses vom Bundesverfassungsgericht zu entscheiden ist, auf 18 Tage festgesetzt. Der Bundeswahlausschuss entscheidet am 72. Tag vor der Wahl, die Beschwerde muss spätestens drei Tage nach Bekanntmachung eingereicht sein, also am 69. Tag vor der Wahl. Die Entscheidung muss bis zum 51. Tag vor der Wahl getroffen sein. Zweitens. Ihr Gesetzentwurf enthält keinerlei Formu- lierung, wie mit einer vorgezogenen Bundestagswahl umzugehen ist. Ich halte eine solche gesonderte Rege- lung nicht für erforderlich, aber dies war einer der Kri- tikpunkte von Herrn Krings am Gesetzentwurf der Lin- ken. Ich stelle fest, diese Kritik geht dann auch an Ihren eigenen Gesetzentwurf. Drittens. Sie regeln allein den Rechtsschutz bei Nicht- zulassung als Partei. Sie haben keinerlei Vorschläge unterbreitet, wie der gerichtliche Schutz gegen die Nichtzulassung einer Landesliste oder eines Kreiswahl- vorschlages aussehen könnte. Da endet der Rechtsschutz bei Ihnen bei den Wahlausschüssen. Damit regeln Sie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20877 (A) (C) (D)(B) nur die Hälfte des Rechtsweges, sie geben für diesen Fall keinen gerichtlichen Rechtsschutz vor der Wahl, das heißt, Sie führen nur die halbe Sonneborn-Regelung ein. Im Hinblick auf die Kritik von Herrn Krings im Gesetz- entwurf der Linken könne es angeblich zu divergieren- der gerichtlicher Entscheidungen kommen, sei darauf verwiesen, dass die Zulassung einer Landesliste oder eines Kreiswahlvorschlages auch jenseits der Partei- eigenschaft versagt werden kann. Insoweit besteht keine Gefahr divergierender Entscheidungen. Viertens. Das demokratietheoretische Problem der Wahlausschüsse, das darin besteht, dass die im Parla- ment vertretenen Parteien über die potenzielle Konkur- renz entscheiden, lösen sie aus meiner Sicht nicht befrie- digend. Durch die Ernennung von Richtern und Richterinnen sieht es demokratietheoretisch besser aus, ist es aber nicht wirklich. Es bleibt ein Placebo. Fünftens. Sie entscheiden sich, Ihren Vorschlag zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen mit einer Grundgesetzänderung zu flankieren. Wir hielten das nicht für notwendig, finden aber auch nicht, dass dies ein Grund ist, sich dieser Grundgesetzänderung zu verweigern. Sechstens. Sie suggerieren einen subjektiven Rechts- schutz für Bürger und Bürgerinnen einzuführen, die der Ansicht sind, es lägen Rechtsverletzungen im Rahmen des Wahlverfahrens vor. Es ist ja schon interessant, dass Sie hier eine Anregung der Linken aufgreifen. Es bleibt aber das grundsätzliche Problem, dass die Bürger und Bürgerinnen über den Wahlprüfungsausschuss und gege- benenfalls das Bundesverfassungsgericht auf eine nach- trägliche Feststellung der Rechtsverletzung verwiesen werden. Das schadet natürlich nichts, ist eine Verbesse- rung zum vorherigen Zustand, aber wirklicher Rechts- schutz ist in meinen Augen etwas anderes. Vielleicht sollten wir da noch einmal gemeinsam genauer überle- gen, wie der subjektive Rechtsschutz ausgestaltet wer- den kann. Siebtens. Aus meiner Sicht gibt es noch die eine oder andere Sache zu klären, zu präzisieren und zu verbes- sern. Wenn das Bundesverfassungsgericht die Partei- eigenschaft bejaht, für welchen Zeitraum soll die Ent- scheidung Gültigkeit haben? Was folgt, wenn das Bundesverfassungsgericht in der gesetzten Frist nicht entscheidet? Gilt dann, wie ich vorschlagen würde „im Zweifel für die Parteieigenschaft“? Vielleicht sollten wir das einfach mal gemeinsam klä- ren, denn gemeinsam sind wir klüger. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir haben im Jahre 2009 das Büro für demokratische Institu- tionen und Menschenrechte der Organisation für Sicher- heit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, eingeladen, die Bundestagswahlen 2009 zu beobachten. Über diese Beobachtung wurde ein Bericht der Wahlbewertungs- kommission vorgelegt, der Deutschland eine stabile Grundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen bescheinigt. Als bedenklich wurde jedoch eingestuft, dass es vor der Wahl keine Möglichkeit der juristischen Überprüfung von Entscheidungen der Wahlorgane gibt und damit die Rechtslage in Deutschland hinter inter- national eingegangenen Verpflichtungen zurückbleibt. Der OSZE ist für ihren Bericht auch von dieser Stelle zu danken. Wir fassen die Beurteilung nicht als ungehörige Kritik, sondern als konstruktive Vorschläge zur Verbes- serung eines schon heute beispielhaft guten Zustands des Wahlrechts in Deutschland auf. Was ist in der Folgezeit passiert? Der frühere Bundesinnenminister de Maizière hat im Januar 2010 der OSZE geschrieben, dass die Bundes- regierung diese Anregung aufnehmen und einen Vor- schlag machen wird. Aber die Bundesregierung hat nichts getan. Der 1. Ausschuss des Hohen Hauses, für das Wahl- recht federführend zuständig, hat im Juni 2011 mit Zustimmung aller Fraktionen beschlossen, die Bundes- regierung aufzufordern, etwas in dieser Sache zu unter- nehmen. Geschehen ist nichts. Ich will annehmen, dass die Bundesregierung ausschließlich aus Respekt vor dem Parlament untätig geblieben ist. Wahlrecht ist eben Sache des Parlaments, heißt es. Deshalb haben sich einige Kollegen, Herr Dr. Krings und Herr Dr. Ruppert, Herr Wiefelspütz und auch ich ganz basisdemokratisch und über die Fraktionsgrenzen hinweg zusammengetan, um den Rechtsschutz im Wahl- recht des Bundestages zu stärken. Und dies ist uns, ich sage dies schon mit einigem Stolz, auch gelungen. Ich möchte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des In- nen- wie auch des Justizministeriums ganz ausdrücklich danken, dass sie uns mit ihrem Sachverstand zur Seite gestanden haben. Ich danke auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unseren Abgeordnetenbüros, die wirklich wertvolle Zuarbeit geleistet haben. Heute liegen dem Hohen Hause zwei Gesetzentwürfe vor, mit denen der Rechtsschutz im Wahlrecht gestärkt wird. Vor einigen Wochen ist es in der Öffentlichkeit wegen der sehr kurzfristigen Absetzung der Gesetzent- würfe von der Tagesordnung zu der Befürchtung gekom- men, wir wollten klammheimlich den Zugang der Bürgerinnen und Bürger zu den Gerichten, ganz beson- ders zum Bundesverfassungsgericht, einschränken. Des- halb betone ich auch heute ganz deutlich, dass genau das Gegenteil zutrifft. Was bringen die Gesetzentwürfe für Änderungen mit sich? Neue Parteien und Vereinigungen, die an Bundestags- wahlen teilnehmen wollen, haben es naturgemäß beson- ders schwer. Werden sie vom zuständigen Bundeswahl- ausschuss nicht zur Wahl zugelassen, können sie sich erst nach der Wahl dagegen zur Wehr setzen. Das ändern wir. Wir geben den betroffenen Gruppierungen die Möglichkeit, noch vor der Wahl Rechtsschutz beim Bun- desverfassungsgericht zu suchen und vielleicht auch zu finden. Wegen der laufenden Wahlvorbereitungen muss es schnell gehen, aber die Zeit zur Überprüfung einer Zurückweisung einer Gruppierung von der Wahl muss sich finden. Dazu muss auch das Grundgesetz geändert werden. Wir appellieren an dieser Stelle an den Bundes- 20878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 (A) (C) (D)(B) rat, konstruktiv mitzuziehen und diese gute Reform mit- zutragen. Bei der möglichen Zurückweisung von Landeslisten auf Landesebene, von Direktkandidatinnen und -kandi- daten in den Wahlkreisen und im Falle der Zurück- weisung einzelner Bürgerinnen und Bürger schien es uns schwer möglich, einen Rechtsschutz vor den Fachge- richten innerhalb der ganz kurzen Fristen, die das Grundgesetz und das Bundeswahlrecht vorschreiben, zu organisieren. Immerhin sieht das Wahlgesetz in allen diesen Fällen die Möglichkeit einer Überprüfung vor den nächst höheren Wahlausschüssen vor, sodass die Betrof- fenen nicht völlig rechtlos sind. Aber wir haben für diese Gruppen und Personen den Charakter der nachträglichen Überprüfung vor dem Wahlprüfungsausschuss des Bundestags und vor dem Bundesverfassungsgericht entscheidend verändert. Während bisher nur eine objektive Prüfung möglicher Fehlentscheidungen auf ihre Wahlausgangsrelevanz stattfindet, wird es in der Zukunft zu einer Feststellung über die Verletzung der subjektiven Wahlrechte der be- troffenen Gruppen und Personen kommen, selbst, wenn sich der Rechtsverstoß auf das Wahlergebnis nicht aus- gewirkt hat. Wenn ihnen Unrecht geschehen ist, wird dies in Zukunft schwarz auf weiß festgestellt. Die Landeswahlausschüsse und der Bundeswahlaus- schuss sollen nicht nur mit Vertreterinnen und Vertretern der etablierten Parteien besetzt bleiben, um den Ein- druck eines Closed Shops zulasten von neuen Gruppen und Kandidatinnen und Kandidaten zu vermeiden. In jedem dieser Ausschüsse werden in Zukunft zwei Rich- terinnen oder Richter mitentscheiden. Und schließlich brauchen die Bürgerinnen und Bürger keine 100 Unter- stützerinnen oder Unterstützer mehr, um beim Bundes- verfassungsgericht eine Wahlbeschwerde einzulegen. Dies passt nicht mehr zum neu eingeführten subjektiven Rechtsschutz im Wahlrecht. Zwei Schlussbemerkungen erscheinen mir notwendig. Leider hat die Fraktion der Linken an diesem gemein- samen Projekt nicht teilnehmen können. Wenn es sich um Parlamentsrecht handelt und Sache des ganzen Hau- ses ist, sollte die Union ihre Haltung gegenüber der Fraktion der Linken überdenken. Ich muss allerdings auch sagen, dass es nicht sinnvoll war, dass die Linke im letzten November einen eigenen Gesetzentwurf vor- gelegt hat, der fachlich mangelhaft und ideologisch überfrachtet war. Damit liefert sie selbst Argumente, sie an gemeinsamen Aktivitäten nicht zu beteiligen. Die Einbindung der Kolleginnen und Kollegen des Wahlprüfungsausschusses hätte besser sein können. Dies wurde nachgeholt und ich will mich für die konstrukti- ven Änderungsvorschläge aus diesem Ausschuss bedan- ken. Sie bilden eine gute Grundlage für die jetzt notwen- digen und, wie ich hoffe, sehr raschen Beratungen im Ausschuss und werden uns helfen, ein noch besseres Ge- setz zur Reform und zum Ausbau des Rechtsschutzes im Wahlrecht zu verabschieden. 175. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3 Neuausrichtung der Pflegeversicherung TOP 4 Sanktionen in den Hartz IV-Regelungen TOP 40, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 41, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 1 Aktuelle Stunde zum deutsch-schweizerischen Steuerabkommen TOP 5 Nachtragshaushaltsgesetz 2012 TOP 6 Elterliche Sorge bei nicht verheirateten Eltern TOP 7 EU-Operation Atalanta TOP 8 Verbesserung der Situation an Hochschulen TOP 9 Sicherung der betrieblichen Altersversorgung TOP 10 Bewältigung von Konversionsfolgen TOP 11 Fortbestand des Klosters Mor Gabriel TOP 12 Deutsche nukleare Abrüstungspolitik TOP 13 Bundeswehrreform TOP 14, ZP 5 Feste Fehmarnbeltquerung TOP 15 Arzneimittelrechtliche Vorschriften TOP 16 Europaweite Pressefreiheit TOP 26 Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen TOP 17 Versicherungsaufsichtsgesetz TOP 19 Wissenschaftliches Fehlverhalten TOP 18 Bildung für nachhaltige Entwicklung TOP 21 Parlamentarische Rüstungsexportkontrolle TOP 20 Nationales Waffenregister-Gesetz TOP 23 Anrechnung von Aufwandsentschädigungen im SGB TOP 22 Fortentwicklung des Meldewesens TOP 25 Flughafenasylverfahren TOP 24 Perspektive für den wissenschaftlichen Nachwuchs TOP 27 Umsetzung von Basel III TOP 28 Private Sicherheitsdienste im Kampf gegen Piraterie TOP 29 „Miami Five“ TOP 30 EU-Klimaziel TOP 31 Konzept für naturnahe Flusslandschaften TOP 32 EU-Vorschläge zur Transparenz im Rohstoffsektor TOP 33 Elbekonzept Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717500000

Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
eröffne die 175. Sitzung des Deutschen Bundestages.
Man könnte das für eine Jubiläumsveranstaltung halten,
der wir vielleicht in der Art der Debattenführung Glanz
verleihen könnten.

Ich beginne mit dem wichtigen Hinweis, dass der
Kollege Wolfgang Börnsen heute seinen 70. Geburtstag
feiert.


(Beifall)


Wäre er hier, hätte ich die Glückwünsche jetzt in Platt-
deutsch vorgetragen. So muss das gegebenenfalls im
Kulturausschuss nachgeholt werden. Daran habe ich
auch keinen Zweifel. Jedenfalls übermittle ich ihm, si-
cher auch in Ihrem Namen, unsere besten Wünsche.

Ich weise darauf hin, dass es eine interfraktionelle
Vereinbarung gibt, die verbundene Tagesordnung um
die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu er-
weitern:

ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT

zu der Antwort der Bundesregierung auf die
Fragen 15 und 16 auf Drucksache 17/9351

(siehe 174. Sitzung)


ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 40

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Hans-Josef
Fell, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitli-
chung der bergrechtlichen Förderabgabe

– Drucksache 17/9390 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Klaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister,
Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk,
Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund und der
Fraktion der FDP

Rechtssicherheit beim Zugang zu einem
Basiskonto schaffen

– Drucksache 17/9398 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Cornelia Behm, Ute Koczy, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Verantwortung für die entwicklungspoliti-
sche Dimension der EU-Fischereipolitik
übernehmen

– Drucksache 17/9399 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union

ZP 4 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 41

Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Josef Fell, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Anpassung der Marktprämie – Mitnahme-
effekte streichen

– Drucksache 17/9409 –

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:

Auswirkungen des deutsch-schweizerischen
Steuerabkommens auf die grenzüberschrei-
tende Steuerhinterziehung

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Chancen und Risiken ergebnisoffen bewerten –
Verhandlungen mit dem Königreich Däne-
mark über den Ausstieg aus dem Staatsver-
trag über den Bau einer festen Fehmarnbelt-
querung aufnehmen

– Drucksache 17/9407 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Stabilisierungsme-
chanismusgesetzes

– Drucksache 17/9145 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses (8. Ausschuss)


– Drucksache 17/9435 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Dietmar Bartsch
Priska Hinz (Herborn)


ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:

Konjunkturprognose bestätigt: Deutschland
weiterhin im Aufschwung

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 21 b und
21 d abgesetzt.

Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkt-
liste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.

Schließlich mache ich noch auf zwei nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkt-
liste aufmerksam:

Der am 29. März 2012 (172. Sitzung) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-

schuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-
nung (1. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen wer-
den:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur finanziellen Beteiligung am Euro-

(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)


– Drucksache 17/9048 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Die am 30. März 2012 gemäß § 80 Abs. 3 GO über-
wiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlich
dem Haushaltsausschuss (8. Ausschuss) zur Mitbera-
tung überwiesen werden:

Unterrichtung durch die Bundesregierung

Nationales Reformprogramm 2012

– Drucksache 17/9127 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offenkundig
der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentri-
büne hat die Parlamentspräsidentin Litauens, die Prä-
sidentin des Seimas, Frau Irena Degutienė, mit ihrer
Delegation Platz genommen. Im Namen aller Mitglieder
des Bundestages begrüße ich Sie ganz herzlich hier in
unserem Parlament.


(Beifall)


Wir hatten bereits gestern Gelegenheit – Sie werden
heute weitere Gelegenheit haben –, die in den vergange-
nen Jahren sehr intensivierten Kontakte zwischen unse-
ren Ländern, insbesondere zwischen unseren Parlamen-
ten, zu würdigen und weitere Kooperationen zu
vereinbaren. Für Ihren Besuch in Berlin, aber auch an
anderen Plätzen wünschen wir Ihnen einen angenehmen
und interessanten Aufenthalt. Alle guten Wünsche für
die weitere Arbeit!

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuaus-





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)



(Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz – PNG)


– Drucksache 17/9369 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Senger-Schäfer, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Pflege tatsächlich neu ausrichten – Ein Leben
in Würde ermöglichen

– Drucksache 17/9393 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Bärbel Bas, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff einführen –
Chancen zu nötigen Veränderungen nutzen

– Drucksachen 17/2480, 17/7082 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Willi Zylajew

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Bundesminister für Gesundheit, Daniel Bahr.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1717500100

Guten Morgen, Herr Präsident! Sehr verehrte Frau

Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Le-
benserwartung in Deutschland steigt erfreulicherweise.


(Zuruf von der SPD: Überraschung!)


Jeder Dritte von uns, so sagen die Statistiken, wird jen-
seits des 80. Lebensjahrs auf Pflege angewiesen sein.

Der demografische Wandel bedeutet aber auch, dass
immer mehr Ältere künftig immer weniger Jungen ge-
genüberstehen. Das ist eine Herausforderung für das Ge-
sundheits- und Pflegewesen. Derzeit sind 2,4 Millionen
Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Diese Zahl
wird weiter deutlich steigen. Viele Menschen arbeiten
bereits heute in der Pflege. Sie leisten tagtäglich eine
vorzügliche Arbeit und sorgen dafür, dass in Deutsch-
land eine gute Pflege für Pflegebedürftige geleistet wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Für Union und FDP ist dabei klar: Ein Altern in Würde,
ein selbstbestimmtes Leben bis ins hohe Alter müssen
auch weiterhin möglich sein.

Bei der Pflege geht es uns um den Zusammenhalt in
den Familien und damit um den Zusammenhalt in der
Gesellschaft. Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, wie
es Ihnen die Koalition hier vorlegt, stärkt den Zusam-
menhalt in der Gesellschaft. Menschen wollen so lange
wie möglich zu Hause bleiben. Zwei Drittel aller Pflege-
bedürftigen werden zu Hause, in den Familien, von An-
gehörigen und ambulanten Pflegediensten gepflegt. Die
Hauptlast der Pflege tragen von daher die Familien und
Angehörigen. Diese Koalition will daher die Mehrein-
nahmen aus der Beitragssatzerhöhung zum 1. Januar
2013 nicht mit der Gießkanne austeilen, sondern diese
zusätzlichen Mittel ganz gezielt zur Unterstützung von
Familien und Angehörigen nutzen. Wir kümmern uns.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Jahr
2011 viele Dialoge mit Bürgerinnen und Bürgern sowie
Experten geführt. Wir haben uns ein Bild davon ge-
macht, wo dringender Handlungsbedarf besteht, und
Konsequenzen daraus gezogen. Wir kümmern uns um
Demenzkranke. Wir erweitern das Leistungsangebot der
ambulanten Pflegedienste um häusliche Betreuungsleis-
tungen. Demenzkranke, die bisher keine oder kaum
Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung erhalten
haben, erhalten nun erstmals Leistungsansprüche oder
höhere als bisher. Personen mit erheblich eingeschränk-
ter Alltagskompetenz in der sogenannten Pflegestufe 0,
das heißt diejenigen, die bisher keine Leistung erhalten
haben, erhalten nun erstmals Leistungen in Höhe der
Hälfte der Pflegestufe I; das sind 225 Euro pro Monat
für Pflegesachleistungen oder 120 Euro an Pflegegeld.
In den Pflegestufen I und II werden Pflegesachleistun-
gen und Pflegegeld für Pflegebedürftige mit erheblich
eingeschränkter Alltagskompetenz entsprechend erhöht.

Das heißt, ein Grundgedanke, der in der Diskussion
um einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff enthalten
war, nämlich Demenz endlich bei der Bewertung der
Pflegebedürftigkeit zu berücksichtigen und eine diffe-
renziertere Einstufung bei der Pflegebedürftigkeit zu er-
reichen,


(Elke Ferner [SPD]: Wir haben gewartet und gewartet! Haben Sie bisher geschlafen, Herr Bahr?)


wird mit diesem Gesetz im Vorgriff auf einen neuen
Pflegebedürftigkeitsbegriff umgesetzt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Von diesen Leistungsverbesserungen profitieren etwa
500 000 Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Damit
können es sich Familien, die bisher keine Unterstützung
erhalten haben, beispielsweise leisten, einmal in der Wo-
che Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

Die Angehörigen – das wissen wir – sind der größte
Pflegedienst der Nation. Sie sind besonders starken Be-
lastungen ausgesetzt. Daher richtet diese Koalition die





Bundesminister Daniel Bahr


(A) (C)



(D)(B)


volle Aufmerksamkeit darauf, Angehörige und Familien
zu unterstützen.

Künftig wird es so sein, dass bei Inanspruchnahme
von Leistungen der Kurzzeit- und Verhinderungspflege
das hälftige Pflegegeld weiter gezahlt wird. Damit er-
möglichen wir pflegenden Angehörigen Auszeiten. Von
ihnen haben wir nämlich häufig gehört, dass sie belastet
sind und gerne einmal eine Auszeit nehmen wollen.

Wir stärken durch gesetzliche Klarstellungen die
Möglichkeiten der Vorsorge und Rehabilitation.

Wichtig ist uns auch: Wer mehr Pflegebedürftige
pflegt, darf bei der Rente nicht schlechtergestellt wer-
den. Das wird künftig berücksichtigt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wir stärken auch die Angehörigen, indem wir die
Selbsthilfegruppen in der Pflege mit 10 Cent pro Versi-
chertem und Jahr besser als bisher fördern.

Um ihre Rechte wahrnehmen zu können, brauchen
Pflegebedürftige und ihre Angehörigen mehr gezielte
Beratung und Information, möglichst bei sich zu Hause.
Schaffen die Pflegekassen das nicht oder können sie das
nicht innerhalb von 14 Tagen sicherstellen, gibt es einen
Beratungsgutschein für eine externe, qualitätsgerichtete
Beratung.

Die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst
der Krankenversicherung – diesen erleben ja viele Be-
troffene, wenn es um die Begutachtung eines Angehöri-
gen geht – wird durch dieses Gesetz servicefreundlicher
gestaltet; eine fristgerechte Begutachtung und Leistungs-
entscheidung der Pflegekassen werden sichergestellt.

In dieser Woche ist ein neuer Bericht des Medizini-
schen Dienstes der Krankenversicherung zur Qualität in
der Pflege vorgelegt worden. Wir wissen: Vieles ist bei
der Pflege besser geworden, aber noch nicht alles ist so,
wie es sein sollte. Hier sind die Selbstverwaltung, die
Krankenkassen und die anderen Partner, gefordert, für
mehr und bessere Qualität in der Pflege zu sorgen. Auch
mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz verbessern wir
die Qualität in der Pflege.

Die medizinische Versorgung in Heimen wird deut-
lich verbessert, indem zusätzliche Gelder zur Verfügung
gestellt werden, damit sich der Haus- und Facharzt auch
im Heim um die medizinische Versorgung kümmert und
die Pflegekräfte nicht den Krankentransport rufen und
den Pflegebedürftigen ins Krankenhaus einweisen müs-
sen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sehen vor, dass künftig Zeitkontingente verein-
bart werden können, sodass verschiedene Leistungen der
Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung
und Betreuung individuell und zielgenau entsprechend
den Bedürfnissen selbst gewählt werden können. Pflege,
meine Damen und Herren, ist menschliche Zuwendung
und keine Akkordarbeit. Deswegen sorgen wir für mehr
Flexibilität, um von einem starren Minutenkorsett in der
Pflege wegzukommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir fördern neue Wohnformen, weil es der Wunsch
der Menschen ist, so lange wie möglich zu Hause zu
bleiben. Allein die Alternative zu haben, entweder allein
in der Wohnung zu sein oder ins Pflegeheim zu gehen,
ist nicht das, was sich die Menschen angesichts des de-
mografischen Wandels wünschen. Deswegen fördern wir
Pflegewohngruppen und alternative, neue Wohnformen
mit zusätzlichen Mitteln.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir stärken die private Vorsorge; denn die Pflegever-
sicherung ist eine Teilkostenabsicherung. Keine Fraktion
hier im Deutschen Bundestag stellt das infrage.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Doch!)


Somit ist, wie wir wissen, ein erheblicher Eigenanteil zu
schultern. Deswegen fördern wir erstmals auch private
Vorsorge der Menschen im Bereich Pflege. Meine Da-
men und Herren von SPD und Grünen, seinerzeit haben
Sie die Riester-Rente eingeführt, um die private Eigen-
vorsorge zu stärken, weil Sie sich bewusst waren, dass
durch die Umlage allein nicht alle Herausforderungen
des demografischen Wandels geschultert werden kön-
nen. Ich verstehe nicht, warum Sie nun bei der Pflege so
kritisch sind. Auch bei der Pflege wird der demografi-
sche Wandel zu finanziellen Herausforderungen führen.
Deswegen brauchen wir neben der umlagefinanzierten
sozialen Pflegeversicherung auch eine kapitalgedeckte
Eigenvorsorge. Wir legen dazu erstmals etwas vor. Die
Beratungen finden noch statt. Ein Entwurf wird dann
vorgelegt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


An all den Maßnahmen, die diese Koalition im
Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz vorgelegt hat, gibt es
wenig Kritik; sie werden als richtig bezeichnet. Wir neh-
men zur Kenntnis, dass die Opposition mehr fordert,
aber alle hier im Plenum wissen: Es waren Union und
FDP, die Mitte der 90er-Jahre die Pflegeversicherung
überhaupt erst geschaffen haben.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!)


Alle hier im Plenum wissen, dass Rot-Grün in seiner Re-
gierungszeit nicht eine einzige Verbesserung im Bereich
der Pflege auf den Weg gebracht hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie haben nichts getan. Es ist erneut eine christlich-libe-
rale Koalition, die eine Verbesserung für die Menschen
in der Pflege erreicht.


(Elke Ferner [SPD]: Wie lange dauerte das?)


Wir sorgen dafür, dass Menschen mit Demenzerkran-
kung, die bisher keine oder kaum Leistungen aus der
Pflegeversicherung erhalten haben,


(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch nicht, Herr Bahr! Sie lügen, ohne rot zu werden!)


endlich eine Unterstützung für den besonderen Betreu-
ungsaufwand, den eine Demenzerkrankung erfordert, er-
halten. Das ist ein Vorgriff auf den neuen Pflegebedürf-





Bundesminister Daniel Bahr


(A) (C)



(D)(B)


tigkeitsbegriff, den wir noch genauer zu bestimmen
haben; in diesem Zusammenhang sind nämlich noch
mehrere Fragen zu klären. Meine Vorvorgängerin von
der SPD, Frau Schmidt, hat doch selbst gesagt, dass es
noch drei bis vier Jahre Zeit braucht, um diese Fragen zu
klären.


(Elke Ferner [SPD]: Das sind aber schon drei Jahre, Herr Kollege Bahr!)


Wir werden keine Zeit verlieren. Die Menschen werden
schnell die Verbesserungen spüren.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Das vorliegende Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz
stellt also keinen Menschen schlechter, sondern es stellt
viele Menschen in Deutschland besser. Wir rücken die
Familien, die Angehörigen in den Mittelpunkt, weil sie
es sind, die die Pflege zu Hause leisten. Ihnen gilt unsere
Aufmerksamkeit. Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz
stärkt den Zusammenhalt in der Gesellschaft und ist des-
wegen ein gutes Gesetz, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Mehr hat er dazu nicht zu sagen? Das ist alles?)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717500200

Das Wort erhält nun der Kollege Lauterbach für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1717500300

Herr Präsident! Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Wir haben eben gehört, dass der
Minister mit seinem Gesetz zufrieden ist. Das Problem
ist nur, dass das eine Einschätzung ist, die außer ihm
kaum jemand teilt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Mein Gott! Er hat es wieder nicht kapiert!)


Ich darf Sie zum Beispiel daran erinnern: Das am
häufigsten gebrauchte Wort in der Presse im Zusammen-
hang mit dieser Reform war der Begriff „Reförmchen“,
Herr Bahr. Das ist auch zutreffend; denn mehr ist es
nicht. Es ist nichts anderes als ein kleines Reförmchen
im dritten Jahr der Regierungszeit dieser Koalition mit
einem Gesamtvolumen von 1 Milliarde Euro.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist viel Geld! Viel, viel Geld!)


Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie in den ersten Ta-
gen Ihrer Regierungszeit dreimal so viel für Hoteliers
getan haben wie jetzt in Ihrem dritten Regierungsjahr für
alle zu Pflegenden zusammen? Das ist doch die Wahr-
heit!


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Das tut weh, aber muss sein!)


Herr van Essen, das ist einer der Gründe, weshalb Sie
nicht mehr akzeptiert werden. Das ist so. Der Bürger ist
nicht so dumm, als dass er sich hier täuschen ließe. Von
wegen großartige Reform.

Bringen Sie sich bitte in Erinnerung: Wer gehört denn
zu den wichtigsten Kritikern der Reform? Es ist Norbert
Blüm, der Vater der Pflegeversicherung, wenn man so
will. Sie werden doch derzeit aus den eigenen Reihen
von den Gründern der Pflegeversicherung zum Teil
schärfer kritisiert als von der Öffentlichkeit. Das sollte
Ihnen zu denken geben.

Ein paar Worte zu Ulla Schmidt, die Sie ja auch er-
wähnt haben: Ulla Schmidt hat vor sechs Jahren gesagt,
dass die Definition des Pflegebegriffs in drei Jahren fer-
tig ist. Das ist richtig. Der Pflegebegriff ist fertig. Er
hätte umgesetzt werden können, aber Sie machen es
schlicht deshalb nicht, weil Sie die Kosten scheuen,


(Kathrin Senger-Schäfer [DIE LINKE]: Genau!)


weil Ihnen dieses Projekt nicht wichtig genug ist,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


weil Sie stattdessen die private Pflege fördern wollen
und nichts für die Menschen tun wollen, die die Pflege
dringend benötigen.


(Beifall bei der SPD)


Sie haben beiläufig den Qualitätsbericht zur Pflege
erwähnt, Herr Bahr. Ich darf Sie daran erinnern: Hier
wurde festgestellt, dass ein großer Teil der pflegebedürf-
tigen Menschen an Schmerzen leidet, die, weil sie nicht
diagnostiziert sind, nicht behandelt werden. Die Men-
schen liegen sich wund, liegen durch. Sie erkranken an
Dekubitus und versterben an der dann folgenden Infek-
tion. Die Menschen leiden zum Teil unter Freiheits-
beraubung ohne richterlichen Beschluss. Mit einem
Halbsatz gehen Sie über diese beschämenden Qualitäts-
defizite hinweg. 20 bis 40 Prozent der zu Pflegenden er-
leiden eine Qualität, die nicht angemessen und unseres
Wohlstands nicht würdig ist. Und dann ist das alles, was
Sie uns vorlegen. Das ist eine Schande, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Aber selbst nichts vorgelegt!)


Ich will Ihnen sagen, was Sie bei einer wirklichen
Reform hätten machen müssen:

Sie hätten den Pflegebegriff reformieren müssen. Wir
haben einen komplizierten bürokratischen Pflegebegriff,
der dazu führt, dass die Pflege im Prinzip Abläufen folgt,
aber nicht der Bedürftigkeit der Menschen. Das hätte
reformiert werden müssen. Das haben Sie nicht gemacht.

Sie hätten die langfristige Finanzierung der Pflege
sicherstellen müssen. Sie erwähnen die demografische
Herausforderung, die dadurch entsteht, dass wir alle älter





Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)


werden – das hat, nehme ich einmal an, niemanden hier
im Saal überrascht –, aber Sie bringen hierfür keine
Lösung, keine Reform.

Als FDP haben Sie nichts zur Entbürokratisierung
vorgetragen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Jetzt kommt gar nichts!)


Jedes zweite Wort bei der FDP lautet doch „Steuern run-
ter“ oder „Entbürokratisierung“. Hier hätten Sie doch die
Gelegenheit dazu gehabt. Herr Bahr, ich erinnere Sie
daran, Sie sind noch der Minister.


(Elke Ferner [SPD]: Nicht mehr lange!)


Ich glaube nicht, dass Sie noch viel Gelegenheit haben
werden, die Entbürokratisierung, die Sie immer fordern,
selbst einzuführen.


(Beifall bei der SPD)


Abschließend komme ich zum dem, was Sie auch hät-
ten machen müssen: Eine deutliche Stärkung der ambu-
lanten Pflege – nicht nur für die Pflegestufe 0, sondern
auch für die hohen Pflegestufen – wäre dringend notwen-
dig gewesen. Ich darf daran erinnern – ich nehme an,
Herr Spahn wird das gleich vortragen –, dass wir in der
Großen Koalition bei der ambulanten Pflege zusammen
ein großes Stück weitergekommen sind. Wir haben die
ambulante Pflege finanziell deutlich bessergestellt. Da-
rüber gehen Sie schlicht und ergreifend hinweg. In der
Großen Koalition haben wir mehr erreicht, als Sie im
dritten Jahr erreichen konnten.

Sie speisen uns hier mit einer Reform ab, bei der de
facto, wenn man ehrlich ist, um jeden Euro gefeilscht
wird. Ich kann Ihnen auch sagen, woran das liegt. Der
Bürger versteht das ganz genau. Es liegt daran, dass es
für die Pflege keine ausreichende Lobby gibt. Die zu
Pflegenden haben nicht die Lobby, die sie benötigen, um
von dieser Regierung bedient zu werden. Das ist die
Wahrheit.


(Beifall bei der SPD – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ach Gott!)


Es liegt auch nicht am Geld. Wir wissen, dass Sie für die
Nichterziehung von Kindern oder für die Vergabe von
Rentenansprüchen, die auch der Millionärsgattin für frü-
here Geburten zugutekommen, bis zu 10 Milliarden
Euro ausgeben wollen. Manche von Ihnen kritisieren das
doch selbst. Ihnen sind demnach die Millionen zu Pfle-
genden nicht ein Zehntel dessen wert, was Sie jetzt für
die Wahlkampfunterstützung von Horst Seehofer in Bay-
ern ausgeben wollen. Das spielt sich hier ab.

Sie haben die Menschen, die alt und krank sind und
möglicherweise ihre letzte Wahl vor sich haben – deren
Lebenserwartung beträgt ja im Durchschnitt noch zwei-
einhalb Jahre –, enttäuscht. Sie haben das Jahr der Pflege
ausgerufen. Die FDP hat die Chuzpe besessen und vom
Jahr der Pflege gesprochen. Nichts ist passiert. Jetzt wird
hier ein Gesetz vorgelegt, das im Prinzip eine Ohrfeige

für die pflegenden Angehörigen und die schwerkranken
Menschen ist.


(Mechthild Dyckmans [FDP]: Unverschämt!)


– Das ist die Wahrheit, es ist keine Unverschämtheit.
Das Gesetz ist die Unverschämtheit. Unverschämt ist
nicht, wie ich es beschreibe. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Bahr hat eine Unverschämtheit vorgetragen – nicht
ich habe das getan.

Es gibt hier keine Veränderung, es wird um jeden
Euro gefeilscht. Diese 1 Milliarde deckt nicht einmal
den Kostenanstieg, den es bei der Pflege in den letzten
Jahren gegeben hat.

Somit sage ich Ihnen voraus: Sie werden auch für
diese Reform die Quittung bekommen; denn unterschät-
zen Sie nicht, dass die Menschen ein Gespür dafür
haben.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das sagen Sie in jeder Rede seit zwei Jahren, und nichts ist passiert!)


– Drei Jahre ist nichts passiert, Herr Spahn. Drei Jahre
reden Sie über die Pflege, und nichts ist passiert.


(Elke Ferner [SPD]: Genau!)


Diese Regierung lässt die Alten und die Kranken – dieje-
nigen, die mit Schmerzen in den Heimen liegen –, weil
sie keine Lobby haben, im Stich und zurück. Das ist aus
meiner Sicht die Schande. Dies wird auch nicht mehr
lange so weitergehen.

Hilde Mattheis wird nachher unsere Gegenkonzepte
vorstellen.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Dann wird zur Sache gesprochen!)


Wir haben ein umfangreiches Papier. Es soll nicht der
Eindruck entstehen, wir hätten keine Gegenvorschläge.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Frau Mattheis spricht dann also zur Sache!)


– Auch ich habe zur Sache gesprochen; ich habe davon
gesprochen, dass es eine Schande ist, dass Sie die
Reform drei Jahre lang angekündigt und nichts auf die
Reihe bekommen haben. Ich habe Ihnen beschrieben,
wie die Reform hätte aussehen sollen. Wie sie konkret
aussehen wird, wenn wir wieder regieren, wird Ihnen
später beschrieben.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ CSU: Das war nichts!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717500400

Nächster Redner ist der Kollege Johannes

Singhammer für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1717500500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Es war die christlich-liberale Koalition, die 1995
das Fundament für das Haus der Pflegeversicherung
gelegt, die ersten Geschosse gebaut und die Zimmer ein-
gerichtet hat.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


Heute stocken wir um ein Geschoss auf und bauen viele
neue Zimmer.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist so kalt! So viel Zugluft!)


– Hören Sie genau zu!

500 000 Demenzkranke – das sind so viele, wie die
Stadt Nürnberg Einwohner hat – erhalten erstmals Leis-
tungen. Pflegebedürftige entscheiden künftig selbstbe-
stimmt, was für sie beste Hilfe und Pflege ist. Der Grund-
satz „Wiederherstellung vor Pflege“ wird nachhaltig
umgesetzt. Neue Wohnformen entstehen. Pflegebedürf-
tige und Pflegekräfte werden künftig mitreden, auch bei
der Bewertung und Einstufung der Pflege. Die Selbsthilfe
erhält mehr Geld. Beim Medizinischen Dienst wird der
Dienstleistungscharakter in den Vordergrund gestellt.
Versicherte werden nicht alleingelassen, sondern frühzei-
tig beraten – mit verbesserter Rechtssicherheit. Wer in
der Familie selber pflegt, soll nun erstmals Erholungs-
möglichkeiten bekommen. Familienangehörige werden
künftig Pflegegeld und Verhinderungspflege gleichzeitig
erhalten. Angehörige, die pflegen, erhalten eine höhere
Rente, und in Pflegeheimen wird die ärztliche und zahn-
ärztliche Versorgung auf eine neue, sichere Grundlage
gestellt. Das kostet genau 1 100 Millionen Euro. Diese
sind gut angelegt, und sie werden nicht mit der Gieß-
kanne verteilt, sondern schwerpunktmäßig dort einge-
setzt, wo wir das Geld am dringendsten brauchen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Jeder von uns kann plötzlich pflegebedürftig werden.
Viele machen sich Gedanken: Was wird dann sein?
Eines wissen wir alle gemeinsam sehr genau: Aufgrund
der demografischen Entwicklung wird die Zahl der
Demenzkranken in den nächsten Jahrzehnten steigen.
Schon heute leisten vor allem die Familienangehörigen
in der ambulanten Versorgung Demenzkranker eine
großartige Arbeit. Die Familienangehörigen, die die
Pflege bewerkstelligen, sind letztlich die Heldinnen und
Helden. Deshalb wird der Schwerpunkt auf die ambu-
lante Versorgung der Demenzkranken gelegt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Um ein Gespür dafür zu bekommen, worum es dabei
geht – sind das Peanuts, oder geht es um die Substanz? –,
nenne ich zwei Zahlen: Ab Januar nächsten Jahres sollen
erstmals für die ambulante Versorgung Demenzkranker
nicht 20, nicht 100, nicht 200, sondern 225 Euro im Mo-
nat gezahlt werden.

Neben den Demenzkranken wollen wir eine Vielzahl
anderer Gruppen Pflegebedürftiger stärken.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717500600

Herr Kollege Singhammer, darf der Kollege Seifert

Ihnen eine Zwischenfrage stellen?


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1717500700

Aber gerne.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717500800

Herr Kollege Singhammer, Sie haben gerade beson-

ders betont, dass Ihre sogenannte Reform die häusliche
Pflege – das ist das, was die Familienangehörigen tun –
am meisten stärkt. Warum, bitte schön, setzen Sie die
Geldleistungen dann nicht endlich mit den Sachleistun-
gen gleich? Sie sorgen doch dafür, dass weiterhin für
einen fremden Dienst, der beauftragt wird, viel mehr
Geld bezahlt wird, als für die Pflege durch eigene Ange-
hörige. Sie widersprechen sich in Ihrer Rede damit
selbst. Wo ist die Konsistenz in Ihrem Konzept, in Ihrer
Arbeit?


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1717500900

Herr Kollege Seifert, wir nehmen nicht nur Verbesse-

rungen im Bereich des Pflegegeldes, sondern auch im
Bereich der Pflegesachleistungen vor. Beides sind unter-
schiedliche Arten der Pflegehilfe. In dem einen Fall
müssen Sie direkt etwas ausgeben für die Leistungen,
die bezahlt werden müssen. In dem anderen Fall können
Sie mit dem Pflegegeld im Sinne eines Budgets agieren.
Das ist der Unterschied. Wir bleiben bei dem System,
aber die Ansätze für beide Leistungen werden deutlich
erhöht. Ich denke, das muss man hier einfach einmal
festhalten.

Wir werden neben den Demenzkranken einer Vielzahl
von Gruppen Pflegebedürftiger helfen. Das Thema
Minutenpflege hat die Diskussion über viele Monate
hinweg bestimmt. Jeder hat festgestellt, dass diese Art
der Pflege renovierungsbedürftig ist. Wir ändern das
jetzt. Wir beschreiten einen neuen Weg: Die Minuten-
pflege wird von einer flexiblen Zuwendungspflege abge-
löst. Was heißt das? Der einzelne Pflegebedürftige kann
sich erstmals aussuchen, wie viel Grundpflege, wie viel
hauswirtschaftliche Versorgung oder Betreuung er in
Anspruch nimmt. So kann er für sich selber ein indivi-
duell maßgeschneidertes Paket schnüren. Das ist ein
Fortschritt. Wer dies kritisiert und nicht will, der soll
dem Pflegebedürftigen in die Augen schauen und sagen:
Ich möchte, dass es bei der Minutenpflege bleibt; ich bin
gegen die Einführung der Zuwendungspflege.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen sie.


(Elke Ferner [SPD]: Warum machen Sie es nicht?)


Viele Pflegebedürftige leiden unter einer schwierigen
Entscheidung: Die Versorgung zu Hause wird zuneh-
mend schwieriger, aber in eine stationäre Einrichtung
möchte man nicht. Deshalb schaffen wir eine neue Mög-
lichkeit für all diejenigen, die zu Hause nicht mehr ver-
sorgt werden können, aber auch nicht in ein Heim wol-





Johannes Singhammer


(A) (C)



(D)(B)


len. Wir geben Pflegebedürftigen ein Stück mehr
Freiheit, indem jeder Pflegebedürftige 2 500 Euro als
Gründungszuschuss für eine ambulant betreute Wohn-
gruppe bekommt, in der er selbstständig Pflegekräfte
beschäftigen kann.

Wir sehen vor allem auch für die Pflegenden in der
Familie, die einen großartigen Dienst leisten, eine eigene
Regenerationsmöglichkeit vor. Das heißt, dass die Pfle-
genden auch einmal in Kur gehen können. Wer täglich
pflegt und dadurch stark beansprucht wird, braucht auch
einmal eine Auszeit für sich selbst. Er soll die pflegebe-
dürftigen Angehörigen aber mitnehmen können, wenn er
zur Kur fährt. Wir wissen, dass viele, die das Angebot
bekommen, eine Kur zu machen, in Sorge sind, was in
der Zeit mit den pflegebedürftigen Angehörigen
geschieht. Deshalb soll er sie mitnehmen können, natür-
lich nicht, um sie während der Kur zu pflegen, sondern
einfach, um sie in der Nähe zu wissen und den Kontakt
halten zu können. Das ist ein Stück mehr Menschlich-
keit, auf das viele schon lange gewartet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden auch im stationären Bereich etwas tun.
Wir haben 77 Millionen Euro vorgesehen, damit Men-
schen, die sich in einem Pflegeheim befinden, dort künf-
tig eine gute ärztliche und zahnärztliche Versorgung
garantiert bekommen. Wir haben mit dem Versorgungs-
strukturgesetz begonnen – 20 Millionen Euro für die
zahnärztliche Versorgung –, und setzen dies jetzt fort.
Das ist richtig; das macht Sinn.

Ich sage an dieser Stelle aber auch: Das Haus der
Pflege wird noch weitere Stockwerke benötigen.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Den Pflegebegriff!)


Ich denke zum Beispiel an die demografische
Reserve. Die demografische Entwicklung ist nichts Kli-
nisches, das wir im Reagenzglas beobachten können,
sondern etwas, das Deutschland in einer Weise umfor-
men wird, wie wir es uns, glaube ich, noch gar nicht vor-
stellen können. Ich sage an dieser Stelle auch: Alle
Zuwanderung der Welt wird das Problem nicht lösen,
wenn wir in unserem Land nicht wieder mehr Kinder
bekommen. Was werden wir tun? Wir wollen eine pri-
vate zusätzliche Vorsorge, für die steuerliche Erleichte-
rungen vorgesehen sind; zugleich brauchen wir für dieje-
nigen, für die steuerliche Erleichterungen nicht attraktiv
sind, einen Zuschuss. Wir brauchen beides. Wir wollen
diese beiden neuen Stockwerke synchron in das Gesetz-
gebungsverfahren einbringen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte noch einmal auf das Stockwerk „Pflege-
bedürftigkeitsbegriff“ eingehen.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist eigentlich das Fundament!)


Der Begriff der Pflegebedürftigkeit bedarf noch einer
Nachjustierung. Wenn wir die Gruppen der Pflege-
bedürftigkeit neu bewerten – 0 bzw. I bis V –, muss bei

2,3 Millionen schon jetzt Pflegebedürftigen – das ist
doch klar – vorher exakt festgelegt werden, wie wir das
gestalten. Wann beginnt die Begutachtung? Wie viele
Fachkräfte brauchen wir dazu? Mit welcher Gruppe
beginnen wir? Diese Fragen muss verantwortungsvolle
Politik vorher klären.


(Elke Ferner [SPD]: Lesen bildet, Herr Singhammer!)


Ich danke dem Kollegen Wolfgang Zöller, dass er die
schwierige Aufgabe übernommen hat, den Beirat weiter
zu begleiten, um bald zu einem Ergebnis zu kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir schieben das nicht auf die lange Bank. Die jetzige
Einstufung gerade der Demenzkranken ist die Stufe 0 in
dem neuen Katalog. Das heißt, das ist nicht weiße Salbe,
sondern wirksame Therapie. Der neue Pflegebedürftig-
keitsbegriff kommt nicht erst in Zukunft, sondern er
wird schon jetzt ein Stück weit umgesetzt und wird
damit zur Realität.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Kathrin Senger-Schäfer [DIE LINKE]: Darauf warten wir ja auch schon ziemlich lange! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Das stimmt überhaupt gar nicht!)


Lassen Sie mich zum Schluss einen weiteren wichtigen
Punkt ansprechen. Gute Pflege braucht vor allem Pflege-
fachkräfte. Pflegefachkräfte brauchen eine gerechte Ent-
lohnung, einen gerechten Gegenwert für ihre aufopfe-
rungsvolle Arbeit.


(Elke Ferner [SPD]: Ach, echt? Willkommen im Klub!)


Sie brauchen eine gute Qualifikation; auch das ist wich-
tig. Was wir aber nicht brauchen, ist eine verpflichtend
vorgeschriebene Akademisierung des Pflegeberufs mit
der Folge, dass jeder, der in der Pflege tätig sein will,
noch vor der Ausübung der Fachpflege eine Hochschul-
zugangsberechtigung nachweisen muss. Das brauchen
wir nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Wer will das denn hier?)


– Das will die EU, Frau Ferner. Wir kämpfen hoffentlich
gemeinsam dafür, dass das nicht Realität wird.

Was Pflegekräfte vor allem brauchen, ist ein großes,
weites Herz.


(Kathrin Senger-Schäfer [DIE LINKE]: Ach Gott!)


Das, was sie tun, ist praktizierte Nächstenliebe.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Und sie brauchen Geld!)


Deshalb, Herr Kollege Lauterbach, ist es wichtig, in
einer solchen Debatte all denjenigen, die beruflich oder
ehrenamtlich in ihrer Familie jemanden pflegen, ein
herzliches Dankeschön zu sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Johannes Singhammer


(A) (C)



(D)(B)


Sie verdienen dafür große Anerkennung und großen
Respekt. Herzlichen Dank all denen, die diese wunder-
bare Nächstenliebe jeden Tag praktizieren!

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717501000

Nächste Rednerin ist die Kollegin Senger-Schäfer für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717501100

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Gute Pflege ist ein Menschenrecht. Für die
Linke steht fest: Eine diskriminierungsfreie, menschen-
würdige Pflege ist für alle Menschen zu sichern.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Haus der Pflege – Sie bemühten diesen Begriff vor-
hin so trefflich – ist morsch und droht einzustürzen. Die
Angehörigen und die zu Pflegenden drohen unter den
Trümmern begraben zu werden. Das ist die Wahrheit.
Das ist das, was Sie mit Ihrem Gesetz anrichten.


(Beifall bei der LINKEN)


Eine tatsächliche Neuausrichtung der Pflegeversiche-
rung ist längst überfällig. Alle unmittelbar Betroffenen,
also die Angehörigen und die Beschäftigten der Pflege-
berufe, müssen Berücksichtigung finden. Niemand darf
Nachteile erleiden. Die Politik hat die Rahmenbedingun-
gen für eine Neuausrichtung der Pflegeversicherung zu
setzen, ohne Wenn und Aber.


(Beifall bei der LINKEN)


Seit Jahren besteht Konsens, dass es dringenden
Handlungsbedarf gibt; das haben, wie ich glaube, mitt-
lerweile alle begriffen. Trotzdem ist der große Wurf bis-
her nicht gelungen. Die gesetzgeberischen Maßnahmen
der vergangenen Jahre ändern nichts an der Tatsache,
dass es nach wie vor gravierende Missstände gibt. Wir
haben ja schon öfter vom dritten Pflegebericht des Medi-
zinischen Dienstes gehört, dem zu entnehmen ist, dass
bei sagenhaften 40,7 Prozent der Pflegebedürftigen, bei
denen das Risiko des Wundliegens besteht, Versäum-
nisse bei der Vorbeugung festgestellt wurden. Das ist ein
Skandal.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Weil aufgrund von zu wenig Pflegepersonal gerade
bei Menschen mit Demenz zu wenig Zeit für die Betreu-
ung vorhanden ist, bleibt oft nichts anderes übrig, als
diese Menschen mit Medikamenten ruhigzustellen. Das
ist medikamentöse Freiheitsberaubung.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Klartext gesprochen: Pflegenotstand, Fachkräfte-
mangel und Unterfinanzierung gipfeln in unhaltbaren
Zuständen. Diese Zustände schreien geradezu nach Ver-
änderung und nicht nach Beschönigung. Wir brauchen

Strukturen, welche die bedarfsgerechte Versorgung von
älteren Menschen und jüngeren pflegebedürftigen Men-
schen sicherstellen und gleichzeitig vor Armutsrisiken,
Überforderung und Überlastung des Umfeldes schützen.

Eines steht für die Linksfraktion fest: Um dem Men-
schenrecht auf gute Pflege gerecht zu werden, sind
Selbstbestimmung und Teilhabe zu ermöglichen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Minutenpflege muss beendet und eine neue Bedarfs-
ermittlung geschaffen werden. Dafür steht der neue Pfle-
gebegriff. Auch wenn es immer wieder anders darge-
stellt wurde: Dieser liegt nun – man kann es kaum
glauben – seit gut drei Jahren vor. Obwohl es zu Beginn
des Jahres 2011 ein großspuriges Bekenntnis zum Jahr
der Pflege aus dem Munde von Herrn Rösler gab, schafft
es Herr Minister Bahr bis heute nicht, eine politische
Entscheidung zur Umsetzung des neuen Pflegebegriffs
zu fällen.


(Beifall der Abg. Agnes Alpers [DIE LINKE])


In der Systematik bleibt im Grunde alles, wie es ist – es
werden nur Stockwerke aufgebaut, wie wir gehört ha-
ben –, auch wenn behauptet wird, dass ein paar Hundert
Euro ein Vorgriff auf den neuen Pflegebegriff seien.
Wäre dem so, dann wäre es doch auch möglich gewesen,
sich mit einem neuen finanziellen Rahmen auf die
Umsetzung des neuen Pflegebegriffs festzulegen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Elke Ferner [SPD])


Aber eine Entscheidung im Rahmen des Pflege-Neuaus-
richtungs-Gesetzes scheut der Herr Minister wie der
Neoliberalismus das Urteil von Ratingagenturen. Ich
sage: Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz der schwarz-
gelben Bundesregierung verdient schlicht seinen Namen
nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Bei allem Respekt vor den Verbesserungen, die die
Pflegeversicherung mit sich gebracht hat:


(Daniel Bahr, Bundesminister: Aha!)


Der Geburtsfehler der Pflegeversicherung liegt ja
gerade darin begründet, dass Menschen mit Demenz von
Anfang an ausgeklammert wurden, da sich der Fokus
allein auf den somatischen Bereich gerichtet hat, und
zwar – das ist der eigentliche Skandal – aus Kostengrün-
den. Das Gebot der Stunde ist ein fundamentaler Wan-
del. Die Zeit der Flickschusterei muss in der Pflege ein
für allemal vorbei sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Dafür setzt sich die Linke mit dem heute vorliegen-
den Antrag „Pflege tatsächlich neu ausrichten – Ein
Leben in Würde ermöglichen“ ein. Ich kann es nicht oft
genug betonen: Es gilt, endlich den neuen Pflegebegriff
umzusetzen. Dafür gibt es gute Gründe: Der derzeitige
Pflegebegriff ist pflegewissenschaftlich nicht mehr ver-
tretbar, und der veraltete Pflegebegriff ist schlicht unge-
recht.





Kathrin Senger-Schäfer


(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte Ihnen auch sagen, warum: Wenn ein
Mensch aufgrund eines Schlaganfalls körperlich nicht
mehr in der Lage ist, sich selbst zu waschen, dann gilt er
als Pflegefall. Aber die Situation, dass beispielsweise
meine Nachbarin aufgrund ihrer Demenz hilflos und ver-
wirrt mitten in Berlin auf einer Straßenkreuzung steht
und nicht mehr weiß, wie sie wieder nach Hause kommt,
ist unter Umständen lebensgefährlich, wird allerdings
bis heute in der Pflegeversicherung nicht ausreichend
berücksichtigt. Genau das müssen wir ändern.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Wird doch gemacht!)


Unfähigkeit oder aber eine bloße Hinhaltetaktik hilft den
Betroffenen nicht.

Noch ein Wort zur Finanzierung: Über Monate hin-
weg eierte die Koalition in Sachen verpflichtende kapi-
talgedeckte Pflegezusatzversicherung herum, weil das
FDP-geführte Gesundheitsministerium offenbar ein Pro-
blem hat: Einerseits soll die Versicherungsindustrie ihr
liberales Zubrot bekommen, andererseits scheint der
Koalitionspartner, hier insbesondere der bayerische
Ableger, zu ahnen, dass ein solch ungerechtes, unsozia-
les und zudem unsicheres Finanzierungsmodell bei den
Menschen nicht ankommt.

Anstatt die Finanzierung endlich auf eine solide und
gerechte Grundlage zu stellen und das nicht mehr zeitge-
mäße und ungerechte Nebeneinander von sozialer und
privater Pflegeversicherung zu beenden, fällt Ihnen
nichts Besseres als eine Beitragserhöhung und eine Aus-
sicht auf eine Riester-Rente ein.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Versicherung!)


Über Riester-Renten haben wir in der Vergangenheit ja
genug gehört. Es bleibt zu befürchten, dass diese Riester-
Pflege am Ende doch nur die Versicherungswirtschaft
pflegt.


(Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das hilft den Pflegebedürftigen sehr!)


Auch für die Beschäftigten in den Pflegeberufen sind
keine Verbesserungen in Aussicht gestellt. Vielmehr
wird mit der Aushebelung der ortsüblichen Vergütung
dem Lohndumping auch noch Vorschub geleistet. Das
bringt für mich das Fass zum Überlaufen. Besinnen Sie
sich doch auf das, was uns die Menschenwürde vorgibt,
und orientieren Sie sich am heute vorliegenden Antrag
der Linken! Richten Sie die Pflege tatsächlich an den
Bedürfnissen der Menschen aus!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717501200

Die Kollegin Aschenberg-Dugnus ist die nächste

Rednerin für die FDP-Fraktion.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eigentlich bin ich jetzt dran!)


– Entschuldigung. Das können wir ohne Kollision recht-
zeitig korrigieren. – Frau Kollegin Künast, bitte schön,
Sie haben das Wort.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717501300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Minister Bahr, Sie haben in Ihrer Rede behauptet, der
Gesetzentwurf enthalte tatsächlich eine Pflegeneuaus-
richtung. Aber wenn wir in den Entwurf hineinschauen,
stellen wir fest: Ihre Rede war nichts anderes als viel
Schönrederei, Herr Bahr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Was?)


Die Schönrederei ist durch Sie, Herr Singhammer,
noch getoppt worden,


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sie haben nicht zugehört!)


als Sie vorhin sagten: Pflegekräfte brauchen ein großes
Herz, und wir danken ihnen.


(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Das war auch richtig!)


Tausende von Pflegekräften in diesem Land leisten in
ihrem miserabel bezahlten Job Schwerstarbeit, zum Bei-
spiel in Pflegeheimen. Sie stehen jetzt da, schauen auf
ihre Hand und denken: Diese Koalition hat nicht mehr
als einen lauwarmen Händedruck für mich übrig. – Das,
Herr Singhammer, ist nicht in Ordnung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Zu Ihrer Zeit haben sie wohl mehr Gehalt bekommen, oder?)


– Das ist nicht in Ordnung.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Bei Rot-Grün haben sie mehr Gehalt bekommen?)


Wer öfter in Heimen ist, weiß, wie sich Pflegekräfte
aufreiben.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Können Sie mir sagen, was sie verdienen?)


– Dazu komme ich gleich. – Die Pflegekräfte lernen in
ihrer Ausbildung, dass der Mensch körperliche Pflege,
die Zuführung von Nahrungsmitteln und Flüssigkeit
braucht, dass aber zu seiner Existenz eben auch soziale
Zuwendung und Nähe gehören. Die Pflegekräfte in
Deutschland haben dafür so gut wie überhaupt keine
Zeit. Wegen solcher Defizite können Menschen sterben.

Weil der Job so schwer ist und so schlecht bezahlt
wird und weil es auch psychisch schwer ist, all dieses
Leid und die Sorgen zu sehen, ist die Wahrheit: In
Deutschland gibt es längst Altersheime, bei denen die
Aufsicht sagen muss: Wir schließen bei euch Stationen,
weil ihr kein ausreichendes Personal mehr habt. – Sie,
Herr Singhammer und Herr Bahr, reagieren aber nur mit
einem warmen Händedruck. Denn Ihr Pflege-Neuaus-





Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)


richtungs-Gesetz richtet nichts neu aus und löst diese
Probleme nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Schauen Sie sich die Situation einmal an: Wir haben ei-
nen demografischen und einen sozialen Wandel. Wir wis-
sen, dass der Wandel in den Familienstrukturen – weniger
Großfamilien, verschiedene Generationen leben an ver-
schiedenen Orten – und der Wandel der Krankheitsbilder
im Ergebnis eine wirkliche Neuausrichtung erfordern,
wenn wir mit alten Menschen solidarisch umgehen wol-
len.

Es ist gerade von meiner Vorrednerin gefragt worden:
Was ist denn in Heimen los? Selbst der Medizinische
Dienst hat festgestellt, wie oft durch nicht ausreichende
Behandlung ein Wundliegen, ein Dekubitus, zustande
kommt. Jeder, der das einmal bei einem Menschen erlebt
hat, weiß: Das geht oftmals nicht mehr weg, wenn man
einmal bettlägerig ist. Das verschlechtert den Allge-
meinzustand und schränkt die Möglichkeiten der Men-
schen immer weiter ein bis hin zu dem Punkt, dass die
Menschen allein in ihren Zimmern oder auf den Fluren
ohne Zuwendung sitzen und sich stundenlang niemand
mit ihnen beschäftigt. Für all das bräuchte man eine
wirkliche Qualitätsoffensive in der Pflege. Das haben
Sie nicht einmal ernsthaft angepackt, Herr Bahr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Sie werden – das gebe ich zu – die Situation der
Demenzkranken ein klein wenig verbessern. Aber das ist
auch nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.
Ihre geplante Beitragssatzerhöhung ist auch kein finan-
zielles Konzept, um die Pflege zukunftsfest zu machen.
Sie hätten den Mut haben müssen, zu sagen: Jetzt gehen
wir einen großen Schritt. – Der hätte die Reform des
Pflegebedürftigkeitsbegriffes sein müssen. Der Beirat
hat Bedarfsstufen entwickelt. Warum sind sie in diesem
Gesetzentwurf nicht enthalten? Das ist doch die Frage.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Weil die Umsetzung noch nicht praktizierbar ist!)


– Es ist klar, dass das nicht so einfach geht. Lassen Sie
mich aber einschieben: Dass diese Koalition schwierige
Probleme nicht lösen kann, davon war ich sowieso über-
zeugt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das können Sie weder bei den Kindern noch bei den al-
ten Menschen, weil es immer nur um Machterhalt geht.
Wenn es so schwer ist – drei Jahre sind eigentlich eine
lange Zeit –, dann sagen Sie doch einfach, dass Sie einen
Monat länger brauchen. Aber machen Sie es richtig!


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Nach unseren Vorstellungen!)


Sie reparieren nur an dieser Geschichte herum.

Wenn wir den Pflegebedürftigkeitsbegriff nicht refor-
mieren und nicht konkret sagen, welche Leistungen man
bei welchen Krankheiten bekommt, dann werden wir der
heutigen Situation nicht gerecht. Nehmen wir die De-
menzkranken; wir könnten auch jemanden nehmen, der
einen Schlaganfall hatte. Wenn Sie nur messen wollen,
ob jemand rein physisch in der Lage ist, die Hand in den
Waschlappen zu stecken und sich zu waschen, dann ha-
ben Sie nicht zur Kenntnis genommen, dass Personen,
die dement sind oder einen Schlaganfall hatten, schlicht
und einfach vergessen, welche Funktion ein Waschlap-
pen hat und was sie damit machen wollten. Es entspricht
aber nicht unserer Vorstellung von einem Alter in
Würde, dass man die Menschen mit diesen Problemen
alleinlässt. Sich zu waschen, für Sauberkeit zu sorgen,
sich anzuziehen, ausgehen zu können und Kontakte zu
haben, all das gehört halt dazu. Sie kümmern sich aber
darum nicht.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Natürlich!)


– Nein, Sie kümmern sich darum nicht wirklich. Sie
müssten dann tatsächlich den Pflegebedürftigkeitsbegriff
ändern.

Auch was Sie über pflegende Angehörige gesagt ha-
ben, war nichts anderes als Schönrederei.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Alles weiße Salbe!)


In Wahrheit ändern sich ein paar Begriffe, aber es ändert
sich nichts Wesentliches für pflegende Angehörige.


(Elke Ferner [SPD]: So ist es!)


Das betrifft insbesondere die Frauen. Die Frauen über-
nehmen die Pflege. Sie werden aber durch Ihre finanziel-
len Regelungen nicht sozial abgesichert, kommen nach
Jahren nicht wieder in ihre Jobs hinein und geraten
direkt in die Altersarmut. Das ist nicht in Ordnung. Das
ist keine Neuausrichtung der Pflege.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ein letzter Gedanke, meine Damen und Herren: Ich
habe dem neuesten Stern entnommen, wie sehr Frau von
der Leyen jetzt wieder kämpft – da müssen Sie sich weh-
ren –, weil eine Frau, die in irgendeinem Kaufhaus arbei-
tet, einen schlechten Arbeitsvertrag hat. Vielleicht kön-
nen wir eines Tages einen Artikel schreiben, in dem
steht: Gegen Sie, Frau von der Leyen und Herr Bahr,
müssen sich die Pflegekräfte wehren. Denn Sie lassen
die Pflegekräfte, viele davon aus Osteuropa, mit
800 Euro im Monat nach Hause gehen. Sie machen Vor-
schläge, damit mehr Ärzte ins Altersheim kommen, und
geben denen dann noch eine Extravergütung. Das ist
anscheinend nötig. Aber in der Pflege, in der im Wesent-
lichen Frauen arbeiten, reduzieren Sie die Löhne noch,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was verdienen sie denn? – Lars Lindemann [FDP]: Sie haben keine Ahnung! Das ist alles!)






Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)


weil Sie die Zulassung von Heimen nicht mehr von der
Bezahlung des ortsüblichen Lohns abhängig machen. So
geht keine gute Pflege.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben immer noch nicht gesagt, was sie verdienen!)


Wir glauben, dass man zwei Punkte angehen muss.
Erstens muss der Pflegebedürftigkeitsbegriff reformiert
werden, damit auch die psychischen Gegebenheiten mit-
berücksichtigt werden.


(Lars Lindemann [FDP]: Das war erfrischend kenntnisfrei!)


Zweitens brauchen wir – das ist die einzig sinnvolle
Lösung – eine Bürgerversicherung.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717501400

Frau Kollegin.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717501500

Nur mit einer Bürgerversicherung in der Pflege kön-

nen Sie den zukünftigen Kostensteigerungen entgegen-
wirken und für eine würdevolle Pflege in Deutschland
sorgen.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist ja noch schlimmer als im Berliner Wahlkampf! Mein Gott!)


Aber da trauen Sie sich nicht heran.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717501600

Nun erhält tatsächlich die Kollegin Aschenberg-

Dugnus das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1717501700

Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich würde jetzt gerne zu einer seriösen
Sachdebatte zurückkommen. Ich denke, das können wir
gut gebrauchen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und der LINKEN)


Die Menschen, die uns zuhören, haben einen
Anspruch darauf, dass wir die Herausforderungen des
demografischen Wandels in der Pflegeversicherung an-
nehmen. Denn dafür haben uns die Menschen gewählt.
Wir müssen deshalb die Pflegeversicherung zukunftsfest
machen und dafür Sorge tragen, dass alle Menschen in
diesem Lande auch weiterhin würdevoll alt werden kön-
nen.

Eine Neudefinition der Pflegebedürftigkeit – darin
sind wir uns alle in diesem Hause einig – ist deshalb ge-
rade im Hinblick auf Demenzerkrankungen absolut not-
wendig. Daran arbeiten wir bereits intensiv. Denn die
Demenzkranken haben unter den Vorgängerregierungen
schon lange genug gewartet.

Wir schaffen mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz
schon vorab, also vor der umfangreichen Neudefinition,
ganz konkrete Verbesserungen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zwei Kernelemente des eingebrachten Gesetzentwurfs
sind: zum einen Leistungsverbesserungen für Demenz-
kranke und ihre Familien und zum anderen die immer
angemahnte Flexibilisierung der Leistungsinanspruch-
nahme. Sie müssen den Gesetzentwurf nur lesen.

Im Vorgriff auf eine Neudefinition der Pflegebedürf-
tigkeit wird es nun erstmals richtige Leistungen aus der
Pflegeversicherung für Demenzkranke geben. Heute er-
halten Menschen, die an Demenz erkrankt sind, lediglich
100 oder 200 Euro für niedrigschwellige Angebote. Wir
sorgen jetzt dafür, dass bereits in der Pflegestufe 0 Leis-
tungen zur Verfügung stehen. Das heißt konkret, statt
null Euro wie bisher gibt es in der Pflegestufe 0 nun
225 Euro im Monat für Sachleistungen und 120 Euro
Betreuungsgeld. Auch in den folgenden Pflegestufen
wird es mehr Geld geben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das sind zusätzliche Leistungen, die den Demenz-
erkrankten ab dem 1. Januar 2013 zur Verfügung stehen.
Das können Sie nicht schlechtreden.

Ein weiterer Punkt sind die starren Pflegekomplexe.
Diese wollen wir durch eine Flexibilisierung des Leis-
tungsrechts weiter verbessern. Das ist dringend notwen-
dig; denn das hilft insbesondere den Demenzkranken,
die nicht unbedingt klassische hauswirtschaftliche oder
pflegerische Leistungen benötigen, sondern ganz indivi-
duell betreut werden müssen. Das entlastet übrigens
auch die pflegenden Angehörigen, die wirklich eine
unglaublich schwierige, anerkennenswerte und verant-
wortungsvolle Tätigkeit ausüben.

Was wir nicht wollen, sind starre, festgelegte und un-
flexible Angebotsstrukturen; denn solche Strukturen hel-
fen niemandem vor Ort. Wir wollen die Eigenständig-
keit, die Entscheidungsfreiheit und die Berücksichtigung
individueller Bedürfnisse stärken. Was höre ich da von
der Frau Kollegin Reimann? Ich zitiere: Das ist ein typi-
scher FDP-Ansatz. Die Betroffenen bekommen mehr
Geld und müssen sich dann selbst kümmern. – Meine
Güte! Natürlich ist das der richtige Ansatz. Es darf aber
nicht heißen „Sie müssen sich dann selbst kümmern“,
sondern es muss heißen „Sie dürfen sich endlich selbst
darum kümmern“. Das entspricht genau dem, was die
Menschen vor Ort brauchen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Menschen wollen für sich bzw. für ihre Angehöri-
gen aus verschiedenen Alternativen selbst aussuchen
können und nicht vor vollendete Tatsachen gestellt wer-
den. Sie wollen mehr Wahlmöglichkeiten. Sie wollen
mehr Eigenverantwortung und ein selbstbestimmtes
Leben, auch wenn die Alltagskompetenz eingeschränkt
ist. Was sie nicht wollen, ist, dass ihnen von Politikern
vorgeschrieben wird, wie die Pflege aussehen soll.





Christine Aschenberg-Dugnus


(A) (C)



(D)(B)


Deshalb enthält unser Gesetz eine Verbesserung der
frühzeitigen Beratung der Versicherten – das ist das, was
die Menschen brauchen –


(Beifall bei der FDP)


und des Weiteren eine Verbesserung der Beteiligung der
Betroffenen sowie eine finanzielle Förderung der Selbst-
hilfe.

Ich komme jetzt zu einem Punkt, der mir persönlich
sehr am Herzen liegt. Das sind die alternativen Wohnfor-
men. Diese Wohnformen – zum Beispiel Pflege-WG –
werden nun durch unser neues Gesetz spürbar gestärkt.
Wir waren erst in der letzten Woche in der Pflege-WG
„habitas“ im schleswig-holsteinischen Hammoor, und
ich sage Ihnen: Was wir dort gesehen haben, ist wirklich
beeindruckend; denn was dort angeboten wird, ent-
spricht genau den individuellen Wünschen und Bedürf-
nissen der Pflegebedürftigen. Dort finden Menschen mit
unterschiedlichen Einschränkungen zueinander und or-
ganisieren sich einen schönen und wirklich würdevollen
Lebensherbst.

Man kann beispielsweise als Demenzkranker mit
Pflegestufe 0 dort einziehen und auch dort bleiben, wenn
man irgendwann Pflegestufe 3 erhält. Die Bewohner
müssen dann nicht in eine andere Einrichtung umziehen,
sondern können bis zu ihrem Lebensabend dort bleiben,
wo sie sich in der Gemeinschaft wohlfühlen. Die Men-
schen fühlen sich dort auch deshalb so wohl, weil beson-
ders die Mitarbeiter hervorragende Arbeit leisten. Sie
nehmen nämlich die Demenzkranken so an, wie sie sind.
Es gibt zum Beispiel keine festen Frühstückszeiten.
Vielmehr wird auf den individuellen Lebensrhythmus
der Mieter – so werden die Menschen dort genannt – ein-
gegangen. Das ist einfach toll, und das muss man hier
auch einmal sagen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt viele gute Beispiele für unterschiedliche
Pflege vor Ort. Ich kann allen Kollegen nur raten, sich
einmal umzuschauen. Ein weiteres Beispiel ist die
„Pflege LebensNah“ in Rendsburg. Dort werden nicht
nur Pflegebedürftige betreut. In einem angeschlossenen
Café kümmern sich die Mitarbeiter aufopferungsvoll
auch um das Thema Demenz. Es ist besonders wichtig,
dass die Angehörigen im Umgang mit Demenzerkrank-
ten geschult werden, beraten werden und Hilfestellung
erhalten. Das ist ganz besonders wichtig.

Mit der Stärkung neuer Wohnformen greifen wir ge-
nau das auf, was den tatsächlichen Bedürfnissen der
Menschen entspricht.

Niemand soll behaupten: Mit der Reform X oder Y
machen wir das Leben eines schwerstpflegebedüftigen
Menschen wieder so unbeschwert wie das eines 20-Jäh-
rigen. Darum geht es auch nicht. Es geht bei der Organi-
sation des Lebensherbstes darum, das Leben so ange-
nehm, so erträglich und so würdevoll wie möglich zu
gestalten, für die Pflegebedürftigen und für die Angehö-
rigen. Genau das ermöglicht unser Pflege-Neuausrich-
tungs-Gesetz.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717501800

Nächste Rednerin ist die Kollegin Hilde Mattheis für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1717501900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Was erleben wir heute hier in diesem Hohen Hause? Das
ist ein typisches FDP-Muster: Es wird zwei Jahre immer
wieder groß angekündigt, und dann wird etwas vorge-
legt, was milde mit dem Wort Flickschusterei bezeichnet
werden kann. Es geht um ein Pflege-Neuausrichtungs-
Gesetz, das diesen Namen nicht verdient.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zwei Jahre hat die FDP damit zugebracht, immer wieder
zu vertrösten und immer wieder auf ein Gesamtkonzept
zu verweisen. Jetzt liegt ein Flickenteppich vor. Einzelne
Facetten von dem, was uns die Fachwelt immer wieder
gesagt hat, sind zwar aufgegriffen worden,


(Zurufe von der FDP: Aha!)


aber ein Gesamtkonzept ist nicht zu erkennen.

Das FDP-geführte Ministerium hat angekündigt,
1 Milliarde Euro ausgeben zu wollen, und gefragt, was
dafür zu bekommen sei. Dann wurde gesagt, es solle
etwas für Menschen mit Demenz und etwas für Angehö-
rige getan werden, und vielleicht solle eine Unterstüt-
zung für alternative Wohnformen gegeben werden. Sie
haben versucht, die 1 Milliarde Euro irgendwie auf diese
Bereiche zu verteilen. Das aber hat nichts mit den wirkli-
chen Herausforderungen im Bereich der Pflege zu tun.
Sie, Herr Zöller, wissen genau, dass der Fachbeirat, der
schon vor drei Jahren einen Bericht vorgelegt und Um-
setzungsvorschläge gemacht hat, uns und den Akteuren
im Bereich der Pflege fachlich fundierte Hinweise gege-
ben hat.

Was aber macht diese Regierung? Sie verschiebt per-
manent die Umsetzung. Sie besitzt auch noch die Unver-
frorenheit, zu sagen: Wir greifen alles auf und sorgen für
die größten Verbesserungen für Menschen mit Demenz. –
Dabei wissen Sie, Herr Bahr – da verkaufen Sie sich
wirklich unter Wert; das sollten Sie nicht tun –, dass mit
dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz von CDU/CSU
und vor allen Dingen SPD schon längst die richtigen
Weichen für Verbesserungen für Menschen mit Demenz
gestellt wurden.


(Elke Ferner [SPD]: So ist das!)


Menschen, die Hilfe brauchen, nur mit Mantras abzu-
speisen, kann man nicht als seriös bezeichnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will anhand einiger Punkte – Herr Kollege
Lauterbach hat das freundlicherweise angekündigt – auf
unser Konzept eingehen.





Hilde Mattheis


(A) (C)



(D)(B)


Erstens. Wir haben uns längst zu Anfang dieser
Legislaturperiode auf den Weg gemacht. Wir fordern
vehement, dass eine fundamentale Reform des Pflege-
bedürftigkeitsbegriffs erfolgen muss. Die Einsetzung ei-
nes zweiten Fachbeirats, die Sie damit begründen, dass
eine fachlich fundierte Arbeit vorgelegt werden soll, ist
ein Schlag ins Gesicht aller, die sich im ersten Fachbeirat
massiv engagiert haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Jetzt sollen all diese Menschen, die einen guten Bericht
abgegeben und die das Fundament für eine neue Aus-
richtung gelegt haben,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber keine Umsetzung vorgeschlagen haben!)


sich noch einmal zusammensetzen


(Heinz Lanfermann [FDP]: Die sitzen zusammen!)


und all das, was sie bereits gesagt haben, noch einmal
formulieren – und das nur, weil Herr Zöller auf einmal
der Vorsitzende ist. Das geht nicht. Vielmehr muss der
Pflegebedürftigkeitsbegriff jetzt reformiert werden; denn
Menschen, die pflegebedürftig sind, haben einen
Anspruch auf Selbstbestimmung und Teilhabe. Das ist
unser vordringliches Ziel: Selbstbestimmung und Teil-
habe.


(Beifall bei der SPD)


Zweitens. Wir wollen die Unterstützung von Pflege-
personen. Sie sagen zu Recht, dass Angehörige eine her-
vorragende Arbeit leisten. Wenn wir diese Angehörigen-
arbeit in unserem System nicht hätten, sähe es ganz
schlecht aus; wirklich wahr. Aber die Angehörigen brau-
chen auch wirkliche Unterstützung: mehr Unterstützung
durch Kurzzeit- und Verhinderungspflege, Verbesserun-
gen bei der Reha, aber auch Lohnersatzleistungen für die
Pflegezeit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wo ist denn dieser Vorschlag? Den vermisse ich bei
Ihnen. Wer kann sich denn die Freistellung leisten? Die
Verkäuferin? Nein! Wir wollen, dass die Pflegezeit, die-
ses halbe Jahr – 1 000 Stunden für die Pflege –, nicht nur
flexibler genommen werden kann, sondern auch mit
Lohnersatzleistungen unterlegt wird.

Drittens. Das ist, glaube ich, etwas, das Sie sich tat-
sächlich noch einmal überlegen sollten. Sich hier hinzu-
stellen und zu sagen: „Auch Fachpflegekräfte sind ein
wichtiges Potenzial“, alles Mögliche dazu auszuführen,
wie groß etwa der Dank der Gesellschaft für diese
Berufsgruppe sei, und dann den ortsüblichen Tarif ein-
fach mal wegzurasieren


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Haben Sie das Gesetz gelesen?)


und das dann zu begründen mit – man höre und staune! –
Bürokratieabbau, das ist nicht nur schräg; das ist
zynisch. Was diese Pflegefachkräfte brauchen, sind eine

ordentliche Bezahlung und eine ordentliche ganzheit-
liche Ausbildung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Deswegen fordern wir eine generalistische Ausbildung,
Gebührenfreiheit für die Ausbildung und vor allen Din-
gen auch gute Bezahlung.

Wenn Sie nicht mit dieser Botschaft in die Debatte
hineingehen, dann – das kann ich Ihnen sagen – wird
Ihnen alles das nicht gelingen, was Sie vielleicht versu-
chen, etwa Arbeitskräfte aus dem europäischen Ausland
hierherzuholen. Wir brauchen viele Bausteine, um die
Akzeptanz für die Pflegeberufe zu erhöhen, und gute
Bezahlung ist ein solcher Baustein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Genauso zynisch finde ich die Unterstützung für
Wohngruppen. Soll das ein Wettbewerb um diese
30 Millionen Euro werden? Soll sich eine an Demenz
erkrankte Witwe, Pflegestufe I, auf die Wettbewerbs-
straße begeben und für diese 2 500 Euro Schlange ste-
hen?


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wie denn? – Jens Spahn [CDU/CSU]: Kann da mal jemand reden, der Ahnung hat?)


Sie wollen dafür 30 Millionen Euro ausgeben und ver-
künden das als den großen Wurf. Dabei ist diese Ent-
wicklung „Unterstützung alternativer Wohnformen“
etwas, das wir schon längst auf den Weg gebracht haben.
Die Unterstützung muss ausgebaut werden – ja, richtig –,


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Aha! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau das machen wir ja! – Heinz Lanfermann [FDP]: Was denn nun?)


aber nicht mit einem Wettbewerb der Pflegebedürftigen
untereinander, sondern verstetigt, ordentlich organisiert
und mit einer Beratungsstruktur,


(Lars Lindemann [FDP]: Geben Sie sich doch mal Mühe!)


die sich nicht nur auf die §§ 7 und 7 a SGB XI, sondern
auch auf die Pflegestützpunkte bezieht.


(Beifall bei der SPD)


Pflegestützpunkte – das ist mein letzter Punkt – kom-
men bei Ihnen mit keinem Wort vor. Dabei haben sie
sich dort, wo sie etabliert und gut gemacht sind – ich
nenne da nur Rheinland-Pfalz –, wirklich bewährt; denn
so kann man Menschen weit im Vorfeld von Pflegebe-
dürftigkeit erreichen. Die Antwort, die Sie am 16. April
auf eine Kleine Anfrage von uns gegeben haben, spricht
da Bände. Sie bestätigen: Wichtig ist ein Case Manage-
ment. Auf die Frage 26, in der es darum geht, ob Sie die
Pflegestützpunkte ausbauen, antworten Sie: Nein. – Das
haben Sie also nicht vor. Interessant, kann ich da nur
sagen.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717502000

Frau Kollegin.


Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1717502100

Das, was Sie hier vorgelegt haben, sind Versatzstü-

cke. Herr Bahr, ich erwarte mehr von Ihnen; denn das ist
nicht ein kleines x-beliebiges Reförmchen; das ist die
Pflegereform, und da geht es um Menschen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Martina Bunge [DIE LINKE] und Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717502200

Das Wort erhält nun der Kollege Jens Spahn für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1717502300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nachdem der Kollege Lauterbach und dann noch einmal
die Frau Kollegin Mattheis angekündigt haben, sie wür-
den das Konzept der SPD vorstellen, warte ich immer
noch darauf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie haben sich an irgendwelchen Kampfbegriffen ab-
gearbeitet, aber von Ihrem Konzept haben wir, bis jetzt
wenigstens, noch kein Wort gehört, und das ist schade.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein, das ist gut so! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sind Sie später gekommen?)


Das ist deswegen schade, weil die Pflege im Grunde das
große gesellschaftspolitische Thema dieses Landes ist,


(Hilde Mattheis [SPD]: Dann nehmen Sie sie an! – Elke Ferner [SPD]: Sie vertagen sie gerade!)


und zwar für jeden Einzelnen in den Familien wie auch
für uns als Gesellschaft insgesamt.

Nicht jeder hat Kinder; aber jeder hat Eltern, und
jeder wird sich mit Sicherheit im Laufe seines Lebens
intensiv in der eigenen Familie mit dieser Frage aus-
einandersetzen müssen. Das ist eine Frage, die auch viel
mit Emotionen zu tun hat, mit gegenseitigen Erwartun-
gen von Kindern und Eltern, ohne Zweifel auch mit Ent-
täuschungen und Frustrationen. Dabei handelt es sich
um eine Debatte, die schwer zu führen ist. Auch der
Gedanke, dem eigenen Vater Windeln anlegen oder die
eigene Mutter füttern zu müssen, und aus Sicht der
Eltern der Gedanke der eigenen Unzulänglichkeit, Dinge
nicht mehr tun zu können, vielleicht aufgrund von
Demenz die eigene Familie nicht mehr erkennen zu kön-
nen, das alles ist schwierig. Das ist schwierig für jede
einzelne Familie und für jeden einzelnen Betroffenen.

Genauso schwierig, wie es für den Einzelnen und für
jede Familie ist, ist es natürlich für uns insgesamt in der

Gesellschaft, diese Debatte zu führen. Wir können uns
gerne immer wieder über einzelne Euro-Beträge aus-
einandersetzen. Das müssen wir auch; das gehört dazu.
Ein bisschen mehr zur gesellschaftspolitischen Dimen-
sion dieser Debatte, etwas mehr Grundsätzliches hätte
ich mir in dieser Diskussion aber auch gewünscht. Bei
dem, was Sie bisher hierzu vorgetragen haben, hat das
leider kaum eine Rolle gespielt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das haben wir doch gemacht!)


Lassen Sie mich dazu Folgendes feststellen – es
wurde vorhin in diesem Zusammenhang das Wort
„Schönrederei“ benutzt –: Wissen Sie, ich habe großen
Respekt – –


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wir alle haben das!)


– Ja, aber dann bezeichnen Sie es nicht so. Frau Kollegin
Künast hat es gerade Schönrederei genannt. – Ich habe
großen Respekt vor jedem, der einen Angehörigen
pflegt, vor jedem, der ehrenamtlich in diesem Bereich
tätig ist und sich dort einbringt,


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wir wollen Gesetze!)


und auch vor jeder Pflegekraft in einer Einrichtung, die
ohne Zweifel einen sehr harten Job leistet. Davor habe
ich großen Respekt.

Sie haben vorhin viel über Schande geredet, Herr
Kollege Lauterbach. Diese Menschen haben es einfach
nicht verdient, dass mit Pauschalverdächtigungen, wie
Sie sie hier geäußert haben, hantiert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die eigentliche Schande ist, wie Sie hier geredet haben.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ich habe den Bericht vorgetragen, die wissenschaftlichen Ergebnisse!)


– Es ist gut, dass Sie den Bericht über die Qualität insbe-
sondere in den Pflegeeinrichtungen ansprechen, der in
dieser Woche diskutiert worden ist.

Um eines vorneweg klarzustellen: Es gibt schwarze
Schafe. Da muss hart durchgegriffen werden. Jeder Fall
von ungerechtfertigtem Freiheitsentzug, schlechter,
mangelnder Ernährung oder zu wenig Trinken ist einer
zu viel. Darüber brauchen wir nicht lange miteinander zu
diskutieren.

Ich würde mir übrigens manchmal wünschen, dass die
Behörden vor Ort dann auch durchgreifen.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie regieren doch!)


– Das ist keine Frage von Gesetzen, sondern eine Frage
der Umsetzung von Gesetzen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Die reichen nicht aus! – Weitere Zurufe von der SPD)






Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)


manchmal auch vor Ort. Es ist notwendig, dass dann,
wenn es entsprechende Zustände gibt, Einrichtungen
geschlossen werden.

Eines gehört zur Wahrheit aber auch dazu – anschei-
nend ist es Ihnen ja nicht möglich, eine differenzierte
Diskussion zu führen –: Ich will einmal aus dem gestern
vorgestellten Bericht zur Qualität in der Pflege den Ver-
gleich zwischen 2007 und 2010 zitieren. Sie können sich
ja noch daran erinnern, wie in den Jahren vor 2007 die
Zusammensetzung in der Bundespolitik war. Ich will
diesen Punkt aber gar nicht immer wieder aufgreifen,
auch wenn Sie mit Blick auf den Mai offensichtlich
gerade Wahlkampf machen. Also, Vergleich der Situa-
tion in den Einrichtungen von 2007 und der von 2010:
Hilfe bei Essen und Trinken: deutlich besser geworden.
Angebote an demente Heimbewohner: deutlich besser
geworden. Situationsgerechtes Handeln der Pfleger bei
akuten Ereignissen: deutlich besser geworden. Inkonti-
nenzversorgung: deutlich besser geworden. Es gibt
andere Bereiche, in denen die Qualität gleichgeblieben
ist und sie noch besser werden muss. Der Trend ist aber
eindeutig.

Nicht zuletzt durch das, was wir in der Großen Koali-
tion in Bezug auf die Qualitätsberichte und die Kontrol-
len in den Einrichtungen eingeführt haben, wird die
Qualität besser. Sie muss noch weiter steigen. Aber
reden Sie diesen Trend doch nicht klein, sondern erken-
nen Sie an, was da von den in diesem Bereich tätigen
Menschen geleistet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Außerdem wird hier in der Diskussion immer behaup-
tet, wir täten zu wenig, auch finanziell. Wissen Sie, jeder
von uns würde gern deutlich mehr Geld ausgeben; das ist
überhaupt keine Frage. Sie vergessen nur immer den
zweiten Teil: dass es am Ende auch irgendwie finanziert
werden muss.

Wir haben eine zusätzliche Leistung im Volumen von
über 1 Milliarde Euro geschaffen. Das ist übrigens
immer noch viel Geld: 1 000 Millionen Euro.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was kostet das Betreuungsgeld?)


Das ist eine Leistungsverbesserung von 5 Prozent. Die
Pflegeversicherung hat heute ein Gesamtvolumen von
etwa 20 Milliarden Euro. Nennen Sie mir ein anderes
soziales Sicherungssystem, bei dem wir in jüngster Zeit
Leistungsverbesserungen in diesem Umfang – 5 Prozent –
vorgenommen haben. Reden Sie diese Summe doch
nicht klein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dann stellen Sie sich hier hin und sagen: 6 Milliarden
Euro wären schöner. – Wir wüssten auch, was wir mit
6 Milliarden Euro anfangen könnten. In Ihrem Konzept,
das Sie leider nicht vorgetragen haben, ist vorgesehen,
6 Milliarden Euro auszugeben.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: 10 Milliarden Euro wären noch schöner!)


Nur leider sagen Sie nicht viel über die Finanzierung.

Ich weiß nicht, ob Sie wahrgenommen haben: Ganz
Europa spart gerade. Schauen Sie sich einmal an, was
bei den sozialen Sicherungssystemen insbesondere in
den südeuropäischen Ländern gerade passiert – in Grie-
chenland, in Italien, in Spanien, in Portugal und in vielen
anderen Ländern mehr.


(Elke Ferner [SPD]: Wollen Sie das jetzt auch machen, oder wie?)


Das passiert nicht zuletzt deswegen, weil über Jahre
Geld ausgegeben wurde, das nicht vorhanden war. Wir
handeln verantwortlich, indem wir so viel Geld zur Ver-
fügung stellen, wie es im Moment möglich ist, und keine
Luftschlösser bauen. Ordnen Sie die Situation doch ein-
mal in eine Gesamtdebatte ein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Betreuungsgeld! Mövenpick zurück!)


Es ist gerade heute wieder zu lesen – auch das ist
spannend; auch das sagen Sie den Menschen nicht –,
dass wir nach Belgien das Land mit der zweithöchsten
Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sind. Dies liegt nicht zuletzt an den Sozialversicherungs-
beiträgen, die zu zahlen sind. Sie fordern hier mal eben
6 Milliarden Euro mehr. Das sind 0,6 Beitragssatz-
punkte.


(Elke Ferner [SPD]: Richtig!)


Nennen Sie diesen Teil der Wahrheit vielleicht auch ein-
mal.


(Elke Ferner [SPD]: Das sagen wir ja auch!)


Es hat ja einen Grund, warum Sie zu Ihrem Konzept
nicht besonders viel sagen.

Dann kommt die Allzweckwaffe: die Bürgerversiche-
rung. Die löst alle Probleme.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jäger 90!)


Sie lassen aber immer einen Teil der Wahrheit weg: Die
Menschen, die Sie in diese Versicherung mit einbeziehen
wollen, die Privatversicherten, sind nicht alle Millionäre.
Ich weiß nicht, ob Sie es wissen: Der größte Teil der Pri-
vatversicherten sind Beamte, Pensionäre und viele
kleine Selbstständige. Sie tun immer so, als würde die
Bürgerversicherung per se dazu führen, dass auf einmal
wahnsinnig viel Geld für alle zur Verfügung steht. Das
ist Augenwischerei. Das sagen Sie in jeder Debatte. Das
löst aber die Probleme am Ende des Tages nicht, die wir
in Zukunft bei der Finanzierung zu lösen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zum Pflegebedürftigkeitsbegriff. Frau Kollegin
Künast ist umfänglich darauf eingegangen. Frau Künast,
so einfach ist es aber am Ende nicht. Sie haben recht da-
mit, dass es schon einen Pflegebeirat gegeben hat, der
gearbeitet hat.


(Elke Ferner [SPD]: Aber?)


Dieser Beirat hat Frau Bundesministerin Schmidt am
Ende der Legislatur noch etwas vorgelegt. Aber es ist
doch bezeichnend, dass Ulla Schmidt – ich weiß nicht,





Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)


ob Sie sich noch an sie erinnern; Sie wollen ja am liebs-
ten mit dem, was Ulla Schmidt entschieden hat, heute
nichts mehr zu tun haben; das haben wir schon zur
Kenntnis genommen –


(Elke Ferner [SPD]: Das ist ja Blödsinn hoch drei!)


in einem Interview im Dezember letzten Jahres gesagt
hat: Wer den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff seriös
umsetzen will, muss die Dinge mindestens zwei bis drei
Jahre vernünftig vorbereiten und dann Schritt für Schritt
umsetzen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Das haben Sie ja gerade nicht gemacht! – Elke Ferner [SPD]: Sie haben es doch drei Jahre liegen lassen!)


Mit dem, was bisher vorliegt, geht es nicht. Diesen Teil
vergessen Sie immer. Sie tun immer so, als ob wir das
morgen machen könnten. Es ist schön, dass zumindest
Ulla Schmidt weiß, dass mehr als Überschriften dazu
gehört, wenn man vernünftige Politik machen will.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind dankbar dafür, dass unser Kollege Wolfgang
Zöller wie auch Herr Voß und fast alle bisherigen Mit-
glieder – bis auf einen, wenn ich es richtig in Erinnerung
habe – des Pflegebeirates mit Vertretern aus der Wissen-
schaft und aus den Verbänden gesagt haben: Wir arbei-
ten wieder mit, weil wir wissen, dass es nicht ohne
unsere Arbeit geht und wir noch mehr Vorarbeit leisten
müssen.

Sie können sich nicht einfach hier hinstellen und
sagen: Das alles wäre gar nicht nötig. – Jeder, der ein
bisschen Kenntnis hat, weiß, dass diese Arbeit zu leisten
ist, um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff umzuset-
zen, was eine große Herausforderung ist. Sie müssen das
System für viele Millionen Menschen anders gestalten;
das muss vorbereitet werden.


(Elke Ferner [SPD]: Sie haben doch drei Jahre lang gepennt!)


Deswegen sind wir sehr dankbar dafür, dass Wolfgang
Zöller, Herr Voß und die anderen diese Arbeit übernom-
men haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch die Debatte zur Bezahlung der Pflegefachkräfte
nehme ich mit Interesse zur Kenntnis. Ich weiß nicht,
was das bedeuten sollte: Wollen Sie, Frau Künast, Frau
Mattheis, jetzt per Gesetz die Bezahlung festlegen?


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Regionalprinzip!)


Wollen Sie etwa die Tarifpartner herauslassen? Die Ent-
wicklung bei den Pflegefachkräften geht übrigens ein-
deutig nach oben. Wenn es Bedarf nach Fachkräften
gibt, steigt der Lohn Schritt für Schritt. Das tut er in die-
sem Bereich.

Bei den Pflegehilfskräften gibt es ein Problem. Auch
da ist eine differenzierte Betrachtung Ihrerseits offen-
sichtlich nicht möglich. Deswegen haben wir als Koali-
tion bei den Pflegehilfskräften einen Mindestlohn auf

den Weg gebracht und für eine entsprechende Bezahlung
gesorgt.

Bei den Pflegefachkräften ist aber nicht die Bezah-
lung das Problem; das ist doch nicht das eigentliche
Thema.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Doch!)


Das Problem sind die Arbeitsbedingungen und die
Belastungen, die es in diesem Bereich gibt. Nicht zuletzt
gibt es auch ein Problem mit der Bürokratie; dies wurde
gerade angesprochen.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Genau! Sie regieren doch noch!)


Was alles muss man tatsächlich nachhalten? In diesem
Gesetzgebungsverfahren legen wir stärkere Akzente auf
die Ergebnisqualität und weniger auf die Prozessqualität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein anderes Thema ist die gesellschaftliche Anerken-
nung dieser Berufe. Da können Sie sich doch nicht ernst-
haft – ich sage es noch einmal – hier hinstellen, Frau
Senger-Schäfer und Herr Lauterbach, und mit einem Ge-
neralverdacht gegen die Pflegekräfte arbeiten, wie Sie es
hier getan haben.


(Elke Ferner [SPD]: Das hat doch niemand gemacht! – Weitere Zurufe von der SPD und der LINKEN)


Sie zeichnen ein Bild von der Pflege in Deutschland, das
den tatsächlichen Zuständen in den Einrichtungen und
der Arbeit, die dort geleistet wird, einfach nicht gerecht
wird. Das ist einer der Gründe, warum dieser Job für
viele Menschen unattraktiv ist. Sie reden ihn immer
schlecht; das ist doch das eigentliche Problem.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Sie machen Ihre Arbeit nicht! – Weitere Zurufe von der SPD und der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717502400

Herr Kollege.


Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1717502500

Das Gleiche gilt abschließend, Herr Präsident, für die

neuen Wohnformen. Sie sagen: Die neuen Wohnformen
wollen wir nicht; wir wollen sie nicht fördern. Wir sehen
übrigens eine dauerhafte Förderung der neuen Wohnfor-
men vor, gerade weil die Menschen sich eine Zwischen-
lösung zwischen dem Zuhausewohnen, was manchmal
nicht mehr geht, und einer stationären Einrichtung wün-
schen. Es geht um ambulant betreute Wohnformen. Es
ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen, wie Sie gerade
über diesen Wunsch geredet haben. Wir werden ihn um-
setzen; denn im Interesse der Menschen brauchen wir
mehr Flexibilität.


(Zurufe von der SPD und der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717502600

Lieber Kollege Spahn!






(A) (C)



(D)(B)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1717502700

Wir haben sicherlich um jeden Euro gefeilscht, aber

diese 1 Milliarde Euro mit den Schwerpunkten Demenz
und pflegende Angehörige sind gut eingesetzt im Inte-
resse der Menschen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717502800

Das Wort erhält nun der Kollege Ilja Seifert für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717502900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Herr Spahn, Sie erwarten
grundsätzliche Aussagen. Die hätte ich von Ihnen und
Ihrer Regierung auch erwartet. Herr Singhammer, Sie
haben ein Bild benutzt. Das ist immer sehr gefährlich.
Sie wollen noch zwei Stockwerke auf das Haus bauen.
Ich sage Ihnen: Legen Sie erst einmal ein ordentliches
Fundament.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich kann Ihnen auch sagen, wie das Fundament ausse-
hen muss: Das Fundament muss zum einen darin beste-
hen, den bereits erarbeiteten Pflegebegriff umzusetzen.
Das heißt, Teilhabe ermöglichen, wenn man pflegebe-
dürftig ist; das heißt auch assistierende Begleitung. Das
zweite Grundelement für das Fundament ist eine ver-
nünftige Finanzierung. Das ist eine Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung und kein Pflege-Riester und Ähnli-
ches.


(Beifall bei der LINKEN)


Über diese Punkte haben Sie überhaupt nicht ernsthaft
geredet, sondern Sie haben lediglich das Reförmchen,
das in einem dicken Papier angekündigt wird, verteidigt.

Was die Menschen wirklich brauchen, ist, dass sie
selbst dann, wenn sie Schwierigkeiten in der Alltagsbe-
wältigung haben – wenn sie inkontinent oder ein wenig
verwirrt sind –, als Teil der Gesellschaft inmitten der Ge-
sellschaft leben und teilhaben können. Das heißt, sie
brauchen Begleitung; sie brauchen jemanden, der neben
ihnen steht, und zwar nicht als bevormundender Beglei-
ter, sondern als Assistent, der die Bedürfnisse, die Wün-
sche und die Lebensweise der Betroffenen kennt und auf
sie eingeht. Es braucht jemanden, der die verwirrte Frau,
die auf der Straße steht – das Bild wurde benutzt –, von
der Kreuzung herunterholt, damit sie nicht überfahren
wird.

Das sind die Probleme, die es zu bewältigen gilt; da
können Sie darum herumreden, wie Sie wollen, Herr
Minister. Sie haben nun den Pflegebeirat erneut einge-
setzt, und Herr Zöller leitet ihn.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das macht er gut!)


Ich habe alle Achtung vor Herrn Zöller als Person, aber
er leitet den Beirat, weil Herr Gohde, der wirklich weiß,
wovon er redet, es abgelehnt hat, noch einmal eine Art
Alibiveranstaltung durchzuführen. Das ist ein mutiger
Schritt von Herrn Gohde – der ist immerhin Pfarrer und
noch nicht einmal aus meiner Partei. Ich will trotzdem
darauf hinweisen, dass derjenige, der wirklich Ahnung
von der Materie hat, gesagt hat: Ich lasse mich nicht vor
den Karren spannen, nur damit diese Regierung nichts
tun muss.


(Zuruf von der LINKEN: Genau!)


Herr Zöller, in allen Ehren: Sie wollen im Sommer
nächsten Jahres etwas vorlegen, also anderthalb Monate
vor der Wahl. Sie sagen damit klipp und klar: Wir ma-
chen in dieser Wahlperiode nichts mehr. Diejenigen aber,
die auf ein Handeln angewiesen wären, sind Neese.
Muss das sein? Nein! Ein neuer Pflegebegriff existiert;
er besagt klipp und klar: Es geht um Teilhabeermögli-
chung; es geht um die Persönlichkeitsentfaltung, auch
dann wenn man verwirrt ist; es geht um die Selbstbe-
stimmung. All diese Punkte sind im jetzigen Pflegebe-
griff überhaupt nicht enthalten. Sie benutzen den alten
Pflegebegriff, obwohl Sie und Ihre Regierung genau
wissen, dass es bessere Pflegebegriffe gibt.

Es ist ein Konzept da. Es ist von Ihrer eigenen Regie-
rung vorbereitet worden. Es kam nicht einmal von uns,
sondern wurde von Ihnen entwickelt. Sie setzen es nicht
um, weil Sie nicht den Mut haben, den Leuten zu sagen:
Das kostet ein paar Mark dreißig. Die Menschen, die das
brauchen, sind uns das wert. Wir speisen sie nicht mit
1 Milliarde ab. – Hinzu kommt, dass man befürchten
muss, dass die entsprechenden Mittel am Ende bei den
Körperbehinderten weggenommen werden. Sie sollten
sagen: Wir nehmen so viel Geld in die Hand, wie ge-
braucht wird – und nicht nur so viel, wie wir gerade noch
übrig haben.

Lassen Sie uns so herangehen: Teilhabe ermöglichen,
auch wenn man pflegebedürftig ist, Assistenz und Be-
gleitung gewähren, wenn man sie braucht. Dann wird die
Selbstbestimmung wirklich funktionieren.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717503000

Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Elisabeth

Scharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Wir debattieren heute über das Pflege-Neuausrich-
tungs-Gesetz. Hut ab, Herr Minister: Da braucht es
schon viel Fantasie, um überhaupt auf solch einen Na-
men zu kommen. Und ehrlich: Wir brauchen hier im
Saal viel Fantasie, um in diesem Gesetz überhaupt eine
Neuausrichtung zu entdecken.





Elisabeth Scharfenberg


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Nichts an diesem Gesetz bringt uns einer Neuausrich-
tung in der Pflege näher, und das, obwohl wir eine Neu-
ausrichtung so dringend bräuchten. Der Reformbedarf in
der Pflege ist riesengroß: die Überarbeitung des Pflege-
bedürftigkeitsbegriffs, eine gerechte und verlässliche Fi-
nanzierung durch eine Pflegebürgerversicherung, die
Entlastung pflegender Angehöriger, der Ausbau ambu-
lanter und quartiersorientierter Versorgungsangebote,
Maßnahmen gegen den Personalmangel in der Pflege.

Sie haben uns gestern hier in der Regierungsbefra-
gung Ihre Demografiestrategie vorgestellt. Herr Minister
Friedrich sagte, wir dürften nicht warten, bis die Dinge
zum Problem würden. Ich muss sagen: Da hat er recht.
Diese Demografiestrategie enthält durchaus richtige
Dinge, zum Beispiel, dass ein neuer Pflegebedürftig-
keitsbegriff entwickelt werden muss, der sich – ich zi-
tiere – „künftig stärker an der Selbstständigkeit orientiert
und damit insbesondere Demenzkranken zugutekommt“.
Ebenso lesen wir, dass wir eine „Stärkung der Fachkräf-
tebasis“ brauchen. All das haben Sie, Herr Minister
Bahr, doch in Ihrer Einführung angesprochen. Nicht nur
wir hier fragen uns: Warum machen Sie es dann denn
nicht endlich? Sie legen uns hier ein Gesetz vor, und
nichts davon steht darin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Schlimmer noch: Das Gegenteil ist der Fall. Es wurde
hier schon angesprochen, aber ich denke, wir können es
gar nicht oft genug ansprechen: das Beispiel der Fach-
kräfte. Wir finden in diesem Gesetz eine Anleitung zur
rechtlich legitimierten Lohndrückerei. Künftig soll näm-
lich nicht mehr die Zahlung einer ortsüblichen Vergü-
tung, sondern die Zahlung des Pflegemindestlohns für
die Zulassung einer Pflegeeinrichtung ausreichend sein.
Natürlich brauchen wir einen Mindestlohn; aber er darf
doch nicht zum Normlohn werden. Das, meine Damen
und Herren, ist ein Schlag ins Gesicht der Fachkräfte, die
Sie angeblich sichern wollen. Sie wollen Billigpflege;
das ist Ihnen die Arbeit der Pflegekräfte wert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Singhammer, Sie sprechen hier vom „großen, wei-
ten Herzen“ der Pflegekräfte; aber davon werden die
Pflegekräfte nicht satt, dadurch können sie ihr Leben
nicht unterhalten.

Für andere Zwecke sitzt das Geld dann aber locker:
höhere Vergütungen für die medizinische Versorgung in
Pflegeheimen für die Ärzte, Förderung freiwilliger Pfle-
gezusatzversicherungen durch den sogenannten Pflege-
Bahr.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mini-Bahr!)


Klar ist auch hier: Das ist kein Beitrag zu einer nachhal-
tigen Finanzierung. Menschen, die wenig verdienen oder
keine Steuern zahlen, werden davon überhaupt nichts
haben. Profitieren werden hier die Gutverdiener. Profi-

tieren wird auch die private Versicherungsindustrie. Sie
kann nämlich ihre Produkte mit staatlicher Unterstüt-
zung besser verkaufen.

Meine Damen und Herren, das ist die Neuausrich-
tung, über die wir heute reden. Aber brauchen wir diese
Klientelpolitik der Neuausrichtung? Ich sage ganz klar:
Was wir brauchen, ist eine solidarische Politik für die
Schwachen in dieser Gesellschaft. Was wir brauchen, ist
die solidarische Pflegebürgerversicherung. Gute Pflege
kostet Geld, auch mit einer Pflegebürgerversicherung;
aber mit der Bürgerversicherung ist eine überschaubare
Beitragssatzentwicklung möglich, und das bei verbesser-
ten Leistungen.

Herr Spahn, bei einer Pflegebürgerversicherung profi-
tieren im Übrigen auch heute Privatversicherte mit klei-
nen Einkommen.


(Elke Ferner [SPD]: Genau!)


Eine Pflegebürgerversicherung ist solidarisch und keine
Einbahnstraße.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es gibt die Chance auf ein wirklich neues Pflege-Neu-
ausrichtungs-Gesetz, aber diese Chance hat Schwarz-
Gelb leider nicht genutzt. Seien wir ehrlich: Das jetzt
vorgelegte Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist eine Anei-
nanderreihung verpasster Chancen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717503100

Willi Zylajew ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Willi Zylajew (CDU):
Rede ID: ID1717503200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

Thema, das uns heute früh beschäftigt, ist ausgesprochen
wichtig;


(Hilde Mattheis [SPD]: Ja?)


denn es ist täglich von Bedeutung für rund 10 Millionen
Menschen in unserem Land, nämlich für diejenigen, die
auf pflegerische Hilfe angewiesen sind, für Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter und für Angehörige. In der Tat ist
es sinnvoll, dass wir über den bestmöglichen Weg in die-
ser Auseinandersetzung streiten und den Versuch zu un-
ternehmen, die finanziellen Mittel, die uns zur Verfü-
gung stehen, zielgenau und optimal einzusetzen. Dies
soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geschehen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!)


Aber ich bitte, zu bedenken, dass die Anforderungen an
Staat und Gesellschaft bezüglich der Hilfe für Pflegebe-
dürftige und ihre Angehörigen einem permanenten Ver-
änderungsprozess unterliegen.





Willi Zylajew


(A) (C)



(D)(B)


Die Gesellschaft ändert sich. Wir Menschen sind so
programmiert, dass wir am Anfang des Lebens und die
meisten auch in der letzten Lebensphase auf die Hilfe
von Mitmenschen angewiesen sind. Die Anforderungen
verändern sich. Das hängt damit zusammen, dass wir
eine höhere Lebenserwartung haben – Minister Bahr hat
es angesprochen –, dass wir heute bei vielen Menschen,
gerade bei an Demenz erkrankten, längere Phasen erle-
ben, in denen sie Hilfe benötigen – auch eine andere
Form der Hilfe –, als in früheren Jahren. Wir haben
wirksame medizinische Behandlungsmöglichkeiten, die
ebenfalls dazu führen, dass Erkrankungen erfolgreich
behandelt werden können; aber daraus ergibt sich eine
anspruchsvollere Anforderung an den Bereich Rehabili-
tation und Pflege, als das früher der Fall war.

Die geringere Zahl der Nachkommen ist ein Thema.
Wir können nicht darüber hinweggehen: Die Pflegeleis-
tung wurde und wird auch weiterhin in erster Linie in
der Familie erbracht. Wenn weniger Nachkommen vor-
handen sind, wenn sich die Familienstrukturen ändern,
müssen wir auch hier entsprechend reagieren.

Insofern behaupte ich, dass das Pflege-Neuausrich-
tungs-Gesetz ein logischer Bestandteil eines ständigen
Prozesses zur Weiterentwicklung der Pflege ist.


(Elke Ferner [SPD]: Begeisterung hört sich aber anders an, Herr Zylajew!)


Wir machen hier – Herr Minister Bahr hat es dargestellt –
einen sehr vernünftigen Schritt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die uns zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel set-
zen wir absolut zielgerichtet und punktgenau ein. Wir
müssen bedenken, dass es Mitverantwortliche gibt: die
Familien, die Leistungserbringer und Träger, die Versi-
cherungen und die Pflegekassen sowie die Kommunen
und die Länder.

Es ist eben mehrfach angesprochen worden, was alles
wir beispielsweise im Bereich Ausbildung tun müssen.
Aber ohne Mittun der Länder können wir nichts erledi-
gen. Es wäre sinnvoller, wenn gerade die Kolleginnen
und Kollegen der SPD, die dies hier anmahnen, dafür
sorgen würden, dass wir in der Kooperation mit den
Ländern weiterkommen.

Es gibt also viel zu tun. 1995 hatten wir einen guten
Start. Leider gab es danach keine Weiterentwicklung.
Von 1998 bis 2005 ist nichts geschehen.


(Lachen der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Ich muss Ihnen das immer und immer wieder vorhalten:
Es gab einen Stillstand bei der Weiterentwicklung der
Pflegeversicherung.


(Elke Ferner [SPD]: Wo waren denn Ihre parlamentarischen Initiativen zur Weiterentwicklung? Wo denn?)


– Die waren reichlich vorhanden. Wir müssen jetzt doch
letztendlich, verehrter Kollege Lauterbach, Ihre Ver-
säumnisse aufholen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Haben Sie die letzten vier Jahre völlig ausgeblendet, Herr Zylajew?)


Das, was Sie nicht entwickelt haben, müssen wir jetzt
ein Stück weit vorantreiben.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Vor zehn Jahren gab es diese Probleme noch nicht! Seitdem hat sich die Zahl verdoppelt!)


– Die Probleme gab es damals auch. Schauen Sie bei
klugen Professoren nach, was die schon zwischen 1998
und 2005 Vernünftiges dazu geschrieben haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das brauche ich im Gegensatz zu Ihnen nicht! Sie sollten das machen! – Mechthild Rawert [SPD]: Was haben Sie denn davon gelesen?)


Sie haben einen ersten Ansatz geschaffen, indem Sie
ganz wenig Geld für die Betreuung von Demenzkranken
zur Verfügung gestellt haben.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Die Zahl hat sich doch verdoppelt!)


Wir brauchen – das machen wir sehr vernünftig – eine
Weiterentwicklung bei der Unterstützung der Angehöri-
gen. Dass wir jetzt das Pflegegeld bei Kurzzeit- und Ver-
hinderungspflege durchzahlen, ist aus unserer Sicht ein
Schritt zu einer handfesten und zielgenauen Hilfe.

Wir sagen, dass wir eine Stärkung im Bereich der
Wohnumfeldverbesserungen wollen. Das ist ein wichti-
ger Schritt. Wir wollen die Rechte der betroffenen Men-
schen und ihrer Angehörigen gegenüber den MDK
stärken. Viele Menschen fühlen sich vom MDK bevor-
mundet, missverstanden und schlecht behandelt. Hier
gehen wir mit der Neuausrichtung aus meiner Sicht
einen sehr vernünftigen Schritt. All das, was wir ma-
chen, ist zielführend und stellt eine gute Weiterentwick-
lung der Blüm’schen Pflegeversicherung dar.

Wir stärken die Hilfen für das Verbleiben im gewohn-
ten gesellschaftlichen Umfeld. Die Kollegin Aschenberg-
Dugnus hat es angesprochen. Selbstbestimmte Versor-
gungsformen sind eine Chance. Ich weiß nicht, was Sie
für ein Menschenbild haben.


(Elke Ferner [SPD]: Aber doch nicht mit dem, was Sie hier machen! Das reicht doch alles nicht aus! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das ist doch ein Almosen! 77 Millionen!)


Weder Ihre Einschätzung der Pflegebedürftigen noch
ihre Einschätzung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
die dort ihre Arbeit erledigen, ist richtig. Sie kritisieren
deren Arbeit immer nur, und dies aus vordergründigen
politischen Überlegungen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es!)


Ich will kurz auf den 3. Pflege-Qualitätsbericht einge-
hen. Er zeigt auf, dass es eine Reihe von Verbesserungen
gibt. Der zweite Bericht von 2007 kam ein paar Monate
zu spät. Der Berichtszeitraum ging bis 2005, betraf also





Willi Zylajew


(A) (C)



(D)(B)


die Zeit von Rot-Grün. Im jetzigen Qualitätsbericht wird
deutlich gesagt, dass es Defizite gab, es in den letzten
Jahren da jedoch eine gute Weiterentwicklung gab.


(Elke Ferner [SPD]: Dafür kann diese Koalition aber auch nichts!)


Ich bin schon ein Stück weit darüber verärgert, dass
auch dieser Bericht wieder so spät vorgelegt wurde. Er
hätte eigentlich schon im letzten Jahr vorgelegt werden
müssen. Er kam diesmal zwei Tage vor unserer heutigen
Beratung.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wie schade!)


Damals wurde er zehn Tage vor dem Referentenentwurf
von 2007 vorgelegt. Es ist die billige Strategie einiger
Spitzenleute beim MDS und bei den gesetzlichen Kran-
kenversicherungen, die die Pflegebranche insgesamt mit
Negativdarstellungen treffen wollen, welche die anstän-
dige und gute Arbeit der Pflegekräfte im stationären und
ambulanten Bereich nicht würdigen. Da werden einige
Dinge medienbegleitet sehr stark in Szene gesetzt, die so
nicht gegeben sind.


(Elke Ferner [SPD]: Unterste Schublade!)


Mit diesem Gesetzentwurf sind wir in der Lage, die
erwarteten Verbesserungen zu ermöglichen.


(Mechthild Rawert [SPD]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)


Wir können nur alle, die in diesem Bereich guten Wil-
lens sind, ganz herzlich einladen, mit uns noch den einen
oder anderen Punkt zu präzisieren. Wir sagen, dass diese
Neuausrichtung deshalb notwendig ist, weil sich die
Gesellschaft insgesamt verändert hat. Wir wollen eine
Neuausrichtung hin zu selbstgewollten Betreuungsfor-
men, indem wir die pflegenden Angehörigen mit der
Ermöglichung von Rehamaßnahmen und mit der Weiter-
zahlung des Pflegegeldes in bestimmten Lebenssituatio-
nen stärken. Ich denke, dass wir da auf einem guten Weg
sind. Die Blüm’sche Pflegeversicherung erfährt durch
diesen Gesetzentwurf durchaus eine konsequent positive
Weiterentwicklung.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717503300

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Ferner, SPD-

Fraktion.


Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1717503400

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Wenn man die Unionsredner hört, gewinnt man den Ein-
druck, dass sie einen Blackout haben, was die letzte
Wahlperiode angeht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Was?)


Das, was wir in der letzten Wahlperiode in der Großen
Koalition gemeinsam auf den Weg gebracht haben, war
definitiv mehr als das, was jetzt Schwarz-Gelb auf den
Weg bringt. Für die Verbesserung der Leistungen haben
wir immerhin drei Zehntel Beitragssatzpunkte aufge-

bracht, also 3,3 Milliarden Euro, und Sie kommen jetzt
mit 1,1 Milliarden Euro. Herr Zylajew, ich kenne Sie ja
als engagierten Pflegepolitiker; Begeisterung über einen
Gesetzentwurf hört sich für meine Begriffe aber anders
an als das, was Sie hier gerade geboten haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was haben wir im letzten Jahr nicht alles von Herrn
Rösler und später von Herrn Bahr gehört. Das Jahr der
Pflege wurde ausgerufen. Die Pflege sollte besser finan-
ziert werden. Die pflegerische Betreuung, insbesondere
die von demenziell Erkrankten, sollte grundlegend,
durchgreifend verbessert werden. Durch die Einführung
des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sollte die leidige
Minutenpflege abgelöst werden. Dem Mangel an Pflege-
kräften sollte begegnet werden, und dem Grundsatz
„Prävention vor Reha bzw. Pflege“ sollte endlich Gel-
tung verschafft werden.

Was ist passiert? Nicht viel. Was uns heute hier vor-
liegt, ist ein Reförmchen. Manche reden auch von einem
Schlückchen aus der „Mini-Bahr“. Ich sage: Das ist eine
Mogelpackung. Man könnte auch sagen: Das ist ein Pla-
giat, und das ist das, was man von dieser Koalition
erwartet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Spahn hat eben angesprochen, dass die Umset-
zung unseres Konzepts viel mehr Geld kostet. Es ist
wahr: Mit 0,6 Beitragssatzpunkten müsste man die gan-
zen Maßnahmen, die notwendig sind, finanzieren. Ein
großer Unterschied besteht nicht nur bei der Antwort auf
die Frage, was ich ausgebe, sondern mehr noch bei der
auf die Frage, um die es geht: Was ist uns in unserer
Gesellschaft eine menschenwürdige Pflege wert?


(Beifall bei der SPD)


Es geht auch um die Frage: Wie setze ich Prioritäten?
Ich kann die Prioritäten so setzen: Ich werfe den Hotel-
ketten das Geld hinterher,


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das ist aber sehr billig!)


und ich führe ein Betreuungsgeld ein, das niemand will.
Oder ich nehme das Geld, um eine menschenwürdige
Pflege zu ermöglichen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage Ihnen auch: Wenn man nur auf den Beitrags-
satz schaut, springt man zu kurz. Man muss eine gesamt-
gesellschaftliche Betrachtung vornehmen. Was passiert
denn, wenn wir es nicht schaffen, den Bereich der Häus-
lichkeit zu stärken? Was passiert denn, wenn wir es nicht
schaffen, eine wohnortnahe Infrastruktur zu organisie-
ren, wenn wir es nicht schaffen, bezahlbare Angebote für
die Häuslichkeit zu organisieren? Dafür werden die
Kommunen bezahlen müssen, weil viel mehr Menschen
in die stationären Einrichtungen gehen müssen, obwohl
sie das gar nicht wollen, und das ist am Ende sehr viel
teurer. Vor allen Dingen aber wollen die meisten Men-





Elke Ferner


(A) (C)



(D)(B)


schen das überhaupt nicht. Sie wollen so lange es geht in
der Häuslichkeit bleiben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Schauen wir uns einmal die Sache mit dem Pflegebe-
dürftigkeitsbegriff an. Sie haben gesagt, dass Ulla
Schmidt darauf hingewiesen hat, dass man Zeit braucht,
um das umzusetzen. Das bestreitet niemand von uns. Sie
können aber auch nicht bestreiten, dass Sie das Thema
Pflegebedürftigkeitsbegriff seit 2009, seit Ihrer Regie-
rungsübernahme, in Ihrer Schublade liegengelassen
haben und überhaupt nichts getan haben. Das sind fast
drei Jahre, die man hätte nutzen können, um in dieser
Frage endlich voranzukommen.


(Beifall bei der SPD)


Was aus meiner Sicht nur noch peinlich ist, ist, dass
Sie jetzt auf billige Weise versuchen, Zeit zu schinden,
um über diese Wahlperiode hinauszukommen, um in die-
ser Wahlperiode nichts mehr entscheiden zu müssen,
weil die mit einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff
erforderlich werdenden Veränderungen natürlich zusätz-
lich Geld kosten. Jetzt setzen Sie den Pflegerat erneut
ein. Dass Jürgen Gohde, der bezüglich der Frage der
Pflege wirklich die Koryphäe ist, dieses Theater nicht
mitmacht, ist eine Klatsche für Sie, Herr Minister, und
die haben Sie auch verdient.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das, was Sie hier machen, ist nichts anderes als der Ver-
such, den Satz von Karl Kraus umzusetzen: Bei sinken-
der Sonne werfen auch die Kleinen lange Schatten.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage Ihnen: Sie können noch so oft behaupten,
dass Sie erstmals etwas für Demenzerkrankte tun; das ist
und bleibt gelogen. Sie tun mehr – das ist wahr –, aber
Sie können nicht sagen, dass es „erstmals“ zusätzliches
Geld für Demenzerkrankte gibt. Das stimmt doch nicht.
Schauen Sie doch einmal in das bestehende Gesetz.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Tun Sie das doch einmal!)


Lesen bildet. Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Kollegin, war
ich in der letzten Wahlperiode bei der Reform dabei, als
wir hier erstmals Leistungen für demenziell Erkrankte in
Höhe von 100 bzw. 200 Euro im Monat eingeführt
haben,


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Und 500 000 Menschen bekommen jetzt Leistungen, die vorher keine bekommen haben!)


indem wir den Einrichtungen zusätzliches Geld für
Betreuungspersonal zur Verfügung gestellt haben. Das
sollten Sie anerkennen. Man kann ja der Meinung sein,
dass das nicht genug ist, aber so zu tun, als ob das alles
auf Ihrem Mist gewachsen ist, ist unredlich.


(Beifall bei der SPD)


Sie wollen das Problem des Fachkräftemangels lösen,
indem Sie die Grenzen öffnen. Pflege hat aber auch mit

Sprachkompetenz, mit Verständigung und mit Zuwen-
dung zu tun. Ich sage Ihnen: Erstens halte ich es für den
falschen Weg, unsere Probleme zulasten der an die EU
angrenzenden osteuropäischen Länder zu lösen, und
zweitens glaube ich nicht, dass Sie genügend Pflege-
fachkräfte mit entsprechender Sprachkompetenz finden
werden, die bereit sind, hier zu arbeiten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen unsere Probleme selber lösen. Wir brauchen
eine bessere Ausbildung. Wir brauchen attraktivere
Arbeitsbedingungen und vor allen Dingen eine bessere
Bezahlung, damit junge Menschen sich entschließen,
diesen Beruf auszuüben.

Ich sage Ihnen: Mit Ihrer kapitalgedeckten Vorsorge,
mit dem sogenannten Pflege-Bahr, werden Sie scheitern.
Was passiert denn hier? Hier werden wieder die Ver-
sicherungswirtschaft und deren Renditen bedient. Sie
mögen zwar vielleicht einen Kontrahierungszwang vor-
sehen – die Details sind ja noch unklar –, aber was wird
passieren? Die Versicherungswirtschaft wird doch nicht
darauf verzichten, eine Prüfung der Risiken durchzufüh-
ren. Das wird dazu führen, dass diejenigen, die eigent-
lich schon jetzt eine Zusatzversicherung bräuchten, bei-
spielsweise ältere Menschen oder Personen mit
Krankheiten wie MS, gar keine bezahlbare Versiche-
rungspolice bekommen werden, auch nicht mit dem
Minizuschuss, den sie von Ihnen noch erwarten können.

Ich sage Ihnen: Das, was Sie hier vorlegen, ist Stück-
werk. Damit werden Sie keine Lorbeeren gewinnen. Es
geht an den Problemen vorbei.


(Widerspruch bei Abgeordneten der FDP)


Wir werden im Verfahren die Gelegenheit haben, über
unsere Vorschläge zu diskutieren. Am Ende werden Sie
sich entscheiden müssen: Was ist Ihnen eine menschen-
würdige Pflege wert? Vor allen Dingen müssen Sie die
Frage beantworten, wie wir heute die Strukturen schaf-
fen können, die wir in 20 Jahren brauchen, damit die
Kosten beherrschbar sind und die Menschen in ihrer
gewohnten Umgebung alt werden können.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717503500

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1717503600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Man muss sich in einer sol-
chen Debatte natürlich die Frage stellen: Wie baut wer
diese Debatte auf? Ich bin dem Bundesgesundheitsmi-
nister dafür dankbar, dass er die wesentlichen Inhalte des
Gesetzentwurfs noch einmal präzise und klar dargestellt
hat. Ich bin Jens Spahn dafür dankbar, dass er die
Dimension deutlich gemacht und darauf hingewiesen
hat, dass wir in diesem Gesetzentwurf eine Leistungs-





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)


verbesserung um 5 Prozent vorsehen. Dies kann sich im
Vergleich zu den anderen Sozialkassen blicken lassen.

Man muss sich mit der Art, wie die SPD versucht,
diese Leistungen madig zu reden, auseinandersetzen.


(Caren Marks [SPD]: Zu Recht!)


Man muss sich mit der Frage auseinandersetzen: Wie
glaubwürdig ist eigentlich die SPD mit ihrer Argumenta-
tion? Weil sowohl Kollege Lauterbach als auch Kollegin
Ferner hier jetzt ein weiteres Mal betont haben, dass das
Geld für die Hotellerie ausgegeben worden wäre


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ist es doch!)


– das ist ein zentraler Punkt, der immer wiederkehrt –,
zeige ich Ihnen jetzt einen Antrag der Sozialdemokrati-
schen Partei Deutschlands aus dem Bayerischen Landtag
aus dem Jahr 2006.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wir sind hier nicht im Bayerischen Landtag!)


Darin steht:

Die Staatsregierung wird aufgefordert, ihren Ein-
fluss dahin gehend geltend zu machen, dass der
Bund für die Hotellerie den reduzierten Mehrwert-
steuersatz in Höhe von 7 % einführt.

Das hat die SPD 2006 von der Bayerischen Staatsregie-
rung gefordert. 2009 ist es dann passiert. Heute sagen
Sie: Wer diese Forderung der SPD erfüllt, der macht fal-
sche Politik. Das ist die Art, wie Sie Demagogie ins
Land tragen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Lächerlich! – Elke Ferner [SPD]: Achten Sie auf Ihren Blutdruck!)


Verehrte Befürworter eines Mehrwertsteuersatzes von
7 Prozent in der SPD, das ist genau die Art, in der Sie
jetzt versuchen, die Neuausrichtung der Pflege madig zu
machen und schlechtzureden.


(Elke Ferner [SPD]: Regen Sie sich lieber nicht so auf! Sie haben ja schon einen ganz roten Kopf!)


Das hat bei Ihnen Methode. Erst behaupten Sie etwas,
was nicht wahr ist, und anschließend kloppen Sie drauf.


(Thomas Oppermann [SPD]: Regen Sie sich doch nicht so auf!)


Da Sie immer vom Pflegebedürftigkeitsbegriff reden,
sage ich Ihnen Folgendes: Ich persönlich war Mitglied
einer Enquete-Kommission des nordrhein-westfälischen
Landtags, die sich in den Jahren 2003 bis 2005 mit der
Frage auseinandergesetzt hat: Wie sieht die Zukunft der
Pflege aus? Damals haben wir in dieser Enquete-Kom-
mission parteiübergreifend, unter Einbeziehung der SPD
und der Grünen, einstimmig Aussagen zum Pflegebe-
dürftigkeitsbegriff getroffen. In unserem Abschlussbe-
richt ist zum Beispiel zu lesen:

Nach Auffassung der Enquête-Kommission ist der
Pflegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI zu soma-
tisch ausgerichtet, weil der besondere Betreuungs-
bedarf von Menschen mit demenzbedingten Funk-
tionsstörungen, mit geistigen Behinderungen oder
psychischen Erkrankungen nicht ausreichend be-
rücksichtigt wird.

Wie gesagt, im Landtag von Nordrhein-Westfalen
herrschte hier Übereinstimmung zwischen den Kollegen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU und FDP.

Dann kommt folgende Aussage:

Deshalb sollte durch eine umfassende Definition
des … Pflegebegriffs verdeutlicht werden, dass
Pflegebedürftigkeit für die betroffene Person zu ei-
nem qualitativ und quantitativ weiteren Bedarf füh-
ren kann, als bisher in § 14 SGB XI zum Ausdruck
kommt.

Dieser Forderung wird nun inhaltlich Genüge getan. Sie
wird jetzt praktisch aufgegriffen. Es wird einen Leis-
tungsanspruch geben, der sich auf demenziell erkrankte
Menschen erstreckt. Diese werden ab Januar 2013 mehr
und bessere Leistungen erhalten.

Für Sie ist die Definition des Pflegebedürftigkeitsbe-
griffs eine Art Fetisch, mit dem Sie sich befassen. Der
entscheidende Punkt ist doch, dass konkrete Konsequen-
zen gezogen werden.


(Elke Ferner [SPD]: Ist es das jetzt schon gewesen, oder was?)


Die praktische Konsequenz wird jetzt gezogen,


(Elke Ferner [SPD]: War es das schon?)


noch bevor all die akademischen Debatten über die Qua-
lität des Pflegebedürftigkeitsbegriffs beendet sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Wir sollten vielleicht über die Qualität Ihres Redebeitrags reden!)


Wir handeln also, noch bevor die theoretische Diskus-
sion beendet ist. Sie kaprizieren Ihre Kritik aber immer
nur auf die theoretische Diskussion.

Ich bin dankbar dafür, dass es uns gelungen ist, die
Leistungen um 5 Prozent zu erhöhen, bei den Hilfen für
Demenzkranke, bei der Stärkung neuer Wohn- und Be-
treuungsformen und bei der Erleichterung der Organisa-
tion der pflegerischen Versorgung in Wohngruppen vo-
ranzukommen und dafür zu sorgen, dass pflegende
Angehörige, die eine Vorsorge- oder Rehamaßnahme in
Anspruch nehmen, dies in einer Einrichtung tun können,
in der der Pflegebedürftige betreut und gepflegt werden
kann; denn das erleichtert die Inanspruchnahme.

Sie denunzieren all das als „Pflegereförmchen“.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Nicht nur wir! Das sagen alle! – Elke Ferner [SPD]: Alle machen das!)


– Ja, ja. Wieso denn?





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


– Herr Lauterbach, die SPD hat eine Pressemitteilung
veröffentlicht. Diese Pressemitteilung hat die Über-
schrift: „Bahrs Pflegereförmchen ohne jegliche Sub-
stanz“.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ja! Das stimmt!)


Wenn Zeitungen diese Kritik dann nachdrucken, weil die
SPD sie vorgetragen hat, sagen Sie anschließend: Das
steht in allen Zeitungen. – Das ist Quatsch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: So machen wir das!)


Das ist die Art, in der Sie vorgehen. Das ist nicht glaub-
würdig. Es ist aber schön, wenn auch Sie einmal zitiert
werden.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das kommt oft genug vor!)


Natürlich gibt es weitere notwendige Schritte, die wir
machen müssen. Es stellt sich beispielsweise die Frage,
ob die Ergebnisse der Tarifverhandlungen für die in der
Pflege Tätigen gut sind. Ich würde mir wünschen, die
Pflegekräfte in Deutschland wären so gut organisiert wie
beispielsweise die Ärztinnen und Ärzte. Dann kämen für
sie bessere Ergebnisse heraus.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist doch eine Spaltergewerkschaft! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Oh ja! Der Marburger Bund!)


Ich würde mir auch wünschen, wir kämen bei der zusätz-
lichen Absicherung voran. Ob es Kapitaldeckungsbei-
träge oder ob es lohnbezogene Beiträge sind: Am Ende
müssen sie durch die Arbeit erwirtschaftet werden, die
die Menschen leisten, weil ihr ganzes Einkommen – also
auch der Arbeitgeberbeitrag und der Arbeitnehmerbei-
trag – immer durch ihre Arbeit erwirtschaftet werden
muss. Deswegen ist im Grunde nicht der Finanzierungs-
weg entscheidend, sondern die Antwort auf die Frage:
Wie viel sind wir bereit, für eine Herausforderung zu
leisten, die wir im Alltagsleben gerne verdrängen?

Deshalb ist auch diese Diskussion über die Bedeutung
von Demenz und über die Tatsache, dass Demenz etwas
ist, was uns alle im Alltag betrifft, ein wesentlicher und
wichtiger Beitrag in dieser Gesellschaft dazu, die gesell-
schaftspolitische Bedeutung der Pflege, von der Jens
Spahn gesprochen hat, weiter nach vorne zu bringen.

Ich finde, dafür sollten wir uns gemeinsam anstren-
gen, statt in dieser billigen Weise parteipolitische Pole-
mik zu betreiben, wie Sie sie hier heute betrieben haben.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das haben Sie doch gemacht! Das war nicht glaubhaft!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717503700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/9369 und 17/9393 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Gesundheit zum Antrag der SPD-Fraktion
mit dem Titel „Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ein-
führen – Chancen zu nötigen Veränderungen nutzen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf der Drucksache 17/7082, den Antrag der SPD-Frak-
tion abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Das
Erste war die Mehrheit. Damit ist die Beschlussempfeh-
lung angenommen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Hartz-IV-Sonderregelung für unter 25-Jäh-
rige abschaffen

– Drucksache 17/9070 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetz-
buch und Leistungseinschränkungen im
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaffen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Rechte der Arbeitsuchenden stärken –
Sanktionen aussetzen

– Drucksachen 17/5174, 17/3207, 17/6391 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Katja Kipping

Über Beschlussempfehlungen zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke und zum Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen werden wir später namentlich abstim-
men. Ich mache also schon jetzt darauf aufmerksam,
dass wir nach der Debatte zu diesem Tagesordnungs-





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


punkt zwei namentliche Abstimmungen durchführen
werden.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die
Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717503800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor eini-

gen Wochen wandte sich Birgit P. an mich, weil sie von
einer Sanktion bedroht war. Zur Erläuterung: Sanktion
bedeutet, dass das ohnehin niedrige Arbeitslosengeld II
in Schritten von 30 Prozent bis hin zum kompletten Ent-
zug gekürzt wird.

Birgit arbeitet als Ersatztagesmutter, das heißt, wenn
eine reguläre Tagesmutter erkrankt, dann springt sie ein.
Diese Arbeit macht ihr Spaß, und die Kinder schätzen
sie. Zum Leben reicht es aber nicht. Dafür kommen zu
wenige Stunden zusammen, in denen sie einspringen
muss. Deswegen ist sie auf aufstockende Hartz-IV-Leis-
tungen angewiesen.

Ihr Fallmanager hat sie nun angewiesen, Bewerbun-
gen für Stellen zu schreiben, auf denen sie mehr ver-
dient. Das hat sie auch getan. Allerdings hat sie in diesen
Bewerbungen wahrheitsgemäß angegeben, dass sie erst
im Sommer eine neue Stelle antreten kann, da sie mit
dem Verein, bei dem sie einspringt, auch einen Vertrag
mit Kündigungsfristen hat.

Der Fallmanager unterstellt ihr nun, mit diesem Hin-
weis sei sie selbst schuld daran, keinen neuen Job gefun-
den zu haben. Im Behördendeutsch heißt das: fehlende
Mitwirkung. Ist die erst einmal unterstellt, dann ist
Hartz IV schnell gekürzt.

Zum Glück hat sich Birgit P. Unterstützung gesucht.
Die drohende Sanktion konnte in letzter Minute noch ab-
gewendet werden. Es zeigt sich also: Es lohnt sich, sich
zu wehren.


(Beifall bei der LINKEN)


Birgit P. ist kein Einzelfall. Immer wieder werden in
unserem reichen Land arme Menschen durch Sanktions-
androhungen in Existenzangst gestürzt. Die Linke meint:
Kein Mensch hat es verdient, in Existenznot zu geraten.
Deswegen wollen wir die Sanktionen abschaffen.


(Beifall bei der LINKEN)


Beim Verhängen der Sanktionen unterlaufen immer
wieder Fehler. Davon zeugt zum Beispiel folgende Zahl:
40 Prozent der Widersprüche gegen Sanktionen werden
in Gänze oder teilweise stattgegeben. Hier wird Men-
schen also selbst nach den strengen Gesetzesregelungen
zu Unrecht das Arbeitslosengeld II gekürzt. Wir reden
hier von Menschen, die kein finanzielles Polster haben
und wirklich ins Nichts stürzen, wenn ihnen das ALG II
gekürzt wird.

Ein klassischer Einwand gegen die Sanktionsfreiheit
wurde von einem FDP-Redner präsentiert, als wir dieses
Thema vor einem Jahr diskutierten. Herr Kober sagte:
Man muss auch an die denken, die mit ihrer Hände Ar-
beit Sozialleistungen erwirtschaften. Solidarität ist keine
Einbahnstraße.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da hat er recht!)


Das klingt, als ob die FDP in tiefer Sorge um die Be-
schäftigten entbrannt sei. Tatsache ist jedoch: Die Be-
schäftigten erwirtschaften mit ihrer Hände Arbeit zual-
lererst einmal eines, die Gewinne der Konzerne und die
Boni der Topmanager.


(Zurufe von der FDP: Oh! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Klassenkämpferin!)


Dass die Beschäftigten zum großen Teil auch für das
Steueraufkommen verantwortlich sind, liegt nicht an den
Hartz-IV-Betroffenen. Das ist Ergebnis einer verfehlten
Steuerpolitik, auf deren Grundlage Geschenke für Super-
reiche ermöglicht werden und die Mittelschicht zur
Kasse gebeten wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer möchte, dass die Mittelschicht mehr Geld in der
Tasche hat, der muss nicht Erwerbslose schikanieren,
sondern der muss einfach für Steuergerechtigkeit sorgen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer meint, die Verkäuferin oder der Kfz-Mechaniker
hätte auch nur einen Cent mehr in der Tasche, wenn wir
weiterhin Erwerbslose mit Sanktionen schikanieren, der
irrt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Hartz-IV-Sank-
tionspraxis übt Druck auf die Löhne aus. Selbst ein der
Bundesagentur nahestehendes Institut, das IAB, hat be-
stätigt: Allein die Existenz von Sanktionen führt dazu,
dass die Bereitschaft, niedrigere Löhne und familienun-
freundliche Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen, zugenom-
men hat. – Im Gegensatz zur FDP wollen wir Lohndum-
ping nicht befördern, sondern beenden. Auch deswegen
muss die Situation von Erwerbslosen verbessert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein zweiter Grund. Werden Sanktionen verhängt, so
stürzt das den Betroffenen in existenzielle Not bis hin
zur Wohnungslosigkeit. Hier unterscheidet sich der linke
Freiheitsbegriff vom schwarz-gelben Freiheitsbegriff.
Die Freiheit, die wir meinen, meint immer auch die Frei-
heit von Existenznot und Wohnungslosigkeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir meinen, die Sanktionspraxis ist mit dem Grundrecht
auf ein menschenwürdiges Existenzminimum und auf
Teilhabe unvereinbar. Dieses Grundrecht gehört für uns
zum Kern eines zeitgemäßen, ja eines demokratischen
Sozialstaates.

Was meint das? In Vorbereitung auf die heutige De-
batte habe ich mich mit Menschen unterhalten, die die
Auswirkungen der Sanktionen in der Praxis erleben, sei
es als Gewerkschaftssekretär, Sozialpädagogin, Er-
werbslose. Die Ergebnisse sind in Filmspots zusammen-





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)


gefasst und auf meiner Webseite einzusehen. Darin kom-
men die Betroffenen selbst zu Wort.

Eine Erwerbslose zum Beispiel sagt: Auf dem Job-
center bin ich keine Bürgerin. Da werde ich entmündigt
und bevormundet. – Ein Rechtsanwalt erklärt: Für
Rechtsanwälte ist Hartz IV ein Vollbeschäftigungspro-
gramm. Aber für die Betroffenen ist es ein kolossales
Verarmungsprogramm und muss deswegen abgeschafft
werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Für eine Erwerbslosenberaterin ist das SGB II – das
meint das Sozialgesetzbuch – sogar ein Strafgesetzbuch.

Das klingt sehr hart. Aber zu beobachten ist tatsäch-
lich, dass Menschen, die auf Arbeitslosengeld II ange-
wiesen sind, immer wieder öffentlich unter Generalver-
dacht gestellt werden. Davon zeugt auch die Sprache der
offiziellen Dokumente. Nur ein Beispiel. Wer einen An-
trag auf Grundsicherung stellt, der muss eine Belehrung
unterschreiben, dass er sofort meldet, wenn ihm zum
Beispiel Betriebskosten gutgeschrieben werden. Dann
heißt es: Erfolgt dies nicht, ist die Arge verpflichtet, ein
Ordnungswidrigkeitsverfahren einzuleiten oder die Sa-
che wegen Verdachtes des Betruges gemäß § 263 StGB
der Staatsanwaltschaft zu übergeben. – Da hat jemand
gar nichts getan, und schon wird mit der Staatsanwalt-
schaft gedroht. Es ist doch kein Wunder, wenn Erwerbs-
lose in einer solchen Situation das Gefühl haben, sie hät-
ten ein Kainsmal auf der Stirn.

Ich meine, wer von Arbeitslosengeld II, das ohnehin
zu niedrig ist – das hat gestern auch das Berliner Sozial-
gericht so entschieden –, leben muss und immer wieder
Absagen auf Bewerbungen bekommt, der ist bereits dop-
pelt gestraft und den müssen Politik und Ämter nicht
noch zusätzlich verbal schikanieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke hat beantragt, namentlich abzustimmen.
Wir wollen das Abstimmungsverhalten veröffentlichen.
Jeder soll erfahren können, wie der Abgeordnete, die
Abgeordnete seiner Region abgestimmt haben, und zwar
aus gutem Grund. Zum einen offenbart sich in der Frage
„Wie hältst Du es mit den Sanktionen?“ auch: Wie ernst
meinen wir es wirklich mit dem Grundrecht auf Teil-
habe? Zum anderen ist die Frage der Sanktionen für die
Betroffenen eine zutiefst existenzielle und sehr persönli-
che Frage. Ich finde, bei einer so gleichermaßen grund-
sätzlichen wie persönlichen Frage muss es möglich sein,
dem eigenen Gewissen zu folgen. Die Fraktionsspitzen
sollten hier wirklich von dem Druck zur Fraktionsdiszi-
plin absehen.


(Jörg van Essen [FDP]: Dessen bedürfte es gar nicht!)


Im Bereich Hartz IV hat der Druck zur Fraktionsdiszi-
plin viele Fehler verursacht und uns immer wieder zu
Regelsätzen geführt, die vor Gericht scheitern. Machen
Sie Schluss damit! Geben Sie sich einen Ruck!

Es geht bei der Sanktionsfreiheit um nicht weniger als
die Beendigung von Existenzangst. Ich bitte um Ihre Zu-
stimmung.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717503900

Carsten Linnemann ist der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Carsten Linnemann (CDU):
Rede ID: ID1717504000

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kollegin-

nen und Kollegen! Frau Kipping, nachdem ich gehört
habe, wie Sie heute Morgen über die Vermittlung in
Deutschland, das Kontrollsystem und die Betreuung ge-
sprochen haben, denke ich: Es wird höchste Zeit, dass
wir die Dinge geraderücken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir sollten uns an dieser Stelle einmal bei den vielen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den deutschen Job-
centern bedanken, die eine hervorragende Arbeit ma-
chen. Sie sind in einem sehr sensiblen Bereich tätig;
denn sie haben es mit arbeitslosen Menschen zu tun, die
sich in einer sehr schwierigen persönlichen Situation be-
finden, und sie müssen sich individuell auf diese Ar-
beitslosen einstellen. Das ist für beide Seiten nicht ein-
fach.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Warum kürzen Sie dann bei der Bundesagentur?)


– Frau Kipping, hören Sie mir doch bitte erst einmal zu. –
Das ist für beide Seiten nicht einfach. Aber nehmen Sie
bitte auch zur Kenntnis, Frau Kipping, dass wir in
Deutschland eine Situation haben, die man nicht verheh-
len kann.

Wir haben die Situation, dass wir mit dieser Regie-
rung zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Sockelarbeits-
losigkeit in Deutschland abbauen. Viele Menschen
haben gesagt, diese Sockelarbeitslosigkeit sei naturgege-
ben. Das ist aber nicht so. Das sehen wir heute: Im letz-
ten Monat gab es 130 000 Arbeitslose weniger als im
vergangenen Jahr. Das sind nicht die Menschen, die aus
der Kurzzeitarbeitslosigkeit gekommen sind – das sind
noch mehr –, sondern aus der Langzeitarbeitslosigkeit.
Das ist der Rede wert.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717504100

Herr Kollege Dr. Linnemann, Frau Katja Kipping

möchte eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie die?


(Zuruf von der FDP: Sie hat doch schon so lange geredet!)



Dr. Carsten Linnemann (CDU):
Rede ID: ID1717504200

Das kann sie gerne machen.






(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717504300

Bitte schön.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717504400

Lieber Kollege, Sie haben zu Recht auf die Situation

der Beschäftigten in den Jobcentern hingewiesen, die in
der Tat nicht leicht ist. Sie müssen ausbaden, was ihnen
der Gesetzgeber eingebrockt hat. Wenn Ihnen aber diese
Situation so am Herzen liegt, könnte ich Sie dann für
eine gemeinsame Initiative gewinnen, die dafür sorgen
wird, dass die Bundesagentur genügend Geld hat, um
alle Stellen entfristen zu können, damit die dort Beschäf-
tigten mehr Sicherheit haben?


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Carsten Linnemann (CDU):
Rede ID: ID1717504500

Frau Kipping, die Arbeitslosenquote in Deutschland

ist nicht mehr so hoch wie vor vielen Jahren.


(Sabine Stüber [DIE LINKE]: 19 Prozent!)


Die offizielle Arbeitslosenquote geht ebenso wie die in-
offizielle zurück.

Sie haben einen Antrag zu den Sanktionen für unter
25-Jährige vorgelegt. Die Arbeitslosenquote bei den un-
ter 25-Jährigen ist zurückgegangen. Dementsprechend
werden die Beschäftigten so eingestellt, wie es dem
neuen Bestand an Arbeitslosen entspricht. Ich nenne Ih-
nen die Zahlen der unter 25-Jährigen, die wir frisch von
Eurostat bekommen haben. Wir liegen keineswegs ir-
gendwo im hinteren Bereich, sondern wir liegen vorne.
In Spanien und Griechenland sind mehr als 50 Prozent
der jungen Menschen arbeitslos. In Europa ist jeder
vierte Jugendliche arbeitslos, Frau Kipping. Nehmen Sie
das bitte zur Kenntnis.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir liegen mit 8 Prozent vorne. Das ist immer noch
hoch. Es ist aber durchaus der Rede wert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Der Erfolg hat natürlich viele Väter. Ein wichtiger Va-
ter sind die Arbeitsmarktreformen, die wir in den letzten
Jahren in Deutschland durchgeführt haben und die meine
Fraktion konstruktiv begleitet hat. Diese Politik führen
wir weiter fort.

Die europäischen Länder – das lesen wir jeden Tag –
wollen unsere Politik nachmachen. Die Politik des For-
derns und Förderns wird in anderen Ländern nachge-
macht. Diese Politik wollen Sie abschaffen. Das heißt,
die anderen Ländern steigen ein, und Sie wollen ausstei-
gen, indem Sie die Sanktionen bzw. den Kontrollmecha-
nismus abschaffen wollen.

Wir haben in der gesamten gesellschaftlichen Breite
überall Kontrollmechanismen: in der Schule, im Verkehr
und auch in der Politik wie hier im Deutschen Bundestag.
Übrigens hat es auch mit Fairness, Gerechtigkeit und Ver-
antwortung zu tun, dass wir ein solches Sanktionssystem
haben, nicht nur gegenüber den Arbeitnehmern und Ar-

beitgebern, die diesen Sozialstaat erst ermöglichen, son-
dern auch – das wird oft vergessen – gegenüber den ar-
beitslosen Menschen, die sich regelkonform verhalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Frau Kipping, gegen 97 Prozent werden keine Sanktio-
nen verhängt. Sie reden hier über 3 Prozent und tun so,
als ob Sie damit Politik für die Mehrheit dieses Landes
machen. Sie machen Politik vom Rand aus. Frau
Kipping, es ist in Ordnung, dass Sie das machen; das ist
legitim. Aber Sie erwecken in der Öffentlichkeit den
Eindruck – auch heute und in Ihren Anträgen –, dass Ihre
Auffassung die Mehrheitsmeinung ist. Das ist falsch.
Das ist nicht die Mehrheitsmeinung. Es gibt nämlich
eine schweigende Mehrheit in Deutschland. Das sind so-
wohl die Grundsicherungsempfänger, die sich an die Re-
geln halten, sowie viele Familien und Arbeitnehmer, die
vielleicht zu normal und zu langweilig für eine Schlag-
zeile in der Zeitung sind. Aber das sind Menschen, die
sich an die Regeln halten, die Steuern zahlen und die ar-
beiten gehen. Auch denjenigen gegenüber haben wir
eine Verantwortung. Deswegen sagen wir: Unsere Poli-
tik ist nicht fokussiert auf einen bestimmten Rand. Wir
nehmen die gesamte Gesellschaft in den Blick. Das ist
unsere Politik. Sie orientiert sich am Gemeinwohl und
nicht an irgendwelchen Rändern. Dafür stehen wir.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich gehe gerne noch auf zwei Punkte ein, die Sie mo-
nieren. Sie sagen, die rechtliche Situation gebe das nicht
her. Das stimmt nicht. Sie gibt es her. Es gibt Studien,
die empirisch belegen, dass unsere Politik so in Ordnung
ist. Frau Kipping, Sie kennen sicherlich die Studie des
Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, ZEW.
Sie können dem ZEW sicherlich vieles vorwerfen, nicht
aber Lobbyismus. Das ZEW hat 150 Jobcenter und
15 000 Personen in seiner Studie berücksichtigt und ist
zu dem Schluss gekommen, dass die Jobcenter, die sich
an das Regelwerk halten, bessere Vermittlungserfolge
erzielen als diejenigen, die sich weniger an die Regeln
halten. Der empirische Tatbestand ist also da.

Zur rechtlichen Situation gibt es zwei Urteile. Diese
sprechen – da gibt es nichts darum herumzureden – eine
klare Sprache. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts
aus dem Sommer 2010 heißt es explizit:

Die Verfassung gebietet nicht die Gewährung von
bedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozial-
leistungen.

Mit anderen Worten: Sozialleistungen sind in diesem
Land immer an Bedingungen geknüpft.

Im Zusammenhang mit dem prominenteren Urteil aus
Karlsruhe vom Februar 2010 hat der Deutsche Richter-
bund festgestellt: Die geltenden Sanktionsregeln ein-
schließlich der schärferen Sanktionen für unter 25-Jäh-
rige werden nicht als unvereinbar mit dem in diesem
Urteil aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit
dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten Grundrecht auf Ge-
währleistung eines menschenwürdigen Existenzmini-
mums angesehen.





Dr. Carsten Linnemann


(A) (C)



(D)(B)


Wir orientieren unsere Politik an der gesamten Breite
der Gesellschaft. Das ist unsere Politik. Deshalb lehnen
wir Ihre Anträge, meine Damen und Herren von der Lin-
ken, ab, genauso wie den Antrag der Grünen, in dem
eine Aussetzung der Sanktionen gefordert wird.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717504600

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist

für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Frau Gabriele Hiller-Ohm. Bitte schön, Frau Kollegin.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1717504700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-

leginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über zwei
Anträge der Linken und einen Antrag der Grünen, die
sich mit den Sanktionsregelungen für Hartz-IV-Bezieher
befassen. Das Arbeitslosengeld II kann zum Beispiel
drastisch gekürzt werden, wenn sich die Betroffenen wie-
derholt nicht an Vereinbarungen mit den Jobcentern hal-
ten. Die Linken fordern wieder einmal die völlige Ab-
schaffung der Sanktionen. Sie wollen eine sanktionsfreie
Mindestsicherung, also ein bedingungsloses Grundein-
kommen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein! Das ist ein Unterschied!)


Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist mit uns nicht
zu machen. Wir lehnen die Anträge der Linken deshalb
ab.


(Beifall des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD])


Für uns gilt der Grundsatz „Fördern und fordern“.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wer Sozialleistungen erhält, muss alles dafür tun, was
ihm oder ihr möglich ist, um aus dem Leistungsbezug
wieder herauszukommen und sich auf eigene Beine zu
stellen. Geschieht dies mutwillig nicht, so müssen Kon-
sequenzen möglich sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Man kann darüber streiten, wie Sanktionen aussehen
sollen. Das Urteil der Bundesverfassungsrichter vom Fe-
bruar 2010 gibt hier allerdings klare Hinweise. Es be-
sagt: Das physische Existenzminimum muss gesichert
bleiben. – Das bedeutet, dass Kürzungen bei Wohnen,
Essen, Trinken, Kleidung und medizinischer Versorgung
tabu sind. Der Spielraum für Leistungskürzungen ist so-
mit begrenzt.

Alle Sanktionen müssen darauf überprüft werden, ob
sie in das Existenzminimum eingreifen. Es ist deshalb
richtig, die Sonderregelungen für Jugendliche unter
25 Jahren genau unter die Lupe zu nehmen. Hier sind
heute drastische Kürzungen der Sozialleistungen ganz

schnell bis auf null möglich. Das geht nicht; denn das
entspricht nicht dem Urteil des Bundesverfassungsge-
richts.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habt ihr in der Großen Koalition beschlossen! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat doch Ihr Arbeitsminister vorangetrieben!)


Wir haben deshalb schon 2010, also vor zwei Jahren,
gefordert, dies zu ändern und die Sanktionen insgesamt
auf den Prüfstand zu stellen. Wir fordern erstens, dass
für junge Erwachsene dasselbe Sanktionsrecht wie für
alle anderen gilt. Dies muss natürlich verfassungsfest
sein. Also: Weg mit den Sonderregelungen! Zweitens.
Wir wollen, dass Sanktionen nicht Pi mal Daumen ver-
hängt werden; es muss auf den jeweiligen Einzelfall ein-
gegangen werden. Drittens. Ganz wichtig ist uns, dass
Kürzungen schnell wieder zurückgenommen werden,
wenn sich Sozialhilfebezieher besinnen und sich doch an
die Vereinbarungen mit dem Jobcenter halten. Viertens.
Wir fordern darüber hinaus, dass das physische Exis-
tenzminimum, vor allem Unterkunft und Heizung, auf
jeden Fall von Kürzungen ausgenommen bleibt; denn al-
les andere wäre verfassungswidrig. Fünftens. Wir wol-
len, dass Kürzungen vorher schriftlich angekündigt wer-
den und eine verständliche Rechtsfolgenbelehrung
erfolgt. Dies wurde von Schwarz-Gelb geändert – aus
unserer Sicht ein schwerer Fehler.


(Beifall bei der SPD)


Frau Ministerin, ich fordere Sie auf: Setzen Sie das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2010
endlich um! Unsere Vorschläge liegen seit langem auf
Ihrem Tisch. Schaffen Sie endlich verfassungsfeste Re-
gelsätze und Sanktionsregelungen, die das Existenzmini-
mum nicht antasten!

Bestimmte Zeitungen fordern in regelmäßigen Ab-
ständen immer wieder härtere Strafen für Hartz-IV-Emp-
fänger, weil es angeblich einen so großen Missbrauch in
diesem Bereich gibt. Die Wirklichkeit ist: Nur ein sehr
kleiner Anteil, gerade einmal 3 Prozent, aller Hartz-IV-
Empfänger handelte sich 2011 tatsächlich Sanktions-
maßnahmen ein. Die meisten von ihnen hatten es ver-
säumt, sich beim Jobcenter zu melden. Nur sehr wenigen
wurde die Leistung gekürzt, weil sie sich geweigert ha-
ben, eine Arbeit, Ausbildung oder Maßnahme anzuneh-
men. Tatsache ist auch, dass die Zahl der Arbeitsverwei-
gerer in den letzten Jahren beständig gesunken ist. Das
zeigt ganz klar: Fast alle Arbeitsuchenden halten sich an
die Vereinbarungen, wollen arbeiten und wären froh,
wenn sie einen Arbeitsplatz finden würden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Klatschen!)


Da müssen wir ansetzen. Aufgabe der Politik ist es,
Perspektiven zu schaffen. Die Arbeitslosigkeit ist in
Deutschland trotz der Krise in den letzten Jahren deut-
lich gesunken. Darauf hat der Kollege Linnemann hinge-
wiesen. Er hat aber versäumt, zu sagen, dass sich trotz-
dem die Situation vieler Menschen verschlechtert hat.
Besonders betroffen sind junge Menschen und Frauen.
Mehr als 65 000 Schülerinnen und Schüler verlassen all-





Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)


jährlich die Schule ohne einen Abschluss. Das entspricht
der Einwohnerzahl von Wedel und Itzehoe in Schleswig-
Holstein, meinem Bundesland. 1,5 Millionen junge Er-
wachsene sind ohne jeden Berufsabschluss. Das ent-
spricht der Einwohnerzahl von München. Fast jeder
dritte Erwerbstätige unter 35 Jahren befindet sich in
Deutschland in einem prekären, also unsicheren und
schlecht bezahlten Job. Hiervon sind besonders die
Frauen betroffen. Wie sieht es bei den Leiharbeitern aus?
Sogar fast jeder Zweite ist unter 30 Jahre alt.

Das dürfen wir nicht zulassen.


(Beifall bei der SPD)


Diese Zahlen sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von CDU/CSU und FDP, und besonders Ihre Ar-
beitsministerin – Sie ist jetzt leider nicht mehr da –
wachrütteln.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Doch! Sie ist da! Sie sitzt beim Kollegen Linnemann! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die redet mit dem Abgeordneten Linnemann!)


Was aber tut die Bundesregierung? Sie kürzt ausge-
rechnet bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten
und raubt den Jugendlichen das Recht auf eine zweite
Chance beim Schulabschluss oder bei einer Berufsaus-
bildung. Das, meine Damen und Herren, ist der falsche
Weg.

Wir fordern hingegen: Niemand darf in Deutschland
ohne Schul- und Berufsabschluss bleiben. Schluss mit
unsicheren und mies bezahlten Jobs!


(Beifall bei der SPD)


Wenn wir das hinbekommen, schaffen wir die Perspekti-
ven, die vor allem junge Menschen brauchen, um gar
nicht erst in Hartz IV zu fallen. Debatten über Sanktio-
nen können wir uns dann sparen.

Zu den Anträgen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717504800

Sie wissen aber, was das Licht vor Ihnen bedeutet?


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1717504900

Wir werden die Anträge der Linken ablehnen. Bei

dem Grünen-Antrag werden wir uns enthalten. Wir fin-
den bedenklich, dass die geltenden Sanktionen ohne ge-
setzliche Grundlage ausgesetzt werden sollen. Das ist
aus unserer Sicht rechtlich nicht möglich. Wir werden
uns bei diesem Antrag enthalten.


(Beifall bei der SPD – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die rechtlichen Grundlagen können wir doch schaffen!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717505000

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Bevor ich dem Kolle-

gen Kober das Wort gebe, erteile ich das Wort zu einer
Kurzintervention unserer Kollegin Katja Kipping. Bitte
schön, Frau Kollegin Katja Kipping.


(Unruhe bei der CDU/CSU und der FDP)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717505100

Tut mir leid, aber Frau Hiller-Ohm hat unterstellt, es

würde bei unserem Antrag um ein bedingungsloses
Grundeinkommen gehen. Nun würde ich persönlich hier
sehr gern für ein bedingungsloses Grundeinkommen
werben,


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Aber der Klaus Ernst will es nicht!)


aber – das möchte ich doch richtigstellen – zu meinem
großen Bedauern hat sich die Linksfraktion bisher mehr-
heitlich nicht für ein bedingungsloses Grundeinkommen
ausgesprochen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ein bisschen Vernunft sogar bei den Linken!)


Es gibt einen Unterschied – insofern muss man hier
schon noch einmal aufklären – zwischen einer sanktions-
freien Mindestsicherung, bei der es keine Sanktionen,
aber weiterhin eine Bedürftigkeitsprüfung gibt, und ei-
nem bedingungslosen Grundeinkommen. Die genauen
Unterschiede kann man sich auf der Internetseite des
Netzwerks Grundeinkommen anschauen. – Das wollte
ich richtigstellen.

Dann will ich noch eine Sache deutlich machen: Es
gibt einen Unterschied zwischen Bedürftigkeitsprüfung
und Sanktionsfreiheit. Auch das vom Kollegen
Linnemann zitierte Urteil stellt nicht auf die Richtig-
keit der Sanktionen ab, sondern darin geht es darum,
dass die Bedürftigkeitsprüfung zumindest verfassungs-
mäßig gedeckt ist, und das ist ein zentraler Unter-
schied. – Das wollte ich klarstellen.

Ebenso muss man klarstellen, dass der Richterbund
sich in der Anhörung sehr wohl sehr kritisch gegen Kür-
zungen ausgesprochen hat, die mehr als 30 Prozent be-
tragen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717505200

Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben das Wort.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1717505300

Frau Kollegin Kipping, es freut mich sehr, wenn Ihre

Fraktion sich besonnen hat und jetzt nicht mehr das
bedingungslose Grundeinkommen fordert.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Sie haben uns das im Bundestag ständig wieder auf den
Tisch gelegt. Wenn das jetzt vom Tisch ist, ist es gut.

Sie sagen in Ihrem Antrag aber ganz klar, dass Sie
eine – ich zitiere – „sanktionsfreie Mindestsicherung“
wollen. Das fordern Sie.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Seid ihr für Lohnkürzungen?)






Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)


Das ist mit uns nicht zu machen. Wir sagen, dass es
Sanktionen geben muss. Diese Sanktionen müssen aller-
dings – das ist überhaupt keine Frage; ich habe es ausge-
führt – verfassungsfest sein. Das Existenzminimum darf
nicht angetastet werden. Dazu haben wir uns auch klar
positioniert.

Sie gehen in eine andere Richtung. Wir wollen, dass
den Menschen, die in Not geraten, sofort Sozialleistun-
gen gewährt werden, dass den Menschen sofort geholfen
wird. Aber diese Menschen müssen auch alles dafür tun,
dass sie wieder auf die Füße kommen und sich von der
Sozialleistung schnell wieder lösen, um dann wieder auf
eigenen Beinen zu stehen. Das ist uns wichtig.

Das geht aus unserer Sicht am besten mit dem Grund-
satz, mit dem Prinzip „Fördern und Fordern“. Das För-
dern und Fordern muss aber gleichwertig sein. Es muss
gefordert werden können, aber natürlich muss auch die
Förderung da sein, und daran hapert es aus unserer Sicht
deutlich. Es passt nicht zusammen, wenn auf der einen
Seite gefordert wird, aber bei den arbeitsmarktpoliti-
schen Instrumenten gekürzt wird und jungen Menschen
damit die zweite Chance auf einen weiterführenden Bil-
dungsabschluss genommen wird. Es wird einseitig beim
Fördern gekürzt – das wollen wir nicht. Wir wollen för-
dern und fordern. Das muss im Gleichgewicht sein, und
dann ist das auch eine gute Sache.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717505400

Vielen Dank. – Wir fahren in unserer Rednerliste fort.

Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kol-
lege Pascal Kober. Bitte schön, Kollege Kober.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1717505500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kollegin Kipping, Sie sind in Ihrer Rede so tief in
die Grundsätze linksparteilichen Denkens eingetaucht,
dass man fast den Eindruck gewinnen könnte, es habe
sich um eine Bewerbungsrede zum Bundesvorsitz Ihrer
Partei gehandelt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Liebe Kollegin Kipping, daneben haben Sie mit der
Schilderung einer ganzen Reihe von Einzelschicksalen
versucht, hier Betroffenheit herzustellen. Ich sage Ihnen
ganz offen: Auch ich kenne solche Einzelfälle. Diese
Fälle können vielfach auch betroffen machen.

Sie können aber nicht leugnen, dass auch Sie diejeni-
gen Einzelfälle kennen, bei denen beispielsweise Arbeit-
geber berichten, dass ihnen Menschen zugewiesen wer-
den, einen Arbeitsplatz anzunehmen, die dann die
entsprechende Motivation nicht mitbringen. Sie kennen
gleichfalls Beispiele von Jobcentermitarbeitern und -mitar-
beiterinnen, die Ihnen von einer, sagen wir einmal, aus-
baufähigen Motivation von Arbeitsuchenden berichten
können.

Ich glaube, dass dieses Aufrechnen oder Gegenüber-
stellen von Einzelschicksalen uns alle nicht weiterbringt.
Hier muss es vielmehr um die Grundsätze unseres So-
zialstaates gehen. Diese Grundsätze beruhen auf einem
ganz spezifischen Solidaritätsgedanken.

Sie haben mich zu Recht aus einer meiner vergange-
nen Reden zitiert – allerdings nicht vollständig. Solidari-
tät ist keine Einbahnstraße. Solidarität ist eine Wechsel-
beziehung zwischen verschiedenen Partnern.

Das sind auf der einen Seite natürlich diejenigen, die
arbeitsuchend sind, die keine Arbeit bekommen, die ar-
beiten könnten, die arbeiten wollen und die darauf an-
gewiesen sind, dass dieser Sozialstaat ihnen Leistungen
gewährt, sie unterstützt und ihnen bei der Arbeitsuche
hilft. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen – das
haben Sie zu Recht zitiert –, die mit ihrer Hände Arbeit,
aber auch mit ihrer Köpfe Arbeit diese Leistungen durch
ihre Steuergelder finanzieren und diese Leistungen des
Sozialstaates überhaupt erst möglich machen. Beide
Gruppen sind sich zu Solidarität verpflichtet.

Dann gibt es aber noch eine dritte Personengruppe,
nämlich diejenigen, die nicht arbeiten können, beispiels-
weise aufgrund von Krankheit oder aufgrund einer Be-
hinderung. Diese Personengruppe ist ebenfalls auf Leis-
tungen des Sozialstaates angewiesen. Sie ist auch darauf
angewiesen, dass diejenigen, die selber etwas dazu bei-
tragen könnten, aus der Bedürftigkeit herauszukommen,
dies auch tun, damit mehr Leistungen für diejenigen zur
Verfügung stehen, die sich selber weniger helfen kön-
nen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das ist der Sozialstaatsgedanke, den wir hier leben
wollen. Das ist der Sozialstaatsgedanke, auf dem das
Prinzip „Fördern und Fordern“, das Sie mit Ihren Anträ-
gen außer Kraft setzen wollen, beruht.

Liebe Kollegin Kipping, Sie haben hier aus meiner
Sicht – darauf hat der Kollege Linnemann schon zu
Recht hingewiesen – ein völlig verzerrtes Bild der Wirk-
lichkeit wiedergegeben. Zunächst einmal handelt es sich
bei denjenigen, die von Sanktionen betroffen sind, nur
um eine kleine Gruppe. 3,4 Prozent der Arbeitsuchenden
sind im Jahr 2011 mit Sanktionen belegt worden. Auf
der anderen Seite sind also fast 97 Prozent nicht von
Sanktionen betroffen. Das bedeutet, dass das Zusam-
menspiel zwischen Arbeitsuchenden und Jobcentern ein-
wandfrei funktioniert.

Dort, wo es Verbesserungen geben sollte, arbeitet die
Arbeitsagentur intensiv daran, beispielsweise durch
Schulung ihrer Mitarbeiter.

Aber auch wir als Politiker haben etwas getan, wir
haben den Betreuungsschlüssel verbessert. So ist der
Betreuungsschlüssel für Arbeitsuchende unter 25 Jahren
so verbessert worden, dass von einem Mitarbeiter des
Jobcenters heute nur noch 75 Personen zu betreuen sind.
Das ist der richtige Weg. Wir müssen den Betreuungs-
schlüssel verbessern; denn dadurch entsteht mehr Frei-
raum für die Jobcentermitarbeiter, gezielt auf die Be-





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


dürfnisse der Arbeitsuchenden einzugehen. Das hat
diese Bundesregierung getan.

Auf der anderen Seite ist aber auch klar, dass alle
Bemühungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik nur dann
erfolgreich sein können, wenn entsprechende Arbeits-
plätze auch zur Verfügung stehen. Man muss feststellen,
dass keine Bundesregierung in diesem Bereich so erfolg-
reich war wie die jetzige Bundesregierung. Liebe Kolle-
gin Kipping, auch Sie sollten das anerkennen und nicht
immer nur über das Verteilen sprechen, sondern auch
über das Erwirtschaften und vor allen Dingen darüber,
wie Menschen selbstbestimmt leben können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717505600

Vielen Dank, Kollege Kober. – Nächste Rednerin in

unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Frau Brigitte Pothmer. Bitte
schön, Frau Kollegin Pothmer.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717505700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe

in der bisherigen Debatte den Eindruck gewonnen, dass
es Sinn macht, noch einmal auf die Ziele hinzuweisen,
die mit der Einführung der Grundsicherung für Arbeits-
lose verbunden waren. Da hieß es: Wir wollen einen dis-
kriminierungsfreien Zugang zur Grundsicherung schaf-
fen. Es hieß weiter: Wir wollen die Sozialhilfeempfänger
vom arbeitsmarktpolitischen Abstellgleis herunterholen.
Und es hieß: Wir wollen Integrationschancen für alle
schaffen. Statt sich an diesen Zielen zu orientieren, trägt
die Koalition ihre eigenen Konflikte zunehmend auf dem
Rücken der SGB-II-Bezieherinnen und -Bezieher aus.
Das jüngste, aber nicht das einzige Beispiel ist das Be-
treuungsgeld. Mit Ihrem Vorschlag, den SGB-II-Bezie-
hern den Zugang zu verwehren, grenzen Sie diese
Gruppe ein weiteres Mal aus. Sie stempeln sie ab und
machen sie zu den Parias dieser Gesellschaft. Sie treiben
die gesellschaftliche Spaltung damit weiter voran.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was auf der großen politischen Bühne geschieht, setzt
sich Tag für Tag in den Jobcentern fort. So darf und kann
es nicht weitergehen. Das Verhältnis von Arbeitsuchen-
den zu Fallmanagern muss auf eine grundlegend neue
Basis gestellt werden. Dazu müssen die Jobcenter mate-
riell entsprechend ausgestattet werden. Die Kürzungen
in der aktiven Arbeitsmarktpolitik müssen zurück-
genommen werden. Es müssen aber auch die Rechte der
Arbeitsuchenden gestärkt werden. Es muss Schluss
damit sein, dass die Arbeitsuchenden immer wieder in
die Rolle des Bittstellers gedrängt werden. Es muss ein
Verhältnis auf Augenhöhe geschaffen werden. Dazu ha-
ben wir Ihnen einen umfassenden Katalog vorgelegt. In
diesem Katalog fordern wir auch, dass die verschärften
Sonderrechte für junge Menschen aufgehoben werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])


Diese Sonderregelungen, Herr Kolb, waren von Anfang
an ein Fehler.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr habt sie doch gemacht!)


Frau Hiller-Ohm, Ihr Arbeitsminister in der Großen
Koalition hat diesen Fehler bis zum Anschlag verschärft.
Bei unter 25-Jährigen können Sanktionen, die bis zur
Wohnungslosigkeit führen, verhängt werden. Wenn sie
aus dem Elternhaus ausziehen und selbstständig werden
wollen, dann benötigen sie eine Genehmigung des Job-
centers.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Früher musste man arbeiten, um selbstständig zu werden!)


Ich weiß nicht, wer sich an die damalige Debatte erin-
nert. Ich erinnere mich gut, dass hier ein Schreck-
gespenst an die Wand gemalt wurde. Es wurde damals
behauptet, dass es ganze Auszugslawinen gäbe. Es
wurde so getan, als ob die 18-Jährigen ihren Geburtstag
quasi im Jobcenter feierten und nichts anderes im Sinn
hätten, als sich auf Kosten der Allgemeinheit eine eigene
Bude zu organisieren. Belege dazu: Fehlanzeige. Wir
haben diese Regelung schon damals insbesondere des-
wegen kritisiert, weil sie dafür sorgt, dass sich diejeni-
gen, die einen besonderen Unterstützungsbedarf haben,
aus dem System generell abmelden. Ich sage eines: Wer
untertaucht, dem kann man nicht mehr helfen. Das kann
am Ende dazu führen, dass die Kleinkriminalität steigt,
dass Schwarzarbeit zunimmt und dass die Verschuldung
dieser jungen Leute zunimmt. Das wollen wir nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich frage Sie: Kann unter diesem Sanktionsreglement
tatsächlich ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen
Fallmanagern und Jobsuchenden aufgebaut werden? Ich
sage Ihnen: Die Beschäftigten in den Jobcentern plä-
dieren mit Verve dafür, dass die Regelung für die unter
25-Jährigen abgeschafft wird. Die Beschäftigten dort
wissen genauso wenig wie ich, wie junge Erwachsene
unter diesen Umständen die Verantwortung für ihr eige-
nes Leben in die Hand nehmen können und sollen.

Was wir brauchen, ist Unterstützung. Was wir nicht
brauchen, ist Bestrafung. Anknüpfen statt Abkoppeln
muss die Devise sein.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717505800

Vielen Dank, Frau Kollegin Pothmer. – Nächster Red-

ner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Dr. Peter Tauber. Bitte schön, Kollege Dr. Tauber.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1717505900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worum geht
es in dieser Debatte eigentlich? Um einen ganz einfa-
chen Punkt, nämlich um die Frage, ob Menschen, die





Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)


Solidarität erfahren, auch etwas zurückgeben und sich an
Regeln halten, die man allgemein vereinbart hat.

Sie nennen das „Sanktionen“. Wir können deswegen
jetzt über die Frage diskutieren, ob Sanktionen zumutbar
sind, wen Sanktionen treffen – vielleicht aber auch da-
rüber, wie die Situation wirklich ist. Und wir können
auch darüber reden, was uns in dieser Debatte leitet, wel-
che Grundüberzeugungen wir teilen und welche nicht.

Schauen wir uns zunächst die Zahlen an: Es gibt
4,4 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Da-
von erfüllen 96,6 Prozent alle Voraussetzungen, um die
Leistungen, die ihnen die Solidargemeinschaft gewährt,
ohne Abstriche in Anspruch zu nehmen. 3,4 Prozent die-
ser Menschen hingegen tun das aus den unterschied-
lichsten Gründen offensichtlich aber nicht.

Es ist in der Tat eine Frage von Solidarität und auch
von Gerechtigkeit, dass man denjenigen, die sich nicht
an die Spielregeln halten, das ab und zu nicht nur sagt,
sondern sie im Zweifel auch darauf hinweist, dass das
Nichteinhalten von Regeln meistens nicht folgenlos ist,
auch für einen individuell nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt aber andere Möglichkeiten, als Leute obdachlos zu machen!)


Deswegen ist es nicht unsozial, wenn man das Einhalten
der Spielregeln einfordert und wenn man gegebenenfalls
konsequent Handlungen ableitet, wenn sich Menschen
nach einer wohlmeinenden Begleitung von fachlicher
Seite nicht eines Besseren belehren lassen.

Entscheidend ist, dass Sanktionen Gott sei Dank kein
Massenphänomen sind – die Kolportierung dieses Ge-
dankens muss man Ihnen an dieser Stelle vorwerfen –,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Androhung von Sanktionen!)


was die weitverbreitete und leider auch durch manche
Boulevardmedien immer wieder transportierte Unterstel-
lung, dass Hartz-IV-Empfänger es sich am liebsten
gemütlich machen würden, widerlegt. Eigentlich ist es
eine positive Nachricht, dass sich nur eine so geringe
Zahl von Menschen diesen Sanktionen gegenübersieht.

Trotzdem: Obwohl Sanktionen kein Massenphäno-
men sind, bleibt der Grundsatz bestehen – in dem sind
wir uns hoffentlich alle einig –, dass jeder, der unver-
schuldet in Not gerät, der arbeitslos wird, Hilfe von der
Solidargemeinschaft erfahren muss. Auch das muss man
an dieser Stelle sagen, weil Sie ein völlig falsches Bild
zeichnen.

Sie zeichnen noch an einer weiteren Stelle ein völlig
falsches Bild: Sie erwecken den Eindruck, wir Parla-
mentarier würden diese sozialen Leistungen gewähren
oder die Sanktionen festlegen. Wir machen das als
Gesetzgeber. Aber die Solidargemeinschaft besteht nicht
aus Abgeordneten und SGB-II-Empfängern, sondern sie
besteht aus denjenigen, die mit ihrer Arbeitskraft und
ihrem Steueraufkommen dafür sorgen, dass wir über-

haupt die entsprechenden Gesetze machen können,
damit den Menschen, die in Not sind, geholfen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das sind die beiden Gruppen, die in unserer Gesell-
schaft zusammengebracht werden müssen, damit die
einen bereit sind, Solidarität zu üben, indem sie etwas ge-
ben, und damit die anderen Hilfe erfahren, um im Ideal-
fall irgendwann der anderen Gruppe anzugehören und
sagen zu können: Ich habe Hilfe bekommen, jetzt bin ich
gerne bereit, selbst Hilfe zu geben. – Das ist der Grund-
gedanke und nicht das, was Sie teilweise suggerieren.

Die Ministerin hat, wie so oft, einen Satz gesagt, der
mir sehr gut gefällt und den ich an dieser Stelle zitieren
möchte:

Gerechtigkeit betrifft immer zwei Seiten: den, der
es bezahlt, und den, der es bekommt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieser Satz ist und bleibt richtig.

Wir wissen, dass nur 3,4 Prozent der Leistungsbezie-
her überhaupt von Sanktionen betroffen sind. Wenn man
dann hört, wie Sie über dieses Thema diskutieren, dann
müssen Sie sich angesichts der Pauschalität Ihrer Aussa-
gen den Vorwurf gefallen lassen, dass Sie – der Kollege
Linnemann hat das ausgeführt – alle Leistungsbezieher
darunter subsumieren und dadurch ein völlig falsches
Bild der Realität zeichnen.

Auch den Popanz, den Sie aufbauen, dass Jobcenter
willkürlich Leistungsbezieher abstrafen würden, kann
man so nicht stehen lassen. Ich weiß sehr wohl, dass die
Arbeit, die dort geleistet wird, nicht leicht ist. Es ist eben
ein Kennzeichen unseres Rechtsstaats, dass der Leis-
tungsbezieher die Möglichkeit hat, die Leistung, die ihm
gewährt wird, gerichtlich überprüfen zu lassen, wenn er
glaubt, dass er einen Anspruch auf mehr hat. Da zeigt
sich, dass da Menschen für Menschen arbeiten, keine
abstrakten Systeme. Dass es zu Überprüfungen kommt,
ist ein Ausdruck des Funktionierens des Systems; das
widerlegt nicht das Funktionieren des Sozialsystems. Sie
verkehren die Verhältnisse völlig. Auch das kann man
aus meiner Sicht so nicht stehen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir haben es an anderer Stelle immer wieder gesagt
– ich wiederhole es heute gerne –: Wenn die Arbeits-
losigkeit steigt, leuchtet es mir ein, zu fordern, dass mehr
Mittel bereitgestellt werden, um Menschen, die arbeits-
los sind, vielleicht auch gerade denen, die langzeitar-
beitslos sind, zu helfen. Wenn die Arbeitslosigkeit aber
sinkt und auch die Langzeitarbeitslosen nachweisbar von
dieser Entwicklung profitieren, zu fordern, die Mittel zu
erhöhen, ist eine sozialistische Dialektik, die sich mir
intellektuell leider verschließt. Das müssen Sie mir viel-
leicht an anderer Stelle erklären. Das ist bis zum heuti-
gen Tage keine logische Forderung. Deswegen halten
wir es für falsch und lehnen es ab.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)






Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)


Ich will noch einige Sätze zum Antrag der Linksfrak-
tion zur Abschaffung der Sonderregelung für unter 25-
Jährige sagen. In der Tat ist es um jeden jungen Men-
schen schade, der an dieser Stelle auf unsere Solidarge-
meinschaft angewiesen ist; denn wir wünschen uns, dass
junge Menschen selbstbestimmt ihr Leben aufbauen
können,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die dürfen doch nicht einmal zu Hause ausziehen! Wie sollen sie dann selbstständig werden?)


etwas in die Hand nehmen können, etwas schaffen kön-
nen. Die spannende Frage ist aber, ob man jungen Men-
schen hilft, wenn man sagt: „Weißt du was, mach du
mal!“, wenn es keinen gibt, der irgendwie hinschaut – die
Eltern nicht, auch die Solidargemeinschaft nicht –, wenn
man sagt: Du kannst dich da ausleben, wie du willst. –
Ganz ehrlich: Sie sind vielleicht in Ihrer Jugend solch
vorbildliche Menschen gewesen; ich war es nicht. Ich
habe an zwei, drei Stellen durchaus den berühmten Tritt
in den Hintern gebraucht, Gott sei Dank nur im übertra-
genen Sinne, bildlich gesprochen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie sich erst mal ein bisschen kundig!)


– Durch Dazwischenschreien wird es meistens nicht
richtiger, Herr Kollege. Ich habe in Demut zugehört.


(Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])


– Frau Kipping, auch Ihrer liebreizenden Stimme lau-
sche ich an jeder Stelle sehr gerne. Nur haben Sie heute
schon so viel geredet, dass ich fast wieder geneigt bin,
Ihnen den Schweigefuchs zu zeigen. Das mache ich
heute aber nicht, weil ich keine unnötige Schärfe in die
Debatte bringen möchte.

Es bleibt dabei: Junge Menschen brauchen genauso
wie andere, vielleicht manchmal einen Tick mehr, den
richtigen Schubs. Deswegen ist es genau das falsche Si-
gnal, zu sagen: Nein, da darf es erst recht keine Form
von Hilfestellung, von Sanktionen etc. geben. – Wie ge-
sagt: Sie sind vielleicht die besseren Menschen, die so
selbstreflektiert durch diese Welt gehen, dass sie das
können.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht nicht um „bessere Menschen“! Es geht ums Grundgesetz, Herr Tauber!)


Ich erlebe in meiner Umgebung, dass wir genau das
brauchen: Menschen, die einander helfen, die einander
sagen, wo Grenzen sind, die dann versuchen, gemeinsam
etwas zu erreichen. Wir schaffen gerade das, was Sie
wollen: dass junge Menschen selbstbewusst sind und
ihre eigenen Fähigkeiten entdecken.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wenn Sie zu Hause nicht ausziehen dürfen?)


Wir sagen nicht: Wisst ihr was, wir haben da ein System
geschaffen, das euch einfach an die Hand nimmt; ihr
braucht euch um die vielen weiteren Dinge nicht zu

kümmern; wenn ihr daheim ausziehen wollt – den Zwi-
schenruf nehme ich gerne auf –, zahlt euch die Solidar-
gemeinschaft eine Wohnung.

Für die Fälle, in denen ein Zusammenleben aus ver-
schiedenen Gründen nicht mehr möglich ist, gibt es In-
strumente. Aber ich finde es etwas schräg, die Solidarge-
meinschaft in Anspruch zu nehmen, wenn einer nur sagt:
Ach, weißt du was, Mama und Papa mag ich nicht mehr
sehen, eine eigene Bude wäre ganz schön.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit 25 Jahren hat man früher schon drei Kinder gehabt!)


Das will ich Ihnen an dieser Stelle sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen bleibt es dabei – damit komme ich zum
Schluss, Herr Präsident –:


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Gott sei Dank! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war das Beste!)


Natürlich können Menschen in diesem Land nach wie
vor auf die Solidargemeinschaft bauen. Wir tun alles
dafür, dass das so bleibt. Dazu gehört – ich habe es vor-
hin bereits gesagt –, dass wir die, die durch ihrer Hände
Arbeit dafür sorgen, dass wir als Gesetzgeber diesen
Rahmen überhaupt schaffen können, mitnehmen. Das
vermisse ich bei jedem Beitrag, der von der linken Seite
des Hauses kommt. Sie reden nur über diejenigen, die
Leistungen beziehen. Wir reden über beide: über diejeni-
gen, die die Leistung erwirtschaften, und über diejeni-
gen, die sie beziehen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717506000

Herr Kollege Tauber, Sie haben eben etwas verspro-

chen.


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1717506100

Das ist echte Solidarität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717506200

Vielen Dank, Kollege Tauber. – Nächste Rednerin ist

für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Katja Mast. Bitte schön, Frau Kollegin Katja Mast.


(Beifall bei der SPD)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1717506300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Worum geht es in dieser Diskussion? Es geht darum,
dass es im Sozialgesetzbuch II unterschiedliche Sank-
tionsregelungen gibt: für Jugendliche unter 25 – von de-
nen hören uns heute hier einige zu – und für über 25-Jäh-
rige. Meine Fraktion sagt ganz klar: Das wollen wir so
nicht.


(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber ihr wolltet das einmal! – Zuruf Katja Mast der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])





(A) (C)


(D)(B)


– Frau Pothmer, es ist gut, dass Sie gleich dazwischenru-
fen. Sie haben recht: 2007 haben wir das mitbeschlossen.
Im Übrigen haben die Grünen damals nach dem Vermitt-
lungsausschuss die Zumutbarkeitsregelungen für das
Arbeitslosengeld II, die sie heute nicht mehr wollen,
mitbeschlossen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD], an die Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Sie waren das! Sie haben persönlich zugestimmt!)


Es ist wichtig, dass man versteht, dass eine Regierungs-
koalition einem auch Kompromisse abverlangt, die
einem so nicht über die Lippen gekommen wären, wenn
man die eigene Politik zu 100 Prozent hätte durchsetzen
können.


(Beifall bei der SPD)


Koalitionen sind immer Bündnisse auf Zeit und ein Auf-
einanderzugehen von zwei Koalitionspartnern. Das war
damals auch für die Grünen so. Für uns ist es dort, wo
wir in Verantwortung sind, heute noch so.

Mir ist wichtig, festzuhalten: Warum diskutieren wir
über dieses Thema? Wir diskutieren über die Regelun-
gen für jugendliche Langzeitarbeitslose, nämlich für die,
die gemäß SGB II Arbeitslosengeld II beziehen. Für
meine Fraktion stelle ich fest: Wir wollen beides – for-
dern und fördern. Wir sagen: „Wir unterstützen dich,
damit du den Übergang in Ausbildung, den Übergang in
Arbeit hinbekommst“ – das ist das Fördern –, aber wir
sagen auch: „Wenn du nicht immer mitmachen willst,
dann gibt es an der einen oder anderen Stelle nicht so
viel Unterstützung.“

Mein Vorredner hat darauf bestanden, dass auch da-
rüber diskutiert wird, wer diese steuerfinanzierte Leis-
tung bezahlt.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es! Guter Mann!)


Es sind diejenigen, die jeden Morgen aufstehen: die
Bäckereifachverkäuferin, die Krankenschwester, der
Facharbeiter, der Polizist.


(Otto Fricke [FDP]: Ja!)


Das sind die ehrlichen Steuerzahler in unserer Republik.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Sie bezahlen mit ihren Steuermitteln die Transfersys-
teme. Es ist richtig, dass wir mit ihnen diskutieren müs-
sen. Das tue ich als Abgeordnete oft vor Ort in meinem
Wahlkreis in Pforzheim und im Enzkreis. Ich bekomme
dort die Rückmeldung, dass die Bürger es nicht verste-
hen würden, wenn es plötzlich gar keine Sanktionen
mehr gäbe.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)


Natürlich dürfen wir nicht alle Lasten auf die fleißi-
gen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abwälzen.

Das ist Ihr Problem angesichts der derzeitigen politi-
schen Großwetterlage. Wir dürfen die Kosten der Krise
nicht nur auf die ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steu-
erzahler, die jeden Morgen um acht, manchmal um sechs
oder um vier Uhr aufstehen und arbeiten gehen, abwäl-
zen.


(Beifall bei der SPD)


Wir finden vielmehr, dass auch die Profiteure der Krise
ihren Beitrag dazu leisten müssen. Deshalb gibt es zwi-
schen uns Unterschiede bei der Finanzmarkttransaktion-
steuer, bei der Vermögensteuer und bei vielen anderen
Punkten.

Lassen Sie mich auf das Thema Jugendarbeitslosig-
keit zurückkommen. Was brauchen Jugendliche eigent-
lich? Ist es wichtig, dass wir uns heute Morgen zwei
Stunden über die Sanktionsmaßnahmen im SGB II
unterhalten? Oder wäre es nicht viel wichtiger, dass sich
die Bundesregierung darüber unterhält, wie sie mit den
1,5 Millionen Jugendlichen in unserer Republik umge-
hen will, die zwischen 20 und 30 sind und keine Berufs-
ausbildung haben?


(Otto Fricke [FDP]: Wer hat denn das Thema aufgesetzt?)


– Wir nicht.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Otto Fricke [FDP]: Super! Die anderen waren es!)


Deshalb ist mir wichtig, dass wir uns überlegen: Wie
schaffen wir es, dass jeder Jugendliche einen Ausbil-
dungsplatz bekommt? Wie schaffen wir es, dass Jugend-
liche nach der Ausbildung nicht in Zeit- und Leiharbeit
landen?


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die habt ihr doch gemacht, die Gesetze!)


Wie schaffen wir es, ihnen Perspektiven zu geben? Ich
frage mich, was diese Bundesregierung dafür tut.

Im Spiegel dieser Woche gab es zwei große Artikel
über die Sozialpolitik in Deutschland, die entlarvend wa-
ren. Bei einem Artikel ging es um das Betreuungsgeld.
Da sind Sie nicht gut weggekommen. Bei dem anderen
Artikel ging es um die Spaltung am Arbeitsmarkt.


(Otto Fricke [FDP]: Wir machen doch keine Politik, um im Spiegel zu stehen!)


Ich habe mich darüber gewundert, Kolleginnen und Kol-
legen, dass die Bundesarbeitsministerin von der Leyen
in dem Artikel über die Spaltung am Arbeitsmarkt über-
haupt nicht vorgekommen ist. Das ist so, weil sie dazu
nämlich gar nichts sagt, obwohl es sich bei der Frage,
wie wir mit der Spaltung des Arbeitsmarktes und dem
wachsenden Niedriglohnsektor in Deutschland – das be-
trifft gerade Jugendliche ganz besonders – umgehen, um
eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen
handelt. Sie sollten sich einmal überlegen, warum Sie
von Ihrer Koalition bei diesen gesellschaftlichen Diskus-
sionen keine Rolle spielen: Fehlanzeige beim Thema
Mindestlohn; Fehlanzeige bei der Frage Regulierung





Katja Mast


(A) (C)



(D)(B)


von Praktikumsverhältnissen; Fehlanzeige bei der Frage:
„Wie finanzieren wir mehr Berufsausbildung für die Ju-
gendlichen?“; Fehlanzeige bei vielen weiteren Themen.

Meine Kollegin Hiller-Ohm hat vorhin betont, dass es
darum geht, sich in der aktiven Arbeitsmarktpolitik – also
beim Fördern, nicht beim Fordern – denjenigen zuzuwen-
den, die langzeitarbeitslos sind. Das betrifft eben auch die
800 000 Jugendlichen unter 25 Jahre, die erwerbsfähig
sind und Arbeitslosengeld II beziehen. Wie kriegen wir
es hin, dass die eine dauerhafte Perspektive haben und
nicht dauerhaft – ohne Schulabschluss und ohne Ausbil-
dung – vom Arbeitsmarkt abgehängt sind?

An dieser Stelle müssen wir einfach mehr – und nicht
weniger – Geld in die Hand nehmen. Was machen Sie?
Sie kürzen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik bis 2015
um 28,5 Milliarden Euro. Das ist für die Jugendlichen,
über die wir gerade diskutieren, Chancenklau.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Florian Bernschneider [FDP]: Das stimmt nicht!)


Den Jugendlichen nehmen Sie die Perspektive, in dieser
Gesellschaft eine gute Arbeit zu bekommen. Sie disku-
tieren nicht über deren Probleme und gehen nicht an
wichtige Themen heran. Wenn ich mit den Menschen
diskutiere und sage: „Es ist eine Unverschämtheit, dass
es keine Regulierung von Praktikumsverhältnissen für
junge Leute gibt“, bekomme ich immer Applaus, egal in
welcher Veranstaltung ich bin oder mit wem ich rede.
Sie tun da überhaupt nichts, obwohl 70 000 Jugendliche
im Bundestag eine Petition dazu abgegeben haben und
der Petitionsausschuss votiert hat, dass wir fraktions-
übergreifend etwas daran ändern müssen. Fehlanzeige in
Ihrer Politik!


(Otto Fricke [FDP]: Das Problem gibt es nicht erst seit zwei Jahren!)


Deshalb sage ich Ihnen: Sie können sich hier nicht nur
hinstellen und darüber philosophieren: Brauchen wir
Sanktionen, ja oder nein? Meine Fraktion sagt: Fördern
und Fordern. Ihre Politik muss es leisten, dass wir den
jungen Menschen beim Übergang von der Schule in den
Beruf und beim Übergang von der Ausbildung in eine
gute Arbeit helfen. Dazu habe ich von Ihnen noch keine
Konzepte gehört, Kolleginnen und Kollegen von der
Union und von der FDP.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717506400

Vielen Dank, Frau Kollegin Mast. – Nächster Redner

in unserer Aussprache für die Fraktion der FDP ist unser
Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege
Dr. Kolb.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1717506500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im

Antrag 17/5174 der Linken, der heute hier zur Beratung
ansteht, heißt es unter Punkt 3:

Es liegt in der Verantwortung des Staates, Rahmen-
bedingungen für ausreichend gute, existenz-
sichernde Arbeitsplätze zu schaffen, um Erwerbs-
losigkeit wider Willen entgegenzuwirken.

Herr Kollege Ernst, der Antrag datiert vom März 2011.
Ich kann Ihnen sagen: Wir sind den Forderungen dieses
Antrags in den letzten zwölf Monaten in hervorragender
Weise nachgekommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Auch wenn die deutsche Wirtschaft derzeit eine
kleine Schwächephase durchläuft, muss man sagen: Der
deutsche Arbeitsmarkt zeigt sich davon völlig unbeein-
druckt. Er ist in einer hervorragenden Verfassung. Die
Erwerbstätigkeit und die sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung nehmen saisonbereinigt weiter kräftig zu.
Wir haben Rekordzahlen zu vermelden: über 41 Millio-
nen Erwerbstätige und fast 29 Millionen sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigte. Von diesen Zahlen hätten
Sie und auch wir vor zwei Jahren nicht zu träumen ge-
wagt. Das, was diese Koalition am Arbeitsmarkt vorzu-
weisen hat, ist eine einzigartige Erfolgsbilanz.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Folgerichtig – das ist der Blick aufs Ganze, der nötig
ist; denn die Kollegin Mast hat sich ja wieder sehr am
Klein-Klein abgearbeitet – werden sowohl im Rechts-
kreis SGB II als auch im Rechtskreis SGB III im Ver-
gleich zum Vorjahr weniger Leistungen fällig. Es kann ja
auch gar nicht anders sein. Wenn Sie sich die Kurven der
beiden Rechtskreise anschauen, stellen Sie fest, dass es
einen ungebrochenen Abwärtstrend gibt. Das heißt: Wir
sind der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nachhaltig auf
der Spur. Keine Regierung ist dabei so erfolgreich gewe-
sen wie die jetzige.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Bild, das ich hier gezeichnet habe, gilt für aus-
nahmslos alle Bundesländer und, wie gesagt, für beide
Rechtskreise. Auch die Langzeitarbeitslosen – das ist
uns ganz wichtig – sind in diesen Trend eingebunden.

Dass wir im europäischen Vergleich einen der größten
Rückgänge bei der Erwerbsarbeitslosigkeit zu verzeich-
nen haben, will ich der Vollständigkeit halber erwähnen.
Ich bitte Sie, sich die entsprechenden Grafiken einmal
anzuschauen. Dann erkennen Sie nämlich, dass die euro-
päischen Länder bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise im
Jahr 2009 annähernd im Gleichklang waren. Sie erken-
nen ferner, dass die Arbeitslosigkeit nach 2009 in den
Ländern der EU-27 und in den 17 Ländern der Euro-
Zone gestiegen ist, nur nicht in Deutschland. In Deutsch-
land ist diese Zahl erfreulicherweise im Sinken begriffen.
Das zeigt, dass die Maßnahmen, die wir hier teilweise ge-
gen heftigste Kritik der Opposition durchgesetzt haben,
gegriffen haben. Sie haben dazu geführt, dass mehr Men-
schen in Beschäftigung gekommen sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


Und das ist auch gut so, weil ein Arbeitsplatz – Sie
wollen das nicht hören, aber das gilt, und diejenigen, die
die positive Erfahrung, wieder in Beschäftigung zurück-
zukehren, machen konnten, werden das nachhaltig unter-
streichen – die beste Sozialpolitik ist. Mit einem Arbeits-
platz kann man Menschen am besten in die Lage
versetzen, wieder selbstverantwortlich und mündig für
sich selbst zu sorgen und vorzusorgen. Diese Bemühun-
gen verfolgen wir. Mit diesen Bemühungen – das räume
ich ein – sind wir noch nicht am Ziel angekommen, auch
wenn sich die Etappenergebnisse in diesem Bereich
wirklich sehen lassen können.

Wir haben eine schmerzhafte Wirtschafts- und Fi-
nanzkrise hinter uns, aber dank der schwarz-gelben Ko-
alition sind die richtigen Entscheidungen getroffen wor-
den. Wir haben die Krise großartig gemeistert. Das ist
einzigartig in Europa. Nicht ohne Grund wird überall
vom „German Jobwunder“ gesprochen. Diesen Kurs
werden wir weiter fortsetzen, allen Anfeindungen der
Opposition zum Trotz.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und freue
mich auf die Verkündung der Arbeitslosenzahlen für
April in wenigen Tagen. Sie werden das, was ich hier ge-
sagt habe, nachdrücklich bestätigen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717506600

Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke un-

sere Kollegin Yvonne Ploetz. Bitte schön, Frau Kollegin
Yvonne Ploetz.


(Beifall bei der LINKEN)



Yvonne Ploetz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717506700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Immer wieder wird behauptet, Jugendliche seien politik-
verdrossen. Ich kann Ihnen heute bestätigen, dass das so
nicht der Fall ist.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Super!)


Es ist andersherum: Die Politik ist schon seit Jahrzehn-
ten komplett jugendverdrossen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Aber nur ihr!)


Sie kümmert sich ausschließlich darum, welche Pro-
bleme junge Menschen machen, und nicht darum, wel-
che sie haben, Herr Tauber.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Hartz-IV-Gesetzgebung für junge Menschen ist
dafür wirklich das beste Beispiel. Ich will heute gar nicht
darüber reden, dass die Einführung von Hartz IV ein
historischer Fehler war. Das haben wir oft genug betont.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Dadurch wird es auch nicht wahrer!)


Gestern wurde noch einmal gerichtlich untermauert,
dass es menschenunwürdige Bestandteile gibt.

Ich will mich auf die konkrete Situation von jungen
Menschen beziehen und dabei auf drei Punkte: das Kon-
strukt Bedarfsgemeinschaft, das Auszugsverbot und die
verschärften Sanktionsregelungen.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schaffen Sie in vier Minuten aber nicht!)


Das sind drei diskriminierende Sonderregelungen, die
umgehend zurückgenommen werden müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Seit 2006 werden unter 25-jährige Volljährige, also
junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren, der Be-
darfsgemeinschaft der Eltern zugerechnet. Sie sehen
junge Menschen also als ein Anhängsel der Eltern und
nicht als hilfebedürftige Einzelpersonen, die ganz eigene
Bedürfnisse und ganz eigene Probleme haben. Weil Be-
darfsgemeinschaft auch heißt, im gleichen Haushalt zu
leben, heißt das nach Ihrer Logik, dass einem jungen
Menschen nur 80 Prozent der Regelleistung zustehen.
Das hat mit einer bedarfsorientierten Sozialleistung
überhaupt nichts zu tun.


(Beifall bei der LINKEN)


Mit 18 ist man volljährig. Man ist voll geschäftsfähig.
Spätestens mit der Volljährigkeit sollten jedem
Menschen alle sozialen Unterstützungsleistungen voll
zustehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum zweiten Punkt. Jugendliche – das haben wir
heute schon öfter gehört – werden wesentlich stärker
nach SGB II bestraft als Erwachsene. Ihnen dürfen nach
einem Verstoß – es ist ein Verstoß immer aus Sicht der
Behörde – 100 Prozent der Regelleistungen für drei
Monate gekürzt werden. Das heißt: drei Monate 0 Euro.
Bei einem weiteren Verstoß – wiederum aus Sicht der
Behörde – erlauben Sie als Regierung, dass auch Heiz-
kosten und Miete gestrichen werden. Kein Staat hat das
Recht, einem Menschen die Lebensgrundlage zu neh-
men.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig! – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Richtig! Das tun wir auch nicht! – Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Das machen wir auch nicht!)


Wissen Sie eigentlich, wohin das führen kann? Zu
Verschuldung im Jugendalter, zu einem Abrutschen in
die Kriminalität, zu einem völligen Verlust des Vertrau-
ens in den Staat und vielleicht in die Demokratie, zu Per-
spektivlosigkeit, bis hin zu Krankheit und Armut.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das alles auf einmal?)


Dabei muss doch gerade die Politik dafür sorgen, dass
kein junger Mensch in eine solche Abwärtsspirale gerät.


(Beifall bei der LINKEN)


Überhaupt: Eine Regierung, die es schafft, eine Jugend-
armutsquote in Höhe von 22 Prozent im eigenen Land





Yvonne Ploetz


(A) (C)



(D)(B)


locker zu übersehen, hat überhaupt kein moralisches
Recht, Jugendlichen mit einem solchen Misstrauen ent-
gegenzutreten.


(Beifall bei der LINKEN – Sebastian Körber [FDP]: Wer misstraut ihnen denn? Sie haben doch kein Zutrauen in sie!)


Drittens. Ich komme zum Genehmigungsvorbehalt
beim Wohnungsauszug. Wenn junge Menschen das
18. Lebensjahr vollendet haben, aber im Hartz-IV-Bezug
sind, trifft sie ein faktisches Auszugsverbot.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist ja etwas ganz Schlimmes!)


Wenn sie ausziehen wollen, müssen sie nachweisen, dass
für sie in der Familie eine schwere Notlage besteht. Wir
finden, dass allein der Wunsch, auszuziehen, selbststän-
dig zu werden und auf eigenen Füßen zu stehen, ein
unterstützenswerter Schritt in das Erwachsenenleben ist.


(Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Das kann ja jeder machen!)


Nach Ihrer Logik müssen Behörden feststellen, dass
einem Jugendlichen in der Herkunftsfamilie zum Bei-
spiel Gewalt droht. Mussten Sie schon einmal die per-
sönlichsten und intimsten Facetten Ihres Lebens auf den
Tisch einer Behörde legen? Wissen Sie, was das für eine
Demütigung ist?


(Beifall bei der LINKEN)


Schwere Schicksale und ganze Lebenswege hängen von
dem Mut eines Jugendlichen oder von der richtigen Ein-
schätzung und der Bereitwilligkeit eines Sachbearbeiters
oder einer Sachbearbeiterin ab. Überlegen Sie doch ein-
mal, welche Auswirkungen die Gesetze, die Sie hier ma-
chen, in der Realität haben!

Und wenn die Gründe für den Auszugswunsch nicht
als schwerwiegend anerkannt werden? Selbst wenn sich
in einer Familie ständig das Karussell von Arbeitslosig-
keit, von Existenzangst, von ständigem Scheitern und
Selbstzweifel dreht, wenn aufgrund einer solchen Situa-
tion enormer Stress entsteht und immer wieder Konflikte
mit den Eltern entstehen, wenn Jugendliche nicht mehr
den Kopf freihaben, um die Schule oder die Ausbildung
anständig abzuschließen, wird oftmals gesagt, dass kein
Auszugsgrund vorliegt. Dann schlafen junge Menschen
lieber bei Freunden, mal hier und mal dort oder ziehen
sich auf die Straße zurück. Das nennt man auch Woh-
nungs- oder Obdachlosigkeit. Diese Schicksale provo-
zieren Sie mit diesen Sonderrepressionen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717506800

Frau Kollegin, auch wenn Sie Ihr Redemanuskript auf

die Lichtzeichen für die Redezeit gelegt haben, läuft
diese dennoch ab.


(Heiterkeit – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Licht stört immer so beim Lesen!)


Es ist zwar für Sie sehr angenehm, die Lichtzeichen
nicht zu sehen, aber ich muss Sie dennoch an die Rede-
zeit erinnern.


Yvonne Ploetz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717506900

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Präsident, ei-

nes müssen Sie sich noch anhören. – Der griechische
Schriftsteller Ioannis Kondylakis hat einst gesagt – ich
zitiere –: „Jugend ohne Fröhlichkeit kann nicht als Ju-
gend verstanden werden.“ Sie als Regierung müssen
endlich den Auftrag annehmen, jungen Menschen die
Steine aus dem Weg zu räumen, statt ihnen immer neue
Brocken hinzuzulegen.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717507000

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Markus
Kurth. Bitte schön, Kollege Markus Kurth.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717507100

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Bemerkenswert finde ich insbesondere bei den Koali-
tionsfraktionen, aber auch bei Teilen der SPD die Grund-
haltung gegenüber Arbeitsuchenden nach dem Motto:
Wenn nicht sofort gespurt wird – klar, Regelverstoß –,
dann muss man sofort sanktionieren, und damit hat sich
die Sache.


(Anton Schaaf [SPD]: An welchen Aussagen machen Sie das denn fest, Herr Kollege?)


Angesichts dieser Haltung musste ich an den Film
Ziemlich beste Freunde denken. Den haben vielleicht ei-
nige gesehen; er beruht auf einer wahren Begebenheit.
Es geht um einen älteren wohlhabenden Aristokraten,
der ab dem Halswirbel gelähmt ist und eine persönliche
Assistenz braucht, jemanden, der ihn pflegt, füttert, ihm
beim Verrichten der Notdurft und bei anderem hilft. Un-
ter den Bewerbern für diese Assistenz ist ein junger
Mann mit westafrikanischem Zuwanderungshintergrund.
Er kommt aus einer prekären sozialen Situation, lebt in
einer der Vorstädte von Paris,


(Pascal Kober [FDP]: Und wer hat diese Vorstädte gebaut? Ihre französischen Freunde!)


hatte eine eher verkorkste Jugend und ist wie das histori-
sche Vorbild auf dem besten Wege zu einer kriminellen
Karriere. Er bewirbt sich um diese Assistenz, weil er
vom Arbeitsamt dazu aufgefordert worden ist. Er sagt
aber unumwunden: „Unterschreiben Sie mir das, damit
ich mein Arbeitslosengeld kriege. Ich will die Stelle so-
wieso nicht.“ – Nach den deutschen Sanktionsmaßstäben
wäre dieser Mensch, wenn das Arbeitsamt davon Kennt-
nis gehabt hätte, sofort sanktioniert worden. Dann wäre
dieser wunderbare Film schon zu Ende.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: In welchem Film leben Sie eigentlich?)


Jetzt geschieht aber etwas ganz Besonderes: Diese
Person wird von dem Aristokraten – er stellt ihn nämlich





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


ein – gefordert, und zwar durch die Aufgabe und durch
Förderung, und der junge Mann entwickelt sich. Der
Aristokrat lässt ihn nicht gehen. Er sagt nicht einfach:
„Geh weg“, sondern er packt ihn bei der Ehre und fragt
ihn: „Ist das eigentlich alles, was du der Gesellschaft ge-
ben willst?“ Daraus entwickelte sich dann eine verant-
wortungsvolle Freundschaft und bei dem jungen Mann
auch eine verantwortungsvolle Persönlichkeit. Heute ist
er Unternehmer und Familienvater und hat drei Kinder.
Ich finde, die Grundhaltung, die in dieser Person, die erst
einmal sagt: „Nein, ich will nicht“, dann aber ernst ge-
nommen und gefördert wird, zum Ausdruck kommt,
sollte die Grundhaltung in allen Jobcentern in Deutsch-
land sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese Grundhaltung kommt auch in unserem Antrag
„Rechte der Arbeitsuchenden stärken – Sanktionen aus-
setzen“, der heute ebenfalls debattiert und über den
nachher namentlich abgestimmt wird, zum Ausdruck.
Wir wollen Mitspracherechte. Wir sagen keineswegs:
Wir setzen nicht auf Solidarität und Gegenleistung. Wir
wollen aber die Möglichkeit schaffen, dass Arbeitsu-
chende eigene Vorschläge machen. Wir wollen zum Bei-
spiel die Möglichkeit schaffen, dass sie zwischen ver-
schiedenen Angeboten, wenn es denn möglich ist,
auswählen. Vor allen Dingen wollen wir, dass sie bei
Maßnahmen, bei denen sie ganz klar für sich erkennen,
dass sie sinnlos sind und sie nicht weiterbringen, wider-
sprechen und diese ablehnen können, ohne gleich Sank-
tionen fürchten zu müssen. So wollen wir Eigenmotiva-
tion erzeugen und damit effektive Eingliederungs- und
Arbeitsmarktpolitik betreiben. Das tut nämlich wirklich
not.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich muss trotz meiner knappen Redezeit noch eine
Bemerkung zu Ihnen machen. Sie sagen immer: Nur
3,4 Prozent der Arbeitsuchenden sind im letzten Jahr
von Sanktionen betroffen gewesen. Es kommt aber nicht
nur auf diejenigen an, die von Sanktionen betroffen sind,
sondern auch auf die vielen Hunderttausende, die ihr
Verhalten aus Angst vor Sanktionen anpassen. Das muss
man mitberücksichtigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Das hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Ar-
beitsuchenden und am Ende des Tages auch auf das
Lohnniveau.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Jawohl!)


Ich schildere Ihnen zwei Fälle, die am Landessozial-
gericht in Hessen verhandelt wurden. Jemand hatte
große Befürchtungen wegen eines Vertrags, den er bei
einer Leiharbeitsfirma unterzeichnen sollte. Er erbat
beim Jobcenter nur eine kurze Bedenkzeit, um sich den
Vertrag erklären und übersetzen zu lassen. Schon wurde
die erste Sperrzeit für das Arbeitslosengeld wegen an-
geblicher Verweigerung der Arbeitsaufnahme verhängt.
Das darf nicht sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Noch schlimmer war der Fall eines in jeder Hinsicht
vom Arbeitgeber ausgenutzten Berufskraftfahrers, der
sanktioniert worden war, weil er sich gegen schlechte
Arbeitsbedingungen gewehrt hatte, und zwar in ganz re-
gulärer Weise.

Das sind, wie gesagt, zwei Fälle, die vor dem Landes-
sozialgericht in Hessen verhandelt worden sind. Dort
sind die Sanktionen dann aufgehoben worden, aber erst
in zweiter Instanz. Wie viele reale Fälle, die gar nicht
erst bei Gericht landen, stehen dahinter, in denen die Be-
troffenen schlechte Arbeitsbedingungen oder Löhne, die
sogar sittenwidrig sind, akzeptieren, aus Angst, sonst
könnte ihnen etwa der Anspruch auf ergänzendes Ar-
beitslosengeld II gestrichen werden? Auch das muss
man bedenken.

Ich bin der Ansicht: Bevor wir bei den Jobcentern
nicht zu einer partnerschaftlichen Praxis im eingangs ge-
schilderten Sinne gekommen sind und bevor wir nicht
Widerspruchsmöglichkeiten geschaffen haben, sollten
Sanktionen ausgesetzt werden. Darum sind viele Mit-
glieder meiner Fraktion – auch ich selbst – Mitglied des
Bündnisses für ein Sanktionsmoratorium, ebenso wie
Vertreter der Kirchen, der Wissenschaft, der Kultur und
der Parteien SPD und Grüne sowie der Linkspartei. Im
Sinne dieses Sanktionsmoratoriums bitte ich um Unter-
stützung für unseren Antrag.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717507200

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist für

die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Paul
Lehrieder. Bitte schön, Kollege Paul Lehrieder.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1717507300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Erlauben Sie mir erst noch ein paar Be-
merkungen zu meinem Vorredner.

Lieber Kollege Kurth, Sie haben hier mit großem Pa-
thos das Beispiel des Aristokraten zitiert, der den Ju-
gendlichen bei der Ehre gepackt hat. Der Jugendliche hat
Glück gehabt. Nicht jeder potenzielle Arbeitgeber ist ein
Aristokrat, der die Bestätigung ausstellt: „Jawohl, du
hast dich bei mir vorgestellt“, und danach fragt: „Bitte
schön, ist das alles, was du kannst?“ Ganz im Gegenteil:
Genau diese Aufgabe des Aristokraten erledigen bei uns
im Jobcenter die engagierten, dynamischen Fallmanager.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zu Ihnen, Frau Kollegin Kipping: Frau Kipping, Sie
haben eingangs, bei Einführung in den Tagesordnungs-
punkt, das Beispiel der Frau Birgit P. ausgeführt. Ich
gehe davon aus, dass es sich um einen real existierenden
nicht Sozialismus, sondern Fall handelt. Ich bin gerne





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


bereit, mich mit dieser Frau Birgit P. zu unterhalten, weil
ich hier ein Verständnisproblem habe. Wenn eine junge
Frau, die in einem Tagesmutterprojekt tätig ist, ein Job-
angebot bekommt, bei dem sie mehr verdienen kann,
und sagt: „Ich kann es aber erst in einem Vierteljahr an-
nehmen“, dann hat sie sich sicherlich bemüht, vorzeitig
aus dem bisherigen Vertragsverhältnis auszusteigen, da-
mit sie das neue Vertragsverhältnis eingehen, also den
dauerhaften Job annehmen kann. Von daher: Lassen Sie
uns doch gemeinsam daran arbeiten, dass die Langzeit-
arbeitslosen eine verbesserte Berufstätigkeit ausüben
können, und nicht sagen, dass sie jetzt in dem Tagesmut-
terprojekt bleiben muss.

Gestatten Sie mir auch, dass ich an dieser Stelle zu-
nächst ein paar Zahlen zur derzeitigen Entwicklung auf
dem Arbeitsmarkt nenne. Die Erwerbstätigkeit und die
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nehmen
weiter kräftig zu. Ich teile den Optimismus des Kollegen
Kolb, der gesagt hat: Wenn in wenigen Stunden die
neuen Arbeitslosenzahlen vorgestellt werden, dann wer-
den wir abermals Grund haben, uns zu freuen.

Ich will hier ausdrücklich auch ein Lob an die rot-
grüne Vorvorgängerregierung aussprechen. Sie haben
mit der Agenda 2010 die richtige Weichenstellung ein
Stück weit vorgenommen, sodass wir jetzt besser daste-
hen als viele Länder im südlichen Europa. Wir haben das
fortentwickelt, aber Sie haben mit dazu beigetragen, dass
wir hier arbeitsmarktpolitisch so gut aufgestellt sind. Es
gehört zur politischen Wahrheit, das auch einmal zu sa-
gen.

Meine Damen und Herren, im Zuge der einsetzenden
Frühjahrsbelebung ist die Arbeitslosigkeit vom Februar
bis März 2012 um weitere 82 000 Personen auf nunmehr
3,02 Millionen Personen gesunken. Die Arbeitslosen-
quote ging um 0,2 Prozentpunkte auf 7,2 Prozent zu-
rück.

Ich habe das Glück, dass es in meinem Wahlkreis
mehrere Landkreise mit geringer Arbeitslosenquote gibt;
der Landkreis Würzburg hat eine Arbeitslosenquote von
2,9 Prozent. Der Wahlkreis von Wolfgang Zöller hat eine
Arbeitslosenquote von 2,7 Prozent. Das ist Vollbeschäf-
tigung.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ist das überhaupt zulässig?)


– Das ist zulässig und Vollbeschäftigung.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717507400

Herr Kollege Lehrieder, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Ernst?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1717507500

Natürlich.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Na ja, jetzt wird es ernst!)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717507600

Lieber Kollege Lehrieder, Sie haben die positive Ent-

wicklung auf dem Arbeitsmarkt dargestellt.

Erste Frage. Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass
bei dieser Entwicklung etwas schiefläuft, wenn trotz ei-
ner hervorragenden Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt
und trotz einer guten ökonomischen Entwicklung die
Löhne stagnieren und im Niedriglohnbereich zurückge-
hen?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die aktuelle Tarifrunde verheißt etwas anderes!)


Zweite Frage. Könnten Sie sich vorstellen, dass das
vielleicht mit dem zu tun hat, worüber wir hier debattie-
ren, dass nämlich durch die Sanktionen die Menschen in
die Situation versetzt werden – insbesondere auch die
jungen Leute –, Arbeit aller Art annehmen zu müssen,
auch die, die schlechter bezahlt wird als andere, auch
die, bei der schlechtere Bedingungen akzeptiert werden
müssen als bei üblicher Arbeit, und insbesondere auch
die, die in Form von Leiharbeit oder befristeten Arbeits-
verhältnissen angeboten wird?

Zusammenfassend: Können Sie sich vorstellen, dass
die Sanktionen, über die wir hier diskutieren und die wir
abschaffen wollen, dazu beitragen, dass sich bei uns in
der Bundesrepublik Deutschland der Niedriglohnsektor
permanent ausweitet und dass trotz einer guten wirt-
schaftlichen Entwicklung eine negative Entwicklung bei
den Löhnen zu verzeichnen ist?


(Beifall bei der LINKEN)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1717507700

Lieber Kollege Ernst, herzlichen Dank für die Fragen.

Sie haben hier eben ausgeführt, dass die Sanktionen
dazu führen, dass insbesondere den Jugendlichen
„schlechte“ Arbeit vermittelt wird. Ich will Ihnen eines
sagen: Mir ist ein Jugendlicher, der in ein befristetes Ar-
beitsverhältnis vermittelt wird, lieber als ein Jugendli-
cher, der überhaupt kein Arbeitsangebot bekommt. Mir
ist ein Jugendlicher, der zunächst als Leiharbeiter die
Chance hat, seine Fähigkeit und seine Tüchtigkeit bei ei-
nem potenziellen Arbeitgeber unter Beweis zu stellen,
lieber als jemand, der überhaupt kein Arbeitsangebot be-
kommt.

Wir haben im Bereich der Leiharbeit, lieber Kollege
Ernst, vor Jahresfrist Mindestlöhne eingeführt. Wir de-
battieren derzeit über eine Lohnuntergrenze. Dabei tun
wir uns etwas schwerer, weil wir einen flächendecken-
den gesetzlichen Mindestlohn für entbehrlich und für
nicht zielführend halten, weil wir die Arbeitsplätze hier
halten wollen, weil wir Möglichkeiten zur Arbeit geben
wollen.

Ich will Ihnen eines sagen: Ich habe eigentlich erwar-
tet, dass Sie fragen, warum 26 Prozent derjenigen, die
arbeitslos wurden, direkt in den Hartz-IV-Bezug rut-
schen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das war nicht meine Frage!)


Das liegt daran – dazu hatten wir am Montag eine Anhö-
rung –, dass der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt bei





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


den Langzeitarbeitslosen – Herr Ernst, bleiben Sie ste-
hen, dann kann ich länger reden – ankommt.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Lohnentwicklung ist das Problem!)


Die stärkere Integration auch von Langzeitarbeitslo-
sen führt zusammen mit einem Bedarf nach Niedriglohn-
projekten dazu, dass diese eben tatsächlich erst einmal
zeitlich befristet oder über Leiharbeit eingestellt werden.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Insgesamt gehen die Löhne nach unten!)


Aber natürlich profitieren auch sie vom gesellschaftli-
chen und wirtschaftlichen Aufschwung.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Löhne stagnieren!)


Es ist doch so – das wissen Sie als Gewerkschafter am
allerbesten –, dass mittlerweile über die Lohnabschlüsse
deutlich wird, dass die Krise überwunden ist. Der Auf-
schwung kommt bei den Arbeitnehmern flächendeckend
an, auch bei den Geringqualifizierten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie hätten mich ruhig noch fragen können, lieber Kol-
lege Ernst, warum 26 Prozent der arbeitslos Werdenden
sofort Hartz-IV-Leistungen beziehen.


(Elke Ferner [SPD]: Jetzt beantwortet er schon Fragen, Herr Präsident, die gar nicht gestellt worden sind!)


Das liegt daran – das haben die Sachverständigen am
Montag im Übrigen ausgeführt –, dass über 50 Prozent
derjenigen, denen gekündigt worden ist, vorher langzeit-
arbeitslos waren.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ist es ein gutes Gesetz, wenn 40 Prozent der Klagen erfolgreich sind?)


Mir ist es lieber, wenn jemand für drei, vier oder fünf
Monate eine Beschäftigung bekommt, als wenn er über-
haupt kein Beschäftigungsangebot erhält.

Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität. Von
meinen Vorrednern wurde bereits darauf hingewiesen:
Die sozialen Leistungen sind keine Kuh, die im Himmel
frisst und auf Erden gemolken wird. Das heißt, all das,
was wir gewähren, muss durch steuerfinanzierte Mittel
von denjenigen, die in Lohn und Brot stehen, erwirt-
schaftet werden. Deshalb sind wir ihnen gegenüber ver-
antwortlich. Deshalb auch die von Ihnen als Sanktionen
apostrophierten Einschränkungen. Fordern und För-
dern! Das heißt, ich kann jedem zumuten, sich zu bewer-
ben.

Ich habe die Frage erwartet – Herr Ernst, auch das
hätten Sie mich fragen können –,


(Lachen bei der SPD und der LINKEN)


warum im letzten Jahr über 900 000 Sanktionen ver-
hängt worden sind. Natürlich ist die Anzahl der Sanktio-
nen im letzten Jahr etwas höher gewesen. Das liegt aber

schlicht und ergreifend daran, dass durch eine florie-
rende Wirtschaft der Jobcentermanager ein Angebot ma-
chen kann und dafür den Kunden einbestellt – es handelt
sich nicht um Fälle, Bedürftige oder Bittsteller, sondern
um Kunden des Jobcenters – bzw. zu einem Vorstel-
lungsgespräch bittet. Wenn dann der Kunde sagt, dass er
dieses Angebot nicht wahrnehmen will, oder wenn er gar
nicht erst kommt, dann muss eine Sanktion im Interesse
der Allgemeinheit verhängt werden.

Von 912 000 im Jahr 2011 verhängten Sanktionen sind
590 000 darauf zurückzuführen gewesen, dass Termine
nicht eingehalten worden sind. Aber Termine einzuhalten
– es fängt bei Ihnen an, Frau Kipping, dass Sie zu Beginn
dieser Debatte hier im Plenarsaal des Bundestages sein
sollen –, muss jeder in seinem beruflichen Leben ein
Stück weit lernen und praktizieren. Der zweite Punkt ist
– 147 000 Fälle –, dass Vereinbarungen mit Jobcentern
nicht erfüllt werden. Der dritte Punkt ist – 138 000 Fälle –,
dass zumutbare Jobs oder Fortbildungen abgelehnt wor-
den sind. Jetzt frage ich Sie, lieber Klaus Ernst – schwät-
zen Sie nicht! –: Wenn jemand einen zumutbaren Job
ablehnt – 138 000 Fälle – und deshalb weniger Geld be-
kommt, ist das unbillig?


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wenn 40 Prozent der Klagen erfolgreich sind, müsst ihr nachdenken, ob das sinnvoll ist! 40 Prozent der Klagen sind erfolgreich!)


Im Vorjahresvergleich ist die Arbeitslosigkeit – da-
rauf habe ich bereits hingewiesen – in allen Bundeslän-
dern zurückgegangen. Auch die Zahl der Arbeitslosen,
die länger als zwölf Monate arbeitslos war, hat im Ver-
gleich zum Vorjahr deutlich abgenommen. Die Chancen
für einen Langzeitarbeitslosen – hierauf habe ich bereits
hingewiesen – sind derzeit so gut wie noch nie.

Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, dass die
überwiegende Zahl der Leistungsbezieher sehr engagiert
ist und unbedingt wieder in Arbeit kommen will. Die
hier heftig diskutierten Sanktionen betreffen – auch hie-
rauf wurde von meinen Vorrednern bereits hingewiesen –
nur einen kleinen Bruchteil der Langzeitarbeitslosen.


(Elke Ferner [SPD]: Sie müssten noch schneller reden, dann wird es noch undeutlicher!)


Im letzten Jahr waren es lediglich 3,4 Prozent aller Leis-
tungsberechtigten. In Anbetracht der Zahlen vermutet
die Bundesagentur für Arbeit, dass eine relativ kleine
Gruppe mehrfach sanktioniert wird.

Es ist mir wichtig, noch einmal klarzustellen, dass es
in der heutigen Debatte keinesfalls um die große Mehr-
heit der Langzeitarbeitslosen geht. Wir sprechen hier
auch nicht über die Ahndung von vorsätzlichem Betrug,
sondern von der Verletzung von Pflichten, welche der
Gesetzgeber den Unterstützten völlig zu Recht auferlegt
hat.

Liebe Frau Ploetz, Sie haben von einem Auszugsver-
bot gesprochen. Ein Auszugsverbot kennt unsere
Rechtsordnung nicht. Es kann jeder junge Mensch auch
unter 25 Jahren seinen eigenen Wohnsitz gründen. Die
Frage ist aber, ob ein arbeitsloser Jugendlicher unter





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


25 Jahren die Wohngeldkosten von der Allgemeinheit
erstattet bekommen muss. Dazu sage ich Nein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es hat früher einmal faktisch ein Auszugsverbot ge-
geben. Das hat aber ein Staat gegen seine Bürger ver-
hängt. Davon möchte ich hier eben nicht sprechen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das hat nichts damit zu tun!)


Meine Damen und Herren, wir diskutieren über die
Menschen in diesem Land, die zu Recht Hartz IV bezie-
hen, aber ihre Pflichten verletzt haben. Wer Leistungen
erhält, muss sich in Kooperation mit seinem Arbeitsver-
mittler bzw. Fallmanager darum bemühen, möglichst
bald wieder eine zumutbare Beschäftigung zu finden.

Die Leitphilosophie heißt Fordern und Fördern. Da-
hinter steht die Idee, Arbeitslose zu qualifizieren, dafür
aber auch bei der Suche nach einem Job sehr nachdrück-
lich Engagement und Eigeninitiative zu fordern.

Die Ausgangslage war, wie bereits erwähnt, noch nie
so gut wie zum jetzigen Zeitpunkt. Wann, wenn nicht in
einem so guten konjunkturellen Umfeld wie derzeit, sol-
len Leistungsbezieher sonst den Schritt aus der staatli-
chen Abhängigkeit schaffen? Die meisten Betroffenen
wollen dies doch auch und bemühen sich redlich, wieder
in Arbeit zu kommen. Das stellt sicherlich niemand in
Abrede.

Fast 97 Prozent aller erwerbsfähigen Hartz-IV-Emp-
fänger verhalten sich der Statistik der Bundesagentur
zufolge regelkonform, und zwar nicht aus Angst vor
Repressionen, sondern weil sie die Einsicht haben, dass
sie mit einer entsprechenden Mitwirkung, dem Gang
zum Vorstellungsgespräch und der Meldung bei einem
potenziellen Arbeitgeber am ehesten die Chance haben,
aus der von ihnen nicht gewollten Arbeitslosigkeit wie-
der herauszukommen. Das sollten wir honorieren. Wir
sollten nicht die extremen Beispiele, die Sie vorhin
zitiert haben, für eine Änderung heranziehen.

Was die Grünen angeht, halte ich von dem Morato-
rium nichts, lieber Herr Kurth. Sie haben damals Ein-
sicht und Vernunft gezeigt, als Sie die Regelungen der
Agenda 2010 auf den Weg gebracht haben. Mittlerweile
ist bei einem Teil der Grünen in diesem Bereich eine kol-
lektive Amnesie aufgetreten. Es wäre gut, wenn Sie es
weiterentwickeln, wie wir es im letzten Jahr bei den
Hartz-IV-Regelungen gemacht haben.

Ich halte beide Anträge für ablehnungsreif.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717507800

Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt als nächste Redne-

rin für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kolle-
gin Angelika Krüger-Leißner. Bitte schön, Frau Kolle-
gin.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1717507900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Seit einem Jahr beschäftigen wir uns mit die-
sem Thema, das die Linken mit ihrem Antrag einge-
bracht haben, in dem die generelle Abschaffung der
Sanktionen im SGB II gefordert wird, wie auch mit dem
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Wir haben dazu im
Ausschuss heftig diskutiert und Experten angehört.
Heute ziehen wir unsere Schlussfolgerungen daraus.

Der Antrag der Grünen hat viele gute Aspekte. Am
liebsten würde ich ihm zustimmen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es doch auch!)


Denn eine Reform der Grundsicherung in Bezug auf die
Verbesserung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Betrof-
fenen und die Stärkung ihrer Rechte ist ein guter Ansatz,
der auch unsere Unterstützung findet.

Allerdings können wir – darauf haben auch schon
meine Kollegen hingewiesen – bei der Forderung, die
Sanktionen im SGB II auszusetzen, nicht mitgehen. Ein
solches Sanktionsmoratorium ist rechtlich nicht mög-
lich.

Heute beraten wir darüber hinaus einen neuen Antrag,
der auch durch die Linke eingebracht wurde. Darin wird
gefordert, die Hartz-IV-Sonderregelungen für unter
25-Jährige abzuschaffen. Auf den ersten Blick finde ich
das ganz geschickt, alle Achtung. Denn auch wir sind
der Ansicht, dass die verschärften Sanktionen gegen die
unter 25-Jährigen abzuschaffen sind. Es gibt nichts, das
diese Ungleichbehandlung von Arbeitsuchenden unter
25 und älteren Langzeitarbeitslosen über 25 bei den
Sanktionen rechtfertigt. Die Grenze ist willkürlich gezo-
gen. Ein sachlicher Grund für diese Art der Altersdiskri-
minierung existiert nicht. Allein wegen seines Alters ist
ein jüngerer Arbeitsuchender nicht schärfer zu bestrafen
als ein älterer.

Lassen Sie mich darum deutlich sagen: Integration in
Ausbildung und Arbeit muss immer im Vordergrund ste-
hen, und zwar gerade bei jungen Menschen. Die beson-
deren Sanktionsregelungen für die unter 25-Jährigen
sind dabei keineswegs motivationsfördernd. Sie bewir-
ken eher das Gegenteil, nämlich das Herausdrängen aus
dem Integrationsprozess. Im schlimmsten Fall entziehen
sich die Betroffenen der Hilfe und der Unterstützung im
SGB-II-System und gehen dem regulären Arbeitsmarkt
auf Dauer verloren. Ich bin davon überzeugt, dass wir
uns das in unserer Gesellschaft nicht leisten können.
Anstatt den jungen Menschen eine Perspektive zu bie-
ten, riskieren wir, dass sie sich abwenden. Das muss ein
Ende haben.

Die angesprochenen Sonderregelungen verstoßen zu-
dem gegen das Gleichbehandlungsgebot. Die verfas-
sungsrechtlichen Bedenken haben uns die Sachverstän-
digen in der Anhörung bestätigt. Man könnte meinen,
damit wäre Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Fraktion der Linken, nun zustimmungsfähig.
Aber weit gefehlt! Die Linke wäre nicht die Linke, wenn
sie nicht wieder ein Sammelsurium an Forderungen im
Antrag hätte, die zum Teil recht abenteuerlich sind. Ich





Angelika Krüger-Leißner


(A) (C)



(D)(B)


halte das für konzeptionsloses Agieren. Ich will Ihnen
das an einem Beispiel des Antrags erläutern. Sie wollen
unter anderem, dass Grundsicherungsleistungen zu ge-
währen sind, soweit die Ausbildungsförderung gemäß
BAföG bzw. die Berufsausbildungsbeihilfe die Siche-
rung des Existenzminimums nicht erfüllt. Das besondere
System der Ausbildungsförderung schließt aber einen
Leistungsanspruch gemäß SGB II für junge Menschen in
der Ausbildung aus. Wenn Sie daran etwas ändern wol-
len, ist nicht das SGB II zu ändern, sondern Sie müssen
an die Ausbildungsförderung herangehen und sie gesetz-
lich neu regeln. So wie jetzt von Ihnen beantragt, geht es
nicht. Das kann unsere Unterstützung nicht finden,
obwohl wir mit Ihnen bei den Forderungen zur Abschaf-
fung der verschärften Sanktionsregelungen für unter
25-Jährige übereinstimmen.

Lassen Sie mich deutlich sagen: Eine generelle Ab-
schaffung der Sanktionen im SGB II lehnen wir ab. Ein
Freibrief, wie Sie ihn in einem Ihrer beiden Anträge for-
dern, ist unserem Rechtssystem fremd. Auf allen Rechts-
gebieten gibt es Sanktionsregelungen bei Fehlverhalten
oder Missbrauch. Das ist auch im SGB II sinnvoll und
gerechtfertigt. Wer sich in betrügerischer Absicht durch
Vorspiegelung falscher Tatsachen oder durch wahrheits-
widrige Angaben Leistungen erschleicht, ist im System
der Grundsicherung nicht schutzwürdig.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist ein Betrugsversuch! Da brauche ich keine Sanktionen!)


Aber wovon reden wir? Zum Glück – das möchte ich
hier besonders betonen – ist die Zahl der Fälle von So-
zialbetrug verschwindend gering. Aber natürlich bleibt
es dabei: Für Missbrauch und anderes Fehlverhalten
müssen wir vorsehen, dass es auch geahndet wird. Der
generelle Wegfall der Sanktionen im SGB II wäre aus
meiner Sicht ein falsches Signal. Die ganz große Mehr-
heit der Leistungsbezieher im Rechtskreis des SGB II
verhält sich rechtstreu und korrekt. Wir können diesen
Menschen doch nicht ernsthaft sagen: Selbst schuld,
wenn ihr euch rechtstreu verhaltet! – Nichts anderes aber
würde es bedeuten, wenn wir die Sanktionsregelungen
generell streichen würden.

Ich will aber an dieser Stelle eines ganz deutlich
machen: Die SPD-Fraktion sieht durchaus Änderungsbe-
darf bei den geltenden Regelungen. Ich will drei Bei-
spiele nennen – darüber sollten wir in der nächsten Zeit
nachdenken und diskutieren und gegebenenfalls zu
Änderungen kommen –:

Erstens. Das Fehlen oder die Unverständlichkeit von
Rechtsfolgenbelehrungen ist völlig inakzeptabel. Da
unterstütze ich ganz klar den Antrag der Grünen, der for-
dert, hier unbedingt nachzubessern. Natürlich müssen
Rechtsfolgenbelehrungen in schriftlicher Form erfol-
gen. Sie müssen verständlich und einzelfallbezogen for-
muliert sein.

Zweitens. Wir wollen eine aktive Mitwirkung des
Hilfeempfängers bei der Arbeitsuche durch einen Stopp
der Sanktionen belohnen. So sind Art und Umfang einer

Sanktion abzustufen, und eine Sanktion müsste leichter
zurückgenommen werden können als bisher.

Drittens. Ein weiteres Problem ist das Fallmanage-
ment bei Beratung, Betreuung und Vermittlung arbeitsu-
chender Menschen. Das klappt nicht in jedem Fall so,
wie wir uns das wünschen. Hier muss individueller auf
die einzelnen Arbeitsuchenden eingegangen werden.

Ich finde, wir sollten auch noch einmal über den
Betreuungsschlüssel nachdenken. Wir haben ihn mithilfe
auch meiner Fraktion so verändert, dass für die unter
25-Jährigen die gute Relation von 1 : 75 gilt.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717508000

Bitte achten Sie auf Ihre Redezeit.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1717508100

Aber vielleicht ist es gerade bei diesem Personenkreis

wichtig, darüber nachzudenken, ob wir für bessere Bera-
tung, Betreuung und Vermittlung nicht den Betreuungs-
schlüssel nachbessern sollten.

Sie sehen, wir setzen uns mit der Problematik der
Sanktionen ehrlich auseinander und machen Änderungs-
vorschläge zur Verbesserung für die Betroffenen. Ich
lade Sie dazu ein, mitzumachen.

Danke.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717508200

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-

tion der FDP unser Kollege Sebastian Blumenthal. Bitte
schön, Kollege Blumenthal.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sebastian Blumenthal (FDP):
Rede ID: ID1717508300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Die bestehenden Möglichkeiten der stufenweisen
Kürzung von Leistungen halte ich für ausreichend.

Das hat die ehemalige Berliner Sozialsenatorin
Carola Bluhm von den Linken geäußert. Heute legt die
Bundestagsfraktion der Linken uns unter anderem einen
Antrag vor, in dem offenkundig diese Einschätzung ihrer
eigenen Fachpolitikerin nicht mehr geteilt wird. Die
Linke fordert nämlich die komplette Abschaffung sämt-
licher Sanktionen im SGB II und im SGB XII.

Grundsätzlich verhält es sich so, dass die Verhängung
von Sanktionen kein Alleinstellungsmerkmal des SGB II
oder des SGB XII wäre. Ich kann als Beispiel dafür das
SGB I nennen. Dort ist in § 66 ausdrücklich vorgesehen,
den Antragstellern bei fehlender Mitwirkung die Trans-
ferleistungen entweder anteilig zu streichen oder auch
komplett zu entziehen. Ein anderes Beispiel betrifft den
Wirkungsbereich des SGB III. Nach § 148 ist es mög-
lich, das Arbeitslosengeld zu sperren, wenn Mitwir-
kungspflichten verletzt werden.





Sebastian Blumenthal


(A) (C)



(D)(B)


Die Verhängung von Sanktionen ist somit kein Al-
leinstellungsmerkmal, und es gibt sie auch nicht erst seit
Einführung der Hartz-Gesetze. Im alten Bundessozial-
hilfegesetz, das durch das SGB II und das SGB XII
abgelöst wurde, hat es den einschlägigen § 25 gegeben.
In § 25 hieß es unter der Überschrift „Ausschluß und
Einschränkung der Leistung“:

Wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten oder
zumutbaren Maßnahmen nach den §§ 19 und 20
nachzukommen, hat keinen Anspruch auf Hilfe
zum Lebensunterhalt.

Insofern ist die Behauptung, man habe durch die
Hartz-Gesetze Verfassungsgrundsätze verletzt, nicht zu-
treffend. Wir haben es vom Grundsatz her mit der glei-
chen Rechtslage zu tun, die auch schon vor den Hartz-
IV-Gesetzen bestanden hat. Bei nahezu jeder Leistung,
die der Sozialstaat in Deutschland bereitstellt, müssen
die Antragsteller in einer bestimmten Form mitwirken.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
Fraktion Die Linke, das, was Sie in Ihren Redebeiträgen
heute gesagt haben, macht die Debatte nicht einfacher.
Sie unterstellen uns, wir würden Transferleistungsemp-
fänger pauschal diffamieren; ich habe in Ihren Redebei-
trägen, Frau Kipping, ein ähnliches Verhaltensmuster
entdeckt. Wie Sie über die Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter der Jobcenter gesprochen haben, ist nicht akzepta-
bel. Das trifft auf keinen Fall den richtigen Ton.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir alle besuchen in unseren Wahlkreisen mit Sicher-
heit die Jobcenter. In meine Sprechstunden kommen
Bürgerinnen und Bürger, die Probleme bei der Leis-
tungserteilung haben und Sanktionen unterworfen sind.
Aber Ihre pauschale Darstellung wird dem Anspruch
einer sachgerechten Debatte nicht gerecht. Insofern
haben wir von der FDP-Fraktion gute Gründe, Ihre
Anträge abzulehnen, was wir auch tun werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717508400

Vielen Dank, Herr Kollege. – Liebe Kolleginnen und

Kollegen, wir kommen jetzt zu unserer letzten Rednerin.
Ich darf Sie herzlich bitten, ihr die notwendige Aufmerk-
samkeit zu schenken. Bitte schön, Frau Kollegin Heike
Brehmer für die Fraktion der CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Heike Brehmer (CDU):
Rede ID: ID1717508500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! „Hartz-IV-Sonderregelung für unter 25-Jäh-
rige abschaffen“, „Sanktionen im Zweiten Buch Sozial-
gesetzbuch und Leistungseinschränken im Zwölften
Buch Sozialgesetzbuch abschaffen“, „Rechte der Arbeit-
suchenden stärken – Sanktionen aussetzen“, so lauten
die Themen unserer heutigen Debatte.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Lin-
ken, Sie bezeichnen in Ihrem Antrag die Einführung von
Hartz IV als einen historischen Fehler.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Einen Skandal!)

An dieser Stelle möchte ich Sie noch einmal daran erin-
nern, dass die Hartz-IV-Reform im Jahr 2005 – von Rot-
Grün damals auf den Weg gebracht – das Ziel hatte,
Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen und
Leistungen aus einer Hand anzubieten. Vor der Reform
– jetzt bitte ich Sie, noch einmal genau zuzuhören – leb-
ten circa 2,9 Millionen Bürgerinnen und Bürger von
Sozialhilfe. Der Sozialhilfesatz lag damals unter den jet-
zigen Regelsätzen von Hartz IV. Die Betroffenen hatten
kaum Chancen, in den ersten Arbeitsmarkt integriert zu
werden. Mit der Hartz-IV-Reform hat sich dies für die
Betroffenen grundlegend geändert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Im gleichen Augenblick erhöhten sich die Regelsätze der
Sozialhilfe um 16 Prozent.


(Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])

Noch eine Zahl zum Vergleich: Im April 2005 hatten wir
insgesamt circa 5 Millionen Arbeitslose. Heute beträgt
die Zahl der Arbeitslosen circa 3 Millionen.

Meine Damen und Herren, solche Zahlen fallen doch
nicht einfach vom Himmel. Sie sind begründet in der
nachhaltigen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, für die wir
die Weichen gestellt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Zum Thema Sanktionsregelungen bei Hartz IV hatten
wir in unserem Ausschuss am 6. Juni 2011 eine öffent-
liche Anhörung. Der Sachverständige Dr. Markus
Schmitz hat ausgeführt, dass circa 97 Prozent der jungen
Hartz-IV-Bezieher nicht von Sanktionen betroffen sind.
Es mussten lediglich 3 Prozent mit Sanktionen belegt
werden. Glauben Sie wirklich, dass diese Quote ohne die
geltende gesetzliche Regelung auch so Bestand hätte?
Die Anhörung verdeutlichte ebenso, dass das Arbeitslo-
sengeld II eben nicht als bedingungsloses Grundeinkom-
men konzipiert wurde.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Haben Sie nicht zugehört?)


Mit Ihren Forderungen nach einer Abschaffung von
Sanktionen im SGB II setzen Sie eindeutig Fehlanreize.
Wir wollen keine Fehlanreize zur dauerhaften Inan-
spruchnahme von staatlichen Transferleistungen für
Jugendliche unter 25 setzen. Wir als CDU/CSU wollen,
dass alle Jugendlichen die bestmögliche Schulbildung
erhalten und die Schule mit einem Schulabschluss ver-
lassen. Wir als CDU/CSU wollen, dass die Jugendlichen
eine Berufsausbildung oder ein Studium absolvieren –
unabhängig vom Geldbeutel der Eltern.

Ich möchte hier noch einmal darauf verweisen, dass
die unionsgeführte Bundesregierung in den letzten Jah-
ren viele Maßnahmen zur Förderung von Langzeitar-
beitslosen auf den Weg gebracht hat,


(Katja Mast [SPD]: Und viele abgeschafft hat!)






Heike Brehmer


(A) (C)



(D)(B)


zum Beispiel den Beschäftigungszuschuss für Langzeit-
arbeitslose, das Programm „JobPerspektive“ sowie den
Qualifizierungs-Kombi „Job-Bonus“ zur Verbesserung
der Qualifizierung von jüngeren Menschen unter 25.

In der christlich-liberalen Koalition haben wir mit
dem Beschäftigungschancengesetz die Berufswahl
erleichtert und die Berufsausbildungschancen verbes-
sert.

Für Langzeitarbeitslose und junge Menschen mit
schweren Vermittlungshemmnissen im Rechtskreis des
SGB II haben wir die Erprobungsphasen auf bis zu
zwölf Wochen verlängert.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Unruhe)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717508600

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie herzlich

bitten, der Rednerin die notwendige Aufmerksamkeit zu
geben. Es sollte nicht sein, dass die Rednerin hier stört.


(Heiterkeit bei der FDP)


Frau Kollegin Brehmer, Sie haben das Wort. Bitte
schön.


Heike Brehmer (CDU):
Rede ID: ID1717508700

Wir haben die investive Förderung von Jugendwohn-

heimen ermöglicht.

Mit der Jobcenterreform haben wir ein Gesetz auf den
Weg gebracht, welches die Betreuung und Vermittlung
in den Jobcentern qualitativ verbessern soll.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


In vielen Regionen zeichnet sich bereits heute ein
Fachkräftebedarf ab. Junge Menschen haben – wie
schon lange nicht mehr – gute Chancen auf dem Arbeits-
markt.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Gerade im Handwerk!)


Die Bundesagentur und die Jobcenter können freie Stel-
len und auch freie Lehrstellen anbieten. In einigen Re-
gionen gibt es schon jetzt nicht ausreichend Bewerber.
Wir sollten überlegen, ob wir Jugendliche nicht noch
besser unterstützen und fördern können, wenn sie sich
entscheiden, eine Ausbildung in einer anderen Region
aufzunehmen, und auf eine Wohnung, Fahrkostenerstat-
tung etc. angewiesen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Dafür haben wir die Jugendwohnheime!)


Im Hinblick auf die demografische Entwicklung
brauchen wir in den nächsten Jahren alle Jugendlichen.
Wir sind als Gesellschaft daher gefordert, sie nach ihren
Fähigkeiten und Fertigkeiten bestmöglich auszubilden.
Damit ebnen wir ihnen den Weg in ein eigenständiges
Leben. Dazu gehört, dass möglichst alle Jugendlichen
eine Lehre oder ein Studium beenden. Das erreichen wir
nur mit dem Prinzip des Förderns und Forderns.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ihre Anträge sind daher völlig kontraproduktiv. So etwas
schadet den jungen Menschen und hilft ihnen nicht.

Deswegen, es geht nicht ohne Sanktionen. Jeder
kennt das doch aus seinem persönlichen Alltag. Herr
Dr. Tauber hat vorhin ein anderes Beispiel angeführt. Ich
nenne Ihnen eines, das Sie alle kennen. Wenn sich ein
Kind einmal an einer heißen Herdplatte verbrannt hat,
wird es sie so schnell nicht wieder anfassen.


(Zurufe von der LINKEN: Ha! Ha!)


Sehr geehrte Damen und Herren, uns geht es nicht
darum, Leistungsempfänger unter großen Druck zu set-
zen und ihnen Unmögliches abzuverlangen. Es geht viel-
mehr darum, den Betroffenen die potenzielle Gefahr
einer Langzeitarbeitslosigkeit deutlich zu machen und
ihnen den Weg in die Erwerbstätigkeit zu eröffnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Insbesondere junge Leute unter 25 Jahren benötigen
neben einer Qualifizierungsförderung auch Hilfe in an-
deren Bereichen, um den Weg in die Beschäftigung zu
gehen. An dieser Stelle denke ich beispielsweise an eine
bedarfsgerechte Kinderbetreuung für junge Familien.

Von daher ist es wichtig, dass Arbeitsagenturen, Job-
center und Kommunen vor Ort eng zusammenarbeiten,
um mögliche Probleme und Hemmnisse aufzuzeigen
und gemeinsam mit den Betroffenen nach Lösungen zu
suchen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam sollten
wir aber auch überlegen, wie wir den Betroffenen die
Antragstellung und das Verständnis der Bescheide er-
leichtern können. Viele sind mit der Bürokratie überfor-
dert und sind überrascht, wenn sie Sanktionen erhalten.
Die meisten Sanktionen werden ausgesprochen, weil
Betroffene ihrer Meldepflicht nicht nachgekommen sind.
Dabei sollten wir das Prinzip des Förderns und Forderns
aber trotzdem nicht außer Acht lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine lieben Kollegen von den Grünen, Sie haben die
Hartz-IV-Reform seinerzeit mit auf den Weg gebracht
und fordern jetzt die Streichung bzw. Aussetzung der
Sanktionen. Als es um die Änderung der Regelsätze und
die Einführung des Bildungs- und Teilhabepaketes ging,
haben Sie sich aus der Verantwortung gestohlen. Mit
dem Bildungs- und Teilhabepaket haben wir erstmals
Kindern und Jugendlichen aus Geringverdienerfamilien
die Chance eröffnet, an gesellschaftlichen Aktivitäten
und Bildungsangeboten teilzunehmen. Für uns sind
Investitionen in Bildung Investitionen in die Zukunft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Katja Mast [SPD]: Deshalb kürzen Sie auch die Gelder dafür!)


Wir wollen, dass junge Menschen eine berufliche Per-
spektive erhalten und nicht auf Hartz-IV-Leistungen an-
gewiesen sind. Die Fraktion der CDU/CSU wird Ihren
Anträgen daher nicht zustimmen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717508800

Vielen Dank, Frau Kollegin Brehmer. – Ich schließe

nun die Aussprache, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9070 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 4 b. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/6391.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5174 mit dem
Titel „Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
und Leistungseinschränkungen im Zwölften Buch So-
zialgesetzbuch abschaffen“. Wir stimmen nun über den
Buchstaben a der Beschlussempfehlung auf Verlangen
der Fraktion Die Linke namentlich ab.

Ich möchte darauf hinweisen, dass wir im Anschluss
noch eine weitere namentliche Abstimmung durchführen
werden.

Zur ersten namentlichen Abstimmungen liegen zahl-
reiche schriftliche Erklärungen zur Abstimmung vor, die
zu Protokoll gegeben werden.1)

Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze
an den Urnen alle besetzt? – Noch nicht. Vorne bei mir
auf der linken Seite sind die Urnen noch nicht besetzt. –
Ist jetzt alles komplett? – Ja, es ist komplett. Somit er-
öffne ich die namentliche Abstimmung über den Buch-
staben a der Beschlussempfehlung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Wir sind noch nicht
so weit. Es gibt auf der linken Seite oben einen kleinen
Stau.

Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme
abgegeben? – Das ist der Fall. Ich schließe die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen.2)

Wir kommen nun zur zweiten namentlichen Abstim-
mung. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/3207 mit dem Titel „Rechte
der Arbeitsuchenden stärken – Sanktionen aussetzen“.
Wir stimmen nun über den Buchstaben b der Beschluss-
empfehlung auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen namentlich ab.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehen Plätze einzunehmen. – Das ist der Fall; alle
Plätze an den Urnen sind besetzt. Ich eröffne die na-
mentliche Abstimmung über den Buchstaben b der Be-
schlussempfehlung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen.

Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen
werden Ihnen später bekannt gegeben.3)

Wir setzen die Beratungen fort. Bevor ich weiterma-
che, darf ich Sie bitten, wieder die Plätze einzunehmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den
nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, teile ich Ihnen
mit, dass sich die Fraktionen verständigt haben, den
Zusatzpunkt 3 a – es handelt sich um die erste Beratung
des Gesetzentwurfs der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
zur Vereinheitlichung der bergrechtlichen Förderabgabe –
von der Tagesordnung abzusetzen. Sie sind mit der
Vereinbarung einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist
das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 a bis f sowie den
Zusatzpunkt 3 b und c auf:

40 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des
Europäischen Stabilitätsmechanismus

– Drucksache 17/9370 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur finan-
ziellen Beteiligung am Europäischen Stabili-

(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)


– Drucksache 17/9371 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Bundesschuldenwesengesetzes

– Drucksache 17/9372 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

1) Anlage 2
2) Ergebnis Seite 20656 D 3) Ergebnis Seite 20659 A





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Be-
schluss des Europäischen Rates vom 25. März
2011 zur Änderung des Artikels 136 des Ver-
trags über die Arbeitsweise der Europäischen
Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanis-
mus für die Mitgliedstaaten, deren Währung
der Euro ist

– Drucksache 17/9373 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Vorschlag der EU-Kommission zum Klima-
schutz im Kraftstoffbereich unterstützen

– Drucksache 17/9404 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Markus Kurth, Daniela Wagner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Barrieren abbauen – Mobilität und Wohnen
für alle

– Drucksache 17/9406 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

ZP 3 b)Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-
Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, Dr. Birgit Reinemund und der Fraktion
der FDP

Rechtssicherheit beim Zugang zu einem Basis-
konto schaffen

– Drucksache 17/9398 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Cornelia Behm, Ute Koczy, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Verantwortung für die entwicklungspolitische
Dimension der EU-Fischereipolitik überneh-
men

– Drucksache 17/9399 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 a bis c sowie
Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas-
sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorge-
sehen ist.

Tagesordnungspunkt 41 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Regelung der Arbeitszeit von selbständi-
gen Kraftfahrern

– Drucksache 17/8988 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/9258 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Kirsten Lühmann

Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9258, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/8988 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Das sind alle Fraktionen mit
Ausnahme der Fraktion Die Linke. Wer stimmt dage-
gen? – Niemand. Enthaltungen? – Fraktion Die Linke.
Somit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten,
Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Nie-





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


mand. Enthaltungen? – Fraktion Die Linke. Der Gesetz-
entwurf ist somit angenommen.

Tagesordnungspunkt 41 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Eurojust-Gesetzes

– Drucksache 17/8728 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/9434 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Burkhard Lischka
Marco Buschmann
Raju Sharma
Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/9434, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8728 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die
Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Gegenstimmen? – Linksfraktion.
Enthaltungen? – Keine. Somit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Die
Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Fraktion Die
Linke. Enthaltungen? – Niemand. Der Gesetzentwurf ist
angenommen.

Tagesordnungspunkt 41 c:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss)


Änderung der Geschäftsordnung des Deut-
schen Bundestages

hier: Stärkung der Rechte kommunaler Spit-

(Änderung § 69 Absatz 5, § 70 GO-BT)


– Drucksache 17/9387 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Christian Lange (Backnang)

Jörg van Essen
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck (Köln)


Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das
sind alle Kolleginnen und Kollegen des Hauses. Vor-
sichtshalber die Gegenprobe! – Keine. Enthaltungen? –
Auch keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Zusatzpunkt 4:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Josef Fell, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Anpassung der Marktprämie – Mitnahme-
effekte streichen

– Drucksache 17/9409 –

Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sind Bünd-
nis 90/Die Grünen, SPD und Linksfraktion. Wer stimmt
dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthal-
tungen? – Keine. Der Antrag ist abgelehnt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Zusatz-
punkt 1 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD

Auswirkungen des deutsch-schweizerischen
Steuerabkommens auf die grenzüberschrei-
tende Steuerhinterziehung

Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat unser Kol-
lege Joachim Poß für die Fraktion der Sozialdemokraten
das Wort. Bitte schön, Kollege Joachim Poß.


(Beifall bei der SPD)



Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1717508900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen hier im Plenum, ob sitzend oder stehend! Das
Steuerabkommen mit der Schweiz ist ein weiterer deutli-
cher Beleg, Herr Bundesfinanzminister, für die von Ih-
nen zu verantwortende ungerechte Steuerpolitik,


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)


die unser Land in den letzten Jahren weiter gespalten
hat.


(Beifall bei der SPD)


Sie und auch die Bundeskanzlerin versuchen, ein Ab-
kommen, das Steuerkriminelle im Dunkeln verschwin-
den lässt, als Beleg für eine solide Finanzpolitik zu
etikettieren. Das, was Sie da machen, ist aber Etiketten-
schwindel.

Wer das deutsch-schweizerische Abkommen allein
danach beurteilt, dass es zusätzliches Geld in die öffent-
lichen Kassen bringt, offenbart zudem ein äußerst frag-
würdiges Verständnis von Steuerpolitik und Steuerge-
rechtigkeit.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])


Ein Bundesfinanzminister und auch eine Bundeskanzle-
rin dürfen elementare Fragen der Steuermoral und der
Steuergerechtigkeit nicht so ignorieren, wie es Herr
Schäuble und auch Frau Merkel im Zusammenhang mit
diesem Abkommen tun. Ich finde, das ist mit Ihren Re-
gierungsämtern eigentlich nicht vereinbar. Wir können
doch nicht akzeptieren, dass massive Steuerhinterzie-





Joachim Poß


(A) (C)



(D)(B)


hung in der Vergangenheit legalisiert und in Zukunft
weiterhin ermöglicht wird.


(Beifall bei der SPD – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Unverschämtheit! 50 Prozent Steueramnestie unter euch!)


Genau das ist das Ergebnis des von Ihnen unterzeichne-
ten Abkommens, egal, Herr Schäuble, was Sie dazu
gleich noch erklären werden.

Der Anwendungsbereich des Abkommens bleibt auch
mit dem Ergänzungsprotokoll vom 5. April lückenhaft.
Über Familienstiftungen und Trusts können zum Bei-
spiel auch weiterhin Schwarzgelder und Kapitalvermö-
gen vor dem deutschen Fiskus versteckt werden. Einige,
auch aus manchen Parteien, die hier vertreten sind, ha-
ben mit diesen Möglichkeiten in der Vergangenheit
durchaus Erfahrungen sammeln können – das möchte
ich einmal in Klammern hinzufügen.

Der Vorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft,
Herr Eigenthaler – ich glaube, ein vormaliger Leiter ei-
nes Finanzamtes aus Baden-Württemberg –, kommt des-
halb zu einer klaren Bewertung: Das Abkommen sei
löchrig wie ein Schweizer Käse und nur eine Scheinlö-
sung.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Schweizer Regierung und die Schweizer Fi-
nanzwelt sind hochgradig nervös. Das liegt am Druck,
den die USA zur Aufdeckung von Steuerhinterziehung
und Geldwäsche ausüben, und auch an den Steuer-CDs.

Natürlich war es vom damaligen Bundesfinanzminis-
ter Steinbrück richtig, verbal etwas härter zuzugreifen,


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Unverschämtheit! Pöbelei war das!)


um der Schweiz klarzumachen, dass es so wie bisher
nicht weitergehen kann,


(Beifall bei der SPD)


und es gab ja auch Bewegung, aber eben nicht genug.
Aber seit der Regierungsübernahme durch Schwarz-
Gelb und unter dem neuen Bundesfinanzminister
Schäuble wurden die Gänge im Kampf gegen die Steuer-
hinterziehung wieder zurückgeschaltet. Das ist ein Un-
ding für unser Land, auch gesellschaftspolitisch.


(Beifall bei der SPD)


Das Ergebnis ist heute zu besichtigen. Manches
würde sicherlich, wenn das Abkommen zustande käme,
in die Kassen von Bund und Ländern fließen. Schauen
Sie aber in den vom Kabinett beschlossenen Entwurf.
Darin steht die Summe, die sicher fließen würde. Sie
läge im Bereich von 2 Milliarden, und nicht im Bereich
anderer, viel höherer Zahlen und Ableitungen, die von
Ihnen genannt werden.


(Nicolette Kressl [SPD]: Franken, nicht Euro!)


– Franken.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das heißt „Fränkli“!)


Aber viel mehr entgeht dem Fiskus jetzt und auch in der
Zukunft; denn die Steuerbetrüger bleiben auch nach die-
sem Abkommen weiterhin im Dunkeln. Die geltende
Anonymität wird durch das Abkommen kaum ange-
kratzt. Das ist ein großer Sieg für die Schweizer Finanz-
branche, was wir auch den Schweizer Medien entneh-
men konnten: Als im letzten Jahr die erste Paraphe
getätigt war, also vor den Nachverhandlungen, da knall-
ten die Champagnerkorken, und das wohl nicht ohne
Grund.

Der amtierende Bundesfinanzminister – Herr
Schäuble, das habe ich Ihnen von dieser Stelle aus schon
einmal gesagt – hat offensichtlich von vornherein das
Ziel gehabt, der Schweizer Regierung und den Schwei-
zer Banken entgegenzukommen. Von vornherein wurde
zu lasch und zu nachgiebig verhandelt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ein Unsinn!)


Das zeigt auch die Tatsache, dass dann doch noch ein Er-
gänzungsprotokoll zustande gekommen ist, nachdem es
im Bundesrat bei den von SPD und Grünen geführten
Ländern Widerstand gab.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Als ob Herr Schäuble vor euch Angst hätte! Ha, ha!)


– Ohne diesen Druck hätte es das doch gar nicht gege-
ben, Herr Kauder. Es waren doch Herr Schäuble und die
Schweizer Regierung, die erklärt haben: Es gibt nichts
nachzuverhandeln. Wir haben gesehen: Es gab doch
noch etwas nachzuverhandeln.


(Beifall bei der SPD)


Das hätte von vornherein und konsequenter geschehen
müssen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Hätten Sie es doch gemacht!)


Im Übrigen, Herr Schäuble, als die Haftbefehle für
deutsche Steuerfahnder ausgestellt wurden, hätte man
schon erwarten können, dass Sie nicht von vornherein
Verständnis für das nationale Recht der Schweiz äußern,
sondern sich klar und eindeutig hinter die deutschen Fi-
nanzbeamten stellen, und zwar sofort.


(Beifall bei der SPD – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sie haben sie doch in die Isolation gebracht! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Oh, lieber Herr Poß! – Weiterer Zuruf von Abgeordneten der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717509000

Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist der

Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble.
Bitte schön, Kollege Dr. Wolfgang Schäuble.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem Abkommen zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft über die Zusammenarbeit in den Bereichen
Steuern und Finanzmarkt stellen wir die effektive Be-
steuerung von Vermögenswerten deutscher Steuerpflich-
tiger in der Schweiz für die Vergangenheit und für die
Zukunft sicher.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Stimmt nicht!)


Kommt das Abkommen nicht zustande, bleibt es bei
dem jetzigen Zustand.

In der Zukunft gibt es keinen Unterschied mehr: Ab
Inkrafttreten des Abkommens werden Kapitalanlagen
deutscher Steuerpflichtiger völlig gleich behandelt,
unabhängig davon, ob sie auf einer Schweizer oder auf
einer deutschen Bank sind. Der entscheidende Fort-
schritt, den wir erreichen, ist eine völlige Gleichbehand-
lung. Wir haben – das ist der entscheidende Punkt – die
Abgeltungsteuer. Ohne dieses Abkommen hätten wir sie
nicht. Die Schweizer Banken werden genauso wie deut-
sche Finanzinstitute die Abgeltungsteuer einbehalten
und an den deutschen Fiskus abführen.

Darüber hinaus haben wir einen gegenüber dem
OECD-Standard erweiterten Anspruch auf Informatio-
nen aus der Schweiz. Wir haben in dem Abkommen wei-
terhin die Vereinbarung, dass in Erbschaftsfällen entwe-
der die Erbschaftsbesteuerung durchgeführt oder der
höchste Erbschaftsteuersatz nach deutschem Recht erho-
ben wird. Darüber hinaus wird ab Inkrafttreten des
Abkommens eine Verlagerung von Vermögenswerten
deutscher Steuerflüchtiger aus der Schweiz ohne Ver-
steuerung oder Meldung nicht mehr möglich sein. Das
ist eine hundertprozentig befriedigende Regelung für die
Zukunft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hinsichtlich der Vergangenheit treffen wir eine Rege-
lung, dass unversteuerte Vermögenswerte einer pauscha-
len Besteuerung von 21 bis 41 Prozent – je nach Fallge-
staltung – unterworfen werden. Dazu muss man sagen:
Steueransprüche – übrigens auch Strafverfolgungsan-
sprüche – verjähren in der Regel nach zehn Jahren. Was
mehr als zehn Jahre zurückliegt, ist verjährt. Das bezieht
sich sowohl auf die Strafverfolgung als auch auf die Be-
steuerung.

Wenn wir diese Regelung für die Vergangenheit tref-
fen, gibt es für die Steuerpflichtigen folgende Alternati-
ven: Die Banken werden eine Pauschalbesteuerung für
die Vergangenheit durchführen, die deutschen Steuer-
pflichtigen werden eine Bescheinigung ihres zuständi-
gen Finanzamtes vorlegen, dass sie eine ordnungsge-
mäße Besteuerung durchgeführt haben, oder die
Schweizer Bank wird ihre Geschäftsbeziehung mit ih-
rem Kunden beenden.

Meine Damen und Herren, diese Veränderung für die
Vergangenheit stellt für die Schweiz einen Systemwech-
sel dar. Die Schweiz nimmt Stück für Stück von ihrem
Bankgeheimnis Abschied. Daher ist es schon angemes-
sen, darauf hinzuweisen: Der Schutz des Bankgeheim-
nisses ist eine Regelung, die einem Rechtsstaat zusteht.
Dass ein Rechtsstaat eine Regelung, die er getroffen hat,
nicht rückwirkend aufhebt, entspricht rechtsstaatlichen
Prinzipien. Bisher habe ich gedacht, dass auch die So-
zialdemokraten das nicht anders sehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Schweiz könnte ihre Gesetze gar nicht rückwir-
kend ändern. Sie würde durch ihre Rechtsprechung ge-
nauso daran gehindert wie wir durch unsere unabhängige
Justiz. Dabei geht es um die Grenzen dessen, was der
Gesetzgeber machen kann. Also müssen wir für die Ver-
gangenheit eine entsprechende Regelung finden.

Herr Kollege Poß, Sie sind schon eine ganze Weile
Mitglied des Bundestags.


(Joachim Poß [SPD]: Ja!)


Angesichts Ihrer Rede, die Sie gerade hier gehalten
haben, frage ich mich, ob Sie eigentlich noch den
Anspruch haben, ernst genommen werden zu wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD: Oh!)


Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder
hat im Jahre 2003 ein Gesetz zur Förderung der Steuer-
ehrlichkeit vorgelegt. Da waren Sie schon im Bundestag
und haben die Finanzpolitik mitgetragen. Ich zitiere aus
der Begründung dieses Gesetzentwurfes:

Die Besteuerungsgerechtigkeit gebietet, dass alle
Steuerpflichtigen nach Maßgabe der Steuergesetze
gleichmäßig an den allgemeinen Lasten beteiligt
werden. Dies stößt in der Praxis jedoch an rechtli-
che und tatsächliche Grenzen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Der Gesetzentwurf soll dazu beitragen, durch eine
attraktive Regelung für die Vergangenheit einen
Anreiz zu bieten, in die Steuerehrlichkeit zurückzu-
kehren und damit einen Beitrag zum Rechtsfrieden
zu leisten.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das war aber nicht anonym!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
wenn Sie noch wüssten, dass Willy Brandt als Bundes-
kanzler einmal gesagt hat: „Wir wollen gute Nachbarn
sein“, dann würden Sie nicht so über die Schweiz reden,
wie Sie das in den letzten Monaten gemacht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Täuschen Sie sich nicht: Es wird in Europa sehr be-
achtet, wie Deutschland als das größte und wirtschafts-
stärkste Land mit kleineren Nachbarn umgeht.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das ist richtig!)






Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)


Die Art, in der Sie in den letzten Wochen über die Tatsa-
che gesprochen haben, dass die Schweiz zu ihren rechts-
staatlich übernommenen Verpflichtungen steht, ist un-
verantwortlich. Das stärkt das Ansehen Deutschlands
nicht. Damit verhöhnen Sie das Prinzip, dass wir gute
Nachbarn in Europa sein wollen. Ich sage: Lassen Sie
uns respektvoll mit der Schweiz umgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Schweiz hat mit diesem Abkommen einen großen
Schritt getan. Sie wirkt daran mit, dass wir für die Zu-
kunft eine bessere Regelung haben, als wir sie in der
Vergangenheit hatten. Der Zustand bezogen auf die Ver-
gangenheit ist unbefriedigend. Nur: Wer kein Abkom-
men zustande bringt – Sie haben keines zustande ge-
bracht –, der ändert an diesem unbefriedigenden Zustand
nichts. Dieses Abkommen ändert den Zustand für die
Zukunft hundertprozentig, und für die Vergangenheit
schafft es eine bessere Lösung, als jeder, der sich jemals
ernsthaft mit der Sache befasst hat, für denkbar gehalten
hätte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: So ist es!)


Noch eine letzte Bemerkung: Die Europäische Union
hat ausdrücklich erklärt, dass dieses Abkommen mit den
bestehenden europäischen Abkommen vereinbar ist.
Großbritannien hat nach deutschem Vorbild ein entspre-
chendes Abkommen mit der Schweiz abgeschlossen.
Österreich hat in diesen Wochen ein Abkommen mit der
Schweiz abgeschlossen, das nicht ganz so günstige Re-
gelungen für den österreichischen Fiskus enthält. Darauf
will ich aber gar nicht eingehen. Jedenfalls wird unser
Abkommen von vielen Ländern als Vorbild genommen,
entsprechende Abkommen abzuschließen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Die USA nicht!)


Um die Sache auf die Spitze zu treiben: Der Europäi-
sche Rat hat beschlossen, zu empfehlen, dass die
Schweiz auch mit Griechenland ein solches Abkommen
abschließt.


(Nicolette Kressl [SPD]: Was für ein Vergleich! Der Vergleich ist ja abstrus! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: USA?)


– Entschuldigung, Herr Kollege. Die USA hatten über-
haupt kein solches Abkommen für die Vergangenheit ab-
geschlossen; null Komma gar nichts. Die USA sind in
diesen Tagen übrigens von dem Bundesverwaltungsge-
richt in der Schweiz darauf hingewiesen worden, dass
man bestehende rechtliche Zusagen in dem Rechtsstaat
Schweiz genauso wenig rückwirkend ändern kann wie in
dem Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland. Das gilt
für alle.


(Gisela Piltz [FDP]: Das hat die SPD aber noch nicht verstanden!)


Ich sage es noch einmal: Dass die Europäische Kom-
mission und der Europäische Rat empfehlen, dass auch
andere Länder solche Abkommen mit der Schweiz ab-
schließen, zeigt deutlich, dass Deutschland in den Ver-

handlungen mit der Schweiz ein gutes Ergebnis erzielt
hat. Ich werbe dafür, dass wir zustimmen und dieses Ab-
kommen ratifizieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717509100

Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717509200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Schäuble, Ihre grundlegende Aussage, dass mit die-
sem Abkommen die Probleme der Steuerhinterziehung
in der Vergangenheit und in der Zukunft gelöst sind,
stimmt nicht. Das werde ich Ihnen hier nachweisen.

Ihr Abkommen ist ein Affront gegen alle ehrlichen
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Das ist so. Anscheinend sind Sie auf diesen Zustand im-
mer noch stolz – leider. In beiden Regelungsbereichen
haben Sie versagt.

Die größte Frechheit ist, dass Sie letztendlich der
Opposition vorwerfen – das werden die nächsten Redner
sicher tun –, auf Geldeinnahmen zu verzichten.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Natürlich! Das tun Sie ja auch! – Holger Krestel [FDP]: Die Wahrheit tut manchmal weh!)


Wir sollen einem schlechten Abkommen zustimmen,
weil sonst Geld verloren geht.

Wir reden hier über 130 bis 180 Milliarden Euro, die
schwarz in die Schweiz gebracht wurden. Es geht um
hartnäckige Steuerhinterziehung, um begangene Straf-
taten, die Sie letztendlich noch belohnen wollen. Der
Maßstab für eine Nachbesteuerung muss doch wohl sein,
was passieren würde, wenn diese Menschen das Geld
wenigstens im Nachhinein ordentlich, zum Beispiel
durch eine Selbstanzeige, versteuern lassen würden. Die
Pauschalregelung, die Sie auch in dem Zusatzprotokoll
vorsehen, wird genau dafür nicht sorgen. Das haben Ih-
nen Finanzwissenschaftler wie Professor Hechtner vor-
gerechnet. So geht es nicht. Der Steuersatz von 41 Pro-
zent ist fiktiv. Er wird eher bei 21 Prozent liegen. Zudem
haben deutsche Finanzbehörden dann keine Möglichkeit
einer Nachprüfung; denn jeder kann sozusagen einen
Persilschein vorlegen und sagen: Ich habe ja nachver-
steuert; alles ist prima. Das geht so nicht.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Deswegen verzichten Sie ganz auf Besteuerung!)


Sie laden weiterhin förmlich zur Steuerhinterziehung
ein. Wenn man sich anschaut, wann das Abkommen un-
terzeichnet wurde und wann die Regelungen in Kraft tre-
ten, sieht man, dass über ein Jahr dazwischen liegt. Das
heißt, Steuerhinterzieher, die bisher schon kriminelle
Energie entwickelt und ihr Geld in die Schweiz geschafft





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


haben, haben bis 2013 die Möglichkeit, das Geld zum
Beispiel ganz einfach von der Schweizer Mutterbank auf
eine Tochterbank in einem Steuerparadies zu verlagern.
Was verlangen Sie? Sie verlangen nur eine Liste der
Staaten, in die es gebracht wird. Mehr verlangen Sie
nicht.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie verlangen keine Namen von Steuerhinterziehern und
keine konkreten Angaben zu Banken. Das ist eine Einla-
dung zur Steuerhinterziehung. Das ist ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Das ist so abwegig!)


Ausgeschlossen von der Nachbesteuerung sind wei-
terhin – dies wurde hier schon erwähnt – Stiftungen,
Trusts, zwischengeschaltete Personenvereinigungen und
Vermögenseinheiten. Dies sind beliebte Konstruktionen,
die zum Zweck der Steuerhinterziehung geschaffen wur-
den und von denen alle wissen, wie sie funktionieren.
Diese sind im Abkommen nicht wirklich rechtssicher
erfasst. Was ist denn das für ein Rechtswert, wenn Sie
dies nicht ordentlich regeln? Auch hier lassen Sie die
Steuerhinterzieher weiterhin schalten und walten, wie sie
wollen.

Dem sollen wir zustimmen? Das ist eine Unver-
schämtheit. Letztendlich fordern Sie uns damit auf,
gegen den Grundsatz der gleichmäßigen und gerechten
Besteuerung zu verstoßen. Das ist mit der Linken nicht
zu machen und, ich hoffe, auch mit den anderen Opposi-
tionsparteien nicht.

Herr Schäuble, Sie haben behauptet, in der Zukunft
sei alles gesichert. In der Zukunft wird so lange nichts
gesichert sein, solange wir keinen automatischen Infor-
mationsaustausch in Europa haben. Ich frage Sie: Wa-
rum haben Sie im Abkommen einen Passus, der besagt,
dass selbst die Auskunftsersuchen, also die potenziellen
Fragen deutscher Finanzbehörden gegenüber Schweizer
Banken, zahlenmäßig begrenzt werden? Für die ersten
zwei Jahre auf 999 Fälle, dann auf 1 200 Fälle; später ist
ein entsprechender Schlüssel, der sich an einer Quote
von 15 Prozent orientiert, vorgesehen.


(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Wie viel haben wir ohne das Abkommen?)


Warum soll dies begrenzt werden? Es bleibt bei dem
Prinzip begrenzter Anfragen ins Blaue hinein. Man kann
nur höflich fragen: Gibt es von dem Betroffenen ein
Konto bei der Bank oder nicht? Das ist Fischen im Trü-
ben. Das geht überhaupt nicht.


(Gisela Piltz [FDP]: Erklären Sie das einmal Ihren Innenpolitikern, was Sie gerade sagen!)


Wir brauchen in Europa einen automatischen Informa-
tionsaustausch.

Natürlich war es ein langer Prozess. Er hat in den
90er-Jahren begonnen. Wir könnten hier ein Spiel spie-
len und fragen, wer es zuerst gefordert hat. Das bringt
uns aber nicht weiter. Die Diskussion hatte sich schon

relativ weit entwickelt. Aber das Abkommen zwischen
Deutschland und der Schweiz hat es ermöglicht, dass die
Schweiz ein Abkommen mit Österreich abgeschlossen
hat, wodurch dieser Prozess torpediert wird. Deshalb
wirft uns das Abkommen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Schweiz in dieser Diskussion mei-
lenweit zurück.

Ich muss sagen: Ein großer Skandal ist nicht nur, wie
Sie mit dem Geldargument hantieren, indem Sie letzt-
endlich versprechen und drohen – ich nenne nur das
Stichwort Entflechtungsgesetz –, nein, ein großer Skan-
dal ist auch, dass Sie jetzt den Verteilungsschlüssel geän-
dert haben und dass als Abschlagszahlung nur 2 Milliar-
den Franken vereinbart wurden. Dies führt dazu, dass die
fünf neuen Bundesländer gegenüber der ursprünglich
geplanten Verteilung viel weniger bekommen und im
Prinzip leer ausgehen werden.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717509300

Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1717509400

Besten Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Einen Vorstoß zur Lösung der Problema-
tik der Steuerhinterziehung mit der Schweiz gab es
schon einmal. Herr Minister Schäuble, Sie haben zu
Recht darauf hingewiesen, dass es damals die rot-grüne
Bundesregierung war, die einen Vorschlag unterbreitet
hat. Herr Kollege Poß, der heute so vehement gegen das
Abkommen wettert, wird sich sicherlich noch daran er-
innern, was damals konkret vorgeschlagen wurde. Herr
Poß, Sie hatten damals zusammen mit den Grünen
gesagt: Diejenigen, die Gewerbesteuern hinterzogen ha-
ben, sollen 90 Prozent steuerfrei behalten dürfen, und
nur auf 10 Prozent sollen Steuern nacherhoben werden.
Das war Ihr Vorschlag.


(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Ja! – Joachim Poß [SPD]: Ja! Aber nicht anonym!)


Im Fall hinterzogener Erbschaftsteuer hatten die So-
zialdemokraten zusammen mit den Grünen gesagt:
Wenn man 1 Million Euro Erbschaftsteuer hinterzogen
hat, dann soll man 800 000 Euro steuerfrei behalten dür-
fen und nur 200 000 Euro versteuern müssen. – Das war
Ihre Vorstellung von Steuergerechtigkeit im Zusammen-
hang mit der Lösung dieser Fälle. Das war nun wirklich
nicht zu verantworten und wesentlich schlechter als das,
was die Bundesregierung mit der Schweiz ausgehandelt
hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Jemand, der von Steuerhinterziehern viel weniger
Steuern einnehmen wollte, der ihnen sogar 90 Prozent





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


der Gewerbesteuer erlassen wollte, sollte nicht so laute
Reden halten, wie Sie, Herr Poß, es getan haben,


(Nicolette Kressl [SPD]: Waren die anonym?)


weil das schlicht und einfach unglaubwürdig ist.


(Nicolette Kressl [SPD]: Die waren nicht anonym!)


Das, was Sie damals formuliert haben, war die reale
Finanzpolitik der Sozialdemokraten. Jetzt haben wir
einen Vorschlag gemacht, nach dem nicht, wie bei Rot-
Grün, 90 Prozent steuerfrei bleiben sollen, sondern nach
dem 100 Prozent, also die volle Summe, zur Besteue-
rung herangezogen werden. Das ist Steuergerechtigkeit.
Wir sind Ihnen meilenweit voraus.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Auch die Steuersätze sind deutlich angehoben worden.
Es müssen nicht nur 20 Prozent, sondern es muss alles
versteuert werden.

Sie regen sich zwar künstlich auf und empören sich,
als wäre all das nicht hinzunehmen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Was ist denn mit dem Abschleichen?)


Aber schauen Sie sich die Begründung von damals doch
einmal an; Herr Minister Schäuble hat sie Ihnen ja vor-
gelesen. Im Grunde genommen waren Sie, was die recht-
liche Beurteilung der Sachverhalte betrifft, damals we-
sentlich weiter als heute. Sie konnten damals nur keinen
gerechten Vorschlag, was die Höhe der Besteuerung der
Steuerhinterzieher betrifft, vorlegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Deswegen nehmen wir Ihre Kritik nicht wirklich ernst.

Sie verhalten sich so wie bei der Vermögensteuer: In
der Opposition fordern Sie sie. Wenn Sie regieren, wol-
len Sie nichts mehr davon wissen.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Oh! Sie werden sich noch wundern!)


Auch eine Finanztransaktionsteuer fordern Sie immer
wieder lautstark. Als Sie regiert haben, wollten Sie aber
nichts davon wissen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie halten sich ja nicht mal an Ihren eigenen Koalitionsvertrag! Das ist noch viel schlimmer!)


Da haben Sie lieber die Mehrwertsteuer um 3 Prozent-
punkte erhöht, was vor allen Dingen die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer trifft.

Was Sie parallel zu dieser unaufrichtigen Debatte
machen, ist auch nicht schlecht.


(Joachim Poß [SPD]: Sie sind doch der Meister der Unaufrichtigkeit!)


Als wir im Deutschen Bundestag die Erhöhung des
Arbeitnehmerpauschbetrages verabschiedet haben und
Ihnen gesagt haben: „Das ist eine Frage der Steuerge-

rechtigkeit“, haben Sie dagegen gewettert. Heute stellen
sich Ihre SPD-Finanzminister hin und fordern die Erhö-
hung des Arbeitnehmerpauschbetrages, und zwar aus
Gründen der Steuervereinfachung und als Beitrag zur
Herstellung von Steuergerechtigkeit. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wer den Sozialdemokraten in der Finanz-
politik noch ein Wort glaubt, der hält Grimms Märchen
für den Brockhaus.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Also, Herr Wissing!)


Finanzminister Walter-Borjans aus Nordrhein-West-
falen – er wird noch zu uns sprechen – will tatsächlich,
dass Nordrhein-Westfalen auf Steuereinnahmen in Höhe
von 1,6 Milliarden Euro


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: 1,7 sogar!)


verzichtet und dass das Geld in die Verjährung geschickt
wird. Herr Walter-Borjans, gleichzeitig stellen Sie sich
vor die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und sa-
gen: Liebe Arbeitnehmer, wir wissen ja, dass euch die
kalte Progression belastet und dass sie ungerecht ist.
Aber wir haben kein Geld, um etwas dagegen zu tun. –
Sie machen sich doch vor der deutschen Öffentlichkeit
lächerlich!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Genau! Die machen nur Schulden!)


Wie können Sie als nordrhein-westfälischer Finanz-
minister angesichts leerer Kassen 1,6 Milliarden Euro in
die Verjährung schicken?


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Er ist der Schuldenkönig!)


Die ehrlichen Menschen in Deutschland müssen die
Finanzlöcher stopfen, die Sie durch die Ablehnung die-
ses Besteuerungsabkommens erst verursacht haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie machen sich doch lächerlich!)


Machen Sie sich doch mal ehrlich! Sie bekommen
durch dieses Abkommen viel mehr, als Rot-Grün jemals
wollte. Sie können doch nicht Steuerforderungen des
Staates in Milliardenhöhe in die Verjährung schicken!
Dieses Geld wird niemals nacherhoben werden können.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist Untreue im Amt!)


Gleichzeitig fordern Sie Steuererhöhungen in Deutsch-
land. Ja, was machen Sie denn für eine Politik? Soll der-
jenige, der morgens aufsteht und arbeiten geht, der
Dumme sein, während der Steuerhinterzieher nur zu
warten braucht, bis die Forderungen des Staates verjährt
sind?


(Nicolette Kressl [SPD]: Etwa so wie die Aufstocker beim Betreuungsgeld?)


Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, so darf man
die Öffentlichkeit nicht hinter die Fichte führen. Es gab





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


nie ein besseres Abkommen mit der Schweiz, um diese
Fälle zu lösen, als dieses. Es ist doch lächerlich, der Öf-
fentlichkeit vormachen zu wollen, man müsse nur ab-
warten; irgendwann werde die Schweiz ihr Bankgeheim-
nis schon rückwirkend aufheben. Auch die Schweiz ist
ein Rechtsstaat. Dort gibt es eine Verfassung. Auch wir
können nicht rückwirkend Gesetze ändern. Sie sollten
mit diesem Wahlkampfgetöse, das Sie in Anbetracht des
Landtagswahlkampfes in NRW veranstalten, aufhören.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Schon klar! Sie haben da ja keinen Wahlkampf nötig!)


Sie sollten Ihren Beitrag zur Steuerehrlichkeit leisten.
Sie sollten auch Ihren Beitrag zur Steuergerechtigkeit
leisten. Wir haben in Deutschland wahrlich eine ange-
spannte Haushaltslage. Dank der klugen und entschlos-
senen Verhandlungsführung von Bundesfinanzminister
Schäuble liegt uns jetzt ein Steuerabkommen mit der
Schweiz vor, das die Altfälle löst


(Nicolette Kressl [SPD]: Ja, es löst sie! Aber wie?)


und das für die Zukunft 100 Prozent Steuergerechtigkeit
schafft. Denn – der Minister hat es gesagt – für die Be-
träge, die in der Schweiz verdient werden, und für die
Beträge, die in Deutschland verdient werden, fallen
gleich hohe Steuern an. Das ist Steuergerechtigkeit. Es
findet die gleiche Besteuerung statt, eins zu eins und in
voller Höhe.

Diejenigen, die Steuern hinterzogen haben, sollen ih-
ren Beitrag dazu leisten, die leeren Kassen des Staates zu
füllen. Man sollte sie nicht verschonen. Überlegen Sie
einmal, für wen Sie hier Politik machen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717509500

Das Wort hat nun Gerhard Schick für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Frage, wer hier die Öffentlichkeit hinter die Fichte führt,
wollen wir uns doch noch einmal ein bisschen genauer
anschauen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Erstens. Kollege Wissing hat hier jetzt gerade mit
Zahlen hantiert und den Betrag von 1,6 Milliarden Euro
erwähnt. Wenn wir die Bundesregierung fragen, ob es
eigentlich Schätzungen zum Steueraufkommen gibt,
dann bekommen wir die Antwort: Es gibt keine seriösen
Schätzungen. – Argumentieren Sie hier also bitte nicht
mit unseriösen Zahlen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Zweitens. Sie haben den Vergleich zu der Amnestie-
regelung unter Rot-Grün gezogen. Dabei unterlassen Sie
es ganz bewusst, den entscheidenden Unterschied zu
nennen. Damals musste sich jeder ehrlich machen und
persönlich alles offenlegen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)


Es gab keine Amnestie in der Anonymität; vielmehr
mussten die Fakten auf den Tisch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Zu niedrigen Steuersätzen! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: 15 Prozent! Jetzt sind es 41 Prozent!)


Das ist der entscheidende Unterschied.

Deswegen und weil damit verbunden auch ganz viele
andere Straftaten unentdeckt bleiben, bezeichnet der
Bund Deutscher Kriminalbeamter das, was Sie hier
machen, als – ich zitiere – „die größte Begnadigung
deutscher Straftäter, die die Geschichte je gesehen hat“.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Nicht nur die Steuerhinterziehung, sondern auch Geld-
wäsche, Menschenhandel, Korruption und andere
Delikte verschwinden damit unter dem Deckmantel der
Geschichte. Das darf nicht sein!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Stimmt doch überhaupt gar nicht! Das ist doch ausgeschlossen! Sie haben die Vorlage nicht gelesen! – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sie lassen es verjähren!)


Ich möchte noch einmal ein wenig zurückschauen und
den Blick auf das lenken, was Sie in der Union und in der
FDP selbst gesagt haben. Das Bankgeheimnis – das
heißt, die Tatsache, dass eine Bank die Informationen, die
sie über einen Kunden erhält, nicht weitergeben darf,
auch nicht an die Steuerbehörden – ist bei der Aufarbei-
tung dieser Finanzkrise als eines der zentralen Probleme
diagnostiziert worden, weil mithilfe des Bankgeheimnis-
ses viele komplexe und verbotene Finanztransaktionen
verschleiert werden können.


(Gisela Piltz [FDP]: Jetzt bin ich mal gespannt, was die Bürgerrechtspartei der Grünen hierzu zu sagen hat!)


Deswegen gab es am 2. April 2009 in London auf
dem G-20-Gipfel ein ganz klares Commitment aller
wichtigen internationalen Staaten. Dieses Commitment
hat die Bundesregierung in Person der Kanzlerin Merkel
damals für die Bundesrepublik Deutschland unterzeich-
net. Es lautet: „The era of banking secrecy is over.“ –
Die Ära des Bankgeheimnisses ist vorbei. Ich messe Sie
heute an diesem Anspruch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Daran haben Sie doch nie etwas geändert!)






Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


Sie haben gestern im Kabinett ein Abkommen unter-
zeichnet, das das Bankgeheimnis für die Zukunft garan-
tiert. Damit ist dieses Amnestieabkommen mit der
Schweiz ein klarer Wortbruch gegenüber unseren inter-
nationalen Partnern,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Gisela Piltz [FDP]: Da sollen mir die Grünen noch einmal etwas von Bürgerrechten sagen!)


und das ist auch ein Wortbruch gegenüber der Bevölke-
rung, die erwartet, dass in und nach dieser Finanzkrise
endlich einmal Konsequenzen gezogen und Klarheit und
Transparenz im Bankensektor geschaffen werden. Ge-
nau das Gegenteil dessen tun Sie gerade.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Aufgrund dieses Commitments gab es eine Situation,
in der fast alle EU-Staaten zusammengehalten und ge-
sagt haben: Wir gehen das Thema Steuerflucht gemein-
sam an. Es gab gemeinsame Initiativen von Deutschland
und Frankreich im Rahmen der OECD. Es wurde gesagt:
Wir verschärfen die Standards. Es gab Druck aus den
USA und von vielen anderen Seiten, das Bankgeheimnis
endlich aufzuweichen.

In dieser Situation hat sich die Schweizerische Ban-
kiervereinigung gefragt: Wie können wir das Bankge-
heimnis noch retten? Wie können wir das Geschäft mit
der Steuerhinterziehung noch retten? Sie hat sich über-
legt: Wir könnten doch einen einzelnen Staat herauskau-
fen, um die Phalanx aller Staaten, die versuchen, etwas
zu ändern, zu schwächen. Sie haben einen Staat gefun-
den, der bereit ist, das zu tun, nämlich den Nachbarstaat
Deutschland, in dem der Bundesfinanzminister die Stra-
tegie der Schweizerischen Bankiervereinigung, den
Kampf gegen die Steuerflucht aufzubrechen, jetzt unter-
stützt. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen sagen gemein-
sam mit den anderen Oppositionsparteien: In diesem
internationalen Kampf gegen die Steuerflucht und Steu-
erhinterziehung


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Machen wir lieber Nullnummern!)


darf Deutschland nicht der Staat sein, der das Geschäft
der Schweizer Bankiers betreibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich möchte für uns eines ganz deutlich sagen: Auch
wir wollen ein Abkommen mit der Schweiz.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sie kriegen aber keins!)


Natürlich muss man verhandeln. Aber wir wollen ein
europäisches Abkommen mit der Schweiz;


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Am Sankt-Nimmerleins-Tag! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Ich brauche nur „Zinsrichtlinie“ zu sagen!)


denn wir wollen die gemeinsame erfolgreiche Strategie,
die wir unter Rot-Grün begonnen haben, nämlich auf
europäischer Ebene gemeinsam gegen die Steuerhinter-
ziehung vorzugehen, weiterführen.

Was hat denn Ihr Abkommen, Herr Schäuble, be-
wirkt? Österreich und Luxemburg hatten sich längst da-
rauf eingestellt, dass auch bei ihnen das Bankgeheimnis
gekippt werden muss.


(Joachim Poß [SPD]: Und jubilieren jetzt!)


In dem Moment, in dem Sie angefangen haben, zu ver-
handeln, ist klar gewesen: Die gemeinsame europäische
Strategie ist zerstört worden. Deswegen sagen auch wir
als Europapartei ganz eindeutig: Es darf ein solches bila-
terales Abkommen nicht geben; denn es zerstört eine
gemeinsame europäische Strategie. Das dürfen wir nicht
unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Wie lange wollen Sie denn noch verhandeln?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717509600

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Damit komme ich zum Schluss. – Ich will eine Sache
ganz deutlich sagen. Hören Sie auf Ihre Kollegen im
Europäischen Parlament. Diese haben in diesem Monat,
unterstützt von der Fraktion der Europäischen Volkspar-
tei, der die CDU angehört, unterstützt von der Liberalen
Fraktion, der die FDP angehört, geschrieben: Es besteht
die Notwendigkeit, einen automatischen Informations-
austausch vorzusehen, um das Bankgeheimnis effektiv
zu beenden. – Hören Sie wenigstens auf Ihre europäi-
schen Kollegen! Es braucht einen gemeinsamen europäi-
schen Ansatz gegen die Steuerflucht. Dieses bilaterale
Abkommen macht das alles kaputt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das geht doch gar nicht rückwirkend!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717509700

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwischendurch will

ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rern ermittelten Ergebnisse der beiden namentlichen
Abstimmungen übermitteln.

Zunächst das Ergebnis der Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und
Soziales zum Antrag der Fraktion der Linken „Sanktio-
nen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungs-
einschränkungen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch
abschaffen“: abgegebene Stimmen 564. Mit Ja zur
Beschlussempfehlung haben gestimmt 429, mit Nein
haben gestimmt 68, Enthaltungen 67. Damit ist die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses angenommen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 564;
davon

ja: 429
nein: 68
enthalten: 67

Ja

CDU/CSU

Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters

Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag

Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel

Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer

Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)


Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich

Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Hans-Christian Ströbele

Enthalten

SPD

Klaus Barthel
Steffen-Claudio Lemme
Hilde Mattheis
Stefan Rebmann
Rüdiger Veit





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius

Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn

Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager

Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Ergebnis der zweiten namentliche Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit
und Soziales zum Antrag der Fraktion von Bündnis 90/
Die Grünen „Rechte der Arbeitsuchenden stärken –

Sanktionen aussetzten“: abgegebene Stimmen 564. Mit
Ja haben gestimmt 308, mit Nein haben gestimmt 144,
Enthaltungen 112. Die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses ist damit angenommen.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 564;
davon

ja: 308
nein: 144
enthalten: 112

Ja

CDU/CSU

Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar

Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser

Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse

Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz

Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)


Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

SPD

Klaus Barthel
Bärbel Bas
Willi Brase
Marco Bülow
Michael Groß
Steffen-Claudio Lemme
Hilde Mattheis
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Karin Roth (Esslingen)

Werner Schieder (Weiden)

Ottmar Schreiner
Rüdiger Veit
Heidemarie Wieczorek-Zeul

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald

Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Agnes Brugger





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin

Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Enthalten

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes

Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich

Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Ulla Schmidt (Aachen)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

Wir setzen jetzt die Beratung zu diesem Tagesord-
nungspunkt fort. Ich erteile dem Kollegen Klaus-Peter
Flosbach für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1717509800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ihre Ausführungen, Herr Kollege Schick, waren in wei-
ten Teilen nicht nur falsch, sondern sie waren auch
zutiefst demagogisch.


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Ah!)


Am Beispiel der europäischen Zinsrichtlinie haben Sie
selbst bewiesen, dass unser bilaterales Abkommen ge-
nau der richtige Weg ist, um im Kampf gegen die Steuer-
hinterziehung ein Stück weiterzukommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Seit Jahrzehnten diskutieren Parlamentarier, wie wir
an die in die Schweiz und in andere Länder geschafften
Gelder von Deutschen – sei es Schwarzgeld oder legales,
aber nicht versteuertes Geld – herankommen können.
Dieses Abkommen mit der Schweiz ist wirklich ein Mei-
lenstein im Kampf gegen die Steuerhinterziehung; denn
wir haben erstmals einen unmittelbaren Zugriff auf diese
Konten. Wir haben also ein Verfahren gefunden, das
sicherstellt, dass in Zukunft jeder sein Geld auch im
Ausland so versteuern muss, wie es jeder ehrliche Steu-
erzahler in Deutschland tun muss. Dafür vielen Dank,
Herr Finanzminister.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit der Anonymisierung?)






Klaus-Peter Flosbach


(A) (C)



(D)(B)


Die Steueramnestie, die SPD und Grüne im Jahr 2003
beschlossen haben, ist hier schon angesprochen worden.
Damals gab es einen Steuersatz von 15 Prozent, Frau
Kressl.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das war nicht anonym!)


Lesen Sie bitte die Kommentare über das Steuerab-
kommen von damals nach. Das war damals nichts ande-
res als ein Sondertarif für Steuerhinterzieher. Es war ein
Geschenk für Steuerhinterzieher. Das war damals ein an-
deres Verfahren. Sie haben uns damals zugesagt, es
werde 5 Milliarden Euro in die Kasse spülen. 1,3 Mil-
liarden Euro sind dabei herausgekommen. Sie haben in
elf Jahren als Finanzminister im Kampf gegen die Steu-
erhinterziehung nichts geschafft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben ein klares Konzept, wie wir an das Geld im
Ausland herankommen können. Erstens. Wer sein Geld
im Ausland hat, kann sich eine Bestätigung der Bank ho-
len und es dem deutschen Fiskus melden. Oder er macht
zweitens eine Selbstanzeige. Damit muss er für zehn
Jahre nachträglich die gesamten Steuern zahlen.

Oder aber wir greifen durch dieses Abkommen in sein
Konto hinein, bei Steuersätzen von 21 Prozent bis 41 Pro-
zent je nach Struktur, Laufzeit und Höhe. Das heißt, je
100 000 Euro Kapital im Ausland rufen wir 21 000 bis
41 000 Euro von dem Konto ab.

Das ist der Meilenstein: Wir greifen in das Konto hi-
nein. Das ist unsere Verpflichtung gegenüber den ehrli-
chen Steuerzahlern in Deutschland. Wir holen uns das
Geld bei den Hinterziehern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wenn jemand beispielsweise sein Erbe nicht dekla-
riert hat, holen wir uns 50 Prozent des gesamten Kapitals
vorab. Das ist doch der Unterschied zu Ihrem Konzept
damals: Wir holen uns das Geld der Steuerhinterzieher.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Schwacher Beifall!)


Wichtig ist für die Akzeptanz auch dieses Abkom-
mens, dass wir – das haben Sie völlig falsch dargestellt,
Herr Schick – Geld aus Straftaten vom Schutz der
Anonymität befreien. Drogengeschäfte, Geldwäsche und
alle diese Dinge sind ausgeschlossen. Das Risiko der
Entdeckung wird dramatisch erhöht. Wir haben nicht nur
höhere Standards als die OECD, die Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern es können
auch noch jährlich 1 300 Kontenabfragen erfolgen. Je-
der, der ein Konto im Ausland hat, ist damit ständig in
der Gefahr, entdeckt zu werden.

Nicht nur das: In Zukunft werden auch Transaktionen
von der Schweiz gemeldet. Das sind die herausragenden
Ergebnisse dieses Abkommens.

Wir müssen nur sehen, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, dass dieses Abkommen jetzt umgesetzt wird. Der
Finanzminister hat auch deutlich darauf hingewiesen:

Wir unterliegen einem Problem. Die Straftaten verjähren
laufend. Die Steueransprüche sinken laufend durch die
Verjährung. Uns gehen Milliardenbeträge verloren. Es
gibt natürlich keine genauen Berechnungen, wie viel
Geld im Ausland liegt. Aber es gibt natürlich Vermutun-
gen, auch seitens des Finanzministeriums.


(Joachim Poß [SPD]: Herr Röttgen sagt aber in Nordrhein-Westfalen etwas anderes! Herr Röttgen weiß es ganz genau!)


Wir gehen mindestens von einem zweistelligen Milliar-
denbetrag aus. Allein die Kontovorauszahlungen betra-
gen bereits 2 Milliarden Schweizer Franken. Das ist
doch der große Unterschied zu Ihrem Verfahren.

Auch uns stellt sich selbstverständlich die Frage:
Werden unsere Bundesländer diesem Abkommen zu-
stimmen? Von den gesamten eingehenden Geldern ge-
hen 70 Prozent an die Länder und Kommunen. 61 Pro-
zent gehen allein an die Länder, 30 Prozent an den Bund.
Ich bin auch gespannt, Herr Walter-Borjans, wie das
Land Nordrhein-Westfalen mit diesem Thema umgehen
wird, ob die Schuldenkönigin Hannelore Kraft nicht
mehr nur darauf setzt, immer weiter neue Schulden zu
machen, und ob Sie die fast 2 Milliarden Euro, die Nord-
rhein-Westfalen zustehen, abrufen werden.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die haben so viele Schulden, da macht das auch nichts mehr! – Nicolette Kressl [SPD]: Ich denke, es gibt keine Zahlen! Gerade haben Sie gesagt, es gebe keine Zahlen!)


Es geht nicht nur um die 2 Milliarden Euro heute,
sondern um die laufende Besteuerung in Zukunft. Auch
das sind Hunderte Millionen Euro für Nordrhein-Westfa-
len.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich komme zum Schluss. Der Gesetzentwurf steht im
Einklang mit europäischem Recht. Großbritannien und
Österreich wollen einen ähnlichen Weg gehen. Unser
Gesetzentwurf ist Vorlage für alle anderen europäischen
Länder. Ich gehe davon aus, dass sie diese Vorlage auch
übernehmen werden.


(Zuruf von der SPD: Schlimm genug!)


Deswegen meine Empfehlung und Bitte an die Oppo-
sitionsparteien: Verweigern Sie sich nicht, Steuerhinter-
zieher endlich zur Kasse zu bitten. Wir wissen alle: Hun-
dertprozentige Gerechtigkeit zu erreichen, ist in diesem
Bereich nicht einfach. Aber wir greifen jetzt in die Kon-
ten hinein und holen uns das Geld, das hinterzogen wor-
den ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717509900

Das Wort hat nun der Minister für Finanzen des Lan-

des Nordrhein-Westfalen, Norbert Walter-Borjans.


(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ich bin gespannt, was der uns er Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse zählt! Aber es ist ja wurscht! Schulden sind Schulden!)





(A) (C)


(D)(B)



(NordrheinWestfalen)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-
ehrter Herr Minister Schäuble! Herr Schäuble, ich
nehme Ihnen ab, dass Sie das ehrbare Ziel haben, die Fi-
nanzbeziehungen zur Schweiz auf eine geordnete
Grundlage zu stellen.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Da sind Sie schon weiter als Ihre Kollegen! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Herr Poß, der belehrt Sie!)


Ich nehme Ihnen auch ab, dass Sie insgesamt das Ver-
hältnis zur Schweiz wieder auf eine bessere Grundlage
stellen wollen als bisher, trotz vieler Kommentare, die
wir etwa von Bankenchefs in der Schweiz in der letzten
Woche lesen konnten. Es wird von einem Wirtschafts-
krieg gesprochen, in dem sich die Schweiz mit Deutsch-
land und den USA befindet, weil diese beiden Länder
dafür sorgen wollen, dass Steuerbetrüger nicht länger,
ohne mit der Wimper zu zucken, in die Schweiz entflie-
hen können. In einem Interview wird davon gesprochen,
dass dadurch in der Schweiz 20 000 Arbeitsplätze ge-
fährdet seien. Einen besseren Beleg dafür, dass Steuer-
hinterziehung ein Geschäftsmodell von Banken in der
Schweiz ist, hat es vor diesem Interview nicht gegeben.


(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das wollen wir trockenlegen, und da wollen Sie nicht mitmachen!)


– Warten wir mal ab!

Ich nehme Ihnen auch ab, Herr Schäuble, dass Sie
dem deutschen Fiskus wenigstens einen Teil dessen ret-
ten wollen, was verantwortungslos handelnde Steuerbe-
trüger dem Gemeinwesen vorenthalten. Was ich Ihnen
aber nicht mehr abnehme, ist, dass Sie das, was jetzt aus-
gehandelt auf dem Tisch liegt, für einen Erfolg halten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist doch abwegig! Sie haben doch nichts auf die Reihe gekriegt!)


Sie alle wiederholen das, was so wunderschön in den
Texten steht, die verbreitet werden: Wenn das Abkom-
men in Kraft tritt, werden Erträge in der Schweiz und in
Deutschland steuerlich vollkommen gleich behandelt. –
Das stimmt. Die Erträge werden gleich behandelt.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Klar! Was sonst?)


Es handelt sich aber um Erträge aus völlig unterschiedli-
chen Kapitalarten, nämlich zum einen um Erträge aus
umsatz- und einkommenversteuertem Kapital, das ein
ehrlicher Steuerzahler bei einer deutschen Bank anlegt,
und zum anderen um Erträge aus unversteuertem Brutto-
kapital, bei dem man sogar noch Zinsen auf hinterzo-
gene Steuern bekommt.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch besser als nichts! – Lachen und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


– Einen Moment! Herr Michelbach, Sie können doch
rechnen. Sie sind selbst Unternehmer und wissen: Wenn
jemand 1 Million Euro einnimmt und nicht die Mehr-
wertsteuer in Höhe von 19 Prozent draufschlägt, dann
entgehen dem Fiskus schon 190 000 Euro. Wenn ich da-
von ausgehe, dass jemand, der über solche Beträge ver-
fügt, dem Grenzsteuersatz in Höhe von 42 Prozent unter-
liegt, dann stelle ich fest, dass der Betreffende zusätzlich
420 000 Euro hinterzogen hat. Damit sind wir bei über
600 000 Euro.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie kriegen doch heute überhaupt gar nichts! Wir holen 41 Prozent des Kapitals!)


Die 190 000 Euro sind nicht eingenommen worden.
Diese Summe ist dem Fiskus auf andere Art und Weise
verloren gegangen. Aber die 420 000 Euro werden in der
Schweiz angelegt und verzinst. Sie haben recht: Das
muss demnächst versteuert werden. Das ist das Wer-
mutströpfchen für die Steuerhinterzieher. Das ist richtig.


(Nicolette Kressl [SPD]: Aber mit Trockenlegen hat das nichts zu tun!)


Herr Schäuble, ich nehme Ihnen auch nicht ab, dass
Sie mit der Regelung im Hinblick auf die Vergangenheit
zufrieden sind. Zumindest können Sie das nicht sein,
wenn es Ihnen um ein Minimum an Steuergerechtigkeit
geht.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Ist Verjährung Steuergerechtigkeit? Sie verzichten auf das ganze Geld!)


Meine Damen und Herren von FDP und CDU/CSU,
Sie spielen immer Einnahmen und Steuergerechtigkeit
gegeneinander aus. Sie sagen: Wer pragmatisch ist und
darauf achtet, dass noch etwas in die Kasse kommt, der
darf es mit der Moral nicht ganz so ernst nehmen; der
muss auch einmal „Schwamm drüber!“ sagen können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Das ist völlig falsch!)


Ich habe nie in Abrede gestellt, dass es meinem Kolle-
gen Bundesfinanzminister in besonderem Maße um
Steuergerechtigkeit geht. Das tue ich auch heute nicht.
Wenn man sich allerdings den Text des Abkommens vor
Augen führt, muss man sagen: An der Bereitschaft, Steu-
ergerechtigkeit herzustellen, hat es nicht nur auf Schwei-
zer Seite, sondern auch den deutschen Verhandlern ge-
fehlt.


(Beifall bei der SPD)


Sonst hätte dieses Abkommen nicht solch eklatante Lü-
cken und würde Steuerhinterziehern nicht solche Son-
derrabatte gewähren.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wo sind die Sonderrabatte?)






Minister Dr. Norbert Walter-Borjans (Nordrhein-Westfalen)



(A) (C)



(D)(B)


Dieses Abkommen gewährt Steuerflüchtlingen mit
Milliarden, die ihnen nicht gehören, freies Geleit in an-
dere Steueroasen oder in andere Anlageformen. Man
muss ja noch nicht einmal die Schweiz verlassen. Daran
ändert auch das Zusatzprotokoll nichts. Dass das Ende
der Abschleichzeit vom 1. Juni 2013 auf den 1. Januar
verkürzt worden ist, damit verhält es sich ungefähr so,
als ob Sie eine sperrangelweit offen stehende Tür um
20 Zentimeter niedriger machten und dann sagten: Jetzt
habe ich den Ausgang versperrt. – Das ist der einzige
Unterschied.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Wenn wir nichts machen, läuft das immer so weiter! Dann ist die Tür immer offen!)


– Wenn man aber acht Monate Zeit hat!

Es ist interessant, zu sehen, wie Sie damit umgehen.
Sie sprechen immer von den 10,8 Milliarden Euro, die
der deutsche Staat an zusätzlichen Einnahmen durch die-
ses Abkommen erhalten soll, und von den 2 Milliarden
Euro, auf die Nordrhein-Westfalen verzichtet, wenn es
diesem Abkommen nicht zustimmt.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Genau! Sie haben es ja!)


Aber dann sagen Herr Flosbach und andere: Es gibt
keine konkreten Zahlen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das sind Schätzungen! Werden Sie nicht albern!)


Aber Herr Röttgen und die Opposition in Nordrhein-
Westfalen, die mit dem Rücken an der Wand steht, brau-
chen entsprechende Zahlen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Natürlich wird darüber geredet, dass uns 2 Milliarden
Euro entgehen. Das ist aber nichts anderes als ein aufge-
blasener Luftballon. Da bis Ende des Jahres die Türen
offen stehen, frage ich: Zweifeln Sie wirklich an der Pro-
fessionalität und der Kreativität Schweizer Anlagebera-
ter? Das ist eine Beleidigung des eidgenössischen Fi-
nanzsektors. Der soll bis Ende des Jahres nicht in der
Lage sein, seinen Anlegern Wege aufzuzeigen, wie sie
ihr Schwarzgeld in Sicherheit bringen können? Davon
lebt der doch.


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Mit Ihrer Blockade bleibt das Tor zehn Jahre offen! – KlausPeter Flosbach [CDU/CSU]: Geben Sie doch eine Verzichtserklärung ab!)


Die acht Personen, gegen die in Nordrhein-Westfalen
ermittelt wurde und für die eine Schweizer Großbank
150 Millionen Euro auf den Tisch geblättert hat, damit
das Verfahren gegen sie eingestellt wird, haben sich je-
denfalls nicht so dusselig angestellt, wie Sie glauben,
dass sich andere anstellen werden. Die Schweizer Anla-
geberater haben bis Ende des Jahres Zeit und werden die
Möglichkeiten nutzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn hier jemand hinter die Fichte geführt wird, Herr
Wissing, dann sind es – das muss man wirklich sagen –
die ehrlichen Steuerzahler bei uns. Wer morgens aufsteht
und arbeiten geht, der wird jetzt betrogen. Dem werden
die Steuern direkt vom Lohn abgezogen. Der geht nicht
in die Schweiz und legt dort 1 Million Euro an, die er
nicht versteuert hat.


(Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: Die Steuerhinterzieher zahlen gar nichts! Es verjährt doch alles!)


– Es verjährt nicht alles. – Wir reden immer noch davon,
dass zum 1. Januar 2012 ein Abkommen in Kraft treten
könnte. Von Ihnen wird behauptet, dass schon jetzt Straf-
taten verjähren, was völliger Unsinn ist. Es war nie vor-
gesehen, das Abkommen vor dem 1. Januar 2013 in
Kraft treten zu lassen.

Wenn das Abkommen ein Jahr später in Kraft tritt,
dann sind nicht die von Ihnen errechneten 10,8 Milliar-
den Euro weg, sondern der Teil, der, weil es den Billig-
tarif von 20 Prozent gibt, wegfallen könnte. Das will ich
nicht. Ich will ein anständiges Ergebnis.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen uns nicht auf diesen Punkt verständigen.

Sie wollen Nachprüfungen in Verdachtsfällen auf
1 300 in zwei Jahren beschränken. Das wäre eine einzige
Kontrolle pro Finanzamt in Deutschland pro Jahr.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Die Drohung der Kontrolle ist doch da!)


Das erkennbare Ziel ist doch für die Schweiz und offen-
bar auch für die Betroffenen in Deutschland, also für die
Klientel, für die Sie ein Stück weit Politik machen, dass
diese vor Ermittlungen abgeschirmt werden. Das betrifft
auch den Erwerb von Daten, den wir bisher gemeinsam
als Aufklärungsinstrument, aber auch zur Abschreckung
eingesetzt haben. Es handelte sich nicht um einen Al-
leingang von Nordrhein-Westfalen, als eine CD gekauft
wurde, sondern wir haben das in Abstimmung und mit
Erfolg gemacht. Das hat ein Stück weit Verunsicherung
ausgelöst. Das beabsichtigte Abkommen wird aber zu ei-
ner Einladung zu mehr Transfer von unversteuertem Ka-
pital in die Schweiz.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist doch völlig abwegig!)


Das ist so, als ob Sie Schwarzfahrern erzählen, dass Sie
das Schwarzfahren bekämpfen, und heute erklären, dass
es keine Kontrollen mehr in Bussen und Bahnen gibt.

Die Verluste, die dem deutschen Fiskus mit jeder wei-
teren Milliarde, die in die Schweiz gebracht wird, entste-
hen, betragen, wenn man Umsatzsteuer und Einkom-
mensteuer zusammenrechnet, um die 600 Millionen
Euro, die in keiner Rechnung auftauchen, die Sie aufstel-
len. Sie sprechen immer nur von 2 Milliarden Euro Ein-
nahmen für Nordrhein-Westfalen. Das ist auf Dauer





Minister Dr. Norbert Walter-Borjans (Nordrhein-Westfalen)



(A) (C)



(D)(B)


nicht nur ein moralisches Fiasko, von dem wir reden, das
ist auch ein finanzielles Fiasko.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: In Nordrhein-Westfalen!)


Es hat noch nie eine so pauschale, umfassende und
anonyme Amnestie zu so günstigen Konditionen gegeben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Total absurd!)


Hier wird immer davon gesprochen, 2003 sei versucht
worden, eine Brücke in die Ehrlichkeit zu bauen. Dazu
muss ich ganz klar sagen: Das hat nicht das gebracht,
was wir uns erhofft haben.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Es hat einfach nicht funktioniert!)


Daraus muss man Lehren ziehen. Damals ging es wirk-
lich darum, dass sich nur der von Strafe befreien konnte,
der seine Identität offengelegt und nachgezahlt hat und
der damit in Zukunft überprüfbar war.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Jetzt wird überhaupt nicht mehr hingeschaut. Jetzt wird
der ganze Schlamassel der Vergangenheit abgehakt, es
wird Straffreiheit versprochen, und man weiß nicht ein-
mal, um welche Klientel es sich dabei im Einzelnen ge-
handelt hat.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der entscheidende Punkt, Herr Flosbach! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie wissen schon, dass die Steuersätze damals viel niedriger waren! – Gegenruf der Abg. Nicolette Kressl [SPD]: Aber die sind gezahlt worden!)


Wir haben es jetzt mit einem Abkommen zu tun, das
für ein Linsengericht eine pauschale Billigstamnestie ge-
währt, das Steuerhinterzieher in der Zukunft wieder ru-
hig schlafen und so weitermachen lässt wie bisher. Das
Ganze wird mit einem Beitrag zur Imagepflege der
Schweizer Banken verbunden. Das wollten die; denn sie
haben ein großes Problem. Sie möchten, dass sie ein bes-
seres Image bekommen. Es ist für viele ehrliche Unter-
nehmer in Deutschland nicht besonders schön, als Bank-
verbindung eine Schweizer Bank auf dem Briefbogen
stehen zu haben. Das soll aber nicht um den Preis ge-
schehen, dass das Schwarzgeld, das offenbar 20 000
Arbeitsplätze in der Schweiz sichert, verloren geht. Das
gehört zum Geschäftsmodell dazu. Deswegen muss das
kaschiert werden.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Alles widersprüchlich bei dem Mann!)


Herr Schäuble, ich meine, wir wären gemeinsam zu
dem Ergebnis gekommen, dass es ein Fehler war, dass
das vorher nicht mit den Ländern besprochen worden ist.
Ich bedaure sehr, dass seit September vergangenen Jah-
res mit der Unterzeichnung des Zusatzprotokolls und mit
der gestrigen Kabinettsentscheidung zwei weitere

schwere Fehler und zwei weitere Schritte in die falsche
Richtung gemacht worden sind. Das, finde ich, macht
die Sache nicht einfacher. Das macht es auch für die
Bundesregierung schwerer, gegenüber der Schweiz ihr
Gesicht zu wahren.

Die SPD- und grün geführten Bundesländer werden
sich nicht mit Zuckerbrot und Peitsche, mit aufge-
bauschten Zahlen, die Sie jetzt durch den nordrhein-
westfälischen Wahlkampf tragen, und mit der neuesten
Idee der Verknüpfung mit den Entflechtungsmitteln auf
Ihre Position bringen lassen; denn Sie wollen dafür sor-
gen, dass diese Klientel von Steuerzahlern wieder ein ru-
higes Leben führen kann. Das Hauptproblem dieser
Klientel und auch der Schweizer Banken ist nämlich,
dass sie im Moment wirklich damit rechnen müssen,
aufzufliegen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Was ist denn Ihr Vorschlag?)


Es reichen nicht 1 300 Überprüfungsmöglichkeiten
nach Diskussion in einer Kommission in zwei Jahren bei
den 650 Finanzämtern – so etwa ist die Größenord-
nung –, die wir in Deutschland haben.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Was ist denn Ihr Vorschlag überhaupt?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717510000

Herr Minister, Sie müssen bitte zum Schluss kom-

men.


(NordrheinWestfalen)


Ja, gern. – Ein Abkommen, das Zustimmung erwarten
kann, darf Lücken nicht nur geringfügig kleiner machen;
es muss sie schließen. Wenn hier gesagt wird: „Das darf
man nicht rückwirkend tun“, dann kann ich nur erwi-
dern: Rückwirkend sämtliche Strafen für erledigt zu er-
klären, das geht offenbar.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist etwas ganz anderes! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Dem muss aber auch die Schweiz zustimmen!)


Natürlich kann man darüber reden, dass man ab einem
Zeitpunkt X Daten austauscht. Da kann ich Herrn Schick
nur recht geben, der über das Bankgeheimnis gespro-
chen hat. Das wird ja wie eine Monstranz, wie ein Men-
schenrecht vor sich hergetragen. Aber das Bankgeheim-
nis ist ein Fehler. Es eröffnet die Möglichkeit, zu
betrügen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe mich schon mehrfach an die Adresse der
Schweiz gewandt, weil ich selber immer für ein gutes
Verhältnis zwischen den Menschen werbe.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Warum darf der 13 Minuten reden? Wir haben eine Aktuelle Stunde, keine Märchenstunde!)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717510100

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.


(NordrheinWestfalen)


Gern. – Ich kann nur sagen: Es geht nicht um
„Schweizer gegen Deutsche“, es geht um „Anständige
gegen Unanständige“,


(Gisela Piltz [FDP]: Ach so! Sie sind natürlich anständig!)


und die gibt es auf beiden Seiten.

Die Schweiz hat bis 1971 auch das Frauenwahlrecht
nicht gehabt.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Endlich mal ein Thema!)


Das hat sie irgendwann geändert. Das war bis dahin auch
eine unverbrüchliche Tradition. Die Schweiz kann da-
rüber gern einmal nachdenken.

Tatsache ist: Ein Abkommen, das Zustimmung erwar-
ten kann, darf Lücken nicht nur kleiner machen; es muss
sie schließen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Es muss aber die Schweiz auch zustimmen! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Jetzt hat er 14 Minuten!)


Es muss Ermittlungen uneingeschränkt zulassen,


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Mit wem wollen Sie das Abkommen schließen? Mit sich selbst?)


und es darf vergangene Betrügereien nicht zum Schaden
der Allgemeinheit zu Sonderrabatten straffrei stellen, die
eine Ohrfeige für jeden einzelnen ehrlichen Steuerzahler
sind.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717510200

Das Wort hat nun Birgit Reinemund für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Birgit Reinemund (FDP):
Rede ID: ID1717510300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Walter-Borjans, das war schon etwas peinlich für
einen Finanzminister,


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


auch wenn er gerade im Wahlkampf ist.

Herr Walter-Borjans, Sie verzichten lieber auf jede
Besteuerung, als eine Nachbesteuerung von Milliarden-
vermögen in der Schweiz zu erhalten. Wenn Sie meinen,

dass Sie in Nordrhein-Westfalen sich das leisten können,
dann hat das vielleicht auch damit zu tun, dass es Ihnen
immer wieder gelingt, Milliarden einfach so im Haushalt
zu finden. Das gelingt nicht auf allen Ebenen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Der Schuldenkönig Deutschlands!)


Mit der Rhetorik, die Schweiz zu kriminalisieren, rei-
hen Sie sich in eine schöne Reihe ein. Ich darf ein paar
Zitate bringen. Herr Poß meinte letztens: Diktatoren und
Massenmörder werden in der Schweiz nicht kriminali-
siert, sondern deutsche Steuerfahnder. Herr Trittin setzte
drauf: Die Schweiz schützt Kriminelle und jagt Steuer-
fahnder.

Mit derartigen Aussagen gehen Sie seit Wochen durch
die Presse. Was ist das für ein Ton? Abgesehen davon,
dass es inhaltlich falsch ist: Was ist das für ein Umgang
mit einem befreundeten demokratischen Nachbarstaat?


(Beifall bei der FDP – Dr. Daniel Volk [FDP]: Beschämend! – Nicolette Kressl [SPD]: Sollen wir ein paar Zitate aus der Schweiz bringen?)


Diese Koalition setzt auf Verhandlungen statt auf Be-
schimpfungen, und damit hat sie Erfolg. Das Abkommen
mit der Schweiz ist das Ergebnis langer bilateraler Ver-
handlungen, ein Kompromiss zweier souveräner Rechts-
staaten.

Die Schweiz hat deutlich gemacht, dass die Nachver-
handlungen an diesem Punkt beendet sind. Das Bankge-
heimnis rückwirkend zu verhandeln, ist nicht möglich.
Sie haben jetzt die Möglichkeit, ein Abkommen mitzu-
tragen, das die Schweiz für Steuerhinterzieher künftig
weniger attraktiv macht und das gleichzeitig und erst-
mals eine Nachversteuerung von Altvermögen ermög-
licht. Oder Sie blockieren im Bundesrat und zementieren
den Status quo.

Dieser Bundesregierung ist gelungen, was SPD-
Finanzminister während der letzten zehn Jahre nicht zu-
stande gebracht haben. Das mag Ihnen wehtun. Da müs-
sen Sie jetzt einfach durch. Der Kampf für mehr Steuer-
ehrlichkeit und für die Sicherung unserem Land
zustehender Einnahmen sollte auch Ihr Ziel sein. Unse-
res ist es auf jeden Fall.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Was bringt uns dieses Abkommen? Zunächst einmal
schaffen wir Rechtssicherheit. Wir verlassen die rechtli-
che Grauzone im Zusammenhang mit dem Ankauf ille-
galer Daten. Dies wird in Zukunft schlicht unnötig. Ich
weiß, die SPD will das nicht – Sie schon gar nicht, Herr
Walter-Borjans. Sie haben ja angekündigt, weiterhin
Steuer-CDs kaufen zu wollen,


(Joachim Poß [SPD]: Jawohl! Das ist auch richtig!)


und setzen damit Ihre Steuerfahnder weiterhin dem Ver-
dacht der Beihilfe zur Wirtschaftsspionage aus.





Dr. Birgit Reinemund


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Ach so! – Joachim Poß [SPD]: Aha! Das sind die Übeltäter!)


So etwas ist kein fairer Umgang mit Mitarbeitern.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist ja eine heiße Volte!)


Das wollen wir doch eher rechtlich regeln. Heiligt der
Zweck wirklich die Mittel in unserem Rechtsstaat?

Künftige Kapitalerträge werden unmittelbar mit einer
Abgeltungsteuer belegt. Sie entspricht exakt der deut-
schen Besteuerung. Bisher unversteuerte Kapitalerträge
werden mit 21 bis 41 Prozent nachversteuert.


(Nicolette Kressl [SPD]: 41 Prozent zahlt niemand!)


Sie verzichten hingegen auf jede Besteuerung. Mit
der Ablehnung dieses Abkommens werden Sie über
Jahre keinerlei Besteuerung erreichen können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Finanzministerium rechnet mit einmalig circa
10 Milliarden Euro und in der Folge mit rund 1,6 Mil-
liarden Euro jährlich. Davon profitieren Bund, Länder
und Kommunen – die Länder sogar stärker als nach dem
sonst üblichen Verteilungsschlüssel. Herr Walter-
Borjans, wie erklären Sie den klammen Kommunen in
Nordrhein-Westfalen, dass ausgerechnet Sie darauf
großzügig verzichten wollen?

Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grü-
nen, sagen wir den Menschen doch ehrlich, dass es nicht
darum geht, ein weiter gehendes Abkommen zu erstrei-
ten. Aus diesem Stadium sind wir heraus. Es geht
schlicht und einfach darum, ein Abkommen im Bundes-
rat scheitern zu lassen und über Jahre hinaus keinerlei
Fortentwicklung zu erreichen.

Kein Abkommen bedeutet weiterhin Rechtsunsicher-
heit. Kein Abkommen bedeutet Verzicht auf Steuerein-
nahmen für Bund, Länder und Kommunen in Milliar-
denhöhe. Kein Abkommen bedeutet fortlaufende
Verjährung von Steueransprüchen, die in der Folge nie
mehr eingefordert werden können.


(Bernd Scheelen [SPD]: Wie wäre es mit einem besseren Abkommen?)


Kein Abkommen bedeutet auch: Diese Steuerhinter-
zieher der Vergangenheit kommen bei Ihnen ungescho-
ren davon. Der Ehrliche bleibt der Dumme.


(Beifall bei der FDP – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glaube ich nicht! – Joachim Poß [SPD]: Sie verwechseln da etwas!)


Wollen Sie wirklich die Fortsetzung dieses sozialen
Unfriedens?


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden gerade über die Steuerflucht!)


Wie verträgt sich das mit Ihrem viel beschworenen
Gerechtigkeitsempfinden? Mit Ihrer Blockadehaltung
schützen Sie die Inhaber von Schwarzgeldkonten in der
Schweiz über viele weitere Jahre.

2004 war die von Herrn Eichel angebotene Steueram-
nestie für Rot-Grün Mittel zum Zweck. Geboten wurden
Sonderkonditionen für reuige Steuersünder – so Ihr
O-Ton –, die weit unter dem lagen, was wir heute disku-
tieren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das war für Sie damals völlig okay. Heute soll eine faire
Verhandlungslösung mit Nachbesteuerung hingegen
ganz, ganz böse sein.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Anonym? – Joachim Poß [SPD]: Sie kennen die doch gar nicht!)


Was ist das denn für eine Haltung?

Ihr Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit – ein
toller Name für ein Amnestiegesetz – war eine Aufforde-
rung an Steuerhinterzieher, sich ehrlich zu machen, und
wurde zum Flop.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grü-
nen, machen Sie sich ehrlich. Sehen Sie von einer takti-
schen Blockade ab!


(Joachim Poß [SPD]: Sie wollen doch die Steuerkriminellen gar nicht kennenlernen!)


Fachlich argumentieren können Sie hier nicht.

Dieses Abkommen mag nicht Ihren Maximalforde-
rungen entsprechen. Doch es ist deutlich mehr, als je-
mals zuvor von einer deutschen Regierung in Verhand-
lungen mit einem anderen Staat erreicht wurde.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Super!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717510400

Das Wort hat nun Petra Hinz für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Petra Hinz (SPD):
Rede ID: ID1717510500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Was wir gerade gehört haben, war ein Beispiel
dafür, wie die FDP mit Steuerflucht, mit Steuersündern
und mit denen, die Geldwäsche betreiben, umgeht. Sie
haben gerade deutlich offenbart, was Sie davon halten,
wenn Steuer-CDs angekauft werden, um den Steuerbe-
trügern den Garaus zu machen. Was Sie hier den Men-
schen erzählen, ist schon ein Skandal.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dann tun Sie auch noch blauäugig so, als ob die ehrli-
chen Steuerzahler nicht diejenigen sind, die in unseren
Kommunen und in unseren Ländern die Kitas, Schulen,
Universitäten, Krankenhäuser und sonstigen Infrastruk-
turen finanzieren.





Petra Hinz (Essen)



(A) (C)



(D)(B)


In Bezug auf diejenigen, die erst im nächsten Jahr an-
onym zur Kasse gebeten werden sollen, frage ich Sie:
Glauben Sie denn wirklich, dass jemand, der straffällig
ist und ein kriminelles Denken hat, sagt: Bitte, bitte, in
einem Jahr werde ich ehrlich meine Konten öffnen und
auf den Tisch legen! Ja, wo leben Sie denn?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Reden wir einmal über Steuerehrlichkeit. Wer sind
die Menschen, die ehrlich sind? Das sind die Menschen,
die auf der Besuchertribüne sitzen. Das sind die Men-
schen, die der Debatte folgen. Das sind die Menschen,
die hier sitzen. Es sind aber nicht die Menschen, die in
der Schweiz anonym ein Konto haben. Das sind die
Menschen, die Monat für Monat ihre Lohnsteuer abfüh-
ren müssen. Das sind die Menschen, die im Rahmen ih-
res Lohnsteuerjahresausgleiches Belege, Quittungen und
Rechnungen vorlegen müssen. Diese Angaben werden
geprüft. Wenn eine Angabe nicht richtig ist oder fehlt,
dann werden die Menschen mit einem Bußgeld belegt.
Was machen wir? Wir sagen: Bitte, bitte, Steuersünder,
zahl doch. – Das ist letztendlich das, was Sie hier vorle-
gen.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Was haben Sie denn in den letzten zehn Jahren gemacht?)


Es gibt angeblich keine Zahlen. Wenn im Finanzaus-
schuss konkret nachgefragt wird, mit welchen Zahlen
wir zu rechnen haben, um welche Größenordnung es in
dem Bereich der Steuerhinterziehung geht, dann hören
wir vom zuständigen Staatssekretär, dazu könne er
nichts sagen, es liege nichts Konkretes vor. Wir haben
von Herrn Röttgen gehört: NRW verzichtet auf 2 Mil-
liarden Euro. Herr Dr. Wissing hat gesagt: Es geht um
1,6 Milliarden Euro. – Sie müssen sich irgendwie eini-
gen, wenn Sie über Zahlen reden. Es wurde gerade ge-
sagt, dass es nur Schätzzahlen seien.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Es gibt immer vermutete Zahlen!)


Über was reden wir denn hier? Sie verschaukeln die
Menschen und streuen denen Sand in die Augen, die tat-
sächlich ihre Steuern zahlen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Nein, nein!)


– Oh ja.

Um es ganz klar zu sagen: Mit dem Abkommen be-
fördert Schwarz-Gelb Schwarzgeld und Steuerhinterzie-
hung. Ich kann nur sagen: Ich bedaure die jetzige Situa-
tion sehr. Auch ich schätze unseren Minister Schäuble
sehr. Aber ich teile nicht das, was er gerade deutlich ge-
macht hat, nämlich dass wir uns gute Nachbarschaft er-
kaufen müssen, indem wir gegenüber Steuerhinterzie-
hern ein Auge zudrücken.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)


Das kann doch keine gute Nachbarschaft sein. Ist es in
diesem Zusammenhang wirklich Gleichbehandlung,

wenn den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern jeden
Monat die Steuern abgezogen werden und alle anderen
in der Schweiz Zuflucht finden können? Aber: Wir müs-
sen ja gute Nachbarschaft pflegen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wir holen uns das doch jetzt!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Abkommen
ist eine staatlich geförderte Geldwäsche. Sie können den
Menschen keinen Sand in die Augen streuen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Dieses Abkommen wird von der Kanzlerin, vom Finanz-
minister und dem CDU-Spitzenwahlkämpfer in Nord-
rhein-Westfalen unterstützt.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Lesen Sie einmal durch, was Sie damals beschlossen haben!)


Diese Regierung fördert grundsätzlich Lobbyismus; den-
ken wir an die Hoteliersteuer. Sie sind aber nicht bereit,
den hilfesuchenden Frauen von Schlecker eine Bürg-
schaft in Aussicht zu stellen. Sie, lieber Herr Wissing,
und auch der Wahlkämpfer Lindner haben gesagt: Die
können auf dem Arbeitsmarkt ihre Arbeitsplätze
suchen. – Aber Sie legen den Steuersündern, die auch
unsere Infrastruktur einfordern, den roten Teppich aus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist doch ein wirres Geschwätz!)


Das, was diese Bundesregierung vorlegt, ist ein fauler
Kompromiss. Alle ehrlichen Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler, die jeden Monat Steuern zahlen und damit
einen Beitrag zum Ausbau unserer Infrastruktur leisten,
werden über den Tisch gezogen. Im Gegensatz dazu ste-
hen die Menschen, die ihre Einkünfte in Millionenhöhe
im nächsten Jahr, wenn sie großzügig sind, anonym of-
fenlegen.


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Mit Ihnen noch nicht einmal im nächsten Jahr!)


Das ist der Unterschied – ich sage es noch einmal –:
Wir sind gegen Anonymität. Sie wollen das. Sie kündi-
gen an, dass die Gelder im nächsten Jahr entsprechend
abgerufen werden. Das ist so, als wenn Sie in einem Res-
taurant Missstände, Kakerlaken, feststellen und dem Be-
sitzer sagen: Wir kommen im nächsten Jahr vorbei, dann
werden Sie die Kakerlaken beseitigt haben. – So geht es
nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Hans Michelbach für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1717510600

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Mit die-

sem Steuerabkommen mit der Schweiz schaffen wir end-
lich einen Meilenstein in der Frage der Steuergerechtig-
keit für die deutschen Steuerzahler,


(Zurufe von der SPD: Oh!)






Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)


Wahrheit und Klarheit für den deutschen Fiskus sowie
Wettbewerbsgleichheit für die deutschen Banken. Dies
ist ein Erfolg. All das, worüber Sie mäkeln, schlägt auf
Sie zurück. Ich bin überzeugt, dass Sie nach der Wahl in
Nordrhein-Westfalen diesem Gesetzentwurf zustimmen
werden, weil das vernünftig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Illegal in die Schweiz verbrachte Gelder werden nach-
versteuert. Es gibt keine Schlupflöcher mehr; dafür fin-
det eine gleiche Besteuerung nach der Leistungsfähig-
keit statt. Das ist Steuergerechtigkeit für alle.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Das ist die Steuergerechtigkeit der CDU und der FDP!)


Warum die Opposition hier auf Blockade macht, ist
rational überhaupt nicht zu erklären. Ich habe gut zuge-
hört, aber ich habe keine stichhaltigen Argumente ver-
nommen. Was ist denn Ihre Alternative? Rot-Grün hat zu
diesem Thema oft nur schwadroniert oder gegenüber der
Schweiz massiv gedroht. Der Erfolg war gleich null; Ihr
Kavalleriegeneral Steinbrück war auch nur eine Null-
nummer! So stellt sich die Situation doch dar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Die OECD-Liste ist nur deshalb zustande gekommen!)


Wer hat denn in der Vergangenheit Steuerhinterzie-
hung legitimiert, ohne eine Gesamtlösung anzubieten?
Das war der SPD-Bundesfinanzminister Eichel, der letz-
ten Endes eine Steueramnestie mit 15 Prozent Höchst-
steuersatz erlassen hat.


(Joachim Poß [SPD]: Haben Sie schon einmal etwas von der OECD-Liste gehört?)


Wir liegen jetzt bei einem Satz von 41 Prozent. Das ist
der große Unterschied.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Auf dem Papier haben Sie die!)


Wo war denn Ihre Moral, als Sie ein Steuergeschenk
in Höhe von 15 Prozent gemacht haben? Im Gegensatz
zu Ihnen damals verlangen wir heute 41 Prozent.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist ein Beweis für Ihre Doppelmoral; so sieht es
doch aus. Es hat viel Überzeugungskraft gebraucht, in
Verhandlungen mit der Schweiz neues Vertrauen aufzu-
bauen und zu einem Ergebnis zu kommen. Dieser Kom-
promiss ist absolut zielführend.

Sie fordern jetzt europäische Verhandlungen. Das ist
natürlich immer eine Lösung, aber wir können doch
nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Wir brau-
chen jetzt ein Inkrafttreten dieses Abkommens, wenn
wir zeitnah Einkünfte aus Kapitalvermögen, die bei
Schweizer Bankinstituten angelegt sind, genauso lü-
ckenlos der Besteuerung unterwerfen wollen, wie wenn
sie bei deutschen Instituten angelegt wären.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deutschland blockiert die europäischen Verhandlungen, nicht die anderen! – Gegenruf des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist Unsinn!)


Eine Anmeldung ist dabei nicht mehr erforderlich.
Wenn Sie das Gesetz und das Abkommen lesen, erken-
nen Sie: Wir haben einen direkten Kontenabzug unter
Aufsicht der staatlichen Behörden vereinbart. Das ist der
große Unterschied. Leider verschweigen Sie auch das.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieses Abkommen ist ein Meilenstein auf dem Weg zu
einer korrekten steuerpolitischen Zusammenarbeit mit
der Schweiz. Die Zeiten für Schwarzgeldkonten in der
Schweiz sind endgültig vorbei. Das Abkommen führt zu
mehr Steuergerechtigkeit und stärkt vor allem die Einnah-
mebasis von Bund, Ländern und Kommunen. Die Nach-
verhandlungen waren erfolgreich und beinhalten Ände-
rungen gegenüber dem im letzten Jahr unterzeichneten
Abkommen. Das ist gut so. Bereits mit Inkrafttreten ist
kein Verschwinden von Kapital mehr ohne Meldung oder
Nachversteuerung möglich. Die Schweiz wird zusammen
mit Deutschland eine gemeinsame Verwaltungsanwei-
sung zur Konkretisierung der Missbrauchsbestimmungen
des Abkommens erlassen.

Jeder Blockierer muss sich fragen, wie er diese Hal-
tung insbesondere von der deutschen Öffentlichkeit ver-
antworten will. Ihre Vorschläge laufen im Grunde auf
eine Art Steuereinnahmeverzichtserklärung hinaus.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Quatsch!)


Diese Konstellation ist wirklich einmalig. Man könnte
beim Verhalten der Opposition auch von Untreue im
Amt gegenüber dem Gemeinwohl sprechen.


(Joachim Poß [SPD]: Wer hat Ihnen denn das aufgeschrieben?)


Es ist nicht nachvollziehbar, dass Sie im Grunde auf
10 Milliarden Euro verzichten wollen. Das ist ähnlich
wie das Verhalten von Frau Kraft als Schuldenkönigin,
die zum einen Steuereinnahmen ausschlägt, letzten En-
des aber sagt: Wir haben sowieso so viel Schulden; wir
tilgen die alten Schulden, indem wir immer neue Schul-
den machen. – Das ist die Schuldenpolitik, die Sie uns in
Nordrhein-Westfalen vor Augen geführt haben. So etwas
wollen wir nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb sage ich Ihnen: Sie sollten Ihre generelle
steuerpolitische Blockade aus rein parteitaktischen
Gründen beenden. Sie verhindern die steuerliche Förde-
rung der Gebäudesanierung;


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Das finanzieren die ehrlichen Bürgerinnen und Bürger!)


Sie verhindern das Gesetz zum Abbau der kalten Pro-
gression. Das ist wachstumsfeindlich, das ist arbeitneh-
merfeindlich! Sie von Rot-Grün suchen Ihr Heil in im-
mer mehr Schulden. Das werden Ihnen die Leute nicht
abnehmen; dafür werden Sie die Quittung bekommen.


(Beifall des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP])






Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)


Der Weg, immer mehr Schulden zu machen, um alte
Schulden zu begleichen, ist nämlich mit Blick auf unsere
Jugend, auf unsere Menschen zukunftsfeindlich.

Deswegen darf ich Sie herzlich bitten, diesem Ab-
kommen zuzustimmen. Ich habe schon Zwischentöne
von Herrn Walter-Borjans gehört, der etwas belehrend
auf Herrn Poß eingegangen ist.


(Joachim Poß [SPD]: Was? Das ist aber ein Ding! – Bernd Scheelen [SPD]: In welcher Veranstaltung waren Sie denn?)


Ich bin sicher, dass die Länder in letzter Konsequenz die
Chance wahrnehmen und dem Abkommen zustimmen
werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717510700

Das Wort hat nun Martin Gerster für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Martin Gerster (SPD):
Rede ID: ID1717510800

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Sprache kann manchmal schon entlarvend sein. Gestern
gab es eine Pressemitteilung von der Parteizentrale der
CDU. Wenn man sich den Text durchliest, bemerkt der
aufmerksame Leser oder die aufmerksame Leserin
schon: Es ist nicht von „Steuerhinterziehern“, sondern
immer nur von „Steuersündern“ die Rede.


(Heiterkeit bei der SPD – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Den Begriff haben Sie doch 2004 eingeführt!)


Ich denke, das ist deswegen entlarvend, weil es sich in
diesen Fällen nicht etwa um kleine Nachlässigkeiten
handelt, um ein kleines Stück Schokolade zu viel, das
man gegessen hat. Nein, es ist kriminell.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es sind Betrüger. Deswegen müssen wir mit aller Härte
dagegen vorgehen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie gehen aber nicht mit Härte vor! Das ist das Problem!)


Ich nenne einfach einmal die Argumente, die hier an-
geführt wurden. Einmal ging es um Österreich. Dann
sagten Sie: Es liegen keine Zahlen vor. Jedoch sagte
Herr Röttgen in NRW, es gehe um 2 Milliarden Euro.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Ja, mindestens! – Heiterkeit bei der SPD – Katja Mast [SPD], an den Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU] gewandt: Sie mussten selber lachen!)


Dann hören wir hier, es gehe um 10 Milliarden Euro,
usw. usf.

Es ist schon ein bisschen seltsam, mit welcher Akro-
batik Sie argumentieren. Aber ich denke, eines wird
deutlich – egal, welche Zahl Sie, Herr Michelbach, jetzt
hier angeführt haben –:


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Wenn es nicht in Kraft tritt, gibt es gar keine Einnahmen! Das ist der Punkt!)


Es geht doch auch um den Preis, den wir dafür zahlen
müssen, dass die Bundesregierung dieses Steuerabkom-
men abschließt und Sie dies befürworten. Der Preis lautet
nämlich: Preisgabe der Steuergerechtigkeit in Deutsch-
land.


(Beifall bei der SPD)


Herr Michelbach, wenn Sie sagen, dieses Abkommen
sei ein Beitrag zu Ehrlichkeit und Gerechtigkeit, dann
muss ich sagen: Das ist eine höchst seltsame Interpreta-
tion. Das ist höchstens die Michelbach’sche Steuerge-
rechtigkeit.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wir holen uns das Geld! Das ist der Unterschied!)


Unter dem Strich muss man trotz aller Nachverhandlun-
gen und den Ergebnissen ganz klar attestieren:


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das hätte Herr Eichel doch regeln können!)


Steuerpflichtige, die ihr Vermögen unversteuert in der
Schweiz eingelagert haben, werden gegenüber den ehrli-
chen Steuerzahlern bevorzugt. Dieses Verhandlungser-
gebnis ist für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
kraten einfach nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber wenn Sie das Abkommen ablehnen, müssen sie doch gar nichts zahlen!)


– Herr Volk, ich verstehe, dass Sie den Eindruck erwe-
cken wollen, nach den erzielten Ergebnissen der Nach-
verhandlungen wäre die steuerliche Bergwelt zwischen
Deutschland und der Schweiz wieder heil. In Wahrheit
ist das Abkommen – das ist in der Debatte deutlich ge-
worden – doch löcherig wie ein Schweizer Käse. Das
sagt auch Herr Eigenthaler, der Vorsitzende der Deut-
schen Steuer-Gewerkschaft, ein anerkannter Experte auf
diesem Gebiet.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Johanna Voß [DIE LINKE])


Es gilt, diese Einschätzung von Herrn Eigenthaler zu un-
terstreichen.


(Zuruf des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP])


Herr Volk, auch die Presse und die Medien sehen es
so. Die Welt am Sonntag, wahrlich nicht das Hausblatt
der Sozialdemokratie,


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Aber immer mehr!)


hat in ihrer Beurteilung der Nachverhandlungsergeb-
nisse ganz klar gesagt, dass das, was hier als der große





Martin Gerster


(A) (C)



(D)(B)


Durchbruch dargestellt wird, „wertlose Zahlenakroba-
tik“ ist. Denn immer noch ist es eben so – das kann man
einfach nicht oft genug sagen –, dass diejenigen, die ihre
Steuern ehrlich gezahlt haben, gegenüber denjenigen be-
nachteiligt werden, die Gelder an unserem Finanzamt
vorbei in die Schweiz geschafft haben, dass sie hier die
Dummen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das wird doch nachversteuert! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Wir holen uns das Geld! Wir lassen ihnen das nicht!)


Es gibt auch entsprechende Berechnungen. Herr Volk,
Sie können das im Magazin Der Spiegel nachlesen. Da
wird folgende Rechnung aufgemacht – ich zitiere sie
einfach; Sie können es gerne einmal nachrechnen –:

Wer vor zehn Jahren 1,2 Millionen Euro unversteu-
ertes Schwarzgeld illegal in die Schweiz geschafft
hat und dort dank Zins und Zinseszins inzwischen
über 1,6 Millionen Euro verfügt, müsste nach dem
Steuerabkommen nur 21 Prozent bezahlen,


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Bei der SPD 15 Prozent!)


um sein Geld wieder weißzuwaschen. Er käme also
mit gut 300 000 Euro davon.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Die Rechnung ist schon falsch! Das kann nur ein Laie gemacht haben bei den Zinsen!)


Alle Verpflichtungen gegenüber dem deutschen
Fiskus wären abgegolten – zu einem Spottpreis.
Wäre das Einkommen ordnungsgemäß in Deutsch-
land deklariert und versteuert worden, lägen die
Abzüge bei 770 000 Euro, also mehr als doppelt so
hoch.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Der hat keine Ahnung, der das gemacht hat!)


Herr Michelbach, da können Sie doch nicht sagen, dieses
Abkommen sei ein Beitrag zur Steuerehrlichkeit und zur
Steuergerechtigkeit. Das kann doch wohl nicht wahr
sein!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Wer das gesagt hat, hat einfach keine Ahnung! Völlig falsch! – Gegenruf der Abg. Nicolette Kressl [SPD]: Mehrere große Kanzleien sagen das!)


Der Ehrliche ist der Dumme. Das ist das Ergebnis des
Steuerabkommens. Deswegen lehnen wir Sozialdemo-
kraten es ab, ganz zu schweigen von den vereinbarten
Kontrollmöglichkeiten. Der Landesminister Walter-
Borjans hat es dargestellt. Das ist doch ein schlechter
Witz, dass jedes Finanzamt in Deutschland im Prinzip
pro Jahr nur ein oder zwei Abfragen machen kann. Das
ist doch nicht einmal Stochern im Nebel, das ist noch
weniger. Wir sagen klar: Wir lehnen es ab. Wir werden
sehen, was die weitere Diskussion auch mit den Bundes-

ländern bringt. Klar ist: Dieses Steuerabkommen ist bei
weitem kein Beitrag zur Steuergerechtigkeit, sondern ein
Beweis des Gegenteils.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Völlig falsch! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Die Ablehnung ist ein noch weitaus geringerer Beitrag dazu!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717510900

Das Wort hat nun Olav Gutting für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1717511000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor

allen Dingen von den Grünen und von der SPD! Sie
wenden sich hier mit großem Getöse gegen das Steuer-
abkommen mit der Schweiz. Sie sollten sich schämen,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir schämen uns nicht! Das sollten andere! – Johannes Kahrs [SPD]: Schämen muss sich hier nur einer!)


dass Sie weiterhin Finanzbeamte und Steuerfahnder in
einen Sumpf aus Kriminalität, Selbstmord, Spitzelei und
Datenklau schicken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Das ist ja wohl unglaublich! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Sich als Dienstherr schützend vor seine Beamten zu stel-
len, heißt nicht nur, die Backen in Richtung Schweiz
aufzublasen und die Strafbefehle aus der Schweiz zu
verurteilen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Sie verwechseln Ursache und Wirkung! Das ist doch unglaublich!)


Sich schützend vor seine Beamten zu stellen, heißt auch,
die Alternative zu Spitzelei, Datenhehlerei und Wirt-
schaftsspionage zu wählen. Diese Alternative ist das
Steuerabkommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Am besten keine Steuern mehr! Dann passiert nichts! Das ist echt peinlich!)


Es ist betrüblich, wie Sie unser Verhältnis mit unse-
rem Nachbarn Schweiz, einem souveränen Rechtsstaat,
mit Ihrer Kriegsrhetorik beschädigen.


(Widerspruch bei der SPD)


Natürlich ist es ein Ärgernis, wenn die Schweiz die völ-
lige Offenlegung des Verbleibs deutscher Steuergelder
mit dem Verweis auf das Schweizer Bankgeheimnis ver-
weigert. Man kann es durchaus als Skandal empfinden,





Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)



(Petra Ernstberger [SPD]: Sie sind ein Skandal!)


dass damit deutsche Steuerhinterzieher in der Schweiz
geschützt werden. Aber dann muss man das Gespräch
suchen und verhandeln. Man darf nicht mit der Kavalle-
rie drohen, sondern man muss sich an den Verhandlungs-
tisch setzen.

Wissen Sie: Es gibt viele deutsche Landsleute, die in
der Schweiz leben und dort ehrlich ihr Geld verdienen.
Die werden mittlerweile in der Schweiz zum Hassobjekt.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: So ist es!)


Es gibt viele Baden-Württemberger, die tagtäglich in die
Schweiz fahren, um dort zu arbeiten. Ihre Kampfrhetorik
führt dazu, dass sie täglich gemobbt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Nicht unsere Rhetorik! Die Steuerhinterziehung! – Nicolette Kressl [SPD]: Blödsinn!)


Es ist unanständig


(Johannes Kahrs [SPD]: Die Rede ist unanständig!)


von Rot-Grün, dass sie selbst noch im Jahr 2003, dann
geltend für 2004, mit ihrem Gesetz zur Förderung der
Steuerehrlichkeit allen Steuerhinterziehern und allen
Steuerflüchtlingen einen Steuersatz von einmalig fak-
tisch 15 Prozent angeboten haben. Sie haben die 15 Pro-
zent damals damit begründet, dass man sich in einem
Abwägungsprozess befand, dass man sich entscheiden
muss, was besser ist: 15 Prozent auf X oder einen höhe-
ren Prozentsatz auf nix. 15 Prozent haben Sie damals als
ausreichend angesehen. 15 Prozent – und derjenige war
frei, egal ob anonym oder nicht.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Nein, das ist nicht egal!)


Nun haben Sie allen Ernstes heute die Stirn, sich gegen
die jetzigen Steuersätze zu wehren,


(Nicolette Kressl [SPD]: Es geht nicht um die Steuer! Es geht um die Anonymität!)


die bei 41 bzw. 50 Prozent liegen, und diese als zu nied-
rig abzulehnen?


(Nicolette Kressl [SPD]: Haben Sie es immer noch nicht kapiert?)


Weil Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen und Schles-
wig-Holstein ist, setzen Sie aus wahlkampftaktischen
Gründen lieber weiter auf Datenklau. Sie setzen lieber
auf Datenklau als auf ein rechtlich verbindliches Ab-
kommen mit unserem Nachbarstaat.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


– Meine Damen und Herren, wir leben – das müssen Sie
schon sehen – in einem Rechtsstaat.

Vor zwei Jahren, als es in Baden-Württemberg eine
Diskussion darüber gab, ob wir eine Steuer-CD ankaufen
sollen, habe ich mich ausnahmsweise dafür ausgespro-

chen. Steuerhinterzieher schaden uns allen. Sie müssen
zu Recht hart und unnachgiebig verfolgt werden.


(Nicolette Kressl [SPD]: Jetzt verstehen wir das mit dem „Steuersünder“!)


Dafür darf der Staat ausnahmsweise, wenn es keine Al-
ternative gibt, zum Schutz des Volksvermögens auch zu
Methoden greifen, mit denen man sich vielleicht am
Rande der Legalität bewegt.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht wahr! Die Gerichte haben anders entschieden!)


Es gibt Situationen, wo man argumentieren kann, dass
der Zweck die Mittel heiligt; aber Sie wollen den
Rechtsbruch als Institut.


(Joachim Poß [SPD]: Quatsch mit Soße!)


Sie wollen bezahlte Spitzelei und Datenklau, und Sie
wollen das Sicheinlassen mit Kriminellen als Dauerzu-
stand einrichten.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt verdrehen Sie es!)


Das geht nicht. Wir sind in einem Rechtsstaat. Wir haben
eine Alternative, und zwar dieses Steuerabkommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Schlussendlich, meine Damen und Herren: Es ist be-
schämend, dass Sie den ehrlichen Steuerzahlerinnen und
Steuerzahlern in Deutschland nach Schätzungen bis zu
18 Milliarden Euro vorenthalten. Ländern und Kommu-
nen können bis zu 12 Milliarden Euro zufließen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Was? Es wird immer mehr!)


Sie sagen, das alles seien Zahlen aus Schätzungen. Ich
nehme zur Kenntnis, liebe Freunde von der SPD, dass
Sie offensichtlich der Meinung sind, dass es in der
Schweiz überhaupt kein deutsches Schwarzgeld gibt.
Wir glauben, dass es viele Milliarden gibt und dass bis
zu 18 Milliarden Euro nach Deutschland fließen können.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Wie errechnet sich das denn?)


Es ist nicht hinnehmbar, dass gerade Ländern und Kom-
munen Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für
Monat Milliarden an Geldern verloren gehen, nur weil
Verjährung eintritt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Eure Steuergesetze!)


Sie wissen das. Deswegen nehme ich Ihnen auch nicht
ab, dass Sie sich an anderer Stelle – zum Beispiel beim
Abbau der kalten Progression – hinstellen und sagen:
Wir können das aus Sorge um die Staatsfinanzen nicht
machen. Ihre Wahlkämpfer in Nordrhein-Westfalen und
Schleswig-Holstein und Sie sind dafür verantwortlich,
dass den Kommunen und den Ländern Milliarden an
Steuereinnahmen entgehen, die beim Kindertagesstätten-
ausbau und bei wichtigen Infrastrukturprojekten fehlen.
Es ist ein übles Spiel, das Sie hier spielen, und ich bin
froh, wenn Steffen Kampeter in Nordrhein-Westfalen





Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)


endlich Finanzminister sein wird und Sie endlich abge-
löst sein werden.


(Zurufe von der SPD: Oh! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Kampeter wird das ändern!)


Dann hat dieses Abkommen endlich eine Chance.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Wie gut, dass Sie keinen Wahlkampf machen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717511100

Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1717511200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Aktuelle
Stunde heute ist nicht deswegen aktuell, weil Sie ein Ab-
kommen mit der Schweiz verhandelt haben, sondern
weil die Nachverhandlung gestern im Kabinett auch
noch als Erfolg verkauft worden ist.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das war ein großer Erfolg!)


Das ist absolut unverständlich, wenn man sich die De-
tails anschaut. Das ist bereits angesprochen worden, man
muss es aber noch einmal wiederholen.

Angeblich wurden die Höchstsätze bei der Besteue-
rung erhöht. Ich frage Sie aber: Wer zahlt die denn? Die
zahlt doch kein Mensch. Dann wurde die Zahl der Prü-
fungen – von 999 auf 1 300 in zwei Jahren – erhöht. Es
wurde schon gesagt, dass das 1,1 Prüfungen pro Finanz-
amt sind. Das sieht fast so aus, als ob man da irgendje-
mandem in die Tasche hinein prüft. So ist es nicht. Es
wird über ein Bundeszentralamt Anfragen geben und
dann ein Amtshilfeverfahren. Ich frage Sie: Wer macht
das denn? Das ist völlig nutzlos.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Die Steuerverwaltung!)


Es wird weiterhin ein Bleiben in der Anonymität ge-
ben.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Alles falsch!)


Es wird ein „Abschleichen“ geben. Egal wie viel jemand
hinterzogen hat: Wir haben es hier mit kriminellen, aber
nicht mit dämlichen Mitbürgern zu tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es wird doch keiner hier sitzen und abwarten, bis das
Jahr herum ist, damit er am 1. Januar endlich seine hin-
terzogenen Steuern nachzahlen kann. Es ist doch völlig
blödsinnig, so etwas anzunehmen.

Das Argument der Verjährung ist schon angesprochen
worden. Bei diesem Abkommen geht es in der Regel um
Altvermögen bzw. Erträge, die wir nachbesteuern wol-

len. Hier fängt die Steuergerechtigkeit an. Die Leute, die
im Moment arbeiten und Steuern zahlen müssen, sehen
nicht ein, warum andere Menschen, die momentan Er-
träge erzielen, überhaupt nichts bezahlen sollen und die
Möglichkeit haben, sich dem zu entziehen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wir holen uns das Geld!)


Dem Minister Dr. Schäuble ist vor allem wichtig, dass
man mit der Schweiz ein gutes Verhältnis hat und dass
die Befindlichkeiten nicht gestört sind.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die Sie zerstört haben!)


Das ist schon schlimm genug. Aber das, was der Kollege
Gutting hier verbreitet hat,


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das war exzellent! Das war sehr gut!)


war teilweise wirklich unverschämt. Auch Schweizer
Bürger zahlen Steuern. Schweizer Bürger haben sehr
großes Verständnis dafür, wenn die Deutschen, die in ih-
rem Land Geld geparkt haben, zur Steuerzahlung heran-
gezogen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – KlausPeter Flosbach [CDU/CSU]: Deswegen machen wir das jetzt!)


Der Datenklau – auch das möchte ich Ihnen sagen –
ist von Gerichten im Nachhinein legitimiert worden. Wir
schicken niemanden, der Steuer-CDs ankauft, in den
Sumpf oder in die Kriminalität.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sicher!)


Die Schweiz hat deutsche Steuerbeamte kriminalisiert,
und zwar völlig zu Unrecht. Das sollten Sie hier einmal
thematisieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich möchte noch etwas zu den Summen sagen, die
hier im Raum stehen. Ich kann Ihnen ja einmal in der
Steigerung darlegen: Herr Wissing sprach von 1,6 Mil-
liarden Euro, die dem deutschen Staat entgehen würden.
Die Kanzlerin hat in den letzten Tagen von 1,8 Milliar-
den Euro gesprochen. Der Spitzenkandidat der CDU in
Nordrhein-Westfalen, Norbert Röttgen, redet von 3 Mil-
liarden Euro.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Zwei!)


– Ich habe „drei“ gelesen. – Das ist ein reichlich naives
Wunschdenken. Wir wissen alle, dass wir die genaue
Zahl überhaupt nicht kennen.

Gehen wir jetzt einfach einmal von 3 Milliarden Euro
aus;


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Nein! Zwei!)


denken wir positiv. Wenn wir berücksichtigen, dass der
NRW-Anteil 10 Prozent beträgt, würde das bedeuten,





Ingrid Arndt-Brauer


(A) (C)



(D)(B)


dass wir insgesamt mit einer Steuernachzahlung von un-
gefähr 30 Milliarden Euro rechnen könnten.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Völlig falsch gerechnet!)


Das würde bedeuten – ausgehend von einem Nachbe-
steuerungssatz von 25 Prozent –, dass auf Schweizer
Konten ein Kapitalbestand in Höhe von 120 Milliar-
den Euro liegt.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Nein! Hören Sie auf! Alles falsch!)


Die Besitzer dieser 120 Milliarden Euro warten jetzt da-
rauf, dass dieses Jahr zu Ende geht und das neue Jahr be-
ginnt, damit dieses Geld endlich versteuert werden kann.
Das ist doch völlig idiotisch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Holger Krestel [FDP]: Von „idiotisch“ verstehen Sie sicher etwas! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Es gibt dabei ein Ländertableau!)


Minister Schäuble hat in anderen Verlautbarungen sogar
von 10 Milliarden Euro gesprochen. Die Schweizer si-
chern uns für 2013 1,6 Milliarden Euro zu. Vielleicht
wissen die das besser als wir. Das kann ja sein.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist die Akontozahlung! Mehr ist das nicht!)


Alle Fachleute – Herr Eigenthaler, der Vorsitzende der
Deutschen Steuer-Gewerkschaft, ist schon zitiert
worden – sind sehr unzufrieden mit diesem Abkommen.

Da Sie immer so tun, als gebe es nur die Alternative
zwischen diesem Abkommen oder gar keinem Abkom-
men, möchte ich sagen: Man hätte dieses Abkommen
auch anders verhandeln können. Es ist einfach unsäglich,
dass Sie immer so tun, als ob es keine Alternative zu die-
sem schlecht verhandelten Abkommen gab.


(Beifall bei der SPD – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Genau so ist es! – Holger Krestel [FDP]: Meinen Sie, dass die Schweiz unterschrieben hätte? Wissen Sie, dass die Schweiz ein selbstständiger Staat ist? Die können Sie nicht einfach belehren!)


– Nein, aber man hat mit der Schweiz ein gutes, partner-
schaftliches Verhältnis, und die Schweizer sind bestrebt,
weiterhin ein gutes Verhältnis zu uns zu haben. Die
Schweizer haben ein Imageproblem, wenn sie kriminali-
siert werden und wenn sie von uns nicht mehr so behan-
delt werden, wie man Freunde behandelt. Ich glaube, es
ist überhaupt nicht ernsthaft versucht worden, vernünftig
zu verhandeln.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wer hat denn gedroht?)


Ich kann Sie nur warnen: Unter diesen Umständen
werden wir nicht zustimmen. Nutzen Sie die Möglich-
keit, über eine Nachverhandlung nachzudenken.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Was haben Sie denn damals geschafft? – Holger Krestel [FDP]: Sie haben doch elf Jahre den Finanz minister gestellt und nichts gerissen in der Frage! Null Euro in elf Jahren!)


Wir alle brauchen das Geld, das kriminell hinterzogen
worden ist. Darüber sind wir uns einig. Aber wir wollen
es in Gänze haben. Schließlich müssen wir auch den
Steuerzahlern, die keine Steuern hinterzogen haben, die
Steuerbelastung in Gänze zumuten. Deswegen möchten
wir das auch den kriminellen Bürgern, die Steuern hin-
terzogen haben, zumuten. Ich kann Ihnen nur empfehlen,
nachzuverhandeln.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Nach Ihrem Vorschlag kriegen wir gar nichts!)


Ansonsten bitte ich Sie: Hinterlassen Sie uns nicht zu
viele Baustellen. Sonst müssen wir auch das nach der
Regierungsübernahme machen. Doch auch dafür wären
wir uns nicht zu schade.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Holger Krestel [FDP]: Das war die Null-Euro-Rede!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717511300

Das Wort hat nun Bettina Kudla für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Bettina Kudla (CDU):
Rede ID: ID1717511400

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Als letzte Rednerin in dieser Debatte
möchte ich


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Zusammenfassen!)


die wichtigsten Punkte ein wenig zusammenfassen.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Da sind wir einmal gespannt!)


Der Staat muss das Problem der Steuerhinterziehung
lösen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit des Staates, der
Steuergerechtigkeit und der finanziellen Notwendigkeit.
Der Staat muss sich die Einnahmen sichern, die ihm ge-
setzlich zustehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zurufe von der SPD: Genau!)


– Ich freue mich über Ihren Beifall; denn er zeigt, dass
diese ganze Diskussion über die Zahlen eigentlich über-
flüssig ist. Wir müssen die Einnahmen sichern, die uns
gesetzlich zustehen.


(Joachim Poß [SPD]: Vollkommen richtig! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Die SPD will das ja nicht!)






Bettina Kudla


(A) (C)



(D)(B)


Kollege Gutting hat darauf hingewiesen: Der Ankauf
von Steuer-CDs darf nicht zu einem dauerhaften Instru-
ment des Staates werden. Das ist abzulehnen. Der Staat
darf nicht zum Hehler werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Da haben Sie etwas missverstanden!)


Der SPD ist es in früheren Jahren nicht gelungen, die-
ses Problem zu lösen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Aber Herr Schäuble hat den Datenkauf verteidigt!)


Herr Poß, ich habe mich sehr gewundert, dass Sie den
Ausspruch von Herrn Steinbrück zur Kavallerie noch
einmal zitiert haben;


(Joachim Poß [SPD]: Den habe ich nicht zitiert!)


denn dieser Ausspruch von Herrn Steinbrück war nichts
anderes als eine Erklärung, dass man in der Verhandlung
nicht weiterkommt.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Genau! – Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht wahr! – Joachim Poß [SPD]: Da ging es um die OECD-Liste, die ohne den Druck von Steinbrück von der Schweiz nicht akzeptiert worden wäre!)


Ich unterstelle: Jeder in diesem Hause wünscht sich, dass
die Steuerbürger steuerehrlich sind und ihre Steuern in
die Staatskasse zahlen. Aber wir müssen die Fakten be-
trachten, und die Fakten sind eben anders.

Ich nenne noch ein paar Punkte zur Steuerhinterzie-
hung an sich. Für mich wurde in dieser Diskussion sehr
stark schwarz-weiß gemalt. Sicherlich sind viele Leute,
die Steuern hinterziehen, kriminell.


(Zurufe von der SPD: Alle!)


Gleichwohl muss man sehen, auf welche Weise und wa-
rum Steuerhinterziehung geschieht.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gibt es gute und schlechte, oder was?)


Steuerhinterziehung kann auf verschiedene Weise ge-
schehen. Sie kann geschehen, indem der Bürger erklärt,


(Zuruf von der SPD: Erklärt?)


dass er sich dem Zugriff des Staates entziehen will. Neh-
men Sie beispielsweise das Thema Tanktourismus. Man
hat das gute Recht, in ein Nachbarland zum Tanken zu
fahren, weil der Steuersatz dort geringer ist; dadurch
zahlt man aber auch weniger in die Kasse des eigenen
Staates.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist keine Steuerhinterziehung im rechtlichen Sinne! Man hinterzieht dann aber keine Steuern!)


Ich bitte, dies in der ganzen Diskussion zu bedenken.

Das Thema Bankgeheimnis wurde angesprochen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Die Rede wird immer peinlicher!)


Ich habe mich sehr gewundert, wie leichtfertig man hier
die Forderung erhebt, das Bankgeheimnis aufzugeben.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diskutieren Sie darüber einmal mit Ihren eigenen Parteifreunden, die auch dagegen sind!)


Im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit des Stand-
ortes Deutschland und des Standortes Europa muss man
zum Thema Kapitalexport sagen: Wir müssen alles da-
ransetzen, den Kapitalexport zu stoppen; denn der hohe
Kapitalexport hat die Euro-Krise mit verursacht.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Hängt das vielleicht mit den Exportüberschüssen zusammen?)


Wir müssen alles daransetzen, das Kapital im Inland zu
halten, es entsprechend zu besteuern und Investitionen in
Deutschland anzuregen.

Noch ein paar Worte zu NRW. Statt Steuerhinterzie-
hung zu bekämpfen, ist man in den letzten Wochen lie-
ber auf den Solidarpakt losgegangen. Dies schürt Neid
und ist auf Spaltung ausgerichtet. Gleichzeitig lenkte es
vom Versagen der SPD-geführten Regierung in NRW
ab.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Was?)


Wertvolle Zeit geht verloren, und Millionen an Einnah-
men gehen verloren, wenn das Abkommen jetzt nicht
unterzeichnet wird. Das von Bundesfinanzminister
Schäuble ausgehandelte Steuerabkommen mit der
Schweiz ist gut, richtig und notwendig.

Jetzt noch ein paar Worte zur Haltung der europäi-
schen Institutionen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Die bisher haben gereicht!)


Gerade vor dem Hintergrund der Staatsschuldenkrise
und der notwendigen verbesserten europäischen Rege-
lungen zur Bewältigung dieser sollte man das Subsidiari-
tätsprinzip nicht aushöhlen. Wenn die Bürger dem Natio-
nalstaat Steuern entziehen, betrifft dies in erster Linie
ihren Staat. Ein Nationalstaat hat bessere Möglichkeiten,
Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Die deutschen Steu-
erbehörden sind einfach näher am Steuerzahler. Die Fi-
nanzbehörden müssen die Steuergesetze umsetzen und
dem Staat die Einnahmen verschaffen, die ihm gesetz-
lich zustehen.


(Zuruf von der SPD: Ja! Genau!)


Die bisherigen DBA-Abkommen sind zwar wichtig,
aber mit diesen kann man das Problem der Steuerhinter-
ziehung nicht abschließend lösen.

Es gibt auch einen Motivationseffekt. Der National-
staat, dem das Geld entzogen worden ist, hat eine große
Motivation, es sich zurückzuholen. Deswegen müssen





Bettina Kudla


(A) (C)



(D)(B)


bilaterale Abkommen zwischen den europäischen Staa-
ten weiter möglich sein.

Noch ein letzter Punkt: die Einhaltung der Schulden-
bremse.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717511500

Frau Kollegin, nur noch einen Satz. Sie haben Ihre

Redezeit schon deutlich überzogen.


Bettina Kudla (CDU):
Rede ID: ID1717511600

Bund und Länder brauchen das Geld aus dem Steuer-

abkommen, um die Schuldenbremse auch im Hinblick
auf den Fiskalpakt einhalten zu können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717511700

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 5 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Feststellung eines Nachtrags zum Bundes-
haushaltsplan für das Haushaltsjahr 2012

(Nachtragshaushaltsgesetz 2012)


– Drucksache 17/9040 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär im Finanzministerium Steffen
Kampeter das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


S
Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1717511800


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Nachtragshaushalt der Bundesregierung,
mit dem wir uns heute in erster Lesung befassen, ist eine
Investition in die Stabilität Europas. Stabilität bedarf ge-
meinsamer Anstrengungen, nicht nur in Deutschland,
sondern auch in allen anderen Ländern der Europäischen
Union. Der deutsche Beitrag zu dieser Stabilisierung ist
substanziell. Er sollte es auch sein; denn Stabilität in Eu-
ropa ist vor allen Dingen für uns Deutsche ein vordring-
liches politisches Anliegen. Deswegen glaube ich, mit
guten Gründen für den Nachtragshaushalt, den wir hier
und heute in die parlamentarische Beratung einbringen,
werben zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Nachtragshaushalt schafft die finanziellen Vo-
raussetzungen für den Europäischen Stabilitätsmecha-
nismus, in der Technokratensprache kurz „ESM“ ge-
nannt. Wir werden in einer ersten Tranche 8,7 Milliarden

Euro Eigenkapital einzahlen. Diese Brandmauer, die
auch dem Schutz der Deutschen dient, werden wir in den
nächsten beiden Jahren bis zu ihrer vollen Wirkungs-
fähigkeit weiterentwickeln. Es wird weitere Anpassun-
gen durch den Nachtragshaushalt geben, beispielsweise
beim Bundesbankgewinn. Auch die erfreuliche Entwick-
lung bei den Steuereinnahmen in der Bundesrepublik
Deutschland und die erfreuliche Entwicklung bei den
Zinsausgaben bilden sich in diesem Haushalt ab.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Könnten Sie das mit dem Bundesbankgewinn mal ein bisschen ausführen?)


Die beiden letzten Positionen sind eine besondere Stabi-
litätsdividende, die Deutschland zur Kenntnis nehmen
kann. Das niedrige Zinsniveau beispielsweise bildet
Respekt und schafft Vertrauen in die Wirtschafts- und
Finanzpolitik dieser Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Rahmen der Beratungen werden wir bis Ende Mai
dieses Jahres sicherlich noch bei zwei Positionen weitere
Anpassungen vornehmen. Erstens werden wir das deut-
sche Parlament über die Auswirkungen des Tarif-
abschlusses für den öffentlichen Dienst unterrichten, der
vor wenigen Wochen für die Angestellten gefunden
wurde und den wir eins zu eins auf die Beamten übertra-
gen wollen; er wird sich nämlich in diesem Haushalt
widerspiegeln. Zweitens erwarten wir noch Anpassun-
gen, die sich aus der Steuerschätzung im Mai dieses Jah-
res ergeben. Unser Ziel ist es, die Nettokreditaufnahme
auf dem im Nachtragshaushalt festgelegten Niveau zu
halten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser
Haushalt macht nochmals deutlich, dass die Bundes-
republik Deutschland kraft politischen Willens nicht nur
die nationale Schuldenbremse einhalten kann, sondern
auch ihre Verpflichtungen gegenüber Europa einhält.
Wir werden das gesamtstaatliche Defizit im Jahre 2014
nahezu ausgeglichen haben, zwei Jahre früher, als es
rechtlich erforderlich ist. Wir wollen diesen Sicherheits-
abstand. Dies ist ein Erfolg unserer wachstumsfreund-
lichen Konsolidierungspolitik. Diese Politik werden wir
mit dem Nachtragshaushalt weiter fortentwickeln.

Es gibt eine europaweite Debatte über den Zusam-
menhang zwischen Haushaltskonsolidierung und wirt-
schaftlichem Wachstum. Die G-20-Staaten haben in
Toronto verabredet, ihre strukturellen Defizite bis 2013
halbieren und ihre Schuldenstandsquoten senken zu
wollen. Das deutsche Beispiel, das Beispiel der christ-
lich-liberalen Koalition, zeigt, dass wirtschaftliche Kon-
solidierung und wirtschaftlicher Erfolg keine Gegen-
sätze, sondern zwei Seiten der gleichen Medaille
erfolgreicher christlich-liberaler Politik sind. Deswegen
werden wir an diesem Kurs auch festhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Genauso deutlich möchte ich feststellen, dass schul-
denfinanziertes Wachstum kein Zukunftskonzept ist.


(Johannes Kahrs [SPD]: Deswegen machen Sie jetzt welche!)






Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter


(A) (C)



(D)(B)


Schulden lösen kein Problem. Vielmehr sind viele Staa-
ten in Europa und im Übrigen auch viele Länder im
föderalen Deutschland in Schwierigkeiten, weil sie zu
viele Schulden haben. Wer Schulden mit Schulden
bekämpfen will, der begeht einen gefährlichen Irrweg.
Dieser Irrweg führt nicht zu Stabilität, sondern in den
Abgrund.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will auch mit der fehlerhaften Behauptung aufräu-
men, die deutsche Position sei auf Konsolidierung
beschränkt. Die wachstumsfreundliche Politik dieser
Bundesregierung beschränkt sich eben nicht nur auf die
Haushaltspolitik. In vielen anderen Bereichen haben wir
nicht nur als christlich-liberale Koalition, sondern auch
als Bundesregierung in unterschiedlichen Zusammenset-
zungen stets darauf geachtet, dass unser Land zukunftsfä-
higer wird, beispielsweise durch Arbeitsmarktreformen,
die von einer rot-grünen Regierung mit Unterstützung aus
dem bürgerlichen Lager vorangetrieben worden sind,
oder jetzt durch eine Energiepolitik, die den Industrie-
standort Deutschland weiterhin leistungsfähig bleiben
lässt.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch unterfinanziert!)


Das sind Beiträge, die das Wachstum in und für
Deutschland stärken sollen. Wenn ich im Gegenzug
höre, dass beispielsweise die nordrhein-westfälische
Landesregierung ein fast schon fertiggestelltes Kohle-
kraftwerk, einen Beitrag zur sicheren Energieversorgung
im industriellen Kern Nordrhein-Westfalen, aus ideolo-
gischen Gründen nicht fertigstellt,


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Genau!)


dann weiß ich, warum die Haushaltszahlen in NRW zum
gegenwärtigen Zeitpunkt so mies aussehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles schon im Wahlkampfmodus!)


Ich höre von den Sozialdemokraten an dieser Stelle
das Wort „Wachstumsförderung“. Meine sehr verehrten
Damen und Herren nicht nur hier im Hause, sondern
auch auf den Besuchertribünen, wenn die Sozialdemo-
kraten, die SPD, von Wachstumsförderung reden, dann
meinen sie Schuldenmachen. Das ist deren Konzept der
Wachstumsförderung. Dieses Konzept ist gescheitert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Was machen Sie denn hier heute?)


Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
SPD, ich habe heute in der Zeitung gelesen, dass das
deutsche Direktoriumsmitglied bei der Europäischen
Zentralbank, Jörg Asmussen, Angehöriger Ihrer Partei
– zumindest wenn ich den Medien glauben darf –, darauf
hingewiesen hat, dass es jetzt nicht darum geht, in dieser
Debatte irgendein Jota am Fiskalpakt und an der festen
Zusage zu ändern, mit dem Geld auszukommen, das man
hat, sondern dass man budgetneutrale Wachstumsim-

pulse setzen soll. Das Geld muss dort eingesetzt werden,
wo es am meisten zum Wachstum beiträgt.


(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann tun Sie es doch! – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo machen Sie das denn?)


Er hat auch daran erinnert, dass Deutschland mit der
Agenda 2010 eine Strukturreform durchgeführt hat, die
mittelfristiges Wachstumspotenzial hervorruft,


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es! – Otto Fricke [FDP]: Ja! – Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat es gemacht? Wir!)


und dies als Beispiel dafür genannt, wie auch andere
Staaten budgetneutrale Wachstumsimpulse setzen kön-
nen. Sie wollen sich an die Agenda 2010 heute aber
nicht mehr erinnern.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wir haben das gemacht, Herr Kollege! Unglaublich!)


Sie verstehen Wachstumsförderung als Lizenz zum
Schuldenmachen.


(Lachen des Abg. Johannes Kahrs [SPD] – Otto Fricke [FDP]: Ja!)


Sie haben ein ungeklärtes Verhältnis zur Inflation. Hören
Sie lieber auf diejenigen in der Sozialdemokratie, die
wirtschaftspolitischen Sachverstand haben und jetzt die
deutschen Interessen bei der EZB, wie ich finde, gut ver-
treten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Otto Fricke [FDP]: Kein Applaus für Asmussen von euch?)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bewäl-
tigung der Herausforderung, eine Konsolidierung durch-
zuführen, ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Deswegen
haben wir nicht nur im Bundeshaushalt eine Ausgaben-
diät einzulegen, sondern wir müssen diese Ausgabendiät
auch in allen Bundesländern durchhalten. Ich appelliere
an die Bundesländer, hier ihre gesamtstaatliche Verant-
wortung wahrzunehmen.

Der modernisierte Stabilitäts- und Wachstumspakt
bindet ja nicht nur den Bundeshaushalt, sondern ist eine
gesamtstaatliche Aufgabe. Wir haben im Finanzaus-
schuss des Bundesrates in dieser Woche erste Gespräche
geführt. Man darf Finanzpolitik nicht nur vor dem Hin-
tergrund des Datums 2016 betreiben, sondern man muss
auch die Situation im Jahre 2020 im Blick haben. Lassen
Sie mich hierzu zwei Beispiele aus unserem föderalen
Staat nennen: Sachsen beispielsweise orientiert seine
Haushaltspolitik an den Einnahmen und hat unter allen
Flächenländern in Deutschland die niedrigste Pro-Kopf-
Verschuldung, weil nicht jede politische Aufgabe mit
einer Staatsausgabe beantwortet wird. Länder wie
beispielsweise Nordrhein-Westfalen geben Mittel aus
mehr Steuereinnahmen durch mehr Ausgaben sofort
wieder aus.





Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter


(A) (C)



(D)(B)


Man muss die derzeitige Dividende der Konjunktur
zu einer Stabilisierung auch in den Länderhaushalten
nutzen. Wer da versagt, versagt vor der Herausforderung
der nächsten Generationen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Bernd Scheelen [SPD]: Die müssen erst einmal den Schutt wegräumen in Nordrhein-Westfalen!)


– Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, Herr
Kollege, bin ich gerne bereit, sie zuzulassen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Dann wird die Rede noch länger!)


Aber Sie als nordrhein-westfälischer Sozialdemokrat,
der nach dem Zweiten Weltkrieg über 40 Jahre in diesem
Land Verantwortung getragen hat, der für das Debakel
bei der WestLB politische Mitverantwortung trägt,


(Johannes Kahrs [SPD]: Es geht um den Nachtragshaushalt 2012!)


der dafür Verantwortung trägt, dass Norbert Walter-
Borjans gerade vorhin gesagt hat: „Wir verzichten in
Nordrhein-Westfalen auf Einnahmen aus dem Abkom-
men mit der Schweiz“, aber im nordrhein-westfälischen
Haushalt mit die höchste Neuverschuldung machen will,
sollten sich wegen solcher Zwischenrufe schämen


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und erst einmal Ihre Hausaufgaben in Nordrhein-West-
falen erledigen. Dazu bietet sich Zeit und Gelegenheit.

Der Bund ist auf jeden Fall bereit, am Konsolidie-
rungskurs festzuhalten.


(Johannes Kahrs [SPD]: Dann tun Sie es doch!)


Der Nachtragshaushalt setzt unsere wachstumsfreund-
liche Konsolidierung fort. Ich finde, von der Bundes-
republik Deutschland geht ein vertrauensbildender Im-
puls aus:


(Johannes Kahrs [SPD]: Aber nicht von der Bundesregierung!)


nach Europa, aber auch in unsere föderale Gemeinschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717511900

Das Wort hat nun Carsten Schneider für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1717512000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Debatte war als die Einbringung des Nachtragshaushal-
tes durch die Bundesregierung angekündigt. Ich hatte
mehr den Eindruck, der Staatssekretär hat das Plenum
mit dem Marktplatz von Minden verwechselt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind hier, sehr geehrter Herr Kampeter, im Deut-
schen Bundestag.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Ihnen bewusst war,
was Sie im Kabinett beschlossen haben; denn das, was
Sie gesagt haben, stimmt überhaupt nicht mit dem über-
ein, was Sie uns hier vorlegen.


(Beifall bei der SPD – Johannes Kahrs [SPD]: So ist das bei dieser Regierung!)


Da Sie 2011 – das ist das vorherige Jahr gewesen – in
Deutschland für den Bund knapp 17 Milliarden Euro
neue Schulden gemacht haben – neue Schulden! –


(Otto Fricke [FDP]: Statt eurer geplanten 50!)


und im Jahr 2012 mit dem Nachtragshaushalt, den Sie
jetzt hier einbringen sollten, über 34 Milliarden Euro
neue Schulden machen – Sie haben in Ihrer Rede gar
nicht gesagt, wie hoch die Neuverschuldung ist, deshalb
habe ich die Zahl genannt –,


(Johannes Kahrs [SPD]: So, so!)


ist das, was eine Verheißung sein sollte, nämlich dass Sie
in NRW Finanzminister werden sollen, für die Men-
schen eher eine Drohung. Ich glaube, das Ergebnis wird
deutlich ausfallen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich kann gut verstehen, dass man, wenn man einer
Regierung angehört, die nur noch verwaltet und sich
streitet, aber nicht mehr wirklich handelt, darüber nicht
reden will, sondern sich über die Kuppel des Reichstags
erhebt und gesamteuropäische Ansätze vertritt, dass man
mit dem Finger auf andere zeigt und sie zum Sparen auf-
fordert, selbst aber in Deutschland das genaue Gegenteil
tut. Von daher kann ich den Duktus Ihrer Rede gut ver-
stehen.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das stimmt ja überhaupt nicht, Herr Kollege!)


Das ist ein Armutszeugnis dieser gerade noch zusam-
mengehaltenen Regierung; das muss man leider so sa-
gen. Noch immer tragen Sie – das glaubt man fast nicht,
auch wenn man sich die Parteivorsitzenden anschaut –
die Verantwortung für dieses Land. Aber der Haushalt,
den Sie hier vorlegen, ist verantwortungslos: über
34 Milliarden Euro neue Schulden in 2012! Das legen
Sie dem Deutschen Bundestag vor und wollen es
beschließen lassen. Das ist der Verzicht auf gestaltende
Finanzpolitik. Das ist vor allen Dingen der Verzicht
darauf, zukünftigen Generationen finanziellen Spiel-
raum zu geben.

Eines ist doch klar: Wir haben derzeit eine sehr gute
ökonomische Lage.


(Otto Fricke [FDP]: Ach!)


Sie haben auf die Ursachen hingewiesen. Ich hoffe auch,
dass diese gute Konjunktur anhält. Die Zeichen stehen
nicht schlecht. Aber dass wir uns dauerhaft und für im-
mer auf einem Wachstumspfad befinden und immer
mehr Steuern einnehmen – in diesem Jahr haben wir Re-





Carsten Schneider (Erfurt)



(A) (C)



(D)(B)


kordsteuereinnahmen und eine Entlastung bei den So-
zialausgaben –, gibt es nicht. Die Wirtschaftswissen-
schaftler haben viele Fehler gemacht. Aber dass es in der
Wirtschaft ein Auf und Ab und ein Hoch und Runter
gibt, ist ziemlich klar. Deswegen wäre jetzt in der Phase
des höchsten Wachstums, das wir in Deutschland jemals
hatten, mit den höchsten Steuereinnahmen, die es jemals
gab, die Gelegenheit –


(Otto Fricke [FDP]: An die Ausgaben ranzugehen!)


– nicht an die Ausgaben ranzugehen, Herr Kollege Fricke;
das hätten Sie mit Hilfe Ihres Sparbuchs, das Sie hier vor-
legen wollten, machen können, aber das haben Sie einge-
mottet –,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Sollen wir die Steuern erhöhen?)


die absurd hohe Verschuldung des Bundes in Deutsch-
land herunterzufahren und so schnell wie möglich auf
null zu kommen.

Sie haben als FDP über Ostern ein interessantes
Schauspiel geliefert. Vor Ostern wollten Sie mit der
Pendlerpauschale die Subventionen erhöhen, aber ohne
Gegenfinanzierung. Ich bin zwar bereit, über alles zu re-
den, aber dann bitte mit einer entsprechenden Gegenfi-
nanzierung statt mithilfe neuer Löcher.

Nach Ostern wollten Sie bzw. Ihr Parteivorsitzender
den gerade beschlossenen Finanzplan wieder korrigie-
ren. Auf dem Parteitag sollte das dann beschlossen wer-
den: 2014, in zwei Jahren, soll die Neuverschuldung auf
null sinken. Das ist dann nicht beschlossen worden, weil
auf dem FDP-Parteitag dafür keine Zeit mehr war. Jetzt
machen Sie 34 Milliarden neue Schulden.


(Gisela Piltz [FDP]: Herr Schneider, das hat der Bundesvorstand beschlossen! Das muss Ihnen doch auch reichen!)


Ich weiß nicht, wo Ihre Prioritäten liegen. Aber es war
jedenfalls ein Misstrauensbeweis des Koalitionspartners
gegenüber dem Bundesfinanzminister.


(Beifall bei der SPD)


Ich meine, damit haben Sie recht gehabt. Denn die Fi-
nanzpolitik, die Sie vorgelegt haben und die insbeson-
dere mit dem Nachtragshaushalt ihre Fortsetzung findet,
ist auf Schuldenbergen gebaut, nicht auf Solidität. Dafür
unternehmen viele andere Länder in Europa derzeit
große Anstrengungen. Sie tun das Gegenteil.


(Otto Fricke [FDP]: Deshalb will ganz Europa unsere Zahlen haben!)


Der Punkt Subventionsabbau, den wir im Steuer- und
Finanzkonzept der SPD mit 50 Prozent der Gesamtkon-
solidierung berücksichtigen, kommt nicht vor. Im Ge-
genteil: Ich will nicht noch einmal die Hoteliersvergüns-
tigungen ansprechen, aber Sie haben die Subventionen
ausgeweitet, statt zielgerichtet in die Zukunft zu inves-
tieren.

Diese Woche haben Sie, zumindest der Fraktionsvor-
sitzende der CDU, ein besonderes Schauspiel geliefert.
Das Betreuungsgeld soll 2014 1,2 Milliarden Euro zu-
sätzliche Kosten verursachen, bezahlt aus neuen Schul-
den. Eine Gegenfinanzierung haben Sie nicht.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das steht als GMA im Haushalt, Herr Kollege! Nachlesen!)


Die Zustimmung dafür soll jetzt mit langfristigen Zusa-
gen für höhere Rentenzahlungen erkauft werden.

Damit bringen Sie zwei ungedeckte Schecks vor die
Öffentlichkeit, nur um den Koalitionsfrieden durchzuset-
zen. Das ist keine Zukunftsgewandtheit, sondern ein
Blankoscheck dieser Koalition, für den die Steuerzahler
zu zahlen haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Herr Staatssekretär hat positive Punkte wie die
Steuereinnahmen erwähnt. Er hat auch die Bundesbank
angesprochen. Nur für das Publikum: Der Bundesbank-
gewinn, der dem Bundeshaushalt zufließt, wird deutlich
niedriger sein, und zwar etwa um 2 Milliarden Euro. Das
liegt daran, dass die Bundesbank Rückstellungen für Ri-
siken aus dem Euro-System bildet. Das heißt, wir sehen
diesmal nicht nur mit der Überweisung der 8 Milliarden
Euro an den Stabilitätsmechanismus, sondern auch bei
dem um 2 Milliarden Euro geringeren Bundesbankge-
winn, dass die Finanz- bzw. Euro-Krise im deutschen
Bundeshaushalt ankommt. Bisher haben Sie immer ge-
sagt, die Krisenreaktion koste kein Geld. Hier sehen wir:
Es werden real über 2 Milliarden Euro fehlen.

Entscheidend ist, dass wir uns noch in der Großen
Koalition im Rahmen der Finanzkrise intensiv für
Wachstumspakete und Wachstumsstimuli eingesetzt ha-
ben. Das haben Sie jetzt verdammt.


(Otto Fricke [FDP]: Mehrausgaben!)


Wir haben das damals klug gemacht. Es hat dazu ge-
führt, dass wir 2011 kaum zusätzliche Arbeitslose hat-
ten. Es hat funktioniert.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben damals darauf Wert gelegt, dass alles in ein
Sondervermögen kommt und dass diese konjunkturell
bedingten Schulden wieder getilgt werden, wenn bessere
Zeiten kommen. Wir haben jetzt bessere Zeiten, und der
Bundesbankgewinn sollte eigentlich dort hineinfließen.
Das ist aber nicht der Fall. Ich erwarte – das werden wir
als SPD auch vorschlagen –, dass wir im Rahmen der
Beratungen die Schulden, die aufgenommen wurden, um
in der Wirtschaftskrise gegenzusteuern, zurückführen.
Auch darauf gibt es von Ihnen keine Antwort.


(Otto Fricke [FDP]: Und wie willst du zurückführen?)


Nein, es geht immer nur um höhere Schulden. Es gibt
keine Zukunftsorientierung und keine Rückstellungen
für zusätzliche Risiken, die es wegen des Engagements
in Griechenland und anderen Ländern natürlich gibt.





Carsten Schneider (Erfurt)



(A) (C)



(D)(B)



(Otto Fricke [FDP]: Mach doch mal einen Vorschlag zum Zurückführen! Keinen Vorschlag!)


Von daher ist das auf Sand gebaut, meine Damen und
Herren. Der Kitt der Koalition ist das Geld und die hohe
Verschuldung, die gemacht wird, um noch irgendwie zu-
sammenzubleiben.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Die Zahlen und Fakten sprechen eine eindeutige Sprache, Herr Kollege!)


Es wäre nicht nur gut für dieses Land, sondern auch
für die dauerhafte Tragfähigkeit unserer öffentlichen Fi-
nanzen, dass wir einen leistungsfähigen Staat erhalten
können, von der Neuverschuldung herunterkommen und
dadurch in der Zukunft geringere Zinsausgaben haben.
Das wird nur gelingen, wenn dieses Land wieder hand-
lungsfähig ist. Dazu müssen Sie abtreten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717512100

Das Wort hat nun Jürgen Koppelin für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1717512200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach deiner Rede, lieber Carsten Schneider, grüße ich
erst einmal die Bürgerinnen und Bürger in Minden.
Deine Rede war jedenfalls für den Marktplatz von Erfurt
nicht geeignet, um das einmal festzuhalten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wir nehmen mit dem Entwurf des Nachtragshaushal-
tes notwendige Korrekturen im Bundeshaushalt 2012
vor. Damit können die Bürgerinnen und Bürger erken-
nen, dass diese Koalition auf Haushaltswahrheit und
Haushaltsklarheit Wert legt.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Staatssekretär Steffen Kampeter hat schon darauf hinge-
wiesen: Dieser Nachtrag zum Bundeshaushalt 2012
wurde notwendig, um unseren Beitrag zur Eindämmung
der Krise in einigen Euro-Staaten zu leisten. Der deut-
sche Beitrag wird nicht umsonst gewährt; das will ich
hier festhalten. Wir verlangen dafür, dass andere euro-
päische Staaten nach deutschem Vorbild zu einer soliden
Haushalts- und Arbeitsmarktpolitik zurückkehren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Alternative zu diesem Nachtragshaushalt hat der
Kollege Schneider nicht aufgezeigt. Wenn Sie in der Re-
gierung wären und das umgesetzt hätten, was Sie – nicht
nur Carsten Schneider, sondern auch andere – in den De-
batten mehrfach vorgetragen haben, dann müssten Steu-
ererhöhungen beschlossen werden – das müssen die Bür-
ger wissen – und Euro-Bonds eingeführt werden. Das
hieße Vergemeinschaftung von Schulden und Zinsen auf
Staatsanleihen. Das alles hätte eine weit höhere Belas-

tung für unseren Bundeshaushalt zur Folge. Dazu sind
wir nicht bereit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Mir fiel schon bei den Reden in der Aktuellen Stunde
auf: Mir fehlt bei allen notwendigen politischen Aus-
einandersetzungen, dass wir alle gemeinsam erklären,
dass wir stolz auf unser Deutschland sein können. Wir
können stolz auf unser Land sein. Ich jedenfalls bin stolz
auf das, was wir und die Menschen hier in Deutschland
leisten. Die anderen europäischen Länder schauen auf
Deutschland. Ich sage ausdrücklich: Ich bin auch stolz
darauf, in dieser Zeit in Deutschland zu leben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Weniger Arbeitslose, kaum Jugendarbeitslosigkeit
und eine nach wie vor gute Konjunktur, das alles zusam-
men bringt dem Bundeshaushalt Mehreinnahmen. Daran
können wir uns erfreuen. Das haben die Menschen in un-
serem Land erarbeitet. Das haben sie sich verdient. Den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sei an dieser
Stelle gedankt für das, was sie geleistet haben, genauso
der deutschen Wirtschaft, den Gewerkschaften und den
vielen mittelständischen Unternehmen. Allerdings war
es diese Koalition, die die entsprechenden Rahmenbe-
dingungen und Voraussetzungen geschaffen hat. In die-
sem Zusammenhang nenne ich das Wachstumsbeschleu-
nigungsgesetz als Beispiel. Auch dieses Gesetz hat dazu
geführt, dass wir heute da stehen, wo wir sind, und dass
wir stolz sein können. Gestern schrieb selbst die Süd-
deutsche Zeitung: „Der Aufschwung hält an“. Darauf
können wir stolz sein. Dass die Arbeitslosenzahlen sin-
ken, darauf können wir stolz sein. Die Bundesregierung
stapelt noch tief. Die Prognosen der Experten sind teil-
weise viel besser. Ich finde es auch in Ordnung, dass wir
etwas tiefer stapeln. Wir sollten uns jedenfalls freuen.
Die Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten einen viel
stärkeren Wirtschaftsaufschwung als die Bundesregie-
rung.

Ich sage Ihnen aufgrund der Zurufe sehr deutlich:
Wenn Sie damals unter Rot-Grün eine solche Bilanz hät-
ten vorweisen können, dann hätten Sie dafür gesorgt,
dass in jedem kleinen Kaff, in jedem Dorf und in jeder
Stadt rot-grün angestrichene Denkmäler für Joschka
Fischer und Gerhard Schröder aufgestellt worden wären.
Aber Sie haben eine solche Leistung wie diese Koalition
nicht erbracht. Wir sind stolz auf das, was wir geleistet
haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Den Medien können Sie entnehmen – das ist das Er-
gebnis unserer Politik –: Deutschland ist die Lokomotive
beim Wachstum in Europa. – Darauf müssen wir doch
gemeinsam stolz sein. Das hat diese Regierung geleistet.


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Och nee! – Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Ich habe extra eine kleine Pause gemacht, weil in mei-
nem Manuskript „Zurufe von der Opposition“ steht. Ich
bleibe bei meiner Meinung: Sie sind der Auffassung,
dass wir in Deutschland so toll dastehen, weil Sie eine so





Dr. h. c. Jürgen Koppelin


(A) (C)



(D)(B)


gute Opposition sind. – Bitte bleiben Sie weiterhin in der
Opposition, wenn das Ihr Verdienst ist. Ich möchte näm-
lich, dass der Aufschwung anhält.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bernd Scheelen [SPD]: Sie haben damit gar nichts zu tun!)


Noch ein Wort zu Nordrhein-Westfalen. Die dort be-
triebene Haushaltspolitik sieht wie folgt aus: Hannelore
Kraft setzt in Nordrhein-Westfalen auf vorsorgende So-
zialpolitik, die sie mit Schulden finanzieren will. Peer
Steinbrück, auch aus Nordrhein-Westfalen, hat Steuerer-
höhungen gefordert, um den Haushalt zu sanieren. Ihr
Konzept bedeutet höhere Steuern und höhere Schulden,
nichts anderes. Das wollen wir nicht. Das ist nicht unsere
Politik. Wir möchten, dass Deutschland die Wachstums-
lokomotive in Europa bleibt. Gestern war in den Zeitun-
gen zu lesen – auch daran sollten Sie sich erfreuen –:
Berlin erfüllt Maastricht-Kriterien – Konsolidierung
schneller als von Brüssel vorgeschrieben. – Dafür sage
ich der Bundesregierung, dem Finanzministerium und
dem Wirtschaftsministerium, aber auch der Bundeskanz-
lerin Dank, die hart für unser Land verhandelt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717512300

Das Wort hat nun Dietmar Bartsch für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717512400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Jürgen Koppelin, die Rede hat mich doch ein bisschen
an eine Zeit erinnert, in der der Regierung und allen
Menschen gedankt worden ist. Ich glaube, das ist bei
dieser Bilanz hier wahrhaftig nicht angesagt.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Den Menschen wohl schon!)


Herr Kampeter, ich will Sie an die Haushaltsberatung
für das Jahr 2012 erinnern; die ist noch nicht sehr lange
her. Einige Redner der Opposition haben darauf auf-
merksam gemacht, dass es vielleicht einen Nachtrags-
haushalt geben könnte. Erinnern Sie sich an Ihre Re-
aktion? Niemals, hier ist genügend Luft, dass wir das
hinkriegen, haben Sie gesagt. Jetzt ist eine andere Situa-
tion. Nun frage ich Sie hier und heute – vielleicht kann
Herr Barthle darauf eingehen –: Wird das denn ange-
sichts der Risiken, die wir haben – Zinsen, europäische
Entwicklung, Konjunktur –, der letzte Nachtragshaushalt
in diesem Jahr sein? Beantworten Sie einfach diese
Frage.

Der Bundestag soll heute – das will ich deutlich
sagen – 8,7 Milliarden Euro weitere Schulden beschlie-
ßen. Nun klingt das angesichts der Milliardenbeträge,
über die wir hin und wieder reden,


(Otto Fricke [FDP]: Heute ist die erste Lesung, Herr Kollege!)


nicht einmal so sehr viel. Ich will das aber einmal mit
meinem Bundesland, Mecklenburg-Vorpommern, ver-
gleichen. Der Gesamthaushalt dieses Bundeslands be-
trägt 7,1 Milliarden Euro. Sie schlagen heute weitere
8,7 Milliarden Euro vor. Zur Wahrheit: 34,8 Milliarden
Euro neue Schulden will die Bundesregierung in diesem
Jahr machen.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sagen Sie mal, wofür!)


Die Schulden der Regierung in dieser Legislaturpe-
riode nach dem bisherigen Verlauf und nach dem, was
Sie planen, belaufen sich auf 142 Milliarden Euro. Es
hat noch keine Legislaturperiode gegeben, in der so viele
Schulden aufgenommen worden sind. In diesem Jahr,
2012, sind es 34,8 Milliarden Euro. Das gab es nur zwei-
mal, 1996 und im Jahr 2010, als Herr Schäuble auch
schon Verantwortung getragen hat. Jeweils waren der
Kanzler und der Finanzminister von der Union. Das ist
Ihre Bilanz. Sie reden von Konsolidierung, aber das Ge-
genteil ist richtig.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie verschulden das Land. Das ist das, was Sie vorzu-
weisen haben.

Herr Schäuble will sich offenbar das Abonnement auf
den Titel „Schuldenminister“ reservieren. Das ist die re-
ale Bilanz. Sie verspielen die Zukunft in diesem Land.
Deutschland hat vor allen Dingen kein Recht, sich mit
dieser Schuldenpolitik als Vorbild in Europa darzustel-
len. Ich sage es klar und deutlich: Niemand in der Lin-
ken findet die Verschuldung der öffentlichen Haushalte
in Deutschland in irgendeiner Weise unproblematisch
oder gar gut. Aber es kommt natürlich darauf an, wofür
man neue Schulden macht.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben seinerzeit Konjunkturprogrammen sehr wohl-
wollend gegenübergestanden und es für richtig gehalten,
zum Beispiel den Kommunen zu helfen. Sie aber wollen
mit den Schulden die Märkte beruhigen, das Vertrauen
der Märkte zurückgewinnen und andere psychotherapeu-
tische Maßnahmen finanzieren. Nicht wenn die Märkte
nervös reagieren, sondern wenn Arbeitsplätze verloren
gehen, wenn Kinder in Armut sind, dann sollte Politik
reagieren, aber nicht bei nervösen Märkten.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717512500

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Fricke?


Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717512600

Ich gestatte eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke.


Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1717512700

Herr Kollege Bartsch, man kann politisch unter-

schiedlicher Ansicht sein, und die Frage, was richtig





Otto Fricke


(A) (C)



(D)(B)


oder falsch ist, werden spätere Generationen beantwor-
ten. Aber wenn es um Zahlen geht, sollten wir Haushäl-
ter immer genau sein. Habe ich Sie richtig verstanden,
dass Sie gesagt haben, dass die Koalition in dieser Legis-
laturperiode, also in den Jahren 2010, 2011, 2012 und
2013, neue Schulden in Höhe von 142 Milliarden Euro
machen wollte? Könnten Sie mir sagen, wie Sie zu die-
ser Summe kommen? Vielleicht habe ich irgendetwas
nicht mitbekommen und Sie können mich schlauma-
chen. Mir ist nicht ganz klar, wie die Summe von
142 Milliarden Euro in den Jahren 2010 bis 2013 zu-
stande kommt.


Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717512800

Das sind vier Jahre, und zu der Zahl komme ich, Kol-

lege Fricke, durch Addition der vier Jahre.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Entschuldigung! Dann sagen Sie mir das mal!)


Ihre Partei schlägt in dieser Situation sogar Steuersen-
kungen vor.


(Otto Fricke [FDP]: Ich glaube, Sie haben die Jahreszahlen addiert!)


– Nein, wenn man die Jahreszahlen addiert, kommt die
Summe nicht heraus. Die Frage habe ich eben beantwor-
tet. – Sie schlagen weitere Steuersenkungen vor, womit
Sie das Haushaltsdefizit offensichtlich noch vergrößern.
Sie haben nie Geld, wenn es um sozial Benachteiligte
geht, wenn es um gute Arbeit geht, von der man leben
kann, wenn es um die finanziell ausgebluteten Kommu-
nen geht. Dafür haben Sie nie Geld. Sie setzen seit Jah-
ren die Interessen des Geldkapitals durch und nicht die
Interessen der Menschen. Letztere stehen nicht ganz
oben auf Ihrer politischen Agenda. Ihre Versuche zur
Therapie der Finanzmärkte sind der falsche Weg. Es ist
eben nicht so, dass das Stabilität in Europa gebracht hat.

Wir haben in Deutschland ein Einnahmeproblem. Wa-
rum denken Sie in dieser Situation nicht einmal darüber
nach, die Einnahmen in diesem Land zu erhöhen?


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD] – Bettina Kudla [CDU/CSU]: Weil man damit keinen Haushalt konsolidieren kann!)


Warum ist es absurd, über eine Millionärsteuer nachzu-
denken? Warum kann man in dieser Situation nicht mal
den Spitzensteuersatz erhöhen? Der war zu Ihrer Zeit bei
53 Prozent, und Helmut Kohl war doch kein Linksradi-
kaler. Warum denken Sie darüber nicht nach? Warum ist
eine Anhebung der Erbschaftsteuereinnahmen nicht
möglich? Bis 2020 werden in Deutschland 2,6 Billionen
Euro vererbt. Davon sind über 43 Prozent Geldvermö-
gen. Warum ist das nicht möglich? Warum können wir
nicht den Steuervollzug verbessern und so zu höheren
Steuereinnahmen kommen?


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717512900

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Barthle?


Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717513000

Ich gestatte auch eine Zwischenfrage des Kollegen

Barthle.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist doch keine Quälerei, oder?)


– Nein. Gern!


Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1717513100

Herr Kollege Bartsch, ich wollte einfach noch einmal

nachfragen, ob die Additionen nach den Grundregeln
von Adam Riese stattfinden. Ich führe mir einmal die
Zahlen vor Augen: Wir haben im Jahr 2010 44 Milliar-
den Euro neue Schulden gemacht. Wir haben im Jahr
2011 17 Milliarden Euro neue Schulden gemacht. Das
macht nach meiner Rechnung zusammen 61 Milliarden
Euro. Wenn ich dann noch dazurechne, was wir viel-
leicht – vielleicht! – im Jahr 2012 laut Finanzplan an
neuen Schulden machen könnten – maximal sind das
34,8 Milliarden Euro inklusive Nachtragshaushalt –,
dann komme ich immer noch auf eine Zahl von unter
100 Milliarden Euro. Allerdings muss man hinzufügen,
dass das Jahr 2012 noch nicht zu Ende ist.


(Zuruf von der LINKEN: Eben! – Johannes Kahrs [SPD]: Das heißt: Es kann auch mehr werden!)


Das ist die maximal mögliche Nettokreditaufnahme. Die
Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, dass wir jedes
Jahr weniger Schulden gemacht haben, als wir hätten
machen können.

Also: Nach welchem Rechenmodus haben Sie ge-
rechnet? Das würde mich interessieren.


(Otto Fricke [FDP]: Das wird er auch wieder vermeiden! Er wird wieder nichts antworten!)



Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717513200

Wie Ihrem Kollegen Fricke antworte ich auch Ihnen:

durch Addition.


(Otto Fricke [FDP]: Dann rechnen Sie mal vor!)


Sie waren für drei Jahre bei knapp 100 Milliarden Euro.
Es gibt aber noch ein Jahr davor, für das Sie auch schon
die Bilanz vorgelegt haben. Wenn Sie das addieren,
kommen Sie auf die von mir genannte Zahl.


(Otto Fricke [FDP]: 142? Das passt doch vorn und hinten nicht! Noch nicht einmal rechnen! – Norbert Barthle [CDU/CSU]: 2009 waren es 34!)


Ich fordere Sie auf, die Bundesregierung und die Bun-
deskanzlerin, vor allen Dingen die von Ihnen gemachten
Versprechen einzulösen, nämlich die Finanzmärkte end-
lich spürbar zu kontrollieren und zu regeln. Das wäre die
richtige Maßnahme. Ich will Ihnen eine Zahl sagen: Al-





Dr. Dietmar Bartsch


(A) (C)



(D)(B)


lein der Handel mit unregulierten Finanzprodukten be-
trug im ersten Halbjahr 2011 708 Billionen Dollar. Das
ist fast das Zehnfache der gesamten Weltwirtschaftsleis-
tung. Das steigt weiter an. Da müssen Sie etwas tun. Es
ist doch einfach irre, was da passiert. Das Kasino muss
geschlossen werden. Frau Merkel hat im Deutschen
Bundestag gesagt, dass sie sich dafür einsetzt, aber fak-
tisch ist nichts passiert.

Die Linke hat den ESM abgelehnt und lehnt logi-
scherweise auch den Nachtragshaushalt ab.


(Otto Fricke [FDP]: Noch gar nicht abgestimmt!)


– Sie wird ihn ablehnen, Kollege Fricke.


(Otto Fricke [FDP]: Immer unpräzise!)


Die Rettungsschirme dienen fast ausschließlich den Ban-
ken. Es ist nicht so, Herr Kampeter, dass mehr Stabilität
in Europa eingetreten ist. Gucken Sie sich doch einmal
die Entwicklung in Griechenland an: das fünfte Jahr Re-
zession, Wirtschaftswachstum: minus 7 Prozent, Ar-
beitslosigkeit bei fast 20 Prozent, Unruhen.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Schon wieder eine falsche Zahl!)


Da sprechen Sie von Stabilität in Europa? In Griechen-
land ist die siebte Regierung in eine Krise gekommen –
und das dank der Politik von Sarkozy und Merkel. Und
da sprechen Sie von Stabilität in Europa? Wir gefährden
mit dieser Politik die Demokratie.


(Beifall des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE])


Herr Monti und Herr Papademos haben sich niemals
einer Wahl gestellt. Sie sind faktisch in Brüssel ernannt
worden. Was ist denn das für eine Entwicklung? Und da
sprechen Sie von Stabilität in Europa? Dieser Kurs hat
Instabilität in Europa gebracht. Das ist das Ergebnis Ih-
rer Politik!


(Johannes Kahrs [SPD]: Aber Berlusconi hätten Sie auch nicht behalten wollen! – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Er will Berlusconi wiederhaben!)


Nicht nur dieser Nachtragshaushalt ist falsch, sondern
Ihr gesamter europapolitischer Kurs ist falsch. Wenn Sie
nicht endlich die Finanzmärkte regulieren, wenn Sie
nicht endlich die Banken an die Kandare nehmen, wenn
Sie nicht dafür sorgen, dass endlich für die Schwächeren
in Europa etwas getan wird, dann wird dieser Kurs
scheitern, und wir werden noch viel größere Probleme
bekommen als bisher.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Johannes Kahrs [SPD]: Eine sehr sozialdemokratische Rede!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717513300

Priska Hinz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.


(Johannes Kahrs [SPD]: So, Priska, jetzt stell das mal richtig!)


Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Was von den vielen Sachen?


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Was Kollege Bartsch gerade erzählt hat! – Johannes Kahrs [SPD]: Fang von vorne an!)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Nachtragshaushalt ist vor allen Dingen notwendig, weil
die Einzahlungen in den europäischen Rettungsfonds ge-
tätigt werden müssen. So weit, so gut. Für diesen ständi-
gen Rettungsschirm sind wir auch, und wir sind auch da-
für, dass Einzahlungen geleistet werden. Nur muss man
ganz deutlich sagen, dass vonseiten der Regierung und
der Koalition in den letzten Jahren keine Vorsorge dafür
getroffen wurde, dass man auch in Deutschland für die
Euro-Rettung aufkommen muss, und das schlägt sich in
diesem Zahlenwerk nieder.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie haben sich doch die ganze Zeit – und machen es
weiterhin – auf der guten Konjunktur ausgeruht und ha-
ben keine Vorsorge dafür getroffen, dass die Nettokredit-
aufnahme gesenkt werden muss und jetzt, mit der Zah-
lung der Tranche, nicht steigen darf.

Wenn ich erinnern darf: Im Haushalt 2012 hat die Ko-
alition noch einmal 1 Milliarde Euro gegenüber dem
Entwurf des Finanzministers draufgelegt und die Netto-
kreditaufnahme erhöht. Dann hat Kollege Barthle An-
fang des Jahres noch groß gesagt: Wenn wir die Tran-
chen für den ESM einzahlen, dann muss das im Rahmen
dieser Nettokreditaufnahme stattfinden.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Da gingen wir von einer aus!)


– Ja, aber selbst wenn Sie damals von einer ausgegangen
sind, so hätten Sie jetzt nicht einmal die eine aus der vor-
handenen Nettokreditaufnahme finanzieren können.
Nein, Sie legen 8,7 Milliarden Euro obendrauf. Das sind
genau die zwei Tranchen. So ist das mit den Ankündi-
gungen der Koalition.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie Abgeordneten der Linken)


Wenn man zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme und
Korrektur dieses Haushalts für 2012 kommen will, dann
muss man auch eine ehrliche Bilanz der Risiken ziehen,
die auf uns zugekommen sind und noch auf uns zukom-
men werden. Auch das versäumen Sie mit dem Nach-
tragshaushalt.

Es gibt mit der Umschuldung Griechenlands jetzt die
Notwendigkeit, dass man 9 Milliarden Euro im SoFFin
abschreibt. Dafür ist er aber ursprünglich überhaupt
nicht vorgesehen gewesen.


(Zuruf von der FDP: Doch! Genau dafür!)






Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)


– Nein, diese Abschreibung erfolgt wegen der Umschul-
dung Griechenlands und ist eine Folge der Staatsschul-
denkrise.

Deswegen sind wir der Meinung: Dies muss sich auch
im Nachtragshaushalt abbilden; denn es gehört Ehrlich-
keit in die Debatte. Die Euro-Rettung kostet uns etwas,
und es macht keinen Sinn, das in Schattenhaushalte zu
stecken. Das hätten Sie nämlich gerne, dass über Schat-
tenhaushalte hier nicht diskutiert wird. Wir sind der Mei-
nung: Das muss hier ehrlich auf den Tisch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zur ehrlichen Bilanz gehört auch, dass die Privatisie-
rungserlöse von 5 Milliarden Euro, die Sie etatisiert ha-
ben, wahrscheinlich überhaupt nicht kommen werden.
Was ist denn mit dem Verkauf des Duisburger Hafens?
Dort passiert doch gar nichts.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das ist auch gut so!)


5 Milliarden Euro stehen als Privatisierungserlöse als
Einnahmen im Haushalt, und interessanterweise hat der
Ankündigungsmeister, der Bundesvorsitzende der FDP,
gesagt, Sie wollen die Nettokreditaufnahme null in 2014
schaffen, vor allem auch mit weiteren Privatisierungs-
erlösen.

So, dann gucken wir uns doch den Nachtragshaushalt
einmal an! Was steht drin? Eine höhere Verpflichtungs-
ermächtigung von 600 Millionen Euro für den Ankauf
von EADS-Anteilen für das Wirtschaftsministerium.
Wirtschaftsminister ist Herr Rösler. So weit ist es dann
mit den Privatisierungslösen. Das ist weder marktwirt-
schaftlich sinnvoll, noch dient es dazu, die Nettokredit-
aufnahme null hinzukriegen. Nein, das sind Mehrausga-
ben für weitere Ankäufe von bisher privatisierten
Anteilen.

Zu einer ehrlichen Bilanz gehört auch, festzustellen,
dass die Energiewende nicht finanziert ist.


(Johannes Kahrs [SPD]: So ist das! Genau!)


Über den EKF sind Sie vorhin so nonchalant hinwegge-
gangen, Herr Kampeter. Sie sagten: In Energie wird in-
vestiert. – Ja, aber in Energie wird lange nicht das inves-
tiert, was notwendig wäre, um diese Herkulesaufgabe zu
schaffen. Es fehlen nämlich fast 330 Millionen Euro im
Energie- und Klimafonds.


(Johannes Kahrs [SPD]: Mindestens!)


– Wenn man noch mehr in die Energiewende investieren
will, wie es die Grünen zum Beispiel fordern, dann fehlt
noch mehr Geld. Aber gemessen an der Rechnung der
Bundesregierung fehlt fast das Vierfache dessen, was Sie
als Liquiditätsdarlehen in den Nachtragshaushalt einstel-
len. Davon kann man eine Energiewende nicht finanzie-
ren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es ist auch ein Problem, dass wir es so versäumen,
nachhaltiges Wachstum zu generieren und damit mehr

Steuereinnahmen zu erhalten, Fachkräfte im Land zu
halten und somit eine strukturelle Verbesserung des
Haushalts zu schaffen. Sie ruhen sich auf der derzeitigen
konjunkturellen Lage aus und sind nicht bereit, struktu-
relle Reformen zu machen, weder im Haushalt 2012
noch mit diesem Nachtragshaushalt.


(Beifall des Abg. Johannes Kahrs [SPD])


Darüber hinaus sind Sie vollends in den Wahlkampf-
modus gefallen und sind uns nicht gefolgt. Mit unseren
Vorschlägen für den Bundeshaushalt 2012 wäre die Net-
tokreditaufnahme um 5 Milliarden Euro gesunken. Sie
machen jetzt, wie gesagt, keine strukturellen Reformen.
Und: Es fallen gerade alle Hemmungen, was weitere
Versprechen angeht. Das Betreuungsgeld wurde schon
angesprochen: Im nächsten Jahr sind es 400 Millionen
Euro, im Jahr 2014 sind es 1,2 Milliarden Euro. De-
ckung? Keine vorhanden. Ich möchte wissen, woher das
Geld bei all den Risiken, die wir noch vor uns haben,
kommen soll. Das Betreuungsgeld soll mit einer Verbes-
serung bei den Rentenanwartschaften für die Kinderer-
ziehungszeiten erkauft werden. Das kostet zwischen
8 Milliarden Euro und – nach den neuesten Berechnun-
gen des Finanzministeriums – 13 Milliarden Euro. Aber
wir haben weder die 8 Milliarden noch die 13 Milliarden
Euro, um sie für ein Betreuungsgeld auszugeben, das die
Eltern zu Hause lässt, anstatt ihnen die Möglichkeit zu
geben, dass sie als Fachkräfte hier in Deutschland arbei-
ten. Wir brauchen sie – angesichts der demografischen
Entwicklung und auch angesichts der Tatsache, dass wir
die Bildungsbenachteiligung und auch die soziale Aus-
grenzung von Kindern in diesem Land zurückdrängen
müssen. Es ist das Gegenteil von dem, was wir brau-
chen, was im Zahlenwerk des Nachtragshaushalts zu fin-
den ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717513400

Frau Kollegin, Sie kommen zum Ende, bitte.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Ich komme zum Schluss. – Sie haben im Wahlkampf-
modus in Nordrhein-Westfalen mit dem Spitzenkandida-
ten Röttgen Versprechungen zur Pendlerpauschale ge-
macht.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717513500

Frau Kollegin.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Hier wünsche ich Ihnen eine gute Verrichtung, was
ich nicht hoffen möchte, Herr Kollege Kampeter; denn
das müssten die Länder und Kommunen tragen. Deswe-
gen kann ich nur sagen: Auch das werden wir nicht mit-
machen, genauso wie die Beschlussfassung des Zahlen-
werks, das Sie uns vorgelegt haben.





Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Johannes Kahrs [SPD]: Gute Rede!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717513600

Der Kollege Bartholomäus Kalb hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1717513700

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich will auf das, was der Kollege Bartsch
und auch die Kollegin Hinz gesagt haben, eingehen. Sie
sagten, wir hätten erklärt, es gebe keinen Nachtragshaus-
halt. Im Laufe der Beratungen konnten wir uns durchaus
vorstellen, dass wir, wenn – wie ursprünglich vorgese-
hen – eine Rate in den europäischen Stabilitätsmechanis-
mus eingezahlt werden sollte, dies im Haushaltsvollzug
hätten darstellen können. Die Verhandlungen waren sei-
nerzeit noch nicht abgeschlossen. Dann hat man sich
– wie ich meine, begrüßenswerterweise – dazu durchrin-
gen können, dass man schon in diesem Jahr zwei Raten,
also einen Betrag von 8,7 Milliarden Euro, einzahlt, um
den ESM, den Europäischen Stabilitätsmechanismus,
schneller funktionsfähig zu machen. Da war von vornhe-
rein klar – das ist von uns und der Bundesregierung im-
mer wieder gesagt worden –, dass das nur im Rahmen ei-
nes Nachtragshaushalts darzustellen sei.

Ich will den Linken nicht zu viel Ehre antun, Herr
Kollege Bartsch: Es ist schon auffallend, wenn bis zum
26. April um 14.50 Uhr nur Forderungen nach Mehraus-
gaben, neuen Schulden und weniger Sparmaßnahmen
kommen und wenn Sie dann um 14.57 Uhr Vorwürfe er-
heben, wir würden zu viele Schulden machen. Irgendwo
passt das alles nicht zusammen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Überhaupt nicht!)


Ich habe schon darauf hingewiesen: Wir begrüßen es,
dass der ESM – der Europäische Stabilitätsmechanis-
mus – schneller seine Funktionsfähigkeit erlangen soll.
Deswegen machen wir diesen Nachtragshaushalt. Auch
wenn wir in diesen Tagen unzählige Mails erhalten, die
uns auffordern, dem nicht zuzustimmen, kann ich nur sa-
gen: Niemand kann uns die Verantwortung abnehmen.
Wir aber tragen die Verantwortung für die Stabilität un-
serer Währung und damit auch für den Wohlstand der
Menschen in der Euro-Zone sowie für die wirtschaftli-
che Entwicklung in Europa und darüber hinaus.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Nach-
tragshaushalt werden richtigerweise auch alle notwendi-
gen zwischenzeitlich eingetretenen oder zu erwartenden
Veränderungen dargestellt. Kollege Barthle hat schon in
einem Zwischenruf darauf hingewiesen, dass wir von ei-
ner Vertrauensdividende profitieren, weil unsere Zins-
ausgaben deutlich niedriger kalkuliert werden können
und die Finanzmärkte, die Anleger und alle Partner gro-
ßes Vertrauen in Deutschland und seine Regierung ha-
ben. Wir stellen immer wieder fest, dass die Bundesre-
gierung mit Angela Merkel an der Spitze und mit

Bundesfinanzminister Schäuble mittlerweile einen un-
glaublich guten Ruf genießt, in Europa, aber auch weit
darüber hinaus. Ich war letzte Woche in den USA. Dort
ist bestätigt worden, dass man gerade auf diese Bundes-
regierung unter der Führung von Angela Merkel setzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Kollege Schneider hat darauf hingewiesen, dass die
Überweisung des Bundesbankgewinns geringer ausfällt.
Die Bundesbank lässt das Vorsorgeprinzip walten,


(Johannes Kahrs [SPD]: Im Gegensatz zu euch!)


und sie handelt in absoluter Unabhängigkeit, was wir
gestern im Haushaltsausschuss, lieber Kollege Fricke,
noch einmal deutlich zum Ausdruck gebracht haben.

Ich will darauf hinweisen, dass die Erhöhung der Net-
tokreditaufnahme ausschließlich dadurch begründet ist,
dass wir die erwähnte höhere Einzahlung vornehmen.
Das hat aber keine Auswirkungen auf die Entwicklung
des strukturellen Defizits oder auf die Einhaltung der
Maastricht-Kriterien, ganz im Gegenteil: Wir werden
alle Anforderungen der Schuldenbremse, wie sie im
Grundgesetz verankert sind, schneller und konsequenter
erfüllen, als das vorauszusehen war. Wir haben den Ehr-
geiz, bis 2016 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt
vorlegen zu können. Jedenfalls werden wir alle verfas-
sungsmäßigen Vorgaben der Schuldenbremse exakt er-
füllen. Unser Ziel ist es jedoch, bis 2016 keine neuen
Schulden mehr für den Bundeshaushalt aufzunehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Damit werden wir in der Lage sein, den Bundeshaus-
halt nachhaltig und dauerhaft zu konsolidieren. Das ist
wichtig für Deutschland, aber auch für Europa und da-
rüber hinaus. Wir alle wissen – Staatssekretär Steffen
Kampeter hat es sehr eindrucksvoll dargestellt –, dass
die Ursache für die Krise die übermäßigen Defizite und
die übermäßigen Anstiege der Staatsverschuldung wa-
ren. Das kann niemand mehr bezweifeln.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Es war eine Finanzmarktkrise und keine Staatsverschuldungskrise!)


Wir müssen zurück zu einer Stabilitätskultur in Eu-
ropa. Das haben wir mit dem Fiskalpakt eingeleitet.
Auch aus diesem Grunde werben wir für Ihre Zustim-
mung. Sie sollten hier mitmachen und nicht das gleiche
Spiel betreiben, das Sie in Ihrer Regierungsverantwor-
tung betrieben haben, nämlich die Stabilitätskultur zu
unterminieren und die Stabilitätskriterien aufzuweichen.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es! – Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brau-
chen darüber hinaus in Europa Wachstumsimpulse. Hier
ist auch die europäische Politik gefordert, neben der
Konsolidierung die richtigen Anreize zu setzen. Das
sollte nicht zu sehr im konsumtiven Bereich geschehen,
sondern eher im strukturellen und im investiven. Hier
kann man mit Multiplikatoreffekten mittel- und langfris-
tig die Leistungsfähigkeit der europäischen Volkswirt-





Bartholomäus Kalb


(A) (C)



(D)(B)


schaften dauerhaft stärken. Wir haben in Deutschland
diese strukturellen Reformen durchgeführt, auch im ver-
gangenen Jahrzehnt – das will ich überhaupt nicht be-
streiten –, und werden sie notwendigerweise weiter
durchführen. Wir haben damit gute Erfahrungen ge-
macht: Heute haben wir eine Arbeitslosigkeit, die so
niedrig ist, wie wir es uns gar nicht vorstellen konnten.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717513800

Herr Kollege.


Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1717513900

Die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft ist so

hoch, wie wir gar nicht erwarten konnten. Auch die öf-
fentlichen Einnahmen sind besser, als zu erwarten war.
Das hat auch etwas damit zu tun, dass die Hausaufgaben
von uns erfolgreich gemeistert wurden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717514000

Der Kollege Johannes Kahrs hat jetzt das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Kein Beifall von der SPD! – Gegenruf des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Kommt!)



Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1717514100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Kollege Kalb hat eben seine Rede dan-
kenswerterweise mit den Worten beendet, dass die Haus-
aufgaben gemacht worden sind, dass deswegen die Ein-
nahmen steigen, dass deswegen die Lage in Deutschland
stabil ist, dass wir der Stabilitätsanker in Europa sind.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Ich habe aber auch gesagt, dass wir ständig neuen Herausforderungen gegenüberstehen!)


Diesen Dank an Rot-Grün, an Gerhard Schröder und
Joschka Fischer nehmen wir dankend an. Das Problem
ist: Ihre Politik hat leider nichts dazu beigetragen.


(Beifall bei der SPD)


Ihre Politik, über die wir heute hier reden, hat zu diesem
Ergebnis, das Sie hier gelobt haben, nichts beigetragen.

Der Staatssekretär Kampeter ist der, der das heute am
deutlichsten gesagt hat. Er hat sich bei zehn Minuten Re-
dezeit anderthalb Minuten beim Nachtragshaushalt auf-
gehalten, bevor er dann in den Landtagswahlkampf in
Nordrhein-Westfalen eingestiegen ist. Wenn man sich
anguckt, was der Kollege Kampeter zum Besten gege-
ben hat, wird man feststellen können, dass er auch als Fi-
nanzminister von Nordrhein-Westfalen nichts taugt,
nicht als Staatssekretär, aber schon gar nicht als Finanz-
minister.


(Beifall des Abg. Bernd Scheelen [SPD] – Heiterkeit der Abg. Petra Merkel [Berlin] [SPD] – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Aber schön, dass Sie ihm schon das Amt des Fi nanzministers von Nordrhein-Westfalen antragen!)


Das Land hat Probleme genug. Wenn man sich überlegt,
wie die Verschuldung unter einer CDU-FDP-Regierung
in Nordrhein-Westfalen ausgesehen hätte, dann weiß
man, was für ein Segen Rot-Grün für Nordrhein-Westfa-
len ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dann weiß man aber auch, warum dieser Staatssekretär
nicht über den Nachtragshaushalt geredet hat.

Ganz besonders dankbar bin ich dem Kollegen
Bartsch, der in Teilen eine sehr sozialdemokratische
Rede gehalten hat. In Teilen! Also nicht übermütig wer-
den.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Er ist schon ganz unruhig!)


Er hat einmal aufgelistet, wie die Verschuldung dieser
Bundesregierung aussieht. Wir gehen von den Dingen
aus, die Sie hier aufgezählt haben: 44 Milliarden Euro
Neuverschuldung in 2010, 17 Milliarden in 2011; in die-
sem Jahr landen wir bei 34 Milliarden.


(Otto Fricke [FDP]: Die Zahl stimmt schon wieder nicht! 2010 waren es nicht 44 Milliarden! Lasst doch mal die falschen Zahlen weg!)


– Sie haben gleich vier Minuten Redezeit; das sind drei
Minuten zu viel.


(Beifall bei der SPD)


Aber in vier Minuten Redezeit können Sie alles sagen,
was Sie sagen wollen, Herr Kollege.

Im Ergebnis muss man einfach feststellen, dass Sie
ohne Ende Schulden machen, sich dann hinstellen und
ständig von „Stabilität“ reden und erklären, wie toll Sie
sind und was Sie alles getan haben; aber selbst Ihre eige-
nen Redner sagen, dass Sie damit nichts zu tun haben,
weil die Grundlage dafür zu rot-grünen Zeiten gelegt
wurde. Da wäre es schön – das muss man einfach einmal
sagen –, wenn Sie Danke sagen, ein bisschen Abbitte
leisten und sich eine Runde schämen würden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es wird dann immer gesagt – das ist der Lieblingssatz
des Kollegen Kampeter –: Die Sozis wollen nur neue
Schulden machen. – Man kann ja einmal die Schulden
addieren und sich angucken, was hier alles versprochen
wird, zum Beispiel bei der Pendlerpauschale. Das ist
auch so ein lustiger Wahlkampfgag. Wir haben das eben-
falls bei der FDP in Schleswig-Holstein erlebt, die neu-
erdings auch für Steuererhöhungen ist.

Wir haben uns einmal angeschaut, was wir zum
Thema Betreuungsgeld zu hören bekamen. Das kann
man in der Zeitung lesen. Ich lese relativ selten die
Frankfurter Rundschau, aber manchmal lese ich sie
gern. Da steht ein wunderbarer Satz.





Johannes Kahrs


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Die SPD ist an der Zeitung beteiligt!)


– Ja, ganz ruhig bleiben. Trotzdem ist es wahr. – Wenn
man sich anguckt, was die Zeitung geschrieben hat, dann
versteht man, wie es zu dem Betreuungsgeld gekommen
ist: Auf der einen Seite musste die CSU entschädigt wer-
den. Jetzt kommt man hier mit höheren Ausgaben bei
der Rente, die man auch wieder nicht gegenfinanziert.
Das heißt, man hat auf der einen Seite ein nicht finan-
ziertes Versprechen, das Teile der Koalition ablehnen.
Dann kommt ein anderes nicht finanziertes Versprechen,
mit dem man die Finanzierung des anderen ermöglichen
will. Wir reden aber immer noch von Geld, das gar nicht
da ist.


(Beifall des Abg. Bernd Scheelen [SPD])


Natürlich fallen uns allen viele Dinge ein, die schön
wären; bei der Pendlerpauschale ist Ihnen ja auch noch
etwas eingefallen. Aber im Ergebnis wissen wir doch,
dass wir nicht nur bei einem Nachtragshaushalt landen,
sondern bei mehreren und dass die Zahl, die der Kollege
Bartsch genannt hat, am Ende vielleicht sogar richtig
werden kann, wenn das, was Sie wollen, Realität wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Wer hat denn das gesagt?)


Wir wissen, dass die Zahl so nicht gestimmt hat; das ha-
ben wir inzwischen alle festgestellt, bis auf die Linken.
Im Ergebnis muss man zur Kenntnis nehmen, dass die
Politik, die Sie hier machen, erstens dazu führt, dass Sie
langfristig die Grundlage für neue Schulden legen.
Zweitens. Mit der soliden Grundlage, die Rot-Grün ge-
legt hat


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP)


– weswegen dieses Land mit seinen fleißigen Bürgern
und den Unternehmen funktioniert, die Ihnen Jahr für
Jahr Steuermehreinnahmen ins Konto spülen –, wollen
Sie fahrlässig umgehen und im Nachtragshaushalt über-
haupt keine Vorsorge treffen. Das ist doch alles absurd.
Sie stellen sich hier dar als Hort der Stabilität. Ich meine:
Der Kollege Kampeter ist wirklich humorvoll; ich mag
ihn. Er ist ein feiner Kerl, aber auf der Sachebene ist er
manchmal ein bisschen schwach.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Das haben wir heute gesehen. In der Sache muss ich lei-
der sagen: Setzen, sechs! – Er sitzt ja auch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn wir die Situation noch einmal genau betrachten,
stellen wir fest: Im Vergleich zu 2011 haben sich die
Schulden verdoppelt. Nun wird das hier nicht erklärt,
sondern man geht nach einer lapidaren Bemerkung ganz
schnell zu den Landtagswahlkämpfen über, die Sie ver-
lieren werden. Das ist doch peinlich! Ich weiß gar nicht,
warum wir hier eigentlich sitzen und solchen Reden zu-
hören.


(Otto Fricke [FDP]: Du stehst!)


Das kann man vielleicht in Minden oder anderswo tun
– nebenbei bemerkt: auch dort würde ich es den Bürgern
nicht zumuten wollen –, aber klar ist: Im Ergebnis muss
man zumindest auf der Sachebene stark sein. Das ist hier
nicht der Fall, das ist nicht gegeben.

Wenn man das alles durchdekliniert, stellt man fest,
dass selbst diejenigen, von denen Sie normalerweise
glauben, dass sie auf Ihrer Seite sind – lesen Sie sich die
Presseerklärung der Bundesvereinigung der Deutschen
Arbeitgeberverbände oder des BDI durch –, Ihnen sa-
gen:


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was sagen die?)


So, wie Sie das machen, ist es nicht richtig, nicht solide.
Dazu kommt noch die erhöhte Neuverschuldung. Ganz
ehrlich: Ich glaube, dass diese Debatte, wie wir sie hier
führen, nicht zu mehr Vertrauen der Wähler in uns oder
in die Politik insgesamt beiträgt. Der Einzige, der das er-
wähnt hat, war der Kollege Kalb, ein braver Parteisoldat
von Angela Merkel.


(Otto Fricke [FDP]: Was ist daran schlecht, ein Parteisoldat zu sein?)


Am Ende muss man leider feststellen: Es ist schwer
zu verantworten, was Sie hier tun. In Zeiten, in denen
Sie Steuereinnahmen haben wie noch nie, leisten Sie we-
der Vorsorge, noch legen Sie etwas zurück. Sie tun
nichts dafür, um die wirtschaftliche Grundlage in diesem
Land zu stärken. Sie geben Geld aus und behaupten dann
dröhnend das Gegenteil. Das ist unsolide, das ist unzu-
verlässig. Abtreten, sechs!


(Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/ CSU]: Das gilt für den Redner!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717514200

Otto Fricke hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1717514300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Abtre-

ten, sechs“, sagte der Kollege Kahrs und trat ab. So
sollte und muss es sein.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Zu Beginn möchte ich auf etwas eingehen, Herr Kol-
lege Kahrs, bei dem Sie ausdrücklich recht haben: Was
Rot und Grün in der Agenda 2010 machen mussten,
nachdem man einsah, dass es so mit dem Haushalt nicht
weitergehen konnte, war richtig.


(Johannes Kahrs [SPD]: Die Einsicht fehlt bei Ihnen!)


Der Unterschied ist nur, dass all das Gute, das gemacht
worden ist, in keiner Debatte – außerhalb von Haushalts-
debatten – von irgendeinem Sozialdemokraten noch gut-
geheißen wird. Das ist doch mit einer der Gründe, wa-
rum die Linken existieren.





Otto Fricke


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Im Gegenteil! Sie wollen doch alles wieder zurücknehmen! – Johannes Kahrs [SPD]: Sie sollten mal häufiger ins Plenum gehen! Da hören Sie so was!)


Sie laufen den Linken jetzt wieder hinterher und stehen
nicht mehr zu dem Guten, das gemacht worden ist. Ich
habe überhaupt kein Problem damit. Ich glaube doch
nicht, dass nur wir gute Sachen machen – ihr seid doch
auch nicht blöd, das ist doch klar –, aber was ihr jetzt
macht, das ist schon bemerkenswert.

Der Haushalt – das sage ich denjenigen, die jetzt der
Debatte zuhören –, das ist das Thema mit den Zahlen,
das heißt, am Ende sind die Zahlen das Maßgebliche.
Der Kollege Bartsch hat Zahlen genannt. Wenn man ihn
fragt, ob die denn stimmen, dann versucht er auszuwei-
chen und muss erkennen, dass sie nicht stimmen. Dann
nennt der Kollege Kahrs eine Zahl zur Neuverschuldung
2010, die er eigentlich auswendig können müsste, und
verrechnet sich mal eben um ein paar Milliarden. Das ist
dann eben so.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das war die Zahl von Kollegen Barthle! – Johannes Kahrs [SPD]: Kollege Barthle hat sie gebracht! Ich darf doch Ihren Kollegen zitieren!)


Herr Kollege Kahrs, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, man sollte den Bürgerin-
nen und Bürgern draußen schon sagen: Haushalt und
Verschuldung kann man an zwei Dingen messen, näm-
lich erstens daran, wie viel ich ausgebe, und zweitens an
der Frage: Wie sieht eigentlich die Neuverschuldung
durch so eine Koalition in vier Jahren aus? Es ist schon
bemerkenswert, wie Sie hier agieren.

Wir könnten einfach Folgendes machen: Wir nehmen
vier Jahre Rot-Grün, dann nehmen wir vier Jahre Große
Koalition, und schließlich nehmen wir vier Jahre dieser
Koalition.


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Das sind wieder Milchmädchenrechnungen!)


– Jetzt kommt das Schöne. Es wird sofort gesagt: Milch-
mädchenrechnung. Das ist genau das, was die Opposi-
tion nicht hören will, nämlich dass die Koalition einen
guten Haushalt vorlegt. Ihnen ist es zu Zeiten der rot-
grünen Koalition in keiner der Legislaturperioden gelun-
gen, unter den von uns maximal angesetzten 34,8 Mil-
liarden Euro zu bleiben. Sie haben das kein einziges Mal
in Ihrer rot-grünen Zeit geschafft.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wie bitte?)


Sie lagen mit der Neuverschuldung immer darüber.
Schauen Sie sich die Zahlen an.


(Johannes Kahrs [SPD]: Bringen Sie doch mal die Zahlen!)


– Welche Zahlen? Herr Kollege, ich kann das gerne ma-
chen. Nehmen wir doch die Haushaltskennzahlen. Wol-
len wir das jetzt wirklich alles an dieser Stelle Stück für
Stück machen?


(Johannes Kahrs [SPD]: Ja, wollen wir!)


– Das hättet ihr gerne. Schaut euch die Zahlen an der
Stelle genau an.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Stellt eine Zwischenfrage,


(Johannes Kahrs [SPD]: Keine Ahnung! Dann bring doch die Zahlen, Kollege Fricke!)


ich habe damit gar kein Problem.


(Johannes Kahrs [SPD]: Bring doch die Zahlen! Ist doch peinlich: Erst behaupten, und dann nicht liefern! Da war der Bartsch doch besser!)


Auch das muss man den Bürgern draußen sagen. Dann
kann sich der Bürger die Haushaltskennzahlen in Ruhe
im Internet und an anderer Stelle angucken.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wo sind denn die Zahlen?)


Ich komme zum nächsten Punkt. Die Opposition kriti-
siert – so wie es jede Opposition tut – immer, dass die
Regierung zu viel ausgibt. Es ist ihr Recht, das zu tun.


(Johannes Kahrs [SPD]: Welche Zahlen sind das denn jetzt?)


Ich bitte jeden Bürger, der diese Rede hört, die Frage zu
stellen: Wie wollt ihr es denn konkret selber machen?
Wenn ein Politiker ihm sagt, dass er mehr sparen will,
hat er zwei Möglichkeiten.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wenn man den Punkt eins nicht mal hinkriegt! Fricke, wo sind die Zahlen?)


Entweder gibt er weniger aus. Dann muss er sagen, wo
er weniger ausgibt. Das heißt, er muss dem Bürger ehr-
lich sagen: Ich tue dir da oder dort weh, ich gehe an
diese oder jene Förderung heran.


(Johannes Kahrs [SPD]: Keine Zahlen? Dann war die Rede auch wieder nichts! Keine Zahlen!)


Die zweite Möglichkeit für den Politiker ist, zu sagen:
Ich nehme dir mehr Geld weg, und zwar über diese
Steuer oder jene Abgabe. Das sind die zwei Wege, die
Politik hat.


(Johannes Kahrs [SPD]: Aber wo sind die Zahlen? Die Zahlen!)


Wenn die Opposition den Bürgern sagt, dass man spa-
ren will,


(Johannes Kahrs [SPD]: Ja, dann erzähl den Bürgern mal deine Zahlen!)


dann müssen die Bürger fragen: „Wo wollt ihr die Steu-
ern erhöhen?“, oder: „Wo wollt ihr etwas wegnehmen?“


(Johannes Kahrs [SPD]: Wo sind denn deine Zahlen?)






Otto Fricke


(A) (C)



(D)(B)


Eine Opposition – das gilt für jede Opposition, egal wel-
che Partei sie bildet –, die sparen will, aber nicht sagt,
wo, will in Wirklichkeit nicht sparen, sondern nur kriti-
sieren.


(Johannes Kahrs [SPD]: Fricke, wo sind die Zahlen? Eine schlechte Rede! Du kannst nicht Zahlen ankündigen und sie dann nicht bringen! Wo sind denn die Zahlen?)


Ich komme zu einem weiteren Punkt. Wir haben für
Europa Vorsorge zu treffen; denn – das ist das Wichtige,
was vergessen wird – wenn Europa nicht funktionieren
sollte, wird es für uns alle viel schwieriger.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wo sind denn die Zahlen?)


Ich sage das noch einmal, weil das Thema Europa im
Augenblick für einen Politiker das schwierigste Thema
ist.


(Johannes Kahrs [SPD]: Zahlen versprochen, nichts gehalten! Das ist peinlich!)


Derjenige Bürger, der zu einem kommt und sagt, dass
man Europa kein Geld mehr geben soll, ist gleichzeitig
derjenige, dem man erklären muss: Wenn wir Europa so
nicht mehr haben, ist dein Arbeitsplatz gefährdet, ist die
Ausbildung gefährdet, ist die Stabilität unseres Landes
gefährdet.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wo sind jetzt deine Zahlen? Du hast sie doch versprochen!)


Wenn Sie all dies einer gut funktionierenden Koalition
nicht glauben wollen


(Johannes Kahrs [SPD]: Aber trotzdem keine Zahlen!)


und sagen: „Das stimmt nicht, und das, was in Deutsch-
land läuft, ist schlecht“, dann frage ich: Ist dies nicht ty-
pisch deutsche Mentalität?


(Johannes Kahrs [SPD]: Versprochen und gebrochen: Fricke!)


Ich empfehle Ihnen: Hören Sie sich einmal an, was
unsere Nachbarn sagen. Ich kenne keinen Nachbarn, der
nicht sagt: Ich hätte so gerne die deutschen Arbeitslosen-
zahlen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wir hätten auch gern deine Zahlen gehört! Dazu müssen sie aber auch kommen!)


Ich kenne niemanden in der Welt, der nicht sagt: Ich
hätte gerne das deutsche Wirtschaftswachstum, ich hätte
gerne die deutschen Arbeitsplätze.


(Johannes Kahrs [SPD]: Aber trotzdem musst du die Zahlen bringen!)


Das alles basiert auf vernünftiger, vorausschauender und
ehrlicher Politik sowie auf haushalterischer Stabilität, zu
der auch gehört, rechtzeitig Nachtragshaushalte zu lie-
fern.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wenn man keine Zahlen hat, sollte man nicht reden!)


Wenn ich die Zwischenrufe höre, merke ich: Man hat
sich geärgert, dass das so ist.


(Johannes Kahrs [SPD]: Weil du keine Zahlen geliefert hast! Erst versprechen und dann nicht halten!)


Sie werden aber die gute Politik nicht ändern. Es wird
mit diesem Land – auch dank einer guten Koalition und
einer schlechten Opposition – weiter aufwärts gehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Aber Norbert, jetzt lieferst du die Zahlen mal nach!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717514400

Der Kollege Norbert Barthle hat jetzt das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1717514500

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Eines fällt mir schon auf: Ich würde
mir wünschen, dass die Opposition einmal die Größe
hätte, die erfolgreiche Konsolidierungspolitik der Bun-
desregierung und dieser Regierungskoalition zu würdi-
gen und zu loben. Das würde ihre Argumente wesentlich
glaubwürdiger und schlagkräftiger machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Leider haben Sie diese Größe nicht. Ich will das an ei-
nem einfachen Beispiel verdeutlichen. Sie werfen uns
hier vor, wir würden zu wenig sparen. Draußen in Eu-
ropa und in der Welt wird uns von allen vorgeworfen,
wir würden zu viel sparen. Angela Merkel wird ein Spar-
diktat vorgeworfen. Wir gehen mit gutem Beispiel für
unsere europäischen Nachbarn voran. Das werfen uns
andere vor. Sie sollten einmal mit ihren sozialdemokrati-
schen Kollegen woanders reden und sich dann besinnen,
ob es nicht besser wäre, den Konsolidierungskurs unse-
rer Bundesregierung auch einmal zu würdigen.

Lassen Sie mich etwas zum Nachtragshaushalt sagen.
Es ist grundsätzlich – das ist unbestritten – immer wenig
erfreulich, wenn man Nachtragshaushalte machen muss.
Wodurch aber kam er zustande? Nicht weil unsere An-
nahmen über die Einnahmen falsch waren, weil wir neue
Ausgaben beschlossen haben oder weil das Steuerauf-
kommen anders als erwartet war: Nein, er kam zustande,
weil wir auf europäischer Ebene eine Vereinbarung ge-
troffen haben, im Rahmen des Europäischen Stabilisie-
rungsmechanismus gleichzeitig zwei Tranchen in einen
Kapitalstock einzuzahlen. Das bedeutet: Wir geben das
Geld nicht für Konsum oder Ähnliches aus, sondern es
wird auf ein anderes Konto transferiert, und dort bleibt
es als Guthaben bestehen. Das ist ein Transfer, keine
Ausgabe.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Augenwischerei!)


Sie sollten einmal bedenken, weshalb dieser Nach-
tragshaushalt zustande gekommen ist. Er unterscheidet





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)


sich fundamental von den Nachtragshaushalten, die un-
ter rot-grüner Regierung Jahr für Jahr vorgelegt wurden.
Es war ja schon fast ein Ritual unter Rot-Grün, Nach-
tragshaushalte aufzulegen. Und warum? Weil Sie sich
immer verrechnet haben, weil Sie bessere Annahmen zu-
grunde gelegt haben, als hinterher eingetreten sind. Sie
haben 2002 einen Nachtragshaushalt mit einer Erhöhung
der Nettokreditaufnahme vorgelegt – Herr Kollege
Kahrs, ich liefere Ihnen jetzt die Zahlen –: statt 21 Mil-
liarden Euro 35 Milliarden Euro, übrigens unter Verlet-
zung der Maastricht-Kriterien. Im Jahr 2003 haben Sie
einen Nachtragshaushalt vorgelegt, der eine Erhöhung
der Nettokreditaufnahme von 19 auf 43 Milliarden Euro
vorsah, unter Verletzung der Maastricht-Kriterien.


(Bernd Scheelen [SPD]: Haben wir nicht 98 angefangen? Wir haben zurückgeführt!)


2004 haben Sie wieder einen Nachtragshaushalt vorge-
legt: Erhöhung der Nettokreditaufnahme von 29 auf
43 Milliarden Euro. Wieder kam es zu einer Verletzung
der Maastricht-Kriterien.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja unerhört! – Otto Fricke [FDP]: Alles höher als dieses Jahr!)


Das unterscheidet uns fundamental. Mit dem Nach-
tragshaushalt, den wir jetzt vorlegen, verletzen wir die
Maastricht-Kriterien nicht. Im Gegenteil: Wir halten sie
ein. Wir halten auch die Vorgaben der Schuldenbremse
ein. Wir unterschreiten sie sogar. Wir legen diesen Nach-
tragshaushalt aus ganz anderen Gründen vor. Damit sind
wir schon bei unseren Zahlen: 2010 sind wir gestartet
mit einer vorgesehenen Nettokreditaufnahme von
86 Milliarden Euro. Herausgekommen sind 44 Milliar-
den Euro. 2011 sind wir gestartet mit einer vorgesehenen
Nettokreditaufnahme in Höhe von 48 Milliarden Euro.
Das Ergebnis waren 17 Milliarden Euro.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Aber das waren doch konjunkturelle Einsparungen!)


In das Jahr 2012 starten wir, inklusive Nachtragshaus-
halt, mit einer Nettokreditaufnahme von 34 Milliar-
den Euro. Wo wir herauskommen werden, wissen wir
noch nicht. Das wird sich am Jahresende erweisen. Dann
folgt für die Jahre 2013, 2014, 2015 und 2016 eine ab-
steigende Linie der Nettokreditaufnahme bis zum ausge-
glichenen Haushalt 2016. So sehen unsere Zahlen aus.
Sie unterscheiden sich fundamental von den Zahlen aus
der Zeit von Rot-Grün. Das muss man einfach noch ein-
mal festhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Das war es schon?)


– Nein, das war es noch nicht, im Gegenteil.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Lassen Sie mich auf einen zweiten Aspekt zu spre-
chen kommen. In den vergangenen Wochen haben alle
drei Kanzlerkandidaten der SPD erklärt, dass sie Steuer-
erhöhungen wollen, selbst Herr Steinbrück, was nicht
nur mich, sondern auch die Presselandschaft verwundert

hat. Ich halte das für einen sehr erfreulichen Vorgang;
denn jetzt wissen die Bürgerinnen und Bürger, die Wäh-
lerinnen und Wähler draußen ganz genau, wie die Alter-
native aussieht: Wir sind für Konsolidieren und für eine
Beschränkung der Ausgaben. Nach unseren Planungen
wird das Ausgabenniveau sogar um 0,27 Prozent bis
zum Jahr 2016 zurückgehen. Die SPD ist für höhere
Steuereinnahmen und für höhere Ausgaben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717514600

Herr Kollege, möchten Sie denn eine Zwischenfrage

des Kollegen Schneider zulassen?


(Hilde Mattheis [SPD]: Darauf wartet er schon!)



Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1717514700

Vom Kollegen Schneider immer. Gerne. Darauf habe

ich doch gewartet.


Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1717514800

Herr Kollege Barthle, Sie haben eben zu Recht darauf

hingewiesen, dass die SPD für eine Erhöhung des Spit-
zensteuersatzes ist. Wir fordern einen Spitzensteuersatz
von 49 Prozent ab einem Bruttojahreseinkommen von
100 000 Euro. Ich bin mir gewahr, dass Sie in der De-
batte in Ihrer Koalition genau diesen Vorschlag persön-
lich begrüßt und einen eigenen Vorschlag zur Erhöhung
des Spitzensteuersatzes eingebracht haben.


(Beifall bei der SPD)


Ich frage mich jetzt, ob Sie unsere Position teilen. Haben
Sie das von mir begrüßte Vorhaben, mehr Steuergerech-
tigkeit herzustellen, aufgegeben, oder verfolgen Sie es
immer noch?


Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1717514900

Ich bin dankbar für diese Zwischenfrage, Herr Kol-

lege Schneider. Ich will Ihnen gerne noch einmal erklä-
ren, was ich vorgeschlagen habe – daraus können Sie
etwas lernen –: Ich habe nicht die Erhöhung des Spitzen-
steuersatzes vorgeschlagen. Ich habe auch keine Steuer-
erhöhung vorgeschlagen. Ich habe gesagt: Es wäre denk-
bar, zwischen dem bestehenden Spitzensteuersatz und
der sogenannten Reichensteuer – dabei geht es um den
sogenannten Steuerbalkon, den wir gemeinsam einge-
führt haben – eine Progression vorzusehen, um damit die
Absenkung der Steuersätze im mittleren Bereich
– Stichwort: Bekämpfung der kalten Progression – ge-
genzufinanzieren. Ich habe also keine Steuererhöhung
vorgeschlagen,


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das ist auch eine Erhöhung!)


sondern eine Korrektur des Tarifverlaufs, um so eine
Steuersenkung zu finanzieren. Das ist ein fundamentaler
Unterschied. – Ich bedanke mich.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen des Abg. Johannes Kahrs [SPD] – Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kreativ!)






Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)


Jetzt komme ich zurück und halte fest: Wir beim
Bund halten die Schuldenbremse ein, und zwar konse-
quent, strikt und jedes Jahr. Wir unterschreiten sogar die
Vorgaben der Schuldenbremse.

Ich würde mir wünschen – leider ist der nordrhein-
westfälische Finanzminister nicht mehr anwesend –,


(Zuruf von der SPD: Der Bundesfinanzminister auch nicht mehr!)


dass auch die Länder diese Verpflichtung einhalten und
die Schuldenbremse in ihre Länderverfassungen über-
nehmen. Bislang steht die Schuldenbremse lediglich in
den Landesverfassungen von Schleswig-Holstein, Meck-
lenburg-Vorpommern, Hessen und Rheinland-Pfalz. In
meinem Heimatland Baden-Württemberg legt die CDU
einen entsprechenden Gesetzentwurf vor.


(Johannes Kahrs [SPD]: In Hamburg habt ihr das als CDU abgelehnt! Da haben wir das mit den Grünen und der FDP gemacht!)


Ich bin gespannt wie die grün-rote Landesregierung da-
rauf reagieren wird. Ich höre und lese, dass man in Ba-
den-Württemberg jetzt das Haushaltsrecht ändern will,
um mehr Schulden machen zu können und die Verschul-
dungsspielräume bis 2019 auszuschöpfen.


(Johannes Kahrs [SPD]: In Hamburg habt ihr es abgelehnt als CDU!)


Wenn ich weiterschaue, sehe ich, dass Haushaltssa-
nierung auf Länderebene durchaus gelingen kann. Das
Land Sachsen – es wurde bereits angesprochen – macht
seit Jahren keine neuen Schulden. Das Land Bayern ist
an dieser Stelle ebenfalls vorbildlich. Ich will auch
Mecklenburg-Vorpommern erwähnen, das ebenfalls bes-
ser als andere dasteht. Das Negativbeispiel ist Nord-
rhein-Westfalen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Ihr wolltet 6 Milliarden Euro!)


Das, was die Ministerpräsidentin dort innerhalb von
zwei Jahren im Landeshaushalt angerichtet hat, läuft
fundamental gegen die Regeln der Schuldenbremse.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Denn auch die Länder müssen bereits jetzt Haushalte mit
der Perspektive, ab 2020 keine neuen Schulden mehr zu
machen, aufstellen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Ihr wolltet auf 6 Milliarden Euro Schulden hochgehen!)


Dagegen wird in Nordrhein-Westfalen fundamental ver-
stoßen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Ihr wolltet 6 Milliarden!)


Man hat den Eindruck: Den Schuss, den ganz Europa ge-
hört hat, hat Frau Kraft offensichtlich überhört.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: 6 Milliarden!)


Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen letzten
Punkt ansprechen. Ich beobachte mit großem Interesse
die Diskussion auf europäischer Ebene. Es gab eine Äu-
ßerung von Herrn Draghi von der EZB, dass man eine
Wachstumsstrategie brauche. Dies halte ich grundsätz-
lich für richtig. Aber ich mache mir Sorgen, wenn ich
sehe, wie zum Beispiel die Sozialisten in Frankreich mit
Jubelgeschrei darauf reagieren, weil sie unter Wachs-
tumsstrategie immer schuldenfinanzierte Konjunktur-
programme verstehen.


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Das ist doch Quatsch!)


Wir verstehen darunter Stärkung der Wettbewerbsfähig-
keit. Das ist ein fundamentaler Unterschied.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Aber in der Großen Koalition haben wir schon Konjunkturprogramme aufgelegt!)


Deshalb brauchen wir – das wurde schon angesprochen –
auf europäischer Ebene Konsolidierung und Wachstum
als zwei Seiten einer Medaille. So hat es der Staatssekre-
tär formuliert. Diese Formulierung gefällt mir; ich greife
sie gerne auf.

Als Letztes abschließend,


(Johannes Kahrs [SPD]: Allerletztes!)


weil die Kollegen auch über das Betreuungsgeld gespro-
chen haben, ein leiser Hinweis an unsere ehemaligen
Koalitionspartner von der SPD: Wir haben in der Zeit
der Großen Koalition


(Bettina Hagedorn [SPD]: Konjunkturprogramme aufgelegt!)


ein Gesetz zum Ausbau der Kinderbetreuung beschlos-
sen. Dem haben Sie zugestimmt. In diesem Gesetz steht
auch das Betreuungsgeld.


(Otto Fricke [FDP]: Ach, ihr seid schuld! Ihr habt es gemacht!)


Das sollten Sie einmal nachlesen. Sie haben dem bereits
zugestimmt. Das muss man vielleicht einmal Frau
Nahles erklären; auch sie sollte es einmal nachlesen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717515000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9040 an den Haushaltsaus-
schuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 6 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Neuregelung der elterlichen Sorge bei nicht
verheirateten Eltern

– Drucksache 17/8601 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Dr. Diether Dehm, Heidrun Dittrich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Neuregelung des Sorgerechts für nicht mit-
einander verheiratete Eltern

– Drucksache 17/9402 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Vorgesehen ist, hierzu eine Dreiviertelstunde zu de-
battieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.

Wenn sich die Jungsrunde hier vorne auflösen könnte,
könnten wir weitermachen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Heute ist doch Boys’ Day!)


Christine Lambrecht hat das Wort für die SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD)



Christine Lambrecht (SPD):
Rede ID: ID1717515100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem Ur-
teil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2010 wird
in diesem Haus – und nicht nur in diesem Haus – zu
Recht eine Debatte über eine Neuregelung des Sorge-
rechts von nicht verheirateten Eltern geführt. Bis zu die-
sem Datum, bis zum Juli 2010, konnten Eltern, die nicht
miteinander verheiratet waren, das Sorgerecht nur dann
gemeinsam vereinbaren, wenn sie sich einig waren. Sie
konnten festlegen, dass die Mutter oder der Vater die al-
leinige Sorge hat oder dass sie es beide gemeinsam ma-
chen wollen. Sie hatten die Entscheidungsmöglichkeit.
Gab es aber keine Übereinstimmung in dieser Frage,
dann konnte die Mutter bis zu diesem Datum die ge-
meinsame Sorge verweigern, egal unter welchen Um-
ständen, also egal ob sich der Vater um das Kind geküm-
mert hat und seiner Verantwortung nachgekommen ist
oder vielleicht noch nicht einmal Interesse an dem Kind
hatte. Der Vater konnte sich, egal in welcher Konstella-
tion, gegen die Verweigerung der Mutter nicht gericht-
lich wehren.

Hiergegen wurde von Vätern erfolgreich geklagt.
Dem Gesetzgeber, also uns, wurde aufgegeben, eine
Neuregelung zu schaffen. Übergangsweise gilt in
Deutschland jetzt die sogenannte Antragslösung. Das
heißt, der Vater kann dann, wenn die Mutter nicht in die

gemeinsame Sorge einwilligt, beim Familiengericht ei-
nen Antrag auf gemeinsames elterliches Sorgerecht stel-
len. Dort wird dann der Einzelfall gerichtlich überprüft
und entsprechend entschieden.

Dem gegenüber steht die sogenannte Widerspruchs-
lösung; auch sie ist momentan im Gespräch. Das heißt,
die Eltern haben von Geburt an die gemeinsame Sorge.
Die Mutter muss begründet und qualifiziert widerspre-
chen, wenn sie hiermit nicht einverstanden ist und die
alleinige elterliche Sorge möchte.

Diese zwei Ansätze standen sich bisher ziemlich
unversöhnlich gegenüber. Über die Antragslösung haben
sich die Väter beschwert und gefragt: Wieso ich? Ich bin
doch der biologische Vater. Ich kümmere mich um das
Kind. Warum muss ich jetzt einen Antrag stellen?
– Über die Widerspruchslösung haben sich die Mütter
beschwert und gefragt: Wieso ich? Wieso muss ich
– vielleicht sogar als Mutter eines Kindes, von dem der
Vater nichts wissen will – einer gemeinsamen Sorge wi-
dersprechen? – Bei all dem konnte man den Eindruck
gewinnen, es handele sich entweder um ein Recht des
Vaters oder um ein Recht der Mutter; so wurde darüber
diskutiert. Völlig aus dem Blick geraten ist, dass es hier
einzig und allein darum geht, was dem Kindeswohl ent-
spricht, was die beste Lösung für das Kind ist.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir von der SPD wollen, dass dieses Schwarzer-
Peter-Spiel so nicht weitergeht, und bringen uns mit dem
vorliegenden Entwurf in die Diskussion ein. Wir stellen
mit unserem Vorschlag das Kindeswohl absolut in den
Vordergrund, weil wir davon überzeugt sind, dass es in
der Regel immer das Beste ist, wenn ein Kind sowohl
Vater als auch Mutter erfährt, wenn sich beide um das
Kind kümmern und die Sorge gemeinsam wahrnehmen.


(Beifall bei der SPD)


Von diesem Leitsatz geprägt wollen wir mit unserem
Vorschlag dazu beitragen, dass so viele Eltern wie mög-
lich, die nicht miteinander verheiratet sind, die gemein-
same Sorge für ihr Kind ausüben; das ist das Ziel unseres
Vorschlags.

Wir wollen, dass Eltern, die sich über die gemeinsame
Sorge einig sind, bereits bei der Registrierung des Kin-
des beim Standesamt die gemeinsame Sorge erklären
können, sodass es keines weiteren bürokratischen Auf-
wands mehr bedarf. Wenn sich die Eltern einig sind,
dann können sie das bereits bei der Registrierung des
Kindes erklären. Das wäre eine deutliche Erleichterung.

Es gibt aber auch den Fall, dass sich Eltern nicht einig
sind oder sich bis zu diesem Zeitpunkt vielleicht über-
haupt noch keine Gedanken darüber gemacht haben, wie
sie die elterliche Sorge ausüben wollen. Kurz nach der
Geburt eines Kindes macht man sich ja viele andere
Gedanken. Ich kann mich daran erinnern, dass ich nur
überlegt habe, wie ich ohne Schlaf überleben kann;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Christine Lambrecht


(A) (C)



(D)(B)


das war das Thema, mit dem ich mich damals beschäf-
tigt habe. Für diese Eltern wollen wir die Möglichkeit
schaffen, dass sie direkt beim Standesamt – registrieren
lassen muss sich ja jeder – darüber informiert werden,
was das gemeinsame Sorgerecht bedeutet und welche
Konsequenzen es hat. Dann sollen die Eltern aufgefor-
dert werden, sich dazu zu äußern.

Es gibt auch Eltern, die sich nicht einigen können,
trotz der Aufklärung, der Information und der Möglich-
keiten, die ihnen geboten werden. Wir wollen die Rege-
lung treffen, dass sich das Jugendamt dann noch einmal
einschaltet und diesen Eltern die Möglichkeit gibt, ihre
Probleme dort auszuräumen, miteinander zu diskutieren
und auf eine einvernehmliche Lösung hinzuwirken.
Denn in der Regel ist es so, dass dann, wenn ein unbetei-
ligter Dritter eingeschaltet ist, durchaus etwas in Bewe-
gung kommen kann.

Nur dann, wenn am Ende dieser langen Kette immer
noch keine Einigung möglich ist, soll das Jugendamt ei-
nen Antrag auf gerichtliche Klärung stellen. Wir wollen
nicht, dass der Vater einen Antrag stellen oder die Mutter
widersprechen muss – denn beide fühlen sich in dieser
Frage besonders in Anspruch genommen –, sondern wir
wollen, dass der Antrag auf Klärung durch das Familien-
gericht erst dann gestellt wird, wenn wirklich alle Ver-
mittlungsversuche gescheitert sind. Wir glauben, dass
diese Regelung das Schwarzer-Peter-Spiel beendet und
dazu beiträgt, dass viel mehr Eltern die gemeinsame
Sorge übernehmen wollen.


(Beifall bei der SPD)


Meine Damen und Herren, bis heute liegt noch kein
Vorschlag der Koalitionsfraktionen oder der Regierung
vor. Sie haben sich – das konnte man den Medien ent-
nehmen – in einem Koalitionsausschuss auf ein
Eckpunktepapier geeinigt. Wenn ich es richtig verstan-
den habe, dann wollen Sie danach die Antragslösung,
das heißt, zuerst hat die Mutter das Sorgerecht. Wenn der
Vater einen Antrag stellt, dann muss die Mutter wider-
sprechen. Das muss sie relativ schnell und auch relativ
qualifiziert tun. Für den Fall, dass sie das nicht tut, ist
nach Ihrem Vorschlag sogar ein beschleunigtes Verfah-
ren vorgesehen, bei dem die Eltern noch nicht einmal
angehört werden. Ich muss sagen: Es ist völlig inakzep-
tabel,


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


dass bei einer so schwerwiegenden Frage wie der ge-
meinsamen elterlichen Sorge das Ganze im schriftlichen
Verfahren abgeschlossen werden soll, ohne dass man
sich die Eltern angeschaut und sich von ihnen und ihren
Argumenten ein Bild gemacht hat. Deswegen sage ich
klar: Zu dieser Position wird es von uns keine Zustim-
mung geben.

Ansonsten sind wir zu konstruktiven Gesprächen be-
reit. Ich glaube, unser Vorschlag ist ein Schritt in die
deutlich richtige Richtung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717515200

Ute Granold hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1717515300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Kollegin Lambrecht, ich denke, wir sind uns ganz
einig darüber, dass die gemeinsame elterliche Sorge
unser gemeinsames Ziel ist, weil das dem Kindeswohl
entspricht. Ich komme gleich mit weitergehenden Aus-
führungen darauf zurück.

Sie kennen unseren Referentenentwurf, der momen-
tan auf dem Weg ist, noch nicht. Auf 30 Seiten wird im
Detail erläutert, worum es geht. Ich werde darauf noch
eingehen.

Sie haben den Verfahrensgang zu Recht erwähnt – in-
sofern kann ich das abkürzen –: Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte und auch das Bundes-
verfassungsgericht haben dem Gesetzgeber aufgegeben,
eine Regelung für die Fälle zu finden, in denen eine ge-
meinsame Sorge aufgrund des Widerspruchs der Mutter
für die Väter derzeit nicht möglich ist. Wir haben hier in
diesem Haus bereits mehrfach darüber debattiert, zuletzt
über die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen. Mittler-
weile liegt ein Antrag der SPD vor, und seit zwei Tagen
gibt es auch einen Antrag der Linken.

Der Referentenentwurf vom Bundesjustizministerium
– Staatssekretär Stadler ist hier – ist umfassend und zeigt
im Detail auf, welche Möglichkeiten wir sehen, hier zu
einer Regelung zu kommen. Das hat in der Tat etwas
länger gedauert, aber es geht um ein so wichtiges
Thema, dass wir meinen: Lieber etwas gründlicher re-
cherchiert, diskutiert und beraten, um dann eine Lösung
zu finden, die den Kindern gerecht wird. Es geht nämlich
nur um die Kinder und nicht um die Eltern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte zunächst festhalten, dass es seit der Ent-
scheidung, die im Sommer 2010 vom Bundesverfas-
sungsgericht getroffen wurde, keinen rechtsfreien Raum
gab. Die ganze Zeit über konnten von Vätern Sorge-
rechtsverfahren eingeleitet werden. Sie hatten das auch
kurz angesprochen. Diese Verfahren wurden quer durch
die Republik bei den Familiengerichten und bei den
Oberlandesgerichten auch geführt, und man hat gesehen:
Es gab recht unterschiedliche Entscheidungen. Das lag
daran, dass die Darlegungs- und Beweislast für eine ge-
meinsame elterliche Sorge bei den Vätern gelegen hat
und die Hürde hierfür sehr hoch war, sodass die Väter im
Interesse der Kinder letztendlich nicht zufriedengestellt
werden konnten. Deshalb haben wir jetzt auch diese Re-
gelung auf den Weg gebracht, von der wir meinen, dass
sie in Ordnung ist.

Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts,
die nicht konkret waren, hätten wir den Status quo fest-
schreiben können. Wir hätten aber auch ebenso sagen





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)


können: Es gibt einen Automatismus, wonach Väter und
Mütter von nichtehelichen Kindern ab deren Geburt das
gemeinsame Sorgerecht haben. Diesen Automatismus
wollten wir nicht. Deshalb haben wir einen Weg gefun-
den, der sich an einer Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts aus dem Jahr 2003 orientiert. Ich darf kurz
einen Satz daraus zitieren:

Die gemeinsame elterliche Sorge entspricht grund-
sätzlich den Bedürfnissen des Kindes nach Bezie-
hungen zu beiden Elternteilen und verdeutlicht ihm,
dass beide Elternteile gleichermaßen bereit sind, für
das Kind Verantwortung zu tragen.

Ich denke, diesem Leitsatz der Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts können wir alle zustimmen. Das
war der Maßstab bzw. die Richtschnur für den Referen-
tenentwurf, den wir jetzt vorgelegt haben.

Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, eine Synopse
zu erstellen, in der die Grundzüge dessen aufgezeigt
werden, was wir uns als Koalition vorgegeben haben
und was von der SPD bzw. von Bündnis 90/Die Grünen
favorisiert wird. Ich denke, beim Ziel sind wir uns alle
einig, aber der Weg dahin wird doch recht unterschied-
lich gesehen. Dennoch ist es positiv zu werten, dass sich
jede Fraktion Gedanken darüber gemacht hat, welcher
Weg der beste ist, um zu diesem von uns angestrebten
Ziel zu kommen.

Die materielle Voraussetzung für eine gemeinsame el-
terliche Sorge ist, dass die Vaterschaft anerkannt oder
festgestellt wird und es eine gemeinsame Sorgeerklärung
gibt. Das ist das Optimale für das Kind. Ansonsten ist
eine gemeinsame Sorge, denke ich, indiziert, wenn sie
dem Kindeswohl nicht widerspricht. Das heißt, es gibt
eine sogenannte negative Kindeswohlprüfung.

Bei der SPD und bei Bündnis 90/Die Grünen ist es
genau umgekehrt: Die gemeinsame elterliche Sorge soll
dann eingerichtet werden, wenn sie dem Kindeswohl
entspricht. Das ist die sogenannte positive Kindeswohl-
prüfung. Sie haben in Ihrem Antrag Kriterien dafür ge-
nannt, was dafür zum Beispiel ein Maßstab wäre, etwa
die Unterhaltszahlung und die Kooperationsbereitschaft.

Wir meinen, diese Hürde ist zu hoch. Deshalb gehen
wir den genau umgekehrten Weg. Weil die gemeinsame
Sorge dem Kindeswohl entspricht, ist es so, dass die
Darlegungs- und Beweislast, dass eine gemeinsame
Sorge nicht möglich sei, also der Ausnahmefall, bei der
Mutter liegt. Die Gerichtsentscheidungen, die zwischen-
zeitlich ergangen sind, zeigen, dass allein der Einwand,
es bestehe keine Kommunikations- und Kooperationsbe-
reitschaft der Eltern, in der Regel dazu führt, dass der
Vater kein Sorgerecht erhält. Das halten wir auch nach
dem, was die vorerwähnten Entscheidungen der höchs-
ten Gerichte gezeigt haben, für keinen gangbaren Weg.
Die negative Kindeswohlprüfung ist für uns ein ganz
wesentlicher Maßstab.

Aber auch hinsichtlich des gerichtlichen Verfahrens
verfolgen wir nicht den gleichen Weg. Wir wollen die
Beteiligung des Jugendamtes, wie das zum Beispiel von
der SPD vorgeschlagen wird, nicht in einer solch verfes-
tigten Stellung. Vielmehr sagen wir: Der Vater muss die

Möglichkeit haben – in der Regel ist es der Vater –,
direkt zum Gericht zu gehen, einen Antrag zu stellen und
eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Er soll
aber auch die Möglichkeit haben, zum Jugendamt zu ge-
hen, um dort außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens zu
einer gemeinsamen Sorge zu kommen, natürlich verbun-
den mit einer entsprechenden Aufklärung der Mutter und
des Vaters durch das Jugendamt. Die herausgehobene
Stellung des Jugendamtes ist also nicht unser Weg.

Ein anderer Vorschlag von Ihnen ist, dass das Jugend-
amt dann, wenn die Mutter der gemeinsamen Sorge
nicht zustimmt oder sich nicht äußert, einen Antrag an
das Gericht stellt. Auch das sehen wir nicht als den rich-
tigen Weg an. Das muss der Vater als der Beteiligte in
diesem Verfahren machen. Denn es ist so, dass das
Jugendamt durch die außergerichtlichen Erkenntnisse
eine Stellungnahme im Gerichtsverfahren abgibt.

Wenn das Jugendamt eine negative Empfehlung an
das Gericht abgeben würde, ist das für den Vater wieder
eine sehr hohe Hürde, diese zu entkräften, die unseres
Erachtens nicht gerechtfertigt ist. Deshalb sind wir der
Auffassung, dem Vater die Option, entweder direkt zum
Gericht oder alternativ zum Jugendamt zu gehen, zu er-
möglichen; dabei ist uns die Antragstellung durch den
Vater ganz wichtig. Wir haben auch den Weg der SPD
diskutiert, dann aber letztendlich aus den Gründen, die
ich dargestellt habe, entschieden, dass wir diesen Weg
nicht gehen wollen.

Frau Lambrecht, Sie haben uns vorgeworfen: In dem
von uns vorgeschlagenen Verfahren könne das Sorge-
recht sogar ohne mündliche Verhandlung, ohne dass die
Eltern gehört werden, übertragen werden. Das sei inak-
zeptabel. Das ist sehr verkürzt dargestellt. Wir haben
mittlerweile durch die Novellierung in § 155 FamFG ein
Vorrang- und Beschleunigungsgebot in Kindschaftssa-
chen geregelt. Das bedeutet, innerhalb eines Monats
nach Verfahrenseinleitung muss eine gerichtliche Ent-
scheidung möglich sein, also ein Gerichtstermin anbe-
raumt werden. Wir möchten diese Vorschrift um einen
§ 155 a FamFG ergänzen. Das heißt, auch bei den
Verfahren um die gemeinsame elterliche Sorge soll das
Vorrang- und Beschleunigungsgebot gelten. Das heißt,
binnen vier Wochen bzw. eines Monats muss terminiert
werden.

Dann soll es so sein: Wenn sich die Mutter auf das
Schreiben des Gerichts mit dem Antrag auf gemeinsame
Sorge nicht äußert bzw. Gründe vorträgt, die mit dem
Kindeswohl überhaupt nichts zu tun haben, dann muss
es dem Gericht möglich sein, in einem sogenannten ver-
einfachten Verfahren ohne mündliche Verhandlung und
ohne persönliche Anhörung zu entscheiden,


(Christine Lambrecht [SPD]: Also doch!)


und zwar in den Fällen, die ich gerade genannt habe. Es
bleibt natürlich der Kindesmutter die Möglichkeit, eine
solche Entscheidung, wie das auch in anderen Verfahren
üblich ist, anzufechten. Wir möchten also hier dem
Antragsteller die Möglichkeit geben, in einem zügigen
Verfahren zumindest eine gerichtliche Entscheidung her-





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)


beizuführen. Wie gesagt, der Rechtsschutz für die Mut-
ter ist gegeben.

Bei dem Thema Fristen meinen wir, dass eine sechs-
wöchige Frist zur Stellungnahme ausreichend ist, um
eine Entscheidung herbeizuführen. In dem Fall geht man
davon aus, dass Mutter und Vater gleichermaßen befä-
higt sind, für das Kind zu sorgen, wenn es denn auf der
Welt ist. Sechs Wochen sind ausreichend. Sonst würde
die Zahl derer, die im Rahmen eines einstweiligen
Anordnungsverfahrens die Gerichte anrufen würden, er-
heblich steigen. Es gibt immer mehr Fälle, in denen bei
einer Nichteinigung der Eltern einstweilige Anordnun-
gen beantragt werden, weil ein Kind getauft oder nicht
getauft werden soll, bei der Namensgebung oder anderen
Fragen. Um das abzukürzen, sehen wir diese sechs-
wöchige Frist als ausreichend, aber auch als erforderlich
an. Wie gesagt, ein Automatismus bei der Reglung der
elterlichen Sorge per Geburt möchten wir nicht.

Wir meinen, dass wir mit diesen Regelungen sowohl
im materiellen als auch im Verfahrensrecht einen guten
Weg gefunden haben, einen Mittelweg zwischen den
Interessen der Mutter auf der einen Seite und den Inte-
ressen des Vaters auf der anderen Seite, aber immer un-
ter der Maßgabe, dass das Kindeswohl an erster Stelle
steht. Wir sind uns Gott sei Dank in diesem Haus da-
rüber einig, dass dahinter alles andere zurückstehen
muss. Ich denke, dass wir in den jetzt anstehenden Bera-
tungen, im Rechtsausschuss und mitberatend im Fami-
lienausschuss, auch über die Anträge der Opposition,
Lösungen auf der Basis unseres Referentenentwurfs –
ich leite ihn Ihnen gerne zu, wenn er Ihnen noch nicht
vorliegt; er befindet sich noch im Abstimmungsverfah-
ren, danach werden wir in die Beratungen gehen – fin-
den werden, die dann möglichst vom ganzen Haus getra-
gen werden. Wir haben in der Vergangenheit beim
FamFG, beim Unterhaltsrecht und vielem anderen mehr
gezeigt, dass das sehr gut möglich ist. Deshalb hoffe ich
sehr, dass wir gute Beratungen haben, um ein gutes Er-
gebnis zu finden.


(Caren Marks [SPD]: Sie haben doch noch gar keines!)


– Die Beratungen kommen ja. – Es hat länger gedauert,
aber ich denke, dann wird es umso besser sein.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717515400

Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717515500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Sorgerecht ist ein höchst emotionsgeladenes Thema.
Einige – vielleicht auch etliche – haben bestimmt schon
persönliche Erfahrungen damit gemacht.

Das Sorgerecht umfasst insbesondere vor dem Hinter-
grund der UN-Kinderrechtskonvention das Recht des
Kindes auf Sorge durch die Eltern und das Recht und die
Verpflichtung der Eltern, Verantwortung für das Kindes-
wohl zu übernehmen. So ergibt es sich im Übrigen auch
aus Art. 6 unseres Grundgesetzes.

Es ist hier schon erwähnt worden: 2010 hat das Bun-
desverfassungsgericht zutreffend festgestellt, dass das
geltende Recht nichtverheiratete Väter diskriminiert, die
Verantwortung für ihre Kinder übernehmen wollen und
können. Die bis dato geltende Rechtslage ist auch schon
dargelegt worden, nämlich dass nichtverheiratete Väter,
wenn die Mutter nicht zur gemeinsamen Sorge bereit
war, keine Möglichkeit hatten, diese elterliche Sorge ir-
gendwie gerichtlich geltend zu machen. Dieses Dilemma
war zu lösen.

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Übergangslö-
sung geschaffen, nach der Väter für den Fall bei Gericht
einen Antrag stellen können und das Gericht diesem An-
trag stattzugeben hat, sofern Kindeswohlgründe nicht
entgegenstehen. Dabei kommt auch klar zum Ausdruck,
dass das Kindeswohl die zentrale Frage bei diesen gan-
zen Entscheidungen sein muss.

Meine Fraktion ist sich dahin gehend einig, dass sich
der Staat, solange sich Eltern hinsichtlich der Sorge einig
sind, möglichst wenig einmischen sollte.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn sich die Eltern einig sind, dass die Mutter oder der
Vater die alleinige Sorge haben soll oder auch beide zu-
sammen die gemeinsame Sorge haben sollen, dann geht
das den Staat nichts an; es sei denn, es gibt Anhalts-
punkte einer Kindeswohlgefährdung. Das ist klar. Aber
vom Normalfall ausgehend sollte sich der Staat dabei
nicht einmischen.

Jetzt stellt sich die Frage: Wie ist es bei nichtverheira-
teten Vätern? Bei Eheleuten ist es so: Das Kind wird an-
gemeldet, und automatisch ist der Ehemann der Vater
mit allen Rechten und Pflichten. Bei nichtverheirateten
Eltern ist es anders. Bei ihnen entstehen die Rechtsbezie-
hungen des Vaters zum Kind erst durch die Vater-
schaftsanerkennung.

Was bedeutet eine Vaterschaftsanerkennung bezogen
auf das Kind? Nach meiner Überzeugung bedeutet sie
deutlich mehr als der Trauschein. Mit dem Trauschein
bekennt man sich nicht automatisch expressis verbis zu
dem Kind. Mit der Vaterschaftsanerkennung bekennt
man sich konkret zu einem Kind und sagt: Das ist mein
Kind. Deswegen denke ich, man könnte wie in Frank-
reich den Automatismus einführen, dass mit der Vater-
schaftsanerkennung Sorgerecht entsteht. Das ist aller-
dings riskant. Denn es gibt auch Väter, die sich nicht um
das Kind kümmern wollen.

Deswegen haben wir nach langer Debatte – wir haben
es uns nicht leicht gemacht; immerhin hat es 20 Monate
gedauert, bis unser Antrag gestern in der Fraktion mehr-
heitlich beschlossen wurde – beschlossen, dass es noch
eine Zusatzerklärung zu der Vaterschaftserklärung geben





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)


soll, mit der der Vater erklärt, dass er bereit und gewillt
ist, die väterliche Sorge für das Kind zu übernehmen.
Dann entsteht die gemeinsame elterliche Sorge.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Begrün-
dung die Zutaten für eine Neuregelung aufgeführt. Die
Richter haben so in den Gründen angegeben, dem Ge-
setzgeber bleibe es unbenommen – sie sprechen sogar
von einem automatischen Sorgerecht –, frühestmöglich
das gemeinsame Sorgerecht zuzusprechen, mit der Mög-
lichkeit für beide Elternteile, das überprüfen und ange-
hen zu können. Das haben wir in dem Fall, den wir
unterbreiten, vorgesehen. Wenn das gemeinsame Sorge-
recht durch die Erklärung, die Sorge für das Kind über-
nehmen zu wollen, entsteht, dann haben beide Eltern die
gemeinsame Sorge. Wenn diese Erklärung abgegeben
wurde und es später zum Streit kommt – wir müssen uns
nichts vormachen; im Normalfall kommt es nicht dann
zum Streit, wenn die Eltern zum Standesamt oder zum
Jugendamt gehen, um die gemeinsame oder alleinige
Sorge zu erklären, sondern erst später, wenn sie sich
trennen –, dann besteht die gemeinsame Sorge, und
beide Elternteile haben wie Eheleute nach § 1671 BGB
das Recht, bei Gericht einen Antrag zu stellen, die allei-
nige Sorge oder Teile der gemeinsamen Sorge auf sich
zu übertragen. Diese Möglichkeit hat das Bundesverfas-
sungsgericht vorgegeben. Daran orientiert sich unser
Antrag.

Ganz wichtig ist – ich denke, darin sind wir uns ei-
nig –, dass eine Gerichtsentscheidung Ultima Ratio sein
sollte. In der Regel gibt es vor Gericht immer Gewinner
und Verlierer. Deshalb ist es wesentlich, dass vor einer
Gerichtsentscheidung versucht wird, eine Mediation
durchzuführen. Man kann ja niemanden dazu zwingen,
aber eine Mediation muss angeboten werden, um gerade
im Interesse des Kindeswohls nach Möglichkeit eine
einvernehmliche Regelung der Eltern zu erzielen.

Mit unserem Antrag wollen wir das bestehende Di-
lemma beseitigen und nicht verheiratete und verheiratete
Eltern in Bezug auf das Sorgerecht weitgehend rechtlich
gleichstellen. Die vorgeschlagenen Änderungen entspre-
chen den Empfehlungen des Bundesverfassungsgerichts.
Bei unverheirateten Paaren sollten beide Elternteile frü-
hestmöglich das gemeinsame Sorgerecht erhalten, mit
der entsprechenden Möglichkeit, dieses für einen allein
einzuklagen – eben wie bei verheirateten Eltern.

Kinder suchen sich ihre Eltern sowieso nicht nach
dem familienrechtlichen Status aus. Frau Granold hat zu
Recht darauf hingewiesen: Das Kindeswohl steht bei uns
allen im Vordergrund.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717515600

Der Kollege Stephan Thomae hat jetzt das Wort für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1717515700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Die elterliche Sorge bei nicht verheirate-
ten Eltern ist ein Thema, das viele Menschen in unserem
Land bewegt. Uns eint das gemeinsame Ziel, dass die
Bereitschaft der Eltern, die Sorge für das Kind gemein-
sam zu übernehmen, gestärkt werden soll.

Wenn ich mir die Anträge der SPD und der Linken im
Detail anschaue, dann fallen mir ein paar Punkte auf, die
mich in meiner Ansicht bestärken, dass wir es besser
machen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Im SPD-Antrag ist zu lesen: Wenn sich die Eltern vor
dem Standesamt nicht auf eine Sorgerechtsregelung eini-
gen können, soll ihnen das Jugendamt eine Äußerungs-
frist setzen. Wenn sich die Eltern innerhalb dieser Frist
nicht zur Frage der gemeinsamen Sorge äußern, soll das
Jugendamt von sich aus, also von Amts wegen, einen
Antrag beim Familiengericht stellen. In Deutschland
gibt es ja einen Justizgewährungsanspruch. Wenn sich
die Bürger nicht einigen können, dann haben sie die
Möglichkeit, Gerichtshilfe in Anspruch zu nehmen. Das
Gericht muss dann eine Entscheidung treffen. Es wird
quasi ein Vergleich geschlossen. Nun, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD, was machen Sie? Sie sind
der Meinung: Immer wenn die Eltern sich nicht einigen
können, soll das Jugendamt verpflichtet werden, eine fa-
miliengerichtliche Entscheidung zu beantragen.


(Christine Lambrecht [SPD]: Im Interesse des Kindes!)


Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das ernst meinen.


(Caren Marks [SPD]: Sie können sich vieles nicht vorstellen!)


Wenn die Bürger nicht von sich aus, also freiwillig, ge-
richtliche Hilfe in Anspruch nehmen, dann zwingen Sie
sozusagen die Bürger, Sie zerren sozusagen die Bürger
vor Gericht.


(Christine Lambrecht [SPD]: Genau! Im Interesse des Kindes! – Caren Marks [SPD]: Im Interesse des Kindes!)


Ich will nicht unhöflich erscheinen, aber ich finde das
nicht gut.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Burkhard Lischka [SPD])


Wenn sich die Eltern schon nicht streiten, Herr Kol-
lege Lischka, dann sehe ich auch das Kindeswohl nicht
in Gefahr. Es kann immer sein, dass Eltern sagen: Das
müssen wir nicht sofort entscheiden; warten wir doch ab,
wie sich die Dinge de facto entwickeln. – Damit habe ich
gar kein Problem. Warum sollten wir aber dann die El-
tern durch das Jugendamt vor Gericht zerren lassen? Da-
mit sind wir nicht einverstanden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Im Interesse des Kindes!)






Stephan Thomae


(A) (C)



(D)(B)


Ein weiterer Punkt in Ihrem Antrag, der mich verwun-
dert – vielleicht habe ich es auch nur missverstanden –,


(Caren Marks [SPD]: Mit Sicherheit!)


ist: Den Eltern soll ermöglicht werden, durch eine ge-
meinsame Sorgeerklärung die gemeinsame Sorge zu er-
halten. – In § 1626 a Abs. 1 Nr. 1 BGB steht das bereits.
Warum wird ein Antrag zu einem Sachverhalt gestellt,
der bereits gesetzlich geregelt ist? Das leuchtet mir nicht
ein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Das ist ja ein Totschlagargument!)


So viel zum Antrag der SPD.

Beim Antrag der Linken sehe ich einen gewissen in-
neren Widerspruch. Dort heißt es unter II.1,


(Christine Lambrecht [SPD]: Oh! Der Herr Gehb hat einen Nachfolger!)


dass die Sorgeerklärung des Vaters schon ausreicht, um
die gemeinsame Sorge zu begründen. Die einseitige Er-
klärung des Vaters führt quasi zu einem Automatismus.
Unter II.4 heißt es dann: Wenn sich die Eltern nicht eini-
gen können, steht der Rechtsweg offen. – Was denn nun?
Reicht schon eine einseitige Erklärung des Vaters, um
die gemeinsame Sorge zu begründen, oder bedarf es ei-
ner Einigung? Entweder – oder, beides zusammen geht
nicht. Da befindet sich ein innerer Widerspruch in Ihrem
Antrag.

Deswegen empfehle ich sehr den Referentenentwurf
des Bundesjustizministeriums zur Lektüre, den ich aus-
drücklich lobe. Er ist am 28. März an Bund und Länder
verschickt worden, und es läuft eine Frist zur Stellung-
nahme bis zum 18. Mai. Was in diesem Referentenent-
wurf steht, hat die Kollegin Granold ja schon vorbildlich
erläutert. Ich will noch einige Punkte verdeutlichen.

In diesem Entwurf ist vorgesehen, dass es zunächst
zur Alleinsorge der Mutter kommt. Wenn die beiden El-
tern eine gemeinsame Sorgeerklärung abgeben, dann ha-
ben wir kein Problem; wir sind uns einig, dass das das
Schönste und das ist, was wir eigentlich wollen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das steht ja im Gesetz drin!)


Ist das aber nicht der Fall, dann hat der Vater die Mög-
lichkeit, einen Antrag beim Familiengericht zu stellen.
Wenn nun die Mutter – das ist das, was Sie, Kollegin
Lambrecht, rügen – innerhalb einer angemessenen Frist
– nicht einer kurzen Frist – inhaltlich nicht Stellung
nimmt


(Christine Lambrecht [SPD]: Sechs Wochen!)


oder keinerlei Gründe vorträgt, aus denen erkennbar
wird, dass es inhaltliche, und zwar kindeswohlrelevante
Gründe gibt, die gegen die gemeinsame elterliche Sorge
sprechen, dann darf doch die gesetzliche Vermutung
greifen, dass es offenbar keine gegen das Kindeswohl
sprechende Gründe gibt, die gemeinsame Sorge zu ver-
hindern; denn sonst könnte die Mutter diese einfach vor-
tragen. Dann ist es meines Erachtens auch völlig ange-

messen, richtig und sachgerecht, zu sagen, dass dann in
einem beschleunigten, vereinfachten Verfahren das Ge-
richt darüber entscheiden können soll.


(Christine Lambrecht [SPD]: In einem schriftlichen Verfahren, ohne sich die Eltern anzusehen!)


– Warum denn nicht? Ich finde, das ist eine angemessene
Regelung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wichtig ist auch, dass es dann nicht mehr ausreichend
ist, einfach nur anzuführen, dass keine Kommunikation
zwischen den Eltern stattfinde oder dass sich die Mutter
zum Beispiel nicht in die Erziehung des Kindes hineinre-
den lassen wolle, sondern es muss sich vielmehr um kin-
deswohlrelevante Gründe handeln. Denn wir wollen,
dass eine gewisse Normalität für alle Kinder gilt, ganz
gleich, ob die Eltern den Segen von Staat und Kirche
eingeholt haben oder nicht. Es geht uns genau um das
Kindeswohl. Darum geht es ja uns allen. Deswegen müs-
sen wir die Hürden für die gemeinsame elterliche Sorge
senken, und das gelingt mit unserem Entwurf am besten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Mit welchem Entwurf?)


Ein zweiter Punkt, den Sie im Referentenentwurf
nachlesen können, ist der, dass in der jetzigen, vorläufi-
gen Regelung nach der Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts vom 21. Juli 2010 die gemeinsame Sorge
– auch das haben Sie, Frau Kollegin Granold, schon er-
läutert – dann ausgesprochen werden soll, wenn dies
dem Kindeswohl entspricht. Das heißt, es muss erst ein-
mal der positive Nachweis erbracht werden, dass es dem
Kindeswohl dient. Das muss der Vater darlegen und be-
legen. Er muss es also beweisen. Nach dem Referenten-
entwurf des Bundesjustizministeriums ist die gemein-
same Sorge dann schon auszusprechen, wenn diese dem
Kindeswohl nicht widerspricht. Die negative Darle-
gungslast, die schon erwähnt worden ist, soll nun der
Maßstab sein, um erneut die Hürden abzusenken. Die
Mutter muss also sagen, was dagegen spricht, wenn sie
sich dagegen wehren will. Auch damit bauen wir Hürden
ab.

Wir kommen mit diesem Entwurf einem modernen
Familienbild näher. Die zunehmende Anzahl von Kin-
dern, die außerhalb einer gültigen Ehe geboren werden,
lässt es angeraten erscheinen, dass wir das Recht nach
der gewandelten Lebenswirklichkeit der Menschen im
Land formen. Deswegen war es gut, dass wir in der Ko-
alition das Thema ausgiebig diskutiert und uns Zeit ge-
lassen haben. Es hat sich gelohnt. Der Vorschlag der
Koalition ist allemal besser als die Vorschläge der Oppo-
sition.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717515800

Katja Dörner hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die

Grünen.






(A) (C)



(D)(B)



Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717515900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Ich möchte versöhnlich beginnen.
Wenn ich mir die Eckpunkte der Koalitionsfraktionen
und die Anträge, die jetzt vorgelegt worden sind, an-
schaue, dann habe ich tatsächlich die Hoffnung, dass wir
in dieser Legislaturperiode doch noch zu einer vernünfti-
gen und guten Lösung beim Sorgerecht nicht miteinan-
der verheirateter Eltern kommen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will aber auch sagen: Es ist keine Glanzleistung
der Koalitionsfraktionen, dass sie mehr als eineinhalb
Jahre brauchten, um den guten, vernünftigen und ausge-
wogenen Vorschlag, den wir Grüne als Erste schon im
Herbst 2010 vorgelegt haben, sozusagen zu plagiieren
und endlich in eigene Eckpunkte zu gießen.


(Caren Marks [SPD]: Das heißt: zu guttenbergen! – Zuruf von der CDU/CSU: Wie bitte?)


Das sind eineinhalb verlorene Jahre für die davon betrof-
fenen Familien. Wir wollen natürlich kein Copyright auf
das, was wir entwickelt haben;


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Doch! Urheberrechte sind wichtig! Da müssen wir schon ein bisschen aufpassen!)


wir erwarten aber, dass endlich ein Gesetzentwurf vorge-
legt wird. So häufig, wie Herr Thomae darauf hingewie-
sen hat, dass es bis dato nur einen Referentenentwurf
gibt, muss man sich, glaube ich, schon Sorgen machen,
was die zeitliche Perspektive der Bundesregierung für
dieses Vorhaben angeht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Bandbreite
der Sorgerechtsstreitigkeiten ist riesig, auch bei nicht
miteinander verheirateten Paaren. Jeder von uns kennt
aus dem persönlichen Umfeld, aus den vielen Gesprä-
chen, die wir mit Verbänden dazu geführt haben, aber
natürlich auch aus Familiengerichtsakten die unglaub-
lichsten Vorgänge. Weil diese Palette so breit ist, wird es
keine gesetzliche Regelung geben, die in jedem Einzel-
fall die optimale Lösung bringt. Ich glaube, da sollten
wir uns auch nichts vormachen. Gerade deshalb ist es
umso wichtiger, dass man ganz klare Leitentscheidungen
trifft.

Ich möchte hier ausdrücklich auf Art. 18 der UN-Kin-
derrechtskonvention hinweisen, in dem es heißt – ich zi-
tiere –:

Die Vertragsstaaten bemühen sich nach besten
Kräften, die Anerkennung des Grundsatzes sicher-
zustellen, dass beide Elternteile gemeinsam für die
Erziehung und Entwicklung des Kindes verantwort-
lich sind.

Die Kinderrechtskonvention unterscheidet zu Recht
nicht zwischen den Rechten von Kindern mit miteinan-

der verheirateten Eltern und solchen mit nicht miteinan-
der verheirateten Eltern. Deshalb steht für uns Grüne fest
– ich bin froh, dass alle das im Plenum heute noch ein-
mal bekräftigt haben –, dass es um die Interessen des be-
troffenen Kindes geht und dass das Kindeswohl selbst-
verständlich im Vordergrund stehen muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nicht nur die Erfahrungen mit dem gemeinsamen
Sorgerecht bei geschiedenen Eltern legen nahe, dass es
in der Regel gut ist, wenn das Sorgerecht gemeinsam bei
den Eltern liegt. Wir als Grüne wollen beim Sorgerecht
nicht miteinander verheirateter Eltern zwar keinen Auto-
matismus, aber ausdrücklich ein sehr niedrigschwelliges
Verfahren, damit ein Vater, der das möchte, das Sorge-
recht auch frühzeitig bekommen kann. Deshalb haben
wir ganz bewusst die Formulierung gewählt, dass ein
Vater, wenn das familiengerichtliche Verfahren nicht zu
verhindern ist, das Sorgerecht bekommen soll, wenn dies
dem Kindeswohl nicht widerspricht. Das ist eine Formu-
lierung, die die Koalitionsfraktionen richtigerweise in
ihre Eckpunkte übernommen haben.

Ich muss leider sagen, dass der Antrag der SPD, den
wir heute erstmals beraten, notwendige klare Leitlinien
an vielen Stellen vermissen lässt. Ich finde zwar, dass er
die Komplexität des Regelungstatbestandes sehr gut be-
schreibt; ich finde aber auch, dass sich dieser Vorschlag
sehr im Sowohl-als-auch verliert. Sie haben es ja eben
auch noch einmal gesagt, dass der Antrag eine Brücke
zwischen einer Antragslösung und einer Widerspruchs-
lösung schlagen soll.


(Christine Lambrecht [SPD]: Nein! Keine Brücke!)


– Doch, das haben Sie eben noch einmal ausdrücklich
gesagt.


(Christine Lambrecht [SPD]: Habe ich nicht! Stimmt nicht!)


Aber wenn man ganz genau hinschaut, dann sieht man,
dass Ihr Vorschlag doch dem Vater den Schwarzen Peter
zuschiebt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Was? – Caren Marks [SPD]: Was?)


– Doch! Ich führe das gerne aus. – Woran kann man das
erkennen? Wenn die Eltern sich nicht einigen, stellt das
Jugendamt nach SPD-Vorstellung einen Antrag beim Fa-
miliengericht. Das haben Sie eben auch gesagt.

Ich verstehe das Anliegen, dass Sie über das Jugend-
amt einen Anwalt der Interessen des Kindes installieren
wollen, sehr gut. Das bedeutet aber auch – das wird in
Ihrem Antrag allerdings an keiner Stelle erwähnt –, dass
die Mutter zu diesem Zeitpunkt weiterhin das alleinige
Sorgerecht hat.


(Caren Marks [SPD]: Nein! Das ist falsch! – Christine Lambrecht [SPD]: Noch einmal lesen und verstehen! – Burkhard Lischka [SPD]: Nein!)






Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)


– Doch! Selbstverständlich! Das ist dann immer noch
der Tatbestand. Die Mutter hat weiterhin das alleinige
Sorgerecht, und damit ist der Vater nicht auf Augenhöhe
mit der Mutter. In dem Fall kann man ganz klar sagen,
dass Ihr Vorschlag ist, dass der Vater via Jugendamt zum
Familiengericht gehen muss,


(Christine Lambrecht [SPD]: Nein, muss er nicht! – Burkhard Lischka [SPD]: Kein Automatismus!)


und das ist aus unserer Sicht natürlich nicht niedrig-
schwellig.

Darüber hinaus bleiben in Ihrem Vorschlag entschei-
dende Fragen ungeklärt. Das gilt beispielsweise für den
Zeitpunkt, zu dem das Jugendamt sich an das Familien-
gericht wendet. Auch der Entscheidungsmaßstab, den
ich eben noch einmal positiv hervorgehoben habe, wird
in Ihrem Antrag nicht genau bestimmt. Das sind für un-
sere Perspektive einfach zu viele offene Fragen.


(Beifall des Abg. Thomas Silberhorn [CDU/ CSU])


Es ist aus unserer Sicht allerdings dringend notwen-
dig, dass die Koalitionsfraktionen bzw. die Bundesregie-
rung endlich einen Gesetzentwurf vorlegen und nicht
weiter auf ihrem Referentenentwurf herumreiten. Ma-
chen Sie endlich Ihre Hausaufgaben, damit wir bei die-
sem wichtigen Thema wirklich zeitnah weiterkommen!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717516000

Der Kollege Thomas Silberhorn hat das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1717516100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir haben uns zuletzt am 2. März 2012 hier im
Plenum über das komplexe Thema Elterliche Sorge für
nicht verheiratete Eltern unterhalten. Zwischenzeitlich
liegt der Referentenentwurf des Bundesjustizministe-
riums vor, der eine, wie ich meine, überzeugende Rege-
lung anbietet. Wir setzen die Vorgaben des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfas-
sungsgerichts um, die Rechte der Väter werden signifi-
kant gestärkt, und wir bieten auch Verfahrenssicherheit
und einen ausgeglichenen Grundrechtsschutz.

Wie die Grünen auf die Idee kommen können, dass
wir von ihnen abgeschrieben hätten, ist mir völlig schlei-
erhaft. Ich darf darauf hinweisen, zumal heute der Tag
des geistigen Eigentums ist, dass wir das Urheberrecht
für diesen Entwurf in Anspruch nehmen, und wir erbit-
ten Respekt vor unserem geistigen Eigentum.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dass es sich um einen Referentenentwurf und noch
nicht um einen Gesetzentwurf handelt, Frau Kollegin,
liegt schlichtweg daran, dass dieser Vorschlag mit den
betroffenen Verbänden noch erörtert wird und wir die
Gelegenheit geben, dazu Stellung zu nehmen.


(Caren Marks [SPD]: Das hättet ihr schon längst machen können!)


Wir verzeichnen mit Interesse, dass sich selbst kritische
Väterverbände wie etwa „Väteraufbruch für Kinder“ zu
diesem Referentenentwurf überwiegend positiv geäußert
haben.


(Zuruf von der LINKEN: Das ist ja bezeichnend!)


Der Vorwurf der Opposition, wir würden das Thema
verschleppen, geht ins Leere. In der Tat haben wir lange
diskutiert. Es war aber bei diesem schwierigen Thema
auch eine intensive Diskussion notwendig. Wir haben
die Zeit genutzt, um eine Lösung zu finden, die ausge-
wogen die Interessen aller Beteiligten in den Blick
nimmt. Dieser Vorwurf trägt auch deshalb nicht, weil Sie
in Ihren eigenen Anträgen ziemlich vage bleiben. Viele
Verfahrensfragen bleiben weiter offen. Wie steht es denn
zum Beispiel mit dem zeitlichen Ablauf bei einer Sorge-
rechtserklärung oder Vorlage beim Familiengericht? Wie
wollen Sie denn konkret erreichen, dass es im Streitfall
zu zügigen Entscheidungen kommen kann?


(Caren Marks [SPD]: Schnelle Terminierung!)


Dort, wo es konkret wird, bleiben Sie die Antworten
schuldig, und ich finde, das ist zumindest, seit der Refe-
rentenentwurf vorliegt, schlicht zu wenig.

Die SPD – das wurde angesprochen – konzentriert
sich weiterhin auf die Rolle des Jugendamtes: Sofern die
Eltern kein Einvernehmen über eine Sorgerechtserklä-
rung erzielen und Vermittlungsversuche des Jugendam-
tes erfolglos bleiben, soll das Jugendamt eine eigene und
von den Erklärungen der Eltern unabhängige Bewertung
vornehmen und selbst den Fall dem Familiengericht vor-
legen. – Das verstehen wir, offen gestanden, nicht.


(Caren Marks [SPD]: Das verstehen Sie nicht? Das glaube ich gern!)


Warum dieser völlig unnötige Automatismus in diesem
Verfahren, der den Eltern die Entscheidungsgewalt aus
der Hand nimmt?


(Christine Lambrecht [SPD]: Die haben sie bis zu dem Zeitpunkt mehr als genug gehabt! – Burkhard Lischka [SPD]: Hatten sie die ganze Zeit!)


Das birgt die Gefahr, dass damit eben nicht Rechtsfrie-
den geschaffen wird, sondern über die Köpfe der Betrof-
fenen hinweg Entscheidungen gefällt werden.

Nach dem Antrag der Linken genügt für das gemein-
same Sorgerecht allein die Anerkennung der Vaterschaft,
verbunden mit der Willenserklärung des Vaters zur ge-
meinsamen Sorge. Diese Auffassung kann man ja vertre-
ten, aber für den Streitfall, um den es hier geht, bieten
Sie nicht mehr an als ein Mediationsverfahren und den





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)


Hinweis, dass im Übrigen der Rechtsweg offenstehe. Ja,
was denn nun? Damit ist doch den Eltern nicht geholfen!


(Caren Marks [SPD]: Mit dem Mediationsverfahren ist Eltern nicht geholfen? Also! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Mit dem Mediationsverfahren nicht? Das höre ich zum ersten Mal!)


So sehen wir betroffen: Vorhang zu und alle Fragen of-
fen. Mehr kann ich zu Ihrem Entwurf nicht sagen.

Wir sind als Gesetzgeber in der Pflicht, einen ange-
messenen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen zu
finden, und wir sind uns in der Koalition einig, dass hier
nicht das Wohl der Mutter, auch nicht das des Vaters,
sondern das Wohl des Kindes im Mittelpunkt steht. Das
ist Dreh- und Angelpunkt. Wir müssen uns daran orien-
tieren, was für das Kind das Beste ist. Dabei ist unser
Leitbild von zentraler Bedeutung, dass ein Kind Mutter
und Vater braucht. Die Entwicklung des Kindes wird im
Idealfall durch beide Elternteile geprägt. Das hat Aus-
wirkungen auf unseren Gesetzentwurf und findet seinen
Ausdruck im Wechsel der Beweislast, wenn ich es so
formulieren darf, den ich für wegweisend halte.

Künftig muss eben nicht mehr dargelegt werden, wes-
halb die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl
entspricht, sondern wir gehen als Regelfall davon aus,
dass die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl entspricht.
Der Vater oder auch die Mutter erhalten das Sorgerecht
nur dann nicht, wenn das dem Kindeswohl widerspricht.
Wenn also keine Gründe für eine Gefährdung des Kin-
deswohls bestehen, dann wird das Familiengericht den
Eltern das gemeinsame Sorgerecht zusprechen. Wir neh-
men hier an einem ganz wichtigen und entscheidenden
Punkt eine Änderung vor, die das Wohl des Kindes in
den Mittelpunkt stellt und keinen Elternteil benachteiligt.

Zur Klärung der elterlichen Sorge sehen wir ein ge-
stuftes Verfahren vor. Die Mutter erhält zunächst als
engste Bezugsperson nach der Geburt des Kindes das al-
leinige Sorgerecht. Natürlich haben die Eltern Gelegen-
heit, eine übereinstimmende Sorgeerklärung abzugeben.
Es ist erfreulich, dass immer mehr Eltern von dieser
Möglichkeit Gebrauch machen. Von meinen Vorrednern
ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Mög-
lichkeiten der Konsensbildung ausgeschöpft werden
sollten.

Wir müssen aber schlussendlich im Gesetz eine Ant-
wort darauf finden, was passiert, wenn keine überein-
stimmende Sorgeerklärung abgegeben wird. Diesen
Streitfall müssen wir regeln.


(Christine Lambrecht [SPD]: Genau! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Genau!)


Dafür stellen wir dem Vater zwei Handlungsalternativen
zur Verfügung:

Er kann zunächst selbst eine Sorgeerklärung beim Ju-
gendamt in der Hoffnung abgeben, dass die Mutter der
gemeinsamen Sorge zustimmen wird.

Er kann aber auch ohne Umweg über das Jugendamt
direkt das Familiengericht anrufen. Ich denke, dieser

Weg stellt eine wichtige Möglichkeit bei von Anfang
an konfliktbehafteten Sorgerechtsstreitigkeiten zwischen
Vater und Mutter dar, um eine Entscheidung über das
Sorgerecht schnell und effizient herbeizuführen.

Schweigt die Mutter im gerichtlichen Verfahren oder
trägt sie keine Gründe vor, die gegen die gemeinsame
Sorge sprechen, und sind dem Gericht solche Gründe an-
derweitig nicht ersichtlich, dann soll die Entscheidung
unter Anwendung der gesetzlichen Vermutung ergehen,
dass die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl nicht wi-
derspricht. Das Ganze soll in einem vereinfachten Ver-
fahren geschehen, also durch schriftliche Entscheidung
und ohne persönliche Anhörung der Eltern. Das gewähr-
leistet eine zügige Entscheidung ohne umfassende und
langwierige gerichtliche Prüfung. Die Mutter kann, an-
ders als bisher, durch bloßes Schweigen die gemeinsame
Sorge nicht mehr verhindern oder hinauszögern. Ihr
bleibt natürlich die Möglichkeit, sich zum Sachverhalt
zu äußern und Gründe, die das Kindeswohl gefährden
könnten, vorzutragen. Das Gericht muss dieses dann ent-
sprechend würdigen. Wir setzen der Mutter aber eine Er-
klärungsfrist, damit in diesem Fall zügig eine Entschei-
dung herbeigeführt werden kann.

Der Mechanismus unseres Verfahrens wird daran
deutlich. Wir vermeiden einen häufigen Wechsel beim
Streit um das Sorgerecht. Wir geben der Mutter von Be-
ginn an das alleinige Sorgerecht. Wir ermöglichen es
aber dem Vater, zu einer zügigen und klärenden Ent-
scheidung über das Sorgerecht zu kommen. Das Ganze
geschieht mit einem Wechsel der Beweislast; dabei steht
das Kindeswohl im Mittelpunkt, denn im Regelfall ent-
spricht die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl.

Das ist in dieser schwierigen und oft hochemotional
geführten Diskussion ein Ergebnis, das aus der Perspek-
tive aller Beteiligten tragfähig, ausgeglichen und prakti-
kabel ist. Der Entwurf bietet eine Regelung, die für das
gemeinsame Sorgerecht nicht verheirateter Eltern effi-
ziente Verfahren sowie faire und vernünftige Lösungen
bietet. Wir hoffen auf eine breite Zustimmung


(Caren Marks [SPD]: Mit Sicherheit nicht!)


und sind zuversichtlich, dass wir im Anschluss an die
Beratungen mit den Verbänden einen Gesetzentwurf vor-
legen und zügig verabschieden können, der dieses
Thema im Interesse unserer Kinder zufriedenstellend
löst.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717516200

Jetzt spricht Caren Marks für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1717516300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Silberhorn, Sie
haben gerade deutlich gemacht, dass es sich bei dem An-
satz von Union und FDP um eine Mogelpackung han-
delt. Es geht eben nicht darum, die Rechte der Väter zu





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)


stärken. Die Väter sind wieder diejenigen, die vor Ge-
richt gehen müssen, wenn es nicht zum Einvernehmen
kommt. Das ist unseres Erachtens der falsche Weg und
stärkt nicht die Rolle der Väter.


(Beifall bei der SPD)


Während die Bundesregierung den Auftrag des Bun-
desverfassungsgerichtes zur Neuregelung der elterlichen
Sorge bei Unverheirateten bisher nicht umgesetzt hat,
sind SPD, Grüne und auch Linke schon einen Schritt
weiter. Meine Fraktionskollegin Christine Lambrecht hat
bereits Details zu unserem Antrag ausgeführt. Dieser
Antrag bietet Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen
der Regierungskoalition, eine Lösung an. Wir machen
hier konkrete Vorschläge, wie dem Richterspruch aus
dem Jahr 2010 nun endlich Taten folgen können. Nach
monatelangem Nichtstun, Hände-in-den-Schoß-Legen
und vor allem – das ist nichts Neues, egal bei welchem
Thema – Streitigkeiten in der Regierungskoalition gibt
es mittlerweile, man glaubt es kaum, immerhin einen
Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium.
Darüber werden wir, so er denn wirklich eingebracht
wird, zu gegebener Zeit debattieren.

Ziel der parlamentarischen Beratung muss es sein, zu
einer guten Regelung im Interesse der betroffenen El-
tern, vor allem aber – und das ist das Wichtigste – im In-
teresse der Kinder zu kommen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Ich hoffe – jedenfalls konnte man das bei allen Redne-
rinnen und Rednern grundsätzlich heraushören –, dass
allen, also auch den Koalitionsfraktionen und der
schwarz-gelben Bundesregierung, daran gelegen ist und
dass sich der eine oder andere Punkt im Verlaufe der
weiteren Beratungen einspeisen lässt.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
klargestellt, dass die gemeinsame elterliche Sorge grund-
sätzlich den Bedürfnissen des Kindes nach Beziehungen
zu beiden Elternteilen entspricht. Eine Neuregelung
muss sich also zwingend – ich sage: völlig zu Recht –
und zuallererst am Kindeswohl ausrichten. Denn Kinder
fragen nicht danach, wann und wie sie gezeugt wurden,
und erst recht nicht, ob mit oder ohne Trauschein. Kin-
der brauchen einfach beide Eltern, und sie haben ein
Recht auf beide Eltern.

Ich will nicht bestreiten, dass Gründe des Kindes-
wohls auch gegen ein gemeinsames Sorgerecht sprechen
können, etwa eine fehlende Kooperationsbereitschaft
unter den Eltern. Aber Ausnahmen dürfen nicht die Re-
gel bestimmen. Die Regel sollte sein, dass sich beide El-
ternteile ihrer Pflicht zur Übernahme der elterlichen Ver-
antwortung und Sorge bewusst sind, und zwar im
Interesse des Kindes.

Ich bin sicher, dass Überlegungen von Müttern
– diese gibt es durchaus –, für den sogenannten Notfall
der Trennung lieber die alleinige Sorge behalten zu wol-
len, genauso der Vergangenheit angehören werden wie
die Situation, dass Vätern der einfache Rückzug aus ih-
rer Verantwortung ermöglicht wird. Beides ist falsch.


(Beifall bei der SPD)


Der Weg zur gemeinsamen Verantwortungsüber-
nahme sollte unverheirateten Eltern so einfach wie mög-
lich gestaltet werden: keine großen Antragsnotwendig-
keiten, keine wie auch immer erforderlichen Verfahren,
die Zeitdruck durch Fristen erzeugen, und keine anderen
denkbaren Maßnahmen. Das Verfahren sollte einfach
einfach sein.

Das Ziel der SPD-Fraktion ist es, dass der Gesetzge-
ber die Verantwortung beider Eltern entsprechend be-
kräftigt. Die Kinder jedenfalls werden davon profitieren.
Staatliche Stellen wie das Standesamt oder auch das Ju-
gendamt können die Eltern hier entsprechend unterstüt-
zen. Sie können von Anfang an gezielt helfen, nach Lö-
sungen zu suchen und damit Konflikte zwischen Eltern
vielleicht gar nicht erst entstehen zu lassen.


(Beifall bei der SPD)


Die gemeinsame elterliche Sorge nicht miteinander
Verheirateter sollte immer mehr genauso selbstverständ-
lich sein wie die gemeinsame Sorge von Ehepaaren. Das
spiegelt dann auch die Lebenswirklichkeit in unserem
Land wider – eine Wirklichkeit, die durch die Zunahme
der Zahl von Eltern ohne Trauschein geprägt ist.

Es muss Schluss damit sein, dass Kinder in unserer
Gesellschaft benachteiligt werden, wenn ihre Eltern
nicht miteinander verheiratet sind. Diese Ungleichbe-
handlung ändern wir mit unserem Antrag. Dabei stärken
wir die Vorrangstellung der Kinder, und das ist richtig
und notwendig.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen damit das Kindeswohl nicht nur in den Mit-
telpunkt der Betrachtung stellen, sondern dafür auch
nach einer wirklichen Lösung suchen.

Die SPD versteht unter einer modernen Familienpoli-
tik auch immer die Gleichstellung von Männern und
Frauen. Dies ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit,
auch beim Sorgerecht. Gemeinsame Sorgeverantwor-
tung stärkt die Partnerschaftlichkeit und Chancengerech-
tigkeit und trägt der veränderten Lebenswirklichkeit in
unserem Land, nämlich der Zunahme der Zahl von un-
verheirateten Paaren, wirklich Rechnung.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717516400

Frau Kollegin.


Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1717516500

Denn gemeinsam machen Eltern Kinder stark. Das

sollte im Interesse des gesamten Parlamentes sein.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717516600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8601 und 17/9402 an die Aus-
schüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung fin-





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


den. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so be-
schlossen.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-
tion Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias auf Grundlage des
Seerechtsübereinkommens der Vereinten Na-
tionen (VN) von 1982 und der Resolutionen
1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008)
vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober
2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851

(2008) vom 16. Dezember 2008, 1897 (2009)

vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom
23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. No-
vember 2011 und nachfolgender Resolutionen
des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit
der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des
Rates der Europäischen Union (EU) vom
10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/
766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember
2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des
Rates der EU vom 23. März 2012

– Drucksache 17/9339 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Vorgesehen ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. – Auch dazu sehe und höre ich keinen Wi-
derspruch. Dann ist das ebenfalls beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Dr. Rainer
Stinner hat jetzt für die FDP-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1717516700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Mandat für die Antipiraterieoperation Atalanta ist
von all den Mandaten, die wir hier im Deutschen Bun-
destag verabschieden, das mit Abstand in der Bevölke-
rung populärste Mandat. Es ist verständlich, dass wir als
Staat nicht zulassen wollen und können, dass böse Bu-
ben zur See unsere Schiffe angreifen, kapern, Geiseln
nehmen und für ihre Freilassung Geld verlangen. Das
versteht jeder im Lande, jeder auf den Bühnen und jeder
hier im Deutschen Bundestag.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es gibt ein jahrtausendealtes Seegewohnheitsrecht
und ein langjähriges Seevertragsrecht, das uns ermäch-

tigt, gegen Piraten vorzugehen. Genau das tun wir. Die
Mär, die anfangs gestreut worden ist, es handele sich bei
den Piraten um arme Fischer, denen die Ernährungs-
grundlage entzogen worden ist, hat sich mittlerweile
wirklich als Mär erwiesen. Spätestens jetzt, wo die
Fischbestände aufgrund der Piraterie wieder deutlich an-
gewachsen sind, könnten diese armen Piraten wieder
Fischer werden. Das tun sie natürlich nicht. Denn hinter
der Piraterie steckt mittlerweile ein voll durchorganisier-
tes kriminelles Netzwerk, eine kriminelle Organisation,
die wir bekämpfen müssen und wollen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Seit 2008 hat der Bundestag entsprechende Mandate
verabschiedet und damit die Bundeswehr ermächtigt,
sich im Rahmen einer europäischen Mission an der Be-
kämpfung der Piraterie zu beteiligen. Ich habe anfangs
kritisiert, dass die Bundeswehr nach meinem Dafürhal-
ten die Ermächtigung, die wir ihr gegeben haben, nicht
vollumfänglich ausgenutzt hat; man hätte mehr machen
können. Ich bin sehr erfreut, festzustellen, dass es im
letzten Jahr auf europäischer Ebene eine Änderung des
Operationsplans gegeben hat und deshalb die Soldaten
aller beteiligten europäischen Staaten, auch unsere Sol-
daten, noch energischer gegen Piraten vorgehen können;
das ist richtig und wichtig.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Robert Hochbaum [CDU/CSU])


Es gibt im Kampf gegen Piraterie natürlich Fort-
schritte. Die Zahl der erfolgreichen Kaperungen ist dra-
matisch gesunken. Ich gestehe zu bzw. erkläre: Das ist
zum großen Teil deswegen der Fall, weil die Schiffe zu-
nehmend von bewaffneten Personen begleitet werden,
die Piratenangriffe abwehren. Die Zahl der erfolgreichen
Kaperungen ist zwar gesunken – das ist ein Erfolg –;
aber das Problem ist noch längst nicht gelöst.

Nun haben wir durch unsere Aufklärung entdeckt,
dass am Strand Boote liegen, zum Teil über Tage und
Wochen hinweg, die genutzt werden, um Piratenakte zu
begehen. Es ist für uns nicht plausibel, dass wir bei Hun-
derten von Schiffen, die in diesen Gewässern fahren, mit
großem Aufwand versuchen, auf See irgendetwas zu re-
geln und zu identifizieren, wer der Böse und wer der
Gute ist, wenn wir gleichzeitig sehen, dass sich die Pira-
ten an Land vorbereiten und an Land liegende Boote ein-
setzen. Deshalb gibt es den Wunsch, dieses Mandat zu
erweitern.

Keiner von uns gibt sich Illusionen hin: Das ist nicht
der große Wurf, der die Welt total verändert. Nein, es ist
eine sinnvolle Ergänzung, weil wir gesehen haben: Da
liegt Material an Land. Wenn es uns gelingt, dieses Ma-
terial unbrauchbar zu machen, dann erschweren wir es
den Piraten nachhaltig – wir beseitigen damit die Pirate-
rie nicht –, ihrer „Arbeit“ nachzugehen. Deshalb ist eine
entsprechende Ergänzung dieses Mandates wichtig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Mandatstext, den Sie alle vorliegen haben, ent-
hält zwei geringfügige Erweiterungen. Unter Nr. 2 wird





Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)


erstens darauf hingewiesen, dass der Auftrag für die
Küste und für innere Gewässer gilt. Zweitens wird das
Einsatzgebiet zur Piratenverfolgung neu definiert, und
zwar von der Küste 2 000 Meter ins Landesinnere.

Wir haben im Rahmen der Diskussionen, die zu die-
sem Mandatsantrag geführt haben, Gespräche mit der
Bundesregierung geführt, in denen wir einige Bedingun-
gen gestellt haben.

Erstens. Es darf unter keinen Umständen um Gefechte
mit Piraten gehen. Es soll also keine Kampfhandlungen
an der Küste geben. Vielmehr geht es um die Logistik,
also beispielsweise um Boote, die unbewacht und ohne
Personal am Strand liegen und unbrauchbar gemacht
werden sollen.

Zweitens. Wir haben gefordert: Keine Soldaten an
Land. Der Fachterminus ist: No boots on the ground.
Auf unsere Nachfrage, ob Flossen auch Boots sind,
wurde gesagt: Jawohl, Flossen sind auch Boots. – Das
heißt: Kein deutscher Soldat betritt somalischen Boden.
Das ist uns zugesagt worden. Es steht auch im Man-
datstext eindeutig drin.

Drittens. Wir wollen die Sicherheit der Soldaten ge-
währleisten, das heißt, dass unseren Hubschrauberbesat-
zungen, die die Mission ausführen, in dem Fall, dass ih-
nen doch etwas passieren sollte, geholfen wird. Auch das
ist uns zugesagt worden.

Letztlich haben wir erwartet, dass die Bundesregie-
rung ein offenes, klares und transparentes Mandat vor-
legt. Wir Abgeordnete wollen nicht, dass wir aufgrund
von Geheimhaltungspflichten in Bezug auf den Opera-
tionsplan gezwungen sind, unsere Soldaten irgendwo an-
ders hinzuschicken. Deshalb hat die Bundesregierung zu
Recht für deutsche Soldaten das Einsatzgebiet auf eine
Breite von 2 000 Metern beschränkt. Das Mandat ist of-
fen, es ist transparent, und es ist richtig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir alle aber wissen, dass auch in diesem Falle gilt,
was überall gilt: Militär löst das Problem nicht. Deshalb
ist es so wichtig, dass wir weitergehende einschneidende
Maßnahmen vornehmen. Das ist der Fall. Deutschland
beteiligt sich an weitreichenden nichtmilitärischen Maß-
nahmen. Wir haben eine Kooperation mit der Über-
gangsregierung in Somalia. Wir haben am 11. November
2011 den strategischen Rahmen für das Horn von Afrika
verabschiedet. Wir haben aktiv teilgenommen an der So-
malia-Konferenz vom 23. Februar dieses Jahres in Lon-
don. Wir leisten erhebliche humanitäre Hilfe in Somalia.
Wir unterstützen die Mission der Afrikanischen Union.
Wir ermöglichen im Rahmen einer Kooperation mit
UNODC die Ausbildung im Polizei-, Gerichts- und Ge-
fängniswesen in Puntland und Somaliland.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717516800

Herr Kollege Stinner, Frau Buchholz würde Ihnen

gerne eine Zwischenfrage stellen. Ich möchte Ihnen die
Möglichkeit geben, diese zuzulassen, bevor die Zeit ab-
gelaufen ist.


Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1717516900

Frau Buchholz? Bitte schön, gerne.


Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717517000

Vielen Dank, Herr Kollege Stinner. – Sie haben ge-

sagt: Alles ist transparent, alles ist offen. Können Sie mir
bestätigen, dass im Operationsplan, der in der Geheim-
schutzstelle liegt und damit nicht allen Abgeordneten zu-
gänglich ist, tatsächlich ausgeschlossen ist, dass es das
Ziel der Operation sein könnte, dass auch Personen zu
Schaden kommen?


(Zuruf von der FDP: Das habe ich nicht verstanden!)



Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1717517100

Die Frage habe ich nicht verstanden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717517200

Dann werde ich sie gerne noch einmal formulieren:

Der Operationsplan liegt in der Geheimschutzstelle aus
und ist somit der geneigten Öffentlichkeit nicht zugäng-
lich. Damit alle wissen, worüber sie in der nächsten Sit-
zungswoche abstimmen müssen, wollte ich Sie fragen, ob
im Operationsplan, den Sie bestimmt kennen, ausge-
schlossen ist, dass sich die Operation auch gegen Perso-
nen richtet. Ist es eventuell doch möglich – wir wissen es
nicht –, dass er sich vielleicht auch gegen Personen – kon-
kret: gegen Piraten – richten soll?


Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1717517300

Das Mandat, das wir heute verabschieden, ist klar und

eindeutig. Der Auftrag ist klar und eindeutig definiert,
und aus diesem Auftrag geht klar und eindeutig hervor,
was die Aufgabe der Bundeswehr ist. Daran wird sich
die Bundeswehr halten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Da gibt es keine Änderung!)


Es gibt einen Punkt, den wir bisher noch nicht aus-
führlich genug betrachtet haben: das systematische Auf-
spüren und Verfolgen von Hintermännern der Piraterie,


(Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP])


und zwar nicht nur unmittelbar in Somalia, sondern auch
in angrenzenden Ländern. Ich weiß, dass die Bundesre-
gierung hier schon einiges macht, aber ich fordere sie
trotzdem auf, ihre Bemühungen in diesem Bereich noch
zu intensivieren; denn erst in den letzten Monaten sind
im Rahmen einer Combined-Joint-Task-Force-Organisa-
tion mit den Holländern einige wichtige Schritte unter-
nommen worden. Das war zu spät, aber immerhin ist
dort etwas gemacht worden.

Wir fordern Sie auf, hier mehr zu machen; denn wir
alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, wissen: Wenn es
uns nicht gelingt, das kriminelle Netzwerk zu zerschlagen
und dafür zu sorgen, dass Piraterie kein Geschäft mehr ist,
werden wir langfristig – da können wir an Land und auf





Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)


See noch so effizient gegen die Piraterie arbeiten – nicht
erfolgreich sein. Deshalb ist das auch hier in diesem Fall
der Hebel für den Erfolg. Ein weiteres Mal geht es nicht
um Militär, sondern um andere Dinge, die wir machen
müssen; aber das Militär liefert einen sinnvollen und wert-
vollen Beitrag. Das unterstützen wir. Wir fordern auch Sie
auf, dem zuzustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717517400

Es spricht der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die

SPD-Fraktion.


Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1717517500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vor fünf Monaten, am 23. November letzten Jahres, er-
klärte der Außenminister an diesem Pult:

Die Pirateriebekämpfung vor dem Horn von Afrika
durch Atalanta ist nicht nur breit in diesem Hause
getragen, sondern sie ist auch erfolgreich.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, die-
ser Satz illustriert sehr gut, um was es heute geht und
was Sie ohne Not vorhaben. Sie provozieren mit einem
erweiterten Auftrag neue zusätzliche Risiken und ver-
wirken zugleich eine breite Mehrheit in diesem Hause.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich finde, das, was Sie an dieser Stelle heute erläutert
haben, ist es nicht wert, auf diese breite Mehrheit zu
verzichten.

Herr Kollege Stinner, mit Verlaub: Ich weiß nicht, ob
Sie allein mithilfe der Aufklärung zu der Erkenntnis
gekommen sind, dass es am Strand Boote gibt, die von
Piraten genutzt werden. Selbst mir als Kölner fällt es
leicht, mir vorzustellen, dass das eine oder andere Boot
den Strand erreicht, was von Piraten genutzt wird.

Man hat bei Ihrer Argumentation gemerkt, wie unan-
genehm Ihnen dieser Punkt ist. Der entscheidende Punkt,
den Sie hier eben nicht erwähnt haben, ist aber: Die
Atalanta-Operation, die im Deutschen Bundestag immer
breit getragen wurde, hat immer mehr eine abschre-
ckende Wirkung entfaltet. Alle Hilfskonvois des Welter-
nährungsprogramms haben Somalia erreicht, weil sie
militärisch geschützt wurden, woran sich auch die Bun-
deswehr beteiligt hat. Die Schiffe, die sich Konvois an-
geschlossen haben, sind sicher durch die Gewässer
gefahren. Auch die Schiffe, die eigene Sicherheitsmaß-
nahmen ergriffen und erfahrene Besatzungsmitglieder,
die gut bezahlt wurden, eingesetzt haben, sind sicher
durch die Gewässer gekommen.

Es ist Ihnen nach dem Fazit, das man in Bezug auf
Atalanta ziehen kann, überhaupt nicht gelungen, deutlich
zu machen, warum Sie jetzt plötzlich – fünf Monate
nachdem wir ein erfolgreiches Mandat beschlossen hat-
ten – schon wieder eine Änderung erreichen wollen. Ich

finde das weder argumentativ richtig hergeleitet noch
politisch angemessen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die entscheidende Frage an dieser Stelle wäre doch
gewesen: Müssen wir nicht in stärkerem Maße mit den
Reedern – sie haben teilweise eine Ausflaggung vorge-
nommen und bezahlen keine Steuern mehr an den Staat,
von dem sie verlangen, etwas für ihre Sicherheit zu tun –
darüber sprechen, dass sie beachten müssen, dass es sich
um gefährliche Gewässer handelt? Auch sie müssen zur
Kenntnis nehmen, dass ihnen militärische Maßnahmen
zur Verfügung stehen, damit sie – das war auch Ihr Fazit –
geschützt durch diese Gewässer kommen.

Ich finde, man sollte doch bemerken – darauf haben
auch Sie zu Recht während Ihrer Rede hingewiesen –,
dass die Anzahl der Piratenangriffe auf diese Schiffe zu-
rückgegangen ist. Es gibt also ein erfolgreiches Mandat,
aber Sie bereiten hier im Bundestag den Weg für ein
neues Mandat. Wir sind in den bisherigen Beratungen
eben nicht überzeugt worden, dass es sinnvoll ist, diesem
neuen Mandat zuzustimmen. Das finde ich sehr leicht-
fertig. Diesen Vorwurf muss ich der Regierungskoalition
machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will Sie daran erinnern: Der SPD-Fraktion wird
vorgeworfen, dass sie sich hier sozusagen aus der Ver-
antwortung stiehlt.


(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Machen wir doch gar nicht!)


Bisher haben wir als SPD-Bundestagsfraktion – das galt
auch für die letzte Abstimmung – diesem Mandat ohne
Gegenstimme immer zugestimmt. Es gab doch im
Grunde genommen Konsens in diesem Hohen Haus;
denn auch wir sind der Meinung gewesen, dass das
Atalanta-Mandat richtig ist. Wenn Sie jetzt sagen, wir
würden das alles wegen der Landtagswahlen machen,
dann fällt das auf Sie zurück. Bei der Erteilung militäri-
scher Mandate haben wir Ihre Art zu denken in einem
ähnlichen Zusammenhang schon zweimal erlebt. Sie
hätten den Antrag zur Verlängerung des Mandats ja erst
nach den Landtagswahlen einbringen können. Das lag
doch in Ihren Händen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich offeriere Ihnen an dieser Stelle ein Angebot: Stel-
len Sie das Mandant nicht in der nächsten Sitzungs-
woche zur Abstimmung, sondern erst nach den Land-
tagswahlen. Dennoch würden wir unsere Kritik, die wir
bereits formuliert haben – wir werden den Antrag auch
in den Ausschüssen kritisch hinterfragen –, weiterhin
aufrechterhalten.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717517600

Möchten Sie die Zwischenfrage des Kollegen Stinner

zulassen?






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1717517700

Ja, bitte.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717517800

Bitte.


Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1717517900

Vielen Dank, Herr Kollege Mützenich. Erstens. Ich

habe Ihre Fraktion in meiner Rede bewusst nicht ange-
sprochen, weil ich keine Schärfe und keine parteipoliti-
sche Konfrontation in die Debatte bringen wollte.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Zweitens. Ich habe in meiner Rede mit keinem Wort die
Landtagswahlen erwähnt. Die Landtagswahlen spre-
chen Sie in dieser Debatte als Erster an. Das ist sehr inte-
ressant.

Sehr geehrter Herr Mützenich, Sie haben angedeutet,
dass Sie den Antrag ablehnen werden. Ich glaube noch
nicht daran, dass Sie ihn ablehnen werden; aber wir wer-
den es ja sehen. Schauen wir einmal, wie Sie sich nach-
her entscheiden werden. Ich möchte Ihnen Folgendes
vorschlagen: Nachdem Sie den Antrag abgelehnt haben,
was Sie hier angedeutet haben, gehen wir gemeinsam zu
den Reedern und zu deutschen Industrieunternehmen.
Dann können Sie denen erklären, warum die sozialde-
mokratische Partei nicht mehr bereit ist, an der Piraterie-
bekämpfung teilzunehmen. Dann können Sie denen sa-
gen, dass Ihnen eine gewisse Ergänzung und
Erweiterung des Mandates nicht passt. Auf die Debatte,
lieber Herr Mützenich, freue ich mich außerordentlich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt müssen wir ablehnen! Ich glaube, nach der Bemerkung müssen wir ablehnen! – Weitere Zurufe von der SPD)


Ein letzter Punkt – jetzt wird es ganz merkwürdig –:
Herr Mützenich, Sie haben vorgeschlagen, dass wir über
den Antrag nicht in der nächsten Woche, sondern erst
nach den Landtagswahlen abstimmen. Ich habe noch
sehr gut im Ohr, was Sie, lieber Herr Kollege Mützenich,
vor 14 Tagen oder drei Wochen gesagt haben. Sie haben
genau das Gegenteil gesagt.


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Richtig!)


Als die Obleute darüber gesprochen haben, wann der
Antrag zur Verlängerung des Mandats eingebracht wird,
haben wir zu bedenken gegeben, dass der Außenminister
an der Debatte vielleicht nicht teilnehmen kann, wenn
sie am heutigen Tag stattfindet. Damals ist von Ihrer
Seite gesagt worden: Warum? Wir erwarten, dass ihr die
Sache möglichst schnell voranbringt. – Heute stellt sich
derselbe Herr Mützenich hier hin und sagt: Nein, wir
können die Abstimmung auch verschieben.

Liebe Kollegen von der sozialdemokratischen Partei,
ich bin sehr gespannt auf Ihren Meinungsbildungspro-
zess. Herr Steinmeier wird sich dazu sicherlich auch ein-
lassen. Falls Sie ablehnen, was ich nicht glaube – wir
werden es ja sehen –, werden Sie mit uns zu den Reedern

und den deutschen Industrieunternehmen gehen und
denen erklären, warum Sie sich von dem Solidaritäts-
prinzip und der Bekämpfung der Piraterie verabschie-
den. Dabei wünsche ich Ihnen viel Glück.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Günter Gloser [SPD]: Sie können sich setzen! Das war doch keine Frage!)



Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1717518000

Ich nehme das gerne auf, Kollege Stinner. – Frau

Präsidentin, wenn ich genauso lange antworten darf, wie
der Herr Kollege Stinner gefragt hat, wird mir das bei
meiner Argumentation entgegenkommen.

Ich möchte Ihnen erstens Folgendes sagen: Nicht die
Obleute bringen einen Antrag zur Verlängerung eines
Mandats ein, sondern die Bundesregierung. Die Bundes-
regierung hat diesen Antrag in dieser Sitzungswoche
eingebracht, und wir unterhalten uns darüber. Wir disku-
tieren und wägen ab. Ich finde, das sollten Sie beachten.
Dass der Bundesaußenminister heute nicht anwesend ist,
habe ich gar nicht kritisiert. Ich habe genau darauf
geachtet, das nicht zu tun. Wenn Sie der Meinung sind,
dieses Mandat hier auf diese Weise begründen zu müs-
sen, dann können Sie das tun.

Zweitens. Es geht doch überhaupt nicht darum, wer
wo mit wem gesprochen hat, wer zum Beispiel mit
Reedern gesprochen hat. Natürlich sprechen wir mit
Reedern. Wir bringen in dieser Woche einen Antrag ein,
der von vielen Politikern aus dem Norden, aber auch von
Innenpolitikern und Mitgliedern des Auswärtigen Aus-
schusses erarbeitet wurde und der deutlich macht, dass
wir wollen, dass die Reeder eigene Sicherheitsmaßnah-
men ergreifen, und zwar aufgrund der Erfahrungen, die
mit Atalanta gesammelt wurden. Deswegen verfolge ich
diese Diskussion mit großem Interesse.

Der entscheidende Punkt ist aber ein anderer – auf
diesen Punkt sind Sie nicht eingegangen –: Atalanta hat
eine abschreckende Wirkung. Das Atalanta-Mandat birgt
aber auch – das wurde in den vergangenen Jahren immer
wieder deutlich – zusätzliche Risiken. Es stellen sich
daher eine Menge Fragen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist interessant, Herr Kollege Stinner, dass Sie we-
der in Ihrer Frage noch in Ihrer Rede darauf eingegangen
sind, dass die anderen beteiligten internationalen Organi-
sationen wie zum Beispiel die NATO oder einzelne Na-
tionen, die auch die Piraterie bekämpfen, nicht an Land
gehen. Die NATO hat ausdrücklich gesagt: Wir wollen
die Pirateriebekämpfung auf See. Wenn Sie so felsenfest
hinter diesem Mandat stehen, wie Sie behauptet haben,
hätten Sie hier einmal erklären sollen, warum die EU
und insbesondere die Bundesregierung dazu eine voll-
kommen unterschiedliche Auffassung haben. Das ge-
hört, glaube ich, zu einer redlichen Diskussion dazu. Sie
machen aus einem Mandat, das sich in den letzten Jahren
erfolgreich entwickelt hat, etwas, das wir nicht mittragen
können.





Dr. Rolf Mützenich


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das habe ich Ihnen jetzt deutlich gemacht. Wir werden
Ihnen das auch in den Ausschussberatungen noch einmal
vor Augen führen.

In der Tat, Kollege Stinner, Sie haben die Bundesre-
gierung aufgefordert – das unterstütze ich –, mehr in den
anderen Bereichen zu tun; das würde die Operation
Atalanta noch erfolgreicher machen. Sie haben darauf
hingewiesen, dass zwar auf der einen Seite die Zahl der
Piraterieangriffe zurückgegangen ist, aber auf der ande-
ren Seite die Höhe der Lösegeldzahlungen, die für ent-
führte Schiffe geleistet worden sind, angestiegen ist. Nur
ganz wenig von diesem Geld ist nach Somalia geflossen;
es geht an die Hintermänner. Ich bin Ihnen dankbar, dass
Sie die Bundesregierung auffordern – Sie können in die-
ser Hinsicht viel mehr erreichen als die Opposition –,
hier mehr zu tun.


(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ich setze mich jetzt! Das war nicht meine Frage!)


Es ist ein Versäumnis der Bundesregierung, dass in den
letzten Jahren zu wenig im regionalen Umfeld und ins-
besondere bei der Bekämpfung der Kriminalität getan
wurde.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Noch etwas kann ich Ihnen, meine Damen und Herren
von der Bundesregierung, nicht ersparen. Sie haben über
die Obleutegespräche berichtet. In den Telefonaten, die
die Obleute geführt haben, wurden von uns bezüglich
der Entwicklung des Mandates sehr kritische Fragen ge-
stellt.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Von uns auch!)


Ich kann mich daran erinnern, dass einzelne Kollegen
nach den Grenzen dieses Mandats in Somalia gefragt ha-
ben. Darauf wurde vonseiten der Bundesregierung ge-
antwortet: Das können wir nicht sagen, weil es der Ge-
heimhaltung unterliegt. – Das hatten wir zu dem
Zeitpunkt akzeptiert. Wir akzeptieren aber nicht, dass
Sie ausgewählte Medien hier in Deutschland noch vor
dem Parlament darüber informieren, dass es eine 2-Kilo-
meter-Zone an der Küste geben soll, in der die Bekämp-
fung erfolgen kann. Dieses Vorgehen stellt eine Missach-
tung des Parlaments dar; dieser Umgang mit dem
Mandat ist so nicht in Ordnung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Trotz zahlreicher Bedenken auch in Ihren Reihen
– diese wurden in Ihrer Rede deutlich – hatten Sie nicht
den Mut, den Strategiewechsel zu verhindern. Versäum-
nisse und Fehler haben Ihnen die Souveränität und die
Bewegungsfreiheit genommen. Sie haben den Kompro-
miss einer berechenbaren und angemessenen Außen-
und Sicherheitspolitik leichtfertig über Bord geworfen.
Mit dieser Situation werden Sie leben müssen, wenn in
der nächsten Sitzungswoche über die Verlängerung des
Mandats abgestimmt wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717518100

Das Wort für die Bundesregierung hat Dr. Thomas de

Maizière.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Mützenich hat daran erinnert: Vor fünf Monaten
haben wir gemeinsam über das Mandat zur Operation
Atalanta beraten. Wir haben es gemeinsam erarbeitet,
darüber entschieden und es verantwortet. Auch jetzt geht
es wieder darum, ein Stück Verantwortung zu über-
nehmen. Ich begründe den Antrag heute – Sie haben
darauf hingewiesen – auch im Namen meines Kollegen
Westerwelle, der im Ausland ist. Er wird in der zweiten
und dritten Lesung sprechen. Das ist, glaube ich, in
Ordnung.

Wir wollten unseren Beitrag dazu leisten, die Schiffe
der Welthungerhilfe sicher nach Somalia zu bringen. Das
ist gelungen. Wir wollten dazu beitragen, dass der für die
zivile Seefahrt wichtige Golf von Aden sicher bleibt.
Davon ist vieles gelungen. Wir waren davon überzeugt,
dass das Mandat unserer internationalen Verantwortung
entspricht, und wir sind es auch für die Zukunft.

Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben
ihren Auftrag für uns hervorragend erfüllt und zum gro-
ßen Erfolg der Mission beigetragen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieser Erfolg war nur möglich, weil wir von Zeit zu Zeit
die Mittel und den Umfang des Einsatzes angepasst ha-
ben. Das ist, ehrlich gesagt, das Normalste von der Welt.
Wir haben das auch letzten Sommer getan; Herr Stinner
hat darauf hingewiesen. Wir haben das Mandat robuster
gemacht, was Zustimmung gefunden hatte. Auch das
hatte Erfolg. Dabei ist es übrigens nie zu einer Eskala-
tion gekommen, wie manche prophezeit hatten. Das
Vorgehen war geeignet und verhältnismäßig. Es ist auch
immer so gehandhabt worden.

Diesem Anspruch wollen wir auch jetzt Rechnung
tragen, wenn es um die Einbeziehung der Küstenstreifen
geht. Es handelt sich um eine kleine Ausweitung, eine
kleine sinnvolle zusätzliche militärische Option – so
habe ich es in Brüssel bezeichnet –, um die Nachhaltig-
keit des Einsatzes unserer Streitkräfte zu erhöhen. Ich
sage Ihnen: Eine Option mehr ist besser als eine Option
weniger. So einfach ist das.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Interessanterweise sehen das alle Mitgliedstaaten der
Europäischen Union genauso, egal wie sie regiert wer-
den; sonst wäre es nämlich nicht zu einem solchen Rats-
beschluss gekommen. Von daher muss sich jeder hier im





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)


Hause überlegen, ob er klüger ist als 26 oder 27 Regie-
rungen in Europa.


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Die nehmen aber doch gar nicht alle teil! – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Interessant! Auf das Argument kommen wir noch zurück! Ich sage nur: Finanztransaktionsteuer! – Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daran werden wir Sie bei Gelegenheit erinnern!)


– Okay. Sie können auf dieses Argument gerne zurück-
kommen. Da Sie jetzt wahrscheinlich auf die Finanz-
krise anspielen, will ich es etwas anders sagen: Herr
Mützenich, wenn wir uns so verhalten wie die anderen
27 Staaten,


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Fünf Staaten!)


dann können Sie nicht sagen, wir würden den Konsens
brechen. Vielmehr müssen Sie sich dann überlegen, wer
den Konsens bricht, falls Sie das tun wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wahr ist: Wir sollten nicht davon reden, dass es hier
eine neue Qualität und Intensität gibt.


(Abg. Dr. Hans-Peter Bartels [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Ob man ein Schiff auf dem Wasser, am Ufer oder am
Strand bekämpft, ist qualitativ das Gleiche; da sehe ich
keinen großen Unterschied.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717518200

Herr Minister de Maizière?

Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:

Sofort. Ich lasse die Frage gleich gerne zu. – Das ist
kein Luft-Boden-Krieg, und das ist kein Spiel mit dem
Feuer, wie einige gesagt haben. Auch dazu würde ich
gerne noch einen Satz sagen: Der Einsatz von Soldaten
ist nie ein Spiel mit dem Feuer; dafür ist dieses Thema
zu ernst.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Jan van Aken [DIE LINKE]: Doch! Immer! – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Immer!)


– Nein. Das ist aber sehr interessant. Wenn Sie den Ein-
satz von Soldaten als „Spiel“ bezeichnen, dann sollten
Sie darüber wirklich noch einmal nachdenken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jan van Aken [DIE LINKE]: Es geht um das Feuer!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717518300

Herr Kollege Bartels, bitte schön.


Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1717518400

Herr Minister, hat denn die Bundesregierung in den

europäischen Verhandlungen über den neuen Opera-

tionsplan bzw. die neuen Möglichkeiten im Rahmen des
Atalanta-Mandats die Haltung eingenommen, dass auch
am Strand gewirkt werden soll, oder welche Haltung hat
die Bundesregierung in den europäischen Verhandlun-
gen eingenommen?

Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:

Es war in den europäischen Verhandlungen so, dass
dieser Vorschlag von anderen gemacht worden ist. Wir
hatten durchaus das eine oder andere Bedenken; das ha-
ben wir auch öffentlich gemacht. Wir haben diese Be-
denken so durchgesetzt, dass sie jetzt Gegenstand des
Mandates sind. Dann haben wir dem zugestimmt. Das
war der Gang der Verhandlungen.

Ich will auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel und
auf die Gefahren eingehen. Einige sagen: Es besteht die
Gefahr von Kollateralschäden


(Zuruf von der LINKEN)


– Einen Moment! Hören Sie erst einmal zu, bevor Sie et-
was sagen. Ich setze mich ja gerade mit dem Argument
auseinander.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Es geht um die Begriffe!)


Wenn Sie sagen, dass beim Wirken am Strand ein ho-
hes Risiko von Kollateralschäden besteht, dann sage ich
Ihnen: Es gibt auch ein hohes Risiko von Kollateralschä-
den beim Wirken auf See.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Genau!)


Deswegen können Sie ganz gegen den Einsatz sein.
Aber dass es eine zusätzliche Gefahr gibt, weil wir Infra-
struktur am Strand bekämpfen, ist so nicht richtig. Auch
beim Wirken auf See wissen wir beispielsweise nicht, ob
sich Unschuldige auf einem Boot aufhalten oder nicht.
Die Soldaten sind allerdings sehr verantwortlich mit die-
ser Situation umgegangen. Genau das werden sie auch
beim Wirken am Strand tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Mützenich, ich will gerne zu Ihrem Vorwurf, wir
hätten mit den Medien gespielt, Stellung nehmen. Das ist
falsch. Es war die Bundesregierung, die in den europäi-
schen Verhandlungen gesagt hat: Ihr könnt gerne etwas
in die Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages
geben. Aber es dauert keine fünf Minuten, bis von ir-
gendwelchen klugen Leuten in Brüssel in Hintergrund-
gesprächen die Zahl 2 000 ins Gespräch gebracht wird. –
Daher war unsere Position: Lasst es uns selber offenle-
gen. – Genau so ist es gekommen, und genau so haben
wir es vertreten. Die Formulierung lautet übrigens „bis
zu 2 000 Meter“ und nicht „2 000 Meter“.

Ich möchte gerne meine Hoffnung zum Ausdruck
bringen, dass wir die Kraft haben, gerade bei diesem
Mandat wieder einen Konsens zu erzielen. Obwohl ich
weiß, dass dies auch bei uns ein bisschen umstritten ist,
sage ich: Eine Enthaltung ist besser als eine Ablehnung.
Aber eine Zustimmung ist das Beste, auch für die Solda-
ten. Darum bitte ich Sie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717518500

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-

lege Jan van Aken.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717518600

Herr de Maizière, ich möchte zunächst auf drei

Punkte eingehen, zu denen Sie hier schlichtweg etwas
Falsches gesagt haben:

Erstens. Es gab hier noch nie einen Konsens über die
militärische Bekämpfung von Piraterie. Die Linke hat
das Mandat von Anfang an abgelehnt. Es war von An-
fang an falsch und wird jetzt noch falscher.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens. Zu dem, was Sie über Kollateralschäden
gesagt haben: Herr de Maizière, erinnern Sie sich an
Kunduz? Spätestens seit Kunduz wissen wir alle in
Deutschland, dass Sie in dem Moment, in dem Sie aus
der Luft Ziele an Land bombardieren, immer auch die
Zivilbevölkerung gefährden. Genau das wird natürlich
auch in Somalia passieren, wenn jetzt deutsche Soldaten
aus deutschen Hubschraubern Ziele an Land bombardie-
ren dürfen. Natürlich können sie von oben nicht erken-
nen, ob Menschen in der Nähe sind und wo sie sich viel-
leicht befinden. Sie können nicht erkennen, ob die Boote
dort unten vielleicht Fischerboote von harmlosen Fi-
schern sind. Das kann man nicht ausschließen. Sie als
Militär wissen – das gilt für alle Ihre Militärs –:


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Der Herr Minister ist kein Militär!)


Wenn Sie aus der Luft schießen, dann gibt es immer
auch Tote und Verletzte unter der Zivilbevölkerung.

Drittens. Herr de Maizière, Sie haben jetzt wieder ge-
sagt, das sei „eine kleine sinnvolle zusätzliche militäri-
sche Option“. Ich finde es nicht klein, wenn man einen
Krieg an Land trägt, und sinnvoll ist das schon gar nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Was Sie mit dem neuen Mandat vorhaben, ist nichts an-
deres als eine Kriegserklärung an die somalische Küs-
tenbevölkerung.


(Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ CSU]: Lieber Gott! – Zurufe von der FDP: Oh!)


Genau so werden das die Menschen in der Küstenregion
in Somalia empfinden. Sie werden sich in ihrer Bewe-
gungsfreiheit eingeschränkt fühlen. Was glauben Sie
denn, wie die somalische Bevölkerung auf ein solches
Bombardement ihrer Umgebung reagieren wird?


(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Bombardement? Herr van Aken, es gibt dort keine Bomben! Es gibt keine Bombardierung!)


Ich darf noch einen vierten Fehler berichtigen, der
von allen Seiten gemacht wurde, auch vonseiten der
SPD: Die Operation Atalanta, diese militärische Be-
kämpfung von Piraterie, war überhaupt nicht erfolgreich.

Sie alle kennen die Zahlen des Internationalen Mariti-
men Büros. Anhand dieser Zahlen sehen Sie, dass die
Zahl der Angriffe der Piraten Jahr für Jahr, seit diese
Operation läuft, kontinuierlich zugenommen hat. Das
heißt, Ihre militärische Bekämpfung ist durchweg ge-
scheitert, und Sie wissen das.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/ CSU]: So eine unsägliche Rede!)


Am meisten beunruhigt mich: Anstatt diesen Einsatz,
der von Anfang an falsch war, jetzt endlich zu beenden,
tun Sie genau das Gegenteil. Jedes Jahr erweitern Sie
diesen Einsatz und sein Operationsgebiet. Dieses Jahr
kommen Angriffe an Land dazu. Ehrlich gesagt fürchte
ich mich schon davor, was Sie uns in einem Jahr wieder
Neues vorschlagen.


(Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ CSU]: Was schlagen Sie denn vor? – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Herr van Aken, was schlagen Sie denn vor?)


Eines möchte ich noch zur rechtlichen Situation sa-
gen, weil Herr Stinner gesagt hat, es gebe jahrtausen-
dealtes Gewohnheitsrecht auf See. Herr Stinner, wir hal-
ten uns jetzt einmal an das Seerechtsübereinkommen.
Danach dürfen Sie Piratenschiffe tatsächlich aufbringen.
Sie dürfen auch das Material von Piratenschiffen be-
schlagnahmen, Sie dürfen es aber nicht zerstören. Schon
heute werden im Rahmen der Operation Atalanta Boote
zerstört, obwohl eine unmittelbare Gefahrenlage gar
nicht vorliegt und es keine Notwehrsituation gibt. Das ist
im Seerechtsübereinkommen nicht vorgesehen.

Wenn Sie jetzt auch noch aus der Luft irgendwelche
Tanklager beschießen, dann ist das keine Beschlag-
nahme nach dem Seerechtsübereinkommen. Das ist eine
illegale Zerstörung und nicht juristisch gedeckt, Herr
Stinner. Das wissen auch Sie ganz genau.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Günter Gloser [SPD]: Die neue Piratenpartei!)


Zur Erinnerung: Piraterie ist organisierte Kriminalität.
Sie muss bekämpft werden, aber militärisch können Sie
Kriminalität nicht bekämpfen. Das wissen wir alle aus
den Erfahrungen der letzten vier Jahre.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wie können wir sie denn bekämpfen?)


Die Ursache der Piraterie ist uns allen bekannt. Sie
liegt natürlich in dem 20-jährigen Bürgerkrieg in Soma-
lia, in Rechtlosigkeit, in Armut und in Hunger. Herr
Stinner, sie liegt auch darin, dass europäische Fischfang-
flotten jahrelang vor Ort die Fischgründe leergefischt
und viele Menschen in die Arme der Piraten getrieben
haben.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das hat der Herr Stinner doch entkräftet!)


Weil die Situation so ist, lässt sie sich doch nur poli-
tisch lösen. Herr de Maizière, Ihr Kollege Westerwelle
sagt übrigens seit vier Jahren: Das muss politisch gelöst
werden. Das Problem ist doch, dass Sie seit vier Jahren





Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)


nichts, aber auch gar nichts für eine politische Lösung
tun.


(Joachim Spatz [FDP]: Das ist doch falsch!)


Kommen Sie mir jetzt nicht mit Ihrem umfassenden
Lösungsansatz für Somalia, von dem ich hier im Bun-
destag seit zweieinhalb Jahren höre. Das Einzige, was an
Ihrem Ansatz für Somalia umfassend ist, ist der militäri-
sche Einsatz. Sie bilden somalische Soldaten aus, Sie fi-
nanzieren eine internationale Truppe in Somalia mit sehr
viel Geld, und jetzt rüsten Sie die Operation Atalanta
auch noch für einen immer offensiveren Kriegseinsatz
aus.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist so unsäglich!)


Das ist der einzige umfassende Ansatz, den Sie in Soma-
lia haben.

Allein für die Pirateriebekämpfung wollen Sie jetzt
100 Millionen Euro ausgeben. Ich sage Ihnen: Diese
100 Millionen Euro wären viel besser in die Unterstüt-
zung der lokalen Wirtschaft in Somalia und in einen ver-
nünftigen innersomalischen Friedensdialog investiert;


(Beifall bei der LINKEN)


denn das ist der einzige Weg, mit dem Sie das Töten in
Somalia beenden können und mit dem Sie auch das Pira-
terieproblem lösen können.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte, nicht in die Re-
gion am Horn von Afrika und auch nirgendwo anders
hin.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717518700

Das Wort hat jetzt der Kollege Omid Nouripour von

Bündnis 90/Die Grünen.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717518800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden

nun innerhalb eines halben Jahres das zweite Mal über
die Atalanta-Mission. Die Atalanta-Mission, über die
wir im November eigentlich alles Notwendige gesagt
hatten, ist erfolgreich gewesen und ist es bis heute. Die
Piraten sind zurückgedrängt worden. Kollege van Aken,
Sie sollten vielleicht auch die Zahl der nicht erfolgrei-
chen Angriffe erwähnen. Das haben Sie einfach wegge-
lassen. Die Schiffe des World Food Programme wurden
geschützt. 1 Million Menschen sind auf diese Lebens-
mittel angewiesen. Es gehört zur Redlichkeit dazu, auch
das zu erwähnen.


(Beifall des Abg. Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU])


Auch das Leben der Seeleute ist unterm Strich ein wenig
sicherer geworden.

Diese Mission hat deshalb breite Unterstützung in
diesem Hohen Hause gefunden, weil das bisher eigent-
lich eine gute Mission war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Bundesregierung aber macht aus einem guten Man-
dat ein schlechtes. So und nicht anders wird der Konsens
in diesem Hohen Hause aufgekündigt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Übrigen ist das nicht das erste Mal. Bei der Opera-
tion Active Endeavour war das genauso – Sie erinnern
sich –: Dabei stand zur Abstimmung, dass die weltbe-
rühmten Untersee-Ausbildungslager der Terroristen von
deutschen U-Booten zerstört werden sollten. Es ist nicht
das erste Mal, dass Sie ein Mandat so versemmeln, dass
es nicht mehr möglich ist, ihm zuzustimmen.

Herr Altmaier hat neulich gesagt, es sei doch gute
Tradition, dass es für solche Missionen eine breite Mehr-
heit gebe. Es ist wünschenswert – das höre ich auch von
den Soldaten –, dass Missionen eine breite Unterstüt-
zung finden. Aber es gibt eine wichtigere gute Tradition,
nämlich ganz genau hinzuschauen, was in einem Man-
datstext steht und ob dieses Mandat tragbar ist, ob es um
eine Anpassung geht oder ob es am Ende doch ein mili-
tärisches Abenteuer ist, was da beschlossen werden soll.
Das werden wir von Mal zu Mal und bei jeder Mission
tun. In diesem Fall kann ich nur sagen: Das Beste für die
Soldatinnen und Soldaten ist es, wenn wir diesem Man-
dat nicht zustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich komme zur Terminologie. Zuerst hieß es, der Ak-
tionsradius der Mission solle auf den Strand ausgeweitet
werden. Dann sollte dieser Begriff präzisiert werden.
Jetzt geht es um 2 Kilometer. Das lässt für die Wirt-
schaftsperspektive im Fremdenverkehr hoffen. Aber lei-
der ist das gar nicht so lustig, weil diese Grenze absolut
willkürlich gesetzt ist.

Es heißt, es gebe Aufklärung aus der Luft. Ich habe
jetzt gelesen, dass ein Staatssekretär gesagt hat, es gehe
darum, „Schiffchen“ am Strand unschädlich zu machen,
die unmittelbar vor einem Einsatz stehen. Wenn sie un-
mittelbar vor einem Einsatz stehen, aber kein Mensch in
der Nähe sein soll, dann verstehe ich nicht, wie das ge-
hen soll.

Der Herr Außenminister hat letzte Woche gesagt, es
sei doch nicht sinnvoll, zwar die Waffen auf hoher See,
aber die nicht am Strand bzw. an Land zu zerstören. Ich
weiß nicht, was für eine Vorstellung er von diesen Waf-
fen hat. Wir reden hier nicht über schweres Geschütz
oder über Artillerie. Es geht um leichte Waffen. Glauben
Sie im Ernst, die Piraten türmen ihre Maschinengewehre
an Land haushoch auf, gehen dann abends nach Hause
und lassen ihre Waffen liegen, sodass man sie über
Nacht zerstören kann? Das, was Sie hier erzählen, macht
doch überhaupt keinen Sinn. Es ist aus unserer Sicht zu-





Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)


dem nicht möglich, aus der Luft so zuverlässig aufzuklä-
ren, dass es tatsächlich keine zivilen Opfer gibt.

Es ist aber auch hochdramatisch, zu lesen, dass jetzt
Hubschrauber bis zu 2 Kilometer in das Landesinnere
mit Waffen eindringen, die einen deutlich kleineren Ra-
dius haben.


(Elke Hoff [FDP]: Laut Herrn van Aken mit Bomben! – Gegenruf des Abg. Jan van Aken [DIE LINKE]: Haben Sie das ausgeschlossen?)


Es ist nicht ganz klar, wie der Schutz der Soldaten an
Bord dieser Hubschrauber tatsächlich gewährleistet wer-
den soll. Es ist auch noch immer nicht ganz klar, wie die
Schadensanalyse aussehen soll. Weil wir eben nicht an
Land sind, ist es durchaus möglich, dass die Piraten, die
auch aufmerksam Zeitung lesen, behaupten, es habe zi-
vile Opfer gegeben. Ich sehe nicht, wie es, ohne an Land
zu sein, möglich sein soll, dem gegenzuhalten.

Sie riskieren die moralische Akzeptanz einer guten
Mission mit einer Komponente, die von vorne bis hinten
nicht durchdacht ist, und verspielen nebenbei auch noch
die Möglichkeit, über Somalia zu reden: über die regio-
nalen politischen Ansätze, die überfällig sind, über die
Raubfischerei, die natürlich keine Legitimation dafür ist,
dass Menschen zu Verbrechern werden, die aber zu ei-
nem ernsthaften Problem an Land führt, über die Gift-
müllverklappung und über die Milizen und wie wir mit
ihnen umgehen sollen.

Das Problem ist: Sie wissen es eigentlich selbst bes-
ser, aber die Bundesrepublik Deutschland hat nicht das
Gewicht und den Gestaltungsspielraum, bei der Mis-
sionserweiterung, die Sie selbst für falsch erachten, in
Brüssel zu sagen: Nein, da machen wir nicht mit.

Das ist das Dramatische an dieser Debatte. Dafür
müssen Sie selbst aufkommen. Sie müssen die Konse-
quenzen selber tragen. Dafür brauchen Sie unsere Stim-
men nicht, und dafür werden Sie unsere Stimmen auch
nicht bekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das ist wirklich traurig!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717518900

Das Wort hat jetzt der Innenminister des Landes Nie-

dersachsen, Uwe Schünemann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717519000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren Abgeordnete! Die Bekämpfung der Seepiraterie ist
eine nationale Aufgabe. Deutschland ist hierbei in ganz
besonderer Weise gefordert. Denn laut Bericht der Bun-
despolizei aus dem Jahr 2011 waren deutsche Reede-
reien neben denen aus Singapur am häufigsten von See-
räuberattacken betroffen.

Warum habe ich mich als niedersächsischer Innen-
minister zu Wort gemeldet?


(Christoph Strässer [SPD]: Das ist eine gute Frage! – Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Das fragen wir uns auch!)


Erstens ist Niedersachsen der zweitgrößte maritime
Standort mit 160 Reedereien, die in der Vergangenheit
häufig Opfer von Entführungen und Angriffen waren.

Dadurch, dass Niedersachsen Reedereistandort ist,
haben wir zweitens eine landespolizeiliche Zuständig-
keit. Mitarbeiter des Landeskriminalamtes waren vor
Ort. Ich habe mir anschließend berichten lassen, was
dort tatsächlich passiert. Dabei ist mir völlig klar gewor-
den: Es geht nicht nur um wirtschaftliche Interessen,
sondern auch um das Risiko für Leib und Leben.

Es ist wahr, dass in der Regel keine deutschen Besat-
zungen betroffen sind, aber das sollte uns in dieser Frage
nicht kümmern. Es geht darum, dass tatsächlich jeder zu
jeder Zeit damit rechnen muss, dass er entführt, verletzt
oder sogar getötet wird. Wenn man entführt wird, kommt
es zu Scheinhinrichtungen, Erpressung und vielem ande-
ren mehr.

Deshalb ist es notwendig, dass wir alles daransetzen,
die Seepiraterie zu bekämpfen. 140 Millionen Dollar
Lösegeld wurden im Jahr 2011 gefordert. Insofern ist
klar: Wenn es so lukrativ ist, dann geht es nicht nur um
organisierte Kriminalität, sondern wir müssen befürch-
ten, dass sich auch islamistische Terroristen dafür inte-
ressieren. Wir müssen auf jeden Fall alles daransetzen,
dass nicht mit Lösegeld von deutschen Reedereien so-
gar noch islamistischer Terrorismus finanziert wird.
Deshalb ist es eine entscheidende Frage, dass Sie im
Parlament geschlossen reagieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Worum geht es? Es geht darum, eine Resolution der
Vereinten Nationen umzusetzen.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ach!)


Denn die Antipiraterieresolution der Vereinten Nationen
sagt durchaus, dass die Piraterie an Land bekämpft wer-
den sollte.

Gespräche mit den Reedereien, und zwar nicht nur in
Niedersachsen, sondern auch in Hamburg, Herr
Dr. Stinner, haben dazu geführt, dass dies auch partei-
übergreifend gewünscht wird. Auch mein Kollege in
Hamburg, Senator Neumann, hat ein robustes Mandat an
Land gefordert. Ich kann mir vorstellen, dass auch er
beim nächsten Mal an dieser Stelle steht und die SPD-
Fraktion aufklärt, was es bedeutet, sich der Stimme zu
enthalten oder vielleicht sogar dagegen zu stimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es ist nicht Ihres Amtes, von der Bundesratsbank so zu argumentieren!)


– Aber ich glaube, dass es, weil die Interessen der Ree-
dereien in Niedersachsen und Hamburg betroffen sind,





Minister Uwe Schünemann (Niedersachsen)



(A) (C)



(D)(B)


sinnvoll ist, daran zu erinnern, dass dies eine nationale
Aufgabe ist und dass wir uns wünschen, dass die deut-
sche Marine ein breites Mandat hat.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Des Bundesrates! Aber nicht, wie einzelne Fraktionen dieses Hauses abstimmen!)


Das ist auch in unserem Interesse.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb bin ich froh, dass es bisher eine breite Zustim-
mung zur Operation Atalanta gibt.

Lassen Sie mich daran erinnern, dass es ein ganzheit-
liches Konzept geben muss. Es ist wahr: Die Reeder
müssen einen Selbstschutz organisieren. Ich bin froh,
dass es bei der Bundespolizei ein Präventionszentrum
gibt. Genauso notwendig ist es, dass wir die Möglichkeit
eröffnen, private Sicherheitsdienste zur Verfügung zu
stellen. Ich darf daran erinnern, dass der Bundesrat erst
kürzlich eine entsprechende Vorlage verabschiedet hat
und hofft, dass die Bundesregierung und dieses Parla-
ment so schnell wie möglich einen gesetzlichen Rahmen
dafür schaffen; denn wenn private Sicherheitsdienste
eingesetzt werden, ist ein besonderer Standard wichtig.
Ich würde mich freuen, wenn hier so schnell wie mög-
lich die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen ge-
schaffen würden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717519100

Herr Kollege Schünemann, einen Moment bitte. Der

Kollege Behrens von der Fraktion Die Linke möchte
gerne eine Zwischenfrage stellen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717519200

Sehr gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717519300

Bitte schön.


Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717519400

Herr Minister Schünemann, Sie haben ein Gespräch

mit Reedern in Hamburg erwähnt. Natürlich reden auch
wir als Verkehrspolitiker in Berlin mit Reedern. Sie ha-
ben gesagt, die Reeder forderten ein robustes Mandat.
Haben denn die Reeder auch den Waffeneinsatz an Land
gefordert? Forderungen in diese Richtung sind in Ge-
sprächen mit Reedern – das letzte fand vor zwei Tagen in
der hamburgischen Landesvertretung statt – zumindest
an mich nicht herangetragen worden. Die Reeder wollen
eher das Gegenteil. Sie wollen Sicherheit und keinen
Krieg an Land.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717519500

Die Reeder wollen Sicherheit und deshalb ein ganz-

heitliches Konzept. Von den Reedern weiß ich, welche
Bedeutung die Bewaffnung der Piraten für die Behand-
lung einer entführten Besatzung hat.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Frage!)


Es geht hier nicht um Maschinengewehre, sondern zum
Beispiel auch um Panzerfäuste. Vor diesem Hintergrund
sind gerade die Reeder daran interessiert, dass die See-
streitkräfte und insbesondere die deutsche Marine in die
Lage versetzt werden, die Piraterie nicht nur auf See,
sondern auch auf Land zurückzudrängen, wenn notwen-
dig, innerhalb eines Streifens von bis zu 2 Kilometern
landeinwärts. Die Besatzungen und auch die Reeder sind
froh, wenn sie nicht mehr den Gefahren der Piraterie
ausgesetzt sind. Da können Sie ganz sicher sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Abschließend müssen wir feststellen, dass der Kampf
gegen die Seepiraterie wirtschaftliche, aber auch huma-
nitäre Interessen und Sicherheitsinteressen beinhaltet. Es
geht hier um organisierte Kriminalität. Ich will hoffen,
dass es in Zukunft nicht auch noch um islamistischen
Extremismus und Terrorismus geht. Wir wünschen uns
jedenfalls hier breite Mehrheiten und robuste Mandate,
sodass die deutsche Marine wirken kann.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Das war außerordentlich kontraproduktiv!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717519600

Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege

Rainer Arnold.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1717519700

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es

ist schon wahr: Atalanta zeigt Wirkung. Atalanta hat
aber auch Schwächen. Für die Wirkung sagen wir den
Soldaten Dankeschön, die eine wirklich gute Arbeit leis-
ten. An der Beseitigung der Schwächen sollte die Bun-
desregierung allerdings arbeiten. Dazu gehören die Kon-
trolle der Finanzströme


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und das Festsetzen der Hintermänner der Piraten; diese
sitzen nicht am Strand.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, mit Wasserpfeife!)


Zudem müssen Atalanta und die Staatengemeinschaft
glaubwürdig sein. Die Glaubwürdigkeit wird unterlau-
fen, wenn auf frischer Tat ertappte Piraten nicht etwa als
Kriminelle hinter Schloss und Riegel kommen, sondern
am Strand wieder freigesetzt werden. Wo ist der deut-
sche Außenminister, der in New York dafür sorgt, dass
es ein internationales Strafgericht zur Behandlung von
Piraten gibt?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Verteidigungsminister sagt zu Recht: Die Ände-
rung des Mandats muss geeignet sein und Wirkung ha-
ben. Dazu gehört aber noch etwas anderes. Es muss ab-
gewogen werden, ob die Chancen einer Mandats-
änderung in Bezug auf die Risiken verantwortbar sind.





Rainer Arnold


(A) (C)



(D)(B)


Herr Minister, hier gibt es eigentlich nur zwei Szenarien,
über die wir reden müssen. Das erste Szenario ist positiv.
Das bedeutet, dass Atalanta am Strand wirkungslos
bleibt. Warum? Weil Piraten lernfähig sind. Sie werden
ihre Utensilien auf einen Lastwagen verfrachten, um sie
2,5 Kilometer landeinwärts zu bringen. Das ist über-
haupt kein Problem und kostet nicht viel. Noch schlim-
mer ist es, wenn sie sie in urbanes Gelände bringen und
sie von der Luft aus nicht mehr erkannt werden können.
Am schlimmsten ist es, wenn sie sich in ihrem Piraten-
camp mit menschlichen Schutzschilden umgeben.


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Zum Beispiel mit Geiseln!)


Auch dann ist die Mission wirkungslos.

Die negativen Szenarien sind aber ganz anders, Herr
Minister. Es stimmt einfach nicht, dass die Risiken am
Strand und auf See gleich sind. Auch Herr Schockenhoff
aus Ihrer Fraktion hat das fälschlicherweise behauptet.
Auf See wird kein Schiff nur aufgrund von Luftaufnah-
men beschossen; vielmehr wird ein Schiff auf See, das
man der Piraterie verdächtigt, aufgefordert, zu stoppen,
es wird geboardet und untersucht. An Land ist es anders.
Jeder weiß, dass der Einsatz von militärischer Gewalt,
wenn er nur auf Informationen beruht, die durch Luftbe-
obachtung gewonnen worden sind, immer das Risiko in
sich trägt, aufgrund einer falschen Entscheidung getrof-
fen worden zu sein. Wer die Bilder der Piratencamps
sieht, stellt ganz schnell fest, dass sie nicht anders ausse-
hen als die Lager, in denen die Fischer ihre kleinen
Boote und Außenbordmotoren lagern. Deshalb ist das
gefährlich. Wenn es Kollateralschäden gibt und unschul-
dige Menschen ums Leben kommen, wird die Mandatie-
rung des an sich richtigen Einsatzes Atalanta gefährdet
und delegitimiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Bilder von getöteten Zivilisten um die Welt gehen,
dann haben wir alle miteinander ein Problem. Dieses Ri-
siko gehen Sie ein.

Herr Schockenhoff sagt, das Risiko für die Hub-
schrauber sei auf See genauso groß. Das ist nun wirklich
Unfug. Kein Pirat wird mit einer Handfeuerwaffe einen
Hubschrauber auf See beschießen, wenn er weiß, dass in
der Nähe eine Fregatte ist und er überhaupt keine
Chance hat. Es gibt auf See auch nicht wie an Land ei-
nen Busch, hinter dem er sich gegebenenfalls verstecken
kann. Nein, das Risiko für die Hubschrauber ist über
Land größer. Wir setzen die Soldaten Gefährdungen aus.
Wir haben auch gar nicht sauber geklärt, wie wir für ih-
ren Schutz sorgen können und was passiert, wenn tat-
sächlich ein Konflikt entsteht. Was ich damit sagen will:
Diese Landkomponente birgt das Risiko einer weiteren
Eskalationsstufe, die im Kampf gegen Schwerkriminelle
nicht akzeptabel ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nun wissen wir, Herr Minister, dass Sie in Brüssel
sperrig waren. Sie selbst haben einmal in einem Inter-

view gesagt, Sie seien skeptisch. Ich glaube, Sie haben
recht mit Ihrer Skepsis. Ich habe einfach den Eindruck,
dass Ihre Zustimmung in Brüssel und das heutige Man-
dat etwas mit alten Fehlern zu tun haben. Sie müssen et-
was wiedergutmachen, was Sie in der internationalen
Politik verbockt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Weil Sie zu dem richtigen und notwendigen Mandat der
Vereinten Nationen zu Libyen Nein gesagt haben,


(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Da hätten Sie Ja gesagt?)


wollen Sie jetzt bei Atalanta keinen Konflikt mit den eu-
ropäischen Partnern. Ich muss Ihnen klar sagen: Diesen
Scherbenhaufen, den Sie in der Außenpolitik hinterlas-
sen haben, müssen Sie schon selbst zusammenkehren.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Herr Arnold, das glauben Sie doch alles selber nicht!)


Sie müssen die Verantwortung und die Risiken für Ata-
lanta selbst tragen. Wenn Sie gewollt hätten, dass Sozial-
demokraten diesem Mandat insgesamt wieder eine breite
politische Rückendeckung verschaffen, dann hätten Sie
die Mandatserweiterung, die falsch ist und der wir nicht
zustimmen werden, nie und nimmer mit dem alten Auf-
trag von Atalanta verbinden dürfen. Es gibt die gute Tra-
dition, dass eine Mandatserweiterung während eines
Mandatsjahres getrennt zur Abstimmung gestellt wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dann hätten wir klar Nein zu dieser Erweiterung und
ebenso klar Ja zum Kampf gegen Piraterie auf See ge-
sagt, so wie bisher auch. Dies würden wir gerne tun, aber
diese Möglichkeit nehmen Sie uns. Deshalb haben Sie
auch die breite parlamentarische Unterstützung vergeigt.
Das finden wir eigentlich schade.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717519800

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt das Wort der Kollege Philipp Mißfelder von der
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1717519900

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!

Herr Arnold, wie Ihr Ja zum Libyen-Mandat im UNO-
Sicherheitsrat zu einem Nein zu Atalanta am heutigen
Tag passen soll, müssen Sie mir erklären. Die Abstrak-
tionsfähigkeit, darin eine konsistente Politik zu erken-
nen, besitze ich einfach nicht. Unser Vorwurf an Sie ist
ganz klar: Sie versuchen, sich aus dem Staub zu machen.
In Wahrheit steckt hinter Ihrem Verhalten, dass Sie nicht
nur planen, aus diesem Mandat auszusteigen, sondern
darüber hinaus auch planen, sich der Verantwortung für





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)


andere Mandate zu entledigen. Das ist etwas, was wir Ih-
nen so einfach nicht durchgehen lassen werden; das hat
nämlich mit Wahlkampf und mit nichts anderem zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der einzige Punkt, bei dem ich mich Ihnen anschlie-
ßen will, ist der Dank an unsere Soldatinnen und Solda-
ten. Ich sage ganz klar: Sie leisten dort erfolgreiche Ar-
beit. Deshalb schiebe ich auch kein Aber hinterher; es
geht nur ein ganz klarer Dank an die Soldatinnen und
Soldaten, die für uns dort einen großen Einsatz leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist in der Debatte zu Recht angesprochen worden,
dass wir hier über etwas reden, was nicht allein von
Deutschland auf den Weg gebracht worden ist. Wir ha-
ben auf europäischer Ebene gemeinsam mit unseren
Freunden und unseren Partnern in Verantwortung da-
rüber diskutiert, auch kritisch diskutiert, was für dieses
Mandat und für notwendige weitere Schritte der Weg ist,
den wir gemeinsam gehen können. Ich wette mit Ihnen:
Wenn das in einer anderen Regierungskonstellation dis-
kutiert worden wäre und ein Grüner oder ein Roter als
Außenminister die Verantwortung getragen hätte,


(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Um Gottes willen!)


dann wären auch Sie so verantwortungsbewusst gewesen
und hätten diesen Schritt mitgetragen – trotz aller be-
rechtigten kritischen Fragen. Ich weise die Fragen auch
gar nicht zurück, sondern ich sage ganz klar: Wir müssen
bei einem solchen Mandat wie bei allen Mandaten disku-
tieren. Aber mein Vorwurf an Sie heute geht dahin, dass
Sie sich in der Parteienkonstellation, in der wir uns ge-
rade befinden, vor der Verantwortung drücken. Deshalb:
Gehen Sie bitte noch einmal in sich! Überlegen Sie vom
heutigen Tage an noch einmal, ob Sie bei der abschlie-
ßenden Beratung im Deutschen Bundestag in wenigen
Tagen nicht vielleicht doch zustimmen! Diese Bitte
möchte ich dann doch an Sie richten, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Keine Hoffnung!)


Der Einsatz ist völkerrechtlich legitimiert. Er orien-
tiert sich an unserer wertegebundenen Außenpolitik,
weil wir damit auch Afrika einen Dienst erweisen. Wir
tragen zur Stabilisierung des Kontinents bei, indem wir
uns nicht nur bei diesem Mandat, sondern auch im Rah-
men der weiteren politischen Dimension dieser Diskus-
sion natürlich vor allem auch um die Ursachen dieses
Phänomens der Piraterie und nicht nur um die Bekämp-
fung der Symptome kümmern.

Zu einer interessengeleiteten Außenpolitik gehört
auch, dass man seine Interessen dort, wo sie attackiert
werden, robust verteidigt. Herr Kollege Schünemann aus
Niedersachsen hat vorhin schon Ihren Senator aus Ham-
burg, Herrn Neumann, erwähnt. Ich lese Ihnen das gern
noch einmal vor; Kollege Rehberg war so nett, das he-
rauszusuchen. Ich zitiere also wortwörtlich:

Meine Forderungen an die Bundesregierung sind
klar. Erstens muss unsere Marine vor dem Horn von
Afrika verstärkt werden – eine Fregatte reicht nicht
aus. Zweitens muss der Einsatz notfalls „robuster“
gestaltet werden, dabei müssen, wenn nötig, auch
Basislager der Piraten angegriffen werden.

So der hamburgische SPD-Innensenator Michael
Neumann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass der Senat in
Hamburg in dieser wichtigen Frage der Pirateriebekämp-
fung wesentlich verantwortungsbewusster handelt – das
soll aber mein einziges Lob für den Senat bleiben –, als
das die SPD-Bundestagsfraktion an dieser Stelle tut. Ich
glaube, dass der Weg, den Sie eingeschlagen haben, ein-
fach der falsche ist.

Wenn vitale Exportinteressen und Interessen einer
Handelsnation wie Deutschland gefährdet werden, dann
gehört es in einer erwachsenen, in einer wehrhaften De-
mokratie dazu, bereit zu sein, seine Interessen auch ro-
bust zu verteidigen. Das wird an dieser Stelle in hervor-
ragender Art und Weise getan. Wir haben – auch das ist
angesprochen worden – viele kritische Diskussionen mit
Reedern hinter uns. Ich sage ganz klar: Ich danke der
deutschen Bundeswehr und der deutschen Marine vor al-
lem dafür, dass sie sich an dieser Stelle so einbringen; es
ist eine im Kern hoheitliche Aufgabe, die Handelswege
zu sichern; das ist nicht outzusourcen. Vor diesem Hin-
tergrund ist die schwierige Abwägungsentscheidung, die
wir bei jeder militärischen Diskussion, die wir hier füh-
ren, zu treffen haben, auch in diesem Fall richtig. Wir sa-
gen, dass der Staat an dieser Stelle mehr Verantwortung
trägt als beispielsweise private Sicherheitsdienste. Wir
wollen, dass auch in Zukunft in erster Linie die Bundes-
wehr für solche Aufgaben genutzt wird, selbst wenn es
überhaupt keine leichte Mission ist, die unseren Solda-
tinnen und Soldaten dort bevorsteht.

Abschließend ein Aspekt zu der Frage, warum wir
glauben, dass es richtig ist, heute über die Einbringung
neuer Maßnahmen im Rahmen von Atalanta zu diskutie-
ren. Wir bekämpfen bisher nur die Symptome. Es hat
auch kein Redner aus der Koalition für sich in Anspruch
genommen, dass dieser Einsatz die Ursachenbekämp-
fung dauerhaft im Mittelpunkt hat. Kein Problem, das
den Kontinent Afrika oder andere Regionen betrifft,
werden wir rein militärisch lösen; die Probleme werden
wir immer nur mit einem Gesamtansatz von diplomati-
schen und entwicklungspolitischen Initiativen lösen.
Dass diese so zäh und schwierig vorangehen und die
Entwicklung Somalias eher negativ als positiv ist, was
das Phänomen der Piraterie betrifft, ist noch lange kein
Grund, deshalb bei der Symptombekämpfung aufzuge-
ben und sich aus der Verantwortung zu ziehen, sondern
man muss an dieser Stelle seine Interessen deutlich ma-
chen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Philipp Mißfelder NEN]: Das einzige Argument für die Erweiterung ist also der Hamburger Senator!)





(A) (C)


(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717520000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9339 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Hochschulen auf das Studierendenhochpla-
teau vorbereiten – Allen Studienberechtigten
die Chance auf einen Studienplatz geben

– Drucksache 17/9173 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Agnes Alpers, Dr. Rosemarie Hein, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Bologna-Prozess – Umsteuern für ein besseres
Studium und offene Hochschulen

– Drucksache 17/9197 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach der interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage-
gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Kai Gehring vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717520100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! „Die Hochschulen
brauchen langfristige Perspektiven.“ Dies hat Bildungs-
ministerin Schavan in einem Interview Mitte März im
Handelsblatt betont, und die Forderung ist richtig. Nur
muss diese Forderung auch in die Tat umgesetzt werden.
Eine Grundgesetzänderung, die Schwarz-Gelb zur Ver-
stetigung der Exzellenzinitiative plant, erfüllt diesen An-
spruch sicher nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wie sieht es mit den langfristigen Perspektiven für die
Hochschulen aus, wenn man auf die wichtigste Heraus-
forderung, den Ausbau der Studienplätze, blickt? Nimmt
man die Verhandlungsposition der Bildungsministerin
aus der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, GWK,
vor einer Woche zum Maßstab, so ist die Perspektive
ziemlich düster.

Schon Ende 2013 sind die ursprünglich bis Ende 2015
vorgesehenen Mittel für den Ausbau der Studienplätze
erschöpft. Trotzdem hat Ministerin Schavan auf der
GWK-Sitzung nur zugestanden, erst im Dezember zu
prüfen, ob und wann eine Aufstockung des laufenden
Hochschulpaktes eventuell notwendig ist. Unter „lang-
fristige Perspektiven“ schaffen verstehen wir etwas völ-
lig anders als unverbindliche Prüfaufträge.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Unverschämt!)


Ihre Regierungsrhetorik passt nicht zu Ihrer hoch-
schulpolitischen Praxis. Der laufende Hochschulpakt
2010 bis 2015 springt zu kurz. Er ist unterdimensioniert,
und er ist klar unterfinanziert;


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sprechen Sie von den Grünen?)


denn er ist nur für 335 000 Studienplätze ausgelegt. Es
ist sicherlich auch den Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP nicht entgangen, dass laut neuer
Studienanfängerprognose der Kultusministerkonferenz
vom Januar weitere zusätzliche 357 000 junge Menschen
ein Studium aufnehmen wollen. Deshalb kann man sinn-
bildlich nur sagen: Es geht nicht nur um einen kurzfristi-
gen Studierendenberg, sondern es geht ganz klar um ein
dauerhaftes, langfristiges Studierendenhochplateau, und
das ist ein erfreulicher Boom.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Wie wollen Sie, Frau Ministerin oder Herr Staats-
sekretär, eigentlich auf diese neue Prognose reagieren?


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Hervorragend!)


Wir sagen, dieser zusätzliche Boom an Studienanfängern
darf die Länder und die Hochschulen nicht überfordern.
Vielmehr muss er ganz klar genutzt werden.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Deshalb wäre es gut, wenn sich die Länder ordentlich daran beteiligen würden!)


Deshalb sind Planungs- und Finanzierungssicherheit
seitens des Bundes innerhalb des Hochschulpaktes das
A und O für einen verlässlichen Studienplatzausbau vor
Ort und damit für die Bildungschancen der jungen Gene-
ration.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)






Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)


Es wäre ein schlechtes Zeichen für potenzielle Bil-
dungsaufsteiger, wenn Zehntausende trotz Studienab-
sicht ohne Studienplatz blieben und so ihre Bildungs-
chancen blockiert würden. Dazu darf es nicht kommen.
Verschärfter Studienplatzmangel wäre angesichts des
Mangels an Fachkräften und Bildungsaufstieg unerträg-
lich. Ein Nachjustieren des Hochschulpaktes ist daher
dringend notwendig und unaufschiebbar.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ist schon angekündigt!)


Oberstes Ziel muss es sein, den Pakt zu einem wirksa-
men Instrument zu machen,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ist er schon!)


das ausreichend Studienplätze sowohl im Bachelor- als
auch im Masterbereich – dort fehlt es besonders – zur
Verfügung stellt und flächendeckend zu besseren Stu-
dien- und Lehrbedingungen führt und verlässliche Per-
spektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs und
das Personal schafft. Das wäre ein wichtiger Beitrag für
mehr Bildungschancen und – auch vor dem Hintergrund
der heutigen Bologna-Ministerkonferenz in Bukarest –
auch ein Schub für eine womöglich endlich gute Umset-
zung der Bologna-Reform in Deutschland.

Statt Prüfaufträge anzukündigen, brauchen wir eine
klare Ausfinanzierung des Paktes. Auch hier kommen
falsche Signale. Sehen Sie sich einmal Ihre Finanzpla-
nung an.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Solide!)


Die Koalition zieht 320 Millionen Euro in das Jahr 2013
vor, die eigentlich für den Hochschulpakt in den Jahren
2015 und 2016 bestimmt sind. Hier hinterlassen Sie
große Lücken. Es ist ein abenteuerliches Manöver; denn
diese Mittel fehlen später. Die Hochschulen brauchen
keine Taschenspielertricks, sondern konkrete Finanzie-
rungszusagen – dies gilt allein schon, wenn Personalent-
scheidungen zu treffen sind. Sie brauchen keine buch-
halterischen Tricks und kein Vorziehen der Mittel,
sondern Sie müssen die mittelfristige Finanzplanung
verdoppeln, damit die Mittel für den Hochschulpakt ver-
bindlich zur Verfügung stehen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Dafür sind die Länder zuständig!)


Wenn die Bundesregierung dazu nicht in der Lage ist,
sind die Regierungsfraktionen aufgefordert, hier etwas
vorzulegen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Die Länder!)


Ich erwarte, dass Frau Grütters und andere nicht mit dem
Finger auf die Länder zeigen. Die machen ihren Job.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Aber die Länder sind dafür zuständig!)


Das sieht man. 16 Finger und die Bundestagsopposition
zeigen sofort auf Sie zurück, wenn Sie sich weiter davor
drücken, Ihre hochschulpolitischen Aufgaben zu erledi-
gen und den Hochschulpakt verlässlich und zukunfts-

sicher zu machen und auszufinanzieren. Ich finde es
wichtig: Machen Sie Bildungsministerin Schavan und
Finanzminister Schäuble schleunigst klar, dass die Zu-
kunftsfähigkeit unseres Landes davon abhängt, dass kein
Talent vergeudet wird und alle Studieninteressierten ei-
nen Studienplatz finden und durch gute Studienbedin-
gungen Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsol-
venten werden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717520200

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717520300

Die schwarz-gelbe Möchtegern-Bildungsrepublik

verwaltet sonst den Fachkräftemangel, statt ihn wirksam
zu bekämpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717520400

Das Wort hat die Kollegin Monika Grütters von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Endlich jemand, der etwas von der Sache versteht!)



Monika Grütters (CDU):
Rede ID: ID1717520500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Gehring! Bereits in der vergangenen Sit-
zungswoche stand dieses Thema auf der Tagesordnung.
Nun haben Linkspartei und Grüne noch einmal nachge-
legt.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es drängt!)


Das macht die Sache aber nicht besser. Inhaltlich ist bei
beiden Anträgen keinerlei Weiterentwicklung zu erken-
nen. Die Argumente, Herr Gehring, sind oft genug aus-
getauscht worden und mittlerweile angestaubt.

Der Hochschulpakt – darin sind wir uns alle einig –
ist gerade wegen seiner Flexibilität ein erfolgreiches In-
strument und nicht, wie Sie sagen, ein abenteuerliches
Manöver.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Studierendenzahlen an den deutschen Hochschu-
len erreichen jedes Jahr neue Rekordhöhen, und die Ko-
operation zwischen Bund und Ländern funktioniert hier
– anders als immer behauptet wird – einigermaßen zu-
friedenstellend, bis auf die Leistung, die die Länder nicht
ausreichend erbringen. Wir haben die spitz abgerechne-
ten Zahlen gerade von den Privathochschulen vorgerech-
net bekommen. Ich finde es schade, dass die Länder die
Summen, die ihnen zustehen, nicht in neue Studienplätze
investiert haben.

Die Opposition betreibt ein bisschen Panikmache:
Der Hochschulpakt sei unterdimensioniert, weil die Kul-
tusministerkonferenz ihre Prognosen immer nach oben





Monika Grütters


(A) (C)



(D)(B)


korrigiert. Aber gemach: Der Hochschulpakt – das wis-
sen Sie auch – schüttet seine Gelder nicht nach Progno-
sen aus, auch nicht nach Prognosen der KMK, sondern
nach der Zahl der tatsächlich geschaffenen Studien-
plätze.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen die Hochschulen in Vorleistung gehen?)


Deshalb wird auch nachlaufend finanziert. Für die erste
Phase des Hochschulpaktes wurden nur 90 000 zusätzli-
che Studienplätze prognostiziert. Erforderlich waren je-
doch viel mehr. Was haben wir gemacht? Wir haben
nicht weniger, sondern fast doppelt so viel ausgeschüttet,
und so konnten entsprechend viele neue Studienplätze
geschaffen werden, weil Bund und Länder prompt re-
agiert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das zeigt, dass der Hochschulpakt sich nicht stur an Pro-
gnosen orientiert, sondern ein flexibles Instrument ist
und nachweislich auf unerwartet starke Nachfrage re-
agiert hat.

Die nachlaufende Finanzierung des Hochschulpaktes
ist vernünftig. Deshalb können wir alle getrost davon
ausgehen, dass es auch künftig genug Geld gibt. Bund
und Länder haben sich darauf geeinigt, 335 000 neue
Studienplätze zu schaffen. Es ist nicht abzusehen, dass
dieser Deckel nicht ausreichen würde. Das ist überhaupt
nicht gesagt. Sollte der Deckel vor 2015 erreicht werden,
sind neue Verhandlungen notwendig.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sie reden die Probleme klein!)


Das hat die GWK der Bundesbildungsministerin
Schavan deutlich gesagt. Dann wird nachverhandelt. Ich
verstehe also Ihr Misstrauen nicht; denn in der Vergan-
genheit haben wir genau das getan, was Sie jetzt fordern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist es! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie den Deckel doch weg!)


Lieber Kai Gehring, der Fingerzeig, den Sie mir ge-
rade in Abrede stellen wollten, muss sein. Dass jedes
Bundesland seine Pflichten tatsächlich erfüllt, ist bislang
noch nicht erwiesen. Das gilt wohl für den Bund, für die
Bundesländer bisher aber nicht. Die beiden vorliegenden
Anträge bringen uns in der wissenschaftlichen Debatte
auch nicht weiter.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sagt Ihre Finanzplanung aber was anderes!)


Die Linkspartei lässt sich von der Realität kein biss-
chen stören, sondern ergeht sich in Maximalforderun-
gen, frei nach dem Oppositionsmotto „Alles für alle, und
zwar umsonst“. Die Grünen sind zwar etwas gemäßigter;
aber auch hier hat man eher das Gefühl, der parlamenta-
rischen Version von „Wünsch dir was“ beizuwohnen, als
einen ernsthaften Debattenbeitrag zu erhalten.

Ein buntes Ostersträußchen fröhlicher Forderungen
hat uns die Linkspartei vorgelegt. Freude kommt nur bei
der eigenen Klientel auf; seriöse Politik, mit Verlaub,
sieht anders aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Besoldung des Hochschulpersonals soll geändert
werden; die Hochschulzulassung wollen Sie neu regeln;
Sie fordern unbefristete Stellen, und die BAföG-Erhö-
hung, das Lieblingsthema der Linken, wird auch gleich
mit aufgenommen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Copy and paste!)


Schließlich wollen Sie noch einen Master für alle Men-
schen – das ist, so finde ich, eine schöne Geschichte. Der
Entertainmentcharakter Ihres Themenpotpourris ist si-
gnifikant höher als Ihre Glaubwürdigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Statt also Schaufensteranträge zu schreiben, sind ge-
rade Sie, liebe Kollegen, dazu aufgefordert, in den Län-
dern, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen, für
die Fortsetzung einer – das ist meiner Meinung nach das
wichtigste Thema – erfolgreichen Kooperation zwischen
Bund und Ländern zu werben, und zwar gerade im Wis-
senschaftsbereich.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und im Bildungsbereich!)


Sie sollten das Ganze nicht gleich wieder niedermachen,
indem Sie sagen: Wenn Sie eine Grundgesetzänderung
im Bereich Wissenschaft vorlegen – weil das nachweis-
lich gut funktioniert –, machen wir nur mit, wenn Sie
den Bildungsbereich auch noch mit einbeziehen. Ent-
sprechend äußert sich ja die SPD. Statt wenigstens den
einen Bereich richtig zu machen, wollen Sie gleich beide
kaputtmachen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Agnes Alpers [DIE LINKE]: Das stimmt gar nicht!)


Es wäre verdienstvoller, wenn Sie von den Grünen Ih-
ren einzigen Ministerpräsidenten dazu brächten, aus-
nahmsweise über Baden-Württembergs Tellerrand hin-
auszuschauen und seine Blockadehaltung zu Fragen der
Bund-Länder-Kooperation im Bildungsbereich aufzuge-
ben. Aber Winfried Kretschmann verbündet sich lieber
mit dem Steinzeitföderalisten Kurt Beck und erfreut sich
an der Forderung nach mehr Umsatzsteuerpunkten,


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da gibt es bei Ihnen aber auch noch ein paar! Was ist mit Herrn Seehofer? – Willi Brase [SPD]: Billige Polemik!)


die mit Sicherheit weniger die Bildungs- als die Finanz-
politiker erfreuen würden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese Scharade sollten wir als Bildungspolitiker nicht
mitmachen. Im Zentrum unserer Arbeit stehen nicht fi-
nanzielle Interessen, sondern bildungspolitische Inhalte.


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Hört! Hört!)






Monika Grütters


(A) (C)



(D)(B)


Die Inhalte sollten die Finanzierung bestimmen und
nicht umgekehrt. Deshalb werben wir für ein neues Mit-
einander in der Bund-Länder-Kooperation, und zwar vor
allen Dingen im Wissenschaftsbereich. Ich erwarte, dass
gerade die Wissenschaftspolitiker – und hier geht es um
den Bereich Wissenschaft – diesen nächsten Schritt mit-
machen. Der Hochschulpakt jedenfalls hat uns gezeigt,
wie es gehen kann.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717520600

Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1717520700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es
gerade wieder bei Frau Grütters gehört: Es gibt bei den
Mitgliedern der Regierungskoalition eine Art Stan-
dardargumentation, wenn es um den Hochschulpakt
geht.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Nicht Standard! Die richtige Argumentation, Herr Schulz!)


Sie lautet in etwa: Wir haben doch gar kein Problem, im-
mer mit der Ruhe, wir haben alles im Griff.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist doch auch so!)


Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen: Sie ha-
ben gar nichts im Griff.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Nehmen Sie die Realität doch mal wahr!)


Der Hochschulpakt, den wir ja gemeinsam beschlossen
haben, ist wirklich ein großer Erfolg. Gerade deswegen
muss er fortentwickelt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nur: Die Bundesregierung macht nichts, und das ist das
Problem.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will an die Diskussion zur Aussetzung der Wehr-
pflicht erinnern. Sie haben beschlossen, dass die Wehr-
pflicht ausgesetzt wird. Wir haben sofort gesagt: Dann
muss es aber auch entsprechende Angebote für diejeni-
gen geben, die nicht zur Bundeswehr gehen und auch
keinen Zivildienst ableisten. Diese jungen Leute müssen
dann die Chance haben, einen Studienplatz zu erhalten.
Das haben wir beantragt. Sie haben sich immer wieder,
bis zuletzt im Ausschuss, dagegen gewehrt und gesagt:
Nein, das geht nicht, das ist Quatsch, das müssen die
Länder machen,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Weil es in der Verfassung steht!)


bis dann die Bundeskanzlerin gegen Ihr Votum erklärt
hat: An der Argumentation ist schon etwas dran; wir
müssen am Hochschulpakt Änderungen vornehmen.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Genau so wird es auch laufen bzw. läuft es schon jetzt
bei der Diskussion über die Aufstockung des Hochschul-
paktes. Wir haben in unserem Antrag seitens der SPD
schon im letzten Jahr gemahnt: Der Hochschulpakt ist zu
klein dimensioniert.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Da haben wir gesagt: Wir finanzieren nach!)


Immer mehr Leute wollen studieren, und wir müssen
entsprechend Studienplätze schaffen. Die Koalition hat
das abgelehnt.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir machen es, aber nicht, weil es die SPD erzählt! – Monika Grütters [CDU/CSU]: Er ist um das Doppelte aufgestockt!)


– Hören Sie doch vielleicht einfach mal zu. In der letzten
Sitzungswoche haben Sie unseren Antrag abgelehnt.
Und was passiert jetzt in der Gemeinsamen Wissen-
schaftskonferenz von Bund und Ländern? Da hat Frau
Schavan nach Kampf und Krampf gesagt: Okay, wir
richten zusammen mit den Ländern eine Arbeitsgruppe
ein, um zu prüfen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das hat sie vorher auch schon gesagt, Herr Schulz! – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Dieser billige Populismus ist unerträglich!)


Sie zieren sich, Sie zögern und zaudern.

Dabei liegen doch die Fakten auf dem Tisch: ein offi-
zielles Dokument von der KMK, der Kultusministerkon-
ferenz, mit einer neuen Prognose für den Zeitraum 2011
bis 2015; da sind wir mittendrin und haben schon harte
Fakten. Über 350 000 Studienplätze müssen demnach
zusätzlich geschaffen werden.


(Monika Grütters [CDU/CSU]: Ja, und die werden nachlaufend finanziert!)


Das ist wunderbar; das ist großartig. Das ist eine gute
Nachricht, meine sehr verehrten Damen und Herren: Die
Leute wollen studieren.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Das bestätigt unsere Prognose. Aber die Bundesregie-
rung sagt nicht: Jawohl, wir unterstützen das; wir schaf-
fen neue Studienplätze und machen etwas. Stattdessen
blockiert sie. Das geht so nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Agnes Alpers [DIE LINKE])






Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)


Der Grund dafür liegt auf der Hand: Das kostet natür-
lich Geld. Dieses Geld kriegt Frau Schavan von Herrn
Schäuble nicht.


(Florian Toncar [FDP]: Sie kriegt so viel wie noch keine Ministerin vor ihr!)


Es geht hier keine Debatte vonstatten, ohne dass sich die
Rednerinnen und Redner der Koalition wegen der
Etatsteigerungen der letzten Jahre selber auf die Schulter
klopfen, dass es kracht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Zu Recht! – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Der uneitle Herr Schulz!)


Das ist auch in Ordnung. Wir sind nicht der Meinung,
dass Sie das Geld an jeder Stelle richtig ausgeben; aber
insgesamt ist das sehr beachtlich. Nur muss diese Ent-
wicklung natürlich weitergehen.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


– Ja, Sie lachen. Das Problem ist bloß – das ist leider
traurig –, was die Finanzplanung der Bundesregierung
vorsieht, die ich hier vorliegen habe: Im Jahr 2013, im
Bundestagswahljahr, gibt es noch ein Plus,


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Es gab die ganzen letzten Jahre einen Aufwuchs! Was erzählen Sie eigentlich?)


und dann, in den Jahren 2014, 2015 und 2016, geht es
wieder herunter.


(Willi Brase [SPD]: Hört! Hört!)


Sie kürzen: insgesamt 570 Millionen Euro weniger. Sie
wollen über eine halbe Milliarde Euro bei der Bildung
kürzen. Das ist die bittere Wahrheit, meine sehr verehr-
ten Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nach der Bundestagswahl setzen Sie den Rotstift bei
Bildung und Forschung, bei der Zukunft an. Auf diese
Art und Weise beerdigen Sie die von Ihnen beschworene
Bildungsrepublik Deutschland.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Die wird nicht nur beschworen, die ist Realität!)


Aber für das Betreuungsgeld oder für Steuerentlastungen
fliegen die Milliarden hier nur so durch die Gegend. Das
ist der falsche Kurs.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe eine herzliche Bitte: Strafen Sie meine Worte
Lügen!


(Patrick Meinhardt [FDP]: Die Realität straft Sie Lügen!)


Überraschen Sie mich positiv! Fangen Sie endlich an,
unsere Vorschläge aufzugreifen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717520800

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Peter

Röhlinger das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Peter Röhlinger (FDP):
Rede ID: ID1717520900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Schulz, tatsächlich können Sie zuversichtlich sein, was
die weitere Entwicklung angeht. Wir haben doch 2009
nachgewiesen, dass wir flexibel sind, dass wir in der
Lage sind, uns neuen Aufgaben zu stellen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sich zu korrigieren! Das ist gut!)


Die Zahlen, die Sie nicht genannt haben, will ich in die-
sem Zusammenhang einmal nennen: Wir haben die Mit-
tel 2010 gegenüber 2009 um 701 Millionen Euro gestei-
gert,


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ja, aber das ist doch alles die Vergangenheit! Was passiert in der Zukunft? – Gegenruf des Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wovon erzählen Sie denn? Einfach mal zuhören!)


2011 gegenüber 2010 um 783 Millionen Euro, 2012 ge-
genüber 2011 um 454 Millionen Euro.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Patrick Meinhardt [FDP]: Hervorragende Leistung!)


Meine Damen und Herren, es ist aber notwendig, das
in anderen Kategorien und komplexer zu betrachten.


(Zuruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


– Herr Gehring, das sage ich insbesondere Ihnen: Sie
müssen sich von der Vorstellung verabschieden, dass mit
Geld alles zu machen ist. Wer strukturelle Probleme hat,
der kann sie mit Geld allein nicht lösen. Wer verpennt
hat, welch große Rolle Bildung in den Ländern und
Kommunen spielt, der holt das mit mehr Geld in den
Jahren 2012, 2013 und folgende nicht mehr ein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Was heißt das?)


Die Studierenden haben das längst verstanden und
stimmen mit den Füßen ab.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Studierende sitzen im Kinosaal statt im Hörsaal!)


Schauen Sie sich an, welch rasante Entwicklung manche
Universitäten in den neuen Bundesländern genommen
haben: Zum Beispiel sind wir in einer Stadt, die ich jetzt
nicht nennen will, – mit 5 000 Studierenden an Universi-





Dr. Peter Röhlinger


(A) (C)



(D)(B)


tät und Fachhochschule gestartet; jetzt liegt die Zahl bei
25 000.


(Iris Gleicke [SPD]: Wir ahnen, welche gemeint ist! – Patrick Meinhardt [FDP]: Könnte es Jena sein?)


Wissen Sie, was der Standortvorteil ist? Wir haben
verstanden, und zwar im Stadtrat, dass die Vereinbarkeit
von Studium und Familie für die junge Generation ent-
scheidend ist, dass das für uns im Vergleich mit den gro-
ßen, traditionsreichen Universitäten in Deutschland ein
Standortvorteil ist. Wir haben den Vorteil genutzt und
auch für Nachhaltigkeit gesorgt.

Lassen Sie mich auf einen zweiten Punkt eingehen.
Wir wollen den Wettbewerb zwischen den Ländern, zwi-
schen den Kommunen und natürlich auch zwischen den
Universitäten. Das beruht auf der engen Zusammenar-
beit vor Ort zwischen Universität, Wirtschaft und Poli-
tik. Die muss erreicht werden, um der Komplexität des
Anliegens gerecht zu werden. Man kann nicht nur die
Hand aufhalten und sagen: Bund, ich brauche Geld!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nein, man muss dann sagen: Wir schaffen Kitaplätze,
ein kulturelles Angebot und Infrastruktur, damit sich
junge Menschen bei uns wohlfühlen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber erst muss der Studienplatz da sein, damit man studieren kann!)


Ich gehe davon aus, dass wir das in allen Bundesländern
schaffen können. Wir können die Studierenden nicht
noch mehr zur Kasse bitten, aber wir können die Rah-
menbedingungen attraktiver gestalten und jungen Leuten
eine Chance bieten.

Zum Schluss möchte ich auf Folgendes hinweisen:
Wir haben in den vergangenen Jahren nicht nur das
BAföG erhöht, sondern auch Leistungsstipendien einge-
führt. Siehe da: Diese werden gerade in den neuen Bun-
desländern, wo nicht viele Konzerne ihren Sitz haben,
offenbar gut angenommen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Ich sehe, der Präsident ruft mich zur Ordnung. Ich
will deswegen zum Schluss kommen. Es war mir eine
Freude, Ihnen ein paar Gedanken mitzuteilen.

Vielen Dank.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ein bisschen ernsthaft wäre auch nicht verkehrt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717521000

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-

legin Nicole Gohlke.


(Beifall bei der LINKEN)



Nicole Gohlke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717521100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Wir verpflichten uns, das höchstmögliche Niveau der
Hochschulfinanzierung sicherzustellen“ – diese Formu-
lierung wird Ministerin Schavan


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Von der Linken kann sie nicht kommen!)


wahrscheinlich morgen in Bukarest beim Treffen der
Bildungsminister der 47 Bologna-Länder unterschrei-
ben. Ehrlich gesagt: Eigentlich dürfte Deutschland gar
nicht unterschreiben, weil jeder weiß, dass das eben
nicht sichergestellt ist.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Dann machen Sie doch mal einen Fünfjahresplan!)


Aber wahrscheinlich wird Frau Schavan unterschreiben,
in die Kamera lächeln und sich dann darauf verlassen,
dass Papier geduldig ist.

Von dem Glanz der internationalen Gipfel kommt in
den Hochschulen selbst nur wenig an. Kaum eines der
großen Ziele der Bologna-Reform ist erreicht. Stattdes-
sen sind an den Hochschulen viele neue Probleme ent-
standen. Die Finanzierung der Hochschulen bleibt nicht
nur weit unter dem höchstmöglichen Niveau zurück,
sondern auch weit hinter dem unbedingt nötigen Niveau.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wie man dazu klatschen kann, ist mir ein Rätsel! Vor allen Dingen, wenn die Länder zuständig sind!)


Eine Öffnung der Hochschulen ist eine Voraussetzung
für gesellschaftlichen Fortschritt. Auch das soll in der
Erklärung der Bukarester-Konferenz stehen. Man kann
das nur unterschreiben, aber wie muss ein solcher Satz in
den Ohren Tausender abgewiesener Studienbewerberin-
nen und -bewerber klingen,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Da gibt es gar keine! – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Vielleicht die mit schlechten Noten!)


die in diesen Tagen vor den verschlossenen Türen der
Hochschulen stehen – es sind immerhin 100 000 –,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hören Sie doch auf, so etwas zu erzählen! Das ist doch Käse!)


während drinnen das Sommersemester beginnt.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Fördern Sie die schlechten Studenten mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung!)


Bis 2015 fehlen bundesweit mindestens 350 000 Stu-
dienplätze, eher 500 000 Studienplätze,


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Oder 1 Million! Oder 2 Millionen! Wie viele hätten Sie gerne?)


und der Hochschulpakt reicht bei weitem nicht aus, um
diese Lücke zu schließen.





Nicole Gohlke


(A) (C)



(D)(B)



(Monika Grütters [CDU/CSU]: Master für alle Menschen! Reichtum für alle! – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Am besten promovieren wir noch alle! Leistung für alle!)


Nun hat die Ministerin in der Gemeinsamen Wissen-
schaftskonferenz eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die bis
nächstes Jahr prüfen soll, ob man vielleicht eine Aufsto-
ckung braucht. Was gibt es da zu prüfen? Jeder weiß,
dass Studienplätze fehlen. Die Studienplätze fehlen im
Übrigen auch nicht erst nächstes Jahr, sondern jetzt.
Wenn Sie es ernst meinen mit der Aufstockung, dann
machen Sie es jetzt zu diesem Wintersemester; denn
dann brauchen es die jungen Menschen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn Sie die Hochschulen öffnen wollen, so wie es
in der Erklärung der Bukarest-Konferenz stehen soll,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Die sind schon offen! Sie müssen nur die Tür öffnen!)


also auch für diejenigen, die keine reichen Eltern haben,
dann müssen Sie das BAföG erhöhen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das BAföG haben wir erhöht, Frau Gohlke!)


Frau Grütters, ich finde es schon bezeichnend, wenn Sie
es absurd finden, dieses Thema hier überhaupt anzuspre-
chen.


(Monika Grütters [CDU/CSU]: Anträge in vier Minuten zu begründen, geht ja auch nicht!)


Seit Januar liegt der 19. BAföG-Bericht vor. Er macht
deutlich: Allein um das aktuelle Niveau der Förderung
an die gestiegenen Lebenshaltungskosten anzupassen,
müsste das BAföG um 5 Prozent steigen.

Das Deutsche Studentenwerk hat Sie in der vergange-
nen Woche dazu aufgefordert, dies unbedingt zum kom-
menden Wintersemester zu tun.

Um eine bedarfsdeckende Finanzierung der Studie-
renden zu erreichen, ist eigentlich sogar eine Erhöhung
von mindestens 10 Prozent notwendig.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: 25, 30, 50 Prozent!)


Aufseiten der Bundesregierung sind aber überhaupt
keine Aktivitäten erkennbar. Wir fordern Sie auf: Legen
Sie schnellstmöglich einen Gesetzentwurf zur Erhöhung
des BAföG vor.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehen Sie doch mal, wie es auf der Einnahmeseite aussieht!)


Bologna sollte international die Mobilität fördern: Ein
Semester in Bamberg, eins in Barcelona, der Abschluss
in London, und dann der Master in Paris. Das war eines
der großen Versprechen; aber davon sind wir weit ent-
fernt. Das Wissenschaftszentrum Berlin hat diesen
Montag eine Studie vorgelegt.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Die neuen Bundesländer kommen bei Ihnen gar nicht vor! Unglaublich!)


– Nehmen Sie es doch einfach zur Kenntnis, wenn Ex-
perten Studien vorlegen. – Diese Studie zeigt: Seit zwölf
Jahren stagnieren die Zahlen zu studienbezogenen Aus-
landsaufenthalten. Ins Ausland gehen die Studierenden
nur dann, wenn ihnen Academia quasi bereits in die
Wiege gelegt wurde. Von den Akademikerkindern unter
den Studierenden geht jedes sechste ins Ausland, von
den Studierenden, die keine Akademiker als Eltern ha-
ben, nur jeder zehnte.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau! Nur Arbeiterkinder! Ich würde die Akademikerkinder vom Studium ausschließen!)


Für junge Menschen, die als Erste in ihrer Familie den
Schritt an die Hochschule wagen, ist der Auslandsauf-
enthalt heute sogar noch unerreichbarer als vor der Bolo-
gna-Reform. Am Sonntag erklärte Frau Schavan nichts-
destotrotz im Deutschlandradio:

Alles in allem ist es ein erfolgreicher Prozess.

Für die allermeisten Studierenden aber sieht die Realität
ganz anders aus.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sie könnten vielleicht auch ein paar lobende Worte für Frau Honecker finden!)


Das Studium ist stressiger geworden, aber nicht besser.
Es gibt mehr Prüfungen, aber weniger Freiräume für
selbstbestimmtes Lernen. Die internationale Mobilität
stagniert, die innerdeutsche hat sogar abgenommen. Es
fehlen Studienplätze für den Bachelor wie für den Mas-
ter, und wer mit dem Bachelor die Hochschule verlassen
muss, hat deutlich schlechtere Chancen auf einen guten
Job.

Reißen Sie endlich das Ruder herum für eine Hoch-
schulreform, die den Namen verdient. Wir haben in un-
serem Antrag die Eckpunkte hierfür formuliert.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717521200

Der nächste Redner ist der Kollege Florian Hahn von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1717521300

Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ende März hielt ich zur selben Thematik schon ein-
mal eine Rede in meinen Händen.


(Monika Grütters [CDU/CSU]: Wir machen das alle zwei Wochen hier!)


Das spricht nicht gerade für den Ideenreichtum der Op-
position. Dennoch beziehe ich gerne erneut Stellung zu
den gestiegenen Studierendenzahlen und zum Hoch-
schulpakt.





Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)


Ich bin davon überzeugt, dass die Universitäten das
Studierendenhochplateau, wie Sie es nennen, meistern
werden. Erst letzten Freitag hat auch unsere Ministerin,
Frau Professor Schavan, das noch einmal deutlich ge-
macht. So wurde bei der GWK beschlossen, dass eine
Arbeitsgruppe aufgrund der neuen Anfängerzahlen Ein-
zelheiten über die Möglichkeiten einer erweiterten Fi-
nanzierung aushandeln soll. Sie sehen also, wir sind vor-
bereitet und werden flexibel handeln, wenn gehandelt
werden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Bis jetzt gibt es nur Prognosen, uns liegen noch keine
Zahlen vor, daher können wir auch nicht mit der Finan-
zierung beginnen.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal festhalten,
dass noch nie zuvor so viele junge Menschen in
Deutschland ein Hochschulstudium aufgenommen ha-
ben wie unter dieser Regierung. Das ist eine verlässliche
Perspektive.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Noch nie wurde so viel in die Bildung junger Menschen
investiert. Sie kennen die Zahlen: Allein im Studienjahr
2011 nahmen rund 516 000 Schulabgänger ein Studium
auf. Mit dem Hochschulpakt wurden schon in der ersten
Programmphase von 2007 bis 2010 182 000 neue Stu-
dienmöglichkeiten geschaffen. Das sind doppelt so viele
wie ursprünglich geplant.

Auch in der zweiten Phase wird die Bundesregierung
zeigen, dass sie flexibel und handlungsfähig ist und auch
auf extreme Herausforderungen – wie in der Vergangen-
heit doppelte Abiturjahrgänge oder die Aussetzung der
Wehrpflicht – reagieren kann. Dies sind wir den Studien-
berechtigten schuldig, und das ist auch ganz im Sinne
des Ziels, Deutschland als Bildungsrepublik zu festigen.

An dieser Stelle möchte ich, weil der Kollege von der
SPD darauf hingewiesen hat, noch einmal auf die finan-
zielle Entwicklung eingehen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Schulz ist mein Name!)


– Herr Schulz, entschuldigen Sie. Wenn Sie darauf Wert
legen, gerne. – Allein in dieser Legislaturperiode geben
wir 13 Milliarden Euro mehr in den Bereich Bildung und
Forschung hinein. Insofern ist das Schulterklopfen für
uns, denke ich, schon berechtigt.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wie ist es mit der mittelfristigen Planung? Wie geht es denn weiter?)


Am Freitag wurde ganz deutlich gesagt, dass auch die
zusätzlichen Studierenden nicht vor verschlossenen Tü-
ren stehen werden. Auch das ist eine verlässliche Per-
spektive. Man weiß, dass man sich auf uns verlassen
kann, auch wenn Probleme entstehen. Für den Mehrbe-
darf wird also gesorgt. Wie schon in der ersten Phase
wird die Regierung eine Lösung für kommende Pro-
bleme finden. Schließlich hat sie damals doppelt so viele
Studienplätze mitfinanziert, als ursprünglich geplant
war. Das wird auch in der zweiten Phase gelingen, es sei

denn, die Länder können die zusätzlichen Finanzierun-
gen nicht stemmen.


(Kai Gehring Wenn Sie in der Steuerpolitik so weitermachen, wird das passieren!)


Frau Professor Schavan hat zu Recht festgestellt, dass
das zusätzliche Geld des Bundes nicht zu einer Senkung
der Landeszuschüsse für die Hochschulen führen darf.
Es ist ein Gebot der Fairness, dass der Bund und die
Länder in dieser Sache zu ihrem Wort stehen.

Zum Schluss noch ein Wort zu den weiteren Wün-
schen und Sehnsüchten der Linken, die in ihrem Antrag
deutlich werden. Die Abschaffung der Studiengebühren,
wie von Ihnen gefordert, hätte verheerende Folgen:


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn! Das sind ja nur noch Niedersachsen und Bayern!)


Mehr als 450 Stellen für wissenschaftliches Personal
würden wegfallen; Exkursionen mit einem Gegenwert
von rund 10 Millionen Euro könnten nicht stattfinden;
12 Millionen Euro an Sach- und Investitionsmitteln für
die Bibliotheken würden fehlen; die Studierendenbera-
tung müsste mit 5,5 Millionen Euro weniger auskom-
men. Diese Maßnahmen scheinen mir nicht geeignet zu
sein, ein erfolgreiches Studium zu ermöglichen.

Zuletzt möchte ich noch etwas zu dem Appell der
Grünen zur Ausweitung der Masterkomponente auf alle
Bachelorabsolventen sagen. Es muss Ihnen doch klar
sein, dass es gerade bei den Bachelorabsolventen nicht
besonders gut ankommt, wenn Sie so tun, als sei ein Ba-
chelorabschluss nichts wert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Der Bachelorabschluss ist eine hochwertige akademi-
sche Qualifikation, die zum Einstieg in die meisten Be-
rufe befähigt, und es werden eben nicht nur Berufsein-
steiger mit Masterabschluss benötigt und gesucht. Ins-
besondere mittelständische Unternehmen suchen hände-
ringend nach Bachelorabsolventen. So fordert beispiels-
weise die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, dass
mehr Bachelorstudiengänge geschaffen werden, um die
offenen Stellen besetzen zu können. Ganz abgesehen da-
von geht Ihre Forderung komplett am Bologna-Vertrag
vorbei. Dieser besagt eindeutig, dass der Bachelorab-
schluss berufsqualifizierend ist. Dies wird auch mehr
und mehr von den Arbeitgebern in Deutschland aner-
kannt. Den Anträgen der Opposition kann ich daher
nicht zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717521400

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ernst Dieter

Rossmann von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1717521500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Weil wir uns gerne mit den Linken streiten,
will ich als Erstes eine Formulierung in Ihrem Antrag
aufgreifen. Die Aussage, dass die Hochschulen sich un-
ter dem Zeichen von Bologna zu einem „elitären Zirkel“
entwickelt haben, wird der Wirklichkeit nicht gerecht;


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


denn wir haben 2,2 Millionen Studierende. Sie sollten
auch zur Kenntnis nehmen, dass zwei Drittel der zusätz-
lichen Studienanfängerplätze an Fachhochschulen ent-
stehen. Wenn Sie Fachhochschulen als elitär denunzie-
ren, tun Sie den Fachhochschulen, den Studierenden und
den Fachhochschullehrerinnen und -lehrern unrecht.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das ist das eine. Man wird der Situation an den Hoch-
schulen aber auch nicht gerecht, wenn man tote Pferde
weiter reitet, und die Studiengebühren sind ein totes
Pferd.


(Beifall bei der SPD)


Selbst Herr Röttgen in NRW sagt – dabei nimmt er sich
Herrn Koch aus Hessen zum Vorbild –, dass er sie nicht
wieder haben will. Sie werden das auch in Bayern und in
Niedersachsen erleben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Studiengebühren lösen nicht die Probleme. Wir wol-
len, dass der Zugang zu den Hochschulen weiterhin allen
offensteht. Die Hochschulen brauchen eine bessere
Grundfinanzierung. Nicht ohne Grund hat eine Autorität,
der wir in hochschulpolitischer Hinsicht folgen – in
finanzpolitischer Hinsicht vielleicht nicht so sehr –, Pro-
fessor Kleiner, beim Neujahrsempfang der DFG gesagt:
An den Hochschulen muss etwas in Milliardenhöhe pas-
sieren, damit sie richtig auf die Füße kommen. Er dachte
an einen Mehrwertsteuerpunkt. Damit beschrieb er die
Dimension von 6 bis 7 Milliarden Euro, die in Deutsch-
land in diesem Bereich aufgebracht werden muss.

Ich glaube, er hat so eindringlich darauf hingewiesen,
weil er die fehlende Grundfinanzierung im internationa-
len Vergleich sieht, aber natürlich auch, welchen Zulauf
die Hochschulen haben, und zwar aufgrund der demo-
grafischen Entwicklung, aufgrund der veränderten Zu-
gangsbedingungen – es kommen in zunehmendem Maße
beruflich Qualifizierte an die Hochschulen, weil es in
den Ländern endlich eine entsprechende Bewegung gibt,
die bestimmt noch stärker werden wird – und aufgrund
der Tatsache, dass sich die Gesellschaft dahin gehend
verändert, dass eine akademische Grundbildung in vie-
lerlei Hinsicht auch der beruflichen Orientierung dient
und auch diese Tendenz sicherlich noch stärker wird.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Was soll eine „akademische Grundbildung“ sein?)


Deshalb brauchen die Hochschulen zusätzliches Geld.
Dabei geht es um die berufliche Seite und um die For-

schungsseite. Diese Dimension muss man erkennen. Das
war das Anliegen der Grünen und von Herrn Schulz.

Man kann schon jetzt weitere Konzepte vorstellen
und eine Alternative für die Zeit ab 2013 erarbeiten.
Schwarz-Gelb hat keine Alternative mehr und wird in
Deutschland – in den Bundesländern und auf Bundes-
ebene – keine Regierung mehr stellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Man muss fragen, in welcher anderen Konstellation man
zu besseren Lösungen kommt. Der Weg der schwarz-
gelben Regierung sind sinkende Haushaltsmittel in der
mittelfristigen Finanzplanung im Bildungs- und For-
schungsbereich.


(Patrick Meinhardt [FDP]: So ein Blödsinn! Unverschämtheit! Das ist eine Lüge! – Gegenruf des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Hey! Herr Präsident!)


Wir sagen freimütig: Unsere Alternative ist, mehr Geld
– auch über Steuererhöhungen – einzunehmen, um das
einzulösen, was Professor Kleiner fordert, nämlich eine
deutlich höhere Grundfinanzierung und Spitzenfinanzie-
rung für die Hochschulen.

Die Schwierigkeiten des schwarz-gelben Modells
darf ich Ihnen an drei Punkten vorführen.

In der mittelfristigen Finanzplanung gehen Sie – trotz
steigender Studierendenzahlen – von sinkenden Ausga-
ben im Bereich BAföG aus. Wie das zusammenpassen
soll, leuchtet niemandem ein. Wollen Sie das BAföG
etwa kürzen? Das wäre die einzige Antwort darauf.

Sie gehen immer davon aus, dass Sie das große Ver-
sprechen an die Forschungsorganisationen von 5 Prozent
plus über 2015 hinaus verlängern. Dafür bräuchten Sie
Jahr für Jahr rund 300 Millionen Euro zusätzlich. Doch
laut mittelfristiger Finanzplanung wollen Sie für For-
schung und Hochschulen weniger Mittel bereitstellen.
Auch das geht nicht auf.

Gleichzeitig wollen Sie – bei sinkenden Mitteln – die
Hochschulen in Bezug auf die zusätzlichen Studienan-
fängerzahlen von rund 370 000 über den Hochschulpakt
finanziell unterstützen. Auch das geht nicht auf.

Deshalb ist die Alternative, die Schwarz-Gelb in den
Raum stellt, hinsichtlich der mittelfristigen Finanzpla-
nung mit vielen Fragezeichen zu versehen. Wir sagen
ehrlich: Diese Fragezeichen lassen sich nur entfernen,
wenn man die Länder und den Bund finanziell stärkt.
Das sieht unsere Alternative von zweimal 10 Milliarden
Euro für Bund und Länder zur Stärkung von Bildung
und Forschung vor. Ich glaube, unsere Alternative ist die
richtige. Sie gibt den Hochschulen Sicherheit, weil sie
die Möglichkeit schafft, die gravierenden strukturellen
Veränderungen, die unsere Hochschulen erleben, zu fi-
nanzieren, konstruktiv zu gestalten und auszubauen, und
weil sie auch an anderer Stelle Mittel für die Bildung
mobilisiert. Darüber werden wir streiten.

Über einen Punkt sollten wir vielleicht nicht streiten.
Es handelt sich um eine Bitte, die die Regierung jetzt er-
füllen kann. Sie muss jetzt darauf drängen, dass die





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)


Kompensationsmittel für die Gemeinschaftsaufgabe
Hochschulbau tatsächlich für die Hochschulen weiter
zur Verfügung stehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht um 700 Millionen Euro. Diese könnten ver-
schwinden. Daher sollte diese Regierung dafür sorgen,
dass von diesen 700 Millionen Euro möglichst viel für
den Hochschulbereich erhalten bleibt. Wir streiten mit
Ihnen gerne dafür. Wir wollen mit Ihnen gerne dafür
streiten, dass das Grundgesetz an die erforderliche ver-
änderte Leistungsfähigkeit der Hochschulen angepasst
wird. Wir würden Sie gerne dafür gewinnen. Es wäre
auch im Interesse der Länder; denn sie würden durch
eine Reform der Erbschaftsteuer oder der Vermögen-
steuer viel Geld bekommen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717521600

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1717521700

Dieses Geld könnten Sie für Bildung einsetzen. Dies

sollten Sie jetzt mit vorbereiten. Das wäre im Interesse
der Hochschulen.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717521800

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat jetzt das Wort die Kollegin Sylvia Canel von der
FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sylvia Canel (FDP):
Rede ID: ID1717521900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und

Kolleginnen! Herr Dr. Rossmann, 12 Milliarden Euro
mehr als jede Farbkombination zuvor hat Schwarz-Gelb
auf den Tisch gelegt. Ich finde, das ist eine Würdigung
wert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ziel des Bologna-Prozesses ist es, die Mobilität und
damit auch die Internationalität europäischer Studieren-
der zu verbessern. Ziel ist es auch, Vergleichbarkeit der
Hochschulsysteme zu schaffen, damit wir eine Basis für
einen fairen Wettbewerb und für mehr Wachstum legen.

Wir sind auf dem richtigen Weg, diese Ziele zu errei-
chen, wenn auch noch nicht alles erreicht wurde. Die
Linke stellt im vorliegenden Antrag vornehmlich die
Probleme fest. Sie verschließt dabei die Augen und argu-
mentiert ausschließlich defizitorientiert, so wie sie nun
einmal ist.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ja! Die Linke ist so! Nur Defizit!)


Unter der Überschrift „Bologna“ nur defizitorientiert zu
argumentieren, ist zu konstruiert.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Dabei werden veraltete Datenquellen herangezogen und
einiges an Material einfach ausgeblendet. So wird der
Bologna-Bericht 2012 nicht erwähnt. Dieser bestätigt,
dass die Umsetzung des Bologna-Prozesses gut voran-
kommt und die Durchlässigkeit des Bildungssystems zu-
genommen hat. So ist die Zahl der Studienanfänger von
424 000 im Jahr 2009 auf mehr als 515 000 im Jahr 2011
gestiegen. Noch nie haben so viele Menschen bei uns ein
Studium aufgenommen. Die Hochschulzugangsquote
liegt mittlerweile bei deutlich über 50 Prozent. Das sind
20 Prozent mehr als noch 1998, und das ist noch gar
nicht so lange her.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Auch die Auslandsmobilität der Studierenden ist ge-
stiegen und nicht gesunken. Jeder dritte Absolvent hat
ein studienbezogenes Praktikum im Ausland hinter sich.
Nur 24 Prozent der mehr als 4 000 Masterstudiengänge
waren im Wintersemester 2010/2011 mit einer Zulas-
sungsbeschränkung belegt; das ist gut, auch wenn daran
noch gearbeitet werden muss. Zudem ist der Zugang zu
den Hochschulen heute in allen Bundesländern auch
ohne Abitur möglich. Meister, Techniker und Fachwirte
können studieren.


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Das war früher auch schon so!)


Es stimmt nicht, dass Bachelorstudiengänge keinen
berufsqualifizierenden Abschluss vermitteln und keine
attraktiven beruflichen Perspektiven bieten. Das habe im
Übrigen auch ich einmal gedacht. Aber mehrere Studien
haben belegt – wir nehmen die Experten nämlich wirk-
lich ernst, Frau Gohlke –:


(Patrick Meinhardt [FDP]: Sehr gut!)


Absolventen eines Bachelorstudienganges finden auf
dem Arbeitsmarkt genauso schnell eine Stelle wie ihre
Kommilitonen mit Master-, Magister- oder Diplom-
abschluss. Zudem ist die Rate der Arbeitslosigkeit von
Absolventen eines Bachelorstudienganges mit 3 Prozent
nicht höher als die von Absolventen mit anderen Hoch-
schulabschlüssen.

Wir haben in unserem Antrag „Bologna-Prozess voll-
enden – Länder und Hochschulen weiter unterstützen“
den Grundstein für eine gemeinsame und koordinierte
Anstrengung aller Bildungspartner gelegt. Meine Damen
und Herren, die Bildungsgrenzen in Europa öffnen sich.
Sie öffnen sich endlich. Wann öffnen sich endlich auch
die Bildungsgrenzen innerhalb Deutschlands, nämlich
zwischen den Bundesländern, und das nicht nur für die
Hochschulen?

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717522000

Ich schließe die Aussprache.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9173 und 17/9197 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-
Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, Dr. Birgit Reinemund, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP

Für eine Sicherung der betrieblichen Altersver-
sorgung in Deutschland im Zusammenhang mit
der Überprüfung des EU-Rahmens für die Vor-
sorgesysteme in den Mitgliedstaaten

– Drucksache 17/9394 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.

Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
tem Redner dem Kollegen Peter Weiß von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1717522100

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland bauen ihre Altersvorsorge auf mehreren
Säulen auf, unter anderem auf der Säule der betrieb-
lichen Altersversorgung. Deswegen haben wir uns poli-
tisch dazu entschlossen, die betriebliche Altersversor-
gung deutlich zu fördern und auszubauen. Unter
anderem haben wir in der Großen Koalition beschlossen,
die Entgeltumwandlung dauerhaft steuer- und sozial-
abgabenfrei zu gestalten. Es ist erfreulich, dass immer
mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer diese
Chance nutzen. Unser Ziel muss sein, die betriebliche
Altersvorsorge als zusätzliche Säule der deutschen
Alterssicherung weiter zu stärken und möglichst vielen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu ermöglichen,
in diesem Rahmen Geld anzusparen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist im Grunde genommen erfreulich, dass sich die
Kommission der Europäischen Union in ihrem kürzlich
vorgelegten Weißbuch der betrieblichen Altersversor-
gung zuwendet, unter anderem dadurch, dass sie ankün-
digt, die sogenannte Pensionsfondsrichtlinie zu über-
arbeiten. Diese Richtlinie wurde im Jahr 2003 geschaf-
fen, um eine Mindestharmonisierung des europäischen
Finanzaufsichtsrahmens für Einrichtungen der betrieb-
lichen Altersvorsorge zu schaffen. In Deutschland findet
diese Richtlinie auf zwei Durchführungswegen der be-
trieblichen Altersversorgung Anwendung, nämlich auf
die sogenannten Pensionsfonds und auf die sogenannten
Pensionskassen. Mit der Überarbeitung sollen grenz-

überschreitende Aktivitäten von Einrichtungen der
betrieblichen Altersversorgung erleichtert und die Auf-
sichtsregeln verbessert werden.

Die Kommission hat die Absicht, die Vorschriften
von Solvency II, die ja für das Versicherungswesen ge-
dacht sind, auch auf die Pensionsfonds und die Pensions-
kassen zur Anwendung zu bringen. Allerdings wäre eine
Eins-zu-eins-Umsetzung dieser Bedingungen auf Pen-
sionskassen und Pensionsfonds der betrieblichen Alters-
vorsorge gerade eben nicht sinnvoll. Die Europäische
Kommission glaubt zwar, damit werde die Sicherheit vor
Insolvenz solcher betrieblichen Versorgungssysteme er-
höht, aber was nach Sicherheit klingt und Sicherheit
bringen soll, würde in Wirklichkeit zu einer Aushebe-
lung der betrieblichen Altersversorgung in Deutschland
führen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Betroffen wären nach derzeitigem Stand rund 8 Mil-
lionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihre
Altersvorsorgeansprüche in einem Pensionsfonds oder in
einer Pensionskasse ansparen. Wenn die sogenannten
Solvency-II-Vorschriften in vollem Umfang darauf an-
gewendet würden, dann entstünde ein zusätzlicher Kapi-
talbedarf von über 40 Milliarden Euro, von dem nie-
mand weiß, wie er aufgebracht werden sollte. Unsere
Pensionsfonds und Pensionskassen müssten nicht mehr,
wie bisher, knapp 5 Prozent der Einlagesumme, sondern
30 bis 40 Prozent, also achtmal so viel, zurücklegen. Das
wäre Kapital, das in der Liquidität der Unternehmen
fehlen würde, Kapital, das ansonsten Investitionen er-
möglichen würde, Kapital, das Arbeitsplätze schaffen
könnte. Statt zu investieren und die Wirtschaft anzukur-
beln, würde man zwangsweise und letztlich unnötig zu-
sätzliche Rücklagen bilden müssen, was Investitionen
hemmen würde.

Nun müsste man das Argument der Sicherheit, das die
Europäische Kommission vorträgt, durchaus ernst neh-
men, wenn die Kommission die Besonderheiten der
deutschen betrieblichen Altersvorsorge nicht schlicht-
weg außer Acht lassen würde:

Zum Ersten gibt es bei uns nämlich ausgesprochene
Schutzvorschriften. Die Betriebsrenten in Deutschland
sind im Prinzip meist schon doppelt abgesichert. Einer-
seits haften die Arbeitgeber auch dann für die Erfüllung
eines Pensionsanspruchs, wenn eine Pensionskasse oder
ein Pensionsfonds die Rentenzahlungen nicht oder nicht
vollständig erbringen kann. Fällt der Arbeitgeber auch
aus, dann sorgt der Pensions-Sicherungs-Verein dafür,
dass die Betriebsrenten ausbezahlt werden können.
Andererseits gibt es noch eine ganze Reihe von Schutz-
vorschriften des Betriebsrentengesetzes, damit der Ar-
beitnehmer quasi als Verbraucher nicht übervorteilt wird
und die Betriebsrente garantiert erhält. Da Deutschland
also schon einen doppelten Schutz dieser Betriebsrenten
gewährleistet, brauchen wir nicht noch zusätzliche
Schutzvorschriften durch die Europäische Kommission.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


Zum Zweiten verkennt die Kommission, dass die be-
triebliche Altersversorgung bei uns in Deutschland eine
freiwillige Leistung ist. Gott sei Dank haben sich viele
Betriebe dazu entschlossen, und hoffentlich entschließen
sich noch viele weitere Betriebe dafür, eine betriebliche
Altersversorgung auch durch einen eigenen Beitrag des
Betriebs, des Arbeitgebers, anzubieten, aber sie sind
nicht dazu gezwungen. Sie sind auch nicht auf dem
freien Markt aktiv, sondern sie unterstützen mit ihren
Einrichtungen, den Pensionsfonds und den Pensionskas-
sen, lediglich ihre eigenen Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter. Es gibt auch keine Gewinnerzielungsabsicht.

Deshalb muss klar sein, dass wir Regelungen, die
letztlich dazu führen würden, dass die Betriebe eher Ab-
schied von der betrieblichen Altersversorgung nehmen
würden, anstatt neu einzusteigen, mit aller Entschieden-
heit zurückweisen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP])


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, statt dort, wo es
bereits genügend Schutzregelungen gibt, zusätzliche
Regelungen zu schaffen, sollte die Europäische Kom-
mission eher Maßnahmen und Initiativen ergreifen, um
all die Staaten in der Europäischen Union, in denen es
keine betriebliche Altersversorgung gibt, dazu anzuhal-
ten, eine betriebliche Altersversorgung einzuführen.
Kurzum: Wir brauchen europaweite Initiativen für mehr
Altersvorsorge und keine Regelungen, die letztlich zum
Abbau einer betrieblichen Altersversorgung führen
würden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717522200

Das Wort hat jetzt der Kollege Josip Juratovic von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1717522300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Vor meiner Zeit im Bundestag war ich zu-
nächst am Fließband und dann im Betriebsrat eines gro-
ßen Automobilunternehmens beschäftigt. Wir haben uns
damals intensiv mit der betrieblichen Altersversorgung
beschäftigt, um für unsere Arbeitnehmer im Alter mög-
lichst gute Bedingungen zu schaffen.

Auch in der Politik haben wir viel zugunsten der
betrieblichen Altersversorgung getan. Es ist klar, dass
die gesetzliche Rente die wichtigste Säule der Alters-
vorsorge bleibt. Klar ist aber auch, dass weitere Säulen
notwendig sind, insbesondere die zweite Säule, die
betriebliche Altersversorgung.

Die betriebliche Altersversorgung ist ein Modell, das
für viele Arbeitnehmer und Arbeitgeber attraktiv ist.
2001 hat die SPD dafür gesorgt, dass Beschäftigte einen
Teil ihres Gehalts zugunsten einer betrieblichen Alters-
versorgung umwandeln können, um später eine Betriebs-

rente zu erhalten. Diese Entgeltumwandlung ist bei der
Einzahlung sozialversicherungsfrei.

Gewerkschaften und Arbeitgeber haben gemeinsam
viele Systeme der betrieblichen Altersversorgung ge-
schaffen. Bereits heute erhalten mehr als 1 Million
Menschen eine Betriebsrente. Weitere 6,3 Millionen
Menschen sind im System der betrieblichen Alters-
versorgung, um später eine Betriebsrente zu erhalten.
Das deutsche System der Betriebsrenten ist deshalb ein
Erfolg!


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Kolleginnen und Kollegen, auch in der Finanzkrise
waren unsere Betriebsrenten sicher. Mit Freude können
wir feststellen, dass kein einziges deutsches Betriebs-
rentensystem kaputtgegangen ist, übrigens anders als in
anderen Ländern, wie in den USA oder Großbritannien.

Das zeigt: Unser Sicherungssystem für die Betriebs-
renten funktioniert. Erstens ist gewährleistet, dass der
Arbeitgeber bei einer Finanzierungslücke haftet. Somit
ist die Leistung für die Beschäftigten in jedem Fall gesi-
chert. Zweitens gibt es strenge Anlagevorschriften,
wodurch ein Wertverlust quasi ausgeschlossen ist. Drit-
tens gibt es den Pensions-Sicherungs-Verein, der die
Ansprüche bei einer Insolvenz eines Unternehmens
sichert. Dieses Modell der drei Sicherungssysteme hat
sich gerade in der Krise bewährt. Deshalb sehe ich keine
Notwendigkeit, an diesem System etwas zu verändern.


(Beifall bei der SPD)


Grundsätzlich ist die Zielrichtung der Kommission
richtig: Für Betriebsrenten braucht man eine möglichst
hohe Sicherheit, damit die Beschäftigten keine Ansprü-
che verlieren. Jedoch sollte die Kommission vorsichtig
sein, den Mitgliedstaaten etwas zu empfehlen, was letzt-
endlich ein sicheres System im jeweiligen Staat zerstö-
ren würde. Das ist der Fall hier in Deutschland: Die
Sicherheit unserer Betriebsrenten besteht nicht nur auf
dem Papier, sondern hat den Praxistest während der
Finanzkrise bestanden. Mehr Eigenkapital der Betriebs-
rentensysteme würde dagegen das deutsche System
infrage stellen. Viele Betriebsrenten wären nicht mehr
finanzierbar.

Es ist selten der Fall, dass eine so große Einigkeit
herrscht, nicht nur bei uns im Bundestag, sondern auch
bei Arbeitgebern und Gewerkschaften. Dies ist ein wich-
tiges Signal nach Brüssel. Ich hoffe, dass wir gemeinsam
für ein Umdenken bei der Kommission sorgen können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717522400

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Björn

Sänger das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1717522500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! In der Tat beschleicht mich das Gefühl, dass wir
heute etwas besprechen, das wir am Ende in großer Ei-
nigkeit beschließen können. Warum ist das so? Die be-
triebliche Altersvorsorge ist eine tragende Säule in unse-
rem Sozialsystem. Neben der gesetzlichen Rente und der
privaten Vorsorge ist sie eine wichtige Säule, die es wei-
ter auszubauen gilt, insbesondere vor dem Hintergrund
der demografischen Entwicklung.

Die betriebliche Altersvorsorge ist insbesondere in
kleinen und mittleren Unternehmen noch unterentwi-
ckelt. Dabei geht es nicht um Pensionsfonds und Pen-
sionskassen, sondern in der Regel um die Entgeltum-
wandlung, die, wie bereits angesprochen wurde, von der
Vorgängerregierung richtigerweise eingeführt wurde.

Pensionsfonds und Pensionskassen haben ihre Heimat
traditionell in großen, international aufgestellten Unter-
nehmen, weil es dort eine kritische Masse an Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern gibt. Es ist eine lange
Historie sozial engagierter Unternehmerinnen und Un-
ternehmer, die schon im 18. oder 19. Jahrhundert diese
Sozialsysteme in ihren Unternehmen eingeführt haben.
Ich denke beispielsweise an die Familie Krupp oder an
Sophie Henschel aus meiner Heimatstadt Kassel.

Die betriebliche Altersvorsorge ist seit jeher eine So-
zialleistung im Unternehmen. Sie bietet auch einen An-
reiz. Unternehmen können damit werben, dass es diese
Sozialleistung gibt, und sich damit erfolgreich dem
Fachkräftemangel entgegenstellen. Sie wird im Arbeits-
vertrag geregelt. Bereits 8 Millionen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer kommen in den Genuss dieser Sozial-
leistung.

Auch die Unternehmen profitieren davon; ich sagte es
bereits. Sie werden dadurch attraktiver. Sie können die
Finanzmittel zum Teil im eigenen Unternehmen verwen-
den und haben dadurch einen Finanzierungsvorteil.

Der Ansatz der EU-Kommission an dieser Stelle ist
richtig und wichtig, grenzüberschreitende Unternehmen
zu betrachten und für eine entsprechende Portabilität zu
sorgen. Das trägt den Anforderungen der Globalisierung
Rechnung. Auch die christlich-liberale Koalition hat die-
sen Gedanken aufgegriffen und das Pension Pooling auf
den Weg gebracht. Dadurch erhalten die Anleger, die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, eine höhere Ren-
dite, wenn die Anlagen von international tätigen Unter-
nehmen gebündelt verwaltet werden. Wir stärken damit
auch den Finanzplatz Deutschland und ziehen das Ganze
unter deutsche Aufsicht.

Aber eine betriebliche Altersvorsorgeeinrichtung ist
kein Finanzprodukt. Sie ist in dem Sinne auch nicht mit
Versicherungen vergleichbar. Die Unternehmen haften
für die entsprechenden Zusagen. Es gibt den Pensions-
Sicherungs-Verein. Wir haben aktuell 130 Milliarden
Euro Deckungsmittel zur Verfügung.

Wir sprechen in der Tat über Großunternehmen mit
einer sehr langen Tradition. Diese Unternehmen gehören
in der Regel zu den 6 Prozent der Unternehmen in
Deutschland, die älter als 100 Jahre sind. Das heißt, es

gibt eine gewisse Sicherheit für diese Anlagen und bis-
her auch keine nennenswerten Probleme. Die Probleme
würden erst dann kommen, wenn wir die Solvency-II-
Regeln auch für dieses Instrument anwenden würden.
Denn die Eigenkapitalanforderungen, die dort vorgese-
hen sind, können die Unternehmen in der Regel nicht
mit eigenen Mitteln erfüllen. Die Attraktivität dieser So-
zialleistung würde folglich leiden.

Natürlich ist auch vollkommen klar, dass eine Vergan-
genheitsbetrachtung nicht viel weiterhilft. Wir können
nicht sagen: Weil in der Vergangenheit nichts passiert ist,
wird auch in der Zukunft nichts passieren. – Insofern ist
es logisch, dass sich die EU-Kommission Gedanken da-
rüber macht, wie man zu einer gewissen Sicherheit
kommt.

Aber es gibt, wie gesagt, schon Sicherungssysteme.
Wir haben den Pensions-Sicherungs-Verein. Auch das
muss in die Überlegungen mit einfließen und eine Wür-
digung finden, dass es diese Sicherungssysteme gibt.
Auf gar keinen Fall kann man diese Regeln auf den Be-
stand anwenden. Das wäre nicht im Interesse der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer. Denn sie müssten mit
einer niedrigeren Rente rechnen. Ich denke, das wollen
wir allesamt in diesem Hause nicht.

Insofern ist der vorliegende Antrag der dokumentierte
Wille der christlich-liberalen Koalition, der Bundesre-
gierung ein Mittel an die Hand zu geben, zu sagen: Der
gesamte Deutsche Bundestag sieht das so; bitte verhan-
delt in Brüssel entsprechend, damit diese Probleme bei
der betrieblichen Altersvorsorge nicht auftreten.

Ich denke, das werden wir heute in großer Einmütig-
keit beschließen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717522600

Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Koch von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717522700

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ganz so groß ist die Einhelligkeit nun doch nicht.
Ich muss leider ein bisschen Salz in die Suppe streuen.
Der Antrag von Union und FDP ist an Scheinheiligkeit
nicht zu überbieten. Die aktuelle Regierung sowie die
Vorgängerregierungen bis zu Rot-Grün haben sich in der
Rentenpolitik vor allem durch zwei Punkte ausgezeich-
net: durch Rentenklau und Vergrößerung der Altersar-
mut. Dämpfungsfaktoren und die Rente ab 67 sind ganz
klare Rentenkürzungen. Die seit Jahrzehnten verspro-
chene Angleichung des Rentenwertes Ost an den Ren-
tenwert West ist bis heute nicht erfolgt. Die Inflation
frisst zu zaghafte Rentenerhöhungen fast immer kom-
plett auf, selbst die jetzige – wie Sie meinen: übergroße –
Rentenerhöhung.





Harald Koch


(A) (C)



(D)(B)


Die Linke möchte dagegen eine Rente, die den Le-
bensstandard sichert und armutsfest ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Leistungsniveau in der gesetzlichen Rente muss an-
gehoben, der Solidarausgleich ausgeweitet und eine er-
gänzende Mindestrente von 900 Euro im Monat garan-
tiert werden. Man muss auch über die Ausgangswerte
reden. Für eine wirklich gute Rente sind gute Löhne und
gute Arbeit entscheidende Stellschrauben. Daher fordern
wir den Abbau prekärer Beschäftigung, einen flächende-
ckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro sowie
eine sanktionsfreie Mindestsicherung.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun bringen Union und FDP einen Antrag ein, mit
dem sie eine Schwächung der betrieblichen Altersvor-
sorge im Rahmen der Überarbeitung der EU-Pensions-
fondsrichtlinie verhindern wollen. Es geht darum, dass
auf EU-Ebene diskutiert wird, Solvency-II-Vorschriften
auf Einrichtungen der betrieblichen, kapitalgedeckten
Altersvorsorge zu übertragen. Dies soll über eine Neu-
fassung der Pensionsfondsrichtlinie geschehen. Sol-
vency II führt unter anderem strengere Vorschriften zur
Eigenkapitalausstattung von Versicherungsunternehmen
ein. Die Linke ist der Auffassung, dass eine unreflek-
tierte Übertragung aller Solvency-II-Vorschriften auf die
betriebliche Altersvorsorge bedenklich ist. Generell
muss der Versicherungsmarkt strikt, aber umsichtig re-
guliert werden. Bei übertriebenen Eigenkapitalanforde-
rungen besteht die Gefahr, dass die Unternehmer auf
Dauer ein immer geringeres Leistungsniveau durchdrü-
cken, dass Betriebsrenten gekürzt werden müssen oder
dass dies bei der Entgeltumwandlung zu höheren Beiträ-
gen führt. Hier gilt es, die Versicherten und ihre Be-
triebsrenten zu schützen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Antrag von Union und FDP ist aber allzu durch-
sichtig. Sie wollen der Versicherungslobby und Arbeit-
geberverbänden willfährig Folge leisten, weil diese mehr
Aufsicht wie der Teufel das Weihwasser fürchten. Die
Linke will nicht, dass betriebliche Altersvorsorge zu ei-
ner Art Regulierungsoase wird. Die meisten Durchfüh-
rungswege der betrieblichen Altersvorsorge in Deutsch-
land setzen eher auf risikoarme Anlagen. In diesem Fall
sollten die Eigenkapitalanforderungen ohnehin nicht
total überfordernd wirken. Durch eine zu niedrige Re-
gelungsdichte flüchtet aber noch mehr Kapital zum
Beispiel in Pensionsfonds. Diese sind durchaus Finanz-
marktakteure und würden sich aufblähen. Immer mehr
renditesuchendes Kapital käme so auf die Finanzmärkte,
wo sich neue Spekulationsblasen bildeten. Alle Siche-
rungsmechanismen, die Sie aufgebaut haben, können ge-
nerell nicht greifen, weil sie sich an Einzelfällen orien-
tieren.

Wenn Sie tatsächlich befürchten, dass die Eigenkapi-
talanforderungen fast alle Träger der betrieblichen Al-
terssicherung überfordern, scheint Ihre vielgerühmte be-
triebliche Altersvorsorge doch nicht auf so sicheren
Füßen zu stehen. Gerade wenn Ihre Befürchtungen zu-
treffen sollten, ist es Ihre Pflicht, eine lebensstandard-

sichernde Alterssicherung wieder komplett im Rahmen
der gesetzlichen Rentenversicherung über ein Umlage-
verfahren zu organisieren. Diese ist und bleibt für die
Linke die tragende Säule. Sie ist der beste Schutz für
Versicherte.

Ich komme zum Schluss. Die betriebliche Altersvor-
sorge kann höchstens noch als Zuckerle obendrauf kom-
men. Als einzige Fraktion hier im Hause lehnten und
lehnen wir die Privatisierung der Altersvorsorge ab. Ihr
Rentendumping kommt Versicherungskonzernen und
Großunternehmen zugute. Beenden Sie deshalb Ihre
Rentenpolitik, die den meisten Menschen Angst im Alter
macht!

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN – Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Sie machen Angst!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717522800

Jetzt hat der Kollege Wolfgang Strengmann-Kuhn

von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ehrlich gesagt, ich bin ein bisschen überrascht über den
Antrag. Die bisherige Debatte hat gezeigt, dass wir uns
weitgehend einig sind: Die betriebliche Alterssicherung
ist eine wichtige Säule der Alterssicherung. Wir alle wis-
sen, was wir an der betrieblichen Alterssicherung in
Deutschland haben.

Soweit ich weiß, laufen die Verhandlungen zwischen
der Bundesregierung und der EU noch, und es ist bisher
unklar, wie die konkreten Folgen der Überlegungen der
EU für Deutschland tatsächlich sind. Also warum ei-
gentlich dieser Antrag? Wenn es darum geht, ein breites
Votum des Bundestags zu bekommen, dann frage ich
mich, warum Sie nicht auf uns zugekommen sind, damit
wir einen gemeinsamen Antrag stellen. Das wäre ein
noch stärkeres Signal gewesen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Koch [DIE LINKE])


Wenn es darum geht, zu zeigen, dass wir alle die be-
triebliche Alterssicherung wichtig finden, diese als not-
wendige und sinnvolle Säule der Alterssicherung schät-
zen und dass wir keine Schwächung der betrieblichen
Alterssicherung wollen und ihr keine unverhältnismäßig
neuen Lasten aufbürden wollen, hätte man sich schnell
einigen können. Stattdessen gibt es jetzt einen schwarz-
gelben Antrag, über den heute im Hauruckverfahren ab-
gestimmt werden soll. Warum dieses Verfahren?

So, wie der Antrag jetzt ist, sind wir nicht ganz zufrie-
den. Wir müssen uns nämlich schon die Frage stellen:
Wie wollen wir auf die Finanzkrise reagieren, und wie
wollen wir erreichen, dass alle – ich wiederhole: alle –
Produkte, die auf den Kapitalmärkten gehandelt werden,
auf ihre Risiken sowohl für die Anlegerinnen und Anle-
ger als auch, wie uns die Finanzkrise auch gezeigt hat,





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)


für die Allgemeinheit überprüft werden können? Die Fi-
nanzkrise, die noch lange nicht ausgestanden ist, hat
deutlich gemacht, dass das Risiko von kapitalgedeckten
Altersvorsorgeprodukten thematisiert werden muss. Ich
finde, das gilt auch für die betriebliche Altersvorsorge.
Sie ducken sich in diesem Antrag jedoch weg, als ob es
nie eine Finanzkrise gegeben hätte.

Ich bin der Auffassung, dass sowohl aus finanzmarkt-
politischer als auch aus sozialpolitischer Sicht – das darf
nicht vergessen werden – eine risikoadäquate Betrach-
tung der Anlagen auch bei Betriebsrenten wichtig und
richtig ist. Klar ist – da sind wir uns völlig einig –, dass
Solvency II nicht eins zu eins auf die Betriebsrenten an-
gewendet werden kann und auch nicht angewendet wer-
den soll. Aber auch bei den Betriebsrenten müssen wir
die Frage stellen, wo das Kapital angelegt ist, wie sicher
es ist und wie gut die Risiken abgesichert sind. Klar ist
aber auch, dass die Besonderheiten bei den deutschen
Betriebsrenten berücksichtigt werden müssen, damit
nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden.

Wir alle wissen, dass die Betriebsrenten in Deutsch-
land gut gesichert sind. Das soll auch so bleiben, und die
betriebliche Altersvorsorge darf nicht durch unnötige
und unsinnige Vorschriften überfordert werden. Für Ver-
handlungen mit dieser Stoßrichtung hat die Bundesregie-
rung unsere Unterstützung. Wir Grünen bekennen uns
ausdrücklich zu den Betriebsrenten. Wir sind jedoch
auch der Auffassung, dass die Finanzkrise uns gelehrt
hat, dass geprüft werden muss, ob alle Anlageformen
und damit auch die Betriebsrenten risikoadäquat durch
Eigenkapital gesichert sind. Das ist in Ihrem Antrag
nicht enthalten. Wir werden uns deswegen der Stimme
enthalten.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717522900

Jetzt hat der Kollege Ralph Brinkhaus von der CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1717523000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man

das Thema von der finanziellen Seite betrachtet, dann
muss man sagen: Die Frage der Altersversorgung ist die
zentrale Zukunftsfrage für unser Land. Ich möchte im
Zusammenhang mit dem System der gesetzlichen, umla-
gefinanzierten Rentenversicherung darauf hinweisen,
dass wir momentan 20 Millionen Rentenempfänger und
circa 30 Millionen sozialversicherungspflichtige Be-
schäftigte haben und der Bundeszuschuss circa 80 Mil-
liarden Euro jährlich beträgt. Das Verhältnis von sozial-
versicherungspflichtig Beschäftigten zu Rentenemp-
fängern wird bald eins zu eins sein. Sie sehen, welche
Zeitbombe trotz aller Strukturanpassungen, die die
christlich-liberale Regierung, aber auch die CDU/CSU
zusammen mit der SPD vorgenommen haben, hier tickt.
Umso wichtiger ist es, dass wir mit der betrieblichen Al-

tersversorgung und der privaten Altersversicherung wei-
tere Säulen der Altersversorgung haben.

Es ist gut und richtig, dass sich die EU-Kommission
mit diesem Thema beschäftigt. Es ist auch deswegen gut
und richtig, weil wir gesehen haben, dass diese Probleme
nicht nur uns in Deutschland betreffen, sondern auch an-
dere EU-Länder. Deswegen ist es legitim, dass die EU
dieses Thema aufgreift.

Das ist nicht nur deswegen legitim, weil es um
enorme Summen geht, sondern auch deswegen, weil die
finanzielle Solidität der Altersversorgung, ganz speziell
der betrieblichen Altersversorgung – darüber unterhalten
wir uns ja heute –, für die Menschen sehr wichtig ist.
Wenn ich mich als junger Mensch darauf verlasse, dass
ich eine bestimmte Betriebsrente bekomme und mit 65
feststelle, dass dieser Plan nicht aufgegangen ist, habe
ich keinerlei Möglichkeiten mehr, das zu korrigieren und
wiedergutzumachen. Deswegen steht der Staat, nicht nur
der deutsche, sondern auch der europäische Gesetzgeber,
in der Verantwortung, hier einzugreifen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was hat die Europäische Kommission nun gemacht?
Sie hat sich gedacht: Na ja, wir haben da doch schon
etwas, was die Solidität von Altersversorgung betrifft,
und das ist das Regulierungswerk von Solvency II. Viel-
leicht übertragen wir dieses Regelungswerk auch auf die
betriebliche Altersversorgung. – Wenn man Solvency II
betrachtet, stellt man fest: Da gibt es drei Säulen. Die
erste Säule sind die quantitativen Anforderungen an das
Eigenkapital. Die zweite Säule ist das Risikomanage-
ment. Die dritte Säule ist das Berichtswesen.

Wenn man sich die erste Säule anguckt, dann stellt
man fest: Wenn das, was in Solvency II vorgesehen ist
– das ist noch nicht in deutsches Recht umgesetzt –, eins
zu eins auf die betriebliche Altersversorgung übertragen
würde, dann würden Pensionsfonds und Pensionskassen
Nachschusspflichten haben. Die einen sagen: 30 Milliar-
den Euro; andere sagen: 40 oder 50 Milliarden Euro. Das
würde das System der betrieblichen Altersversorgung in
die Knie zwingen.

Unsere betrieblichen Altersversorger sagen uns: Halt!
Wir haben doch ein System, das immer funktioniert hat,
bei dem es nie Probleme gegeben hat. Sie sagen: Halt!
Wir haben doch ein System, das schon früher reguliert
worden ist, gut reguliert worden ist. Sie sagen: Halt! Wir
sind doch keine Versicherung; wir wollen keinen Ge-
winn machen. Wir haben ein ganz anderes Risikoprofil.
Und sie sagen: Halt! Wir haben noch Hosenträger und
Gürtel; das ist der Pensions-Sicherungs-Verein, und das
ist die Nachschusspflicht der Unternehmen, die hinter
der betrieblichen Altersversorgung stehen.

Also könnte man zu dem Schluss kommen: Es ist
nichts zu tun. Da sage ich dann: Halt! Und: Nein! Dass
in der Vergangenheit nichts Schlimmes passiert ist, ist
natürlich kein Beweis dafür, dass auch in Zukunft nichts
passiert. Das haben wir in der Finanzkrise gelernt. Ich
sage ferner: Nein! Wir müssen angesichts der enormen
Summen, die dort investiert werden, angesichts der Ge-
fährlichkeit des Finanzmarkts – wir alle wissen heute





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


kaum noch, wo man Geld sicher anlegt – schon genau
betrachten, was mit diesem Geld geschieht. Wir müssen
natürlich auch die demografische Entwicklung im Auge
behalten. Bei der Kombination – auf der einen Seite wer-
den die Menschen immer älter; auf der anderen Seite
haben wir Unsicherheit von Finanzanlagen – haben wir
durchaus die Pflicht, immer wieder zu schauen: Ist das,
was da geschieht, alles richtig? Wir müssen zudem – auch
das gehört zur Wahrheit dazu – immer wieder schauen:
Ist der Pensions-Sicherungs-Verein noch vernünftig auf-
gestellt?


(Harald Koch [DIE LINKE]: Wo bleibt die Privatisierung?)


Wie sieht es mit den Unternehmen aus, die diese Nach-
schusspflicht haben?

Also doch Solvency II? Nein! Wir sollten das Sol-
vency-II-Werk differenziert betrachten. Ich hatte schon
davon gesprochen, dass es drei Säulen gibt. Die eine
Säule ist das Berichtswesen. Gegen Berichtswesen hat
niemand etwas. Ich glaube, es ist richtig und gut, dass
auch die Einrichtungen der betrieblichen Altersversor-
gung gut berichten, sodass die Aufseher und auch wir als
Politik wissen, was dort passiert.

Die zweite Säule ist das Risikomanagement. Es ist gut
und richtig, dass es auch dort Risikomanagement gibt,
dass bestimmte Anforderungen an die Personen gestellt
werden, die das Geld verwalten. Insofern haben wir auch
dagegen nichts.

Es sind also die quantitativen Anforderungen, die uns
Sorgen bereiten. Meine Vorredner haben schon gesagt,
dass das dazu führen kann, dass das komplette System
der betrieblichen Altersversorgung in Deutschland in-
frage steht. Das wollen wir nicht. Nichtsdestotrotz, Herr
Strengmann-Kuhn, müssen wir immer schauen: Ist das
Deckungskapital hoch genug? Wir müssen auch quanti-
tative Anforderungen stellen, aber nicht so, wie das Sol-
vency II vorsieht, weil wir hier einfach andere Bedin-
gungen haben. Deswegen stellen wir den Antrag, der
heute vorliegt.

Zu Ihrer Frage „Warum stellen Sie diesen Antrag
jetzt, zu diesem Zeitpunkt, wo doch auf europäischer
Ebene eigentlich erst in acht oder zwölf Monaten eine
konkrete Vorlage von der Kommission kommen wird?“
muss ich sagen: Gut so! Gut so, dass wir es jetzt
machen! Wir reagieren eigentlich immer viel zu spät auf
europäische Entwicklungen. Ich muss auch sagen, dass
die Branche, die Vertreter der Pensionskassen und Pen-
sionsfonds, gut gehandelt hat. Sie haben uns sehr früh-
zeitig auf dieses Problem aufmerksam gemacht. Sie
haben uns sehr frühzeitig die Zahlen geliefert. Und sie
haben uns sehr frühzeitig gesagt: Wir brauchen die Hilfe
und Unterstützung des Deutschen Bundestages.

Insofern ist gerade dies ein gelungenes Beispiel dafür,
wie man frühzeitig auf europäische Entwicklungen
reagiert, wie sich der Deutsche Bundestag frühzeitig
positioniert, wie man der Bundesregierung frühzeitig ein
Verhandlungsmandat mit auf den Weg gibt. Das ist gut;
das ist richtig. Deswegen bitten wir um Unterstützung
für diesen Antrag.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717523100

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat jetzt das Wort die Kollegin Petra Hinz von der SPD-
Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Petra Hinz (SPD):
Rede ID: ID1717523200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben gemeinsam an Veranstaltungen
teilgenommen, lieber Kollege Weiß. Dort hat man uns
die Sorgen vorgetragen. Alle Redner sind zu Recht da-
rauf eingegangen, und ich denke, es ist wichtig, dass das
Parlament insgesamt die Wichtigkeit der Betriebsrenten
hervorhebt.

Ich möchte trotzdem gern noch einmal zur Finanz-
krise zurückkommen, um deutlich zu machen, dass in
der Tat Solvency II für die Betriebsrenten nicht greifen
kann. Wir erinnern uns an die Finanzkrise 2007 und
2008. Wir sind aufgeschreckt. Es wurde deutlich, welch
erheblichen Handlungsbedarf es gab, aber nicht in
Bezug auf die Betriebsrenten, sondern auf ganz andere
Elemente der Finanzmarktregulierung.

Die Diskussion hat uns verdeutlicht: Wir müssen hin-
schauen – genau das ist auch gesagt worden. Das, was zu
verbessern ist, müssen wir immer im Auge behalten und
versuchen, das, was bei uns national, in Deutschland,
richtig ist, möglicherweise bei unseren Nachbarinnen
und Nachbarn in Europa einzuführen. Das ist richtig.

Aber ich möchte darauf abheben, dass bereits im Rah-
men von Solvency I erhebliche Anforderungen an die
Betriebskassen sowie die Betriebsfonds gestellt wurden.
Dies ist auf nationaler Ebene in Deutschland bereits um-
gesetzt worden. Im Rahmen des Risikomanagements
sind risikoreiche Anlagenteile klar festgelegt. Also trifft
das, was wir üblicherweise von Versicherungen kennen,
bei der Betriebsrente überhaupt nicht zu.

Eine Spekulation, wie wir sie von den Versicherungen
kennen, ist fast ausgeschlossen, da dieser Bereich gede-
ckelt ist. Darum lehnen wir die viel strengeren Eigenka-
pitalvorschriften – es sind bis zu 40 Prozent, die hier gel-
ten sollen – ab. Solvency II darf für die betriebliche
Altersvorsorge nicht greifen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Harald Koch [DIE LINKE])


In vielen Gesprächen – dies sagte ich gerade – ist uns
genau dieses Bild vermittelt worden. Wenn diese Vor-
schriften greifen, würden möglicherweise Betriebskas-
sen pleitegehen oder die Ausschüttungen würden sehr
stark zurückgehen, und letzten Endes würde sich dies für
diejenigen, die über Jahre hinweg angespart haben, nicht
lohnen.

Wir sollten unser Drei-Säulen-System, vor allem die
eine Säule, die Betriebsrenten, viel stärker auf EU-Ebene
kommunizieren und die Vorteile darlegen, denen wir es
zu verdanken haben, dass wir unsere betriebliche Alters-
vorsorge gut durch die Finanzkrise gebracht haben.





Petra Hinz (Essen)



(A) (C)



(D)(B)


Auch wir werden diesem Antrag zustimmen, und ich
möchte noch einmal betonen: Da wir gemeinsam an
Gesprächen teilgenommen haben, hätten wir uns sehr
gewünscht, einen gemeinsamen Antrag zu stellen.
Sicherlich: Hätten wir ihn geschrieben, hätte er mögli-
cherweise einen etwas anderen Duktus erhalten, und es
wären noch andere Aspekte hineingekommen.

Aber die Tendenz und die Notwendigkeit sind richtig,
dass wir unsere Regierung beauftragen, gegenüber der
EU-Kommission nachdrücklich für unsere betriebliche
Altersvorsorge einzustehen und zu kämpfen; denn unser
Drei-Säulen-System und die Säule der betrieblichen
Altersvorsorge sind richtig. Solvency II darf nicht für die
Säule der betrieblichen Altersvorsorge greifen. Die
Sicherungen, die Stützen der betrieblichen Altersvor-
sorge sind richtig sowie notwendig und nachhaltig im
Rahmen von Solvency I geändert worden.

In diesem Sinne wünsche ich der Regierung und uns
gemeinsam, dass wir die richtigen Worte und Argumente
finden, damit wir unser Modell sehr deutlich machen.
Allen, die es bisher nicht kennen, sollten wir seine Vor-
züge deutlich machen. Ich weiß, dass gerade auch die
Gewerkschaften, der DGB, auf europäischer Ebene mit
den Kolleginnen und Kollegen unser Modell diskutieren,
damit Solvency II nicht zum Tragen kommt.

Ich wünsche uns viel Kraft sowie die richtigen Argu-
mente, weil unsere betriebliche Altersvorsorge – ich
wiederhole es, da ich davon überzeugt bin –, eine der
drei Säulen im Rahmen der Altersvorsorge, das richtige
Element ist.

Für Ihre Aufmerksamkeit vielen Dank und für die Ge-
spräche in unserem Sinne viel Erfolg!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717523300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/9394 mit dem Titel „Für eine Sicherung der betriebli-
chen Altersversorgung in Deutschland im Zusammen-
hang mit der Überprüfung des EU-Rahmens für die Vor-
sorgesysteme in den Mitgliedstaaten“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Lin-
ken und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Joachim Hacker, Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Konversion gestalten – Kommunen stärken

– Drucksache 17/9060 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)


Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Federführung strittig

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Bettina Herlitzius, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Konversion – Zwischen Verwertungsdruck
und nachhaltigen Konzepten

– Drucksache 17/9405 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Federführung strittig

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.

Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
tem Redner dem Kollegen Hans-Joachim Hacker von
der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1717523400

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei dem Thema „Standortkonzept der Bundeswehr“
wird es für die Kommunen ernst. Nachdem der ehe-
malige Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg ein
ungeordnetes Konzept für die Reform der Bundeswehr
hinterlassen hat, hat Bundesverteidigungsminister
de Maizière Entscheidungen zur Aufgabe von 31 Stand-
orten und Reduzierungen bei 90 Standorten verkündet.
Hieraus erwachsen für die betroffenen Kommunen gra-
vierende Konsequenzen. Der Bund darf die Kommunen
dabei nicht alleine lassen. Was im Moment fehlt, ist ein
schlüssiges Gesamtkonzept des Bundes. Dies ist der
Kern der Forderung im Antrag der SPD-Bundestagfrak-
tion „Konversion gestalten – Kommunen stärken“. Dies
ist kein Geschenk an die Standortgemeinden, sondern
entspringt einem ganzheitlichen Ansatz, den die SPD-
Bundestagsfraktion hierbei verfolgt.

Es ist auch klar, dass die Auswirkungen auf die ein-
zelnen Länder und Kommunen unterschiedlich sein wer-
den. In der Region Hamburg mit ihrer dynamischen
Entwicklung sind die Folgen andere als in den struktur-
schwachen Gebieten von beispielsweise Brandenburg
und Mecklenburg-Vorpommern. Die Erlöse aus diesen
Veräußerungen müssen gerecht verteilt werden.





Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)


In meinem Wahlkreis stehen die Bürgerinnen und
Bürger und die Kommunalpolitiker der Stadt Lübtheen
nach einer jahrelangen Hängepartie vor der enormen
Herausforderung, dass der örtliche Truppenübungsplatz
geschlossen wird. Die Entscheidung ist in der Sache
auch richtig; das will ich hier sagen. Enttäuschung ist
schon jetzt eingekehrt – nicht nur in Lübtheen, sondern
auch anderswo –, da sich die großmundigen Ankün-
digungen des Bundesverkehrsministers Dr. Ramsauer,
einen sogenannten Finanzierungskreislauf „Konversion“
zu etablieren, in Luft aufgelöst haben. Auf eine Kleine
Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion hat die Bundesre-
gierung am 16. Januar 2012 geantwortet. Die Kleine An-
frage der SPD-Bundestagsfraktion „Künftige Stationie-
rung der Bundeswehr“ hat die Bundesregierung zu
diesem Punkt so beantwortet, dass die Ankündigung von
Dr. Ramsauer vom 8. November 2011 in der Rheini-
schen Post sich in Luft auflöst. Das war also eine Luft-
nummer und keine Hilfe für die Kommunen.


(Beifall bei der SPD)


Die SPD-Bundestagsfraktion verharrt bei diesem
Thema nicht in Wehklagen und Resignation. Wir wol-
len, dass dieser Prozess, der sich über Jahre erstrecken
wird – wir werden erst in den Jahren 2013/2014 mit die-
sen Aufgaben richtig beginnen –, ganzheitlich gestaltet
wird. Wir meinen, ein Ansatz ist zum Beispiel das Pro-
gramm „Stadtumbau West“, in dem solche Maßnahmen
etabliert sind. Wir fordern ein eigenständiges Programm
„Konversion“ für das gesamte Bundesgebiet. Die Mittel,
die im Rahmen der Städtebauförderung einzustellen
sind, müssen angepasst werden. Unabhängig von der
Konversionsproblematik besteht bei der Städtebauförde-
rung ein Bedarf, der sich auf ungefähr 700 Millionen
Euro pro Jahr bemisst. Das muss Maßstab für die Bewer-
tung sein.

Wir können auch Synergieeffekte erzielen. Erfahrun-
gen, die der Bund oder Bundesbehörden in den letzten
Jahren bei anderen Prozessen gesammelt haben, können
auf die Kommunen übertragen werden. Strukturschwa-
che Kommunen werden bei der Planung, auch bei der
Bewertung von Umweltfolgen nicht das nötige Know-
how haben. Hier ist der Bund gefordert, eine entspre-
chende inhaltliche Unterstützung zu geben. Ich will
deutlich sagen, dass die SPD-Bundestagsfraktion den
Antrag aus Nordrhein-Westfalen unterstützt, der dem
Bundesrat vorliegt und der eine Erweiterung der Aufga-
benstellung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben,
der BImA, fordert, damit diese strukturpolitische Ziele
verfolgen kann.

Dieser Antrag liegt dem Bundesrat vor. Es handelt
sich um einen formellen Akt, den Auftrag der BImA in
diesem Punkt zu präzisieren. Das wäre eine ganz kon-
krete Hilfe für strukturschwache Regionen.


(Beifall bei der SPD)


Wir meinen, dass die BImA mehr sein muss als der Im-
mobilienmakler des Bundesfinanzministers. Das gilt für
die Konversionsimmobilien genauso, Herr Staatssekre-
tär, wie für die Immobilien der TLG Wohnen GmbH,
über die wir in dieser Woche auch diskutiert haben.

Der Prozess der Umgestaltung der bisherigen Bun-
deswehrstandorte, die aufgegeben werden, kann auch
eine Chance für eine moderne Regionalplanung sein.
Wir streben die Reduzierung der Inanspruchnahme von
Flächen für bauliche Nutzung an; sie soll auf 30 Hektar
pro Tag verringert werden. 30 Hektar pro Tag – das ist
ein hehres Ziel. Im Moment liegen wir ungefähr bei
90 Hektar. Wir können diese Immobilien auch für die
Reduzierung der Flächeninanspruchnahme nutzen, in-
dem wir die Flächen zurückbauen und sie beispielsweise
in den nationalen Naturfonds einstellen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Für die SPD-Frak-
tion steht nicht eine Einzelmaßnahme im Vordergrund,
sondern wir wollen ein Gesamtkonzept. Das kann aber
nicht allein darin bestehen, dass die BImA Veranstaltun-
gen hier in Berlin durchführt und allgemeine Erklärun-
gen abgibt. Das kann nicht der Weg sein. Die Veranstal-
tung vom Februar dieses Jahres hat bei den betroffenen
Kommunen unterschiedliche Resonanz gefunden. Es
kann sich hier nur um einen ersten Schritt handeln. Wir
brauchen ein Gesamtkonzept. Hier ist die Bundesregie-
rung gefordert, Herr Staatssekretär.

Ich appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Koalitionsfraktionen: Machen Sie es sich nicht
so leicht. Stimmen Sie die beiden Anträge nicht einfach
nieder. Gehen Sie mit uns in eine inhaltliche Diskussion,
damit wir am Ende zu guten Ergebnissen kommen für
die Kommunen, die von den Standortschließungen be-
troffen sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717523500

Für die Bundesregierung ergreift das Wort der Parla-

mentarische Staatssekretär Steffen Kampeter.

S
Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1717523600


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Thema Konversion begleitet uns seit dem
Jahr 1990. Das Ende des Kalten Krieges und die erfreuli-
che Wiedervereinigung Deutschlands machten einen
weitgehenden Truppenabbau nicht nur bei der Bundes-
wehr, sondern auch bei den inzwischen befreundeten
ausländischen Streitkräften in Deutschland möglich. Das
ist aufgrund der veränderten sicherheits- und europapoli-
tischen Lage auch geboten.

In der Konsequenz waren bisher militärisch genutzte
Liegenschaften neuen Verwendungen zuzuführen und
die Wirtschaftsstruktur bisheriger Standorte fortzuentwi-
ckeln. Der bisherige Konversionsprozess ist ohne ein ge-
sondertes Konversionsprogramm des Bundes durchge-
führt worden, und zwar auch zu dem Zeitpunkt, als die
Fraktionen, deren Anträge wir heute beraten, Regie-
rungsverantwortung trugen.

Die strukturpolitische Verantwortung des Bundes
liegt im Kern in den Instrumenten, die sich als erfolg-
reich erwiesen haben. Die Bewältigung der Konver-
sionsfolgen liegt nach unserer Verfassung allerdings vor-





Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter


(A) (C)



(D)(B)


rangig bei den Ländern. Der Bund unterstützt die Länder
im Rahmen bestehender Programme und Mittel in erheb-
lichem Umfang. Im Rahmen des Eckwertebeschlusses
zum Bundeshaushalt 2013 und zum Finanzplan bis 2016
haben wir deswegen die Programmmittel für die Städte-
bauförderung für 2013 fortgeschrieben und die Mittel für
die regionale Wirtschaftsförderung angehoben.


(Sören Bartol [SPD]: Aber doch drastisch reduziert!)


Damit sind zwei wesentliche Instrumente zur Konver-
sion und zur strukturellen Anpassung stabilisiert wor-
den. Es ist jetzt Aufgabe der Länder, durch geeignete
Schwerpunktsetzung Lösungen zu flankieren und Struk-
turveränderungen mit nachhaltigen Konzepten zu unter-
legen.

Die Kommunen und deren Spitzenverbände, aber
auch Kolleginnen und Kollegen in den Ländern und im
Bund haben neben der finanziellen Aufstockung beste-
hender Restrukturierungs- oder Förderprogramme eine
verbilligte Abgabe von ehemals militärisch genutzten
Liegenschaften an die betroffenen Städte und Gemein-
den gefordert. Bei allem Verständnis, das ich als kom-
munalpolitisch verankertes Mitglied der Bundes-
regierung für solche Forderungen habe: Für die
Bundesregierung – das haben wir Finanzpolitiker heute
beispielsweise bei der Diskussion des Nachtragshaushal-
tes nicht nur betont, sondern auch bewiesen – hat die
Konsolidierung des Bundeshaushalts Vorrang vor kon-
kurrierenden politischen Zielsetzungen.

Die sogenannten Verbilligungsrichtlinien, die wir alle
aus den 90er-Jahren kennen, haben zu Einnahmeausfäl-
len und damit zu mehr Schulden beim Bund in Höhe von
2,27 Milliarden Euro geführt. Sie waren bzw. sind in ih-
ren Nachwirkungen heute noch überaus verwaltungsauf-
wendig und prozessanfällig. Ihre Wirksamkeit im klassi-
schen Sinne, hinsichtlich der Erreichung ganz konkreter,
ablesbarer regionalpolitischer Erfolge, konnte nie ein-
deutig belegt werden. Aus diesen Gründen – das sind
gute Gründe, liebe Kolleginnen und Kollegen – lehnen
wir die Wiedereinführung von verbilligten Grundstücks-
verkäufen, egal in welcher Form, ab, damit auch eine
Änderung des BImA-Gesetzes oder gar Öffnungsklau-
seln im Haushaltsrecht des Bundes.

Ich will mich aber ausdrücklich bei den Kollegen
Fricke und Brackmann aus dem Haushaltsausschuss be-
danken, die daran mitgewirkt haben, dass das notwen-
dige und anerkennungswürdige Interesse der Kommu-
nen an der Gestaltung von Konversionsliegenschaften
trotzdem aufgegriffen worden ist. Der Haushaltsaus-
schuss hat nämlich beschlossen, den Kommunen einen
Erstzugriff auf die in ihrem Gebiet vorhandenen Konver-
sionsliegenschaften zu ermöglichen. Dies bedeutet kon-
kret: Anstelle einer öffentlichen, überregionalen, mögli-
cherweise europaweiten Ausschreibung wird eine
Festlegung des Kaufpreises durch die Bundesanstalt auf
Grundlage eines unabhängigen Sachverständigengutach-
tens erfolgen.

Die Bundesanstalt hat auf einer Konversionskonfe-
renz in Berlin Vertreter der Kommunen und ihrer Spit-

zenverbände sowie Mandatsträger aus Bund und Län-
dern umfassend über ihre Verfahren informiert. Dazu
waren alle Mitglieder dieses Hauses eingeladen. Der
eine oder andere war da, ebenso viele Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter. Herr Hacker, wenn hier heute von Ihnen
behauptet wird, das sei lediglich eine allgemeine Unter-
richtung gewesen, so teile ich diese Ansicht nicht. Die
Bundesanstalt hat vielmehr aufgezeigt, wie sie die Wert-
ermittlung zukünftig vornehmen lassen wird, wie sie in
Zusammenarbeit, in Kooperation mit den Gemeinden
Nachnutzungen suchen und die Objekte, soweit dies pla-
nerisch erforderlich ist, sukzessive verwerten wird. Sie
steht als kompetenter, effizienter und zukunftsorientier-
ter Dienstleister und Kooperationspartner bereit. Der
Chef der BImA, unser ehemaliger Kollege Gehb, weiß,
wie man mit parlamentarischen Entscheidungsprozessen
umgeht und mit parlamentarischen Repräsentanten ko-
operiert.

Die BImA ist bereit, mit allen von der Konversion be-
troffenen Kommunen Gespräche über die konkreten
Schritte zur zivilen Nachnutzung aufzunehmen. Dabei
wird der Abschluss von Konversionsvereinbarungen an-
geboten, in denen gemeinsame Ziele, das Verfahren und
die jeweiligen Verantwortlichkeiten geregelt werden sol-
len. Allerdings glaube ich, dass wir hier noch mehr mit
den Kommunen ins Gespräch kommen müssen; denn
hier ist die Resonanz noch ausbaufähig. Ich glaube, dass
das in den nächsten Wochen und Monaten besser werden
wird. Aus der BImA aber eine regionalpolitische Institu-
tion zu machen, würde geradezu im Widerspruch zum
eigentlichen Auftrag der BImA stehen, Bundesliegen-
schaften effizient zu verwerten. Die BImA hat einen kla-
ren Auftrag, und sie wird ihn allemal erfüllen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir, die
Bundesregierung, sind uns der Verantwortung in unse-
rem Verantwortungsbereich allemal bewusst. Wir for-
dern aber diejenigen, die in den Ländern und Gemeinden
in ihrem Verantwortungsbereich ebenso Verantwortung
wahrnehmen, dazu auf, in diesen Fragen mit der Bundes-
regierung und der BImA kooperativ zusammenzuarbei-
ten. Die Lösungen können aber nicht darin bestehen,
dass der Bund alles bezahlt. Es geht vielmehr um kon-
krete Lösungen, die im Einzelfall kooperativ und ge-
meinsam vor Ort identifiziert werden. Das Instrumenta-
rium liegt vor. Der Beschluss des Haushaltsausschusses
liefert die dafür notwendigen Maßgaben. Ich glaube, wir
sind auf einem guten Weg. Wir sollten ihn weiter be-
schreiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717523700

Die Kollegin Ingrid Remmers hat jetzt das Wort für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ingrid Remmers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717523800

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Nähe mei-
nes Wahlkreisbüros, an den Bundeswehrstandorten in
Ahlen und Warendorf in Nordrhein-Westfalen, hatten





Ingrid Remmers


(A) (C)



(D)(B)


viele Menschen Sorge um eine komplette Schließung der
dortigen Kasernen. Schließlich stellen Kasernen einen
nicht zu unterschätzenden Wirtschaftsfaktor dar; sie ha-
ben auch zivile Arbeitsplätze geschaffen. Gerade in Zei-
ten, in denen Kommunen aufgrund ihrer katastrophalen
Unterfinanzierung überall kürzen müssen, fällt nun auch
noch die Konjunkturspritze Bundeswehr weg. Deswegen
ist es aus unserer Sicht unbedingt notwendig, neben dem
Bundeswehr-Reformbegleitgesetz ein solides Konversi-
onsgesetz zu schaffen.


(Beifall bei der LINKEN)


Schließlich ist die zivile Nutzung bisheriger Militär-
standorte ein großer Gewinn für unsere Gesellschaft und
für die Menschen vor Ort. Die Abwesenheit von Lärm,
gefährlichen Waffen und unzugänglichen militärischen
Sperrgebieten wird wohl niemand beklagen, das Fehlen
eines sinnvollen zivilen Nachnutzungsprogrammes
schon.

Viele Beispiele zeigen, dass bei kluger Planung und
bei den richtigen Rahmenbedingungen die Umwidmung
der Gelände in den Wirtschafts- und Naturkreislauf her-
vorragend gelingen kann. Wir haben schon mehrere Bei-
spiele gehört. Mönchengladbach in NRW ist ebenso ein
Beispiel dafür; denn der ehemalige Bundeswehrstandort
ist mittlerweile eine erfolgreich arbeitende Schienentest-
strecke.

Es ist also klar, dass Kommunen und Länder in die
Lage versetzt werden müssen, eine sinnvolle Nachnut-
zung planen und durchführen zu können. Dazu muss
aber aus dem Verteidigungshaushalt ein entsprechender
Fonds bereitgestellt werden. Anders als unser Parlamen-
tarischer Staatssekretär Kampeter gerade gesagt hat, geht
es eben nicht wie bisher ohne Konversionsprogramm.
Wir brauchen einen Fonds, der unter anderem die Kosten
für Machbarkeitsstudien, für Wirtschaftsförderpro-
gramme und für Städtebauförderung übernimmt.


(Beifall bei der LINKEN)


Allein die finanzielle Lage der 34 Kommunen in
NRW, die in den vermeintlichen Stärkungspakt gezwun-
gen wurden, macht die Nutzung bestehender Bundes-
und Landesprogramme in diesem Bereich völlig unmög-
lich, weil sie gar nicht in der Lage sind, den nötigen Ei-
genanteil dafür aufzubringen. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, den Kommunen ist allein mit
dem Verweis auf die verschiedenen Förderprogramme
der EU auch nicht geholfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Neben der finanziellen Unterstützung sind den Kom-
munen ein eindeutiges Vorkaufsrecht der Immobilien
einzuräumen und dazu gegebenenfalls vergünstigte Kre-
dite der Kreditanstalt für Wiederaufbau bereitzustellen.
Dass die Kommunen immer noch nicht angemessen be-
rücksichtigt werden, wie Herr Kampeter eben behauptet
hat, zeigt der Brief eines CDU-Bürgermeisters aus Hörs-
tel in Nordrhein-Westfalen vom 3. April an Finanzminis-
ter Schäuble mit der dringenden Bitte, auf die Bundesan-
stalt für Immobilienaufgaben einzuwirken, damit die
Stadt den dortigen ehemaligen NATO-Flugplatz kaufen
kann. Auf ihre Anfrage bei der BImA, Herr Kampeter,

zeigte sich diese – ich zitiere – „irritiert“. Das zeigt ein-
mal mehr,


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das zeigt gar nichts!)


dass für dieses Vorkaufsrecht die Geschäftsgrundlage
der BImA dahin gehend geändert werden muss, dass
künftig die Realisierung gesamtgesellschaftlicher Inte-
ressen durch die Kommunen beim Verkauf solcher Im-
mobilien absolute Priorität haben muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund for-
dert die Möglichkeit einer kostengünstigen oder sogar
unentgeltlichen Übertragung von Immobilien, ähnlich
– wir haben es eben gehört – der Bundesrat. Die Kom-
munen brauchen zur Bewältigung der Konversion also
ausreichend finanzielle Unterstützung, das Vorkaufs-
recht für die Immobilien bzw. die kostenlose Übertra-
gung der Grundstücke und andernfalls vergünstigte Kre-
dite der KfW, um gemeinsam mit den Kommunen und
unter breiter Bürgerbeteiligung aus den ehemaligen Mi-
litärstandorten endlich etwas Sinnvolles zu schaffen.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Schluss möchte ich mir eine kleine spitzfindige
Erinnerung nicht verkneifen. In der Bundestagsdebatte
im April des Jahres 2005, also noch unter Rot-Grün,
über genau dieses Thema vertrat zum Beispiel der Kol-
lege Brinkmann von der SPD – er ist jetzt leider nicht da –
noch die Position, dass die BImA, wie nach § 63 Abs. 3
der Bundeshaushaltsordnung vorgesehen, auch bei kon-
versionsbedingten Verkäufen ausschließlich zu den
höchsten erzielbaren Marktpreisen verkaufen dürfe. Die
Kollegin Schäfer von der CDU – gerade war sie noch da –
hingegen forderte in der gleichen Debatte:

Nur die Bereitstellung der Grundstücke an die
Kommunen zu verbilligten Preisen fördert die
schnelle, ergebnisorientierte Konversion.


(Beifall bei der LINKEN – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Da hatte sie doch recht!)


… Wenn es denn kein Geld des Bundes gibt, dann
geben Sie den Gemeinden wenigstens die Grund-
stücke.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Fraktion und ich freuen uns, dass die SPD in-
zwischen zur Einsicht gelangt ist und nehmen die CDU,
liebe Kollegin Schäfer, beim Wort.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Sein bestimmt das Bewusstsein; das wissen Sie doch!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717523900

Sie hat Ihnen von der Tribüne sozusagen intensiv zu-

gehört. – Der Kollege Stephan Thomae hat das Wort für
die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1717524000

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Am 26. Oktober letzten Jahres hat der Bundes-
minister der Verteidigung bekannt gegeben, dass
31 Standorte der Bundeswehr in Deutschland geschlos-
sen werden. Nun steht mit der Konversion, also der Um-
wandlung von militärischer in zivile Nutzung, eine
große Aufgabe für viele Städte und Gemeinden in
Deutschland an. Es wird eines der letzten großen deut-
schen Flächenprojekte sein mit großen strukturellen
Auswirkungen auf viele Städte und Gemeinden.

Dem sehen viele Städte und Gemeinden mit Sorge
entgegen, weil es mit dem Verlust von Wirtschafts- bzw.
Kaufkraft sowie von Arbeitsplätzen für Zivilangestellte
verbunden ist, wenn Soldaten mit ihren Familien abzie-
hen. Viele Kommunen fürchten die Gefahr von Leer-
stand, auch von Verwahrlosung innerstädtischer Flächen.
Aber wie es bei Hölderlin heißt:

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

Das sind Probleme, die die Kommunen zu gewärtigen
haben. Es stecken aber auch Chancen in dieser Konver-
sion. Wir als Koalition wollen den Kommunen ein faires
Angebot machen, ihnen als Partner in diesem Handel
fair gegenübertreten. Aber wir wollen die Kommunen
nicht mit Heilslehren beglücken.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Hat Herr Ramsauer aber gemacht!)


Schauen wir uns einmal etwa die Vorstellungen der
Grünen an, die die Kommunen mit nachhaltigen Kon-
zepten glücklich machen wollen. Niemand hat etwas ge-
gen Nachhaltigkeit oder langfristige Perspektiven. Der
Bund kann aber nicht von sich aus sagen: Hier baut der
Bund Naturparks auf Kasernengelände. Die Kommunen
haben das Recht, aber auch die Aufgabe, Perspektiven
für diese Flächen zu entwickeln.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das soll auch so bleiben!)


Sie haben die Planungshoheit. Ihnen obliegt es, zu ent-
scheiden, ob aus Kasernenflächen Gewerbeflächen wer-
den sollen, ob sie für den Wohnungsbau verwandt wer-
den sollen oder ob darauf Grünflächen entstehen sollen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Unbestritten!)


Wir wollen die Kommunen nicht bevormunden, son-
dern ihnen ein faires Angebot machen, auch in Überein-
stimmung mit europäischen Beihilferichtlinien, die wir
zu berücksichtigen haben. Im Antrag der Grünen lese ich
Sätze oder Wörter wie: Grün bleibt grün, Renaturierung,
Aufnahme in nationales Naturerbe, Übertragungen an
Naturschutzorganisationen, Zweckbindung an den Na-
turschutz und dergleichen mehr. Das ist nicht grundsätz-
lich falsch. Man muss aber sehen: Manchmal mag Kon-
version eine Chance für den Naturschutz sein, manchmal
ist sie auch eine Chance für Wirtschaftsförderung bzw.
die Förderung örtlicher Unternehmen. Manchmal sind
Bundeswehrgelände optimal für die Ansiedlung von Ge-
werbebetrieben, von Handel und Industrie, aber auch für
Wohnungsbebauung geeignet.


(Sören Bartol [SPD]: Da hat keiner was dagegen!)


Das ist eine große Chance auch für den Städtebau und
die Stadtentwicklung. Deswegen wollen wir den Kom-
munen im Rahmen eines Erstzugriffsrechtes diese
Grundstücke auf vereinfachtem Wege überlassen.

In dem Antrag der SPD lese ich Vorstellungen, die da-
rauf hinauslaufen, dass man die Kommunen mit dem
Füllhorn bzw. mit neuen Förderprogrammen überschüt-
ten will. Damit scheint man sich den Beifall vieler Bür-
germeister sichern zu wollen; aber sehr originell und
fantasievoll scheint mir das nicht zu sein.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Welchen Antrag haben Sie gelesen?)


Heute Nachmittag habe ich bei der Einbringung des
Nachtragshaushaltes gehört, dass uns die SPD mahnt,
doch mehr zu sparen.


(Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Aber an der richtigen Stelle!)


Jetzt aber will sie in ihrem Antrag neue Förderpro-
gramme. Da zeigt sich ihr wahres Gesicht. Die SPD ist
groß im Erfinden und Auffinden neuer Einnahmequel-
len. Sie ist auch groß im Finden neuer Ausgabemöglich-
keiten.

Was will die Koalition? Wir wollen, dass wir im Rah-
men der europäischen Beihilfe – da gibt es Regeln, die
wir zu beachten haben – einen fairen Umgang mit den
Kommunen pflegen. Wir wollen ihnen ein Erstzugriffs-
recht gewähren; aber wir wollen auch, dass Planungsge-
winne aufgeteilt werden. Auch den Kommunen steht et-
was zu, wenn sie durch Planung für Flächen die
Grundlage dafür schaffen, dass Grundstücke eine Wert-
steigerung erfahren. Aber auch der Bund als Eigentümer
soll nicht das Nachsehen haben, wenn er Grundstücke
zügig und auf einfachem Wege abgibt und die Kommu-
nen ein Erstzugriffsrecht erhalten.

Wenn ich mir die Anträge der Opposition anschaue,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ziehe ich das Fazit: Die
SPD will die Kommunen hätscheln. Die Grünen wollen
die Kommunen gängeln. Wir wollen mit den Kommunen
einen fairen Umgang.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717524100

Das Wort hat unsere Kollegin Daniela Wagner für

Bündnis 90/Die Grünen.


Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717524200

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-

men und Herren! Lieber Kollege Thomae, Sie haben na-
türlich recht: Das ist Sache der Kommunen. Wenn aber
eine Kommune in einem hochverdichteten Ballungs-
raum wie dem Rhein-Main-Gebiet drei Jahre lang über
den Preis einer solchen Liegenschaft verhandelt, weil sie
überhaupt nicht in der Lage ist, ihn zu bezahlen, wäh-
rend gleichzeitig Hunderte von jungen Leuten auf der
Straße stehen und nach preiswertem Wohnraum suchen,





Daniela Wagner


(A) (C)



(D)(B)


dann ist an dieser Veräußerungspolitik erkennbar etwas
falsch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Die Liegenschaften einer neuen Nutzung zuzuführen,
ist für die BImA, für die Bundesländer und für die Kom-
munen zweifellos eine riesige Herausforderung. Die He-
rausforderungen sind zwar sehr unterschiedlich, aber im-
mer sehr groß. Dennoch hat der Bund – das ist das, was
mich ärgert – bis heute kein zukunftsweisendes Konzept
zur Nachnutzung der militärischen Liegenschaften von
Bundeswehr und alliierten Streitkräften vorgelegt. Sie
verweisen auf die sattsam bekannten städtebaulichen
Förderprogramme, sagen etwas zum Erstzugriffsrecht
und wollen eine Gewinnabschöpfung, aber ohne vorher
notwendige Preisnachlässe gewähren zu wollen, die
überhaupt erst zu einer Situation führen, Gewinn ab-
schöpfen zu können. Wir meinen, das ist zu wenig.

An dieser Stelle muss ich Ihnen widersprechen, Frau
Kollegin Remmers. Auch wir verlangen mehr als ledig-
lich neue Städteförderungsprogramme oder andere Pro-
gramme. Wir wollen dezidiert die Änderung des
§ 1 BImA-Gesetz. Wir wollen mehr Freiheit für die
BImA. Wir wollen, dass sie in entsprechenden Situatio-
nen auch Gespräche mit Oberbürgermeistern und Pla-
nungsdezernenten vor Ort führen kann; denn wir sind
der Auffassung, die öffentliche Hand muss bezüglich ih-
rer Liegenschaftspolitik, bezüglich der Verwertung ihrer
Grund-stücke und Gebäude eine Vorbildfunktion einneh-
men. Das gilt für den Bund genauso wie für die Länder
und die Kommunen.

Unsere Ziele sind zum Beispiel die Stärkung des
Klima- und Umweltschutzes, die Reduzierung der Flä-
cheninanspruchnahme und eine vernünftige Stadtent-
wicklung, die nicht langweilige Investorenarchitektur in
die Städte bringt, sondern gewährleistet, dass anspruchs-
volle Projekte wie altersübergreifende Wohngruppen-
und Mehrgenerationenprojekte Zugriff auf solche Lie-
genschaften haben. Dabei geht es nicht nur um neues
und anderes Wohnen, sondern auch darum, dass dort in
vielen Fällen das geleistet wird, was früher in Familien
geleistet wurde. Deshalb sind gerade Konversionsvorha-
ben in hochverdichteten Innenstadtlagen – dort ist der
Wohnungsmarkt oft besonders angespannt –, die einer
Wohnnutzung zugeführt werden sollen, ganz besonders
sensible Projekte.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wenn es die Stadt München nur gemacht hätte!)


Wir sind der Auffassung, dass man die Stadtentwick-
lungspolitik der Kommunen stärken und nicht durch
vollkommen überzogene Preise für diese Liegenschaften
konterkarieren sollte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Kampeter, ich verstehe Sie. Dass Sie als Staats-
sekretär im Bundesfinanzministerium Geld in die Kasse
bekommen wollen – das müssen Sie ja auch –, ist aller
Ehren wert, aber es ist unsere gemeinsame Aufgabe, es

ist Aufgabe der Länder, des Bundes und der Städte, zum
Beispiel dafür zu sorgen, dass auch bezahlbarer Wohn-
raum für diejenigen Mitglieder unserer Gesellschaft zur
Verfügung steht, die sich auf dem freien Wohnungsmarkt
in den Hochpreissegmenten, die zunehmend gebaut wer-
den, nicht eigenständig versorgen können.


(Beifall der Abg. Hans-Joachim Hacker [SPD] und Ingrid Remmers [DIE LINKE])


Ich kann aber keinen sozialen Wohnungsbau, der auch
nur annähernd wirtschaftlich ist, auf Grundstücken reali-
sieren, die die Gemeinde vorher zu Höchstpreisen vom
Bund zurückerwerben musste.


(Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Die meisten Kasernen liegen auf dem Land!)


Deswegen möchte ich Sie noch einmal bitten: Gehen
Sie über die Instrumentarien, die Sie hier bereits aufge-
zählt haben, hinaus. Lassen Sie uns gemeinsam das
BImA-Gesetz ändern. Wir haben gerade gehört, dass so-
wohl Sozialdemokraten als auch Christdemokraten da-
rüber schon ganz andere Dinge gedacht und gesagt ha-
ben. Lassen Sie uns einen Konsens finden und das
Bestmögliche für unsere Städte tun; denn dort spielt sich
das Leben ab.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717524300

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der

Kollege Norbert Brackmann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Norbert Brackmann (CDU):
Rede ID: ID1717524400

Werte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man sich die Reden hier anhört, gewinnt man
leicht den Eindruck, dass wir jetzt viele Probleme unse-
rer Gesellschaft mit dem Vehikel der Konversion ange-
hen sollten, dass wir auf diesem Weg viele Wünsche un-
serer Gesellschaft erfüllten könnten. Dem ist aber nicht
so.


(Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Das liegt an der Breite der Chancen, die es gibt!)


– Ja, aber die Chancen sind ebenso wie die Risiken über-
schaubar. Wir haben 1990 fast 1 Million Soldaten in
Deutschland gehabt. Jetzt reduzieren wir von 235 000
auf 185 000 Soldaten. Es geht hier um rund 120 Stand-
orte, also um einen relativ kleinen Schritt, nachdem wir
bereits in zwei großen Konversionswellen Erfahrung ge-
sammelt haben. Darauf komme ich gleich zurück; wir
beginnen das Ganze ja nicht neu.

Bei der letzten Konversionswelle, seinerzeit unter
Verteidigungsminister Struck, hat es überhaupt keine
Programme für die von der Konversion betroffenen Ge-
meinden gegeben, um solche Maßnahmen zu unterstüt-
zen. Heute befinden wir uns in der Situation – damit
müssen wir uns abfinden –, dass wir alle in einem Boot





Norbert Brackmann


(A) (C)



(D)(B)


sitzen. Warum sage ich das? In den vorliegenden Anträ-
gen wird unter anderem die Änderung des BImA-Geset-
zes gefordert – dies ist im Antrag der Grünen noch gra-
vierender –, und es werden genaue Vorgaben gemacht,
was passieren soll. Die Planungshoheit liegt jedoch
– dies ist so geregelt – ausschließlich und exklusiv bei
den Kommunen. Ein bisschen betroffen sind noch die
Länder über die Entwicklungsplanung. An diese Pla-
nungshoheit können, wollen und dürfen wir nicht heran.
Das, was unsere Kommunen auszeichnet, ist die Selbst-
verwaltung vor Ort; diese müssen wir auch in Zukunft
garantieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das will doch gar keiner! Das soll doch gar nicht geändert werden!)


– Aber die Planungshoheit. Sie wollen ihnen aber Vorga-
ben machen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Nein! Lesen!)


Was ist unser Anteil als Bund, über den wir hier jetzt
diskutieren? Das sind die Grundstücke. Die Grundstücke
haben per se, weil sie nur für Verteidigungszwecke vor-
gesehen sind, keinen Marktwert.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Oho! Das ist eine neue Erkenntnis! – Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Dann brauchen die Kommunen auch nichts zu bezahlen!)


– Oho? – Allein als Verteidigungsgrundstücke, also so,
wie sie heute definiert sind, haben sie keinen Wert. Sie
haben erst einen Wertzuwachs, wenn die Kommunen sie
umwidmen und darauf eine andere Planung legen. Das
ist wie immer im Leben. Der Wind und die Wellen sind
immer bei denen, die den fähigsten Steuermann haben.
Weil wir hier zwei Akteure haben, die ins Boot müssen
– die Kommunen können nicht ohne den Bund, und der
Bund kann nicht ohne die Kommunen –, kommt es da-
rauf an, dass sich Bund und Kommunen gemeinsam der
Probleme annehmen, die es vor Ort gibt.

Es gibt sehr unterschiedliche Probleme. Es gibt Lie-
genschaften, die sich mitten in Naturschutzgebieten be-
finden. Diese können wir nur zurückbauen. Dafür tragen
wir als Bund die Kosten. Diese Grundstücke werden
dann künftig der Natur wiedergegeben. Dies stellt in der
Regel keine besonderen Probleme für die Gemeinden
dar.

Es gibt auch Grundstücke, die mitten in Städten lie-
gen und einen hohen Planungswert haben. Die aktiven
Kommunen nehmen sich dieser Aufgabe an. Ich selbst
habe zum Beispiel in Lüneburg und anderswo Gespräche
dazu geführt. Die Kommunen gehen das an und sagen:
Wir helfen bei dem warmen Übergang, und wir haben
ein Interesse daran, gemeinsam mit Bund und BImA da-
für zu sorgen, dass wir auch in Zukunft Arbeitsplätze
und Gewerbe mitten in der Stadt haben. Sie ziehen da-
raus einen Vorteil. Auch hier machen wir gemeinsame
Sache. Es ist nur fair, wenn wir uns die entstehenden
Vorteile teilen. Auch dies ist kein Problem.

Die dazwischen gelagerten Fälle verursachen Pro-
bleme. Davon gibt es eine ganze Reihe. Um diese müs-
sen wir uns gemeinsam mit den Kommunen kümmern.
Auch da ist es so: Der Abzug der Bundeswehr wird bere-
chenbar, weil das Verteidigungsministerium sehr früh
sagt, wann und wo er stattfindet. Wenn sich eine Tür
schließt, dann dürfen wir nicht nur auf diese schauen;
denn wo sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere.
Wir müssen auf die Tür schauen, die sich öffnet, und
nicht nur auf die starren, die sich schließt. Da haben wir
ganz unterschiedliche Alternativen. Diese müssen wir
angehen.

Es ist in der Regel nicht so – das ist die eine Alterna-
tive, die Frau Wagner eben angesprochen hat –, dass Ge-
meinden den Preis nicht zahlen können. Selbst wenn
dies der Fall ist, bieten wir eine Alternative an. Eine Er-
fahrung der vergangenen Konversionsprozesse ist, dass
die BImA bereit ist, überall dort, wo am Ende ein wirt-
schaftlicher Erfolg zu erwarten ist, über Verträge zur
städtebaulichen Entwicklung die Planung und auch die
Umsetzung der Infrastrukturmaßnahmen vorzufinanzie-
ren und sich hinterher mit den Gemeinden den Gewinn
zu teilen. Das heißt, wenn wir Gemeinden haben, die das
Ganze nicht selbst finanzieren können, geht die BImA
sogar so weit, es vorzufinanzieren. All diese Probleme
stellen sich dann gar nicht. Wir reden also von noch we-
niger Gemeinden, die demgegenüber sagen: Liebe
Leute, wir wollen das aber gerne in einer Hand haben.
Wir wollen das Ganze aus dem Gemeindesäckel mitfi-
nanzieren.

Bisher gilt die Regelung – auch von der EU so gefor-
dert; daran kommen wir nicht vorbei –, dass ausge-
schrieben werden muss. Deswegen gab es unsere Initia-
tive im Haushaltsausschuss, den Gemeinden ein
Erstzugriffsrecht – im Übrigen kein Vorkaufsrecht; das
sind zwei völlig unterschiedliche Sachen – auf die Flä-
chen zu geben. Damit haben sie die Verfügungsgewalt.
Wenn sie mit den Kommunen reden, dann stellen Sie
fest, dass sich zumindest einige immer noch beschwert
fühlen. Wir versuchen aber, jeder einzelnen Kommune
zu helfen.

Wenn die Kollegin Hasselfeldt, nachdem sie mit Bür-
germeistern in Bayern gesprochen hat, auf einen wegen
der Tatsache zukommt, dass zu diesem Erstzugriffsrecht
auch gehört, dass es hinterher eine öffentliche Verwen-
dung geben muss, dann sei hier noch einmal deutlich ge-
macht und erklärt: Zu verhindern, dass Arbeitsplätze
wegfallen, die Wirtschaft wegbricht und die Leute, die
dort gearbeitet haben, an anderer Stelle untergebracht
werden müssen, ist natürlich eine öffentliche Aufgabe,
geradezu eine öffentliche Kernaufgabe.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die bayerische Staatsverfassung sieht sogar ausdrück-
lich vor – für diejenigen, die es nachlesen wollen: in
Art. 83 –, dass der Wohnungsbau eine Kernaufgabe der
Kommunen ist. Damit sind alle Rahmenbedingungen er-
füllt, um die Gemeinden vor Ort ordentlich unterstützen
zu können.





Norbert Brackmann


(A) (C)



(D)(B)


Meine Conclusio: Mit Ihren Anträgen helfen Sie den
Gemeinden nicht. Sie sind schön und fürs Schaufenster
geeignet; denn es geht um einen großen Topf, über den
man sich streiten kann. Aber Geldregen alleine führt
noch nicht zur Ernte. Unsere Position dagegen lautet:
Respekt vor den Kommunen, die die Planungshoheit
haben – sie sollen sie auch behalten; da greifen wir nicht
ein –, und Respekt vor dem Steuerzahler. Dieser gebietet
es, –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717524500

Herr Kollege.


Norbert Brackmann (CDU):
Rede ID: ID1717524600

– dass wir nur dort, wo tatsächlich Probleme beste-

hen, eingreifen und sie anpacken. Dort wollen wir Unter-
stützung gewähren.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717524700

Herr Kollege, Respekt vor der Redezeit!


Norbert Brackmann (CDU):
Rede ID: ID1717524800

Herr Staatssekretär Kampeter hat darauf hingewiesen,

dass die ersten 33 Millionen Euro bereits vorgesehen
sind.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717524900

Die Kollegin Kirsten Lühmann hat jetzt das Wort für

die SPD-Fraktion.


Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1717525000

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-

nen! Verehrte Zuhörende! 1998 hatten wir eine Bundes-
polizeireform. Wir haben Liegenschaften entlang der
ehemaligen Grenze zur DDR aufgelöst, weil sie nicht
mehr vonnöten waren. Das ist jetzt fast 15 Jahre her.
Trotzdem sind viele dieser Liegenschaften, zum Beispiel
in meinem Wahlkreis, in Bad Bodenteich, noch nicht
verwertet. 2002 – es wurde schon erwähnt – hatten wir
eine Bundeswehrreform; sie ist noch nicht einmal ganz
zu Ende geführt. Es gibt immer noch zwölf Standorte,
die aufgrund dieses Reformschrittes aufgelöst werden.
2011 gab es eine weitere Bundeswehrreform. Es werden
31 weitere Standorte aufgelöst, der Umfang von 90 zum
Teil deutlich reduziert. 2012 beginnt der Abzug unserer
NATO-Partner. Insgesamt werden 40 Standorte in
Deutschland komplett aufgegeben.

Was bedeutet das? Ich nenne das Beispiel der Ge-
meinde Bergen in meinem Wahlkreis. Bergen hat etwa
17 000 Einwohner sowie 15 000 britische Soldaten ein-
schließlich ihrer Familien. Das heißt, beginnend mit dem
Abzug wird diese Kommune etwa die Hälfte ihrer Be-
völkerung und ihrer Wirtschaftskraft verlieren.

Ich nenne das Beispiel der Gemeinde Rendsburg. Der
Umfang des dortigen Standorts ist bei der ersten Bundes-
wehrreform reduziert worden. Auch von der zweiten

Bundeswehrreform ist der dortige Standort betroffen.
Das heißt, die Gemeinde, die die Folgen der ersten Kon-
version mit Mühe und Not geschultert hat, ist jetzt von
der zweiten Welle der Schließungen betroffen und muss
erneut Anstrengungen unternehmen.

Was tut die Regierung nun, um den betroffenen
Kommunen auf ihrem verantwortungsvollen Weg unter
die Arme zu greifen? Es wurde schon erwähnt: Herr
Ramsauer hat öffentlich eine zusätzliche Finanzquelle
gefordert, und zwar dergestalt, dass aus den Verkaufs-
erlösen der BImA ein Extratopf gebildet wird, aus dem
die strukturschwachen Gebiete gefördert werden. Das ist
ein Vorschlag, den die Kommunen sehr gerne gehört
haben. Allerdings hätte Herr Ramsauer, wie so oft bei
seinen Vorschlägen, vorher vielleicht einmal sein Kabi-
nett und seine Rechtsabteilung fragen sollen. Dieser
Vorschlag wurde kurze Zeit später nämlich wieder zu-
rückgenommen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Hört! Hört!)


Außer Spesen nichts gewesen! So etwas ist unlauter. Das
ist für uns keine Politik.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Was hat die Regierung gemacht, nachdem das vom
Tisch war? In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der
SPD wird gesagt:

Nach der föderalen Aufgabenverteilung liegt die
strukturpolitische Verantwortung für die Bewälti-
gung der Konversionsfolgen vorrangig bei den Län-
dern.

Na, danke schön, meine Herren und Damen. Erst ma-
chen Sie Vorschläge, die nicht funktionieren, und wenn
Sie das festgestellt haben, dann schieben Sie die Verant-
wortung schnell auf die Länder.


(Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: Das ist die Verfassung, Frau Kollegin!)



Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1717525100

Ist doch super. Wir haben doch die Programme für die
Städtebauförderung. – Schauen Sie sich aber doch ein-
mal an, was Sie mit diesen Programmen gemacht haben.


(Zuruf von der SPD: So ist es!)


Wenn Sie sich den Bedarf angucken, den die Kommunen
an Konversion haben, dann sehen Sie, dass das schwer
betroffene Land Schleswig-Holstein auf Jahre hinaus je-
des Jahr die kompletten Zuweisungen aus den Mitteln
der Städtebauförderung allein für die Konversionsge-
meinden ausgeben müsste, während alle anderen in die
Röhre gucken. Das ist Ihr Konzept für die Hilfe der
Kommunen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Das können wir so nicht machen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717525200

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage zu-

lassen?






(A) (C)



(D)(B)



Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1717525300

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717525400

Bitte schön.


Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1717525500

Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, wie sehr wir, begin-

nend ab dem Jahre 1992, nach Möglichkeiten gesucht
haben, der Landeshauptstadt München günstig den Er-
werb von militärischen Liegenschaften zu ermöglichen?
Ich nenne die Stichworte Bayern-Kaserne, Panzerwiese,
Luitpoldkaserne usw. Ist Ihnen bekannt, wie viele neue
Wohnungen versprochen wurden und wie wenig dort
bisher realisiert worden ist, obwohl die Konditionen für
die Stadt München außerordentlich günstig waren?


(Iris Gleicke [SPD]: Die Stadt München hat auch noch einen Flughafen abzubauen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717525600

Frau Kollegin, wenn Sie mit Ihrer Antwort auch

gleich zum Ende kommen, dann halten Sie die Redezeit
noch ein.


Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1717525700

Frau Präsidentin, ich bemühe mich.

Wir möchten genauso wie Sie die Kommunen nicht
aus ihrer Verantwortung entlassen, und wir möchten mit
den Kommunen zusammen etwas entwickeln. Das kön-
nen wir nur entsprechend der Finanzkraft der Kommu-
nen tun. Hier hilft es uns wenig, wenn wir den Kommu-
nen Angebote machen, wie zum Beispiel das
Erstzugriffsrecht, obwohl die entsprechenden Kommu-
nen gar nicht in der Lage sind, diese Programme anzu-
nehmen.

Darum machen wir Vorschläge, die den Kommunen
wirklich helfen. Wir bitten Sie, dass wir diese
Vorschläge, die in mehreren Anträgen vorliegen, offen
diskutieren


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das ist keine Antwort! Sie haben die Grundstücke genommen, aber nichts getan!)


und dass wir damit den ersten Schritt auf dem Weg zu ei-
ner echten Unterstützung der Kommunen und auf dem
schwierigen Weg zu einem erfolgreichen Strukturwandel
machen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717525800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9060 und 17/9405 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen von
CDU/CSU und FDP wünschen jeweils Federführung
beim Haushaltsausschuss. Die Fraktionen von SPD und

Bündnis 90/Die Grünen wünschen jeweils Federführung
beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.

Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen abstim-
men, also Federführung beim Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung. Wer ist für diese Überwei-
sungsvorschläge? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Überweisungsvorschläge sind damit bei Zu-
stimmung durch die Opposition abgelehnt. Die Koalition
hat dagegen gestimmt.

Ich lasse jetzt über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen,
nämlich Federführung beim Haushaltsausschuss. Wer ist
dafür? – Wer ist dagegen? – Gibt es Enthaltungen? –
Dann sind die Überweisungsvorschläge so angenom-
men, und wir werden so verfahren.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Kauder, Ute Granold, Erika Steinbach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Marina Schuster, Serkan
Tören, Pascal Kober, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP

Fortbestand des Klosters Mor Gabriel sicher-
stellen

– Drucksache 17/9185 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu sehe
und höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die
Aussprache.

Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-
Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1717525900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir beraten heute in erster Lesung einen Antrag der
Koalitionsfraktionen, mit dem wir uns für den Erhalt des
syrisch-orthodoxen Klosters Mor Gabriel in der Türkei
einsetzen wollen. Es handelt sich um eines der ältesten
Klöster weltweit, gegründet vor 1 600 Jahren, gelegen in
der südöstlichen Türkei nahe der syrischen Grenze, das
sich aber bedauerlicherweise seit längerem juristischen
Drangsalierungen ausgesetzt sieht.

Der Orden wird beschuldigt, illegal Land besetzt zu
haben. Es gibt sogar die Befürchtung, dass das Kloster,
das erst vor wenigen Jahren mit EU-Fördermitteln res-
tauriert wurde, enteignet und entwidmet werden soll. In
diesem Zusammenhang sind derzeit mehrere Gerichts-
verfahren anhängig. Darin geht es um die Einstufung der
vom Kloster genutzten Ländereien, um den Vorwurf, der
Klostervorsteher habe widerrechtlich auf staatlichem





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


Land eine Mauer errichten lassen, und um eine ausste-
hende Entscheidung des Kassationsgerichtshofs.

Eine Verurteilung in einem der anhängigen Verfahren
würde nicht nur das Kloster gefährden, sondern zugleich
auch Religion und Kultur der syrisch-orthodoxen Min-
derheit in der Türkei erschüttern und wäre ein deutlicher
Rückschritt bei der Wahrung des Menschenrechts auf
Religionsfreiheit. In unserem Antrag geht es darum nicht
ausschließlich um die Sicherung der Existenz des Klos-
ters, sondern auch um die Bewahrung und Akzeptanz
der religiösen Vielfalt in der Türkei, um den Schutz ihrer
Minderheiten und um deren Besitz.

Besonders vor dem Hintergrund, dass die syrisch-
orthodoxe Minderheit während des vergangenen Jahr-
hunderts in der Türkei erheblich abgenommen hat,
verdient dieses Thema unsere Aufmerksamkeit. Von
200 000 Mitgliedern Anfang des 20. Jahrhunderts in der
Türkei hat die Zahl ihrer Mitglieder auf heute nur noch
circa 13 000 Personen abgenommen. 3 000 von ihnen
sind in der Region um Mor Gabriel beheimatet.

Auch im Interesse weiterer religiöser Minderheiten in
der Türkei sind wir verpflichtet, die Rettung des Klosters
Mor Gabriel anzumahnen;


(Beifall der Abg. Michael Brand [CDU/CSU])


denn mit solchen religiösen Wirkungsstätten steht und
fällt das geistliche Leben von Glaubensgemeinschaften.
Für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist es kon-
stitutiv, dass beispielsweise traditionsreiche religiöse
Stätten erhalten werden dürfen, bzw. überhaupt Orte
existieren dürfen, um den Glauben zu pflegen.

Die juristische Auseinandersetzung um das Kloster
zeigt exemplarisch, welche Probleme für religiöse
Minderheiten bei der Durchsetzung ihrer Rechte bestehen.
Zwar garantiert die türkische Verfassung die Religions-
und Gewissensfreiheit. Die individuelle Glaubensfreiheit
wird respektiert, und die individuelle Religionsausübung
ist frei möglich. Für nichtmuslimische Minderheiten be-
stehen jedoch noch immer Einschränkungen bezüglich ih-
rer kollektiven Religionsfreiheit als Gruppen, in Fragen
der Rechtspersönlichkeit, hinsichtlich der Eigentums-
rechte sowie ihrer Möglichkeit, Geistliche auszubilden
und Gebetsstätten zu errichten.

Darum ist der türkische Staat aufgefordert, hier wei-
tere Reformen anzugehen und in diesem konkreten Fall
gegenüber dem Kloster Mor Gabriel Gerechtigkeit im
Sinne des Menschenrechts auf Religionsfreiheit walten
zu lassen. In den vergangenen Jahren haben Vertreter der
Bundesregierung und des Deutschen Bundestages mehr-
fach auf die Probleme des Klosters hingewiesen und dies
auch in Gesprächen mit der türkischen Regierung zur
Sprache gebracht. Dies unterstreicht unser Antrag mit
der Forderung, den Erhalt des Klosters Mor Gabriel zu
sichern.

In unserem Antrag wird darüber hinaus gefordert, der
syrisch-orthodoxen Minderheit in der Türkei im Ein-
klang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention
alle Rechte zu gewähren, die auch in der Beitrittspartner-

schaft der EU mit der Türkei festgelegt sind. Unsere
Fraktion will diesen Weg der Türkei in Richtung Europa
grundsätzlich unterstützen, nicht zuletzt auch deshalb,
weil dies zugleich auch der Weg hin zu mehr Menschen-
rechten ist. Die derzeitigen Beitrittsverhandlungen wer-
den ergebnisoffen geführt. Daher wollen wir Hand in
Hand mit Vertretern der türkischen Regierung darauf
hinarbeiten, dass die Verhandlungen auch eines Tages
abgeschlossen werden.

Bei aller Kritik werden in unserem Antrag darum
nicht die Fortschritte verschwiegen, die die Türkei in
den letzten Jahren gemacht hat.

Im August 2011 beispielsweise verkündete der türki-
sche Premier Erdogan eine neue Verordnung, wonach
Stiftungen der nach dem Lausanner Vertrag anerkannten
religiösen Minderheiten wie Armenier, Griechisch-Or-
thodoxe und Juden Immobilien zurückerhalten sollen,
die nach 1936 enteignet wurden. Nach der neuen Verord-
nung können diese Stiftungen Immobilien, die sie da-
mals registriert und infolge der Krisen an den türkischen
Staat verloren haben, zurückfordern. Die neue Verord-
nung kehrt zudem die Beweislast zugunsten der Stiftun-
gen um und sieht für den Fall eines inzwischen erfolgten
Eigentumsübergangs an Dritte auch Entschädigungszah-
lungen durch den türkischen Staat vor.

Wir wollen auch anerkennen – das begrüße ich aus-
drücklich –, dass die religiösen Minderheiten einschließ-
lich der Vertreter der syrisch-orthodoxen Minderheit am
20. Februar dieses Jahres vor der türkischen Kommis-
sion zur Reform der Verfassung angehört wurden. Dies
verbinde ich mit der Hoffnung, dass sich die neue türki-
sche Verfassung bei der Religionsfreiheit auf europäi-
sche Standards stützen wird. Ich möchte die Türkei er-
mutigen, an diesem Reformweg festzuhalten.

Die Türkei hat seit 2002 große Fortschritte gemacht.
Jedoch muss das Land auch im Bereich des Menschen-
rechts auf Religionsfreiheit weiterarbeiten. Dies unter-
streicht unser Antrag am konkreten Fall des Klosters
Mor Gabriel. Er soll ein Signal aussenden, dass die in-
nerstaatlichen Zustände unseres engen Bündnispartners
Türkei den Koalitionsfraktionen wichtig sind. Es macht
uns Sorgen, wenn wir feststellen müssen, dass die Zahl
der Christen, die die Türkei als ihre Heimat betrachten
und dort leben wollen, rückläufig ist.

Ich vertraue darauf und gehe davon aus, dass die Tür-
kei weitere Anstrengungen auf dem Weg zur uneinge-
schränkten Achtung der Religionsfreiheit unternimmt,
um ihr und unser gemeinsames reichhaltiges religiöses
Erbe zu schützen, zu bewahren und lebendig zu halten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717526000

Die Kollegin Angelika Graf hat jetzt das Wort für die

SPD-Fraktion.






(A) (C)



(D)(B)



Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1717526100

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Vor über zehn Jahren, Anfang April 2001,
fuhren unsere ehemalige Kollegin Monika Brudlewsky
von der CDU/CSU und ich nach Diyarbakir, um dort ei-
nen Prozess des türkischen Staates gegen einen syrisch-
orthodoxen Priester – Yusuf Akbulut hieß der Mann – zu
beobachten. Er stand wegen Äußerungen zum Armenier-
Genozid vor Gericht. Er wurde freigesprochen, auch we-
gen der internationalen Aufmerksamkeit, die der Prozess
auf sich gezogen hat.

Nach dem guten Ende dieses Prozesses wurden wir
für einen kurzen Besuch nach Mor Gabriel eingeladen.
Ich habe das Bild dieses Klosters, wie es so wehrhaft auf
dem Hügel steht, immer noch vor Augen. In der Nacht
fing es dann heftig an zu schneien. In der Früh lagen
30 Zentimeter Schnee. Um es kurz zu machen: Wir sind
drei Tage geblieben; denn an ein Verlassen des Klosters
war nicht zu denken.

Ich habe viel gelernt in diesen Tagen: über die ortho-
doxen Riten und Gebräuche, über die aramäische Spra-
che, die Sprache Jesu, die so wichtig ist für das Überle-
ben der aramäischen Kultur, über die Geschichte des Tur
Abdin, die christliche Tradition in der Region und ganz
speziell über Mor Gabriel und die Männer und Frauen,
die Nonnen und Mönche, die dort lebten. Ich habe lange
Gespräche mit dem Bischof geführt, auch über die
schwierige Zeit, die man damals überwunden glaubte,
die Zeit, als der Kampf der türkischen Republik gegen
die PKK und der Kampf der PKK gegen die türkische
Republik auch das Kloster in seiner Existenz gefährdet
hat.

Aber die Hoffnung damals war, man werde überle-
ben. Das Kloster wurde zu einem Symbol des Überle-
bens der aramäischen Kultur in der Türkei. „Noch steht
das Kloster Mor Gabriel“ titelte die Journalistin Helga
Anschütz vor 20 Jahren in der FAZ und beschrieb die Si-
tuation in dieser schwierigen Zeit. Heute fragen wir uns
zu Recht: Wie lange steht dieses Kloster noch? Wie
lange ist es noch möglich, dort Mönche und Nonnen zu
besuchen, die die aramäische Sprache sprechen? Auch
heute ist das Kloster existenziell gefährdet – wieder bzw.
immer noch.

Es ist doppelt gefährdet: einerseits, weil immer weni-
ger Menschen in diesem Kloster und den anderen Klös-
tern der Region leben, weil die christliche Bevölkerung
in den letzten 100 Jahren geflohen ist, und andererseits,
weil der Distrikt Midyat auf der Grundlage türkischer
Gesetze zu Grund und Boden das Kloster zu enteignen
versucht. Deswegen sind wir uns, denke ich, alle einig,
wenn wir die Türkei und ihre Repräsentanten auffordern,
dafür zu sorgen, dass dieser Prozess beendet wird und
die über 1 600 Jahre alten Rechte der aramäischen Chris-
ten respektiert werden.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zu diesen Rechten gehören auch die Ländereien des
Klosters Mor Gabriel. Es ist ein Skandal, dass der Stif-

tungsvorsitzende des Klosters noch immer wegen An-
eignung fremden Bodens vor Gericht steht. Gestern
wurde dieser Prozess ein weiteres Mal vertagt. Ich kann
gut verstehen, dass sich die syrisch-orthodoxe Gemeinde
in Mor Gabriel und auch bei uns in Deutschland nicht
auf den Vorschlag einlassen möchte, nach einer Enteig-
nung die fraglichen Flächen vom Distrikt Midyat wieder
zurückzupachten. Wie würde es uns vorkommen, wenn
uns der Nachbar zwangsweise enteignet und uns dann
unseren eigenen, seit Generationen bewirtschafteten und
im Familienbesitz befindlichen Garten zur Pacht anbie-
tet?

Wir haben uns in den letzten Jahren mehrfach mit
dem Überlebenskampf dieser alten christlichen Kultur
im Südosten des Staatsgebietes der heutigen Türkei be-
fasst, in Anträgen und Reden. Wir haben es eigentlich
immer geschafft, deutlich zu machen, dass dies ein An-
liegen der breiten Mehrheit dieses Hauses ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE])


Im Jahre 2009 gab es einen Antrag zum selben Thema
mit dem Titel „Schutz des Klosters Mor Gabriel sicher-
stellen“. Er ging im beschreibenden Teil ausführlich auf
die kulturellen und historischen Besonderheiten ein, er-
wähnte insbesondere auch den Vertrag von Lausanne aus
dem Jahre 1923, auf dessen restriktiver Interpretation die
heutige Minderheitenpolitik der Türkei noch immer fußt.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koali-
tionsfraktionen, haben diesen Antrag aus dem Jahre
2009 fortgeschrieben und die schwierigen Rechtsstrei-
tigkeiten, in die Mor Gabriel gedrängt worden ist, in den
Vordergrund gestellt. Das kann man machen, obwohl der
Antrag dadurch etwas an der Oberfläche bleibt. Der
Blickwinkel auf den kulturellen Reichtum, der der Tür-
kei durch ihr Vorgehen verloren geht, eröffnet sich nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eigenartig finde ich es allerdings, dass der Forde-
rungsteil Ihres heute vorgelegten Antrags zum großen
Teil wortgleich mit den Forderungen des Antrags aus
dem Jahre 2009 übereinstimmt. Meinen Sie nicht, man
hätte die Chance nutzen können, konkreter auf die neue
Situation einzugehen, die sich durch diverse Gerichts-
verfahren und Urteile ergeben hat,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE])


zum Beispiel den Prozess gegen Herrn Ergün, den Stif-
tungsvorsitzenden, klar anzusprechen, die Revision der
anderen Urteile zu fordern oder den Status des Klosters
als UNESCO-Weltkulturerbe stärker ins Spiel zu brin-
gen?

Ich denke, der Fehler, den Sie mit diesem Antrag ge-
macht haben, ist, dass Sie ihn nur als Koalitionsantrag
gestellt haben.





Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE])


Der Antrag aus dem Jahr 2009 ist damals auch in Zu-
sammenarbeit mit der oppositionellen FDP zustande ge-
kommen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und uns natürlich!)


Sie haben bei dem nun vorliegenden Antrag versäumt,
durch eine Einbindung der Opposition ein gemeinsames
starkes Zeichen an die Türkei zu senden, dass wir alle
sehr besorgt sind über die Entwicklung rund um Mor
Gabriel.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE])


Ich habe lange darüber nachgedacht, warum Sie das
so gemacht haben. Ich hoffe, dass die Verfasserin des
gestern in der Frankfurter Rundschau erschienenen Arti-
kels nicht recht hat, wenn sie unter dem Titel „Die nütz-
liche Geschichte vom Kloster Mor Gabriel“ vermutet,
Sie wollten dieses Thema vielleicht für den Wahlkampf
nutzen. Das wäre, denke ich, fatal.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kober, Ihr Redebeitrag hat mich von diesem Trip
ein bisschen heruntergebracht. Was Sie ausgeführt ha-
ben, widerspricht dieser Vermutung. Ich bitte Sie daher,
vielleicht doch noch zu versuchen, zu einer gemeinsa-
men Lösung dieses Problems zu kommen.

Wenn dieses Thema mit dem Wahlkampf in Verbin-
dung gebracht würde, wäre das fatal; denn das würde
dem Kloster und den wenigen in der Region verbliebe-
nen Christen definitiv nicht nutzen, im Gegenteil.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Veränderungen zum Beispiel beim Bodenrecht oder in
der Auslegung des Vertrages von Lausanne wird es nur
geben, wenn es uns gelingt, unsere türkischen Ge-
sprächspartner davon zu überzeugen, dass eine moderne,
an Europa orientierte Türkei auch ein modernes Minder-
heitenrecht braucht


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE])


und dass die Türkei einen Vorteil daraus ziehen wird,
diese alte Kultur, Sprache und Religion in ihrem Ho-
heitsgebiet zu behalten und zu erhalten.

Damit sich die Türkei auf solche Veränderungen ein-
lässt, braucht sie eine Perspektive. Ich möchte, dass
diese Perspektive trotz aller Schwierigkeiten die Euro-
päische Union ist – nicht heute, wahrscheinlich nicht
morgen, aber vielleicht übermorgen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717526200

Die Kollegin Erika Steinbach hat das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1717526300

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Frau Graf, Sie haben sehr anrührend Ih-
ren ersten Eindruck von und Ihre erste Begegnung mit
dem Kloster Mor Gabriel geschildert. Das hat mich rich-
tig bewegt; das muss ich sagen. Ihr Engagement für die-
ses Kloster kommt aus tiefstem Herzen. Ich kann Sie be-
ruhigen: Das Schicksal des Klosters Mor Gabriel wird
von uns nicht instrumentalisiert, wenn es um ein Ja oder
Nein zum Beitritt der Türkei zur Europäischen Union
geht. Unsere Haltung kennen Sie seit vielen Jahren.
Diese hat mit dem Kloster Mor Gabriel nichts zu tun.
Wir würden eine solche christliche Einrichtung dafür
auch niemals missbrauchen wollen.

Mit der ersten Beratung unseres heutigen Antrags
zum Kloster Mor Gabriel blicken wir zwangsläufig auf
die Türkei und auf den Umgang der Türkei mit christli-
chen Einrichtungen. Ich freue mich sehr, dass heute Ver-
treter der aramäischen Gemeinde in Deutschland hier auf
der Tribüne sitzen und unserer Debatte zuhören. Herz-
lich willkommen!


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS/90 DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE])


Das Kloster Mor Gabriel ist in seiner Existenz be-
droht – und das seit langem. Die Situation hat sich auch
durch noch so viele Gespräche bisher leider nicht signifi-
kant verbessert. Im Gegenteil, sie ist eher dramatischer
geworden. Dabei wird eines deutlich: Es geht nicht nur
um dieses Kloster; vielmehr ist das Kloster geradezu zu
einem Symbol dafür geworden, wie die Türkei mit
christlichen Einrichtungen und religiösen Minderheiten
umgeht. Dieses Kloster steht für eine 1 600 Jahre wäh-
rende Tradition als geistliches Zentrum der weltweit ver-
zweigten syrisch-orthodoxen Kirche.

Wir befürchten – vieles deutet auch darauf hin –, dass
dieses Kloster im Zuge von mehreren seit Jahren anhän-
gigen Gerichtsverfahren am Ende enteignet und entwid-
met wird. Damit droht – darauf haben Sie, Frau Graf,
hingewiesen – nicht nur ein Abreißen einer klösterlichen
Tradition, sondern der Fortbestand der syrisch-orthodo-
xen christlichen Kultur wäre gefährdet. Es hat mich
schon sehr angerührt, als ich vor einiger Zeit eine Rede
vor Aramäern gehalten habe und sie mir am Ende das
Vaterunser – eingerahmt, sodass ich es an die Wand hän-
gen konnte – in aramäischer Schrift geschenkt haben;
denn es handelt sich um die Sprache Christi.





Erika Steinbach


(A) (C)



(D)(B)


Dieses Kloster ist das Symbol für die schwierige
Lage der Christen selbst in der Türkei, die doch in Teilen
so westlich geprägt ist. Auch in diesem demokratisch-
muslimischen Staat leben Christen heute in einer
schwierigen Situation und auch nicht ganz ungefährdet.
In der Türkei gibt es, durch die Verfassung garantiert,
zwar inzwischen offiziell Religionsfreiheit. Das Land
bekennt sich auch zu dem internationalen Anliegen, Re-
ligionsfreiheit zu gewähren. Die einschlägigen Men-
schenrechtskonventionen sind gezeichnet. Aber in der
Praxis haben religiöse Minderheiten – das trifft nicht nur
auf die Christen zu – nur sehr eingeschränkte Rechte.

Der Bau von Kirchen und auch deren Erhalt sind bis
zum heutigen Tage nahezu unmöglich. Christliche Geist-
liche schweben in Lebensgefahr. Hat Ihnen der Abt viel-
leicht auch erzählt, dass er sich nicht in seinem Ornat auf
die Straße wagen kann, dass das für ihn lebensgefährlich
ist? Predigten, egal wo in der Türkei, bedürfen der Ge-
nehmigung. Man kann nicht einfach eine Predigt in sei-
ner Kirche halten, sondern man muss sich das genehmi-
gen lassen. Selbst in den türkischen Städten – wenn wir
hinkommen, sagen wir: das sind ja ganz europäische
Städte; das ist europäische Lebensart – wird einem gera-
ten, um den Hals doch bitte schön kein Kreuz zu tragen;
es könnte unter Umständen die Gesundheit gefährden.

Wenn man all das zusammenträgt, kommt ein ungutes
Gefühl auf. Dabei lebte in der Türkei eine stattliche An-
zahl von Christen. 1915 kam es mit dem Genozid an den
Armeniern, aber auch an den Aramäern und den Assy-
rern – alle waren davon betroffen, nur werden meist aus-
schließlich die Armenier erwähnt – zum Genozid an fast
1,5 Millionen Christen. Vor 60 Jahren betrug der Anteil
der Christen in der Türkei immerhin noch 20 Prozent.
Heute sind es weniger, gerade einmal noch 0,15 Prozent.
0,15 Prozent!

Der Fortschrittsbericht der Europäischen Union zu
den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei macht, vor-
sichtig formuliert, die Defizite deutlich. Eigentlich kann
man erkennen, dass es im Bereich der Religionsfreiheit
nur wenige Fortschritte gibt. Wenn man sich die Praxis
anschaut, stellt man fest: Das entwickelt sich in der letz-
ten Zeit sogar fast rückwärts, und das ist etwas, was
nicht sein darf.

Deshalb beobachten wir mit großer Sorge die juristi-
schen Verfahren gegen das Kloster Mor Gabriel. Der Er-
halt dieses Klosters ist das Symbol und der Gradmesser
für das Umgehen des türkischen Staates mit religiösen
Minderheiten überhaupt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717526400

Das Wort für die Fraktion Die Linke hat Dr. Lukrezia

Jochimsen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717526500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Endlich gibt es in unserem Parlament eine Debatte zur
Problematik des Klosters Mor Gabriel. Wenn ich abse-
hen könnte vom traurigen, inhumanen, menschenrechts-
verletzenden Anlass – wie nämlich eine uralte, ein gro-
ßes religiöses und kulturelles Erbe vermittelnde, heute
aber zahlenmäßig kleine Minderheit im europäischen
Beitrittsland Türkei gnadenlos drangsaliert und diskrimi-
niert wird –, würde ich mich freuen, dass nach nunmehr
drei Jahren die Regierungskoalition eine Initiative von
Claudia Roth, Monika Griefahn und mir aufgreift.

Es ist mir – mit Verlaub – schon wichtig, hier festzu-
stellen, dass die Linke die erste Fraktion war, die 2009
einen Antrag zu Mor Gabriel mit dem Titel „Dauerhaf-
ten Schutz des Klosters Mor Gabriel sicherstellen“ erar-
beitet hat.


(Beifall bei der LINKEN)


In diesem Antrag forderten wir die Bundesregierung auf,

sich in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union gegenüber der türkischen Re-
gierung aktiv dafür einzusetzen, dass sie die Exis-
tenzgrundlage und die Lebensperspektive des Klos-
ters Mor Gabriel dauerhaft garantiert


(Michael Brand [CDU/CSU]: Jetzt zitieren Sie aber aus unserem Antrag!)


und die syrisch-orthodoxe Minderheit in ihrem
Land als solche im Sinne des Vertrages von Lau-
sanne … anerkennt. Insbesondere gilt es, die Si-
cherheit der Klosterbewohnerinnen und -bewohner
und der syrisch-orthodoxen Bevölkerung im Alltag
zu gewährleisten.

Damals hatten wir, drei Parlamentarierinnen, die vor
Ort die bedrohten Lebens- und Arbeitsverhältnisse ken-
nengelernt hatten, gehofft, einen fraktionsübergreifen-
den Antrag einbringen zu können. Die CDU/CSU war
zunächst desinteressiert, kaperte dann aber unseren Ent-
wurf und erklärte ihn zum Antrag der Großen Koalition
und der FDP, der ohne Debatte zur Sofortabstimmung
eingebracht wurde, ganz schnell, ganz unbemerkt, ganz
lautlos.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Wir waren beim Kloster Mor Gabriel immer sehr laut!)


Claudia Roth nannte dieses Verfahren in einer persönli-
chen Erklärung damals keinen angemessenen Umgang
in der Sache. 2009 gab es im Parlament drei inhaltlich
fast identische Anträge aus rein parteipolitischem Kalkül –
bei einem solchen Thema, bei einem solchen christli-
chen Hintergrund.

Heute nun steht Mor Gabriel endlich auf unserer Ta-
gesordnung mit einem Antrag, der die ganze Misere die-
ses Falles zwar genau beschreibt und auch die Ohnmacht
der EU und der Bundesrepublik, der uns aber in der Sa-
che nach meinem Dafürhalten überhaupt nicht weiter-
bringt. Es heißt im Antrag selbst, dass Demarchen und
Gespräche bisher zu keiner substanziellen Verbesserung
der Sache geführt haben. Insofern verwundert es, dass





Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) (C)



(D)(B)


der Antrag in seinem Forderungskatalog nichts anderes
enthält als vor drei Jahren, nämlich sich weiterhin für
Mor Gabriel einzusetzen.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist doch gut! Am Ball bleiben! Anpacken!)


Das ist nach dieser ganzen Zeit und all diesen Erfahrun-
gen einfach nicht genug.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn wir also hier keine Schaufensterdebatten mit
wohlklingenden Appellen führen wollen,


(Michael Brand [CDU/CSU]: Jetzt wird es aber langsam unverschämt!)


aufgrund derer man sich im Kloster Mor Gabriel – das
gilt auch für die Minderheit – nichts erhoffen kann, dann
müssen wir über andere solidarische Hilfen für Mor
Gabriel nachdenken und uns dafür einsetzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wie wäre es mit einem ständigen Beobachter aus dem
christlichen oder zivilgesellschaftlichen Bereich anstelle
der bisherigen sporadischen Prozessbeobachter? Wie
wäre es mit einem Arbeitsbesuch des Außenministers,
der Staatsministerin oder gar der Kanzlerin als nach-
drückliches Zeichen der Unterstützung?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mor Gabriel ist nicht nur das kulturelle Erbe der sy-
risch-orthodoxen, sondern auch der syrisch-katholischen
und der syrisch-protestantischen Christen. Gerade sie
kämpfen jetzt alle in Syrien ums Überleben, fliehen über
die Grenze in die Türkei – in die Nähe von Mor Gabriel.
Es geht also um ein Exempel, wie ernst dem türkischen
Staat Toleranz, religiöse und kulturelle Vielfalt ist. Es
geht auch um ein Exempel, wie viel Solidarität die Euro-
päische Union hier ausüben kann, auch und gerade mit-
hilfe der Bundesrepublik. Die Vergangenheit hat gezeigt:
Nur internationaler Druck hilft in diesem Fall.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717526600

Ute Granold hat nun das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1717526700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte mich nicht lange mit Verfahren aufhalten.
Wir haben im Jahr 2009 hier einen Antrag, eingebracht
von CDU/CSU, SPD und FDP, sowie einen Antrag der
Grünen debattiert.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Nein, das haben wir nicht!)


Es kann nicht sein, dass behauptet wird, dass die Linke
etwas getan hat und sonst niemand. Da irren Sie sich;
vielleicht können Sie es im Protokoll noch einmal nach-
lesen. So weit zum Verfahren.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Ohne Debatte!)


In der Zeitung wurde gestern gefragt, wieso der Frak-
tionschef der CDU/CSU nicht einfach einmal in der Tür-
kei angerufen hat, um das Problem Mor Gabriel zu lö-
sen, oder warum der Außenminister nicht einfach
hingefahren ist oder einen Brief geschrieben hat: Wenn
es so einfach wäre, dann wäre dies bestimmt geschehen;
aber es ist eben nicht so einfach.

Wir haben uns 2009 eingehend mit dem Kloster Mor
Gabriel befasst und Forderungen aufgestellt, die heute
noch so offen sind, wie es damals der Fall war, weil wir
keinerlei Möglichkeit haben, auf die Gerichtsverfahren
einzuwirken. Wenn einmal ein Urteil zugunsten des
Klosters rechtskräftig ist, dann wird es einkassiert, so-
dass nur die Möglichkeit besteht, wie es der Erzbischof
Aktas getan hat: Er ist nach Straßburg zum EGMR ge-
gangen, um diese Frage klären zu lassen. Inwieweit die
Türkei Entscheidungen aus Straßburg umsetzt, ist eine
andere Sache. Deshalb bleibt uns nur, immer wieder zu
fordern, dass das, was Unrecht ist, nämlich das Kloster
zu eliminieren, verhindert wird.

Ich war mehrfach im Kloster, zuletzt mit dem Kolle-
gen Brinkhaus im Oktober letzten Jahres, und ich zitiere,
was Erzbischof Aktas, der Klostervorsteher, schon
mehrfach sagte: Ohne das ständige Insistieren aus Eu-
ropa, insbesondere aus Deutschland und den skandinavi-
schen Ländern, wären wir – damit meint er das Kloster,
die Mönche und die Nonnen – nicht mehr existent.

Er hat sich ausdrücklich bedankt, dass wir dieses
Thema nach wie vor behandeln. Deshalb bin ich froh da-
rüber, dass wir heute, so denke ich, in der Sache große
Übereinstimmung haben, dass wir das Kloster in
Deutschland und in Europa auf der Agenda haben müs-
sen. Ich erinnere daran: Das Europäische Parlament hat
Ende März 2012 – es ist noch gar nicht lange her – einen
Beschluss gefasst, der inhaltlich dem entspricht, was
heute hier debattiert wird: dass wir uns für die Anerken-
nung der religiösen Minderheiten in der Türkei einset-
zen, insbesondere der Aramäer, der syrisch-orthodoxen
Minderheit, und dass wir fordern, dass sie gemäß dem
Lausanner Vertrag endlich anerkannt werden, der von
der Türkei allerdings einseitig interpretiert wird.

Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass Priester
ausgebildet werden können. Das Priesterseminar auf
Chalki ist 1971 geschlossen worden. Es muss möglich
sein, einen Gottesdienst abzuhalten. Bislang bedurfte es
hierfür einer ministeriellen Genehmigung. Ein Fort-
schritt – so wird es genannt – ist, dass nun der Gouver-
neur darüber entscheiden kann. Ich frage Sie: Was gäbe
es für einen Aufschrei in Deutschland, wenn das Ord-
nungsamt jeden Freitag das Freitagsgebet in den Mo-
scheen genehmigen müsste? Nichts anderes wird mit den
Christen in der Türkei gemacht. Dagegen wehren wir
uns.





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)


Wir möchten auch nicht, dass die Aramäer, die sy-
risch-orthodoxen Christen, die ins Ausland geflüchtet
sind, in den Schulbüchern als Wirtschaftsflüchtlinge und
als diejenigen bezeichnet werden, die die verbliebenen
Christen in der Türkei aufwiegeln wollen. Wir akzeptie-
ren es nicht, dass sie diffamiert werden. Wir möchten,
dass offen und ehrlich über die Situation gesprochen
wird. Wir möchten, dass die Christen, die aus Europa zu-
rückkommen – viele von ihnen finanzieren die Christen
in Tur Abdin –, ihren Glauben frei leben können. Das ist
unser Petitum. Dafür kämpfen wir.

Es geht nicht darum, zu glauben, wir hätten nichts an-
deres zu tun, als uns um ein Kloster in der Türkei zu
kümmern. Herr Kollege Brinkhaus war bei der letzten
Reise dorthin dabei. Wir haben viele Klöster besucht,
nicht nur das Kloster Mor Gabriel. In dieser Region gab
es früher 80 Klöster. In einigen Klöstern leben heute
wieder Mönche. Diese Mönche haben uns gesagt, dass
sie darauf warten, wie es mit dem Kloster Mor Gabriel
weitergeht; denn davon hängt der Fortbestand der ande-
ren Klöster ab, weil die kleineren Klöster nicht das Geld
und die öffentliche Unterstützung haben, um diese Pro-
zesse zu führen. Deshalb steht das Kloster Mor Gabriel
stellvertretend für alle Klöster in dieser Region.

Mesopotamien, das Zweistromland, ist die Wiege un-
seres Glaubens. Ich erinnere an Antiochien, 37 n. Chr.
Das ist unsere Geschichte. Wenn man in der Bibel liest,
weiß man, was das bedeutet.

Mor Gabriel ist sehr viel mehr als irgendein Gebäude.
Es soll Weltkulturerbe sein. Es wurde mit erheblichen fi-
nanziellen Mitteln aus Europa restauriert. Es geht um die
Mönche, um den Glauben und um den Anker als zweites
Jerusalem, wie es die Aramäer, die syrisch-orthodoxen
Christen, bezeichnen. Die Fortschrittsberichte der EU,
die diskutiert wurden, sind das eine Thema. Das andere
Thema ist das, was ich gerade ausgeführt habe.

Als wir mit Vertretern des Ausschusses für Men-
schenrechte und Humanitäre Hilfe in der Türkei waren,
haben wir Gespräche mit dem Gouverneur, der Regie-
rung in Ankara und mit zuständigen Ansprechpartnern in
Istanbul und anderswo geführt. Wir haben überall die Si-
tuation des Klosters angesprochen. Wir haben auch mit
den Personen gesprochen, die die Berichte, die die EU
verfasst, vorbereiten. Schaut man sich die Berichte der
vergangenen Jahre an, dann sieht man, dass es keinen
Fortschritt im Bereich der Menschenrechte und hier ins-
besondere der Religionsfreiheit gab. Es gab auch keine
Stagnation. Es gab vielmehr einen Rückschritt. Wenn
sich ein Land ernsthaft bemüht, in die EU einzutreten,
dann sollte dieses Land die Wertegemeinschaft der EU
anerkennen. Das brauche ich hier nicht weiter auszufüh-
ren. Man sollte dann alle Anstrengungen unternehmen,
damit in diesem und anderen Klöstern, über die in
Deutschland und Europa so viel debattiert wird, die
Mönche ihren Glauben frei leben und die individuelle
und die kollektive Religionsfreiheit ausüben können.

Erzbischof Aktas sagt – Frau Kollegin Steinbach hat
das schon ausgeführt –: Ich kann im Ornat nur mit einer
Waffe aus dem Kloster gehen, weil ich nicht weiß, ob ich

wieder zurückkomme, wenn ich zum Markt gehe. – Es
ist wirklich nicht einfach.

Heute Morgen habe ich mit einem türkischen Taxifah-
rer gesprochen. Ich sagte ihm: Wir diskutieren heute
über das Kloster Mor Gabriel im Parlament. – Daraufhin
sagte er, dass er von diesem Kloster und dem Geschehen
nichts weiß. Das ist kein Einzelfall. Viele Türken, die ih-
ren Glauben in Deutschland leben, sagen: Das kann doch
nicht sein. Wir können hier in die Moschee gehen und
beten. Wir wollen, dass die Christen in der Türkei ihre
Religion ebenfalls ausüben können.

Darum geht es. Die Türken, die Muslime, die hier le-
ben, sagen: Wir wollen die Religionsfreiheit, die wir hier
genießen, auch in der Türkei. Das Kloster ist ein Lack-
mustest. Es geht um die Frage, wie die Türkei weiter mit
dem Kloster Mor Gabriel und damit stellvertretend mit
dem Thema Religionsfreiheit umgeht.

Ich bedanke mich für die Debatte im Parlament und
hoffe, dass wir gemeinsam gute Beratungen haben und
wir gemeinsam hinter dem Kloster und der Religions-
freiheit für die Christen in Tur Abdin stehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717526800

Josef Winkler hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die

Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! In dem Antrag der Ko-
alition zum Kloster Mor Gabriel steht viel Wahres. Vie-
les davon können wir teilen, auch den Großteil der For-
derungen. Vorhin ist bereits gesagt worden, dass diese
aus einem alten Antrag übernommen wurden, insofern
ist das nicht überraschend. Auch in unserer Fraktion sind
seit den 90er-Jahren eine ganze Reihe von Abgeordneten
über diese Thematik im Bilde gewesen und haben sich
vor Ort über die Problematik im Kloster informiert.

Es ist zutreffend, dass die Existenz des Klosters be-
droht ist. Über dessen Bedeutung will ich jetzt nicht
sprechen; dazu wurde schon genug gesagt.

Ich möchte aber noch ergänzen, dass es bei den ange-
sprochenen Gerichtsverfahren nur um die Spitze des Eis-
bergs geht. Die Aramäer als nicht anerkannte indigene
Minderheit sind in der Türkei einer Vielzahl von solchen
Prozessen ausgesetzt. Das ist der Grund für einen fast
biblischen Exodus der Aramäer aus dieser Gegend.

Zahlreiche Kirchen, Klöster und aramäische Ort-
schaften sowie viele Einzelpersonen aus dem aramäi-
schen Bereich wurden oder werden mit Hunderten von
solchen Enteignungsverfahren überzogen. Diese sehen
ihr Eigentum bedroht oder wurden schon enteignet und
sind weitgehend frei von Rechten. Insofern ist der Fall
des Klosters Mor Gabriel nur paradigmatisch zu sehen.
Man sollte sich nicht interfraktionell darauf verständi-
gen, dass Mor Gabriel das wichtigste und einzige Pro-
blem ist; vielmehr ist es Teil einer Gesamtproblematik.





Josef Philip Winkler


(A) (C)



(D)(B)


Mor Gabriel ist das sichtbare Symbol für das Gesamt-
problem, das gemeinsam angegangen werden muss.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das stimmt!)


So weit zu den Gemeinsamkeiten.

Im Hinblick auf die zweite Forderung, die Sie in Ih-
rem Antrag formuliert haben, sehen wir, dass Sie – das
hat auch gerade Frau Granold gemacht – eine relativ ein-
seitige Perspektive einnehmen, indem Sie immer nur be-
trachten, wie es eigentlich mit den Rechten der religiö-
sen Minderheiten in der Türkei aussieht. Das Ganze
muss man unserer Meinung nach auch vice versa be-
trachten. Deshalb möchte ich kurz darüber reden, wie
sich die Situation in Deutschland darstellt.

Was Sie vollkommen zu Recht für verfolgte Christin-
nen und Christen in anderen Staaten, in diesem Fall in
der Türkei, fordern, sind Sie – insbesondere die Damen
und Herren von der Union – jedoch nicht bereit, den
Musliminnen und Muslimen in Deutschland zuzuerken-
nen. Wenn Sie von der türkischen Regierung fordern,
dass nichtmuslimische Minderheiten Rechtspersönlich-
keit erlangen und als anerkannte Minderheit ihre Rechte
uneingeschränkt ausüben können, dann müssten Sie
diese Pflicht vice versa in Deutschland genauso anerken-
nen. Hier gibt es jedoch sehr hohe Hürden, die rechtlich
erst einmal zu überwinden sind. Wir müssten uns ge-
meinsam dafür einsetzen, dass diese Hürden für die Reli-
gionsgemeinschaften gesenkt werden.

Ich will Ihnen von einer aktuellen repräsentativen
Umfrage berichten, die von der Westfälischen Wilhelms-
Universität in Münster für den Bereich Deutschland
durchgeführt wurde: Die Hälfte der Deutschen ist heute
der Meinung, dass nicht alle Religionsgemeinschaften
dieselben Rechte haben sollten. Das richtet sich jetzt
nicht gegen die Regierung; befragt wurde die deutsche
Bevölkerung. 42 Prozent der Deutschen finden, die Aus-
übung des islamischen Glaubens müsse stark einge-
schränkt werden. Nur jeder vierte Deutsche befürwortet
den Bau von Moscheen; das sind übrigens weniger Be-
fürworter als in der Schweiz.

Wir müssen daher sagen: Wenn wir einen Zeigefinger
in Richtung Türkei richten, dann müssen wir mindestens
vier Finger gegen uns selbst richten.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist unverschämt! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Nein, das ist nicht unverschämt. Das war eine Um-
frage, die ich nicht selbst durchgeführt habe.


(Michael Brand [CDU/CSU]: So sieht also grüne Toleranz aus!)


Zurück zur Türkei. Wir fordern gleiche Rechte für die
Christen in der Türkei, wir fordern aber auch gleiche
Rechte für die Aleviten, die im Übrigen die deutlich grö-
ßere Minderheit darstellen. Diese Minderheit wird ge-
nauso diskriminiert; das haben Sie ebenfalls nicht ange-
sprochen. Die Aleviten bilden die größte religiöse Gruppe
in der Türkei neben dem sunnitischen Islam. Die Pro-
bleme der Aleviten sind ähnlich gelagert; sie werden zur
Assimilation gezwungen, beispielsweise durch zwangs-

weisen Religionsunterricht im sunnitischen Islam. Dieser
Problematik muss man sich ebenfalls widmen.

Fazit: Es bestehen Gemeinsamkeiten hinsichtlich der
Forderung nach der Rettung von Mor Gabriel und dem
Schutz für aramäische Christen. Die Dimensionen im
Hinblick auf die Situation in Deutschland und die Uni-
versalität der Menschenrechte müssen aber ebenfalls be-
achtet werden. Da ist aus unserer Sicht noch einiges zu
tun.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717526900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9185 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. – Dazu sehe ich kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Uta Zapf, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Deutsche nukleare Abrüstungspolitik weiter-
entwickeln – Deutschlands Rolle in der Nicht-
verbreitung stärken und weiterentwickeln

– Drucksachen 17/7226, 17/8843 –

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der SPD vor.

Interfraktionell wurde verabredet, eine halbe Stunde
zu debattieren. – Auch dazu sehe ich keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe der Kollegin Uta
Zapf für die SPD-Fraktion das Wort.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1717527000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir diskutieren die Große Anfrage der SPD. Es gab
zahlreiche Antworten. Aber es bestehen noch mehr Fra-
gen, die meines Erachtens nicht beantwortet wurden.
Wir diskutieren dies kurz vor dem NATO-Gipfel, also zu
einer Zeit, in der wir vor einer wichtigen Weichenstel-
lung für die zukünftige Entwicklung der Sicherheitsar-
chitektur in Europa und darüber hinaus – nicht nur in
Europa – stehen.

Wenn sich die Hoffnungen einer Mehrheit der Men-
schen in der Welt im Zusammenhang mit der Abrüs-
tungsinitiative, die aufs Engste mit der Präsidentschaft
von Obama und seiner Prager Rede vom April 2009 ver-
bunden ist, erfüllen sollen, wird es dringend erforderlich
sein, dass die NATO in Chicago vom Denken des Kalten
Krieges Abschied nimmt. Dieses Denken drückt sich
noch immer darin aus, dass die NATO in ihrem Verteidi-
gungsdispositiv immer noch an der alten Rolle der Nu-
klearwaffen festhält: „Nukes are the reminder of the
good old days.“ Frei übersetzt: Nuklearwaffen sind die





Uta Zapf


(A) (C)



(D)(B)


Überbleibsel der guten alten Zeit. So heißt es ironisch in
einer Studie des US Army War College, die analysiert,
dass 311 Nuklearwaffen als Abschreckungsdispositiv für
die USA völlig ausreichen würden.

Wir Sozialdemokraten würden es als Fortschritt be-
trachten, wenn in Chicago folgende Ergebnisse zu errei-
chen wären:

Erstens: die weitere Herabstufung der Rolle von Nu-
klearwaffen.

Zweitens: eine Erklärungspolitik der NATO, die an
die Nuclear Posture Review der USA angeglichen ist,
das heißt eine Garantieerklärung gegenüber Nichtnukle-
arwaffenstaaten, die sich an den Nichtverbreitungsver-
trag halten, keine Nuklearwaffen gegen sie einzusetzen.

Drittens: mehr Transparenz und vertrauensbildende
Maßnahmen in Bezug auf Russland, was Nuklearwaffen
betrifft, insbesondere die taktischen Nuklearwaffen, aber
auch in Bezug auf die Kooperation bei der Raketenab-
wehr.

Viertens: ein Beschluss, den von Deutschland und an-
deren Partnern geforderten Ausschuss für die Kontrolle
und Abrüstung von Massenvernichtungswaffen in der
NATO als permanenten Ausschuss zu erhalten.

Es muss endlich mutige Schritte geben, um das Den-
ken des Kalten Krieges hinter uns zu lassen. Ohne eine
echte Kooperation mit Russland, ohne eine echte Per-
spektive, in absehbarer Zeit auf Nuklearwaffen zu ver-
zichten, ohne fortgesetzte Bemühungen um Abrüstung
und Rüstungskontrolle werden wir die notwendige Sta-
bilität und Sicherheit in Europa nicht erreichen. Die
NATO kann und muss einen Beitrag dazu leisten.

Ich will ein paar wenige Worte des Lobes an die Bun-
desregierung richten. Das Bekenntnis zur völligen nu-
klearen Abrüstung, der Wille zum Abzug der US-
Nuklearwaffen aus Deutschland und Europa und der
Einsatz für Abrüstung in der NATO, den sie in der Tradi-
tion der Vorgängerregierungen fortführt, finden unsere
Unterstützung.


(Beifall der Abg. Robert Hochbaum [CDU/ CSU] und Christoph Schnurr [FDP])


Aber – es muss immer ein Aber folgen; darauf haben Sie
sicherlich gewartet – in der Frage der Umsetzung und
der Durchsetzung verlässt sie regelmäßig der Mut.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das spiegelt sich in
vielerlei Hinsicht auch in der Antwort der Bundesregie-
rung auf die Große Anfrage der SPD wider. Der Elan,
sich bei der internationalen Abrüstung und Rüstungs-
kontrolle insbesondere im Nuklearbereich öffentlich als
Bannerträger zu präsentieren, ist der Vorsicht gewichen.
Wenn ich bösartig wäre, würde ich sagen: Sie sind als
Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet.


(Harald Koch [DIE LINKE]: Neben dem Bett!)


– Ja, neben dem Bett.

Mangelnder Eifer, mangelndes Engagement und man-
gelnde Durchsetzungsfähigkeit sind insbesondere bei der

Frage der Entfernung der US-Nuklearwaffen von deut-
schem und europäischem Boden zu konstatieren. Mir
scheint, Sie haben Angst vor Ihrer eigenen Courage, die
Sie am Anfang dieser Legislaturperiode gezeigt haben.
Die Bundesregierung versteckt sich dabei hinter dem Ar-
gument, diese Fragen seien nur im Konsens aller NATO-
Partner zu klären. Das Argument, besonders die osteuro-
päischen Partner sträubten sich gegen die Entfernung
dieser Waffen, verkennt, dass dort längst ein Umdenken
begonnen hat, insbesondere in Polen. Um die Sicher-
heitsbedürfnisse dieser Länder zu befriedigen, sind Nu-
klearwaffen nicht nötig, möglicherweise sind sie sogar
kontraproduktiv. Andere, neue Strukturen wären sicher
möglich, um die Verlässlichkeit des Art. 5 des NATO-
Vertrages zu signalisieren. Hat denn die Bundesregie-
rung diese Diskussion jemals mit den betroffenen Län-
dern geführt? Ich bezweifle das.

Die Bundesregierung macht einen Rückzieher, wenn
sie die Frage der anstehenden Modernisierung der in Bü-
chel stationierten US-Nuklearwaffen in ihrer Antwort als
– ich zitiere – „nationale Entscheidung der USA“ be-
zeichnet – das ist auch ein bisschen widersprüchlich,
nicht wahr? – und damit auf ein Deutschland zustehendes
Recht der Mitsprache verzichtet. Gleichzeitig argumen-
tiert die Regierung, dass die nukleare Teilhabe unabding-
bar sei, um Mitsprache bei der Planung der nuklearen
Planungsgruppe zu haben. Diese Argumentation ist
falsch und vorgeschoben; denn auch die Nichtstationie-
rungsländer haben dieses Mitspracherecht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn die USA tatsächlich die taktischen Nuklearwaf-
fen modernisieren, wird das Ergebnis eine völlig neue
Waffe sein: präziser, treffgenauer, flexibler und je nach
Trägermittel von größerer Reichweite. Die Tatsache,
dass der Sprengkopf kleiner sein wird und damit beim
Einsatz ein geringerer radioaktiver Fallout produziert
würde, macht diese Waffe einsetzbarer und damit mögli-
cherweise wieder zu Kriegsführungswaffen. Das ist
nicht meiner Fantasie entsprungen, sondern das ist die
Analyse, die wir gestern im Unterausschuss von einem
Experten gehört haben.

Ich frage Sie: Sind diese Waffen dann noch politi-
scher Natur? In ihrer Antwort auf unsere Frage zu den
Modernisierungsmaßnahmen sagt die Bundesregierung,
dass laut Nuclear Posture Review dadurch keine neuen
Einsatzzwecke oder -fähigkeiten geschaffen werden.
Unsere Anhörung im Unterausschuss Abrüstung, Rüs-
tungskontrolle und Nichtverbreitung, die ich gerade er-
wähnt habe, hat das Gegenteil ergeben. Diese Maß-
nahme steht ebenso im Widerspruch zur Absicht, die
Rolle von Nuklearwaffen herabzustufen. Sie führt zu
„saubereren“, einsetzbareren und präziseren Waffen mit
strategischem Charakter.

Sollen solche Waffen ab 2019 in Deutschland wirk-
lich stationiert werden? Bei der Beantwortung unserer
sehr präzisen Fragen zu diesem Thema hüllt sich die
Bundesregierung in Schweigen, oder sie verweist auf





Uta Zapf


(A) (C)



(D)(B)


Geheimhaltung, was sie sehr häufig macht, wenn sie
nichts sagen will.

Zu den Tornados wird nichts Neues gesagt. Vielleicht
ist dies auch tröstlich, weil die alten Tornados ohne Mo-
dernisierung keine neuen US-Nuklearwaffen tragen
könnten.

Sie merken, ich bin nicht sehr zufrieden mit der Be-
antwortung all der vielen Fragen. Es ist sehr vieles of-
fengeblieben. In unserem Entschließungsantrag haben
wir 21 Forderungen an die Bundesregierung gestellt.
Wir hoffen, dass Sie sich ihn einmal durchlesen und ent-
sprechend darauf reagieren.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717527100

Jetzt hat der Kollege Robert Hochbaum das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Robert Hochbaum (CDU):
Rede ID: ID1717527200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wie weit ist der Iran mit seinem Atompro-
gramm? Nordkorea testet eine neue Langstreckenrakete
und steht womöglich kurz vor einem neuen Atomwaf-
fentest. Solche Meldungen und auch andere erreichen
uns beinahe täglich.


(Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit Indien?)


Sie und die Proliferationsgefahren, die von Staaten wie
zum Beispiel dem Iran ausgehen, machen deutlich, wel-
chen potenziellen Bedrohungen unsere Welt ausgesetzt
ist.

Sie machen aber vor allem deutlich, wie notwendig
– Frau Zapf, da sind wir uns einig – Abrüstungspolitik
weltweit ist. Unsere Haltung dazu haben wir bereits im
März 2010 – ich darf mich noch einmal dafür bedanken –
in dem interfraktionellen Antrag „Deutschland muss
deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen
setzen“ dargelegt.


(Uta Zapf [SPD]: Was ist daraus geworden? Nichts!)


Es war das erste außenpolitische Antragsprojekt, wel-
ches die Koalition in der 17. Wahlperiode in Angriff
genommen hat. Dies zeigt die Bedeutung, die das Thema
auch für uns hat. Mit dem damaligen Antrag haben wir
fraktionsübergreifend ein klares Zeichen für eine über-
legte und nachhaltige Abrüstungspolitik gesetzt.

Die Bundesregierung hat sich dies ebenfalls zu eigen
gemacht. Man kann das – so sehe ich es jedenfalls –
durchgängig in den Antworten auf die Große Anfrage
erkennen, auch wenn Frau Zapf damit nicht zufrieden
war. Hier wird unmissverständlich zum Ausdruck ge-
bracht, dass aus Sicht der Bundesregierung Abrüstung,
Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung die zentralen

Bestandteile einer globalen Sicherheitsarchitektur dar-
stellen. Die Bundesregierung steht dabei für substan-
zielle Fortschritte auf diesem Gebiet und unterstützt klar
und deutlich das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt.

Lassen Sie mich nun kurz auf einige konkrete Ergeb-
nisse, die seither erzielt wurden, eingehen. Zuerst zum
neuen Strategischen Konzept der NATO. Als wir unse-
ren Antrag im März 2010 verabschiedeten, stand es – Sie
wissen das – kurz vor seinem Abschluss. Als Mitglied
der Parlamentarischen Versammlung der NATO kann ich
Ihnen nur bestätigen, dass es auch auf den maßgeblichen
Einfluss der Bundesregierung zurückzuführen ist, dass
Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie das erklärte
Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt im neuen Strategi-
schen Konzept als eigenständige Schwerpunkte auf-
genommen wurden.

Meine Damen und Herren, sicher ist allen klar – dies
muss allen klar sein –, dass Abrüstung und Rüstungs-
politik keine Anliegen von gestern sind, sondern Aufga-
ben von heute und morgen. Dabei sind Abrüstung und
eine nuklearwaffenfreie Welt keine Utopie oder idealisti-
sches Wunschdenken. Nein, es ist eine konkrete Ver-
pflichtung, für deren Umsetzung Deutschland – ich stehe
zu hundert Prozent dahinter – national wie international
einen wirksamen Beitrag geleistet hat und auch weiter-
hin leistet.

Interessant ist dabei die Beobachtung – die ich Ihnen,
meine Damen und Herren von der Opposition, dringend
zur Beurteilung empfehle –, ob denn zum Beispiel auch
Mittel, das heißt harte Währung, für Abrüstungsschritte
aufgewendet werden. Da braucht sich die Bundesrepu-
blik Deutschland mit Sicherheit nicht zu verstecken.
Eine Liste, welche Projekte das Auswärtige Amt fördert,
ist in der Antwort zu Ihrer Großen Anfrage, aber auch im
jährlich erscheinenden Abrüstungsbericht zu finden.
Hinzu kommen allerdings noch zahlreiche Projekte an-
derer Ressorts, die allesamt zeigen, dass es der Regie-
rung und uns ernst ist, wenn es um Rüstungskontrolle
und Abrüstung geht. Gerade diesen Weg, liebe Kollegin-
nen und Kollegen von der Opposition, sollten alle hier
im Haus weiter mit aller Kraft unterstützen.

Nicht unerwähnt lassen will ich die zielgerichteten
Bemühungen der Bundesregierung, den Aktionsplan aus
der NVV-Überprüfungskonferenz 2010 zu operationali-
sieren. Mit der Gründung der Nichtverbreitungs- und
Abrüstungsinitiative, die sich bekannterweise auch
„Freunde des NVV“ nennt und aus Deutschland sowie
acht weiteren Staaten besteht, werden das Ziel einer
zügigen Umsetzung der Beschlüsse der NVV-Überprü-
fungskonferenz sowie weitere Fortschritte bei der nu-
klearen Abrüstung und Nichtverbreitung verfolgt. Das
ist übrigens im Kern eine der wichtigsten Forderungen
unseres damaligen Antrags von 2010.


(Uta Zapf [SPD]: Und was ist passiert? Nichts!)


– Ich hatte gerade schon einiges dazu dargestellt. Nur ist
meine Redezeit leider nicht ausreichend, um die vielen
Erfolge und Fortschritte seither darzustellen.





Robert Hochbaum


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heiterkeit bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Welt ist gerade in Bezug auf Proliferation und
atomare Rüstung in keinem Idealzustand; das wissen wir
alle. Dies muss geändert werden. Jedem, der reale Poli-
tik betreibt, muss aber klar sein, dass dies nicht über
Nacht quasi mit dem Zauberstab erfolgen kann.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!)


Selbst Präsident Obama, den sicherlich alle hier ken-
nen,


(Heiterkeit)


hat davon gesprochen, dass es möglicherweise eine
ganze Generation oder mehr dauern wird, ehe die Welt
nuklearwaffenfrei sein kann. Wichtig ist daher, das Ziel
fest im Blick zu haben und es mit konkreten, vor allem
aber auch nachhaltigen Schritten zu verfolgen. Ich
möchte vor allem Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, einladen, dieses Vorhaben im Sinne unseres
Antrags von 2010 zu unterstützen.


(Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An uns liegt es nicht! – Uta Zapf [SPD]: Den habe ich doch geschrieben!)


Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717527300

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin Inge

Höger das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717527400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 19 500

Atomsprengköpfe gibt es weltweit. Etwa 5 000 davon
sind jederzeit einsatzbereit. Dieses Waffenpotenzial
reicht aus, um ein Vielfaches allen höheren Lebens zu
vernichten.

Leider nehmen die Ausgaben für atomare Rüstung in
letzter Zeit wieder zu. Die Internationale Kampagne zur
Abschaffung von Atomwaffen hat berechnet, dass im
letzten Jahr mehr als 100 Milliarden Dollar für atomare
Rüstung ausgegeben wurden, ein großer Teil davon für
die Modernisierung von Atombomben. Die Ausgaben
für Atomwaffen stiegen weltweit um 10 Prozent. Diese
neue Aufrüstungswelle muss gestoppt werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Uta Zapf [SPD])


Die Abrüstung von Atomwaffen wird nicht voran-
kommen, wenn nur Druck auf einzelne Länder ausgeübt
wird. Die Strategie gegen das bis jetzt noch zivile Atom-
programm des Iran ist zum Scheitern verurteilt. Ich
möchte an einen Satz erinnern, der in einem Aufruf
steht, der unter anderem von Albert Schweitzer unter-
zeichnet wurde – Zitat –:

Das Beispiel der bisherigen Atommächte kann
leicht andere Staaten dazu verführen, ebenfalls die
Hand nach Atomwaffen auszustrecken.

Das bedeutet: Globale oder wenigstens regionale
Abrüstungsinitiativen sind die besten Argumente gegen
neue Aufrüstung. Die Linke begrüßt deshalb ganz aus-
drücklich die UN-Initiative für einen atomwaffenfreien
Nahen und Mittleren Osten.

Leider trägt die Rüstungsexportpolitik Deutschlands
mit zur Eskalation in der Nahostregion bei.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ach was!)


Ich rede von U-Booten. Drei U-Boote des Typs „Dolphin“
wurden bereits nach Israel geliefert. Zahlreiche Experten
gehen davon aus, dass diese U-Boote von der israelischen
Armee so umgerüstet wurden, dass damit nukleare
Marschflugkörper abgefeuert werden können. In den
nächsten Monaten werden wohl zwei weitere U-Boote
ausgeliefert. Außerdem wird, unterstützt mit Geldern aus
dem aktuellen Haushalt, ein sechstes U-Boot für Israel
gebaut. Damit ist Deutschland mitverantwortlich für die
Destabilisierung in der Region. Dadurch werden Schritte
in Richtung Frieden durch Abrüstung und Vertrauens-
bildung deutlich schwerer. Ich fordere die Bundesregie-
rung auf, weder diese U-Boote noch andere Waffen in den
Nahen Osten zu liefern.


(Beifall bei der LINKEN)


Deutsche Verantwortung wird noch an weiteren
Punkten ganz konkret: 20 US-amerikanische Atombom-
ben liegen in Deutschland, in der Eifel, bei Büchel. Jede
hat die zehnfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe.
Die Atomwaffen liegen dort aufgrund von Verträgen, die
die Bundesregierung abgeschlossen hat. Diese Verträge
können gekündigt werden, wenn es politisch gewollt ist.
Die deutsche Luftwaffe übt den Einsatz dieser Atomwaf-
fen mit Tornados. Diese Vorbereitung auf den Atomkrieg
könnte sofort enden.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke fordert ein Ende der sogenannten nuklea-
ren Teilhabe, also ein Ende der Mittäterschaft Deutsch-
lands an der Vorbereitung eines Atomkriegs. Solche
konkreten Schritte müssen gegangen werden, sonst lei-
det die Glaubwürdigkeit aller anderen diplomatischen
Bemühungen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin froh, dass im vorliegenden Entschließungs-
antrag die Bedeutung des NATO-Raketensystems für die
atomare Abrüstung erkannt wird. Das sogenannte Rake-
tenabwehrprogramm ist kein rein defensives System. Im
Gegenteil: Es macht militärische Offensiven wahr-
scheinlicher, indem es die Auswirkung von Gegenschlä-
gen verringert. Schild und Schwert bilden von jeher eine
Einheit. Die SPD teilt offensichtlich unsere Einschät-
zung, dass das Raketensystem gegen Russland gerichtet
ist. Sie fordert deshalb eine Abstimmung mit Russland
hinsichtlich dieses Systems.

Die Verhinderung eines bereits beginnenden neuen
Rüstungswettlaufs zwischen der NATO und Russland ist





Inge Höger


(A) (C)



(D)(B)


auf jeden Fall sinnvoll, doch global gesehen ist ein kom-
pletter Ausstieg aus dem Raketenprogramm notwendig,
sonst wird eine Front abgebaut und dafür eine andere er-
richtet. Die Linke will kein Wettrüsten mit Russland. Die
Linke will weltweit kein Wettrüsten.


(Beifall bei der LINKEN)


UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hatte recht, als er
sagte: „Die Welt ist überrüstet, und Frieden ist unter-
finanziert.“ – Das muss sich dringend ändern.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717527500

Der Kollege Christoph Schnurr hat jetzt das Wort für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christoph Schnurr (FDP):
Rede ID: ID1717527600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Prag, New York, Lissabon, Chicago, Bagdad und
Washington – das sind die Orte, an denen Abrüstung und
Rüstungskontrolle in den letzten Jahren vorangetrieben
wurden. Es sind die Orte, auf die wir in den nächsten
Wochen und Monaten schauen werden – mit Sorge, aber
auch mit Hoffnung. Hoffnung gab es kurz, als bekannt
wurde, dass sich die USA und Nordkorea auf die Liefe-
rung von Lebensmitteln im Gegenzug für ein Atommo-
ratorium geeinigt hatten. Hoffnung gibt es jetzt mit Blick
auf die Verhandlungen der E3+3 mit dem Iran. Frau Kol-
legin Höger, wenn ich Ihnen richtig zugehört habe, dann
haben Sie Israel in Ihrer Rede erwähnt, aber den schwe-
lenden Konflikt mit dem Iran mit keinem einzigen Wort.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Ich habe auch den Iran erwähnt! Sie hätten besser zuhören sollen!)


Die Sorge und das grundsätzliche Problem bleiben:
Es gibt Staaten, die nach Atomwaffen streben oder sich
– entgegen internationalen Verpflichtungen – bereits sol-
che Waffen beschafft haben.


(Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie Indien! – Inge Höger [DIE LINKE]: Indien! Pakistan!)


Sie wollen Sicherheit, Prestige und Macht. Sie verursa-
chen dadurch aber Unsicherheit, Misstrauen und häufig
Ohnmacht. Deshalb war es wichtig, dass der amerikani-
sche Präsident Obama vor fast genau drei Jahren in Prag
einen Paradigmenwechsel eingeleitet hat. Eine Welt
ohne Atomwaffen – das war seine Vision, und das ist
auch das Ziel aller Fraktionen in diesem Hause. Dies
haben wir seinerzeit mit unserem gemeinsamen Antrag
dokumentiert.

Schon damals sollte uns allen klar gewesen sein: Wir
werden dieses Ziel nicht über Nacht erreichen. Es
braucht einen langen Atem und viele, viele kleine
Schritte, bis der Erfolg sichtbar wird. Irgendwann wird
der Erfolg aber sichtbar. Ein Beispiel dafür ist die erfolg-
reiche NVV-Überprüfungskonferenz in New York. Ein

weiteres Beispiel dafür ist das neue Strategische Kon-
zept, das sich die NATO in Lissabon gegeben hat.


(Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)


Da mögen die Kollegen der Opposition anderer Auffas-
sung sein. Das zeigt aber, wie weit Sie sich gedanklich
von der Zeit entfernt haben, in der Sie für die Außenpoli-
tik in diesem Lande Verantwortung getragen haben.

Abrüstung und Nichtverbreitung sind – anders als in
der Vergangenheit – ein wichtiger Teil der Bündnisstra-
tegie, nicht als Selbstzweck, sondern weil beides zu
mehr Sicherheit beiträgt. Die Bundesregierung hat einen
maßgeblichen Anteil daran, dass sich die NATO dazu
verpflichtet hat, die Voraussetzungen für eine Welt ohne
Atomwaffen zu schaffen. Das ist ein Erfolg für die Bun-
desregierung, für Deutschland, für uns alle, die sich für
eine Welt ohne Atomwaffen einsetzen.

Natürlich – das muss man ganz offen sagen – haben
wir uns mehr gewünscht. Aber ich bin optimistisch, dass
wir in der NATO bald weitere Fortschritte sehen werden.
In gut drei Wochen blicken wir ganz gespannt nach Chi-
cago. Dort wird das Bündnis unter anderem beschließen,
wie der zur Abschreckung nötige Mix aus nuklearen und
konventionellen Fähigkeiten in Zukunft aussehen soll.
Wenn man dem, was vorab über die Presse bekannt
wurde, Glauben schenken darf – dazu gibt es gute
Gründe –, dann werden wir in den Gipfelbeschlüssen ei-
nige deutsche Forderungen wiederfinden. Dazu gehören
negative Sicherheitsgarantien, die Verstetigung des Aus-
schusses zur Rüstungskontrolle und Abrüstung, aber
auch Aussagen zu den in Europa stationierten substrate-
gischen Atomwaffen.

Dass dieses Thema international überhaupt noch auf
der Agenda ist und bleiben wird, ist ohne Zweifel ein
Verdienst der Bundesregierung und unseres Außen-
ministers.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Aber auch hier gilt: Erfolge brauchen Zeit. Substan-
zielle Gespräche können wir erst dann erwarten, wenn in
Washington der nächste amerikanische Präsident verei-
digt ist; auch das haben die Gespräche mit den unter-
schiedlichsten Experten gezeigt. Selbst wenn es auch
dann noch dauern sollte: Wir rücken nicht ab vom Ziel
des Abzugs der Atomwaffen aus Deutschland und Eu-
ropa. Wenn aber erst Vertrauen und Transparenz ge-
schaffen werden müssen, um alle mit ins Boot zu holen,
dann sind wir gut beraten, genau das zu tun. Wir müssen
Schritt für Schritt nach vorne gehen und dürfen nicht den
zweiten vor dem ersten Schritt machen.

Meine Damen und Herren, gleich nach dem NATO-
Gipfel blicken wir nach Bagdad. Dort soll das nächste
Gespräch der E3+3 mit dem Iran stattfinden. Gerade
jetzt wäre ein Erfolg in den Verhandlungen wichtig. In-
dien hat erstmals eine atomwaffenfähige Langstrecken-
rakete getestet, Pakistan eine Rakete mit kürzerer Reich-
weite. Nordkorea hat mit dem missglückten Raketenstart
gegen Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates verstoßen
und sich damit weiter isoliert. Gründe, sich Sorgen zu





Christoph Schnurr


(A) (C)



(D)(B)


machen, gab es in den vergangenen Wochen mehr als ge-
nug. Dass es jetzt überhaupt zu einer weiteren Ge-
sprächsrunde mit dem Iran kommt, ist deshalb ein gutes
Zeichen. Es ist auch ein Hinweis darauf, dass der zwei-
gleisige Ansatz funktioniert, den die Bundesregierung,
aber auch unsere Partner verfolgen: auf der einen Seite
Druck aufbauen und Sanktionen verschärfen und auf der
anderen Seite offen für Gespräche bleiben und Entge-
genkommen zeigen.

Abrüstung und Rüstungskontrolle sind keine Felder
für parteipolitische Spielchen. Wir haben das gleiche
Ziel. Der Entschließungsantrag der SPD ist überflüssig.
Wir müssen in diesem Hohen Hause nicht alle zwei
Jahre die gleichen Dinge beschließen. Lassen Sie uns
weiter gemeinsam an der Sache arbeiten. Dann bringen
wir die Sache voran.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717527700

Die nächste Rednerin ist Agnes Brugger für Bündnis 90/

Die Grünen.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717527800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der

Abrüstungspolitik fehlt es Schwarz-Gelb gewaltig an
Ideen und Elan. Das zeigen die Antworten der Bundesre-
gierung auf die Große Anfrage zu den verschiedensten
Facetten der nuklearen Abrüstung. Sie zeigen auch: Au-
ßenminister Westerwelle betreibt Abrüstungspolitik
ohne jede Lust und Leidenschaft, so als gehe es nur um
die Pflege einer deutschen außenpolitischen Routine.
Auf diese Weise versäumt es die Bundesregierung,
Chancen zu nutzen und sichtbare außenpolitische Ak-
zente zu setzen. Sie unternehmen gar nicht erst den Ver-
such, wirklich und überzeugt bei der Bevölkerung und in
der Weltöffentlichkeit um Unterstützung für Ihre Abrüs-
tungspolitik zu werben.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Doch, doch! Das machen wir!)


Ohne einen solchen Rückhalt, der über nationalstaatliche
Interessen hinausgeht, kann Abrüstungspolitik ihre Wir-
kung aber nicht entfalten.

Am augenscheinlichsten wird dies, wenn man be-
trachtet, was mit den US-Atomwaffen in Deutschland
geschehen soll. Mir fehlt noch der Glaube, Herr Schnurr,
dass der NATO-Gipfel in Chicago wirklich beschließen
wird, dass sie abgezogen werden sollen. Es soll nämlich
nicht besonders viel geschehen. Was es gibt, ist allenfalls
die Perspektive, dass sie modernisiert werden und damit
ihr Verbleib in Deutschland zementiert wird, und das,
obwohl im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, dass die
in Deutschland stationierten Atomwaffen abgezogen
werden sollen, und obwohl das gesamte Parlament die-
ses Vorhaben unterstützt. Der heutige Entschließungsan-
trag der SPD, den wir in weiten Teilen wirklich sehr gut
finden, macht das deutlich. Wir teilen allerdings nicht
Ihre Begeisterung für das NATO-Raketenabwehrsystem.

Für uns ist es ein Aufrüstungsprojekt, bei dem sowohl
Nutzen als auch Kosten nicht absehbar sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Daher werden wir uns bei Ihrem Antrag enthalten.

Zurück zu Schwarz-Gelb. Wir fordern von der Bun-
desregierung, dass sie sich aktiv und mit eigenen Beiträ-
gen für eine Welt frei von Atomwaffen einsetzt. Dazu
gehört beispielsweise auch, für eine Ächtung von Atom-
waffen durch eine Nuklearwaffenkonvention zu streiten.
Aktiv sollten Sie sich in diese Diskussion einbringen; so
hat es nahezu das ganze Haus in einem historischen ge-
meinsamen Antrag gefordert. In ihrer Antwort auf die
Große Anfrage erklärt die Bundesregierung aber lapidar,
sie – Zitat – „verfolgt die Diskussion um eine Nuklear-
waffenkonvention aufmerksam“. Das heißt im Klartext:
Sie beteiligen sich gar nicht daran.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Na, na, na!)


Es grenzt wirklich teilweise an Dreistigkeit, wie diese
Regierung den abrüstungspolitischen Auftrag der Mehr-
heit des Parlamentes einfach ignoriert und sich für ihr
vermeintliches Engagement in regelmäßigen Abständen
selbst beweihräuchert.

Meine Damen und Herren, natürlich erfüllen uns die
Entwicklungen im Iran, in Nordkorea, in Indien und in
Pakistan mit großer Sorge. Erst letzte Woche erreichte
uns die Meldung, dass Indien eine neue, atomwaffenfä-
hige Langstreckenrakete erfolgreich getestet hat. Nun
zog Pakistan mit dem Test einer Mittelstreckenrakete
nach. Indien investiert bereits seit langem in die konven-
tionelle und auch in die nukleare Aufrüstung. Die Tests
treiben die bereits auf Hochtouren laufende Rüstungsspi-
rale in dieser Region weiter an – und das in einer höchst
unsicheren Zeit.

Was ist die Reaktion der Bundesregierung? Schwei-
gen und Verharmlosen! Gerade weil die Herausforderun-
gen so groß und so offensichtlich sind, erwarten wir von
Ihnen viel mehr kreative und engagierte Initiativen für
die Abrüstung und die Rüstungskontrolle.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Im Fall Indien tun Sie aber genau das Gegenteil. Ob-
wohl Indien bis heute nicht zu den Unterzeichnerstaaten
des Atomwaffensperrvertrages gehört, unterstützt
Schwarz-Gelb den Nuklearhandel mit Indien und steht
sogar einer Aufnahme in die Nuclear Suppliers Group
offen gegenüber.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unerhört!)


Dabei hat die Internationale Atomenergie-Organisation
weder Einblick in die Atomanlagen noch in die militäri-
schen und zivilen Forschungseinrichtungen in Indien.
Diese laxe Haltung zum Nuklearhandel mit Indien ist
fahrlässig, und sie torpediert auch die Nichtverbreitungs-
politik der letzten Jahrzehnte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Agnes Brugger


(A) (C)



(D)(B)


Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihnen ist
beim Engagement für Abrüstung doch schon lange die
Luft ausgegangen.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Na, na! Wir sind hyperaktiv!)


Viele Ihrer Initiativen sind zudem – man siehe Indien –
auch noch kontraproduktiv. Wir machen Abrüstungs-
politik mit langem Atem, mit Lust und mit Leidenschaft.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Manuel Höferlin [FDP]: Wir haben ja in Ihrer Regierungszeit gesehen, wie viel Lust Sie haben!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717527900

Der Kollege Thomas Silberhorn spricht jetzt für die

CDU/CSU-Fraktion zu uns.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1717528000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ja

richtig: Anspruch und Wirklichkeit klaffen in der Abrüs-
tungspolitik noch immer auseinander.

Im Nichtverbreitungsvertrag verpflichten sich die
fünf Atommächte, in Verhandlungen über allgemeine
und vollständige Abrüstung einzutreten. Die Unterzeich-
nerstaaten, die nicht im Besitz von Kernwaffen sind, er-
klären im Nichtverbreitungsvertrag ihren Verzicht auf
atomare Rüstung. Beide Ziele des Nichtverbreitungsver-
trages – Abrüstung und Nichtverbreitung – sind in der
politischen Realität bislang nicht erreicht.

Unzureichende Fortschritte sind aber nicht allein eine
Frage des politischen Willens, sondern hängen auch mit
der komplexen Struktur von Interessen zusammen: na-
tionale Sicherheitsinteressen, Bedrohungsperzeptionen,
aber auch machtpolitisches Kalkül und Prestigedenken.
Abrüstung braucht ein friedliches Umfeld, wechselseiti-
ges Vertrauen, einen international abgestimmten Rah-
men und im Übrigen die Beachtung des Grundsatzes der
Gegenseitigkeit.

Wir wollen alles dafür tun, dass sich der Kreis der
Akteure, die Zugriff auf Atomwaffen haben, nicht ver-
größert. Das Gebot der Nichtverbreitung muss eingehal-
ten werden. Die wohl größte Hürde dabei ist die Verifi-
kation, also die Frage, wie sichergestellt werden kann,
dass sich tatsächlich alle Staaten an die vereinbarten Ab-
rüstungsschritte halten. Diese Frage ist nicht banal, son-
dern davon hängt ab, wie freiheitlich verfasste Demokra-
tien künftig ihre Werte verteidigen können, in dem
Wissen, dass Akteure nach Atomwaffen streben, die
diese Werte nicht teilen.

Die internationale Gemeinschaft und wir alle, denen
an Abrüstung gelegen ist, müssen darauf eine plausible
Antwort finden. Abrüstung funktioniert aber nicht ad
hoc und nicht dadurch, dass man den allgemeinen Welt-
frieden ausruft. Es wäre wenig hilfreich, die politischen

Realitäten auszublenden, unerfüllbare Erwartungen zu
schüren und damit Enttäuschungen und Frustration her-
vorzurufen. Erfolgreiche Abrüstungspolitik braucht ei-
nen Fahrplan mit konkreten Zielmarken.

Es ist uns vor über zwei Jahren in diesem Haus gelun-
gen, mit einem interfraktionellen Antrag einen Konsens
in der nuklearen Abrüstungspolitik herzustellen. Wir ha-
ben beschrieben, welchen Beitrag Deutschland aus Sicht
des Parlaments leisten kann.

Seitdem sind die Verhandlungen zu allen wesentli-
chen Aspekten der nuklearen Abrüstung vorangeschrit-
ten. Es gibt einen neuen START-Vertrag zwischen den
USA und Russland. Es gab 2010 eine erfolgreiche Über-
prüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag mit
der Verständigung auf einen Aktionsplan. Gegenstand
dieses Aktionsplans ist unter anderem das Ziel, im Na-
hen und Mittleren Osten eine Zone zu schaffen, die frei
von Nuklearwaffen und anderen Massenvernichtungs-
waffen ist. Schließlich wurde von zehn Staaten eine
Nichtverbreitungs- und Abrüstungsinitiative gegründet.

Auf anderen Feldern sind – das ist zuzugeben – die
Fortschritte noch nicht so weit, wie wir uns das alle er-
hoffen, was freilich auch an der geschilderten Komplexi-
tät der Aufgabe liegt. Für das Inkrafttreten des umfas-
senden Teststoppabkommens fehlen nach wie vor acht
Ratifikationen. Die letzte Ratifikation durch Indonesien
im Februar war immerhin ein wichtiger Schritt.

Die Aufnahme der Verhandlungen zum Verbot der
Produktion von Spaltmaterial für Waffenzwecke in der
Genfer Abrüstungskonferenz wird weiterhin durch die
offene Blockade Pakistans verhindert. In den Atomver-
handlungen mit Nordkorea und Iran gibt es bisher keine
greifbaren Fortschritte. Allein diese beiden Fälle ver-
deutlichen, wie weit wir noch von einem internationalen
Konsens über den Umgang mit Atomwaffen entfernt
sind.

CDU, CSU und FDP haben in ihrem Koalitionsver-
trag ein glasklares Bekenntnis zu Abrüstung und Rüs-
tungskontrolle abgegeben. Wir sehen dies „als zentralen
Baustein einer globalen Sicherheitsarchitektur der Zu-
kunft“, so das Zitat aus dem Koalitionsvertrag.

Die Bundesregierung hat diesen Worten seit Beginn
dieser Legislaturperiode Taten folgen lassen. Im neuen
Strategischen Konzept der NATO vom November 2010
sind Abrüstung und Rüstungskontrolle und auch das Ziel
einer nuklearwaffenfreien Welt verankert. Die Bundesre-
gierung engagiert sich konsequent für die Stärkung des
globalen Nichtverbreitungsregimes, insbesondere im
Rahmen der Bemühungen zum iranischen Nuklearpro-
gramm. Bei den Verhandlungen zum iranischen Nukle-
ardossier hat sich Deutschland neben den fünf ständigen
Mitgliedern des Sicherheitsrates einen festen Platz als
Verhandlungspartner erarbeitet.

Wir haben mit der Verhängung von Sanktionen, die
auch die deutsche Wirtschaft empfindlich treffen, deut-
lich gezeigt, dass es uns mit der Doppelstrategie von
Angebot und Druck ernst ist. Das zeigt: Die Bundesre-
gierung ist den Handlungsaufträgen aus dem Koalitions-
vertrag und aus dem interfraktionellen Beschluss des





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)


Bundestages vor zwei Jahren im vollen Umfang nachge-
kommen.

Ich sage aber auch: Der primäre Verhandlungsrahmen
für Deutschland ist die Europäische Union, ist die Nicht-
verbreitungs- und Abrüstungsinitiative. Nukleare Abrüs-
tung hängt aber nicht in erster Linie von Deutschland ab.
Dazu gehören die USA und Russland, die noch immer
über rund 90 Prozent der weltweit vorhandenen Atom-
waffen verfügen. Dazu gehören auch aufstrebende
Mächte wie China und Indien. Dazu gehört die Frage, ob
Staaten wie der Iran und Nordkorea zur Einhaltung der
globalen Nichtverbreitungsnormen gebracht werden
können.

Fortschritte in der Abrüstungspolitik entstehen nicht
durch hehre Verlautbarungen und Ziele,


(Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


sondern dann, wenn Abrüstung von den relevanten Ak-
teuren als Teil einer klugen Interessenpolitik verstanden
und wenn sie in einem Klima des Vertrauens und der
Partnerschaft betrieben wird.

Abrüstung ist die Summe vieler einzelner Bausteine.
Arbeiten wir gemeinsam darauf hin, dass sich die Teile
dieses Mosaiks zu einem ansehnlichen Gesamtbild zu-
sammenfügen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717528100

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/
9438. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch die ein-
bringende Fraktion. Die Koalitionsfraktionen haben da-
gegen gestimmt, Linke und Bündnis 90/Die Grünen sich
enthalten.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beglei-

(Bundeswehrreform-Begleitgesetz – BwRefBeglG)


– Drucksache 17/9340 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen, und wir verfahren so.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort
dem Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomas
de Maizière.

Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir wollen eine leistungsfähige Bundeswehr, die der
Politik im Bedarfsfall ein breites Spektrum an Fähigkei-
ten und Handlungsoptionen bietet, die einsatzorientiert
und effektiv arbeitet, die nachhaltig finanziert und aus-
gerüstet ist und die fest in der Gesellschaft verankert ist,
und das alles mit Menschen, die das können und die das
gerne tun. Das ist der Hintergrund, vor dem wir heute
den Entwurf des Bundeswehrreform-Begleitgesetzes be-
raten, den ich gerne einbringe.

Wir stehen im Zusammenhang mit der Neuausrich-
tung der Bundeswehr vor drei Herausforderungen:

Erstens. Wir brauchen weniger Personal. Es ist nicht
drum herumzureden: Das ist auch eine Maßnahme des
Personalabbaus. Denjenigen, für die wir in der Bundes-
wehr keine angemessene Verwendung haben, müssen
und wollen wir eine Perspektive anbieten. Dafür brau-
chen wir das Reformbegleitprogramm.

Zweitens. Wir müssen das richtige Personal am
richtigen Platz in der Bundeswehr haben. Im konkre-
ten Fall bedeutet das eine gute Personalentwicklung
einschließlich Beförderungsmöglichkeiten, Umstieg
vom Berufs- zum Zeitsoldaten, Umschulung, Weiter-
bildung, Umzüge usw. Dazu wollen wir Anreize
schaffen. Diesen Schritt wollen wir erleichtern, und
dafür brauchen wir das Reformbegleitprogramm.

Drittens. Wir brauchen neues Personal. Nur wenn es
uns gelingt, dass die Bundeswehr als attraktiver Arbeit-
geber angesehen wird, werden wir den Wettbewerb um
die besten Köpfe bestehen. Genau die brauchen wir für
eine starke und gute Bundeswehr. Auch dafür brauchen
wir das Reformbegleitprogramm.

Das Reformbegleitprogramm stellt Mittel, Maßnah-
men und Möglichkeiten bereit, damit wir dieser dreifa-
chen Herausforderung begegnen können. Wir durchlau-
fen im Zusammenhang mit der Neuausrichtung der
Bundeswehr einen Prozess des Aufbaus, Umbaus und
Abbaus, und das alles gleichzeitig. Das ist ziemlich
kompliziert, aber möglich.

Grundsätzlich gilt: Die Weiterverwendung innerhalb
und außerhalb der Bundeswehr hat für uns Vorrang. Des-
halb wollen wir sie durch vielfältige Maßnahmen för-
dern, die Sie in dem Entwurf finden. Ich denke an die er-
weiterten Beurlaubungsregelungen, an das Angebot
umfassender Weiterqualifizierungsmaßnahmen, an die
finanzielle Förderung einer anderweitigen Weiterbe-
schäftigung, an die finanziellen Anreize für eine Status-
umwandlung vom Berufs- zum Zeitsoldaten und vor al-
lem an die Anhebung der Hinzuverdienstgrenzen.

Letzteres ist besonders wichtig. Wer als über 50-jähri-
ger Hauptfeldwebel oder Oberstleutnant in der Wirt-
schaft arbeiten will, soll und kann, der sollte auch einen





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)


Anreiz haben, das zu tun, zwar nicht in Form von mehr
Geld vom Steuerzahler, aber so, dass er möglichst viel
von dem, was er bei einem anderen Arbeitgeber verdient
und für das er Steuern und Abgaben zahlt, behalten
kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Für diejenigen, die keine Weiterbeschäftigung finden
können oder wollen, enthält der Entwurf ein alles in al-
lem respektables Angebot, vorzeitig in den Ruhestand zu
gehen. Dieser Weg wird mit Blick auf die finanzielle Be-
lastung für den Bundeshaushalt und auf die Beschäfti-
gungsmöglichkeiten und entsprechenden Maßnahmen
außerhalb des öffentlichen Dienstes nicht allen Soldatin-
nen und Soldaten bzw. Beamtinnen und Beamten des
Überhangs offenstehen. Auch hierüber wird sicherlich
noch geredet werden.

Lassen Sie uns bei der Beratung all dieser Maßnah-
men nicht das Ziel aus den Augen verlieren: Es geht da-
rum, die Bundeswehr zukunftsfest zu machen. Wir dür-
fen uns nicht nur um die kümmern, die die Bundeswehr
leider verlassen müssen, sondern müssen uns vor allem
um die kümmern, die bleiben und neu dazukommen. Mit
diesem Ziel wollen wir die Attraktivität des Arbeitsplat-
zes Bundeswehr steigern. Dazu gibt es viele Maßnah-
men, die jetzt nicht gesetzlich geregelt werden müssen.
Aber auch der vorliegende Gesetzentwurf sieht hierzu
vielfältige Maßnahmen vor.

Wir wollen die Vereinbarkeit von Familie und Dienst
ebenso verbessern wie die Wohn- und Lebensbedingun-
gen der zahlreichen Pendler in der Bundeswehr. Dabei
knüpfen wir an die Maßnahmen an, die wir bereits au-
ßerhalb des Reformbegleitprogramms umgesetzt haben.
Ich denke an das Ziel, die Kasernenunterkünfte, die wir
nicht mehr brauchen, Pendlern zur Verfügung zu stellen,
das befristete Wahlrecht zwischen Umzugskostenvergü-
tung und Trennungsgeld, die Verbesserung der Woh-
nungsfürsorge und viele andere Maßnahmen.

Es handelt sich bei dem Ihnen vorliegenden Entwurf
des Bundeswehrreform-Begleitgesetzes nur dem Namen
nach um ein Begleitgesetz. In Wahrheit ist es ein zentra-
ler Baustein der Neuausrichtung. Das Gesetz kommt de-
nen zugute, die heute in der Bundeswehr sind und dort
weiterhin ihre Zukunft sehen. Das Gesetz kommt denen
zugute, die sich eine berufliche Zukunft in der Bundes-
wehr vorstellen können. Das Gesetz kommt aber auch
denen zugute, die andere berufliche Perspektiven anstre-
ben oder leider anstreben müssen. Das Gesetz dient also
dem Erfolg der Neuausrichtung der Bundeswehr insge-
samt. Wir brauchen das Bundeswehrreform-Begleitge-
setz als Teil der Neuausrichtung, damit die Bundeswehr
unserem Land, seinen Interessen und Werten so gut die-
nen kann wie bisher oder noch ein bisschen besser.

In diesem Sinne bitte ich Sie um gute, zügige Bera-
tungen und im Ergebnis um eine breite Zustimmung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717528200

Das Wort hat nun Fritz Rudolf Körper für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1717528300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bun-

deswehrreform-Begleitgesetz zielt in seiner Personal-
strukturreform auf drei Punkte. Das Gesetz zielt zum ei-
nen auf die Einsatzausrichtung. Bei diesem Thema ist es
ganz wichtig, dass wir nicht nur das aktuelle Einsatz-
szenario in Afghanistan im Blick haben, sondern insbe-
sondere auch das, was wir dort zukünftig zu erwarten ha-
ben. Das Gesetz zielt zum anderen auf eine Effizienz-
steigerung. Das ist ganz wichtig. Zu diesem Schluss
kommt man, wenn man vor allen Dingen die rasante
Entwicklung der Militärtechnik sieht. Des Weiteren zielt
das Gesetz auf eine Reduzierung des Personalkörpers.
Das alles bedeutet, dass der Qualifikationsanspruch an
den einzelnen Soldaten und die einzelne Soldatin sowie
an die Mitarbeiter der Bundeswehr – ähnlich wie auf
dem sonstigen Arbeitsmarkt – enorm wächst. Zu diesem
Schluss kommt man, wenn man sieht, wie die Neuaus-
richtung ausgestaltet ist. Die Bundeswehr wird kleiner
und spezieller. Das begründet im Prinzip den gestiege-
nen Qualifikationsanspruch an den Einzelnen. Das ist
besonders zu berücksichtigen.

Es kommt, glaube ich, ganz entscheidend darauf an,
sehr geehrter Herr Minister de Maizière, dass wir unser
Augenmerk nicht nur auf diejenigen richten, von denen
wir uns trennen wollen bzw. trennen müssen, sondern
insbesondere auch auf diejenigen, die wir für die zukünf-
tige Neuausrichtung der Bundeswehr brauchen. Es ist
ganz wichtig, dass sich die Neuausrichtung an der At-
traktivität für junge Menschen orientiert, die ihren
Dienst in der Bundeswehr verrichten wollen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass es darüber keinen Streit gibt. Aber man
muss wissen, dass die Bundeswehr bei der Personalge-
winnung in einem verschärften Wettbewerb steht. Ange-
sichts der Anstrengungen, die die Landespolizeien und
die Bundespolizei unternehmen, um Personal zu rekru-
tieren – es handelt sich um einen Personalkörper, an dem
auch die Bundeswehr interessiert ist –, muss darüber
nachgedacht werden, wie es die Bundeswehr schaffen
kann, qualifiziertes Personal zu gewinnen. Im Mittel-
punkt der anstehenden Bundeswehrreform steht daher
eine eindeutige Steigerung der Attraktivität des Dienstes
für die aktiv Beschäftigten. Ich hoffe, dass das gelingt.

Der Dienst in der Bundeswehr muss aber auch im
Hinblick auf die Nachwuchsgewinnung attraktiver wer-
den. Wir haben bereits eine Debatte über die Ausbil-
dung in der Bundeswehr geführt. Ich finde, das ist ein
Feld, wo nicht reduziert werden darf; denn im Hinblick
auf die zukünftige Entwicklung der Bundeswehr in dem
von mir skizzierten Sinne ist es wichtig, dass die Bun-





Fritz Rudolf Körper


(A) (C)



(D)(B)


deswehr attraktive Ausbildungsplätze zur Verfügung
stellt.


(Beifall bei der SPD)


Man sieht, dass das Ziel relativ ehrgeizig ist. Von
252 000 Soldatinnen und Soldaten inklusive Wehrpflich-
tigen ausgehend streben wir einen Zielkorridor von
185 000 Soldatinnen und Soldaten an. Diese Reduzie-
rung geht einher mit einer Reduzierung der Zahl der zi-
vilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dazu sage ich
Ihnen, Herr Verteidigungsminister de Maizière, dass die
Zahl der Zivilbeschäftigten, die von derzeit 76 000 auf
55 000 reduziert werden soll, nach unserer Auffassung
sehr willkürlich gewählt ist.


(Beifall bei der SPD)


Ich weiß nicht, ob in diesem Zusammenhang eine
konkrete Aufgabenanalyse vorgenommen worden ist. Es
gibt eine interessante Parallele zu der Entwicklung der
französischen Streitkräfte. Diese haben militärisches
Personal abgebaut, was allerdings mit einem Aufwuchs
bei den Zivilbeschäftigten einherging. Auch so etwas
muss man berücksichtigen. Ich finde es wichtig, einge-
hend zu prüfen, welche Aufgaben zukünftig vom militä-
rischen Personal und welche vom zivilen Personal über-
nommen werden sollen. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt. Auch diese Überlegung muss bei der Umsetzung
des Bundeswehrreform-Begleitgesetzes eine Rolle spie-
len.

Wir müssen auch daran denken, dass Soldatinnen und
Soldaten ausscheiden sollen oder müssen. In diesem Zu-
sammenhang ist die Freiwilligkeit ganz wichtig. Ent-
scheidend ist, wie die Instrumente bei dem Einzelnen
wirken. Über die Hinzuverdienstgrenzen sollten wir ge-
meinsam nachdenken, damit es für bestimmte Betroffene
nicht zu einer spürbaren Absenkung des Nettoeinkom-
mens kommt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)


Das gilt insbesondere für bestimmte Altersbänder. In
diesem Fall stellt das Altersband II ein gewisses Pro-
blem dar. Ich weiß aber auch aus eigener Erfahrung, dass
dann, wenn man besondere Regelungen schaffen will
und beispielsweise Hinzuverdienstgrenzen anhebt oder
gar aufhebt, eine Debatte mit anderen, beispielsweise
dem Innenministerium, entfacht wird. Aber gerade bei
den Hinzuverdienstgrenzen müssen wir auf die Beson-
derheit der Neuausrichtung der Bundeswehr und darauf,
was wir mit dem neuen Personalkörper wollen, hinwei-
sen. Deswegen sollten wir im Sinne der Betroffenen eine
adäquate Regelung schaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)


Ein weiterer Punkt betrifft die Planstellenobergren-
zen. Es muss eine Vergleichbarkeit der Bundeswehr mit
anderen Stellen des öffentlichen Dienstes und den ent-
sprechenden Laufbahnen hergestellt werden. In diesem
Zusammenhang sollten wir unser Augenmerk insbeson-
dere auf die Besoldungsgruppen A 9 und A 13 richten.
Die Vergleichbarkeit der Bundeswehr mit anderen Stel-
len des öffentlichen Dienstes ist unabdingbar.

Wir haben die Gelegenheit, das Bundeswehrreform-
Begleitgesetz auch im Rahmen der Anhörung miteinan-
der zu diskutieren. Ich bin mir im Moment bei der Be-
wertung des vorgestellten Instrumentariums nicht sicher,
ob es tatsächlich zu dem gewünschten Effekt kommt,
also Freiwillige ausscheiden, und die Bundeswehr die
angestrebte zahlenmäßige Stärke erreicht.

Aber deswegen führen wir die Beratungen. Ich sage
jedenfalls vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion eine
konstruktive Begleitung zu.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD – Markus Grübel [CDU/ CSU]: Sehr gut!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717528400

Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1717528500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Lieber Kollege Fritz Rudolf Körper, ich finde es
sehr gut, dass sich etwas fortsetzt, was in anderen Berei-
chen schon sehr gut praktiziert worden ist, nämlich dass
wir gerade im Verteidigungsbereich versuchen, einen
möglichst breiten Konsens in diesem Hause zu erzielen.
In diesem Fall geht es darum, die Neuausrichtung der
Streitkräfte auf den Weg zu bringen.


(Beifall des Abg. Burkhardt Müller-Sönksen [FDP])


Wenn man sich einmal die Situation anschaut, stellt
man fest: Unsere Soldatinnen und Soldaten haben inzwi-
schen fast 20 Jahre Erfahrung in internationalen Aus-
landseinsätzen. Sie sind wesentlicher Teil der Sicher-
heitsarchitektur nicht nur Deutschlands, sondern auch
der gesamten Welt geworden. Ich glaube, dass Deutsch-
land an dieser Stelle sehr stolz auf seine Streitkräfte sein
kann, weil sie unter Beweis gestellt haben, dass sie den
Paradigmenwechsel – weg von der klassischen Landes-
verteidigung und hin zu den Einsätzen zur Krisenbewäl-
tigung und Krisenprävention – in hervorragender Art
und Weise hinbekommen haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben an dieser Stelle natürlich auch einige Leh-
ren aus diesen Erfahrungen mit einer Armee im Einsatz
zu ziehen. Ein wesentlicher Aspekt war die Entschei-
dung dieser Koalition, die Bundeswehr einer Strukturre-
form zu unterziehen, die zwei besondere Ziele hat: Zum
einen soll sie die Flexibilität der Streitkräfte erhöhen,
und zum anderen soll sie vor allen Dingen die Einsatzfä-
higkeit erhöhen. Das hat sich insbesondere in den Vertei-
digungspolitischen Richtlinien niedergeschlagen; nach
den Festlegungen des Verteidigungsministers soll die
Zahl der einsatzfähigen Soldatinnen und Soldaten auf
10 000 erhöht werden.





Elke Hoff


(A) (C)



(D)(B)


Das bedeutet aber auch, dass wir die nötigen Mittel
freisetzen müssen, um dieser Aufgabe gerecht zu wer-
den. Wenn wir einmal in die Streitkräfteplanungen unse-
rer Bündnispartner schauen, aber auch über das Bündnis
hinaus schauen, so können wir feststellen, dass es aktuell
keine Streitkräfte gibt, die nicht einer Umstrukturierung,
einer Reduzierung, einer Transformation der Aufgaben
unterzogen werden. Das heißt, die Bundeswehr befindet
sich in einem Prozess, der auch an anderer Stelle stattfin-
det.

Das Entscheidende ist, was wir an Signalen setzen.
Deswegen kann ich dem Minister nur zustimmen, der
gesagt hat, dass das Bundeswehrreform-Begleitgesetz
eigentlich der Kern unserer Anstrengung sein muss. Wir
müssen einerseits versuchen, den Soldatinnen und Sol-
daten, die ausscheiden müssen, das Gefühl zu geben,
dass wir immer noch für sie da sind, für sie sorgen und
ihnen den Übergang so leicht wie möglich machen, und
andererseits – das hat der Kollege Körper sehr richtig be-
tont – müssen wir denen, die bei den Streitkräften blei-
ben sollen, das Gefühl geben, dass der Dienst in den
Streitkräften, in einer Freiwilligenarmee ein attraktiver
ist.

Wir haben durch den jetzt vorliegenden Gesetzent-
wurf der Bundesregierung einen Rahmen bekommen,
der in die richtige Richtung geht. Ich mag diesen Aus-
druck zwar nicht, aber in dem Fall passt er sehr gut. Nur,
wir glauben, dass wir an der einen oder anderen Stelle
die Anreize doch noch ein Stück weit erhöhen sollten.
Wenn wir in diesem Hause einen möglichst breiten Kon-
sens dazu hinbekommen, wäre das das richtige Signal in
Richtung unserer Parlamentsarmee.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wir als liberale Fraktion sind beispielsweise der Auf-
fassung, dass die Hinzuverdienstgrenzen nicht nur ange-
hoben werden, sondern möglichst völlig entfallen sollen.
Wir halten das für einen wesentlichen Anreiz für Männer
und Frauen, ihren Weg wieder in den zivilen Beruf hi-
nein zu finden.

Ich möchte an dieser Stelle noch einen weiteren As-
pekt mit ins Gespräch bringen, obwohl das nicht origi-
näre Aufgabe des Bundeswehrreform-Begleitgesetzes
ist, nämlich dass wir an anderer Stelle versuchen, gesetz-
geberisch das Thema „Portabilität von Versorgungsan-
sprüchen, von Rentenansprüchen“ zu regeln, um hier ei-
nen möglichst großen Anreiz zu schaffen, damit das
notwendige Ziel der Reduzierung der Streitkräfte am
Ende auch zu erreichen ist.

Dass das Thema Attraktivität ganz oben auf der
Agenda steht, ist klar. Insbesondere bei der Attraktivi-
tätssteigerung durch Vereinbarkeit von Familie und
Dienst haben wir noch eine Menge zu tun. Es sind gute
Ansätze gemacht worden, aber wenn die Reform so weit
abgeschlossen sein wird, muss nach unserer Auffassung
natürlich auch darüber nachgedacht werden, mindestens
an den großen Standorten eine substanzielle Kinderbe-
treuung zu schaffen, damit für Soldatinnen, die wir in
Zukunft für die Freiwilligenarmee brauchen, aber auch
für Soldaten wirklich ein Anreiz besteht.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube – die meisten unserer Kollegen bekommen
das bei ihren Truppenbesuchen mit ins politische
Marschgepäck –, dass viele junge Menschen gerne die-
nen möchten, aber natürlich auch Familie haben und
Kinder in die Welt setzen möchten. Gerade wir als Ge-
sellschaft sind besonders darauf angewiesen, dass junge
Menschen bereit sind, für Nachwuchs zu sorgen, da nur
so unsere Gesellschaft fortbestehen kann. Ich denke,
dass an dieser Stelle die Bundeswehr als großer Arbeit-
geber ein großes, gutes und wichtiges Signal setzen
kann.

Ich gehe davon aus, dass wir uns im Rahmen der par-
lamentarischen Beratung auch nach der Anhörung da-
rauf verständigen werden, welche Dinge wir möglicher-
weise am Gesetz nachjustieren müssen, wir also unsere
parlamentarischen Hausaufgaben machen. Ich bin zuver-
sichtlich, dass wir das Ziel erreichen werden, unseren
Soldatinnen und Soldaten sowie den Zivilbeschäftigten
das Gefühl zu geben, dass wir nicht nur im Dienst für sie
sorgen, sondern auch dann, wenn sie den Dienst verlas-
sen wollen.

Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam-
keit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717528600

Das Wort hat nun Paul Schäfer für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Paul Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717528700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir spre-

chen über einen weiteren Baustein zur Umsetzung der
Bundeswehrreform. Bisweilen hat man von einem gro-
ßen Wurf gesprochen. Wenn wir nun in die Details
schauen, dann erscheint vieles doch eher unausgegoren,
kurzsichtig, ja klein.

Sie haben jetzt 1,3 Milliarden Euro mehr für die
Durchsetzung der Reform zur Verfügung. Trotzdem
bleibt das, was Sie vorlegen, hinter einem nötigen sozial-
verträglichen Personalabbau weit zurück. Bis 2017 sol-
len circa 20 000 Dienstposten bei den Soldatinnen und
Soldaten wegfallen, bei den Zivilbeschäftigten sind es
circa 30 000.

Wir sprechen jetzt über ein Gesetz, das die Vorausset-
zungen dafür schaffen soll, dass insgesamt 2 170 Berufs-
soldatinnen und -soldaten in den Ruhestand versetzt
werden sollen bzw. können. Beim Zivilpersonal sollen es
1 050 Beamtinnen und Beamte sein.

Selbst wenn ich die natürliche Fluktuation in Rech-
nung stelle, also diejenigen, die in diesem Zeitraum oh-
nehin altersbedingt ausscheiden, reicht das nicht aus, um
Ihre eigenen Vorgaben zu erreichen. Das sagen Ihnen
auch die Berufsverbände bzw. der BundeswehrVerband.
Sie gehen darüber hinweg und ignorieren es. Hier muss





Paul Schäfer (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


noch nachgebessert werden. Der Vorschlag, man be-
komme das Problem gelöst, indem man Personal einfach
in andere Behörden verschiebt – ob das zweckmäßig ist,
lasse ich einmal außen vor –, ist nichts anderes als Ross-
täuscherei; denn auch dann muss es vom Steuerzahler
bezahlt werden.

Offensichtlich scheinen Sie, was die sozialverträgli-
che Reduzierung des Personalkörpers betrifft, über Ihre
eigenen ideologischen Dogmen zu stolpern, sprich:
Rente erst ab 67.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wir haben keine ideologischen Dogmen, über die wir stolpern könnten!)


Dies verhinderte offensichtlich großzügige Vorruhe-
standsregelungen. Auch die Regelung zu den Hinzuver-
dienstgrenzen kann man nur kleinkariert nennen.

Mit Ihrem Gesetz geraten Sie in trübe Gewässer,
wenn Sie nun zivile Dienststellen mit Militärs besetzen
wollen. Die Bundeswehrverwaltung ist nicht ohne
Grund zivil ausgerichtet. Es ging und es geht darum, ne-
ben der strikten Militärlogik eine etwas andere Organisa-
tionskultur im Bereich der Streitkräfte zu etablieren. Das
war eine Folgerung aus der deutschen Militärgeschichte.
Das wollen Sie nun offensichtlich schleichend aushe-
beln, weil es bequemer für Sie ist und Sie die gesamte
Bundeswehr auf Einsatzarmee trimmen wollen.

Ich kann dazu nur sagen: Art. 87 b Grundgesetz regelt
eine klare Aufgabentrennung. Lassen Sie die Finger von
diesem Grundgesetzartikel! Das kann man Ihnen nur ra-
ten.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sprechen hier, liebe Kolleginnen und Kollegen,
über die Umsetzung der Reform, wir müssen aber auch
über die Ziele der Reform sprechen. Wenn man schon al-
les neu strukturiert, dann hätte am Anfang stehen müs-
sen, alles auf den Prüfstand zu stellen, also sozusagen
eine kritische Betrachtung der Militäreinsätze der letzten
20 Jahre. Von einer solchen kritischen Revision des Auf-
trags der Streitkräfte kann keine Rede sein. Ihr Motto ist:
Weiter so, nur effektiver!

Die Linke bleibt dabei: Der wichtigste Einsatz der letz-
ten zehn Jahre war Afghanistan. Das ist wahrlich keine
Blaupause für die Zukunft; im Gegenteil. Auch die ande-
ren Einsätze sind – ich drücke mich vorsichtig aus – nicht
nachhaltig erfolgreich. Deshalb schließt sich an dieser
Stelle der Kreis. Die Ausrichtung auf diesen globalen Mi-
litärinterventionismus hat einen Preis. Sie verschlingt viel
Geld. Mit anderen Worten: Vom Ausgangspunkt Ihrer
Reform, zu sparen und zur Haushaltskonsolidierung bei-
zutragen, redet keiner mehr. Wir jedoch sind nach wie vor
der Meinung, man sollte an der richtigen Stelle sparen.
Das ist immer gut.


(Beifall bei der LINKEN)


Ihre Hauptsorge ist: Wie kriegen wir das nötige Per-
sonal für die künftige Bundeswehr? Unsere Hauptsorge
ist: Was machen Sie mit den Menschen? Wir reden viel
über Attraktivitätssteigerung. Es ist nicht alles falsch,

was Sie auf den Weg bringen. Aber Attraktivität und
Auftrag gehören zusammen. Das sagen Ihnen auch die
Studien des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bun-
deswehr. Soldatinnen und Soldaten müssen von der
Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit überzeugt sein. Dort hapert es
vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Afghanistan
oder anderswo. Auch das zeigen die Studien.


(Elke Hoff [FDP]: Dann stimmt doch für einen Einsatz!)


Die Zweifel wachsen. Hier müsste die Reform ansetzen –
also zurück zum Verteidigungsauftrag, Beendigung der
Auslandseinsätze. Das wäre zukunftsweisend.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717528800

Das Wort hat nun Agnes Brugger für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717528900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Minister, nachdem Ihr Vorgänger im Amt den Reform-
prozess mit einer überaus hektischen Ankündigungspoli-
tik von Anfang an ins Trudeln gebracht hat, weckte Ihre
strukturierte Herangehensweise zunächst Hoffnung.


(Beifall der Abg. Elke Hoff [FDP] – Markus Grübel [CDU/CSU]: Das Wort „zunächst“ können wir streichen!)


Eine Hoffnung muss jedoch auch erfüllt werden, und
dazu komme ich jetzt.

Sie konnten – und wollten vielleicht auch – nicht aus-
bügeln, was von Beginn an falsch gemacht wurde. Die-
ser Reform fehlt nämlich die grundsätzliche Basis, die
breite gesellschaftliche Diskussion über die zukünftigen
Aufgaben der Bundeswehr und über die Grenzen des
Militärischen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dennoch gab und gibt die Regierung die Parole aus,
dass diese Reform der große Wurf wird. Das haben Sie,
Herr Minister, nicht nur heute, sondern auch im vergan-
genen Jahr anlässlich der Vorstellung der Eckpunkte der
Neuausrichtung sehr deutlich gemacht. Ihre Ankündi-
gungen vor einem Jahr und auch in Ihrer heutigen Rede
klingen dabei ein bisschen wie bei der Werbung für das
Überraschungsei: Gleich drei Wünsche auf einmal wol-
len Sie erfüllen. Sie wollten Verbesserungen für die brin-
gen, die kommen sollen, für die, die gehen müssen, und
die, die bleiben wollen und sollen. Sozialverträglicher
Personalabbau und Maßnahmen zur Attraktivitätssteige-
rung sollten ineinander greifen und sich zu einem runden
Ganzen fügen.

Was Sie uns bis heute präsentieren, ist aber keine
runde Sache. Stattdessen bieten Sie vor allem den rang-
niederen Soldatinnen und Soldaten und den Zivilange-
stellten der Bundeswehr einen Sack voll bitterer Pillen.
Zuckerstückchen gibt es in diesem Gesetz in erster Linie
für Ihre Spitzenkräfte.





Agnes Brugger


(A) (C)



(D)(B)


Noch vor einem Jahr war die Rede von zu vielen Stä-
ben und zu vielen Generalssternen. In der Berichterstat-
tung wurde daraus die Formel „Zu viele Häuptlinge und
zu wenig Indianer“. Hier Abhilfe zu schaffen, war Ihnen
ein dringendes Anliegen, Herr de Maizière. Und doch
liegt ein Fokus dieses Gesetzentwurfes auf der Schaf-
fung diverser neuer hochdotierter Spitzenpositionen für
militärische und zivile Verwaltungskräfte. Das ist nicht
verhältnismäßig. Wir fordern Sie dringend auf, dies noch
einmal zu überdenken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundeswehr muss und sollte kleiner werden. Das
ist unumgänglich. Diese Verkleinerung wollten Sie so
schonend, so sozialverträglich wie möglich gestalten.


(Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/ CSU]: Das passiert auch!)


Dieses Ziel kritisieren wir ganz und gar nicht. Aber un-
sere Zweifel, ob Sie mit den hier vorgeschlagenen In-
strumenten dieses Ziel sozialverträglich erreichen, sind
groß. Für sehr gut ausgebildete Soldatinnen und Solda-
ten, für Experten und Spezialisten, erleichtern Sie den
Wechsel zu anderen Arbeitgebern. Aber diese wollen Sie
in der Regel gar nicht gehen lassen. Ihr Angebot für den
vorzeitigen Ruhestand wiederum kann man kaum als at-
traktiv bezeichnen.

Sträflich vernachlässigt haben Sie entgegen Ihrer Be-
hauptung in Ihrer Rede in diesem Gesetz diejenigen, die
bleiben wollen und sollen. Sie behaupten, dass Sie we-
sentliche Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität
bereits vor diesem Gesetz auf den Weg gebracht haben.
Das sehe ich anders. Ein ganzheitliches Konzept zur Stei-
gerung der Attraktivität haben Sie noch nicht auf den
Weg gebracht. Vor allem scheinen Sie zu glauben, dass
man mit Geld alle Mängel heilen kann. Aber selbst wenn
die Tätigkeit bei der Bundeswehr noch so gut bezahlt
wäre, würde das die Unzufriedenheit zum Beispiel über
überbordende Hierarchien, die schlechte Vereinbarkeit
von Familie und Dienst oder den bürokratischen Dschun-
gel nicht abstellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie wirklich attraktive Rahmenbedingungen bei
der Bundeswehr wollen, müssen Sie sich genau an diese
Mängel heranwagen, und das besser gestern als heute.

Sie wollten den großen Wurf erreichen, auch in Sa-
chen Attraktivität. Dieser Gesetzentwurf ist aber nach
dem monatelangen Hin und Her zwischen den Ressorts
schließlich nur ein halbherziger Kompromiss geworden.
Alle wesentlichen Artikel in diesem Entwurf stellen Sie
zudem von vornherein zur Disposition. Auf Verlässlich-
keit können die Bundeswehrangehörigen so bis 2014
warten.

So bleibt dieser Vorschlag insgesamt leider weit hin-
ter den großen Worten des vergangenen Jahres zurück.
Um es noch einmal klarzustellen: Grundsätzlich würden
wir Sie gern bei dem Anliegen unterstützen, die Bundes-
wehr kleiner und zu einem besseren Arbeitgeber zu
machen. Dafür muss aber in den kommenden Beratun-
gen an etlichen Stellen nachgebessert werden. Wir

werden den weiteren Prozess kritisch und mit eigenen
Vorschlägen begleiten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717529000

Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile

ich dem Kollegen Henning Otte für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Henning Otte (CDU):
Rede ID: ID1717529100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Bundeswehr – das haben wir gemeinsam
festgestellt – befindet sich in der wohl größten Struktur-
reform ihrer Geschichte. Ziel ist es, Strukturen zu errei-
chen, die unsere Streitkräfte in die Lage versetzen, inter-
nationale Einsätze im Rahmen einer Mandatierung
besser bewältigen zu können.

Dieser Umbruch ist sicherheitspolitisch begründet,
fraktionsübergreifend gewollt und notwendig. Diese
Reform zielt darauf ab, mit effektiven Strukturen eine
verbesserte Einsatzausrichtung zu gewährleisten. Lieber
Paul Schäfer – weiter so, aber nur effektiv. Genau so ist
es. Die Bundeswehr ist eine Erfolgsgeschichte. Wir le-
ben in einem friedlichen, freiheitlichen Europa, in dem
jeder seine Meinung sagen darf; ich betone: jeder, und
das ist gut.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Deshalb wollen Sie überall Kriege!)


Nach den elementaren Entscheidungen zu Auftrag
und Umfang der Streitkräfte sowie zur Stationierung
werden nun weitere Bausteine dieser großen Reform
umgesetzt. Bis zum Sommer soll die sogenannte Fein-
ausplanung erfolgen, sie soll also zügig erfolgen. Ich bin
dem Minister sehr dankbar, dass er dieses Tempo vor-
legt, um möglichst schnell eine Perspektive zu entwi-
ckeln. Es geht darum, die Strukturen an den Standorten
ebenso wie die persönlichen Laufbahnwege der einzel-
nen Soldatinnen und Soldaten und zivilen Mitarbeiter
auszuplanen.

Eine solch tiefgreifende Strukturreform bringt natur-
gemäß viele Veränderungen mit sich. Es ist verständlich,
dass es in Zeiten des Umbruchs gelegentlich Unruhe
gibt, da sich viele Angehörige und Familien Gedanken
über ihre Zukunftsplanung machen. Deswegen ist es
umso wichtiger, dass wir jetzt möglichst mit einer brei-
ten Mehrheit dieses Reformbegleitprogramm parallel zur
Feinausplanung umsetzen, um klare Perspektiven zu er-
möglichen. Mit dem Bundeswehrreform-Begleitgesetz
schaffen wir eine notwendige gesetzliche Regelung, um
dem Dienstherrn bei der Umsetzung der Bundeswehr-
strukturreform erweiterte Möglichkeiten zur Personal-
anpassung und Attraktivitätssteigerung zu eröffnen.

Mehrere Instrumente der Personalanpassung sind von
Minister Dr. de Maizière schon dargestellt worden. So
gibt es die Möglichkeit zu Beurlaubungen und anderwei-





Henning Otte


(A) (C)



(D)(B)


tigen Verwendungen in anderen Behörden. Das ist eine
gute Maßnahme, weil dadurch viele Fachkräfte gehalten
werden, die weiterhin in Behörden ihren Dienst tun kön-
nen. Die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand kann
gewählt werden, wenn es notwendig oder gewünscht ist.
Weiterhin gibt es die Möglichkeit für Ausgleichszahlun-
gen und Verpflichtungsprämien oder Erweiterungen der
Berufsförderungsansprüche.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Katalog ent-
hält weitreichende Handlungsfelder zur Gestaltung der
Personalstrukturen. Diese Gestaltungsmöglichkeiten sind
nicht klein, lieber Paul Schäfer, vielmehr sind sie sehr de-
tailliert. Dieser Gesetzentwurf ist das Mittel zur Umset-
zung der Strukturreform. Daher müssen wir im parlamen-
tarischen Verfahren jetzt genau prüfen, wie zielführend
die vorgeschlagenen Maßnahmen wirken. Die am 7. Mai
stattfindende Anhörung gibt uns eine gute Gelegenheit
zur Erörterung, die wir nutzen sollten, um zu einem brei-
ten parlamentarischen Konsens zu kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieses Gesetz muss so attraktiv ausgestaltet sein, dass
Soldaten und zivile Mitarbeiter bereit sind, eine verläss-
liche Berufsplanung zugunsten einer neuen Perspektive
bei Bedarf aufzugeben. Dieses Gesetz muss auch dazu
ermutigen, diesen Schritt zu wagen. Das ist häufig nur
dann möglich, wenn ein Weg finanziell abgesichert ist
und finanzielle Verbindlichkeiten – mag es die Ausbil-
dung der Kinder oder die Abzahlung von Krediten sein –
weiterhin beherrschbar bleiben. Nach erster Prüfung des
Gesetzentwurfs gibt es gute Möglichkeiten, um diesen
Weg zu gehen. Aber es hat sich in der Debatte gezeigt,
dass wir weitere Punkte diskutieren sollten. Erster
Punkt: Der Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen. Herr
Minister de Maizière hat ihn aufgegriffen; Frau Hoff hat
ihn dargestellt. Das ist ein wirklich wichtiger Punkt, der
vielleicht in ganz unbürokratischer Weise angegangen
werden könnte und eine gute Maßnahme sein könnte.
Zweiter Punkt: die Erhöhung der Einmalzahlung. Dritter
Punkt: die Überprüfung der Altersbänder.

Meine Damen und Herren, die Arbeit in den Streit-
kräften kann – anders als Sie, Herr Körper, es dargestellt
haben – nicht mit anderen Tätigkeiten im Staatsdienst
gleichgesetzt werden. Die besonderen Härten des Solda-
tenberufes, wie häufige Versetzungen und vor allem
Gefahren für Leib und Leben, rechtfertigen besondere
Maßnahmen und eine besondere Fürsorge. Das Bundes-
wehrreform-Begleitgesetz muss daher nicht nur auf die-
jenigen angelegt sein, die die Bundeswehr verlassen,
sondern auch auf diejenigen, die wir im Dienst halten
wollen, und vor allem auf diejenigen, die wir gewinnen
wollen.

Dieser Gesetzentwurf ist ein Meilenstein auf dem
Weg zur zukünftigen Zielstruktur der neuen Bundes-
wehr. Mit diesem Gesetz und den vorgeschlagenen
Überprüfungen kann es uns gelingen, eine schnelle, ein-
satzorientierte und sozialverträgliche Personalanpassung
zu schaffen, damit die Bundeswehr auch zukünftig ein
attraktiver Arbeitgeber ist. Dafür gehen wir jetzt in die
parlamentarische Beratung. Es wäre gut, wenn wir am
Ende eine breite parlamentarische Mehrheit dafür hätten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717529200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9340 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatz-
punkt 5 auf:

14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Feste Fehmarnbeltquerung auf den Prüfstand –
Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit dem
Königreich Dänemark verhandeln

– Drucksache 17/8912 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Chancen und Risiken ergebnisoffen bewerten –
Verhandlungen mit dem Königreich Däne-
mark über den Ausstieg aus dem Staats-
vertrag über den Bau einer festen Fehmarn-
beltquerung aufnehmen

– Drucksache 17/9407 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Herbert
Behrens für die Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717529300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Urlauber an der Ostseeküste Schleswig-Holsteins kön-
nen sich auf ein neues Angebot einstellen: Statt Meeres-
rauschen hören sie ab 2022 donnernde Güterzüge, die an
ihnen vorbeifahren. 300 000 Übernachtungen im Lärm-
korridor: So heißt dann das neue Angebot. Autofahrer
nehmen künftig nicht mehr die Fähre, sondern zahlen
70 Euro Maut und fahren durch den neu gebauten Tun-





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)


nel nach Dänemark. Dieses Zukunftsangebot kostet die
Steuerzahler rund 10 Milliarden Euro.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Welche Steuerzahler?)


Jetzt können wir uns noch entscheiden, ob wir das
wollen. Ich möchte das nicht; denn es gibt heute gute
Fährverbindungen für Personenzüge und Autos zwi-
schen Deutschland und Dänemark. Die Güterzüge fah-
ren seit 1997 über den Schienenweg entlang der Jütland-
Route; er liegt weit weg von den Tourismusgebieten an
der Ostseeküste Schleswig-Holsteins.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke unterstützt also die Forderung der Gegner ei-
ner festen Fehmarnbelt-Querung. Wir brauchen dieses
Verkehrsprojekt, das teuerste Europas, nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Sehr geehrte Damen und Herren der Regierungsfrak-
tionen, mit unserem Antrag bauen wir Ihnen im wahrs-
ten Sinne des Wortes eine Brücke. Das Dialogforum
Feste Fehmarnbeltquerung muss so gestaltet werden,
dass es wirklich alle Fragen bearbeiten kann.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Waren Sie schon mal da, Herr Behrens?)


Dazu braucht es mehr Geld. 100 000 Euro reichen nicht
aus, wenn 70 000 Euro davon allein für den Personalauf-
wand draufgehen. Bürgerinnen und Bürger fordern echte
Beteiligung, und das ist ihr demokratisches Recht.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn sich bei der Prüfung herausstellen sollte, dass
die Nachteile des Projekts Belt-Querung größer sind als
die Vorteile, dann muss mit der dänischen Regierung
über den Ausstieg verhandelt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Genau das wurde im Staatsvertrag zwischen Deutsch-
land und Dänemark beschlossen. Dort heißt es in Art. 5
Abs. 4:

Sollten die Voraussetzungen für das Projekt oder
für Teile des Projekts sich deutlich anders entwi-
ckeln als angenommen und anders, als es zum Zeit-
punkt des Abschlusses des Vertrages bekannt ist,
werden die Vertragsstaaten die Lage aufs Neue er-
örtern. Dies gilt unter anderem für wesentliche
Kostensteigerungen im Zusammenhang mit den
Hinterlandanbindungen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


In Art. 22 Abs. 2 heißt es weiter:

Die finanziellen Verpflichtungen der Bundesrepu-
blik Deutschland betreffen in jedem Fall nur die
deutschen Hinterlandanbindungen.

Dass sich die Voraussetzungen deutlich verändert haben,
das können wir doch schon heute feststellen. Wir wissen
das auch, wenn wir ehrlich gegenüber uns selbst sind.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ach was!)


Ursprünglich war eine Schrägkabelbrücke geplant,
heute soll es ein Absenktunnel werden.


(Zuruf von der FDP: Na und?)


Die Verkehrsprognosen für den Schienengüterverkehr
werden halbiert. Was kostet der Spaß? 1996 betrug die
Kostenschätzung für eine Brücke rund 2,9 Milliarden
Euro.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das zahlen die Dänen!)


2011 liegen die Kosten bei rund 5,5 Milliarden Euro für
einen Tunnel.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wer zahlt das?)


Wenn das keine wesentlichen Kostensteigerungen sind.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wer zahlt denn das?)


– Die mautpflichtigen Autofahrer.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ach so!)


– Ich spreche über die wesentlichen Kostensteigerungen.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ja!)


– Ich rede über die Bedingungen, wann die Vertragspart-
ner wieder in Gespräche eintreten. Beide Seiten haben
wesentliche Kostensteigerungen zu verzeichnen. Das ist
ein Grund, in die Verhandlungen einzusteigen, um die-
sem Projekt ein Ende zu bereiten.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn wir die Situation auf der deutschen Seite be-
trachten, dann stellen wir fest: Das setzt sich nahtlos fort.
Auch die Kalkulation für die Anbindung auf der deut-
schen Seite ist nicht mehr zu halten. Der Bundesver-
kehrsminister will zwar immer noch für 817 Millionen
Euro bauen, aber der Bundesrechnungshof rechnet in-
zwischen mit 1,7 Milliarden Euro, 231 Millionen Euro
kommen noch obendrauf, wenn Umgehungstrassen mit-
einbezogen werden müssen. Die Hinterlandanbindung
soll dann nicht 2018 fertig werden, sondern erst 2022;
das sagt Bahnchef Grube. Wir wissen doch, dass bei
Großprojekten die Kosten nicht sinken, wenn der Bau
später fertig wird, oder?

Jetzt haben wir noch die Chance, den Kurs zu ändern.
Wir wollen den Staatsvertrag ernst nehmen und mit der
dänischen Regierung verhandeln.


(Jan Mücke [FDP]: Den Vertrag brechen! Das ist ein völkerrechtlicher Vertrag!)


Das wollen die Bürgerinnen und Bürger auch und for-
dern es zu Recht ein. Wir sagen: Das Projekt feste Feh-
marnbelt-Querung ist von gestern. Wir wollen nicht,
dass Milliarden in die Ostsee gekippt werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717529400

Das Wort hat Gero Storjohann für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gero Storjohann (CDU):
Rede ID: ID1717529500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der festen
Fehmarnbelt-Querung schaffen wir eine Direktverbin-
dung zwischen Skandinavien und Kontinentaleuropa.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gibt es doch schon! Über Jütland!)


Die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen
Chancen dieses Verkehrsprojektes sind immens.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für wen denn?)


Aber leider wird diese Tatsache nicht von allen Fraktio-
nen hier im Bundestag so gesehen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es! – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wohl wahr!)


Deswegen werden hier laufend Anträge vorgelegt. Das
ist legitim, keine Frage, das kann man immer wieder
wiederholen, aber es ist nicht besonders originell, was
hier passiert.

Mit dem geplanten 17,6 Kilometer langen Absenk-
tunnel durch den Fehmarnbelt wächst Nordeuropa zu-
sammen. Eines möchte ich sagen, Herr Behrens: Es ist
ein starker Wunsch der Dänen und der Schweden, dass
dieses Projekt kommt. Wir als Deutsche gehen ihnen ei-
nen Schritt entgegen und ermöglichen ihnen, innerhalb
von Europa dichter an uns heranzurücken. Das sollte
man nicht kleinreden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir als CDU/CSU-Fraktion bestätigen ihnen heute
gerne wieder aufs Neue: Wir sind uneingeschränkt Part-
ner für die feste Fehmarnbelt-Querung. Wir wollen den
deutsch-skandinavischen Ballungsraum für Wirtschaft
und Wissenschaft in der Fehmarnbelt-Region. Wir wol-
len die hierdurch entstehenden Arbeitsplätze für die
Menschen in Schleswig-Holstein und darüber hinaus
generieren, während der Bauphase und auch nach In-
betriebnahme des Tunnels.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Während der Bauphase, aber nachher gibt es sie nicht mehr!)


Deshalb haben wir in der Großen Koalition, Herr
Hacker, den Staatsvertrag zwischen Deutschland und
Dänemark auf den Weg gebracht, unterschrieben vom
Verkehrsminister Tiefensee, SPD,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird sich auf Sozialdemokraten berufen! Das passt ins Bild!)


und auch angeschoben von vielen schleswig-holsteini-
schen Landespolitikern.

Ich nenne hier auch den Ministerpräsidenten Peter
Harry Carstensen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Anschließend haben Bundestag und Bundesrat dem
Gesetz zum Staatsvertrag im Juni und im Juli 2009 zuge-
stimmt. Es gab also eine breite politische Mehrheit in
Deutschland. Ich sage in Klammern: In Dänemark ist die
politische Mehrheit noch größer. Deshalb sehe ich nicht
den Ansatz einer Chance, zu Verhandlungen zu kom-
men, wenn ein Partner überhaupt nicht will, sondern die-
ses Projekt als Chance sieht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Kollegen haben es Ihnen schon entgegenge-
schleudert: Diese Querung wird in erster Linie durch
Mauteinnahmen finanziert.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Finanzen werden das schon regeln in Dänemark!)


Das heißt, das Risiko liegt beim dänischen Staat und
beim Konsortium. Die Finanzierung wird von Dänemark
sichergestellt.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht die Hinterlandanbindung, Herr Kollege!)


Wir sind der festen Überzeugung, dass das funktioniert.
Sie haben deutlich gemacht, dass Sie das nicht sind. Ak-
zeptieren Sie, dass die politischen Mehrheiten hier nun
einmal anders sind.

Deutschland ist nur verpflichtet, die Hinterlandanbin-
dung auf deutscher Seite sicherzustellen. Dafür verzich-
ten wir im Gegenzug – das ist schade – auf die Mautein-
nahmen. Es entsteht aber auch Infrastruktur in Schles-
wig-Holstein. Das heißt, es werden Schienenwege ge-
baut. Die Grünen, Herr von Notz, haben gesagt: Wir
möchten gerne die Strecke Neumünster–Bad Oldesloe
zweigleisig ausbauen. Das ist wunderbar. Da soll der ge-
samte Jütlandverkehr durchgehen. Das heißt, die Vor-
schläge, die Sie hier vorbringen, haben auch Belastun-
gen in anderen Regionen zur Folge. Tun Sie nicht so, als
wenn alles schön wäre, wenn wir auf das Projekt Feh-
marnbelt verzichten würden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Überfahrt mit dem Zug wird nur noch sieben Mi-
nuten dauern. Es wird eine leistungsfähige Nord-Süd-
Verkehrsachse entstehen, auf der Waren schneller als je-
mals zuvor zwischen Nord- und Zentraleuropa transpor-
tiert werden können. Das wollen die Schweden und die
Dänen. Aus diesem Grunde hat auch die Europäische
Kommission die Fehmarnbelt-Querung als ein vorrangi-
ges Projekt in die Transeuropäischen Netze mit aufge-
nommen. Auch die Menschen vor Ort werden davon
profitieren. Es werden zusätzliche Arbeitsplätze entste-
hen, und es wird eine vernetzte Region Malmö-Kopen-
hagen-Hamburg entstehen. In diesem Gebiet wird sich





Gero Storjohann


(A) (C)



(D)(B)


über die Jahrzehnte hinweg etwas Schönes entwickeln.
Dazu sollte man auch ein bisschen Hoffnung und Fanta-
sie haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist eine fantastische Vorstellung, meine Damen
und Herren, dass ich zukünftig ganz schnell von Ham-
burg aus in Kopenhagen sein kann. Aus Schleswig-Hol-
stein komme ich schneller nach Kopenhagen als nach
Hannover. Das ist schade für Hannover. Ich meine aber,
dass wir die Dimensionen betrachten müssen, die wir
Anfang 2021 haben werden. Wir werden diese Strecke
dann in drei Stunden schaffen.

Wir haben auch mit den Grünen in Dänemark gespro-
chen. Das alles wissen Sie. Die Grünen in Dänemark sa-
gen: Natürlich gibt es eine CO2-Ersparnis, wenn wir die-
ses Projekt verwirklichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, mit dem Baubeginn ist im
Sommer 2015 zu rechnen. Darauf freuen wir uns schon.
Wir hätten gerne ein bisschen eher begonnen. Auf der
anderen Seite haben wir dadurch die nötige Luft, für die
Fertigstellung unserer Hinterlandanbindung im Land
Schleswig-Holstein zu sorgen. Wir wissen: Das Geld ist
knapp. Aber wir haben die feste Zuversicht, dass uns das
gelingen wird. Linken und Grünen wird es nicht gelin-
gen, die feste Fehmarnbelt-Querung zu verhindern. Es
gibt viele überzeugende Argumente für die Querung.
Diese guten Argumente werden wir Ihnen im Ausschuss
gerne noch einmal vortragen.

2021 ist Eröffnung. Man kann jetzt schon anfangen,
sich auf diese deutsch-dänische Einweihungsveranstal-
tung zu freuen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717529600

Das Wort hat nun Hans-Joachim Hacker für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1717529700

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Wir führen zu so später Stunde eine Dis-
kussion, die wir eigentlich vor einem halben Jahr gar
nicht mehr erwartet hätten; denn wir meinten, wir hätten
mit der Entscheidung am 18. Juni 2009 alles Maßgebli-
che entschieden. Scheinbar gibt es aber noch Diskussi-
onsbedarf.

Meine Damen und Herren, bei den Juristen gibt es ei-
nen alten Grundsatz, der lautet: Ein Blick ins Gesetz er-
leichtert die Rechtsfindung. In abgewandelter Form
könnte man diesen Grundsatz auch bei diesen beiden
Anträgen anwenden. Die zentrale Forderung in beiden
Anträgen betrifft die Nachverhandlungen zum Staatsver-
trag zwischen dem Königreich Dänemark und der Bun-
desrepublik Deutschland über eine feste Fehmarnbelt-
Querung, nicht über eine Brücke und nicht über einen
Tunnel, sondern über ein Querungsbauwerk. Darüber hat

der Deutsche Bundestag, wie gesagt, am 18. Juni 2009
eine Entscheidung getroffen. Er hat diesen völkerrechtli-
chen Vertrag ratifiziert. In beiden Anträgen wird gefor-
dert, über einen Ausstieg aus diesem Staatsvertrag mit
dem Königreich Dänemark zu verhandeln. Dazu gehö-
ren aber zwei Partner und nicht nur einer. Der zweite
Partner sieht aber gegenwärtig und, wie ich vermute,
auch künftig keinen Anlass. Deswegen sind die beiden
Anträge leider


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Obsolet!)


für die Luft geschrieben.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Haben wir sie schon angesprochen?)


Herr Behrens, seit Mitte der 90er-Jahre hat jede deut-
sche Bundesregierung mit Dänemark über dieses Ver-
tragswerk verhandelt. Wir haben im deutschen Parla-
ment, im Deutschen Bundestag, insbesondere in den
Jahren 2008 und 2009 eine sehr intensive Diskussion da-
rüber geführt. Sie verlief nicht konfliktfrei, auch in der
SPD-Bundestagsfraktion nicht. Wir haben schon damals
über all die Fragen diskutiert, die Sie heute wieder auf-
werfen.

Wie sieht die Sach- und Rechtslage nun tatsächlich
aus? Was steht im Staatsvertrag zu Änderungen der ge-
schlossenen Vereinbarung? Herr Behrens, Sie haben
Art. 22 Abs. 2 des Vertrages zitiert. In Art. 5 Abs. 4 steht
eine Regelung zu den Hinterlandanbindungen. Der Text
aus Art. 5 Abs. 4 findet sich im Übrigen in Art. 22 Abs. 2
des Vertrages wieder. Der zentrale Kern dieser Vereinba-
rung lautet:

Die Vertragsstaaten unternehmen alles in ihrer
Macht Stehende, um das Projekt gemäß den Annah-
men zu verwirklichen.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das sind Annahmen! Die Tatsachen sind andere!)


Sollten die Voraussetzungen für das Projekt oder
für Teile des Projekts sich deutlich anders entwi-
ckeln als angenommen und anders, als es zum Zeit-
punkt des Abschlusses des Vertrags bekannt ist,
werden die Vertragsstaaten die Lage aufs Neue er-
örtern.

Dafür gibt es heute aus unserer Sicht keinen Bedarf.

Sie haben gesagt, dass es sich etwas verzögert hat und
Kostensteigerungen eingetreten sind.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist teurer geworden!)


Ja, selbstverständlich. Herr Behrens, jetzt einmal allen
Ernstes: Haben Sie schon einmal ein Großprojekt in
Deutschland, in Europa, in der Welt gesehen, bei dem es
bei den kalkulierten Ursprungskosten geblieben ist?
Schauen Sie doch einmal zum Berliner Hauptbahnhof.
Der Berliner Hauptbahnhof ist noch nicht ganz fertig. Si-
cherlich müssen wir darüber diskutieren, ob man bei
Großprojekten einen Kostenindikator einrechnen sollte.
Das war bisher aber nie üblich.





Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat uns dahin geführt, wo wir heute stehen!)


Wir sind immer von den Ursprungskosten ausgegangen.
Deswegen sind die Argumente, die Sie hier vortragen,
nicht überzeugend.

Ich sage es noch einmal: Die Grundlagen ergeben sich
aus Art. 22 Abs. 1 und 2 des Vertrages. Wir haben hierzu
mit dem Partner Dänemark verbindliche Absprachen ge-
troffen. Wir können die Frage aufwerfen, ob die drei Va-
rianten Änderung, Ausstieg oder Ergänzung verfolgt
werden können. Zum Teil wird der Eindruck erweckt
– über diese Frage habe ich in dieser Woche mit Men-
schen in Schleswig-Holstein diskutiert –, dass Deutsch-
land den Ausstieg erklären könnte. Das geht nicht.
Streuen Sie den Leuten keinen Sand in die Augen. Das
geht nicht. Es sind die Konditionen zu erfüllen, die im
Vertrag stehen – ohne Wenn und Aber.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Sehr ehrlich, Hans-Joachim Hacker! Sehr ehrlich!)


Herr Behrens, ich muss Ihnen vorhalten, dass Sie im
Grunde genommen auf der Grundlage eines Meinungs-
bildes diskutieren, das wir vor ungefähr zehn Jahren hat-
ten. Vor zehn Jahren waren diese Fragestellungen mehr
als berechtigt. 2008 und 2009 sind wir diese Fragen im
Detail durchgegangen, und zwar – das habe ich vorhin
schon gesagt – in einem streitigen Prozess. Mir kommt
es so vor, als ob Ihre Fraktion nicht mit Großprojekten
zurecht käme; denn Sie sind ja auch gegen den Ausbau
der A 14 zwischen Schwerin und Magdeburg,


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! Da ist nämlich kein Bedarf!)


obwohl dort ein enormer Bedarf besteht. Das wäre gut
für die Häfen in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-
Vorpommern, für die Entwicklung der drei betroffenen
Bundesländer. Das muss man hier einmal ansprechen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Was richtig ist, muss hier auch einmal gesagt werden
können.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Was kennzeichnet die gegenwärtige Phase? Natürlich
haben wir Verzögerungen. Die Verzögerungen sind kürz-
lich in einer Stellungnahme der Firma, die mit den Pla-
nungen beauftragt wurde, dokumentiert worden. Jeder
kann das ausführlich in der Presseerklärung vom 18. Ap-
ril 2012 nachlesen. Darin ist das dokumentiert. Dort sind
im Übrigen auch die weiteren Schritte im Planungsver-
fahren dargestellt. Ich will das hier nicht vorlesen; meine
Redezeit gibt das auch nicht her. Ich will nur darauf ver-
weisen, dass die Ursachen für die Verzögerung im We-
sentlichen darauf zurückzuführen sind, dass deutsches
und dänisches Planungsrecht nicht kompatibel, jeden-
falls nicht identisch sind, und wir – wie bei anderen

Großvorhaben auch – EU-Recht zu beachten haben.
Dies hat viele der Verzögerungen verursacht.

Im Zusammenhang mit den Verzögerungen müssen
auch die kontroversen Diskussionen beachtet werden,
die wir im Jahr 2000 geführt haben. Ich erinnere daran,
dass wir über die Verkehrssicherheit und über die Aus-
wirkungen auf Flora und Fauna – Stichwort Schweins-
wale – diskutiert haben. Wir haben, auch im Hinblick
auf die Windeinflüsse, darüber diskutiert, welche Vari-
ante günstiger ist, ein Tunnel oder eine Brücke. Wir ha-
ben nicht zuletzt darüber diskutiert, ob das Verkehrsauf-
kommen den Bau des Querungsbauwerks rechtfertigt.
All diese Fragen bis hin zu der Problematik des Wasser-
austauschs zwischen Nord- und Ostsee konnten wir da-
mals nicht beantworten. Wir waren uns einig, diese Fra-
gen in einem Untersuchungsprozess, der zwei, drei Jahre
dauern sollte, zu klären. Die damaligen Fragen werden
heute untersucht, und die Planungsgesellschaft wird im
Planfeststellungsverfahren und im Umweltverträglich-
keitsverfahren weitere Fragen zu beantworten haben.

Ich komme noch auf zwei Punkte zu sprechen, die mir
sehr am Herzen liegen. Der erste Punkt, der mir wichtig
ist, betrifft die Frage, wie der Dialog vor Ort weiterge-
führt wird. Vor dem Hintergrund der Diskussion über
Stuttgart 21 und andere Großvorhaben haben wir, denke
ich, einen neuen Erkenntnisstand und eine neue Bewer-
tung, dass Großvorhaben heute anders begleitet werden
müssen als vor fünf oder zehn Jahren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das ist im Übrigen auch die Auffassung der SPD-Bun-
destagsfraktion. Wir haben dazu Vorschläge unterbreitet,
und wir werden über diese hier im Parlament in Zukunft
weiter diskutieren. Eine Debatte dazu haben wir schon
geführt.

Die Bundesregierung ist aufgefordert, den Dialog, der
dort begonnen hat und meines Erachtens die neue Quali-
tät nach Stuttgart 21 nicht widerspiegelt, anders zu ge-
stalten. Herr Mücke, das müssen Sie ernsthaft prüfen.
Ich bin der Meinung, dass es nötig ist, dass Sie diese
Diskussion mit den Bürgerinnen und Bürgern aus
Schleswig-Holstein, insbesondere aus Ostholstein und
von der Insel Fehmarn, anders führen als zu Beginn des
Projekts. Dort besteht Unzufriedenheit. Deswegen lautet
mein Appell an die Bundesregierung: Wenn Sie den Be-
schluss des Deutschen Bundestages zum Bau der festen
Fehmarnbelt-Querung ernstnehmen, der hier mehrheit-
lich getroffen worden ist, dann müssen Sie diesen in
Schleswig-Holstein umsetzen.

Ein zweiter Punkt ist mir wichtig. Herr Präsident, ich
hoffe, ich kann diesen noch vortragen. Dieser transpa-
rente Prozess muss auch die Verpflichtungen umfassen,
die wir übernommen und bis zur Inbetriebnahme der
Querung bzw. bis zu sieben Jahren nach Inbetriebnahme
zu erfüllen haben. Diese Problematik wird meines Er-
achtens nicht ausreichend beleuchtet. Herr Staatssekretär
Mücke, Sie sind der hier anwesende Vertreter des Bun-
desverkehrsministeriums.


(Sören Bartol [SPD]: Herr Ferlemann ist auch noch da!)






Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)


– Sie und Herr Ferlemann. – Sie müssen diesen Prozess
inhaltlich gestalten. Sie müssen, wie ich finde, mit den
Kommunen und den Bürgern vor Ort nochmals über den
Bedarf, der sich aus Transporten ergibt, diskutieren.

Das ändert nichts daran, dass der Staatsvertrag rechts-
gültig ist, dass er beständig ist, dass wir gegenwärtig
keine Grundlage sehen, mit Dänemark nachzuverhan-
deln oder auf eine Aufhebung des Staatsvertrages zu
drängen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717529800

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1717529900

Ich danke Ihnen, Herr Präsident, für das Wohlwollen

und wünsche Ihnen allen, meine Damen und Herren, ei-
nen schönen Abend.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717530000

Das Wort hat nun Kollegin Christel Happach-Kasan

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1717530100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

danke meinem Herrn Vorredner dafür, dass er die juristi-
schen Sachverhalte noch einmal klargestellt und deutlich
gemacht hat, dass es heute nicht um das Ob geht. Die
feste Fehmarnbelt-Querung wird gebaut. Das ist gut für
die gesamte Region; das ist für Schleswig-Holstein und
auch für Dänemark gut. Wir wollen sie.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Voraussetzung für Wohlstand und wirtschaftliches
Wachstum ist eine gute Infrastruktur. Zu einer guten In-
frastruktur gehört zum einen die Verkehrsinfrastruktur
– da sind wir uns einig; darüber sprechen wir heute –,
zum anderen gehören dazu aber auch die Energieinfra-
struktur und die Kommunikationsinfrastruktur. In allen
drei Bereichen haben wir in Schleswig-Holstein noch ei-
niges zu tun. Erst in dieser Legislaturperiode hat Schles-
wig-Holstein wieder positive Wachstumsimpulse erfah-
ren. Die christlich-liberale Regierung mit Peter Harry
Carstensen und Dr. Heiner Garg hat zusammen mit
Wolfgang Kubicki eine ausgesprochen positive Arbeit
geleistet.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese gute Arbeit wollen wir in Schleswig-Holstein in
der nächsten Legislaturperiode fortsetzen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pfeifen im Walde!)


Es ist wohl nicht ganz verwunderlich – auch der Kol-
lege Hacker hat das gesagt –, dass wir heute über dieses
Thema diskutieren. Es ist ja Wahlkampf. Bald finden
Wahlen statt,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da wären wir jetzt nicht drauf gekommen, dass Wahl ist!)


und deshalb müssen die Grünen und die Linken noch
einmal deutlich machen, dass sie gegen Infrastrukturpro-
jekte sind. Koste es, was es wolle, und schade es dem
Land, so viel es wolle: Auf jeden Fall sind Sie zunächst
einmal dagegen. Das machen Sie heute deutlich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Nein! Wir wollen nur eine vernünftige Verkehrspolitik!)


Ich glaube, die wenigsten hier erinnern sich noch an
das Jahr 1990. 1990 war ein Jahr, in dem Schleswig-Hol-
stein in den Länderfinanzausgleich eingezahlt hat. Könnt
ihr euch das noch vorstellen?


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Damals hat Schleswig-Holstein tatsächlich in den Län-
derfinanzausgleich eingezahlt. Danach gab es ein paar
rot-grüne Regierungsperioden, und es war damit vorbei.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gegenruf des Abg. Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das ist leider gar nicht lustig!)


Das müsst ihr sehen: Im Moment steht Schleswig-Hol-
stein bei einem deutschlandweiten Vergleich an drittletz-
ter Stelle. Deswegen ist es gerade für uns in Schleswig-
Holstein wichtig, dass wir sparen; das haben wir ge-
macht. Natürlich müssen wir aber auch die Einnahme-
seite verbessern. Das bedeutet, dass wir insbesondere in
Verkehrsinfrastruktur investieren müssen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Was soll daran denn sparsam sein?)


Seit Mitte der 90er-Jahre wird in Schleswig-Holstein
über eine feste Fehmarnbelt-Querung diskutiert. Die Re-
gierung Simonis/Steenblock – das ist schon ein bisschen
länger her – hat dieses Vorhaben positiv begleitet.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht richtig, Frau Kollegin!)


Auch Minister Steenblock hat das im Kabinett unterstri-
chen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht korrekt!)


Ich möchte darauf hinweisen: Große Verkehrsprojekte
brauchen eine sorgfältige Planung. Eine sorgfältige Pla-
nung braucht Zeit.


(Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)






Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)


Mein Vorredner hat deutlich gemacht, dass Deutschland
am 3. September 2008 einen Staatsvertrag mit Däne-
mark unterschrieben hat.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717530200

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen von Notz?


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Der ist doch gleich als Redner dran!)



Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1717530300

Aber gerne doch.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das stimmt; ich spreche gleich. Deswegen tut es mir
auch leid, dass ich mich zu Wort melden musste. Ich
danke Ihnen für die Möglichkeit, Sie kurz etwas zu fra-
gen. Ich möchte Sie nämlich um ein Zitat des Kollegen
Steenblock bitten – er ist leider nicht hier und kann sich
nicht verteidigen –, das Ihre Aussage, dass er dieses Irr-
sinnsprojekt unterstützt hat, belegt. Können Sie ein ent-
sprechendes Zitat anführen? Sie können es mir meinet-
wegen auch gerne morgen nachreichen. Da es ein
solches Zitat aber nicht gibt, weise ich Ihre Aussage aufs
Schärfste zurück.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1717530400

Werter Herr Kollege, darüber ist im Bundestag bereits

diskutiert worden. Sie werden mir sicherlich nachsehen,
dass ich die Protokolle der Kabinettssitzungen der Re-
gierung Simonis/Steenblock aus der Wahlperiode 1996
bis 2000 nicht auswendig kenne


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Sie morgen nachreichen!)


und es Ihnen hier auch nicht vorlegen kann.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen wir einen Faktencheck! Morgen!)


Sie brauchen nur die Plenarprotokolle des Deutschen
Bundestages und die Diskussionsbeiträge von Herrn
Rainder Steenblock nachzulesen, um festzustellen, dass
– ja – er in der damaligen Koalitionsregierung zuge-
stimmt hat


(Patrick Döring [FDP]: So ist es!)


und trotzdem hinterher dagegen demonstriert hat, wie es
auch im Falle der A 20 seine Praxis gewesen ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht korrekt, Frau Kollegin!)


– Das ist so.

Jetzt fahre ich mit meiner Rede fort. Die Zeit, die man
zwischen der Verabschiedung eines Vertrages und der
Realisierung eines Projektes braucht, kann man nutzen.

Wir treten dafür ein, sie zum einen zu nutzen, um das
Projekt zu optimieren, und sie zum anderen zu nutzen,
um im Dialogforum mit den Menschen vor Ort darüber
zu sprechen. Ich finde es gut, dass die Landesregierung
ein Dialogforum mit Herrn Dr. Christoph Jessen als Lei-
ter eingerichtet hat. Das Dialogforum ist dafür gedacht,
von den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort Anregungen
zu bekommen, wie man ein solches gutes Projekt noch
weiter verbessern kann.

Es gibt gute Gründe für dieses Projekt. Der wichtigste
Grund ist, dass die Metropolregion Hamburg mit der Re-
gion Kopenhagen/Malmö zusammenwächst


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Was hat Schleswig-Holstein davon? – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das jetzt nicht erreichbar, oder wie?)


und wir damit für unsere Region einen enormen Wirt-
schaftsimpuls setzen werden. An dieser Stelle darf ich an
den Kollegen aus Schleswig-Holstein erinnern. Wir in
Schleswig-Holstein leben von der Kraft Hamburgs.
Wenn wir Hamburg nicht stärken, dann hat Schleswig-
Holstein dadurch immense Nachteile. Nur mit einer at-
traktiven Metropolregion Hamburg kann das Land
Schleswig-Holstein existieren. Deswegen müssen wir al-
les tun, um Hamburg weiter zu stärken.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: In Hamburg haben wir ja einen guten Bürgermeister!)


Im Übrigen darf ich darauf hinweisen, dass Dänemark
mit dem Bau von Brücken zwischen seinen Inseln enorm
gute Erfahrungen gemacht hat. Es ist richtig, dass sich
die Verkehrsleistung erhöht hat. Das Wirtschaftswachs-
tum in Dänemark kann sich aber insgesamt sehen lassen.

Daneben verschafft dieses Projekt der Region eine
enorm hohe und positive Aufmerksamkeit. Es ist span-
nend, und ich verspreche mir auch für die Medizinhaupt-
stadt im Norden, Lübeck, eine Steigerung seiner Attrak-
tivität.

Ich finde es schade, dass wir dieses Thema nicht ge-
meinsam positiv begleiten und dass einige die Gelegen-
heit nutzen wollen, sich von der Fahne zu stehlen. Wir
müssen ganz klar machen: Wir brauchen ein solches
Projekt, um Schleswig-Holstein und die Metropolregion
Hamburg zu stärken.

Lieber Kollege von Notz, ich will das eine einmal
festhalten: Kollege Steenblock hat damals im Bundestag
gesagt, er lehne es ab, weil dort eine Brücke gebaut
werde. Sie wissen: Inzwischen ist es ein abgesenkter
Tunnel. Das heißt, das Argument zieht nicht mehr. Ihr
jetziger Antrag baut auf den Kosten auf. Wir alle mit-
einander wissen: Die Befürworter sehen die Kosten et-
was niedriger, und die Gegner führen immer etwas hö-
here Kosten an.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Bundesrechnungshof!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717530500

Frau Kollegin.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1717530600

Ich darf einfach noch einmal darauf hinweisen, dass

wir beispielsweise eine Menge an Verkehrsprojekten mit
einer enorm positiven Kosten-Nutzen-Bilanz durchfüh-
ren. Ich nenne beispielsweise Geesthacht bei uns. Was
machen die Grünen? Sie sind dagegen. Ganz einfach!
Sie sind immer dagegen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen doch, wie Kosten-NutzenVerhältnisse berechnet werden!)


Von daher kommen wir mit Ihrer Haltung, wie ich
meine, nicht weiter.

Die Bürgerinnen und Bürger haben begriffen, dass sie
diese Projekte brauchen. Sie arbeiten positiv im Dialog-
forum mit. Ich glaube, dass wir für Schleswig-Holstein,
für die Regionen und für die Menschen vor Ort mit die-
sem Projekt eine positive wirtschaftliche Entwicklung
erreichen werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717530700

Frau Kollegin, wollen Sie Ihre Redezeit noch verlän-

gern? Es gibt den Wunsch, eine Zwischenfrage zu stel-
len.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1717530800

Ja, gerne.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717530900

Bitte schön.


(Patrick Döring [FDP]: Die Kollegin durfte nicht reden, darum muss sie fragen!)



Bettina Hagedorn (SPD):
Rede ID: ID1717531000

Frau Happach-Kasan, da Sie gerade eben davon ge-

sprochen haben, dass sich welche vom Acker machen
wollen, und auf die 90er-Jahre eingegangen sind, will
ich Sie darauf ansprechen und einmal schauen, ob wir
uns gemeinsam daran erinnern, dass es bei diesem Pro-
jekt in der Tat eine sehr lange Planungsphase und auch
Dialogphase mit Dänemark gab.

Dieses Projekt in Schleswig-Holstein war bis 2006
– dies hat im Übrigen sowohl in Schleswig-Holstein als
auch in Berlin in allen Koalitionsverträgen gestanden –
als ein PPP-Projekt geplant. Für alle die, die nicht wis-
sen, was das ist: Es sollte eine faire Risiko- und Kosten-
aufteilung zwischen der Wirtschaft und der öffentlichen
Hand geben. So war das Gesamtprojekt – sowohl die
Querung als auch die Hinterlandanbindung – geplant.

Vom Acker gemacht bei diesem Projekt hat sich 2004
die Bahn, die dieses Projekt jetzt nur als Auftragnehmer
für das Verkehrsministerium durchführt, es aber nicht
aus ihrem Budget zu finanzieren hat.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Was wurde denn 2009 beschlossen?)


Hier kann man ja die berechtigte Frage stellen: Warum
hat sich die Bahn hier eigentlich herausgestohlen und
keine Priorität gesetzt?

2006 hat sich dann die Wirtschaft bei diesem Projekt
vom Acker gemacht. Viele Kollegen waren auf der In-
vestorenkonferenz dabei. Ich weiß gar nicht, ob Sie da-
bei waren; ich war dort. Ich kann mich gut daran erin-
nern, dass sich Hochtief, Bilfinger Berger und große
Banken, die eigentlich mit vollem Risiko in die Finan-
zierung einsteigen wollten, komplett daraus zurückgezo-
gen haben, und zwar deshalb, weil sie rechnen konnten.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Frage! – Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Wann kommt die Frage?)


– Ich muss keine Frage stellen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da hat sie recht!)


Ein Blick in die Geschäftsordnung hilft manchmal, Frau
Kollegin.


(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Aber auch nicht fünf Minuten reden!)


Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, zu präzisieren,
wen Sie denn nun eigentlich damit gemeint haben, dass
er sich hier vom Acker macht. Haben Sie vielleicht die
Bahn gemeint oder vielleicht auch die Wirtschaft, die
zwar viele Forderungen stellt, sich aber nicht mit einem
einzigen eigenen Cent an diesem Projekt beteiligt?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1717531100

Liebe Kollegin Hagedorn, ich bedanke mich für Ihren

zeitgeschichtlichen Exkurs in die Anfangsjahre dieses
Jahrtausends.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind die Fakten! Das ist Faktencheck!)


Das war sehr spannend, aber ich glaube, wir müssen ir-
gendwann auch Realitäten anerkennen.

Realität ist, dass Herr Minister Tiefensee – in Klam-
mern: SPD – am 3. September 2008 den Staatsvertrag
mit Dänemark unterschrieben hat, dass wir im Bundes-
tag diesen Vertrag ratifiziert haben


(Bettina Hagedorn [SPD]: Mit dem Art. 22!)


und dass wir deswegen eine neue Geschäftsgrundlage
haben. Auf dieser Geschäftsgrundlage werden wir dieses
Projekt realisieren.

Da Sie gerade noch einmal auf die alten Geschichten
verwiesen haben, sollten wir, glaube ich, einfach einmal
hervorheben, warum wir damit angefangen haben, dieses
Projekt zu diskutieren. Weil wir der Meinung sind, dass
es richtig ist, die Metropolregion Hamburg an die Re-
gion Kopenhagen/Malmö anzubinden, weil wir uns da-
von erwarten, dass die Entwicklungsachse A 1 damit zu
einer größeren Entwicklung innerhalb der Region beitra-





Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)


gen kann, weil wir die Vorteile für den Kreis Stormarn,
den Medizinstandort Lübeck, aber auch für den Kreis
Ostholstein sehen.

Ich war sehr beglückt, als ich auf einer großen
Podiumsdiskussion im Kreis Ostholstein vor mehr als
500 Leuten erfahren habe, dass die Menschen in der Re-
gion für dieses Projekt sind und sehr deutlich gesagt ha-
ben: Wir brauchen große Infrastrukturprojekte. – Das
kann man in Schleswig-Holstein gut verstehen. Wo wäre
Schleswig-Holstein, wenn wir nicht die A 1 hätten,
wenn wir nicht die A 7 hätten, wenn wir nicht den Nord-
ostseekanal hätten, wenn wir nicht den Elbe-Lübeck-Ka-
nal hätten? Wo wäre Schleswig-Holstein, wenn es diese
Projekte nicht gäbe, wenn es nicht zur Elektrifizierung
der Bahn gekommen wäre, für die sich beispielsweise
auch Heide Simonis eingesetzt hat? Wo wäre unser Bun-
desland dann? Dann könnten wir nur noch in der Furche
kratzen. Dann wären wir absolut weg vom Zentrum.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Dann wären wir da, wo die FDP heute ist!)


Deswegen sollten wir hier Fantasie entwickeln und
unsere gesamte Kraft dafür verwenden, dass wir nicht
mehr über das Ob, sondern über das Wie diskutieren,
nämlich wie wir für unsere Region, für Schleswig-Hol-
stein, für den Kreis Stormarn,


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schleswig-Holstein ist das gesamte Schleswig-Holstein, nicht nur Stormarn!)


für die Stadt Lübeck, für den Kreis Ostholstein eine opti-
male Anbindung erreichen, damit wir auch die Schie-
nenanbindung optimal machen, damit wir einen optima-
len Gewinn aus diesem Projekt erzielen. Ich freue mich,
dass Sie offensichtlich der Meinung sind, dass Sie dieses
Mal – vielleicht mit der SPD – dafür stimmen und die-
sem Projekt positiv gegenüberstehen. Ich freue mich auf
diese Entscheidung von Ihnen.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717531200

Das Wort hat nun Konstantin von Notz für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Nun, geschätzte Kollegin Happach-Kasan, dass Sie jetzt
die ollen Kamellen von der Dagegen-Partei rausholen,
ist wirklich eine traurige Nummer. Dass Sie genauso wie
der Kollege Hacker dieses Dialogforum, bei dem eben
nicht die Fakten auf den Tisch gelegt werden und bei
dem eben nicht ergebnisoffen diskutiert wird, als Posi-
tivbeispiel anführen, ist geradezu verrückt. Sie manifes-
tieren damit, dass Sie aus Stuttgart 21, der Startbahn in
Frankfurt, der dritten Landebahn am Flughafen Mün-
chen und den vielen anderen Projekten nichts gelernt ha-
ben. Das ist sehr traurig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Sie haben nichts gelernt!)


Vor der Unterzeichnung des Staatsvertrages 2008 gab
es eine sehr intensive Diskussion im Verkehrsausschuss
und auch hier im Plenum. In einer Anhörung wurde ex-
plizit bestätigt, was die Kritiker des Projekts schon ganz
lange befürchtet haben, dass nämlich der verkehrspoliti-
sche Nutzen dieser Querung, ob nun Tunnel oder Brü-
cke, hart gegen null tendiert. Verschiedene Studien kom-
men zu einem Kosten-Nutzen-Verhältnis von 1 : 0,65.

Während der erwähnten Anhörung wiesen die Sach-
verständigen, nicht die Grünen, auf zahlreiche weitere
Risiken hin. Das Baugebiet liegt in einem ökologisch
vielfach geschützten Gebiet, mitten in einer der mit
66 000 Schiffsbewegungen meistbefahrenen Wasserstra-
ßen der Welt.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Deswegen auch ein Tunnel!)


Hinzu kommt, dass es eine hervorragende bestehende
Fährverbindung mit einer hohen Taktung gibt und dass
viele Urlauber diese Fährfahrt als attraktiven Ferienbe-
ginn nicht missen wollen – glauben Sie es oder nicht.


(Beifall der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ihre ganze Überheblichkeit, wie Sie da sitzen, Herr
Kollege Storjohann, zeigt, dass Sie viele dieser Argu-
mente und viele andere Argumente bei der Entscheidung
hier, vor allen Dingen zum Begleitgesetz des Staatsver-
trages, einfach unter den Tisch haben fallen lassen.

Dann kommt immer das Argument: Wir müssen die
Brücke oder den Tunnel nicht zahlen. Wir zahlen nur die
Hinterlandanbindung. – Das klingt harmlos, ist aber
haushaltspolitisch katastrophal; denn diese Anbindung
wird so richtig teuer. Ich sage allen schleswig-holsteini-
schen Kollegen, die ich hier sehe: Der nächste Doppel-
haushalt in Schleswig-Holstein wird uns die Tränen in
die Augen treiben. Es wird auf jeden Euro, der hier ver-
baut wird, ankommen; das sage ich Ihnen.

Nicht von den Grünen, sondern in der Stellungnahme
des Bundesrechnungshofs – schön, dass Sie zu so später
Stunde zu uns finden, Herr Kollege Döring – werden die
Kosten allein für die Schienenhinterlandanbindung auf
1,7 Milliarden Euro beziffert.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717531300

Herr Kollege von Notz, die Frau Kollegin Happach-

Kasan möchte noch einmal ihre Redezeit und auch Ihre
durch eine Zwischenbemerkung bzw. Zwischenfrage
verlängern.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bitte darum. Aber die Uhr muss schon vor zehn
Sekunden angehalten worden sein.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1717531400

Herr Präsident! Herr Kollege von Notz, ich möchte in

keiner Weise meine Redezeit verlängern, sondern nur
auf eines hinweisen und fragen, ob Ihnen das bekannt ist.
Die schleswig-holsteinische Landesregierung hat sich
mit Kabinettsbeschluss vom 14. Dezember 1999 für die
Realisierung einer festen Fehmarnbelt-Querung ausge-
sprochen. Damals habt ihr mitregiert. Dem ist auch ein
Kabinettsbeschluss gefolgt.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Hört! Hört!)


Danke schön.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Jetzt kommt es raus!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen: Es gibt keine Erklärung eines einzi-
gen Grünen für diese Querung. Wir haben immer dage-
gen gekämpft.


(Lachen bei der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist aber jetzt unglaubwürdig! – Sören Bartol [SPD]: Das ist echt lächerlich! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ein Brummkreisel!)


Wir haben immer dagegen gestritten. Sonst wären wir
für Sie auch nicht die Dagegen-Partei. Bei diesem
Thema waren wir im Gegensatz zu Ihnen immer glasklar
aufgestellt.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ja, ja! Ein Brummkreisel!)


Der Rechnungshof weist explizit darauf hin, dass
zahlreiche weitere Kosten für den Straßenbau, für Alter-
nativstraßen, Lärmschutzmaßnahmen, den Ausbau des
Knotenpunktes Hamburg usw. usf. noch nicht berück-
sichtigt sind. Das stärkste Stück – das demaskiert Ihre
ganze Doppelzüngigkeit beim Schönrechnen der Zahlen –
ist, dass Sie erst vor zwei Monaten erkannt haben, dass
Fehmarn eine Insel ist.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD])


Denn es gab immer Hinweise, dass der Verkehr, der auf
der Insel anlandet, auch wieder herunterkommen muss.
Ihnen ist vor zwei Monaten aufgefallen: Das geht gar
nicht mit der Fehmarnsund-Brücke; wir brauchen eine
neue Querung.

Jetzt kommt der Vorschlag, für 300 Millionen Euro
eine zweite Querung zu bauen. Das demaskiert Ihre
ganze unsolide Rechentrickserei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Inzwischen sind die Kosten von 840 Millionen Euro
bis heute auf sage und schreibe 2,5 Milliarden Euro ge-
stiegen. Wer so trickst und versucht, die Menschen hin-

ter die Fichte zu führen, der muss sich nicht wundern,
dass die Skepsis und Ablehnung gegenüber diesem Pro-
jekt heute größer sind denn je.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unterm Strich bleibt, dass Sie mindestens 2,5 Milliarden
Euro im Fehmarnbelt vergraben wollen, für eine Strecke,
die mit unter 10 000 Fahrzeugen täglich nicht einmal
den Bau einer Umgehungsstraße rechtfertigen würde.

Auch das von der Deutschen Bahn aktuell prognosti-
zierte Bahnverkehrsaufkommen ist nicht imstande, die
Realisierung in irgendeiner Form zu rechtfertigen. Die
Bahn hat ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Staats-
vertrages plötzlich ihre Erwartungen der täglichen Züge
von 210 auf 96 gesenkt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717531500

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Das ist al-
les hanebüchen.

Wir als Grüne können die Entscheidung für den Bau
nicht parlamentarisch zurückholen; das ist völlig richtig.
Den ungedeckten Scheck haben Sie unterschrieben.


(Sören Bartol [SPD]: Ihr habt doch mitgestimmt in Schleswig-Holstein!)


Wir können nur an die Vernunft der Bundesregierung ap-
pellieren.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717531600

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Was früher
schon eine haushaltspolitische Geisterfahrt war – –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717531700

Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit bereits um

33 Prozent überschritten. Das ist ein bisschen viel.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nehmen Sie die Vertragsverhandlungen auf, und be-
enden Sie das Projekt!

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717531800

Zum Schluss dieser heftigen Debatte erteile ich Kol-

legen Ingo Gädechens von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Ingo Gädechens (CDU):
Rede ID: ID1717531900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schön, dass
auch die Grünen jetzt wissen, dass Fehmarn eine Insel
ist.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich lebe seit fast 30 Jahren auf Fehmarn, habe als echter
Ostholsteiner dort tiefe Wurzeln geschlagen und mich
sehr früh für eine positive Entwicklung der Insel einge-
setzt.

Bereits im Jahr 1988 wurde ich stolzes bürgerliches
Mitglied, und seit 1990 war ich bis zum Einzug in den
Deutschen Bundestag Stadtvertreter auf der Insel Feh-
marn. In all den vielen Jahren war das Thema feste Feh-
marnbelt-Querung Gegenstand vieler Diskussionen.
Wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen sogar als letzter
Redner einen breiten historischen Abriss über die Ge-
samtentwicklung, die unterschiedlichsten Diskussionen
vor Ort bis hin zur Schließung des Staatsvertrages ge-
ben. Leider reicht die vorgegebene Redezeit nicht aus.
So möchte, so kann ich nur einige Punkte ansprechen,
die mir in dieser Debatte noch wichtig erscheinen.

Der wiederkehrende Antrag der Linken und der nach-
gereichte Antrag der Grünen lassen erkennen – Christel
Happach-Kasan erwähnte es schon –, dass in Schleswig-
Holstein erneut Landtagswahlkampf herrscht und man
wieder und wieder versucht, mit einem Thema zu punk-
ten, ohne anzuerkennen, dass sich die Mehrzahl der
Menschen, die Mehrzahl der Mandats- und Entschei-
dungsträger längst auf den Weg gemacht haben, um sich
auf die feste Fehmarnbelt-Querung einzustellen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne Geld leider!)


Wer ehrliche Politik macht, sagt den Menschen, dass es
nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie
geht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Alles andere ist Augenwischerei. Es ist einfach naiv, zu
glauben, dass es nach knapp drei Jahren, dass es nach der
Beschlussfassung, dem Abschluss und der Ratifizierung
des Staatsvertrages mit dem Königreich Dänemark Ver-
handlungen über einen Ausstieg geben könnte. Es ist in
höchstem Maße unredlich, dass die Linken „Ausstieg
jetzt“ in Schleswig-Holstein plakatieren, Ängste bei den
Menschen schüren und Horrorszenarien verbreiten.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das ist das, was die Bürger in Schleswig-Holstein uns sagen!)


In den letzten drei Jahren hat Femern A/S, das däni-
sche Baukonsortium, in vorbildlicher Weise und frühzei-
tig für Transparenz und Offenheit gesorgt. Dänemark hat
erhebliche Anstrengungen unternommen und bereits In-
vestitionen in siebenstelliger Größenordnung vorgenom-
men, um das Projekt zu analysieren, zu planen, Umwelt-
verträglichkeiten zu prüfen und die Finanzierung sicher-
zustellen. Transparenz und Offenheit wurden dem Kon-

sortium sogar von den Gegnern bescheinigt. Davon kön-
nen wir in Deutschland lernen, und wir haben bereits da-
raus gelernt. Ja, es stimmt: Auf deutscher Seite müssen
noch viele Hausaufgaben erledigt werden, gerade mit
Blick auf das Thema Hinterlandanbindung. Gerade da
sehe ich als direkt gewählter Abgeordneter eine Haupt-
aufgabe.

Ich war seinerzeit sehr verwundert, ja sogar ent-
täuscht, dass der damalige SPD-Bundesverkehrsminister
Tiefensee vor Unterzeichnung des Staatsvertrages sich
nicht ein einzige Mal vor Ort hat blicken lassen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ach, Ingo! Na, na, na!)


Ich war enttäuscht, dass ein SPD-geführtes Bundes-
ministerium nichts von frühzeitiger Bürgerbeteiligung
wissen wollte. Erst nach der letzten Bundestagswahl und
dem Wechsel im Verkehrsministerium zu Minister
Ramsauer und dem Parlamentarischen Staatssekretär
Ferlemann hat sich das Verfahren deutlich verbessert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Sören Bartol [SPD]: Das ist doch jetzt witzig! Ihr habt doch überhaupt nichts gemacht! Wer hat denn noch früher anders geredet als heute?)


Während die Opposition über Bürgerbeteiligung wortge-
waltig lamentiert, hat die christlich-liberale Koalition für
eine bessere Bürgerbeteiligung gesorgt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die CDU hat auf allen Ebenen die Verfahren eingelei-
tet, die für die Menschen für Ort bedeutend sind. Die
ostholsteinische CDU-Kreistagsfraktion hat eine wich-
tige Betroffenheitsanalyse in Auftrag gegeben.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist mir neu, dass die CDU hier ein Verfahren eingeleitet hat! Können Sie das mal erläutern? Nach welcher Rechtsgrundlage? Können Sie mal erläutern, nach welcher Rechtsgrundlage die CDU ein Raumordnungsverfahren eingeleitet hat?)


Nach den von mir initiierten Gesprächen im Ministe-
rium gab es den Impuls für ein vorgeschaltetes Raum-
ordnungsverfahren, das die CDU-geführte Landesregie-
rung beschlossen hat. Von euch, meine lieben Kollegen
von der SPD, kam gar nichts. Darüber hinaus wurde ein
Dialogforum eingerichtet, das vom ehemaligen deut-
schen Botschafter Dr. Jessen geleitet wird. Aufgrund un-
serer Initiative ist Bundesminister Peter Ramsauer nach
Ostholstein und auf die Insel Fehmarn gekommen und
hat nicht nur im Fahrstand einer Lokomotive den Groß-
teil der Bahnstrecke abgefahren,


(Sören Bartol [SPD]: Ihr seid doch tolle Jungs! Echt! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Minister fährt Eisenbahn! Das ist fantastisch! – Sören Bartol [SPD]: Das ist ein Witz!)


sondern hat sich in einer Podiumsdiskussion auch den
Fragen, Anregungen, der Kritik und den Ängsten der





Ingo Gädechens


(A) (C)



(D)(B)


Menschen gestellt. Ja, ja, eure Versäumnisse regen
euch jetzt im Nachhinein auf. Ich kann das verstehen,
aber diese Versäumnisse kann man nicht einfach wegwi-
schen.

Es ist schon bemerkenswert, meine Damen und Her-
ren von der SPD-Fraktion, dass gerade diejenigen am
lautesten aufschreien und am schärfsten Kritik üben, die
in der Vergangenheit nichts für eine bessere Bürgerbetei-
ligung getan haben,


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wir haben es doch ratifiziert! Wir waren doch vor Ort!)


während diese Bundesregierung ein Gesetz zur Verbes-
serung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitli-
chung von Planfeststellungsverfahren vorgelegt hat. So
eine Beteiligung hätte ich mir früher zum Beispiel auch
vom damaligen SPD-Verkehrsminister Tiefensee und
auch von den anderen Oppositionsparteien gewünscht.

Große Bauprojekte stellen alle beteiligten Vorhaben-
träger und Planer, aber gerade an erster Stelle die Men-
schen in der Region, vor große Herausforderungen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717532000

Herr Kollege, auch Sie müssen einmal zum Ende

kommen.


Ingo Gädechens (CDU):
Rede ID: ID1717532100

Ich habe noch nicht die 33 Prozent erreicht.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717532200

Nein, wir wollen das nicht zur Regel machen.


Ingo Gädechens (CDU):
Rede ID: ID1717532300

Die Dänen haben nicht nur die größere finanzielle

Last und tragen das Risiko, sondern sie helfen auch in
ganz vorbildlicher Weise, die Menschen vor Ort zu in-
formieren.

Die von der IHK initiierte Wirtschaftsregion Hanse-
Belt, die Ausweisung von interkommunalen Gewerbege-
bieten, die Planung eines Infozentrums –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717532400

Herr Kollege, ich habe das ernst gemeint.


Ingo Gädechens (CDU):
Rede ID: ID1717532500

– und das von Privatfirmen gegründete Kooperations-

modell „Baltic FS“ sind deutliche Zeichen. Wer mag
– Herr Präsident, das ist mein letzter Satz –, soll den
Menschen weiter Sand in die Augen streuen und behaup-
ten, dass ein Ausstieg noch ohne Weiteres möglich sei.
Ich orientiere mich


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist jetzt der zweite Satz!)


an der Realität und werde mich


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Der dritte Satz!)


deshalb positiv für Lösungen einsetzen, die den Men-
schen in meiner Heimatregion helfen.


(Sören Bartol [SPD]: 90 Prozent überzogen! Stopp jetzt!)


Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717532600

Lieber Kollege Gädechens, bei Ihnen betrug die

Überschreitung der Redezeit 21 Prozent.

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8912 und 17/9407 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt
zu einer ganzen Reihe von Tagesordnungspunkten, zu
denen die Redebeiträge zu Protokoll gegeben sind. Ich
bitte Sie, mir bei der Verlesung der Texte und Namen
Gesellschaft zu leisten.

Tagesordnungspunkt 15:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung arzneimittelrechtlicher und ande-
rer Vorschriften

– Drucksache 17/9341 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. – Sie sind damit einverstanden. Es
handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen:
Michael Hennrich, Marlies Volkmer, Kathrin Vogler,
Birgitt Bender und Parl. Staatssekretärin Ulrike Flach.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9341 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 16:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Tabea Rößner, Marieluise Beck (Bremen),

1) Anlage 3





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Pressefreiheit europaweit umsetzen – Medien
als wichtigen Grundpfeiler der Demokratie
stärken

– Drucksachen 17/6126, 17/8203 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Selle
Martin Dörmann
Burkhardt Müller-Sönksen
Kathrin Senger-Schäfer
Tabea Rößner

Die Reden folgender Kollegen sind vereinbarungsge-
mäß zu Protokoll gegeben worden: Karl Holmeier,
Martin Dörmann, Burkhardt Müller-Sönksen, Kathrin
Senger-Schäfer und Tabea Rößner.1)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/8203, den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6126
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositions-
fraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 26 a und b:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsa-
chen

– Drucksache 17/9391 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes (Artikel 93)


– Drucksache 17/9392 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben vereinba-
rungsgemäß ihre Reden zu Protokoll gegeben:
Dr. Günter Krings, Dr. Dieter Wiefelspütz, Dr. Stefan
Ruppert, Halina Wawzyniak und Jerzy Montag.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/9391 und 17/9392 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-

schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge dazu? – Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Tagesordnungspunkt 17:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes
zur Änderung des Versicherungsaufsichtsge-
setzes

– Drucksache 17/9342 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben vereinba-
rungsgemäß ihre Reden zu Protokoll gegeben: Ralph
Brinkhaus, Manfred Zöllmer, Björn Sänger, Harald
Koch, Dr. Gerhard Schick, Parl. Staatssekretär Hartmut
Koschyk.3)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9342 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist auch diese Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 19:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Kampf gegen wissenschaftliches Fehlverhal-
ten aufnehmen – Verantwortung des Bundes
für den Ruf des Forschungsstandortes
Deutschland wahrnehmen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager,
Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Wissenschaftliche Redlichkeit und die Qua-
litätssicherung bei Promotionen stärken

– Drucksachen 17/5758, 17/5195, 17/9388 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
René Röspel
Dr. Martin Neumann (Lausitz)

Dr. Petra Sitte
Krista Sager

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Philipp Murmann,
Dr. Reinhard Brandl, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Martin Neumann, Dr. Petra Sitte, Krista Sager.4)

1) Anlage 4
2) Anlage 9

3) Anlage 5
4) Anlage 7





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/9388.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/5758. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der SPD bei Enthaltung der Grünen und der
Linken angenommen.

Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/5195. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-
den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen
bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen.

Wir kommen zu dem Tagesordnungspunkt 18 a und b:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bildung für nachhaltige Entwicklung dauer-
haft sichern – Folgeaktivitäten zur UN-Dekade
„Bildung für nachhaltige Entwicklung“ er-
möglichen

– Drucksache 17/9186 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Jan Korte, Agnes Alpers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Bildung für nachhaltige Entwicklung ermögli-
chen – Gleiche Bildungsteilhabe sichern

– Drucksache 17/9395 –

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Anette Hübinger, Axel
Knoerig, Ulla Burchardt, Angelika Brunkhorst, Sylvia
Canel, Dr. Rosemarie Hein, Kai Gehring.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/9186. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Antrag ist mit den Stimmen der antrageinbringenden
Fraktionen gegen die Stimmen der Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 18 b: Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9395.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist mit dem gleichen Mehr-
heitsverhältnis abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 a und c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Barthel, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Edelgard

Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Frühzeitige Veröffentlichung der Rüstungsex-
portberichte sicherstellen – Parlamentsrechte
über Rüstungsexporte einführen

– Drucksache 17/9188 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht der Bundesregierung über ihre Ex-
portpolitik für konventionelle Rüstungsgüter
im Jahr 2010 (Rüstungsexportbericht 2010)


– Drucksache 17/8122 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Andreas G. Lämmel,
Klaus Barthel, Dr. Martin Lindner, Jan van Aken, Katja
Keul.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9188 und 17/8122 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind auch diese Überweisungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 20:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Errichtung eines Nationalen Waffenre-

(Nationales-Waffenregister-Gesetz – NWRG)


– Drucksache 17/8987 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/9217 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Lach
Gabriele Fograscher
Serkan Tören
Frank Tempel
Wolfgang Wieland

1) Anlage 6 2) Anlage 8





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden von den Kolleginnen und Kollegen Günter Lach,
Gabriele Fograscher, Serkan Tören, Frank Tempel und
Wolfgang Wieland zu Protokoll gegeben.


Günter Lach (CDU):
Rede ID: ID1717532700

Mit der heutigen Abstimmung werden wir das Natio-

nale Waffenregister auf den Weg bringen. Damit erfüllen
wir den Auftrag aus Art. 4 Abs. 4 der EU-Waffenricht-
linie 91/477/EWG des Rates an die Mitgliedstaaten,
spätestens bis zum 31. Dezember 2014 ein computer-
gestütztes Waffenregister einzurichten. Auch unter den
schwerwiegenden Eindrücken der schrecklichen Amok-
läufe von Erfurt und Winnenden hat der Deutsche Bun-
destag 2009 im Zuge der Novellierung des Waffenrechts
in § 43 a des Waffengesetzes die EU-Vorgabe in nationa-
lem Recht verankert. Damit wurde das ehrgeizige Ziel
festgeschrieben, bis Ende des Jahres 2012, bereits zwei
Jahre früher als gefordert, das Nationale Waffenregister
in Deutschland einzuführen.

Dieses Vorhaben wollen wir jetzt mit dem vorliegen-
den Gesetz zur Errichtung des Nationalen Waffenregis-
ters umsetzen. In den Beratungen des Innenausschusses
hat sich gezeigt, dass sich diese Maßnahme auf eine
breite parlamentarische Mehrheit aus Union, FDP,
Bündnis 90/Die Grünen und SPD stützen kann. Hier
wird deutlich, dass der Deutsche Bundestag im Dienste
der Sicherheit von Bürgerinnen und Bürgern an einem
Strang zieht.

Mit der Errichtung des Registers machen wir einen
wichtigen Schritt zur Modernisierung des traditionsrei-
chen Waffenwesens in unserem Land. Bisher werden in
577 lokalen Waffenbehörden die Informationen darüber
gesammelt, wer im zuständigen Bereich wie viele und
welche Waffen besitzt. Die Daten werden teilweise noch
in Papierform auf Karteikarten geführt. Mit der Zustim-
mung des Deutschen Bundestages zum vorliegenden Ge-
setzentwurf der Bundesregierung werden diese Angaben
nun aktualisiert und in ein computergestütztes System
überführt.

Darüber hinaus werden jetzt in ganz Deutschland,
von Kiel bis München, erstmals einheitliche Standards
festgelegt, welche Informationen im Zusammenhang mit
Waffenbesitz im Einzelnen festgehalten werden müssen.
Bisher kam es vor, dass die gleiche Waffe in verschiede-
nen Waffenbehörden mit unterschiedlichen Bezeichnun-
gen registriert wurde. Hier findet nun eine Vereinheit-
lichung statt. Das Nationale Waffenregister wird für
mindestens 20 Jahre alle wesentlichen Informationen
über Typ, Modell, Fabrikat, Kaliber und Seriennummer
der Waffen speichern. Dementsprechend werden zukünf-
tig auch die Namen und Anschriften von Waffenlieferan-
ten sowie von Käufern und Besitzern einer Waffe erfasst.

Erstmals wird es nun also möglich sein, eine genaue
Zahl von legalen Waffenbesitzer und legalen Waffen in
Deutschland zu erhalten. Dies ist auch für den Gesetz-
geber von Vorteil. Bei Überlegungen und Diskussionen
um das Waffenrecht und mögliche Änderungen konnten
wir in der Vergangenheit nur über Zahl und Verbreitung
von legalen Waffen spekulieren. Jetzt kann der Gesetzge-

ber sich auf eine belastbare Datengrundlage bei seinen
Entscheidungen stützen. Dies dient einer nach meiner
Ansicht notwendigen sachlichen Grundlage der Debatte
um dieses Thema.

Wir werden dann konkret feststellen können, wer zu
welchem Zweck welche Waffen besitzt. Dazu gehören die
aktiven Schützen, die in Vereinen und Verbänden den
Schießsport pflegen. Sie nutzen Waffen als präzise
Sportgeräte, die Konzentration, Treffsicherheit und
fachlich umsichtigen Umgang schulen. Hier stehen Ge-
meinsamkeit, Tradition und Brauchtumspflege im Mit-
telpunkt des Vereinslebens. Eine weitere Gruppe legaler
Waffenbesitzer sind Jäger. Sie tragen die Verantwortung
für Pflege, Erhalt und Regulierung unserer Wildtier-
bestände und der Natur. So schützen sie die Natur vor
Schäden durch Überpopulation und beugen der Verbrei-
tung von Tierseuchen vor. Das Register wird auch die
Sammler von Waffen erfassen, die sich der Pflege des
Kulturguts verschrieben haben. Ausstellungen und
Fachveranstaltungen pflegen das kulturelle Wissen über
Geschichte und Entwicklung von Waffentechnik.

Positive Erfahrungen mit einer zentralen Registratur
der legalen Waffenbesitzer wurden bereits in Hamburg
seit 2009 gemacht. Die aus der Hansestadt in den letzten
drei Jahren gewonnenen Erkenntnisse konnten in die Er-
richtung eines Registers auf nationaler Ebene mit ein-
fließen.

Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Errichtung
des Nationalen Waffenregisters kann mit dem Aufbau in
drei Stufen begonnen werden. Nach der Zusammenfüh-
rung der Daten aus den rund 600 einzelnen Waffen-
behörden bis zum 31. Dezember 2012 ist erstmals eine
bundesweite Abfrage möglich. In der zweiten Stufe wer-
den dann schließlich Informationen von Waffenherstel-
lern und auch Waffenhändlern mit eingebunden. Hinzu
kommen erweiterte Recherchemöglichkeiten. Schließ-
lich bringt die Modernisierung des Waffenwesens auch
für die Bürgerinnen und Bürger wesentliche Vorteile mit
sich. Denn ab 2014 sollen in einer dritten Stufe Behör-
denangelegenheiten zukünftig durch Onlinelösungen
schneller und einfacher zu erledigen sein.

Um eines deutlich zu machen: Das Waffenregister ist
eine sinnvolle Modernisierung des legalen Waffen-
wesens in Deutschland. Es gilt aber weiterhin, den
Kampf gegen den unerlaubten Waffenhandel und den
Missbrauch von Schusswaffen sowie die steigende Ge-
waltkriminalität in unserer Gesellschaft mit Nachdruck
zu betreiben. Die Statistiken zeigen regelmäßig, dass bei
Gewaltdelikten mit Schusswaffen hauptsächliche ille-
gale Waffen eine Rolle spielen. Bei legalen, registrierten
Waffen liegt der Missbrauch unter 1 Prozent.

Trotzdem sind die Informationen aus dem Nationalen
Waffenregister über legalen Waffenbesitz ein Gewinn an
Sicherheit. Der Lebenszyklus einer Waffe kann vom
Anfang bis zum Ende verfolgt werden. So wird die Wahr-
scheinlichkeit verringert, dass eine Waffe aus dem Blick-
feld der Behörden verschwinden kann und aus einer le-
galen eine illegale Waffe wird. Darüber hinaus
unterstützen wir mit diesem Gesetzentwurf die Arbeit
von Polizei und Strafverfolgungsbehörden. Unter Beibe-

Zu Protokoll gegebene Reden





Günter Lach


(A) (C)



(D)(B)


haltung der föderalen Strukturen werden die aufbereite-
ten Daten aus den lokalen Waffenbehörden zusammen-
geführt. So stehen sie jederzeit, 24 Stunden am Tag und
sieben Tage in der Woche, den abfragenden Behörden
zur Verfügung. Dies spielt vor allem in den Abend- und
Nachtstunden sowie an Wochenenden und Feiertagen
eine wichtige Rolle, beispielsweise bei einem Polizeiein-
satz. Hier können die Beamten zur besseren Eigensiche-
rung vorab wertvolle Information darüber erhalten, ob
und welche Waffen möglicherweise bei dem bevorste-
henden Einsatz eine Rolle spielen könnten. Mit Schaf-
fung der zentralen Abfrage- und Recherchemöglichkeit
über legale Schusswaffen in Privathaushalten setzen wir
auch eine langjährige Forderung vonseiten der Polizei
um.

Alle Angaben aus den einzelnen Waffenbehörden wer-
den bei hohen Standards für Datensicherheit, Übertra-
gungssicherheit und Datenschutz in einer zentralen
Komponente zusammengeführt. Dafür müssen vor Ort
entsprechende technische, organisatorische und perso-
nelle Voraussetzungen geschaffen werden. Datenüber-
mittlung und Datenauskünfte dürfen aufgrund der hohen
Sensibilität von personenbezogenen Daten nur über Ver-
waltungsnetze erfolgen. Auch im Verwaltungsnetz kann
die Übermittlung der Informationen nur mit speziell ent-
wickelten Verschlüsselungstechniken erfolgen. Diese
werden vom Bundesverwaltungsamt, BVA, als Register-
behörde in Abstimmung mit dem Bundesamt für die
Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, vorgegeben.

Ein Zugriff auf die waffenrechtlichen Daten von au-
ßen über eine Internetverbindung ist nicht möglich. Mit
diesen Maßnahmen wird auch den Befürchtungen Rech-
nung getragen, dass auf die gesammelten Informationen
über Personen und Waffenbesitz von Kriminellen auf
einfachem Weg über das Internet zugegriffen werden
kann.

Außer den Waffenbehörden vor Ort als sachbearbei-
tende Stelle und den Polizeien aus Bund und Ländern
können noch weitere Stellen Auskunft aus dem nationa-
len Register erhalten. Hierzu zählen die Justiz- und Zoll-
behörden, die Steuerfahndung, der Verfassungsschutz
von Bund und Ländern sowie die Nachrichtendienste.
Neben dem effizienten automatisierten Verfahren erhal-
ten sie Informationen in der Regel durch eine Einzelaus-
kunft. Um Verwechslungen auszuschließen, müssen hier-
für Mindestangaben gemacht werden. Bei besonders
dringenden Fällen und bei mangelhafter Informations-
lage können zur Erleichterung der polizeilichen Ermitt-
lungen auch Gruppenauskünfte anhand spezifischer
Merkmale angefordert werden.

Insbesondere für unsere Polizeibeamten, Sicherheits-
und Rettungskräfte in außerordentlichen Situationen wie
bei Amokläufen und Geiselnahmen ist das Nationale
Waffenregister eine Unterstützung der schwierigen Ar-
beit. Ich bin überzeugt davon, dass mit der Hilfe dieser
abrufbaren Informationen ein Sicherheitsgewinn für die
Einsatzkräfte und für die gesamte Gesellschaft erreicht
werden kann. Denn Aktualität und schnelle Verfügbar-
keit von Informationen sind bei einer gegenwärtigen
Gefahr für Leib, Leben, Gesundheit oder Freiheit einer

Person entscheidend. Daher ist die Umsetzung der EU-
Vorgabe bereits bis zum Ende dieses Jahres richtig.
Außerdem machen wir damit einen weiteren Schritt hin
zu einer modernen Verwaltung. Bürgerinnen und Bürger
können dann auch in diesem Bereich von moderner
Technik und einem effizienten Staat profitieren.


Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1717532800

Heute vor zehn Jahren fand der schreckliche Amok-

lauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium statt. Bis zu
diesem Tag kannten wir in Deutschland Amokläufe nur
aus dem Fernsehen und aus anderen Ländern. Wir
glaubten nicht, dass es so etwas auch in Deutschland ge-
ben kann. Am 26. April 2002 wurden wir leider eines
Besseren belehrt. Am gleichen Tag wollten wir hier im
Bundestag eine Novelle zum Waffenrecht beschließen.
Aufgrund des Amoklaufs eines 19-Jährigen mit 17 Toten
wurde die Verabschiedung des Waffenrechts verschoben.

Der Schock saß tief, Deutschland hatte sich verän-
dert. Wir als Politikerinnen und Politiker haben uns
gefragt, was wir tun können, um Amokläufe zu erschwe-
ren. Neben Änderungen im Waffenrecht wie der Herauf-
setzung der Altersgrenzen für den Waffenerwerb und für
das Schießen mit großkalibrigen Waffen, dem Verbot
sogenannter Pumpguns und der Verschärfung der Auf-
bewahrungsvorschriften galt und gilt es, die Gründe
aufzudecken, die einen jungen Menschen zu so einer Tat
treiben. War es das soziale Umfeld, die Schule, das El-
ternhaus? Eine abschließende Antwort darauf gab und
gibt es nicht.

Am 20. November 2006 schoss ein 18-Jähriger auf
dem Gelände seiner ehemaligen Schule in Emsdetten um
sich, verletzte 11 Personen durch Schüsse und Rauchbom-
ben und tötete danach sich selbst. Trotz eines
Abschiedsbriefes des Täters ist nicht klar, was ihn dazu
gebracht hat, diese Tat zu begehen. Am 11. März 2009 er-
schütterte der Amoklauf von Winnenden und Wendlingen
das ganze Land. Ein 17-Jähriger erschoss 15 Menschen
und sich selbst. Auch hier haben wir uns gefragt, was ei-
nen Menschen zu einem Amoklauf treibt. Eine Antwort
gab und gibt es auch hier nicht. Forderungen nach einer
Verschärfung des Waffenrechts wurden wieder laut, doch
es war uns bewußt, dass das nur ein Baustein sein kann,
solche Taten in Zukunft zu erschweren.

Neben der Verschärfung der Prüfung des Bedürfnis-
ses, der stärkeren Kontrolle der Aufbewahrung von
Schusswaffen und Munition und dem Anheben der
Altersgrenze für das Schießen mit großkalibrigen Waffen
haben wir uns auf die Errichtung eines Nationalen
Waffenregisters bis Ende 2012 geeinigt.

Damit setzen wir eine EU-Richtlinie, die die Errich-
tung eines Nationalen Waffenregisters bis Ende 2014
fordert, zwei Jahre früher um. Die in den 577 Waffenbe-
hörden erfassten Informationen werden aufbereitet und
in eine zentrale computergestützte Datei überführt. Es
werden verbindliche Standards für die deutsche Waffen-
verwaltung unter Beibehaltung der föderalen Struktur
eingeführt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Fograscher


(A) (C)



(D)(B)


Wir begrüßen es, dass mit der heutigen Verabschie-
dung das Nationale Waffenregister früher als von der
EU gefordert kommt; es ist längst überfällig.

Wir werden dann endlich wissen, wie viele legale
Waffen es in Deutschland gibt und wer wie viele dieser
Waffen besitzt. Der gesamte Lebenszyklus einer legalen,
erlaubnispflichtigen Waffe wird vom Hersteller bis zum
Endbesitzer mit allen Angaben zu Kaliber und Modell
nachvollziehbar sein. Die Möglichkeit der Polizei, auf
diese Daten zurückzugreifen, wird die Ermittlungsarbeit
erleichtern. Auch wird das Einbeziehen waffenrechtli-
cher Informationen in die polizeiliche Lagebildbeurtei-
lung mehr Sicherheit für die Polizistinnen und Polizisten
im Einsatz bringen.

Wir als SPD-Bundestagsfraktion halten dieses Gesetz
für wichtig und richtig, es trägt zu mehr öffentlicher
Sicherheit bei. Das Waffenrecht ist eine besonders
sensible Materie, die von der Öffentlichkeit mit großer
Aufmerksamkeit begleitet wird. Deshalb ist besondere
Sorgfalt angezeigt. Umso ärgerlicher ist es deshalb,
dass sich im Gesetzgebungsverfahren Fehler und Patzer
aneinanderreihten.

Angefangen hat die nachlässige Art des Umgangs mit
dem Gesetz durch das Bundesinnenministerium damit,
dass den Fraktionen des Bundestages der Entwurf nicht,
wie es die Geschäftsordnung vorsieht, zeitgleich mit den
Bundesländern zugeleitet wurde. Anstatt sich zu ent-
schuldigen, verschlimmert Staatssekretär Schröder das
Ganze noch und erklärt, die Fraktionen würden im
Rahmen der Ausschussberatungen befasst. Das ist eine
Respektlosigkeit gegenüber dem Parlament und ein
Verstoß gegen die Gemeinsame Geschäftsordnung der
Bundesministerien.

Der Dilettantismus setzte sich in den Ausschussbera-
tungen fort. Einige Empfehlungen des Bundesrates
sollten übernommen werden. Auf meine Frage, wo denn
der entsprechende Änderungsantrag der Koalitionsfrak-
tionen sei, erklärte Staatssekretär Schröder, es gebe kei-
nen und er sei auch nicht notwendig. Daraufhin wurde
das Gesetz im Innenausschuss ohne Änderungen ange-
nommen. Es folgte hektisches Treiben bei der CDU und
die Bitte, den Beschluss des Ausschusses aufzuheben,
denn man bräuchte ja doch einen Änderungsantrag.
Dieser wurde dann als Tischvorlage nachgereicht, und
es fand eine erneute, korrigierende Abstimmung statt.

Der letzte Akt der Peinlichkeit rund um dieses Geset-
zesvorhaben fand am gleichen Tag im mitberatenden
Sportausschuss statt. Als dieser Tagesordnungspunkt
dort aufgerufen wurde, erklärte Staatssekretär Bergner,
der federführende Innenausschuss hätte den Beschluss
über das Waffenregister vertagt, eine Abstimmung im
Sportausschuss sei daher noch nicht nötig. Leider war
auch diese Information falsch, was die fehlende Kommu-
nikation und Unfähigkeit in der Führungsspitze des
Ministeriums erneut zeigte. Es ist bedauerlich, dass die
Bundesregierung bei solchen wichtigen Vorhaben die
notwendige Kompetenz und Sorgfalt vermissen lässt.
Nur weil wir grundsätzlich das Gesetzesvorhaben unter-
stützen, haben wir diesen Dilettantismus missbilligend
zur Kenntnis genommen.

Noch ein Wort zum Waffenrecht. Im Mai findet im
Innenausschuss eine Anhörung zu Vorlagen zum Waffen-
recht statt. Es geht unter anderem um die Forderung
nach einer zentralen Lagerung von Waffen und Munition
und um das Verbot von großkalibrigen kriegswaffenähn-
lichen Vollautomaten. Durch solche Anträge zum Waf-
fenrecht wird suggeriert, dass allein gesetzliche Vor-
schriften zu mehr Sicherheit führen. Für mich liegt aber
das Problem eher im Vollzug und in der Kontrolle der
geltenden Vorschriften. Gesetzesverschärfungen erset-
zen keine Kontrollen der Aufbewahrung von Waffen
durch die örtlichen Waffenbehörden, sie ersetzen auch
kein stärkeres Bewusstsein für einen verantwortungsvol-
len Umgang mit Waffen. Meine Fraktion stimmt dem Ge-
setz zur Errichtung eines Nationalen Waffenregisters zu.


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1717532900

Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung beenden

wir das Gesetzgebungsverfahren zur Einführung des
Nationalen Waffenregisters in der Bundesrepublik
Deutschland. Damit erfüllen wir zum einen internatio-
nale Verpflichtungen, die die Bundesrepublik Deutsch-
land gegenüber den Vereinten Nationen eingegangen ist.
Zum anderen setzen wir europäisches Recht um, das sich
aus den Verpflichtungen gegenüber den Vereinten Natio-
nen ergeben hat. Schließlich kommen wir auch Ver-
pflichtungen des Bundesgesetzgebers nach. Im Zuge der
Änderungen deutschen Waffenrechts nach den schreckli-
chen Amokläufen an Schulen wurde beschlossen, dass
das Waffenregister bis zum Ende dieses Jahres einge-
führt werden muss.

Das Ziel der Vereinten Nationen, die Registrierung
von Kleinwaffen auf den Weg zu bringen, besteht darin,
das unkontrollierte Zirkulieren von Kleinwaffen welt-
weit zu unterbinden. Mit dem neuen Register wird es
möglich sein, einen Überblick über den „Lebenslauf“
einer Waffe von der Produktion bis zu einer möglichen
endgültigen Vernichtung zu bekommen. Dies wird dazu
beitragen, dass der Sumpf der sogenannten illegalen
Waffen auf lange Sicht ausgetrocknet wird. Aus meiner
Sicht stellt dies einen enormen weltweiten Sicherheitsge-
winn dar.

Neben dem Ziel, weltweit die Sicherheit auf lange
Sicht zu erhöhen, profitieren wir aber auch in Deutsch-
land von diesem Register. So freut es mich, dass sich die
Mitglieder des Bundestages darüber einig sind, dass die
Einführung eines nationalen Waffenregisters eine gute
Sache ist. Schon in meiner Rede zur ersten Lesung habe
ich auf die Vorzüge des Registers hingewiesen. Daher
möchte ich nur kurz darauf eingehen. Deutschland be-
kommt eine einheitliche Verwaltung der legalen Waffen.
Lokale Insellösungen, zum Teil noch mit Karteikarten,
gehören dann der Vergangenheit an. Die Sicherheitsbe-
hörden werden zukünftig einen schnellen Überblick über
möglicherweise vorhandene Waffen im Fall eines not-
wendigen Einsatzes bekommen. Die Aufklärung von Ge-
waltverbrechen, bei denen Schusswaffen eine Rolle spie-
len, wird erleichtert. Schließlich wird es zukünftig
schneller und leichter möglich sein, vertauschte, gestoh-
lene oder verlorene Sport- und Jagdwaffen dem recht-
mäßigen Besitzer bzw. Eigentümer zurückzugeben. Im

Zu Protokoll gegebene Reden





Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)


Ergebnis haben wir also die glückliche Lage einer Win-
win-Situation für alle Seiten.

Was die Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen
nach einer Verbesserung des Waffenrechts angeht, ste-
hen wir als Liberale Verbesserungen immer positiv ge-
genüber und würden auch konstruktiv an solchen Ver-
besserungen mitarbeiten. Allerdings sage ich gleich:
„Verbesserungen“, die nur auf eine weitere Verschär-
fung des Waffenrechts hinauslaufen, ohne dass dies ein
Mehr an echter Sicherheit für die Bürger bedeutet, leh-
nen wir ab.

Abschließend noch ein Wort zu der angekündigten
Bundesratsinitiative aus NRW im Hinblick auf eine Re-
gelanfrage bei den Landesämtern für Verfassungsschutz,
wenn eine waffenrechtliche Erlaubnis ausgestellt werden
soll. Mit einer solchen Regelanfrage wird aus unserer
Sicht allen zukünftigen Legalwaffenbesitzern zunächst
einmal unterstellt, dass sie kriminell sein könnten. Schon
heute wird bei der Erteilung von waffenrechtlichen Er-
laubnissen die Zuverlässigkeit überprüft. Dies ist Geset-
zeslage. Personen die strafrechtlich in Erscheinung ge-
treten sind oder bei denen Zweifel bezüglich der
Zuverlässigkeit besteht, bekommen schon heute keine
waffenrechtliche Erlaubnis. Dies muss reichen. Daher
lehnen wir die geplante Initiative aus NRW ab.


Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717533000

Die Linke hat seit langem die Einführung eines natio-

nalen Waffenregisters gefordert; doch hat uns die kon-
krete Ausgestaltung des Gesetzes von einer Zustimmung
im Innenausschuss abgehalten. Die Zugriffsmöglichkeit
der Geheimdienste und der unzureichende Datenschutz,
insbesondere bei der automatisierten Abfrage, haben
uns zur Enthaltung veranlasst.

Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens hat der Bun-
desrat Änderungsbedarf angemeldet. Mit Ausnahme
des Landes Brandenburg haben die Länder letzte Da-
tenschutzansprüche über Bord werfen wollen. Ein-
schränkungen beim Zugriff der Geheimdienste sowie
Begründungs- und Protokollierungsanforderungen soll-
ten wegfallen bzw. extrem gelockert werden.

Nun ist in der vorliegenden Variante des Gesetzent-
wurfs kaum einer der Änderungswünsche des Bundesra-
tes in voller Konsequenz eingebaut worden. Die Strei-
chung konkreter Speicherfristen und der Wegfall einer
Begründungspflicht bei Anfragen an das Waffenregister
mögen eine Erleichterung der Arbeit von Strafverfol-
gungsorganen bewirken; der Datenschutz wurde aber
wieder einmal außen vor gelassen. Unsere Zustimmung
bleibt Ihnen also weiterhin erspart.

Neben der Einführung des Waffenregisters haben wir in
der Vergangenheit weiteren Handlungsbedarf angemahnt.
Die Ergebnisse von Kontrollen der Ordnungsbehörden in
den letzten Monaten lassen aufhorchen. Sie zeigen, dass
die Mehrzahl der Waffenbesitzerinnen und -besitzer Waf-
fen und Munition vorschriftsmäßig lagern. Es sind aber
auch zahlreiche Verstöße festgestellt worden. Ein beson-
ders krasses Beispiel zeigte sich in Bremen, wo bei

75 Prozent der unangekündigten Überprüfungen Ver-
stöße festgestellt worden sind.

Eine Folge solcher Kontrollen ist immer wieder, dass
freiwillig auf Waffen verzichtet wird, weil vielmals ei-
gentlich keine Nutzungsabsichten mehr vorhanden sind.
An diesem Beispiel zeigt sich besonders deutlich, dass
noch viel mehr Anstrengungen möglich wären, um die
Zahl der Waffen in der Gesellschaft zu senken. Doch da-
für müssen gesetzliche und materielle Grundlagen ge-
schaffen werden, um dies zu ermöglichen. Durch das na-
tionale Waffenregister sind die Ordnungsbehörden im
Verwaltungsaufwand deutlich entlastet worden. Frag-
lich ist allerdings, ob die notorisch klammen Kommunen
die freigesetzten Potenziale für stärkere Kontrollen nut-
zen oder aber Personalstellen in den Ordnungsbehörden
streichen.

In vielen Teilbereichen des Waffenrechts liegt einiges
im Argen. Seit Jahren fordern zum Beispiel die Polizei-
gewerkschaften ein Verbot großkalibriger Schusswaffen.
Es gibt keine vernünftige Erklärung, warum diese be-
sonders gefährlichen Waffen zum Schützensport notwen-
dig sind. Sportlich machen eine kleinkalibrige Waffe und
eine großkalibrige Waffe keinen Unterschied, in einer
Amoksituation oder bei einem polizeilichen Zugriff al-
lerdings schon.

Auch die weite Verbreitung von halbautomatischen
Waffen stellt ein großes Problem dar. Halbautomatische
Waffen werden im Schießsport stark genutzt, deshalb
verbieten sich hier schnelle Lösungen. Doch sollte zu-
mindest über Wege nachgedacht werden, wie man lang-
fristig mit dem Problem umzugehen gedenkt.

Das Thema Erbwaffen ist nach wie vor ungeklärt.
Waffen im Besitz von Menschen, die keine genehmigte
Nutzungsabsicht haben, müssen durch Blockiersysteme
oder Abzugsschlösser gesichert werden. Die Waffen
werden dadurch nicht zerstört, aber gegen unbefugte
Nutzung gesichert.

Die Koalition wagt es erst gar nicht, sich solche Fra-
gen zu stellen. Das ist wohl darin begründet, dass man
Wählerstimmen schwinden sieht, wenn Verschärfungen
des Waffenrechts auch nur angedacht werden. Doch
dazu werden wir im Mai eine Anhörung im Innenaus-
schuss haben. Zwei Anträge der Grünen zum Waffen-
recht werden diskutiert. Dann wird eine Positionierung
von allen Parteien erwartet, wie sie mit 10 Millionen le-
galen und 20 Millionen illegalen Waffen in der Gesell-
schaft umzugehen gedenken.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717533100

Auf den Tag genau vor zehn Jahren erschoss ein ehe-

maliger Schüler des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums in
seiner ehemaligen Schule 16 Menschen. Er tat dies mit
Waffen, die er legal gekauft hatte. Wir haben damals das
Waffenrecht verändert, um solche Taten in Zukunft zu
verhindern. Heute wissen wir: Das ist uns nicht gelun-
gen. Es gab weitere solcher Taten, wie vor gut drei Jah-
ren den Amoklauf von Winnenden.

Meine Fraktion und ich haben uns schon seit vielen
Jahren für ein restriktiveres Waffenrecht eingesetzt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)


Dazu gehörte auch immer die Forderung nach einem
nationalen Waffenregister, wie wir es heute einführen.
Die bisherige Praxis gehört seit Jahren schon überarbei-
tet, nicht nur, weil es eine EU-Richtlinie so will. Bisher
wurden Waffen lokal registriert, seit 2003 besteht auch
eine Meldepflicht für jeden Waffenverkauf und -weiter-
verkauf. Das hat aber bisher noch nicht zu einem über-
sichtlichen und handhabbaren Register geführt; denn
noch speichern Dutzende unterschiedliche Behörden
nach unterschiedlichen Datenstandards. Und ihre Infor-
mationen werden nicht vernetzt.

Es war also höchste Zeit, hier Abhilfe zu schaffen.
Die Erfahrungen aus Hamburg zeigen, dass ein moder-
nes, computergestütztes Register eine große Hilfe sein
kann. Wir begrüßen es daher ausdrücklich, dass es diese
Koalition geschafft hat, sich nun sogar schon ein klein
wenig früher zur Einrichtung eines nationalen Registers
durchzuringen, als die EU es zwingend vorschreibt. Ob-
wohl es die entsprechende Richtlinie seit 2008 gibt, und
ein nationales Waffenregister schon viel länger sinnvoll
ist, hatten diese und die Vorgängerregierung sich bisher
nicht für das Projekt erwärmen können.

Die Hoffnung, die sich mit dem Waffenregister ver-
bindet, kann aber nur erfüllt werden, wenn auch genü-
gend Verwaltungsressourcen dafür bereitstehen. Die bis-
herige Praxis krankt ja auch an Vollzugsdefiziten und
mangelnder Ausstattung der zuständigen Behörden.
Dem Lehrsatz, dass jedes Gesetz nur so gut sein kann
wie sein Vollzug, ist also dringend Rechnung zu tragen.
Das bedeutet für uns aber auch, dass bei einer Datei, die
wir inhaltlich für sehr sinnvoll halten, genauestens die
Bestimmungen des Datenschutzes einzuhalten sind, um
das Recht der Waffenbesitzer auf informationelle Selbst-
bestimmung zu schützen.

Mit der Verbindung der Daten über Waffen, über die
einschlägigen Erlaubnisse und Einschränkungen, über
den Verkauf und den Besitz entsteht mit diesem Register
so etwas wie eine Biografie jeder Waffe. So lässt sich
feststellen, wer wo welche Waffe haben darf, wo eine
Waffe sein sollte und ob eine aufgefundene Waffe legal
besessen wird. Und – ein sehr wichtiger Punkt – es lässt
sich auch erkennen, wann eine Waffe gegebenenfalls in
die Illegalität abgedriftet ist.

Aber bei aller Hoffnung, dass das Waffenregister
wirksam gegen den Missbrauch von Waffen sein kann,
dass Waffen besser kontrollierbar werden, dass der Be-
reich der illegalen Waffen zumindest ein Stück weit ein-
gedämmt werden kann: Es ist auch klar, dass dieses Re-
gister nicht die Antwort auf alle Probleme ist, die wir in
unserer Gesellschaft mit Waffen haben.

Wir müssen darüber hinaus mehr tun, auch gemein-
sam in der EU und darüber hinaus, gegen illegale Waf-
fen und ihre Verbreitung. Und wir müssen unser eigenes
Waffengesetz verbessern. Meine Fraktion hat Vor-
schläge vorgelegt, spezifisch zum Verbot kriegswaffen-
ähnlicher halbautomatischer Waffen, aber auch zur all-
gemeinen Verbesserung der Kontrolle von Waffen und
Munition.

Bei der Regulierung von Waffen geht es uns nicht um
die Drangsalierung von Schützen und Jägern. Es geht
uns nicht um Vorschriften, welches Hobby als gut und
welches als schlecht zu gelten hat. Sondern es geht da-
rum, dass Jagd und Schießsport eben mit Waffen ausge-
übt werden, die im Fall des Missbrauchs für andere töd-
lich sind. Aus der Sportwaffe kann die Mordwaffe
werden. Das ist eine einfache technische Wahrheit, und
das ist eben leider auch zu oft eine tödliche Wahrheit.
Und das rechtfertigt es, diese Waffen besonders auf-
merksam zu registrieren, zu kontrollieren und zu regle-
mentieren.

Wir wollen weitere Verbesserungen des Waffenrechts
und verbesserte Schutzmechanismen in Angriff nehmen.
Das ist der Auftrag, der an uns als Gesetzgeber von den
schrecklichen Amoktaten der letzten Jahre ausgeht. Wir
werden in einer Expertenanhörung im Innenausschuss
am 21. Mai über Beschränkungen von großkalibrigen
Waffen zu reden haben, über die getrennte Lagerung
von Munition und Waffen und auch über weitere Maß-
nahmen, die den Schutz vor mit Waffen ausgeübter Ge-
walt verbessern helfen. Auch mit dem neuen nationalen
Waffenregister bleibt also viel zu tun.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717533200

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9217, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/8987 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um Zustim-
mung. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltung? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen bei
Enthaltung der Linken.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 23 a und b

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Katja Kipping, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Aufwandsentschädigungen für kommunale
Mandatsträgerinnen und Mandatsträger so-
wie Amtsträgerinnen und Amtsträger nicht
auf Leistungen nach dem Zweiten und Zwölf-
ten Buch Sozialgesetzbuch anrechnen

– Drucksache 17/7646 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Katrin Kunert, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Keine Anrechnung von Aufwandsentschädi-
gungen für bürgerschaftliches Engagement
auf Leistungen nach dem Zweiten und Zwölf-
ten Buch Sozialgesetzbuch

– Drucksache 17/7653 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Carsten Linnemann,
Ulrich Lange, Angelika Krüger-Leißner, Pascal Kober,
Katrin Kunert und Markus Kurth.


Dr. Carsten Linnemann (CDU):
Rede ID: ID1717533300

Vorab möchte ich das Positive dieser beiden Anträge

herausstellen: In beiden wird aufgezeigt, wie groß das
bürgerliche Engagement in Deutschland ist und wie
wertvoll es für unsere Gesellschaft ist. Ich gebe den
Antragstellern auch Recht in ihrer Feststellung, dass
ehrenamtliches Engagement eine besondere Kultur der
Anerkennung und die entsprechenden Rahmenbedingun-
gen benötigt. Deutschland ist diesbezüglich auch dank
verschiedener Initiativen der CDU/CSU-Bundestags-
fraktion, die bis in das Jahr 1995 zurückreichen, bereits
gut aufgestellt. Wir haben an zahlreichen Stellschrauben
wichtige Verbesserungen erreicht, zum Beispiel bei der
Begrenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen
Vereinsvorständen und bei der Erweiterung des Unfall-
versicherungsschutzes. Auch die jetzige Regierungs-
koalition hat das Ehrenamt voll im Blick: Wie im
Koalitionsvertrag vereinbart, haben wir Ende 2010 eine
„Nationale Engagementstrategie“ auf den Weg ge-
bracht. Diese Koalition braucht sicherlich keine Nach-
hilfe in puncto Stärkung des Ehrenamtes.

Vor allem sind Vorschläge abzulehnen, die eine
unheilvolle Gleichsetzung mit einer Erwerbstätigkeit
bewirken. Bürgerliches Engagement kann keine regu-
läre Arbeit ersetzen. Es kann diejenigen, die Sozialleis-
tungen beziehen, nicht von ihrer Pflicht entbinden, alles
zu tun, um sich aus der Arbeitslosigkeit bzw. aus dem
Zustand der Hilfsbedürftigkeit zu befreien. Übersteigen
die Aufwandsentschädigungen für eine ehrenamtliche
Tätigkeit einen bestimmten Betrag, ist eine Grund-
voraussetzung zum Erhalt von Leistungen durch die So-
lidargemeinschaft nicht mehr erfüllt, nämlich die der
Hilfsbedürftigkeit. Daher ist es vom Grundsatz her rich-
tig, dass Aufwandsentschädigungen im Rahmen einer
ehrenamtlichen Tätigkeit wie Einnahmen aus Erwerbs-
tätigkeit behandelt und auf Sozialleistungen angerech-
net werden.

Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass
gerade Langzeitarbeitslose von einer ehrenamtlichen
Tätigkeit profitieren können, um den Anschluss in der
Gesellschaft nicht zu verlieren und weitere Befähigun-
gen zu erwerben. Ob als Trainer einer Fußballjugend-

mannschaft oder als Chorleiter in einem Musikverein,
diese Tätigkeiten können wertvolle Bausteine sein, um
letztlich wieder den Schritt in das Berufsleben zu schaf-
fen. Denn sie haben zwei wertvolle Eigenschaften: Sie
stärken das Selbstbewusstsein, und sie verschaffen ein
Gefühl des Gebrauchtwerdens.

Der Gesetzgeber hat diese positiven Eigenschaften
des Ehrenamtes bereits berücksichtigt, indem er den
Empfängern von Sozialleistungen einen monatlichen
Freibetrag in Höhe von 175 Euro gewährt. Dieser
Wert knüpft an das an, was für Steuerpflichtige gemäß
§ 3 EStG gilt. Damit ist in den Augen der CDU/CSU-
Fraktion die richtige Balance hergestellt: Der ehren-
amtlich Tätige erhält Anerkennung, auch in materieller
Form, und gleichzeitig bleiben die Grundsätze unseres
Sozialversicherungssystems gewahrt. Aus diesen Grün-
den werden wir die vorliegenden Anträge, die eine
völlige Abkehr von der gängigen Anrechnungspraxis
fordern, ablehnen.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1717533400

Es ist selten, dass ich eine Debatte der Linken be-

grüße; aber ihr Antrag gibt mir die Möglichkeit, die Be-
deutung und den Wert der ehrenamtlichen Tätigkeiten zu
würdigen und den vielen Millionen Menschen in unse-
rem Land für ihren Einsatz für die Anderen zu danken.

Je weiter sich unsere Gesellschaft entwickelt hat,
desto unterschiedlicher sind auch die Ausprägungsfor-
men des Ehrenamtes geworden. Das zeigen uns schon
die verschiedenen Begriffe, die das Ehrenamt umschrei-
ben. So heißt es hier Ehrenamt, dort Freiwilligenarbeit,
bürgerschaftliches Engagement oder Selbsthilfe. Dies
sind Vokabeln, die jeweils andere und eigenständige Tä-
tigkeitsfelder beschreiben. Aber eines haben sie alle ge-
meinsam: Sie beschreiben die aktive Mitwirkung von
Menschen, die unbezahlt oder nur gegen eine geringe
Aufwandsentschädigung freiwillig Aufgaben überneh-
men und Arbeiten zugunsten ihrer Mitmenschen erledi-
gen. Das Spektrum ehrenamtlicher Arbeit ist in unserer
Gesellschaft weitgefächert. Es gibt kaum einen Bereich
des alltäglichen Zusammenlebens, in dem wir ehrenamt-
liches Engagement nicht finden könnten.

Ehrenamt, das bedeutet gelebte Solidarität und Be-
reitschaft zur Übernahme von Verantwortung für den
Mitmenschen. Ohne den persönlichen Einsatz von etwa
jedem dritten Bürger der Bundesrepublik Deutschland
würde in vielen, insbesondere in sozialen Bereichen
buchstäblich das Licht ausgehen. Bei diesem bürgerli-
chem Engagement sind alle willkommen; es ist keine
Frage des Geldbeutels. Er steht selbstverständlich auch
allen Hartz-IV-Leistungsberechtigten offen. Wir freuen
uns, wenn sich Personen, die Leistungen aus dem SGB II
erhalten, für diese Gesellschaft engagieren. Dieser Ein-
satz wird dadurch gewürdigt, dass ein erhöhter monatli-
cher Freibetrag von 175 Euro im Rahmen der pauscha-
len Aufwandsentschädigung eingeräumt wird. Die
Nichtberücksichtigung als Einkommen kommt dann zur
Anwendung, wenn die gegenständlichen Leistungen mit
einer ausdrücklichen Zweckbestimmung, zum Beispiel
Fahrtkostenentschädigung, Kleidergeld, Materialkos-





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)


ten, versehen sind. Die Forderung der Linken, Auf-
wandsentschädigungen für ehrenamtliche kommunale
Mandatsträger bzw. für bürgerschaftliches Engagement
nicht auf die Grundsicherung anzurechnen, ist also in
keiner Weise gerechtfertigt.

Mit der Neufassung des SGB II im März 2011 wurde
ein wesentlicher Teil von Einnahmen aus unterschiedli-
chen freiwilligen bzw. nebenberuflichen Tätigkeiten neu
geregelt und zusammengefasst. Diese Einnahmen wur-
den systematisch richtig im Wege der Absetzbeträge pri-
vilegiert und mit einem einheitlichen Pauschbetrag ver-
sehen. Damit wird das freiwillige Engagement auch von
solchen Personen honoriert, die Leistungen der Grund-
sicherung beziehen.

Sinn und Zweck der Grundsicherung für Arbeitsu-
chende und der Sozialhilfe sind die Verringerung und
Beendigung der Hilfebedürftigkeit sowie die Sicherung
des Lebensunterhalts. Wer Einnahmen erzielt, hat diese
zur Verringerung seiner Hilfebedürftigkeit einzusetzen.
Eine Erhöhung des Absetzbetrags führt zu einem erhöh-
ten Leistungsbezug, den die Allgemeinheit zu tragen
hätte, und dies ist nicht im Sinne unserer Gesellschaft.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1717533500

Die heute zu beratenden Anträge der Fraktion Die

Linke betreffen die Frage der Anrechnungen von Auf-
wandsentschädigungen in den Rechtskreisen des SGB II,
also der Grundsicherung für Arbeitsuchende, sowie des
SGB XII, des Rechts der Sozialhilfe. Konkret geht es um
die Entschädigungen, die bei Ausübung eines Ehrenam-
tes gezahlt werden – sowohl an kommunale Amts- oder
Mandatsträger als auch für bürgerschaftliches Engage-
ment. Dieses Thema interessiert viele Menschen in unse-
rem Land. Mehr als 23 Millionen Bürgerinnen und Bür-
ger engagieren sich in unserem Land ehrenamtlich. Wir
können uns glücklich schätzen, dass sich so viele Men-
schen in unserer Gesellschaft freiwillig einbringen.
Viele Tausend Frauen und Männer in Deutschland er-
klären sich bereit, in ihren Städten und Kommunen ein
kommunales Amt oder Mandat anzunehmen und damit
ein Ehrenamt zu bekleiden.

Für eine lebendige Demokratie ist die Beteiligung der
Menschen unabdingbar. Diese Bereitschaft für bürger-
schaftliches Engagement und die Ausübung eines kom-
munalen Mandats prägt unser aller Gemeinwohl. Die
Tatsache, dass so viele Menschen auf vielfältigste Art
und Weise Verantwortung übernehmen und sich für so-
ziale, kulturelle, integrationsfördernde oder kommunal-
politische Belange einsetzen, ohne dass damit ein exis-
tenzsicherndes Einkommen verbunden ist, belegt das
hohe Maß an Gemeinsinn in unserer Gesellschaft.

Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt dies ausdrück-
lich und zollt allen ehrenamtlich Tätigen größte Aner-
kennung. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
überall in Deutschland unterstützen und fördern dieses
bürgerschaftliche Engagement. Häufig sind auch sie
selbst in ihren Kommunen ehrenamtliche Amts- oder
Mandatsträger und engagieren sich beispielsweise in
Vereinen, in der Jugendarbeit, bei Hilfsorganisationen
wie dem THW oder bei der freiwilligen Feuerwehr.

In den beiden Anträgen, die die Kolleginnen und Kol-
legen der Fraktion Die Linke eingebracht haben, geht es
darum, ob und inwieweit Aufwandsentschädigungen für
solch ein Engagement auf die Sozialleistungen wie Ar-
beitslosengeld II oder Sozialhilfe anzurechnen sind. Die
Fraktion Die Linke fordert in ihren Anträgen, die gesetz-
lichen Regelungen dahin gehend zu ändern, dass Auf-
wandsentschädigungen für ehrenamtliche kommunale
Mandatsträgertätigkeit oder für bürgerschaftliches En-
gagement generell nicht auf die Grundsicherungsleis-
tungen anzurechnen sind.

Die Forderungen klingen auf den ersten Blick gut und
nachvollziehbar, gerade angesichts der bereits erwähn-
ten großen Bereitschaft zum Ehrenamt. Aber wie so oft
bei den Anträgen der Linken trügt der erste Eindruck; die
Konsequenzen der Forderungen wurden leider nicht bis
zu Ende gedacht. Bereits nach den heute geltenden Re-
gelungen bleibt in beiden Rechtskreisen ein monatlicher
Grundfreibetrag in Höhe von 175 Euro anrechnungsfrei.
Außerdem unterbleibt eine Anrechnung grundsätzlich,
wenn ausdrücklich eine Zweckbestimmung bei der Ent-
schädigungszahlung erfolgt, zum Beispiel als Fahrkos-
tenentschädigung oder Materialkostenpauschale. Da-
rüber hinaus sind Einnahmen, die über 175 Euro
hinausgehen und nicht höher als 1 000 Euro sind, im
Rechtskreis SGB II zu 20 Prozent nicht auf die Regelbe-
darfsleistung anzurechnen.

Die Ehrenamtspauschale ist auf Initiative der SPD
ein Verhandlungserfolg im Vermittlungsausschussver-
fahren zur sogenannten Hartz-IV-Reform gewesen.
Diese Regelungen stellen im Verhältnis zu den vorange-
gangenen eine deutliche Verbesserung dar. Sie gelten
seit nunmehr gut einem Jahr und kommen allen ehren-
amtlich Tätigen zugute. Mit den Änderungen gilt der
steuerliche Freibetrag für Einnahmen aus nebenberufli-
cher Tätigkeit nach § 3 Nr. 26, 26 a oder b EStG auch für
das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld. Privilegiert
werden insbesondere die Personengruppen der Übungs-
leiter, aber auch nebenberuflich tätige Ausbilder, Erzie-
her oder Betreuer. Sind Aufwandsentschädigungen bun-
des- oder landesgesetzlich festgesetzt und als solche
auch im jeweiligen Haushaltsplan ausgewiesen, gilt
auch hier die Grenze von 175 Euro monatlich. Insoweit
gilt, dass diese Tätigkeiten künftig hinsichtlich der Pri-
vilegierung der Einnahmen wie Erwerbstätigkeiten be-
handelt werden, mit der Folge, dass bei höheren Auf-
wandsentschädigungen ebenfalls die Freibeträge nach
§11 b Abs. 3 SGB II eingeräumt werden. Höhere erfor-
derliche Aufwendungen für die Tätigkeiten können wie
bei Erwerbstätigkeiten geltend gemacht werden. Zu die-
sem Zweck haben wir durchgesetzt, dass die bisherige
Grenze von 400 Euro, ab der ein höherer Abzug geltend
gemacht werden kann, auf 175 Euro abgesenkt wird.
Diese Pauschale für das Ehrenamt gilt für die Rechts-
kreise des SGB II wie des SGB XII gleichermaßen.

Damit ist das Ehrenamt im Hinblick auf pauschal ge-
währte Aufwandsentschädigungen bereits deutlich pri-
vilegiert im Verhältnis zu den übrigen Anrechnungsrege-
lungen für Einkommen während des Bezugs von
Leistungen der Grundsicherung oder der Sozialhilfe.
Aufwandsentschädigungen dagegen generell anrech-

Zu Protokoll gegebene Reden





Angelika Krüger-Leißner


(A) (C)



(D)(B)


nungsfrei zu stellen, wie es die Fraktion Die Linke for-
dert, hätte arbeitsmarktpolitisch fatale Folgen. Im Übri-
gen liefe es auch dem Rechtsgedanken des SGB II
zuwider. Daher lehnen wir die Anträge ab.

Im Kern geht es darum, dass sich Menschen im Leis-
tungsbezug des SGB II, also der Grundsicherung für Ar-
beitsuchende, befinden und eine Aufwandsentschädi-
gung für die Ausübung eines Ehrenamtes bzw. einer
kommunalen Mandatsträgertätigkeit erhalten. Vorran-
giges Ziel des SGB II ist es, Langzeitarbeitslosigkeit zu
überwinden und ALG-II-Empfänger wieder in den Ar-
beitsmarkt zu integrieren, ohne dass sie weiterhin auf
Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind.

Der Arbeitsmarkt braucht diese Arbeitskräfte. Insbe-
sondere für die Branchen, die bereits jetzt einen Fach-
kräftemangel verzeichnen, ist die Wiedereingliederung
der erwerbsfähigen Arbeitsuchenden zum Beispiel nach
Teilnahme an Maßnahmen oder Arbeitsgelegenheiten
wichtig. Eine gänzlich anrechnungsfreie Aufwandsent-
schädigung birgt die Gefahr, dass die Aufnahme einer
sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit verhindert wird.
Das kann nicht in unserem Interesse sein. Insofern sind
die aktuell bestehenden Anrechnungsregelungen bei
Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliches Engage-
ment sachlich gerechtfertigt. Sie entsprechen der Inten-
tion des SGB II.

Die Forderung der Fraktion der Linken übersieht
auch, dass bei ihrer Umsetzung eine Ungleichbehand-
lung gegenüber Leistungsberechtigten entsteht, die Ein-
kommen aus anderen Quellen beziehen, das unverändert
der Anrechnung unterliegt. Auch deshalb sind diese An-
träge abzulehnen.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1717533600

Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen der Linken

zum Thema Anrechnung von Aufwandsentschädigungen
für bürgerliches Engagement auf Leistungen nach dem
Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, zuerst
möchte ich Sie fragen, warum es dazu zwei Anträge ge-
braucht hat. Ressourcenschonender wäre es doch gewe-
sen, beides in einen Antrag zu bringen, zumal sich die
Forderung nur in zwei Worten unterscheidet.

Aber nun zum eigentlichen Inhalt Ihrer Anträge.

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist ein staat-
liches Fürsorgesystem, das vom Nachranggrundsatz ge-
prägt ist. Dies bedeutet, dass erwerbsfähige Hilfebe-
dürftige und die mit ihnen in Bedarfsgemeinschaft
lebenden Angehörigen Leistungen der Grundsicherung
nur erhalten, wenn sie hilfebedürftig sind. Hilfebedürftig
ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräf-
ten bestreiten kann. Der Nachranggrundsatz bedeutet
aber auch, dass auf anderen Rechtsvorschriften beru-
hende Leistungen, wie zum Beispiel das Kindergeld oder
das Elterngeld, grundsätzlich Vorrang vor den Leistun-
gen nach Sozialgesetzbuch II haben und damit stets auf
das Arbeitslosengeld II angerechnet werden.

In § 11 a SGB II sind die Einkommensarten zusam-
mengefasst, die nicht oder nur teilweise berücksichtigt
werden, so unter anderem auch Entschädigungen. Auf-
wandsentschädigungen sind nur dann nicht als Einkom-
men zu berücksichtigen, wenn die erbrachten Leistun-
gen ausdrücklich einem anderen Zweck als Leistungen
nach dem SGB II dienen. So sind zum Beispiel pau-
schale Fahrtkostenentschädigungen zu werten, weil sie
der Bewältigung des Aufwandes dienen, um die Tätigkeit
auszuüben.

Das bedeutet, dass die Bestandteile einer Entschädi-
gungsleistung, die der Abgeltung des tatsächlichen Auf-
wands dienen, zu privilegieren und damit nicht anzurech-
nen sind. Hierzu zählen bei ehrenamtlichen kommunalen
Mandatsträgern unter anderem, wie beschrieben, die
Fahrtkosten, aber auch Sitzungsgelder für Plenar- oder
Ausschusssitzungen.

Werden jedoch pauschale Aufwandsentschädigungen
geleistet, dann sind diese mangels hinreichender Zweck-
bestimmung wie Einnahmen aus Erwerbstätigkeit zu be-
handeln. Der für solche Aufwandsentschädigungen zu-
erkannte Freibetrag beläuft sich auf 175 Euro pro
Monat. Diese Summe ergibt sich aus den Regelungen
des Einkommensteuergesetzes. Jedoch wird nicht der in
§ 3 Nr. 26 Einkommensteuergesetz genannte jährliche
Betrag in Höhe von 2 100 Euro anrechnungsfrei gestellt,
sondern der monatliche Anteil in Höhe von 175 Euro.
Dies ergibt sich aus der monatlichen Berechnung des
Arbeitslosengeldes II.

Ich halte diese Vorgehensweise für mit Augenmaß ge-
wählt. Die Systematik des SGB II ist nun einmal, dass
das Arbeitslosengeld II eine Nachrangleistung ist. Wäre
dies nicht so, dann hätten wir auch Probleme, bestehen-
des Vermögen zu berücksichtigen und eine Verwertung
dieser Mittel vor der Inanspruchnahme staatlicher Hil-
fen einzufordern. Dies halte ich aber aus Gründen der
Solidarität für unabdingbar. Es muss weiterhin so sein,
dass die staatliche Unterstützung und die damit verbun-
dene gesamtgesellschaftliche Solidarität der letzte Schritt
ist.

Wer beispielsweise in Bedarfsgemeinschaft mit einem
Menschen lebt, der ein hohes Vermögen hat, sollte nicht
auf Mittel der Gemeinschaft Anspruch haben, sondern
erst einmal aus seinem nächsten Umfeld Unterstützung
bekommen.

Daher muss auch Einkommen, egal aus welcher
Quelle es stammt, berücksichtigt werden. Der Aufwand,
der durch ein Ehrenamt entsteht, muss abgegolten wer-
den, das ist keine Frage und auch, wie beschrieben, Ge-
setzeslage. Wer eine Entschädigung erhält, der keine
konkreten Aufwendungen gegenüberstehen, der erhält
einen Lohn. Und dieser soll auch weiterhin angerechnet
werden, wie jedes Erwerbseinkommen auch angerechnet
wird.


Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717533700

„Ehrenamtliches Engagement braucht Anerken-

nung.“ Dieser Satz stammt aus einem Statement der
Bundeskanzlerin anlässlich des Empfangs von 200 bür-

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Kunert


(A) (C)



(D)(B)


gerschaftlich Engagierten im Bundeskanzleramt im letz-
ten Jahr, welches übrigens das Europäische Jahr der
Freiwilligentätigkeit war.

Auch hier im Hause sind wir uns alle einig, dass bür-
gerschaftlich engagierte Bürgerinnen und Bürger einen
wichtigen Beitrag zu dieser Gesellschaft leisten und
dass bürgerschaftliches Engagement Anerkennung,
Wertschätzung und Unterstützung durch Staat und Ge-
sellschaft verdient.

Blickt man allerdings auf die realen Bedingungen der
über 23 Millionen bürgerschaftlich Engagierten, muss
man feststellen, dass noch einiges im Argen liegt. Insbe-
sondere gilt dies für diejenigen bürgerschaftlich Enga-
gierten, die Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozial-
gesetzbuch erhalten, und zum Teil auch für diejenigen,
die Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetz-
buch erhalten.

Was das konkret bedeutet, möchte ich Ihnen anhand
von zwei Beispielen verdeutlichen.

Zunächst geht es um einen Ortsteilbürgermeister in
Thüringen. Dieser Bürgermeister übt sein Amt ehren-
amtlich aus und erhält eine pauschale Aufwandsent-
schädigung in Höhe von 475,50 Euro im Monat. Mit
diesem Betrag sollen die Kosten, die durch die Wahrneh-
mung seines Amtes entstehen, ausgeglichen werden. Der
Bürgermeister finanziert damit seine Bürgersprech-
stunde, Fahrten zu Terminen, die er im Rahmen seines
Amtes wahrnimmt sowie Telekommunikationsmittel und
Arbeitsmaterialien. Als ALG-II-Beziehender bekommt
dieser Bürgermeister aber einen Großteil der Aufwands-
entschädigung, nämlich 225,00 Euro auf seinen Regel-
satz angerechnet. Ihm bleiben also faktisch nur
250,50 Euro pro Monat von seiner Aufwandsentschädi-
gung.

Jetzt kann man dem Bürgermeister natürlich raten,
die Belege für sämtliche Telefonate, Fahrten, Büromate-
rialien usw. zu sammeln und beim Jobcenter einzurei-
chen, um nachzuweisen, dass die Aufwendungen für sein
Amt über den 250,50 Euro pro Monat gelegen haben.
Wer wie ich die Tätigkeit als ehrenamtliche Amts- oder
Mandatsträgerin kennt, weiß aber, dass derartige Rat-
schläge an den Bedingungen im realen Leben vorbeige-
hen. Wenn man versuchen würde, bei jeder Gesprächs-
minute am Telefon, bei jedem gefahrenen Kilometer,
jedem verbrauchten Block, jedem Bleistift usw. durch Be-
lege nachzuweisen, dass diese Dinge im Zusammenhang
mit der Amts- bzw. Mandatsausübung benutzt wurden,
entstünde ein Verwaltungsaufwand, der unverhältnismä-
ßig und in vielen Fällen praktisch kaum durchführbar
wäre. Zudem ist nicht einzusehen, dass jemand im
ALG-II-Bezug, der sich ehrenamtlich engagiert, diesen
Verwaltungsaufwand betreiben muss, während andere
Ehrenamtliche ihre Aufwandsentschädigung zwar ver-
steuern müssen, im Übrigen aber auch ohne die Vorlage
entsprechender Belege behalten dürfen.

Das Problem der Anrechnung pauschaler Aufwands-
entschädigungen betrifft allerdings nicht nur das bür-
gerschaftliche Engagement im Bereich der Kommunal-
politik. Es betrifft auch ehrenamtliche Übungsleiter in

Sportvereinen und ähnlichen Einrichtungen. Auf Nach-
frage meiner Kollegin, Frau Dr. Kirsten Tackmann, hat
die Bundesregierung erklärt, dass sich auch ehrenamt-
lich tätige Feuerwehrausbilderinnen und -ausbilder im
SGB-II-Bezug ihre pauschale Aufwandsentschädigung
auf den Regelsatz anrechnen lassen müssen. Eine Feuer-
wehrfrau aus dem Landkreis Ostprignitz/Ruppin muss
nun aufgrund der Auszahlungsweise der Aufwandsent-
schädigung sogar ALG-II-Bezüge zurückzahlen. Das ist
ungerecht und für niemanden nachvollziehbar.

Die Konsequenzen der aktuellen Rechtslage, die an-
hand der beiden genannten Beispiele deutlich werden,
müssen uns als Gesetzgeber aufhorchen lassen. Wenn die
Gewährung der Aufwandsentschädigung für ALG-II-Be-
ziehende nur nach der Erfüllung umfangreicher Nach-
weispflichten erfolgt, ist dies kaum mit der von der Bun-
deskanzlerin angemahnten Anerkennung zu vereinbaren.
Betrachtet man die aktuelle Rechtslage etwas genauer,
stellt man fest, dass hinsichtlich des Charakters von Auf-
wandsentschädigungen von einer falschen Prämisse
ausgegangen wird. Aufwandsentschädigungen sind al-
leine schon vom Wortsinn her nicht mit Einkommen aus
Erwerbsarbeit gleichzusetzen. Es soll nicht die Arbeit
vergütet, sondern eine Entschädigung für die Aufwen-
dungen, die in Rahmen der ehrenamtlichen Tätigkeit ent-
standen sind, geleistet werden. Wenn bürgerschaftlich
Engagierte im ALG-II-Bezug ihren Aufwand nicht voll-
ständig ersetzt bekommen, müssen sie diese Kosten aus
dem Regelsatz bestreiten oder ihr Engagement sein las-
sen. Diese würde aber im Ergebnis darauf hinauslaufen,
das bürgerschaftliche Engagement zu einer Frage des
Geldbeutels wird.

Die Linke fordert, dass der Zugang zum bürgerschaft-
lichen Engagement allen Menschen in diesem Land glei-
chermaßen zusteht. Bürgerschaftliches Engagement ist
Bestandteil der gesellschaftlichen Teilhabe und darf we-
der unmittelbar noch mittelbar wirkenden gesetzlichen
Hürden für bestimmte Gruppen in der Gesellschaft un-
terliegen. Es darf kein bürgerschaftliches Engagement
erster und zweiter Klasse mehr geben.

Ich fordere Sie daher auf, unseren beiden Anträgen
zuzustimmen.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717533800

Das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und

zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozial-
gesetzbuch hat unter anderem zu Änderungen beim nicht
zu berücksichtigenden Einkommen sowie bei den Ab-
setzbeträgen geführt. Dies hat auch unmittelbare Aus-
wirkungen auf die Übungsleitertätigkeit, pauschale Auf-
wandsentschädigungen – etwa für kommunale Mandats-
trägerinnen und Mandatsträger – sowie für Einkommen,
etwa aus einer Erwerbstätigkeit.

In den Verhandlungen zum Regelbedarfsermittlungs-
gesetz konnten wir Grüne zwar die Bundesregierung da-
von überzeugen, die Übungsleiterpauschale nicht zu
streichen, dennoch kommt es durch die Neuregelung nun
in bestimmten Fällen zu Verschlechterungen. Dies tritt
etwa dann ein, wenn neben der Übungsleiterpauschale
von 175 Euro monatlich gleichzeitig Einkommen aus Er-

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


werbstätigkeit, zum Beispiel aus einer geringfügigen Be-
schäftigung, erzielt werden. War es vorher etwa mög-
lich, 175 Euro Übungsleiterpauschale plus 160 Euro
aus einem 400-Euro-Minijob zu behalten – 335 Euro
insgesamt –, gilt der Grundfreibetrag von 100 Euro
künftig für beide Tätigkeiten, sodass monatlich nur noch
270 Euro behalten werden dürfen – 175 Euro plus
95 Euro; entsprechend 20 Prozent des den Freibetrag
übersteigenden Betrags von 175 Euro –.

Bei pauschalen Aufwandsentschädigungen für kom-
munale Mandatsträgerinnen und Mandatsträger sowie
Amtsträgerinnen und Amtsträger kam es zu Änderungen
dahin gehend, dass nunmehr bundesweit ein einheitli-
cher Grundfreibetrag von 175 Euro besteht und darüber
hinausgehende Entschädigungen wie Einkommen aus
Erwerbstätigkeit behandelt werden. Letztere Bezüge
werden aber gegenüber Einnahmen aus Erwerbstätig-
keit insofern privilegiert, als ein erhöhter Grundfreibe-
trag von bis zu 175 Euro monatlich eingeräumt wird.

Während es vor dem 1. April 2011 je nach Bundes-
land und Kommune möglich war, dass etwa ein Bürger-
meister im SGB-II-Bezug seine pauschale Aufwandsent-
schädigung von 500 Euro anrechnungsfrei behalten
durfte, kann er das seitdem nur noch bis zu einem Betrag
von 175 Euro. Alles, was darüber liegt, wird als Einkom-
men angerechnet. Aufwandsentschädigungen, die da-
rüber hinaus liegen, sind nur dann anrechnungsfrei,
wenn der tatsächliche Aufwand belegt wird – zum Bei-
spiel Fahrtkosten, Kleidergeld, Materialkosten –.

Art und Höhe der Aufwandsentschädigung sind in
landesgesetzlichen Satzungen festgelegt. Meist wird zwi-
schen der monatlichen Pauschale – alles inklusive –,
Grundbetrag, Sitzungsgeld und Fahrtkosten unterschie-
den. Nicht in jedem Fall indes blieb die Aufwandsent-
schädigung bis zum 1. April 2011 anrechnungsfrei.
Überstieg etwa der monatliche Grundbetrag die Summe
von 175 Euro, wurde der übersteigende Betrag ange-
rechnet, so die Bundesregierung in einer Antwort auf
eine Anfrage der Linken, Drucksache 16/9530. Zwar sei
der Bundesregierung keine unterschiedliche Handha-
bung der Grundsicherungsträger bekannt. Denkbar sei
es aber, „dass die Aufwandsentschädigungen für kom-
munale Mandatsträgerinnen und Mandatsträger unter-
schiedlich landesgesetzlich geregelt sind, sodass unter-
schiedliche Entscheidungen gerechtfertigt wären“.

Wie schon zum Antrag der Bundesregierung zur Vierten
Änderung des SGB IV – Drucksachen 17/6764, 17/7991,
17/8003 – kritisieren wir, dass Aufwandsentschädigun-
gen für kommunale Ehrenbeamte sowie für ehrenamtlich
in kommunalen Vertretungskörperschaften Tätige oder
für Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane, Versicher-
tenälteste oder Vertrauenspersonen der Sozialversiche-
rungsträger oberhalb einer Jahressumme von 2 100 Euro
als Einkommen berücksichtigt werden. Ich halte eine sol-
che Rechtsauslegung bzw. -änderung für falsch. Gerade
ehrenamtliches Engagement in der Kommunalpolitik, in
der Rechtspflege und in öffentlich-rechtlichen Körper-
schaften wie der Selbstverwaltung der Sozialversiche-
rung muss besonders anerkannt werden. Es bildet ge-

wissermaßen das Wurzelwerk der Institutionen unseres
Rechts- und Sozialstaats.

Auch aus dem Grundgesetz ließe sich eine solche Ar-
gumentation begründen. So heißt es in Art. 28: „Die ver-
fassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den
Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und
sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes
entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden
muss das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemei-
nen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wah-
len hervorgegangen ist.“


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717533900

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen

auf den Drucksachen 17/7646 und 17/7653 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind diese Überweisungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 22:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fort-
entwicklung des Meldewesens (MeldFortG)


– Drucksache 17/7746 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Helmut Brandt, Gabriele
Fograscher, Manuel Höferlin, Frank Tempel und
Wolfgang Wieland.


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1717534000

In der heutigen Debatte beschäftigen wir uns in erster

Lesung mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Fortent-
wicklung des Meldewesens.

Im Rahmen der Föderalismusreform 2006 wurde das
Meldewesen in die ausschließliche Gesetzgebungskom-
petenz des Bundes überführt. Mit dem nun vorliegenden
Gesetzentwurf macht der Bund von dieser Kompetenz
Gebrauch und führt das bislang geltende Melderechts-
rahmengesetz mit den bestehenden Meldegesetzen der
Länder in einem einheitlichen Gesetz zusammen.

Auch das Melderechtsrahmengesetz konnte zuletzt ein
Auseinanderlaufen der einzelnen Landesmeldegesetze
nicht mehr verhindern, weil die Schaffung von bundes-
weit gültigen technischen Standards im Meldewesen von
einer möglichst einheitlichen und zeitlich aufeinander
abgestimmten Umsetzung in den Ländern abhing. Es
stellte sich jedoch heraus, dass zum einen nicht alle Län-
der die Melderechtsrahmennovelle gleichzeitig in Lan-
desrecht umsetzen konnten und dass zum anderen nicht
alle Länder über die dafür notwendige technische Infra-
struktur verfügten.

Angesichts einer sich stetig wandelnden Informa-
tionsgesellschaft und zunehmend grenzüberschreitender
Bezüge bei Datenübermittlungen hat das Meldewesen
stetig an Bedeutung gewonnen. Vor diesem Hintergrund





Helmut Brandt


(A) (C)



(D)(B)


ist die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf angestrebte
Vereinheitlichung der unterschiedlichen landesrechtli-
chen Vorschriften dringend geboten.

Ziel der Vereinheitlichung ist eine verbesserte Infor-
mationsmöglichkeit der öffentlichen Stellen. Daher sieht
der Gesetzentwurf die Schaffung eines länderübergrei-
fenden Onlinezugriffs durch Behörden auf Daten vor-
handener Meldedatenbestände vor. Für Sicherheitsbe-
hörden ist länderübergreifend ein Onlinezugriff auf die
Meldedaten rund um die Uhr vorgesehen. Um den Zu-
gang zu den Meldebeständen zu erleichtern, wird den
Ländern die Möglichkeit eingeräumt, Abfrageportale zu
schaffen.

Neben der Vereinheitlichung sieht der vorliegende
Gesetzentwurf aber auch die Stärkung des Datenschut-
zes für die Bürgerinnen und Bürger vor.

In mehr als 5 200 Melderegistern werden die Daten
von rund 82 Millionen Bürgerinnen und Bürgern vorge-
halten, Daten, die die Behörden benötigen, zum Beispiel
für die Berechnung der Rente oder des Elterngeldes.
Das Meldewesen ist gleichsam das „informationelle
Rückgrat“ der Verwaltung, der Bürgerinnen und Bürger,
aber auch der Wirtschaft. Das Melderegister ist zwar in
erster Linie ein behördeninternes Register, das sowohl
dem innerdienstlichen Gebrauch der Meldebehörden
dienen als auch das Informationsinteresse anderer Be-
hörden befriedigen soll. Es hat jedoch außerdem den
Zweck, dem Informationsbedürfnis des privaten Be-
reichs, insbesondere der Wirtschaft, Rechnung zu tra-
gen. Der vorliegende Gesetzentwurf trägt diesem Infor-
mationsinteresse, aber auch dem Schutz des Einzelnen
vor einem Missbrauch seiner Daten Rechnung, indem er
das Recht des Einzelnen auf informationelle Selbstbe-
stimmung bei der Melderegisterauskunft stärkt.

Zukünftig kann jeder Bürger mittels der Onlineaus-
weisfunktion des neuen Personalausweises, der Identifi-
zierungsfunktion von De-Mail oder qualifizierter elek-
tronischer Signatur auf elektronischem Wege Folgendes
vornehmen oder beantragen: Anmeldung, Selbstaus-
kunft, Meldebestätigung und Meldeauskunft.

Im Sinne des Rechts auf informationelle Selbstbestim-
mung kommt dabei der Selbstauskunft gemäß §§ 10 ff.
des Gesetzentwurfs eine besondere Bedeutung zu. Da-
nach hat jede Person das Recht, zu erfahren, welche Da-
ten der Behörde über sie vorliegen, woher die Daten
stammen und wer die Daten erhalten hat. Eine wesentli-
che Erleichterung stellt hier die Möglichkeit eines Da-
tenabrufs im elektronischen Verfahren dar.

Leitlinie des vorliegenden Gesetzentwurfs ist neben
dem Datenschutzgesetz auch eine Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2006. Danach
darf die Meldebehörde eine einfache Melderegisteraus-
kunft nicht erteilen, wenn diese erkennbar für Zwecke
der Direktwerbung begehrt wird und der Betroffene ei-
ner Weitergabe seiner Daten für solche Zwecke zuvor
ausdrücklich widersprochen hat.

Der Abruf melderechtlicher Daten für Zwecke der
Werbung und des Adresshandels darf gemäß § 44 Abs. 4
des Gesetzentwurfs daher nur erfolgen, wenn der Zweck

im Zuge der Anfrage angegeben wurde und wenn der
Betroffene nicht zuvor widersprochen hat.

Ein weiteres erklärtes Ziel des vorliegenden Gesetz-
entwurfs ist die Reduzierung des bürokratischen Auf-
wands und der dadurch entstehenden Kosten. Durch
Vereinfachungen bei der Hotelmeldepflicht und bei mel-
derechtlichen Verpflichtungen von Krankenhäusern und
ähnlichen Einrichtungen entfallen künftig Bürokratie-
kosten für die Wirtschaft in Höhe von voraussichtlich
rund 117 Millionen Euro jährlich.

Bei der Hotelmeldepflicht wird darüber hinaus die
Aufbewahrungsfrist für die Meldescheine bundesein-
heitlich auf ein Jahr verkürzt und die bislang in Landes-
meldegesetzen vorgesehene Aushändigung an die Si-
cherheitsbehörden gestrichen.

Im Bundesmeldegesetz wird zudem, wie im Koali-
tionsvertrag vereinbart, die Mitwirkungspflicht des
Vermieters bei der Anmeldung von Mietern wieder ein-
geführt. Dies ist ein wichtiger Schritt, um Scheinanmel-
dungen, also Anmeldungen für eine bestimmte Wohnung,
ohne dass ein Bezug der Wohnung erfolgt, zu erschweren.

Der vorliegende Entwurf, der unter Einbeziehung der
Länder zustande gekommen ist, ist fachlich und politisch
zu begrüßen. Ich bin überzeugt, dass er den technischen
Herausforderungen und fachlichen Anforderungen un-
serer Zeit genügt. An der einen oder anderen Stelle be-
steht möglicherweise noch Optimierungsbedarf. Dies
werden wir im weiteren Verfahren noch einmal genau
prüfen.

Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.


Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1717534100

Die Meldegesetze in Deutschland sind bisher Landes-

gesetze. Der Bundesgesetzgeber ist bzw. war nur für ein
Melderechtsrahmengesetz zuständig. Verbindlich wur-
den Änderungen im Melderechtsrahmengesetz erst
dann, wenn sie in Landesrecht umgesetzt waren. Das
heißt, in Deutschland existieren 16 unterschiedliche
Formen von Melderegistern, die unterschiedliche Stan-
dards haben und nicht miteinander vernetzt sind. Es gibt
kommunale Melderegister und Landesmelderegister.
Dies ist weder zeitgemäß noch handhabbar. Eine mo-
derne Verwaltung sieht anders aus.

Mit Beschluss der Förderalismuskommission I ist die
alleinige Gesetzgebungskompetenz auf den Bund über-
tragen worden. Der vorliegende Gesetzentwurf soll die-
sen Beschluss von 2006 nun umsetzen.

Ziel des Gesetzentwurfs ist die Rechtseinheit im Mel-
dewesen durch bundesweit einheitliche Vorschriften und
Standards, sowohl für die mit dem Melderecht befassten
Behörden als auch für die Bürgerinnen und Bürger. Das
soll durch das Zusammenführen des Melderechtsrah-
mengesetzes mit den Landesmeldegesetzen geschehen.
Die Dienstleistungsfunktion des Meldewesens als zen-
traler Dienstleister für die Bereitstellung von Daten vor
allem für den öffentlichen Bereich wird gestärkt. Damit
soll eine bessere und effizientere Erledigung der öffent-
lichen Aufgaben ermöglicht werden.

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Fograscher


(A) (C)



(D)(B)


Um diese Ziele zu erreichen, soll aber kein zentrales
Melderegister geschaffen werden. Bereits 13 Bundeslän-
der haben zentrale Landesregisterstrukturen. Durch die-
ses Gesetz soll den Behörden des Bundes und der Länder
ein Onlinezugang zu diesen Meldedaten eröffnet wer-
den. In den Bundesländern, wo es solche Register nicht
gibt, soll den Behörden Zugang zu den Datenbeständen
auf einer unteren Ebene eröffnet werden.

Wir begrüßen es ausdrücklich, dass keine neue Bun-
desdatei errichtet wird. 2006 gab es einen Vorschlag
vom damaligen Bundesinnenminister Schäuble, ein zen-
trales Melderegister in Form einer zusätzlichen, überge-
ordneten Datei zu schaffen. Dieses Vorhaben haben wir
als SPD-Bundestagsfraktion kritisiert.

Wir hatten bereits damals dafür plädiert, dass die be-
stehenden Register der Kommunen bzw. der Bundeslän-
der vereinheitlicht, optimiert und vernetzt werden soll-
ten. Wir wollten keine übergeordnete neue Bundesdatei.
Wir wollten nicht, dass die gleichen Daten mehrmals ge-
speichert werden; denn je mehr Daten an unterschiedli-
chen Orten gespeichert werden, desto größer ist die Ge-
fahr des Datenmissbrauchs. Deshalb ist es gut und
richtig, dass der vorliegende Gesetzentwurf dieses da-
malige Vorhaben nicht weiter verfolgt, sondern auf die
vorhandenen Register zurückgreift und diese für alle Be-
rechtigten zugänglich macht.

Der Gesetzentwurf regelt zum Beispiel, dass die Mel-
depflicht in Krankenhäusern und ähnlichen Einrichtun-
gen abgeschafft werden soll. Die Personalien der dort
aufgenommenen Personen werden sowieso gespeichert,
und deshalb erübrigt sich in Zukunft die Krankenhaus-
meldepflicht. Das führt zu einer Entlastung der Bürge-
rinnen und Bürger, der Verwaltung und der Einrichtun-
gen von Bürokratiekosten.

Der Bundesrat problematisiert in seiner Stellung-
nahme die Ausnahmen von der Meldepflicht.

In § 27 Abs. 1 des Gesetzentwurfs heißt es:


(1) Eine Meldepflicht nach § 17 Absatz 1 und 2

wird nicht begründet, wenn eine Person, die für
eine Wohnung im Inland gemeldet ist, eine Gemein-
schaftsunterkunft oder eine andere dienstlich be-
reitgestellte Unterkunft bezieht, um

1. Wehrdienst nach dem Wehrpflichtgesetz zu leis-
ten,

2. Bundesfreiwilligendienst nach dem Bundesfrei-
willigengesetz zu leisten,

3. Zivildienst nach dem Zivildienstgesetz zu leis-
ten,

4. eine Dienstleistung nach dem Vierten Abschnitt
des Soldatengesetzes zu erbringen,

5. Dienst bei der Bundeswehr als Berufssoldat
oder Soldat auf Zeit zu leisten,

6. Vollzugsdienst bei der Bundes- oder der Lan-
despolizei zu leisten oder

7. als Angehörige des öffentlichen Dienstes an
Lehrgängen oder Fachstudien zur Aus- und
Fortbildung teilzunehmen.

Der Bundesrat kritisiert, dass bisher nur Wehrpflich-
tige von der Meldepflicht befreit waren, nun aber auch
Zeit- und Berufssoldaten bzw. Zeit- und Berufssoldatin-
nen, die nicht verheiratet sind oder in einer eingetrage-
nen Partnerschaft leben, ebenfalls unter diese Regelung
fallen sollen. Diese Neuregelung, so die Befürchtungen
der Bundesländer, würde für die Bundeswehrstandort-
kommunen finanzielle Einbußen bedeuten. Unberück-
sichtigt bleiben in der Stellungnahme des Bundesrates
die anderen in § 27 MeldFortG aufgeführten Ausnah-
men.

Wir teilen die Sorgen der Standortkommunen und
nehmen diese ernst. Jedoch gebe ich zu bedenken, dass
bei der Neuregelung eine Gleichstellung von ledigen
und nicht in einer Partnerschaft lebenden Soldatinnen
und Soldaten mit verheirateten oder in einer Le-
benspartnerschaft lebenden Soldatinnen und Soldaten
vorgenommen werden würde. Ob das eine finanzielle
Besserstellung für die Soldatinnen und Soldaten bedeu-
tet, hängt von den Heimat- und Standortgemeinden ab.
Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages setzt
sich für die Neuregelung, also für die Befreiung von der
Meldepflicht für Zeit- und Berufssoldatinnen und -sol-
daten, ein.

Ich gebe aber zu bedenken: Wenn wir bei der jetzigen
Meldepflicht für Bundeswehrangehörige bleiben, müsste
die Regelung auch für Angehörige des Bundesfreiwilli-
gendienstes und der Bundespolizei gelten. Eine unter-
schiedliche Behandlung dieser Berufsgruppen führt zu
neuen Ungerechtigkeiten.

In den anstehenden Ausschussberatungen sollten wir
die Vor- und Nachteile der geltenden und der vorge-
schlagenen Regelung sorgfältig diskutieren und gegen-
einander abwägen.

Ein weiteres Thema, das ich ansprechen möchte, ist
die Melderegisterauskunft. Der Gesetzentwurf regelt,
dass derjenige, der berechtigt eine Melderegisteraus-
kunft erhält, diese nur für den Zweck verwenden darf,
für den sie übermittelt wurde. Das gilt sowohl für die
einfache Melderegisterauskunft – § 44 – als auch für die
erweiterte Melderegisterauskunft – § 45 – und für die
Gruppenauskunft – § 46.

Dagegen haben sich mehrere Verbände wie der Bun-
desverband Deutscher Inkassounternehmen gewandt.
Sie beklagen, dass so die Nutzung der Daten für mehrere
Geschäftsvorgänge nicht möglich sei und auch die Wei-
tergabe an Dritte verhindert werde.

Was die Nutzung der Daten für mehrere Geschäfts-
vorgänge angeht, sollten wir überlegen, hier eine Lö-
sung zu finden, die den Interessen der Unternehmen ent-
gegenkommt, aber den Datenschutz nicht aufweicht.

Eine Weitergabe der Meldedaten an Dritte kommt für
uns nicht infrage und ist auch nicht erforderlich. Wir
wollen keine privaten Datenpools oder Schattenmelde-
register. Damit wäre der Datenschutz nicht mehr garan-

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Fograscher


(A) (C)



(D)(B)


tiert, und Auskunftssperren könnten unterlaufen werden.
Auch wenn die betroffenen Verbände und Unternehmen
beklagen, dass so Mehrkosten für sie entstehen würden,
so kann dieser unternehmerische Mehraufwand nicht
zulasten des Datenschutzes gehen.

Der Regierungsentwurf ist eine gute Beratungs-
grundlage. Über die Fragen, die noch zu beantworten
sind, werden wir in den anstehenden Ausschussberatun-
gen diskutieren und entscheiden.


Manuel Höferlin (FDP):
Rede ID: ID1717534200

Heute beraten wir in erster Lesung den Entwurf eines

Gesetzes zur Fortentwicklung des Meldewesens. Eine
Reform des Meldewesens ist schon lange überfällig und
erstmals haben wir eine bundeseinheitliche Lösung, die
das bisherige Rahmengesetz ablöst. Aufgrund der Föde-
ralismusreform I wird das Melderechtsrahmengesetz mit
den Landesgesetzen in einem Bundesmeldegesetz zu-
sammengeführt.

Die vorhandene, historische, föderale Struktur der
Meldebehörden kann in dieser Form nicht befriedigend
die Herausforderungen moderner Informationstechno-
logie stemmen. Zwar müssten Änderungen des Melde-
rechtsrahmengesetzes von den Ländern umgesetzt
werden, das Rahmengesetz liefert hier aber nicht hinrei-
chend festen Grund, auf dem eine IT-Infrastruktur ge-
baut werden muss. Damit eine Zusammenarbeit in der
digitalen Welt auch über den Tellerrand der eigenen
Kommune hinaus funktionieren kann, muss ein einheitli-
ches Regelwerk geschaffen werden.

Bisher verlief die Umstellung auf neue Kommunika-
tionstechnologien schleppend und von Bundesland zu
Bundesland unterschiedlich. Meldebehörden waren
nicht einheitlich mit Hardware ausgestattet und die In-
frastruktur war uneinheitlich. Vor allem durch verschie-
dene Schnittstellen und Softwarelösungen war oft schon
an der Landesgrenze oder schon auf kommunaler Ebene
Schluss. Deshalb sind bundesweit gültige technische
Standards im Meldewesen so wichtig. Das neue Melde-
gesetz ist ein wichtiger Baustein dazu.

Was wäre denn die Alternative? Es bliebe doch nur
die analoge Führung der Melderegister mit Akten und
Papier, um Informationen über Ländergrenzen hinweg
zu übermitteln! Wenn das die beste Lösung ist und die
höchste Kunst darstellen soll, na dann: Gute Nacht!
Diesen Zustand kann heute, im Jahre 2012, keiner ernst-
haft wollen! Die digitale Welt ist bis in die Mitte der Ge-
sellschaft vorgedrungen. Der Bundestag hat die En-
quete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“
eingesetzt und berät dort über die Welt von morgen und
den Stand der Technik. Wir wollen eGovernment! Ver-
waltungsmodernisierung steht auf unseren Fahnen. Ein
effizienter und damit auch möglichst schlanker Staat ist
unser Ziel. Verwaltungsmodernisierung ist auf der poli-
tischen Agenda weit oben. Diesen umfassenden Prozess
fördern wir mit dem neuen Meldegesetz.

Mit der Föderalismusreform I haben wir die Mög-
lichkeiten für eine besser abgestimmte Umsetzung ge-
schaffen, die ein modernes, maßgeschneidertes Melde-

wesen ermöglicht. Dabei haben wir auch die Situation
der Länder berücksichtigt, die natürlich nicht einheit-
lich über dieselbe Infrastruktur verfügen. Insbesondere
haben wir uns bewusst gegen ein neues Daten-Kraken-
Monster entschieden, das im Gewand eines einzigen
großen Bundesmelderegisters daherkommt. Das ist die
konsequente Haltung der FDP-Fraktion im Bundestag.
Wir stehen ein für diese dezentrale, föderale Lösung. Sie
ist nicht zuletzt auch aus IT-Sicherheitsgründen der
richtige Ansatz.

Nun kommen mit dem Bundesmeldegesetz erstmals
rechtseinheitliche deutschlandweite Vorschriften für die
Bürgerinnen und Bürger sowie für die zuständigen Be-
hörden. Damit ist der Weg für ein modernes Meldewesen
geebnet, das sich mit den Jahren zum unerlässlichen
Werkzeug für alle Verwaltungsbereiche entwickelt hat.
Nicht zuletzt die Bürger profitieren von einem funktio-
nierenden modernen Meldewesen. Alle haben etwas da-
von, dass die Vereinheitlichung der Rechtsgrundlagen
die Verwaltung effizienter macht.

Der Zugang zu Meldedaten kommt langsam in der di-
gitalen Welt an. Heute haben wir in dreizehn Bundeslän-
dern zentrale Registerstrukturen auf Landesebene mit
guten Ansätzen für Onlinezugänge. In den übrigen Län-
dern muss dafür, zumindest vorerst, bei den kommunalen
Melderegistern angesetzt werden. Wir sind auf dem rich-
tigen Weg. Nur ein einheitliches Melderecht kann auch
der Verwaltungsmodernisierung gerecht werden und
sich den Anforderungen der vernetzten Welt stellen.
Diese Umstellung führt unterm Strich für die Wirtschaft
zu einer Entlastung von Bürokratiekosten von rund
117,1 Millionen Euro jährlich. Das ist in jetzigen Zeiten
ein nicht zu verachtender Betrag.

Von den vielen kleinen Anpassungen und Änderungen
im Vergleich zum bestehenden Melderechtsrahmenge-
setz möchte ich eine besonders hervorheben. Melde-
pflichtige sollen sich wieder die Unterschrift des Woh-
nungsgebers holen, wenn sie umziehen. Damit sollen
Vermieter auch eine realistische Chance haben, zu er-
fahren, wer überhaupt bei ihnen wohnt oder angeblich
wohnen soll. In der Vergangenheit hat dies gerade in
größeren Städten zu unnötigen Konflikten und aberwitzi-
gen Situationen geführt. Wenn das SEK bei mir im
Wohnzimmer steht, weil eine polizeilich gesuchte Person
sich eben einmal so unter meiner Anschrift gemeldet hat,
ist die kleine Hürde der Unterschrift nun wirklich zu ver-
nachlässigen.

Nach dieser ersten Lesung heute sind wir in unserer
Aufgabe als Parlamentarier gefordert, vereinzelt Fra-
gen zu beantworten, die der Entwurf möglicherweise of-
fenlässt. Wir arbeiten an der Feinjustierung des Ent-
wurfs. Auf die Diskussionen im Ausschuss freue ich mich
schon.


Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717534300

Manchmal lohnt es sich doch, die Geschichte von Ge-

setzentwürfen genauer anzusehen. Nicht immer, viel-
leicht sogar nie, ist das, was im Laufe der Verfahren her-
ausgenommen wird, auch wirklich weg. Für diesen
Entwurf heißt das: Wer ursprünglich – und das immer

Zu Protokoll gegebene Reden





Frank Tempel


(A) (C)



(D)(B)


wieder – ein zentrales Melderegister gefordert und dazu
sogar mit Überlegungen zu einheitlichen Identifikations-
nummern geliebäugelt hat, der ist davon nicht grundsätz-
lich abgerückt, nur weil es im Wortlaut des jeweils ak-
tuellen Entwurfs nicht mehr auftaucht. Die Linke bleibt
dabei: Auch miteinander verknüpfte dezentrale Meldere-
gister dürfen nicht zu einer solchen Identifikationsnum-
mer führen, mit deren Hilfe sich dann eine praktisch un-
begrenzte Zahl von Dateien außerhalb des Meldewesens
verknüpfen ließe.

Mit dem jetzt vorliegenden Gesetz soll das Melde-
recht in Deutschland vereinheitlicht werden. Ein zentra-
les Melderegister wird damit nicht eingeführt, wohl aber
der automatisierte Zugriff auf die 5 200 Melderegister
ermöglicht. Angesichts der technischen Entwicklung ist
das fast so gut wie ein Zentralregister. Umso schärfer
wären deshalb Umfang der erfassten Daten, Zweckbin-
dung bei Abruf bzw. Weitergabe und Zugriffsberechtigte
zu prüfen.

Im Gegensatz zu den Forderungen des Bundes- und
der Landesdatenschützer werden aber die Datensätze
bzw. die erfassten Daten keineswegs auf ihre Kernaufga-
ben reduziert. Mit diesen sollten ursprünglich die Iden-
tität und der Wohnsitz der Einwohner festzustellen und
zu registrieren sein – mehr nicht. Mehr ist heute immer
noch nicht nötig. Bemerkenswert ist an dieser Stelle Fol-
gendes: Während Sie in Ihrem Gesetzentwurf bei den
Datensätzen zu wenig reduzieren wollen, können Sie das
andererseits bei den Auskunftsrechten der Betroffenen
ziemlich gut. Hier wird plötzlich und bezeichnender-
weise über die Datenverwendung und bei den Ein-
spruchsmöglichkeiten nicht in erforderlichem Umfang
auf deren Erweiterung gesetzt.

Gar nicht zu akzeptieren ist es, dass nach Ihren Plä-
nen für öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften
die Meldebehörden als regelrechte Serviceeinrichtungen
fungieren sollen, die auch die Daten der Angehörigen,
die nicht Mitglied der entsprechenden Religionsgemein-
schaft sind, übermitteln dürfen. Gruppenauskünfte sol-
len erteilt werden können mit mehr als 14 Grunddaten;
das dabei zu berücksichtigende Interesse wird bei Wis-
senschaft und Forschung sowie der Gesundheitsvor-
sorge offensichtlich grundsätzlich vorausgesetzt.

Wenn man sich ihren Gesetzentwurf genauer an-
schaut, muss man feststellen, dass offensichtlich auch
längst nicht alle Forderungen der Datenschützer umge-
setzt wurden. Forderungen aus den Reihen der wirt-
schaftlichen Nutzer der Meldedaten lassen zudem be-
fürchten, dass hier im Laufe der parlamentarischen
Beratung noch nachgelegt werden soll. Das lässt zumin-
dest eine Stellungnahme des Verbandes der Anbieter von
Telekommunikations- und Mehrwertdiensten e. V. ah-
nen, die sich gegen die restriktive Zweckbindung bei der
Melderegisterauskunft ausspricht. Ihr Ziel: Eine auto-
matisierte Bonitätsprüfung bei Vertragsabschlüssen,
zum Beispiel beim Abschluss von DSL-Verträgen oder
Ähnlichem, soll jederzeit möglich sein. Im Verlauf der
parlamentarischen Debatte wird deshalb sehr genau zu
untersuchen sein, wie weit die vom Bundesdatenschutz-
beauftragten Schaar noch in Bezug auf einen Vorläufer-

entwurf eingeforderten Ziele annähernd konkret erfasst
sind. Ich erinnere Sie an dieser Stelle gerne noch einmal
daran, was der Bundesdatenschutzbeauftragte als Krite-
rien bei der Fortentwicklung des Meldewesens formu-
liert hat: Beschränkung der Aufgaben der Meldebehör-
den auf den Identitätsnachweis, schlanker, gesetzlich
festgelegter Merkmalskatalog, strenge Zweckbindung
der über die Grunddaten hinausgehenden Angaben, ge-
setzlich festgelegte Betroffenenrechte: gebührenfreie
Auskunft, Berichtigung, Löschung, Unterrichtung über
die Erteilung sogenannter erweiterter Auskünfte, Über-
mittlungs- und Auskunftssperren.

Der Bundestag hat auch zu prüfen, ob dies in der von
allen Fraktionen gemeinsam verabschiedeten Be-
schlussempfehlung zum 22. BfDI-Bericht ernsthaft be-
achtet worden ist, in der es unter Punkt 14 heißt: „In je-
dem Fall muss das Melderecht grundsätzlich auf seine
Kernfunktionen beschränkt werden. Die bisherige Pra-
xis der listenmäßigen Übermittlung von Einwohnerda-
ten an Dritte sollte überprüft werden.“

Angesichts der von der Bundesregierung und ihrer
Vorgängerin kostenträchtig in den Sand gesetzten Groß-
projekte wie ELENA und elektronische Gesundheits-
karte muss auch die Frage nach den in diesem Gesetz-
entwurf gemachten Einsparungsversprechen genauer
untersucht werden. Auf den ersten Blick macht ja schon
stutzig, dass die versprochenen Einsparungen vom Vor-
läufer des heutigen Gesetzes, einem Referentenentwurf
aus dem Jahre 2008, in etwa denen entsprechen, die
heute erreicht werden sollen. In dem damaligen Referen-
tenentwurf war zu lesen, dass „die Saldierung erwarte-
ter Mehrkosten und erwarteter Kostenreduzierungen zu
einer Bürokratiekostenentlastung von rund 119,4 Millio-
nen Euro“ führen werde. Heute heißt es: „Die Saldie-
rung erwarteter Mehrkosten und erwarteter Kostenre-
duzierungen führt vor diesem Hintergrund für die
Wirtschaft zu einer Entlastung von Bürokratiekosten von
rund 117,1 Millionen Euro jährlich.“ Interessant ist die
Frage, wo die 2 Millionen Euro geblieben sind.

Damals wurde mit dieser Rechnung ausdrücklich für
ein Bundeszentralregister geworben – also für das, was
mit dem heutigen Entwurf gerade nicht angestrebt
wird –, und doch bewegen sich die Einsparungen in der-
selben Höhe. Erinnert sei an die Auseinandersetzungen
um die Einsparungen bzw. die tatsächlichen Mehrkosten
bei ELENA. Die Berechnungen der Bundesregierung
und die Berechnung des Städte- und Gemeindetages dif-
ferierten um zig Millionen Euro. Am Ende hatte sich ein-
mal mehr die Bundesregierung verrechnet. Wie bei
ELENA muss auch bei diesem IT-Großprojekt noch ge-
nauestens geprüft werden, ob nicht die Kosten der öf-
fentlichen Hand und die Einsparungen der Wirtschaft
bloße Propaganda sind.

Die Hoffnung der Bundesregierung, dass wir „Mit ei-
nem einheitlichen Melderecht … das Meldewesen als
,informationelles Rückgrat‘ für die Verwaltung, Wirt-
schaft und die Bürgerinnen und Bürger stärken“ wer-
den, muss unserer Meinung nach also als ernste Dro-
hung aufgefasst werden.

Zu Protokoll gegebene Reden






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Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717534400

Die Föderalismuskommission I hat schon vor sechs

Jahren den Weg eröffnet und das Meldewesen zur Ge-
setzgebungskompetenz des Bundes gemacht. Wolfgang
Schäuble brachte es als damaliger Bundesinnenminister
nur zu einem ersten Referentenentwurf. Nun soll es also
tatsächlich ein Bundesmeldegesetz geben.

Über Sinn und Unsinn eines bundesweit vollständig
einheitlichen Melderegisters mag man debattieren, ob
das mit diesem Gesetz effektiver gelingt als mit dem al-
ten Rahmengesetz ebenso. Es ist ja schon erfreulich,
dass man, wie noch bei Herrn Schäuble, nicht auch
gleich noch die biometrische Vollerfassung mit geregelt
hat. Aber ob nun Bundes- oder Landesrecht, die Fragen
beim Melderecht bleiben die gleichen: Was wird gespei-
chert? Wer hat Zugang? An wen darf weitergegeben
werden? Wie steht es um die Sicherung der Daten?

Die Daten, die gespeichert werden, sind – bis auf den
Doktortitel, dazu komme ich später – die üblichen; da
gibt es nichts auszusetzen.

Schon schwieriger ist die Frage des Zugangs zu den
Meldedaten, insbesondere des gewerbsmäßigen Zu-
gangs. Es gilt, die Balance zu finden zwischen der Erfül-
lung legitimer Auskunftsbegehren, etwa im Rahmen der
Melderegisterauskunft auf der einen Seite und dem
Schutz der individuellen Daten auf der anderen Seite. Im
Rahmen des europäischen Projekts RISER wurden und
werden hierzu entsprechende Verfahren entwickelt. Wir
werden im weiteren Verfahren prüfen müssen, ob hier
die Grenzen richtig gezogen sind, ob der Wunsch nach
Schutz der eigenen Daten in das richtige Verhältnis zu
den berechtigten Interessen Dritter gesetzt wurde. Eng
damit in Zusammenhang steht die Frage der Mittei-
lungspflichten der Meldebehörden an eine Person, wenn
ihre Daten weitergegeben wurden. Ebenso eng damit
verbunden ist die Frage nach den Bedingungen für eine
Auskunftssperre. Alles dies ist zu prüfen, um den Anfor-
derungen des Datenschutzes und der informationellen
Selbstbestimmung Rechnung zu tragen.

Besonderes Augenmerk verdient auch die Frage nach
der Datensicherheit. Es wird bisher zwar nur angedeutet,
dass dieses Meldegesetz auch als Grundlage für eine
elektronische Auskunft dienen soll; aber wenn dem so ist,
dann müssen alle Speicherungs- und Weitergaberegelun-
gen auch daraufhin geprüft werden, ob etwa der Zugang
zu Registerauskünften per Internet auch zu höheren Hür-
den oder besonderen Restriktionen führen muss. Außer-
dem ist auf hohe technische Sicherungsstandards zu ach-
ten. In der Vergangenheit gab es genügend Fälle, in
denen öffentlich geführte Daten durch technische Unzu-
länglichkeiten oder nicht sachgemäße Bedienung der
entsprechenden Technik offen zugänglich wurden.

Zum Grundsätzlichen und Allgemeinen kommt noch
eine wichtige Einzelheit: der Doktorgrad. Warum die
Bundesregierung immer noch daran festhält, ihn – nicht
aber einen Professorentitel oder auch andere Berufsbe-
zeichnungen oder Bildungsabschlüsse – in Melderegis-
ter, Personalausweis und Reisepass aufzunehmen, bleibt
ihr Geheimnis. Im Pass steht er, entgegen allen interna-
tionalen Usancen und mit entsprechender Irritation bei

nicht wenigen ausländischen Einreisekontrolleuren und
Zollbeamten. Wir sagen schon lange: Das ist überflüs-
sig; der Doktorgrad trägt zur Identifikation der Person
nicht bei, und hilft auch sonst nicht bei der Erfüllung ei-
nes erkennbaren Zwecks des Meldegesetzes. Was man
nicht braucht soll man aber auch nicht speichern. – Wir
werden, wie bei Pass und Personalausweis, also auch
hier einen entsprechenden Antrag vorlegen, wonach der
Doktorgrad aus der Meldekartei zu streichen ist.

Ich fürchte, wir werden in den nächsten Wochen noch
umfangreiche Diskussionen erleben, die erheblich von
spezifischen wirtschaftlichen Interessen an Daten ge-
prägt sind. Wir werden alles daransetzen, dass Daten-
schutz und informationelle Selbstbestimmung nicht aufs
Spiel gesetzt werden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717534500

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/7746 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Damit ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 25:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet
Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Flughafenasylverfahren abschaffen

– Drucksache 17/9174 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Helmut Brandt, Rüdiger
Veit, Hartfrid Wolff, Annette Groth, Josef Philip
Winkler.


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1717534600

In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die

Grünen die Abschaffung des Flughafenasylverfahrens
gemäß § 18 a Asylverfahrensgesetz. Begründet wird der
Antrag damit, dass sich seit der Einführung des Flugha-
fenverfahrens die tatsächlichen Verhältnisse durch einen
Rückgang der Personen, die in einem Flughafenverfah-
ren um Asyl nachsuchen, erheblich verändert hätten.
Insbesondere vor diesem Hintergrund sei eine „Frei-
heitsentziehung“, gesprochen wird auch von „Inhaftie-
rung“, nicht mehr zeitgemäß. Schon die Begriffe „Frei-
heitsentziehung“ und „Inhaftierung“ in Zusammenhang
mit dem Flughafenasylverfahren sind unangemessen
und obendrein juristisch falsch und dienen ausschließ-
lich der Stimmungsmache.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Ent-
scheidung vom 14. Mai 1996 festgestellt, dass das Flug-
hafenasylverfahren verfassungsgemäß ist und dass die
für die Dauer des Asylverfahrens auf maximal 19 Tage





Helmut Brandt


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(D)(B)


befristete Unterbringung im Transitbereich weder eine
Freiheitsentziehung noch eine Freiheitsbeschränkung
im rechtlichen Sinne darstellt. Zu Recht: Das Grund-
recht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG schützt die im Rah-
men der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gege-
bene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor
staatlichen Eingriffen. Sein Gewährleistungsinhalt um-
fasst von vornherein nicht die Befugnis, sich unbegrenzt
überall aufhalten und überallhin bewegen zu dürfen.
Demgemäß liegt eine Freiheitsbeschränkung nur vor,
wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen
Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum auf-
zusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich
– tatsächlich und rechtlich – zugänglich ist. Das ist hier
aber gerade nicht der Fall. Jeder Staat ist berechtigt,
den freien Zutritt zu seinem Gebiet zu begrenzen und für
Ausländer die Kriterien festzulegen, die überhaupt erst
zum Zutritt auf das Staatsgebiet berechtigen.

Diese Kriterien hat der Gesetzgeber unter anderem in
Form des § 18 a Asylverfahrensgesetz bestimmt. Er hat
damals darauf reagiert, dass Asyl nicht nur massenhaft
beantragt wurde, sondern insbesondere weithin – und
das nach wie vor – ungerechtfertigt zum asylfremden
Zweck der Einwanderung begehrt wird. Dabei hat er
diejenigen Ausländer in § 18 a Asylverfahrensgesetz
einbezogen, die entweder aus einem sicheren Herkunfts-
staat kommen oder sich nicht mit einem gültigen Pass
oder Passersatz ausweisen können und den Versuch un-
ternehmen, auf dem Luftweg in die Bundesrepublik
Deutschland zu gelangen.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schreibt hierzu
in ihrem Antrag: „Dies führt dazu, dass Personen, die
mangels gültiger Reisedokumente auch nicht freiwillig
ausreisen können, teils über Wochen und Monate fak-
tisch inhaftiert sind.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen
von Bündnis 90/Die Grünen: Woran liegt es denn, dass
diese Personen keine gültigen Reisepapiere haben? Ich
sage Ihnen, woran das liegt. Tatsächlich ist es so, dass
immer wieder Menschen, die in Europa Asyl beantra-
gen, sich gezielt vor ihrer Einreise ihrer Papiere entledi-
gen, weil sie nämlich genau wissen, dass wir sie nicht
zurückschicken können, bis – in einem oftmals langwie-
rigen Verfahren – Herkunftsland und Identität nachge-
wiesen sind. Im Klartext: Diese Situation wird von den
illegal Einreisenden bewusst und gezielt herbeigeführt.
Aus eben diesem Grund werden meine Kollegen und ich
von der Union an dem Flughafenverfahren gemäß § 18 a
Asylverfahrensgesetz trotz zwischenzeitlich gesunkener
Asylbewerberzahlen festhalten.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/
Die Grünen, Sie wissen selbst, dass es sich bei den Per-
sonen, die hier am Flughafen ankommen und Asyl be-
gehren, häufig um Personen handelt, die aus sicheren
Drittstaaten kommen oder die bewusst ohne gültige Aus-
weispapiere kommen und die von Schlepperbanden nach
Deutschland geschleust werden. Einmal eingereist, mel-
den sich nur wenige bei den deutschen Behörden; sie
tauchen unter. Deshalb brauchen wir das Flughafenver-
fahren. Denn nur das Flughafenverfahren bietet die Ge-
währ dafür, dass Personen nach einer Ablehnung ihres
Asylantrags unverzüglich – unter Ausnutzung von Rück-

transportverpflichtungen der Fluggesellschaften und
völkerrechtlichen Rücknahmepflichten der Abflug- oder
Herkunftsstaaten – in den Staat des Abflughafens zu-
rückgeführt werden, aber eben nur, wenn das Asylver-
fahren vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutsch-
land durchgeführt wird. Die aus § 18 a Asylver-
fahrensgesetz folgende Einschränkung der Bewegungs-
freiheit kann deshalb nicht unserem Land angelastet
werden.

Abgesehen davon finde ich es keineswegs humaner,
diese Menschen erst einreisen zu lassen, um sie dann mit
sehr hoher Wahrscheinlichkeit erst nach einer langwie-
rigen Feststellung ihrer Identität und der weiteren Fest-
stellung, dass sie aus einem sicheren Herkunftsland
kommen, Monate später wieder zurückzuführen. Gerade
vor diesem Hintergrund ist das Flughafenverfahren in
meinen Augen auch unabhängig davon, ob Asylbewer-
berzahlen sinken oder steigen, notwendig und richtig.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von Bündnis 90/
Die Grünen, hier von „Inhaftierung“ sprechen, ist das
nicht nur unangemessen, sondern auch verantwortungs-
los; denn Sie schüren Emotionen in einer Debatte, die
wir sachgerecht führen sollten.

Das Asylrecht für politisch Verfolgte ist bei uns
grundgesetzlich verankert. Wirklich politisch Verfolgten
werden wir weiterhin Schutz und Zuflucht gewähren.
Ziel sollte es aber auch bleiben, eine unberechtigte Be-
rufung auf das Asylrecht zu verhindern und diejenigen
Ausländer von einem langwierigen Asylverfahren auszu-
schließen, die unseres Schutzes nicht bedürfen, weil sie
offensichtlich nicht oder nicht mehr aktuell politisch
verfolgt sind. Denn Asylpolitik ist keine Politik des Au-
genblicks, sondern muss langfristig angelegt werden.
Sie muss sich immer wieder – auch kurzfristig – auf
schwierige weltpolitische Ereignisse und Gegebenheiten
einstellen und sich auch und gerade dann bewähren.
Eine Lockerung der derzeitigen Regelung in Form des
§ 18 a Asylverfahrensgesetz, die sich über Jahre be-
währt hat, wird es deswegen mit uns nicht geben.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von Bünd-
nis 90/Die Grünen, von 1998 bis 2005 hatten Sie unter
einem SPD-Bundesinnenminister Otto Schily und einem
Vizekanzler und Bundesaußenminister Joschka Fischer
von den Grünen sieben Jahre Zeit, das Flughafenasyl-
verfahren abzuschaffen – sieben Jahre! Sie haben es
aber nicht abgeschafft. Eine durch den damaligen Bun-
desinnenminister Otto Schily eingesetzte Arbeitsgruppe
hat das Flughafenasylverfahren gerade auf seine Ver-
hältnismäßigkeit hin untersucht. Im Ergebnis hat Herr
Schily und haben in der Folge auch Sie am Flughafen-
verfahren zu Recht festgehalten. Ich bin mir sicher, Sie
wussten, warum. Ihren Antrag lehnen wir ab.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1717534700

Als Gegner des sogenannten Asylkompromisses, des-

sen Folge nicht nur die Einführung des Art. 16 a Grund-
gesetz war, sondern eben auch die Schaffung des Flug-
hafenasylverfahrens, war ich immer auch ein Gegner
dieses Verfahrens und bin es im Grunde immer noch.

Zu Protokoll gegebene Reden





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)


Bei Einführung des Flughafenverfahrens 1993 waren
die Unterbringungsmöglichkeiten an den Flughäfen ka-
tastrophal und die vom Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge innerhalb von 48 Stunden zu treffenden Ent-
scheidungen häufig fehlerhaft. Vor allem dank des auch
sehr öffentlichkeitswirksamen Einsatzes vieler NGOs
hat sich die Durchführung des Verfahrens heute deutlich
verbessert. Auch der Standard der Unterbringungssitua-
tion ist erheblich angehoben geworden. Ich selbst habe
mich von Beginn des Neubaus der Unterbringungsmög-
lichkeiten für Flüchtlinge in der Cargo-City Süd des
Frankfurter Flughafens an immer wieder persönlich von
den Fortschritten überzeugt. Wenn ich Bedenken an der
Ausführung hatte – was in einigen Fällen so war –, habe
ich mich schriftlich an das Innenministerium gewandt.

Das Flughafenasylverfahren wurde zu einer Zeit ge-
schaffen, als in Deutschland über 400 000 Asylanträge
jährlich gestellt wurden. Seither sind die Zahlen immer
weiter zurückgegangen. 2009 waren laut Statistik des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge insgesamt
435 Personen im Flughafenverfahren gemeldet, 2010
waren es 736 und 2011 waren es 819. Auch wenn die
Tendenz in den letzten drei Jahren leicht steigend ist, so
sind diese Zahlen insgesamt immer noch sehr niedrig.

Es ist also vollkommen berechtigt, nachzufragen, ob
ein Verfahren, das einen derart geringen Anwendungs-
bereich hat, weiter sinnvoll und zweckmäßig ist, auch
angesichts der Kosten, die die Bereitstellung der Unter-
bringungsfazilitäten und des Personals verursachen.
Vor diesem Hintergrund habe ich Bedenken, ob es wirk-
lich notwendig ist, im neuen Flughafen Berlin Branden-
burg eine Unterbringungseinrichtung für im Durch-
schnitt 30 Asylsuchende zu schaffen. Aus der Antwort
der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Frak-
tion Die Linke geht hervor, das die Bundesregierung mit
durchschnittlich 300 Flüchtlingen pro Jahr auf dem
Flughafen Berlin Brandenburg rechnet. Mir erscheinen
diese Zahlen überzogen: 2011 lagen für Berlin zwölf
Meldungen vor.

Über Asylersuche im Flughafenverfahren muss inner-
halb von 48 Stunden entschieden werden. Daran hält
sich das Bundesamt auch. Gegen eine negative Ent-
scheidung kann innerhalb von drei Tagen vorläufiger
Rechtsschutz beantragt werden. Über diesen Antrag
wird in einem Eilverfahren ohne mündliche Verhandlung
innerhalb von 14 Tagen entschieden. Das Verfahren soll
also insgesamt nicht länger als maximal 19 Tage dau-
ern.

Durch Rechtsänderungen im Jahr 2007 ist es aus-
drücklich ermöglicht worden, zurückgewiesene Perso-
nen im Transitbereich des Flughafens festzuhalten, bis
die Ausreise aus der Bundesrepublik möglich ist; aller-
dings nur bis spätestens 30 Tage nach Ankunft am Flug-
hafen. Danach bedarf es zur weiteren Aufrechterhaltung
der Zurückweisungshaft einer richterlichen Anordnung.
Diese Haft kann für eine Dauer von bis zu sechs Mona-
ten angeordnet werden. In Fällen, in denen der Auslän-
der seine Abschiebung verhindert, kann sie um höchs-
tens zwölf Monate verlängert werden.

Die zum Teil längeren Verweildauern im Flughafen-
verfahren ergeben sich also aus der Dauer des Aufent-
halts bis zur Zurückweisung oder bis zur Einreise in die
Bundesrepublik. 2011 wurde allerdings zum Beispiel nur
eine Person sechs Monate bis zur Einreise in die Bun-
desrepublik Deutschland auf dem Flughafen Frankfurt
festgehalten; bis zur Zurückschiebung waren es in zwei
Fällen sechs bzw. sieben Monate.

Das ist meiner Ansicht nach eine zu lange Zeit in haft-
ähnlichen Bedingungen für einen Menschen, der nichts
verbrochen, sondern um Asyl nachgesucht hat. Aller-
dings ist das Zahlenmaterial nicht gerade erdrückend.

Und das Problem liegt eher oder zumindest doch
auch bei den allgemeinen Regeln der Abschiebehaft. Die
diesbezüglichen Regelungen des Aufenthaltsgesetzes
müssen insbesondere auf ihre Vereinbarkeit mit der
Rückführungsrichtlinie (2008/115 EG) und der Asylver-
fahrensrichtlinie (2005/85/EG), in der es in Art. 18 heißt:
„Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein
deshalb in Gewahrsam, weil sie ein Asylbewerber ist“,
überprüft werden. Darauf sollten wir unser Augenmerk
richten, und das werden wir in meiner Fraktion auch tun
und dann konkrete Vorschläge für eine Verbesserung der
Situation machen.

Im Flughafenverfahren landen natürlich auch Perso-
nen, die in Anwendung der Dublin-II-Verordnung ohne
weitere Prüfung der Asylgründe in das sichere Erstauf-
nahmeland zurückgeführt werden. § 34 a Asylverfah-
rensgesetz schließt in solchen Fällen einen einstweiligen
Rechtsschutz aus – wobei demgegenüber der Europäi-
sche Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 21. De-
zember 2011 auch bei Dublin-Überstellungen die Mög-
lichkeit eines einstweiligen Rechtsschutzes verlangt.
Hier muss sich etwas ändern, das ist auch unsere Mei-
nung. Allerdings bedarf es auch hier eher einer Ände-
rung des Dublin-II-Verfahrens insgesamt.

Aus meiner Sicht spricht vieles für den Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen; allerdings haben wir uns in der
Fraktion noch keine abschließende Meinung gebildet.
Zudem arbeiten wir in den genannten Bereichen an eige-
nen Vorschlägen.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Das Projekt „Flughafen Berlin Brandenburg Interna-

tional“ existiert seit über zwei Jahrzehnten. An den Grü-
nen scheint dies weitgehend vorbeigegangen zu sein. Je-
denfalls nehmen sie die baulichen Vorkehrungen des in
sechs Wochen in Betrieb gehenden Flughafens für das
Flughafenverfahren jetzt plötzlich zum Anlass, mal wie-
der einen ihrer beliebten asylpolitischen Rundum-
schläge zu starten.

Wie immer in solchen Fällen diffamieren sie dabei
das Vorgehen des Rechtsstaates. Dass dies sehr wohl
gute Gründe haben kann, die eindeutig auch im Inte-
resse des Betroffenen, hier eines Asylantragsteller, sein
können, übersehen sie dabei geflissentlich.

Ich meine, dass das zügige Verfahren auch sein Gutes
hat – gerade für die Betroffenen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)


Die Grünen kritisieren, dass sich der Flughafen Ber-
lin Brandenburg bereits auf die Durchführung des Flug-
hafenasylverfahrens einstellt. Das ist typisch wider-
sprüchlich: Was wäre, wenn es keine Vorbereitungen
dafür gäbe? Da wären Sie von den Grünen, den Linken
und der SPD doch die Allerersten, die das als menschen-
unwürdig anprangern würden.

Die Grünen schießen zudem mit ihrem Antrag über
das Ziel hinaus: Sie sagen selbst, dass es nur eine ge-
ringe Anzahl an Fällen für das Flughafenverfahren pro
Jahr gibt. Eine Abschaffung wäre schon alleine aus die-
sem Grund nicht erforderlich.

Deshalb wäre ich sehr erfreut, wenn die Grünen oder
Linken zur Abwechslung einmal nicht ihre immer glei-
chen Vorschläge unterbreiteten, wie ausländerrechtliche
Verfahren noch länger gedehnt und Ab- oder Ausweisun-
gen unmöglich gemacht werden können, sondern statt-
dessen vielleicht einmal einen Vorschlag machten, wie
man rasch zu einer angemessenen Entscheidung kommt.

Natürlich muss über das europäische Asylsystem wei-
ter beraten und nachgedacht und das auch bei den an-
stehenden Verhandlungen zum Ausdruck gebracht wer-
den.

In diesem Zusammenhang plakativ von menschen-
und europarechtswidrigen Bestimmungen des deutschen
Rechts zu sprechen, wie das die Antragsteller schon wie-
derholt getan haben, ist völlig überzogen.

Ob tatsächlich das von Regierungen vereinbarte Euro-
parecht, wie die Grünen das schon mutig behaupteten,
das Verfassungsrecht, etwa des Parlamentarischen Rates
in Deutschland, bricht, darüber hat Karlsruhe sich bis-
lang nicht so eindeutig geäußert.

Als Parlamentarier finde ich, dass Recht, das direkt
aus einer demokratisch-parlamentarischen Willensbil-
dung entsteht, grundsätzlich Vorrang vor intergouverne-
mentalen Vereinbarungen haben sollte. Da ist der demo-
kratische Einfluss mir denn doch zu indirekt. Insofern
sind Reformen zur Stärkung der parlamentarischen De-
mokratie auf europäischer Ebene geboten.

Dass die EU-Kommission eine immer stärkere Har-
monisierung im Bereich Asyl anstrebt, begrüßen wir
aber ausdrücklich. Der Druck auf die anderen Staaten,
mindestens auch die Mindeststandards zu erfüllen, darf
auf gar keinen Fall geringer werden.

Der Schutz von Menschen in Not ist für uns ein hohes
Gut. Ungesteuerte Zuwanderung aber bringt vor allem
die schwächeren unserer Gesellschaft in eine immer
schwierigere Lage.

Deshalb werden wir uns auch der Verantwortung für
die Teile unserer Gesellschaft nicht entziehen, die durch
ungesteuerte Zuwanderung, wie sie die Grünen und
auch die Linken hartnäckig fordern, nichts zu gewinnen
haben.

Umgekehrt bleibt es wichtig, dass diejenigen, die be-
rechtigterweise Asyl in Deutschland begehren, auch an-
erkannt werden. Zum Rechtsstaat gehört, dass es gegen
amtliche Entscheidungen Rechtsmittel geben muss. Die

Grünen ignorieren absichtlich, dass das Schutzniveau in
Deutschland – rechtlich und tatsächlich – zu den höchs-
ten der Welt gehört. Das könnten Sie wenigstens einmal
anerkennen, anstatt immer den Teufel an die Wand zu
malen.

Natürlich müssen wir immer wieder die getroffenen
Regelungen überprüfen: Wird durch diese oder jene Än-
derung das Schutzniveau verringert? Wie kann allen In-
teressen in der Praxis Rechnung getragen werden?

Die Entwicklung wird immer im Fluss sein; ein Ver-
harren in überkommenen Denkstrukturen darf es nicht
geben. Die Europäische Union und Deutschland müssen
ihrer Schutzverpflichtung gegenüber Flüchtlingen im-
mer gerecht werden. Und das werden sie auch, auch bei
Beibehaltung des Flughafenasylverfahrens.

Die FDP wird in der Koalition mit der CDU/CSU die
Asylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensi-
bel entwickeln und die EU-Planungen konstruktiv be-
gleiten.


Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717534800

Das Flughafenasylverfahren ist Teil des unmenschli-

chen Asylverfahrens in Deutschland, das nur den Zweck
hat, Flüchtlinge abzuschrecken und das Grundrecht auf
Asyl immer weiter einzuschränken. Mit dem Flughafen-
asylverfahren wurde eine besonders menschenverach-
tende Form der Flüchtlingsabwehr entwickelt. Um
Flüchtlinge erst gar nicht nach Deutschland einreisen zu
lassen, werden die hilfesuchenden Menschen sofort nach
ihrer Ankunft auf dem Gelände des Flughafens im Tran-
sitbereich weggesperrt. In den Abschiebegefängnissen
im Transitbereich der Flughäfen wird den Menschen der
Zugang zu einem grundgesetzlich garantierten Recht auf
Asyl durch ein Schnellverfahren verwehrt.

Pro Asyl hat mehrfach darauf hingewiesen, dass das
Flughafenverfahren mit einem menschenrechtlich ver-
tretbaren Asylverfahren nicht zu vereinbaren ist.
Vielfach werden die durchgeführten Anhörungen im
Flughafenasylverfahren nicht mit der gebotenen Sorg-
falt durchgeführt. Auch das UN-Flüchtlingskommissa-
riat UNHCR hat das Flughafenverfahren als äußerst
problematisch bezeichnet.

In den letzten zehn Jahren wurden mehr als 3 000 Asyl-
suchende im Rahmen des Flughafenverfahrens abge-
lehnt, und ihnen wurde die Einreise nach Deutschland
verweigert. 2009 wurden 435 Anträge auf Asyl durch
Flüchtlinge gestellt, die über einen internationalen
Flughafen nach Deutschland einreisen wollten, 2010
waren dies 735 Flüchtlinge und 2011 714 Flüchtlinge.
Auch aufgrund dieser niedrigen Zahlen wird überdeut-
lich, dass dieses Verfahren völlig unnötig ist. Es dient
einzig und allein der Abschreckung und soll potenzielle
Flüchtlinge aus Deutschland fernhalten.

Die Fraktion Die Linke unterstützt die Evangelische
Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, die
das sofortige Ende des Flughafenasylverfahrens und das
Recht aller Flüchtlinge auf den sofortigen Zugang zum
normalen rechtsstaatlichen Asylverfahren ohne vorhe-
rige Schnellverfahren gefordert hat. Das Flughafenver-

Zu Protokoll gegebene Reden





Annette Groth


(A) (C)



(D)(B)


fahren pervertiert die Idee des Asylrechts, so wie es im
Grundgesetz Deutschlands verankert ist. Deutschland
und die Europäische Union haben sich in den letzten
20 Jahren zu einer Festung entwickelt. Menschen in Not
haben immer weniger eine Chance, ihr grundgesetzlich
verankertes Recht auf Asyl wahrzunehmen. Durch die
restriktive Flüchtlingspolitik wird Flüchtlingen die Ein-
reise nach Deutschland verwehrt, und sie werden ihrem
Schicksal überlassen.

Am Flughafen in Frankfurt am Main liegt die größte
dieser Einrichtungen. Von 1999 bis 2008 fanden dort
mehr als 2 740 Flughafenasylverfahren statt. Alle diese
Verfahren wurden vom Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge abgelehnt. Bis Ende September 2011
wurden 278 minderjährige Flüchtlinge von der Bundes-
polizei aufgegriffen. In 31 Fällen wurden die Kinder zu-
rückgeschoben, ohne das zuständige Jugendamt einzu-
schalten. Ein solches Vorgehen der Bundespolizei stellt
einen klaren Verstoß gegen die Anforderungen aus der
UN-Kinderrechtskonvention dar, die dem Kindeswohl
den absoluten Vorrang bei allem staatlichen Handeln
einräumt.

Alleinreisende Minderjährige haben ein Recht auf
eine sorgsame und altersgerechte Betreuung und Hilfe.
Das Jugendamt muss automatisch eingeschaltet werden,
wenn ein minderjähriger Flüchtling aufgegriffen wird.
Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf einen
Vormund, der sich um asyl- und aufenthaltsrechtliche
Fragen der Kinder und Jugendlichen kümmert. Aus-
drücklich verstößt es gegen die Rechte des Kindes, wenn
unbegleitete Flüchtlingskinder in Haft genommen
werden. Die Fraktion Die Linke verlangt von der Bun-
desregierung, dass dieses Verhalten der Bundespolizei
sofort beendet wird und die Rechte der Kinder geschützt
werden.

Die geplante Errichtung eines Abschiebegefängnis-
ses im Berlin-Brandenburger Willy-Brandt-Flughafen
ist eine Schande für den Namen Willy Brandts, der mit
seinem Nord-Süd-Forum für die solidarische Hilfe des
reichen Nordens gekämpft hat. Dieser Abschiebeknast
wird auf massiven Druck der Bundesregierung gegen
den Widerstand der Brandenburger Landesregierung
gebaut. Ziel der Bundesregierung ist, dieses undemokra-
tische und menschenrechtsfeindliche Verfahren zu einem
EU-weiten Standard zu machen.

Die Fraktion Die Linke empfindet einen solchen
Umgang mit Menschen als völlig inakzeptabel und tritt
seit langem für die Abschaffung des Flughafenasylver-
fahrens ein. Dieser bürokratische Irrsinn auf Kosten der
Asylsuchenden muss endlich ein Ende haben. Bund und
Länder sollten endlich auf das Flughafenverfahren ver-
zichten. Die freiwerdenden Ressourcen lassen sich zum
Schutz von Flüchtlingen wirkungsvoller verwenden. Den
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen können wir voll-
inhaltlich unterstützen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit dem vorliegenden Antrag fordern wir zum einen,
dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt,

mit dem das in § 18 a Asylverfahrensgesetz, AsylVfG,
vorgesehene Flughafenasylverfahren abgeschafft wird,
und zum anderen, dass die Bundesregierung entspre-
chende Vorbehalte gegen die Vorschläge der Europäi-
schen Kommission zur Änderung der Aufnahmericht-
linie und der Verfahrensrichtlinie fallen lässt.

Das Flughafenverfahren – § 18 a AsylVfG – kann ins-
besondere auf Asylsuchende angewendet werden, die bei
ihrer Einreise am Flughafen Asyl beantragen und aus ei-
nem „sicheren Herkunftsstaat“ stammen oder keinen
gültigen Reisepass besitzen. Die Asylsuchenden werden
dann während des Asylverfahrens vor der Einreise auf
dem Gelände des Flughafens im Transitbereich unterge-
bracht. Über den Asylantrag soll das Bundesamt für Mi-
gration und Flüchtlinge, BAMF, binnen zwei Tagen nach
Ankunft entscheiden. Gegen eine negative Entscheidung
des BAMF kann der Asylsuchende – in einer gegenüber
dem regulären Asylverfahren nochmals verkürzten –
Frist von nur drei Tagen das Verwaltungsgericht anru-
fen, das in einem Eilverfahren ohne mündliche Verhand-
lung entscheidet. Die sich daraus ergebende maximale
Unterbringungsdauer am Flughafen von 19 Tagen wird
in der Praxis allerdings häufig deutlich überschritten.
So kam es im Jahr 2011 in der Flughafenunterkunft am
Frankfurter Flughafen in vielen Fällen zu Verweildau-
ern von mehr als 30 Tagen – bei einigen Asylantragstel-
lern von über 100 Tagen!

Das Flughafenverfahren wurde 1993 zu einem Zeit-
punkt eingeführt, als in Deutschland jährlich über
400 000 Asylanträge gestellt wurden. Seitdem haben
sich die tatsächlichen Verhältnisse erheblich geändert.
Haben im Jahr 1995 insgesamt 4 590 Personen in einem
Flughafenverfahren um Asyl nachgesucht bzw. nach-
suchen müssen, sind dies 2010 nur noch 735 Flüchtlin-
gen, von denen 57 in das Flughafenverfahren übernom-

(BAMF, „Das Bundesamt in Zahlen 2010“, Ziffer 6, Flughafenverfahren)


Flughafenverfahren werden derzeit in nennenswer-
tem Umfang nur in Frankfurt am Main durchgeführt; die
Zahl der Flughafenverfahren in Hamburg, Düsseldorf,
München und Berlin-Schönefeld ist äußerst gering.
Nunmehr werden jedoch auf dem neuen Berliner Groß-
flughafen BBI in großem Stile die Voraussetzungen für
die Durchführung von Flughafenverfahren geschaffen –
darunter auch eine Unterbringungseinrichtung, in der
durchschnittlich bis zu 30 Asylsuchende zumindest bis
zur Entscheidung über ihren Asylantrag verbleiben sol-
len. Dabei sind die geschätzten Fallzahlen – die Bundes-
regierung geht von circa 300 Flughafenverfahren jähr-
lich am Standort BBI aus – nirgends belegt und völlig
überzogen. Diese Zahlen sowie die Tatsache, dass die
Bundesregierung gegenüber dem Land Brandenburg
trotz der hohen Kosten für die Baumaßnahmen auf der
sofortigen Einführung eines Flughafenverfahrens am
Flughafen BBI bestanden hat, dienen offensichtlich dem
Zweck, ihre Verhandlungsposition gegenüber der EU-
Kommission und den anderen Mitgliedstaaten bei der
Neuverhandlung der EU-Richtlinien zum Asylverfahren
zu stützen. Die Bundesregierung hat selbst ausgeführt,
dass „ein auch nur vorübergehender Verzicht auf das
Flughafenverfahren die deutsche Verhandlungsposition

Zu Protokoll gegebene Reden





Josef Philip Winkler


(A) (C)



(D)(B)



(Bundestagsdrucksache 17/8095, Antwort auf Frage 19)


Seit der Einführung des Flughafenverfahrens in
Deutschland haben sich aber auch die europarecht-
lichen Rahmenbedingungen grundlegend geändert.
Denn nunmehr gibt es zu den Bereichen Asylverfahren,
Aufnahmebedingungen und Rückführungsbedingungen
mit den Richtlinien 2003/09/EG, Aufnahmerichtlinie,
2005/85/EG, Verfahrensrichtlinie, sowie 2008/115/EG,
Rückführungsrichtlinie, europäische Vorgaben, in deren
Bild das deutsche Flughafenverfahren nicht mehr passt.

Schon bei seiner Einführung wurde das Flughafen-
verfahren von Wohlfahrtsverbänden, Menschenrechts-
organisationen und Kirchen heftig kritisiert; die grund-
sätzlichen Bedenken gegen dieses Verfahren und seine
gravierenden Folgen für die Schutzsuchenden bestehen
unverändert fort.

Die Betroffenen werden für einen nicht genau defi-
nierten Zeitraum in einer haftähnlichen Lage gehalten.
Das widerspricht Art. 6 der Rückführungsrichtlinie, die
für eine Inhaftierung zum Zwecke der Rückführung eine
vorherige Rückkehrentscheidung verlangt. Vor einer sol-
chen Entscheidung ist eine Freiheitsentziehung unzuläs-
sig. Auch Art. 18 der Verfahrensrichtlinie schließt eine
Freiheitsentziehung nur aus dem Grunde, dass eine Per-
son Asylbewerber ist, aus.

Die Anhörung der Asylsuchenden findet unmittelbar
nach der Ankunft am Flughafen in einer außergewöhn-
lich schwierigen und stressbeladenen Situation statt.
Eine Anhörung unter den Bedingungen einer haftähnli-
chen Situation kann den Anforderungen an eine ord-
nungsgemäße Anhörung nach Art. 12 der Verfahrens-
richtlinie nicht gerecht werden. Eine unabhängige
Rechtsberatung vor der Anhörung ist nicht vorgesehen.

Extrem kurze Rechtsbehelfs- und Begründungsfristen
erschweren die Wahrnehmung des Rechtsschutzes. Er-
mittlungen und Nachfragen sind unter diesem extremen
Zeitdruck kaum möglich. Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte, EGMR, sieht in fehlendem effekti-
ven Rechtsschutz eine Verletzung des Rechts auf eine

(EGMR, Urteil vom 2. Februar 2012 – 9152/09 – I. M. ./. Frankreich)


Auch Kinder und unbegleitete Minderjährige müssen
das Flughafenverfahren durchlaufen und werden in der
Flughafenunterkunft untergebracht. Gleiches gilt für
andere besonders schutzbedürftige Personen, wie etwa
Opfer von Folter und Gewalt. Doch gerade Folteropfer,
Traumatisierte und Minderjährige benötigen besondere
Unterstützung und Hilfe, um die wichtigen Befragungen
durch die Bundespolizei und das BAMF zu bewältigen,
sowie angemessene Unterbringung und Betreuung, wel-
che im Transitbereich von Flughäfen nicht gewährleistet
sind. Vielmehr stellen die haftähnliche Unterbringung,
die Isolierung von der Außenwelt und die ungewisse Si-
tuation eine massive psychische Belastung dar, die auch
immer wieder zu Suizidversuchen führt.

Am Flughafen werden zudem ohne klare rechtliche
Grundlagen Verfahren im Rahmen der europäischen Zu-
ständigkeitsregelung für die Behandlung von Asylanträ-
gen, Dublin-II-Verordnung, durchgeführt. Der Europäi-
sche Gerichtshof, EuGH, hat am 21. Dezember 2011
entschieden, dass es im Rahmen von Dublin-II-Verfah-
ren keine automatischen Rückschiebungen in denjenigen
Staat geben darf, der formal für die Behandlung von
Asylgesuchen zuständig ist, wenn es dort systemische
Mängel gibt. Derartige Defizite im Asylverfahren oder
drohende unmenschliche Behandlung können im Flug-
hafenverfahren im Einzelfall nicht wirksam vorgebracht
werden. Rechtsschutz gegen eine Überstellung im Dub-
lin-II-Verfahren ist in der Kürze der Zeit praktisch nicht
möglich.

Während der Gesetzgeber bei der Einführung des
Flughafenverfahrens noch von einer maximalen
Verweildauer in der Flughafenunterkunft von wenigen
Tagen ausging, wird dieser Zeitraum in vielen Fällen
dramatisch überschritten, seit eine Gesetzesänderung
vom August 2007 auch das Festhalten von abgelehnten
Asylsuchenden, deren Zurückweisung nicht vollzogen
werden kann, über längere Zeiträume ermöglicht. Dies
führt dazu, dass Personen, die mangels gültiger Reise-
dokumente auch nicht freiwillig ausreisen können, teils
über Wochen und Monate faktisch inhaftiert sind.

Das Flughafenverfahren bleibt ein Eilverfahren, das
auf Fehler angelegt ist, weil unter dem Druck der Fris-
ten und in der verlangten Eilgeschwindigkeit nicht mit
der notwendigen Sorgfalt und einer umfassenden Sach-
verhaltsaufklärung verantwortlich über Menschenleben
entschieden werden kann. Hinzu kommt der physische
und psychische Druck auf Flüchtlinge unter den Bedin-
gungen hermetischer Abriegelung in der Flughafen-
unterkunft.

Die gravierenden menschlichen Härten und substan-
ziellen rechtsstaatlichen Defizite sprechen auch vor dem
Hintergrund der seit der Einführung des Flughafenver-
fahrens deutlich zurückgegangenen Flüchtlingszahlen
für die Abschaffung dieses Sonderverfahrens. So hat
sich auch der Landtag Brandenburg im Februar 2012
für die Abschaffung des Flughafenverfahrens ausge-
sprochen (Drucksache 5/4765).

Das deutsche Flughafenverfahren ist auch nicht mit
den zwischenzeitlich weiterentwickelten europäischen
Verpflichtungen zum internationalen Schutz vereinbar.
Nicht zuletzt aus diesem Grunde wehrt sich die Bundes-
regierung bei den Verhandlungen zur Änderung der
Aufnahmerichtlinie und der Verfahrensrichtlinie gegen
Vorschläge für verbesserte Schutznormen. Die Bundes-
regierung muss endlich eine konstruktive Verhandlungs-
position einnehmen und diese Vorbehalte fallen lassen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717534900

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9174 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist auch diese Über-
weisung so beschlossen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Tagesordnungspunkt 24:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Tankred
Schipanski, Dr. Stefan Kaufmann, Albert
Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann

(Lausitz), Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger,

weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Exzellente Perspektive für den wissenschaftli-
chen Nachwuchs fortentwickeln

– Drucksache 17/9396 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Tankred Schipanski,
Dr. Stefan Kaufmann, Swen Schulz, Dr. Martin
Neumann, Dr. Petra Sitte und Krista Sager.


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1717535000

Allen Unkenrufen der Opposition zum Trotz ist es um

die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in
Deutschland sehr gut bestellt. Durch die Exzellenzinitia-
tive, den Hochschulpakt, den Qualitätspakt Lehre und
den Pakt für Forschung und Innovation hat diese Bun-
desregierung nicht zuletzt auch die Beschäftigungsbe-
dingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs nach-
haltig verbessert. Das Programm „Zeit gegen Geld“
sowie die Einführung der familienpolitischen Kompo-
nente im Wissenschaftszeitvertragsgesetz leisten da-
rüber hinaus einen Beitrag zur besseren Vereinbarkeit
von Familie und Wissenschaftsberuf.

Die Situation der Postdoktoranden hat sich in den
vergangenen Jahren erheblich verbessert. Wurden im
Jahr 2005 noch 184 Nachwuchsforschergruppen an au-
ßeruniversitären Forschungseinrichtungen gezählt, wa-
ren es 2010 bereits 406 – ein Zuwachs von 120 Prozent.
Die Anzahl der von der DFG geförderten Postdoktoran-
den hat sich zwischen 2005 und 2009 von 711 auf 1 037
erhöht – ein Zuwachs von 46 Prozent. Diese Trends hal-
ten weiter an. Zusammenfassend kann man also festhal-
ten: Die Situation der Postdoktoranden ist in Deutsch-
land so gut wie nie zuvor.

Auch bei den Doktoranden gab es gute Fortschritte.
Das Promotionssystem hat sich in den letzten Jahren er-
heblich weiterentwickelt und differenziert. Die in der Bun-
desrepublik besonders große Vielfalt der Promotionsver-
fahren bietet Doktoranden in zunehmendem Maße die
Möglichkeit, gemäß ihren individuellen Talenten den
richtigen Weg für eine erfolgreiche Promotion auszu-
wählen. Als zukunftsweisend betrachten wir insbeson-
dere Promotionskollegs, die großen Wert auf eine klare
Strukturierung des Qualifikationsprozesses anhand
transparenter Leistungsvorgaben legen.

Trotz dieser positiven Entwicklungen gibt es in eini-
gen Bereichen auch Verbesserungsmöglichkeiten. Ei-
nige dieser Punkte wurden in den bereits debattierten
Anträgen der Opposition aufgegriffen. Wir wollen den
jungen Menschen, die eine wissenschaftliche Karriere
einschlagen, noch bessere, verlässlichere und auf ihre
unterschiedlichen Talente und Begabungen zugeschnit-
tene Karrierewege eröffnen. Dazu machen wir in unse-
rem Antrag eine Vielzahl an Vorschlägen. Lassen Sie
mich drei Kernbestandteile unseres Antrags herausgrei-
fen.

Die Evaluation des im April 2007 in Kraft getretenen
Wissenschaftszeitvertragsgesetzes durch die HIS GmbH
hat ergeben, dass 83 Prozent der wissenschaftlichen
Mitarbeiter in Deutschland in einem befristeten Be-
schäftigungsverhältnis angestellt sind. Die Hälfte der
Verträge der an Hochschulen beschäftigten Postdocs
hatte zum Zeitpunkt der Untersuchung eine Laufzeit von
weniger als einem Jahr. Unser Antrag soll einen Beitrag
dazu leisten, die seit dem Inkrafttreten des Wissen-
schaftszeitvertragsgesetzes zu beobachtende überbor-
dende Befristungspraxis zu stoppen. Aus eigener Erfah-
rung weiß ich: Damit junge Wissenschaftler ihre
Potenziale voll entfalten können, brauchen sie verlässli-
che und planbare Karriereperspektiven. Zu große exis-
tenzielle Unsicherheiten hemmen sie hingegen in ihrer
Leistungsfähigkeit.

Deshalb fordern wir, die Laufzeit von sachgrundlos
befristeten Beschäftigungsverhältnissen grundsätzlich
an die Laufzeit der Projekte zu koppeln, in denen die
Nachwuchswissenschaftler beschäftigt sind. Für Dokto-
randen in der Qualifikationsphase soll die Vertragslauf-
zeit dem für das Qualifikationsvorhaben erforderlichen
Zeitbedarf entsprechen. Wenn die Vertragsdauer diesem
Zeitbedarf nicht entspricht, muss die Betreuungsverein-
barung eine – gegebenenfalls mehrstufige – Verlänge-
rungsoption nach Erreichen bestimmter Zielvereinba-
rungen vorsehen, sodass bei erbrachter Leistung
Planbarkeit bis zum Qualifizierungsziel besteht. Das
Stellensplitting in Einheiten von weniger als einer hal-
ben Stelle muss gänzlich unterbleiben.

Zweitens wollen wir der Juniorprofessur in Deutsch-
land wie international zu mehr Akzeptanz zu verhelfen.
Dazu sollen diese in einem ersten Schritt flächendeckend
in Assistenzprofessuren aufgehen. Durch diese Maß-
nahme soll nicht zuletzt auch mehr internationale Ver-
gleichbarkeit mit dem angelsächsischen „Assistant Pro-
fessor“ oder dem französischen „professeur assistant“
geschaffen werden. Seit der Einführung der Juniorpro-
fessur stellen wir jedoch auch fest, dass die Probleme
dieser Stellenkategorie tiefer liegen. Insbesondere die
sechs- bis siebenjährige Befristung ist für viele Forscher
nicht attraktiv. Generell vertreten wir die Auffassung,
dass durch die vorherrschenden Personalstrukturen
keine ausreichenden Anreize für eine Karriere im Wis-
senschaftssystem eröffnet werden.

Vielmehr ist die derzeitige Stellenstruktur durch einen
enormen Flaschenhals unterhalb der W-3-Professur ge-
kennzeichnet. Derzeit werden lediglich 14 Prozent der
Stellen von Professoren besetzt. Ihnen stehen über





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)


80 Prozent weisungsabhängiges, zumeist befristet be-
schäftigtes Personal gegenüber. Eine Vollprofessur zu
erreichen, ist derzeit in der Regel die einzige langfristige
Karriereperspektive im Wissenschaftssystem und gleich-
zeitig nur sehr schwer erreichbar.

Deshalb fordern wir drittens – spätestens hier stellt
unser Antrag gegenüber den Oppositionsanträgen eine
substanzielle Weiterentwicklung dar – mit der Associate
Professur die Schaffung einer neuen Stellenkategorie.
Diese Stellen sollen unbefristet und in die Besoldungs-
gruppen W2 oder gar W3 eingruppiert sein. Sie sollen
Nachwuchsgruppenleitern, Habilitanden und Junior-
professoren gleichermaßen offenstehen. Die neue Pro-
fessorenkategorie stellt einen attraktiven Zwischen-
schritt auf dem Weg zur vollen W-3-Professur dar.
Besonders leistungsstarken Juniorprofessoren – künftig:
Assistenzprofessoren – könnte bereits nach der ersten
positiven Evaluation eine solche Professur angeboten
werden. Aber auch herausragenden Nachwuchswissen-
schaftlern kann eine solche Stelle deutlich früher als bis-
her berufliche Planungssicherheit verschaffen und zu ih-
rem Verbleib im Wissenschaftssystem beitragen.

Dies sind die drei Kernforderungen unseres Antrags.
Selbstverständlich sind längerfristige Vertragslaufzei-
ten, eine neue Stellenkategorie und die Umgestaltung
der Juniorprofessur nicht ohne die Unterstützung der
Länder zu machen. Wir appellieren daher an sie, ge-
meinsam mit den Hochschulen Veränderungen im Sinne
der Nachwuchswissenschaftler in unserem Land herbei-
zuführen. Die grundsätzliche Verantwortung für das wis-
senschaftliche Personal und eine auskömmliche Finan-
zierung der Hochschulen liegt bei den Ländern. Der
Bund kann lediglich über die Pakte zur Finanzierung
der Hochschulen beitragen und tut dies seit Jahren in
erheblichem Ausmaß.

Lassen Sie mich kurz einen weiteren Forderungs-
punkt ansprechen. Eine erhebliche Zahl der Doktoran-
den promoviert nicht mit dem Ziel, eine Karriere in der
Wissenschaft zu beginnen, sondern um sich für eine an-
spruchsvolle Tätigkeit außerhalb des Wissenschaftssys-
tems zu qualifizieren. Um den bevorstehenden Berufs-
einstieg auch dieser jungen Menschen möglichst
frühzeitig einzuleiten, müssen die Hochschulen geeig-
nete Personalentwicklungsmöglichkeiten schaffen. Dazu
zählen Angebote zum Erlernen von Eigenverantwor-
tung, Selbstständigkeit, Mitarbeiterführung sowie weite-
rer berufsrelevanter Schlüsselqualifikationen, aber auch
Beratungsangebote und eine verstärkte Zusammenar-
beit mit möglichen Arbeitgebern.

Einige unserer Forderungen, zum Beispiel die zuletzt
vorgetragene, richten sich explizit an die Hochschulen. In
diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich den Be-
schluss der Hochschulrektorenkonferenz vom 24. April
2012 loben. Die HRK-Mitgliederversammlung hat sich
darin auf Leitlinien für befristete Beschäftigungsver-
hältnisse in den Hochschulen geeinigt. Die Hochschulen
bekennen sich zu planbaren und verlässlichen Karrier-
eperspektiven sowie zu verantwortungsbewusster Perso-
nalentwicklung auf Grundlage der Kriterien Transpa-
renz, Planbarkeit und Gleichstellung. Auch fordern sie

überfachliche Fortbildungen und Unterstützung bei der
Karriereplanung von Nachwuchswissenschaftlern.

Die HRK greift also einige der in unserem Antrag an
sie gerichteten Forderungen explizit auf. Ich freue mich
sehr, dass wichtige in unserem Antrag formulierte Ver-
besserungsmöglichkeiten auf die Zustimmung der Hoch-
schulen stoßen, auch wenn unseres Erachtens insbeson-
dere im Hinblick auf die Befristungspraxis noch
weiterführende Beschlüsse wünschenswert gewesen wä-
ren.


Dr. Stefan Kaufmann (CDU):
Rede ID: ID1717535100

Noch vor zehn Jahren klagte die deutsche Wissen-

schaft über den Braindrain, also über die Abwanderung
deutscher Spitzenwissenschaftler vor allem in die USA.
Heute haben wir diesen Trend gestoppt. Viele Spitzen-
wissenschaftler kehren sogar nach Deutschland zurück.
Maßgeblich dazu beigetragen hat die deutsche Exzellenz-
initiative, die ungeahnte Kräfte im deutschen Hoch-
schulsystem freigesetzt hat. Deutsche Universitäten und
die außeruniversitären Forschungseinrichtungen sind
attraktiv wie nie. Wir haben es geschafft, wieder zur
Weltspitze aufzuschließen.

Das Verdienst hierfür liegt weder allein parteipolitisch
bei den vergangenen Regierungskoalitionen auf Bundes-
ebene noch bei denen auf Länderebene. Diese erfolgrei-
chen Bemühungen sind die Früchte einer Gesamtanstren-
gung von Politik und Wissenschaft in den vergangenen
zehn Jahren. Ein aktuelles und sehr gutes Beispiel für
diese gemeinsame Anstrengung ist das KIT, das Karls-
ruher Institut für Technologie. Die grüne Wissenschafts-
ministerin in Baden-Württemberg, Theresia Bauer, setzt
die erfolgreiche Politik der christlich-liberalen Vorgän-
gerregierung fort und stärkt die Selbstständigkeit des
Instituts, mit Unterstützung aller Fraktionen in Baden-
Württemberg. Durch das neue Gesetz erhält das KIT die
Dienstherrnfähigkeit und Arbeitgebereigenschaft für
seine Beamten und Arbeitnehmer. Die Berufung von Pro-
fessoren und anderem Personal führt das KIT zukünftig in
Eigenregie durch. Die Fachaufsicht über den Universi-
tätsbereich gibt das Land weitgehend auf, und das KIT
wird selbst Eigentümer des Vermögens. Zusätzlich wird
der Spielraum des KIT für Unternehmensgründungen und
für die Beteiligung an Unternehmen erweitert. Damit
werden in gemeinsamer Anstrengung die internationale
Wettbewerbsfähigkeit dieser Eliteuniversität weiter er-
höht und die Attraktivität für den wissenschaftlichen
Nachwuchs weiter gestärkt.

Auch die neue Rangliste der Alexander-von-
Humboldt-Stiftung zeigt, dass das deutsche Wissen-
schaftssystem für ausländische Topforscher so attraktiv
wie nie zuvor ist. Darauf können wir – damit meine ich
auch die Kollegen von der Opposition – stolz sein. Wir
haben damit exzellente Perspektiven für den wissen-
schaftlichen Nachwuchs in Deutschland geschaffen und
sollten dies parteiübergreifend auch mehr betonen, ins-
besondere im Ausland.

Nichtsdestotrotz wird von einigen zu Recht auf
weiterhin bestehende Defizite hingewiesen, die wir
abstellen müssen. Dazu gehört nicht nur die durch ein

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Stefan Kaufmann


(A) (C)



(D)(B)


Urteil des Bundesverfassungsgerichts neuzuordnende
Professorenbesoldung; es bestehen auch Defizite in
anderen Bereichen, angefangen bei der mangelnden
Datenerhebung bis hin zu Befristungsproblemen an den
Hochschulen.

Selbstverständlich können wir nicht all diese Defizite
abstellen und insbesondere nicht bundesgesetzlich
regeln. Vieles kann nur auf Landesebene oder auch nur
direkt durch die Hochschulen gelöst werden. Zu Letzte-
rem zählen insbesondere eine übermäßige Bürokratie
oder lange Bewerbungsverfahren, die eine Universität
wenig attraktiv machen. Für die weitere Verbesserung
der Perspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchses
haben alle Fraktionen im Bundestag ihre Vorstellungen
in Anträgen festgehalten.

Bevor ich die Vorstellungen der CDU/CSU-Fraktion
für die weitere Verbesserung der Perspektiven des wis-
senschaftlichen Nachwuchses erläutere, möchte ich kurz
auf einige Punkte der Opposition eingehen.

In den Anträgen der Opposition sind einige sinnvolle
Forderungen enthalten, die auch wir unterstützen bzw.
vertreten. So ist die von der SPD geforderte zukünftige
einheitliche Erfassung aller Promovierenden mit Sicher-
heit der erste wichtige Schritt, um überhaupt Problem-
felder besser erkennen zu können. Wir gehen deshalb
sogar noch einen Schritt weiter und fordern eine voll-
ständige Datengewinnungsstrategie bezüglich des wis-
senschaftlichen Nachwuchses in Deutschland. Nur so
können wir unsere politischen Entscheidungen zukünftig
auf eine noch fundiertere Grundlage stellen und somit zu
den besten Ergebnissen kommen.

Weitere Gemeinsamkeiten ergeben sich, erstens, bei
der Forderung nach einem konsequenten Ausbau von
Modellen der strukturierten Doktorandenausbildung,
zweitens, bei der Forderung nach einem einheitlichen
Doktorandenstatus, drittens, bei der Forderung nach
einer stärkeren Entkopplung von Betreuung und Bewer-
tung des Promovierenden und, viertens, bei der Forde-
rung nach einer Betreuungsvereinbarung zwischen Dok-
torand und Betreuer, die bei allen Promotionsformen zu
Beginn geschlossen wird und unter anderem eine bin-
dende Aussage über das Verhältnis von Lehrverpflich-
tung, Arbeitsbelastung und Zeit für die Promotion ent-
hält.

Außerdem fordern wir von den Hochschulen Perso-
nalentwicklungs- und Karriereförderungskonzepte für
ihre Nachwuchswissenschaftler. Damit werden die
Hochschulen auch ihrer weitergefassten Verantwortung
als Arbeitgeber gerecht. Dazu gehört im Übrigen auch
unsere Forderung nach einer besseren Vereinbarkeit von
Familie und Beruf an den Hochschulen und außeruni-
versitären Forschungseinrichtungen. Konkret meinen
wir damit den Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten,
die grundsätzliche Anwendung der familienpolitischen
Komponente im Wissenschaftszeitvertragsgesetz und vor
allem die Berücksichtigung von Schwangerschaften und
Elternzeiten bei Stipendien. Als Vorbild möchten wir an
dieser Stelle die Maßnahmen der Initiative „Familie in
der Hochschule“ nennen, die von der Robert-Bosch-Stif-
tung, dem Bundesministerium des Innern und dem CHE,

dem Centrum für Hochschulentwicklung, gefördert wer-
den. Mit einer konsequenten Umsetzung dieser Maßnah-
men könnte mit Sicherheit auch eine Verbesserung des
Anteils von Frauen an den Professuren erreicht werden.

Auch bei der Analyse der übermäßigen Befristungs-
praxis gibt es Gemeinsamkeiten. In der Doktoranden-
phase sind Befristungen sinnvoll, da es sich hier um
Qualifikationsphasen handelt. Allerdings muss das Stel-
lensplitting in Einheiten von weniger als einer halben
Stelle gänzlich unterbleiben.

Im Postdoc-Bereich muss es hingegen viel mehr un-
befristete Stellen geben. Wir bieten den Hochschulen
über den Hochschulpakt bis 2020 eine sichere Finanzie-
rung. Diese Sicherheit muss zumindest ansatzweise auch
an die Beschäftigten weitergegeben werden: Eine si-
chere Finanzierung muss auch sichere Stellen bedeuten.
Für den Bereich der Drittmittelfinanzierung muss gel-
ten: Projektdauer gleich Vertragsdauer. Ständige Befris-
tungen führen sicher nicht dazu, dass unsere Hochschu-
len oder außeruniversitären Forschungseinrichtungen
die besten und motiviertesten Mitarbeiter gewinnen.

Eine Streichung der Tarifsperre im Wissenschaftszeit-
vertragsgesetz, wie von der SPD und den anderen Oppo-
sitionsparteien gefordert, wäre hingegen nicht zielfüh-
rend, außer dass sich die Tarifpartner, wie schon in der
Vergangenheit, auf nichts einigen könnten. Dies gilt,
zumal die Kolleginnen und Kollegen von der SPD die
Tarifsperre in ihrer Regierungszeit bis 2009 selbst mit-
getragen haben. Ihre Forderung ist also nichts als Op-
positionsgehabe. Zu diesem Oppositionsgehabe zähle
ich auch die Forderung der Linken nach 10 000 Post-
doc-Stellen. Denn gleichzeitig legt die rot-rote Regie-
rung in Brandenburg Hochschulen zwangsweise zusam-
men. Wie das zusammenpasst, können wahrscheinlich
nur die Linken erklären.

Auch die Forderung der Grünen nach 4 000 neuen
Professorenstellen oder die der SPD nach 2 500 neuen
Professorenstellen ist nachvollziehbar; jedoch sehe ich
im Moment keinen finanziellen Spielraum, um Pro-
gramme in einem solchen Umfang starten zu können. Ich
bin jedoch auf die Maßnahmen der rot-grünen bzw. der
grün-roten Landesregierungen gespannt und freue mich
über jede neue Professorenstelle.

Wir meinen hingegen, dass zur Attraktivität nicht nur
die Schaffung immer neuer Stellen beiträgt, sondern
auch die Ausgestaltung der Stellen. Deshalb schlagen
wir eine neue Personalkategorie in Anlehnung an den
britisch-amerikanischen Associate Professor vor. Diese
Stellen sind bereits unbefristet und sollen besonders leis-
tungsstarken Wissenschaftlern frühzeitig einen attrakti-
ven Karriereweg eröffnen. Zusätzliche Attraktivität
erhalten diese Stellen durch umfangreiche Gehaltszu-
lagen, weitreichende Freiheiten bei der Personal- und
Mittelbewirtschaftung, einem Promotionsrecht und dem
vollen Stimmrecht in den Gremien der Hochschule.
Damit kann den besten Nachwuchswissenschaftlern viel
frühzeitiger als bisher eine berufliche Planungssicher-
heit geboten werden. Auch das ist wichtig, um die
Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit unseres Wissen-
schaftssystems weiter zu steigern.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Stefan Kaufmann


(A) (C)



(D)(B)


Mit unserem Antrag haben wir eine umfangreiche
Gesamtbetrachtung vorgelegt. Lassen Sie mich unsere
zentralen Punkte wiederholen: Beendigung der übermä-
ßigen Befristungspraxis an den Hochschulen, Schaffung
von vielfältigeren, attraktiveren Karriereperspektiven
durch neue Personalkategorien sowie Maßnahmen zur
besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf an den
Hochschulen und an den außeruniversitären For-
schungseinrichtungen.

Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass
wir mit unserem Wissenschaftssystem in Deutschland im
internationalen Vergleich auf einem guten Weg sind. Mit
Exzellenzinitiative, Hochschulpakt, Qualitätspakt Lehre
und dem Pakt für Forschung und Innovation hat die
christlich-liberale Koalition viel erreicht. Lassen wir
nicht zu, dass dies von der Opposition oder von anderen
kaputtgeredet wird, sondern bauen wir auf den Erfolgen
auf!


Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1717535200

Spätestens seit der Vorlage der HIS-Studie „Wissen-

schaftliche Karrieren“ sowie des Evaluationsberichtes
des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes liegen uns allen
handfeste Daten und Fakten auf dem Tisch, die zeigen,
in welch prekären Beschäftigungsverhältnissen Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland ar-
beiten. Der dringende Handlungsbedarf, die Beschäfti-
gungsbedingungen zu verbessern, ist nur allzu deutlich.

Wir von der SPD-Fraktion haben deshalb bereits vor
fast einem Jahr einen Antrag in den Deutschen Bundes-
tag eingebracht mit dem Ziel, echte Perspektiven für den
wissenschaftlichen Nachwuchs zu schaffen. Leider sind
wir sowohl bei der Bundesregierung als auch bei CDU/
CSU und FDP auf taube Ohren gestoßen. Auch die Stel-
lungnahmen der Sachverständigen und Experten, die in
mehreren Anhörungen im Ausschuss für Bildung und
Forschung den erheblichen Handlungsbedarf deutlich
gemacht haben, blieben von der Bundesregierung unge-
hört.

Wir thematisieren dieses Problem nicht, um einer spe-
ziellen Gruppe etwas Gutes zu tun, sondern weil es ein
Problem für die gesamte Gesellschaft ist. Wir brauchen
den wissenschaftlichen Nachwuchs. Einerseits brauchen
wir motiviertes, qualifiziertes Personal an den Hoch-
schulen. Denn immer mehr Leute wollen studieren und
müssen auch gut ausgebildet werden. Anderseits brau-
chen wir Forscherinnen und Forscher, die uns voran-
bringen und uns in den verschiedensten Bereichen Pro-
blemlösungen anbieten. Dies ist aber nur möglich, wenn
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht durch
schlechte Arbeitsbedingungen abgeschreckt werden.
Das Prinzip gute Arbeit wollen wir auch für die Beschäf-
tigten in der Wissenschaft erreichen.

Wir wollen erreichen, dass Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler nach ihrer Qualifikationsphase nicht
gezwungen werden, in die Wirtschaft oder ins Ausland
zu gehen, um eine berufliche Perspektive zu erhalten, um
Familie und Beruf vereinbaren zu können, um Stabilität
zu erhalten, sondern dass auch die öffentlich finanzier-
ten Forschungseinrichtungen und Hochschulen gute Ar-

beitgeber für die hochqualifizierten Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftler sind.

Wir fordern, unterstützt durch die Sachverständigen,
unter anderem eine Personaloffensive mit 2 500 zusätz-
lichen Professuren bis 2020, 1 000 zusätzliche Junior-
professuren bis 2015, die Steigerung des sogenannten
Tenure Track, mehr strukturierte Promotionspro-
gramme, Einführung einer Frauenquote, Ausbau der
Kinderbetreuungsangebote, Erhöhung des Anteils unbe-
fristet beschäftigten Personals, Aufnahme von Zielver-
einbarungen mit den außeruniversitären Forschungs-
einrichtungen in das geplante Wissenschaftsfreiheits-
gesetz und Aufhebung der Tarifsperre des Wissen-
schaftszeitvertragsgesetzes. Dies sind nur Stichworte
aus der Reihe von sehr konkreten Vorschlägen unseres
Antrags aus dem letzten Jahr. Dies, die Vorlagen ande-
rer Fraktionen , die Studien und Berichte sowie die An-
regungen der Sachverständigen sollten Material genug
gegeben haben, damit sich nun endlich auch die Bundes-
regierung und die Koalitionsfraktionen bewegen.

Nun haben die Koalitionsfraktionen endlich einen
Antrag vorgelegt. So begrüßenswert dies auf den ersten
Blick ist, umso enttäuschender ist auf den zweiten Blick
das vorgelegte Ergebnis. Der Antrag erklärt wortreich,
dass sie letztlich gar nichts Konkretes machen wollen.
Es werden zwar einige richtige Stichworte aufgegriffen,
doch es folgen keine klare politische Maßgabe und
Handlung.

Ich greife exemplarisch für den gesamten Antrag ein
Beispiel heraus: Gleich beim ersten Punkt im Forde-
rungsteil – da sind wir schon auf Seite sieben – wird die
Bundesregierung aufgefordert, „darauf hinzuwirken,
dass die Vertragsdauer für Nachwuchswissenschaftle-
rinnen und -wissenschaftler in der Regel an die Laufzeit
der Projekte gekoppelt ist, in denen die wissenschaftli-
chen Nachwuchskräfte beschäftigt sind.“ Was heißt
denn das genau, die Bundesregierung solle „darauf hin-
wirken“? Es muss doch wohl klar sein, dass hier der
Bundestag selbst gefragt ist, die rechtlichen Bestimmun-
gen so zu ändern, dass niemand auf irgendetwas hinwir-
ken soll, sondern dass die Verträge rechtlichen Regelun-
gen entsprechend gestaltet werden müssen. Der
Deutsche Bundestag ist gefragt, die Regelungen neu zu
fassen, anstatt die Bundesregierung aufzufordern, ein-
mal ein bisschen mit erhobenem Zeigefinger zu schimp-
fen.

So oder so ähnlich liest sich der Großteil der „Forde-
rungen“ des Antrags: Da wird hier ein Leitfaden ange-
fordert, dort eine Berichterstattung angemahnt, Daten
sollen erfasst und Zuschüsse gehalten und einmal sogar
die Förderung ausgebaut werden – ohne zu sagen, in
welcher Höhe. Unverbindlicher geht es wirklich nicht.
Dafür sollen aber an anderer Stelle des Antrags die Län-
der mehr Geld für unbefristete Beschäftigung an Hoch-
schulen zur Verfügung stellen. Überhaupt wird viel auf
andere verwiesen: auf die Länder, auf die Hochschulen,
auf die Forschungseinrichtungen. Auf sie zeigt die Ko-
alition. Sie sollen neue Personalkategorien schaffen,
sich selbst verpflichten, familienfreundlich zu werden,
Perspektiven zu entwickeln usw. usf. Da ist sicherlich

Zu Protokoll gegebene Reden





Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)


das eine oder andere Richtige oder Diskutable dabei.
Alle Akteure müssen gemeinsam an der Lösung der Pro-
bleme arbeiten, und nicht alles kann und soll der Bund
regeln.

Doch mit ihrem Antrag weist die Koalition alle Ver-
antwortung von sich und von der Bundesregierung.
Stattdessen lehnt sie sich gemütlich zurück und zeigt auf
alle anderen. Dieser Antrag ist von Anfang bis Ende ein
reines Alibi ohne Substanz. Wir brauchen, die Wissen-
schaft braucht etwas anderes, nämlich eine Kultur des
Selbst-Anpackens statt des Immer-auf-die-anderen-Ver-
weisens.


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1717535300

Wenn der wichtigste Rohstoff der Zukunft Deutsch-

lands zwischen den Ohren sitzt, dann ruhen die Hoffnun-
gen unseres Landes auf den Schultern junger Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler – in der Lehre wie in
der Forschung. Diese nehmen eine zentrale Rolle bei
der Sicherung der Wettbewerbs- und Innovationsfähig-
keit ein. Die christlich-liberale Koalition hat sich daher
dem Thema Bildung und Forschung bereits in ihrer Ko-
alitionsvereinbarung verschrieben. Wir haben dabei
ausdrücklich dem wissenschaftlichen Nachwuchs ein
besonderes Augenmerk gewidmet: „Wir setzen uns für
eine stärkere Durchlässigkeit der Karrierepfade in Wis-
senschaft und Wirtschaft ein. Dies fördert auch den Wis-
sens- und Technologietransfer. Wir werden unseren Bei-
trag für bessere Karrierechancen von Frauen in
Wissenschaft und Forschung leisten. Die internationale
Anziehungskraft deutscher Hochschulen wollen wir für
Studierende wie für Wissenschaftler steigern. Deshalb
werden wir internationale strategische Partnerschaften
unterstützen und Mobilitätshindernisse, auch im Bereich
der sozialen Sicherungssysteme, abbauen.“

Der vorliegende Antrag „Exzellente Perspektiven für
den wissenschaftlichen Nachwuchs fortentwickeln“
trägt diesem unserem Anspruch deutlich Rechnung. Die
christlich-liberale Koalition macht damit einmal mehr
Ernst mit ihrem Anliegen, Deutschland zur Bildungsre-
publik zu machen; sei es mit den überaus erfolgreich an-
gelaufenen Projekten „Qualitätspakt Lehre“, dem
Deutschlandstipendium oder der weiteren Förderung
des Studienplatzausbauprogramms „Hochschulpakt 2020“.
Unser Antrag verfolgt mit 15 konkreten Forderungen
das Ziel, die Rahmenbedingungen für Nachwuchswis-
senschaftler an unseren Hochschulen und außeruniver-
sitären Einrichtungen und für alle weiteren Doktoran-
den weiter zu verbessern. Denn wir brauchen begabte
und motivierte Hochschulabsolventen, die sich für eine
Karriere in der Wissenschaft entscheiden. Diese brau-
chen wir heute mehr denn je.

Eine Karriere in der Wissenschaft ist nur dann attrak-
tiv, wenn diese zumindest rudimentäre Zukunftsperspek-
tiven eröffnet. Die Rahmenbedingungen müssen so ge-
staltet sein, dass Deutschland in diesem Zusammenhang
im internationalen Vergleich nicht zurückfällt. Mehr
noch: Wir müssen für junge Talente im Ausland noch in-
teressanter werden.

Wissenschafts- und Forschungspolitik unter rot-grü-
ner Ägide hat der Attraktivität des Standortes Deutsch-
land geschadet. Es waren verlorene Jahre. Fortschritts-
feindliche Politik, beispielsweise im Bereich der
Energieforschung und bei der Gentechnologie, hat eine
große Lücke gerissen und die Zukunftsängste des wis-
senschaftlichen Nachwuchses beflügelt. FDP und Union
haben genau hier angesetzt und werden mit ihrer Politik,
die Deutschland tatsächlich wieder hin zu einer Bil-
dungs- und Fortschrittsrepublik verändert, verlässliche
Rahmenbedingungen für den wissenschaftlichen Nach-
wuchs schaffen.

Doch bei unseren Anstrengungen auf Bundesebene
darf eines nicht aus dem Blick geraten: Wissenschafts-
politik und damit auch die Problematik der Beschäfti-
gung von Nachwuchswissenschaftlern an Hochschulen
und Forschungseinrichtungen ist in erster Linie Länder-
sache. Diesem Umstand trägt der vorliegende Antrag
sehr klar Rechnung. Dennoch, auch die christlich-libe-
rale Koalition wird weiter für exzellente Perspektiven
für den wissenschaftlichen Nachwuchs sorgen. So wer-
den wir beispielsweise demnächst ein Wissenschaftsfrei-
heitsgesetz beschließen, welches auch auf Bundesebene
die Rahmenbedingungen weiter verbessern und beste-
hende Hemmnisse im Wissenschaftssystem beseitigen
sowie die Handlungsspielräume der Hochschulen und
Forschungseinrichtungen ausweiten wird.

Das 2007 eingeführte Wissenschaftszeitvertragsge-
setz hat diesem Anspruch für einen bestimmten Rege-
lungsbereich – nämlich zur Flexibilisierung der arbeits-
vertraglichen Verhältnisse – gerecht werden wollen.
Eine wissenschaftliche Evaluation hat gezeigt, dass
auch hier Verbesserungen erreicht wurden. Gleichwohl
ist nicht alles perfekt; denn wie stellt sich die Situation
an den Wissenschaftseinrichtungen in unserem Land
nun heute dar? Satte 84 Prozent der wissenschaftlichen
Mitarbeiter an unseren Hochschulen sind befristet ange-
stellt. Von diesen ist wiederum die Hälfte mit einem auf
unter ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag beschäftigt,
und das obwohl der Bund seit Jahren Milliarden bei-
spielsweise mit der Exzellenzinitiative und dem Quali-
tätspakt Lehre sowie dem Hochschulpakt 2020 zu einer
besseren Ausfinanzierung der Hochschulen und For-
schungseinrichtungen in Deutschland beiträgt.

Dennoch haben sich die Karriereperspektiven für un-
sere Nachwuchswissenschaftler offenbar nicht verbes-
sert. Das liegt anscheinend daran, dass die Länder ihrer
Verantwortung häufig nicht gerecht geworden sind. Der
Bund hat seine Anstrengungen erhöht, um dann festzu-
stellen, dass seitens der Länder der Beitrag zur Grund-
finanzierung von Forschung und Lehre zurückgefahren
wurde. Auf dieses Phänomen wurde im Rahmen der Sit-
zung des im Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung am 28. März 2012 durchge-
führten Fachgesprächs „Perspektiven für den wissen-
schaftlichen Nachwuchs“ mehrfach hingewiesen. Unser
gemeinsamer Antrag greift dies auf. Union und FDP ha-
ben daher ganz konkrete Vorschläge unterbreitet, wie
wir – und zwar Bund und Länder gemeinsam mit den
Hochschulen und Forschungseinrichtungen – die Rah-





Dr. Martin Neumann (Lausitz)



(A) (C)



(D)(B)


menbedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs
in Deutschland verbessern können.

Was, so werden Sie zu Recht nach einem Blick in das
Grundgesetz fragen, kann der Bund nun tun, um die Per-
spektiven und Karriereaussichten für die Nachwuchs-
wissenschaftler in unserem Land zu verbessern? Eine
Antwort darauf geben unsere 15 Forderungen, die im
Antrag ausführlich beschrieben werden. Mir ist beson-
ders wichtig, dass wir künftig darauf achten, die Ver-
tragsdauer von Arbeitsverträgen an die Laufzeit von in
der Regel drittmittelfinanzierten Projekten zu koppeln.
Nur so können wir sicherstellen, dass die Qualifika-
tionsvorhaben im Wissenschaftsbereich eine gewisse
Verlässlichkeit erhalten.

Ebenfalls hervorheben möchte ich, dass wir es end-
lich schaffen müssen, einen einheitlichen Doktoranden-
status einzuführen. Nicht zuletzt unser Fachgespräch hat
einmal mehr gezeigt, dass dieser Grundlage dafür ist,
verlässliche Aussagen treffen zu können über die Zahl
der laufenden Promotionsvorhaben, über Abbruchquo-
ten und auch die Erfolgszahlen. Auch die bereits vom
Wissenschaftsrat empfohlene pflichtige Betreuungsver-
einbarung zwischen Doktoranden und Betreuern wird
deutliche Verbesserungen für unsere Nachwuchswissen-
schaftler zeitigen. In dieselbe Richtung tendiert unser
Ansinnen, die strukturierte Doktorandenausbildung bei-
spielsweise durch Graduiertenschulen weiter auszu-
bauen.

Ebenfalls wichtig ist es, dass die Begabtenförde-
rungswerke in ihrer Aufgabe, den wissenschaftlichen
Nachwuchs finanziell wie auch ideell zu unterstützen,
weiter gestärkt werden. Nur so kann sichergestellt wer-
den, dass auch freie Promotionsvorhaben Aussicht auf
Erfolg haben. Denn wir werden nicht allen Doktoranden
Anstellungen an Hochschulen oder Forschungseinrich-
tungen anbieten können. Wirklich als Meilenstein kann
die von uns empfohlene Einführung einer zusätzlichen
Professorenkategorie, der sogenannten Associate Pro-
fessur, angesehen werden. Diese neue Personalkatego-
rie bietet die Möglichkeit, mehr unbefristete Stellen
für Nachwuchswissenschaftler neben der klassischen
W3-Professur zu schaffen. Gemeinsam mit den befriste-
ten Assistenzprofessuren, die aus den jetzigen Junior-
professuren heraus weiterentwickelt werden sollen, kön-
nen die Hochschulen künftig attraktive und verlässliche
Karriereperspektiven aufzeigen. Schließlich werden die
Hochschulen in ihrem bereits vielfach erfolgreich prak-
tizierten Ansinnen bestärkt, ihre Nachwuchswissen-
schaftler frühzeitig auf Karrieremöglichkeiten außer-
halb des Wissenschaftssystems vorzubereiten und durch
eine gezielte Personalentwicklung fitzumachen für eine
anschließende Tätigkeit in Wirtschaft, Verwaltung oder
sonstigen Arbeitsumfeldern.

Diese kleine Auswahl aus der Vielzahl von guten Vor-
schlägen, die wir mit unserem Antrag formuliert haben,
zeigt: Wir meinen es ernst mit unserem Anspruch, Bil-
dung und Forschung zum Kernanliegen der christlich-li-
beralen Koalition zu machen. Der Bund hat bereits
große Anstrengungen unternommen, die Rahmenbedin-
gungen für das deutsche Wissenschaftssystem zu verbes-

sern. Uns mangelt es glücklicherweise nicht an klugen,
motivierten und engagierten jungen Leuten, die eine
Karriere in der Wissenschaft anstreben. Dabei muss es
bleiben. Deshalb appellieren wir insbesondere an die
Länder, nicht nachzulassen in ihren Anstrengungen, ins-
besondere attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten und
verlässliche Karriereperspektiven an ihren Hochschulen
zu schaffen. Nur gemeinsam können wir die Zukunftsfä-
higkeit Deutschlands sichern.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717535400

Unser Wissenschaftssystem steht beschäftigungspoli-

tisch vor einem gravierenden Strukturproblem. Das
bescheinigen in den letzten Monaten alle Studien, und
das haben auch zwei Expertenanhörungen im For-
schungsausschuss zur Situation von Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftlern an öffentlichen Einrichtungen
bestätigt. Zwar sind in den letzten Jahren im Rahmen
der Exzellenzinitiative und des Hochschulpakts Tau-
sende Stellen an Hochschulen neu geschaffen worden.
Ein großer Anteil ist aber an zeitlich beschränkte Pro-
jekte der Exzellenzinitiative gebunden. Auch die Stellen
für Daueraufgaben aus Lehre und Forschung an den
Hochschulen sind nur zum geringen Prozentsatz un-
befristete Professuren. Dafür gab es 2010 doppelt so
viele, meist geringfügig entlohnte Lehrbeauftragte wie
noch 2005. Aus der Nähe betrachtet entpuppt sich die
vermeintliche Jobmaschine daher als Scheinriese. Wenn
man nämlich die weitere Perspektive der hochmotivier-
ten und hochqualifizierten Menschen in den Augen-
schein nimmt, so ist sie im überwiegenden Maße von
Unsicherheit und zunehmend auch von Prekarität ge-
prägt.

Die statistischen Belege sind bestechend: Nur
14 Prozent des wissenschaftlichen Personals an deut-
schen Hochschulen besteht aus Professuren und anderen
Dauerstellen, während dies in Frankreich oder England
fast zwei Drittel sind. Die Evaluation zum Wissen-
schaftszeitvertragsgesetz hat zudem offengelegt, dass
mehr als die Hälfte aller Verträge, die heutzutage ge-
schlossen werden, für maximal ein Jahr läuft. Über-
haupt dürfen sich nur 11 Prozent der befristet Beschäf-
tigten glücklich schätzen, dass sie für mehr als zwei
Jahre eingestellt werden.

Um diesen Zuständen einen Riegel vorzuschieben,
hat meine Fraktion in ihren Anträgen deutlich gemacht,
dass das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, das solche
Befristungen bislang zulässt, nachgebessert werden
muss. Wir möchten gesetzlich festschreiben, dass sich
die Laufzeit von Verträgen mindestens an der geplanten
Dauer der Qualifikation ausrichtet und dass Drittmittel-
projekte und Verträge unter einem Jahr nicht zulässig
sind.

Nun legt die Koalition heute eine Position vor, in der
sie ebenfalls für Mindestlaufzeiten von Verträgen plä-
diert. Immerhin erkennt sie die schwierige Lage der Be-
troffenen in diesem Punkt also an. Warum aber, meine
Damen und Herren von der Koalition, nehmen Sie Ihre
politische Verantwortung als Gesetzgeber nicht an und
äußern bloße Wünsche an die Hochschulrektorenkonfe-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)


renz? Spätestens nach den negativen Erfahrungen mit
Selbstverpflichtungen außeruniversitärer Forschungs-
einrichtungen in Gleichstellungsfragen wissen wir doch,
dass es verbindliche Vorgaben bei Personalfragen
braucht. Sonst bleibt wie bisher alles vom guten Willen
einzelner Entscheider abhängig.

Sie wissen, dass Sie auch noch einen alternativen
Weg gehen können: die Streichung der Tarifsperre, wie
sie GEW und Verdi zu Recht fordern. Dann könnten die
Hochschulen ihren guten Willen ganz praktisch in Tarif-
verhandlungen unter Beweis stellen und beide Seiten
könnten sachlich gute Regelungen weitgehend ohne den
Gesetzgeber stemmen. Für eine der beiden Varianten
müssen Sie sich aber entscheiden, wenn wir im Bundes-
tag wirklich seriöse Wissenschaftspolitik machen sollen.

Um Nachwuchswissenschaftlern und -wissenschaft-
lerinnen langfristige Perspektiven an deutschen Hoch-
schulen zu geben, braucht es darüber hinaus deutlich
mehr Dauerstellen. Man muss der Realität ins Auge
sehen: Es gibt anhaltend mehr Studierende, was frak-
tionsübergreifend gewünscht und gewollt ist. Hierdurch
werden schnellstmöglich deutlich mehr qualifizierte
Lehrkräfte benötigt. Zugleich schreiben alle politischen
Kräfte der Forschung eine tragende Rolle für die
Zukunftsentwicklung zu. Forschung und Innovationen
dienen den einen als vorgelagertes Labor für Wirt-
schaftswachstum und Wohlstand, den anderen als
Impulsgeber für den notwendigen sozialen und ökologi-
schen Wandel unserer Gesellschaft. So gesehen muss
man auch bei der Stellenstruktur endlich Ja zu mehr
festangestellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
lern sagen. Dafür könnten Nachwuchswissenschaftler
als Juniorprofessuren und Nachwuchsgruppenleiter mit
Tenure Track, das heißt Option auf Übernahme bei
Erfolg, ausgestattet werden. Überall im Ausland ist das
ganz normal, nur bei uns kann der sogenannte Nach-
wuchs auch im Alter von 40 Jahren nur selten selbst-
ständig forschen und lehren.

Hier bewegt sich die Koalition nunmehr einen Schritt
nach vorne und will die oben genannten Personalkate-
gorien sprachlich aufwerten, indem sie sie zu – befriste-
ten – Assistenzprofessuren zusammenfasst. Der Kern der
Neuerung liegt im Vorschlag für unbefristete Postdokto-
randenstellen als sogenannte Associate Professors, die
auch ohne Habilitation unbefristete Beschäftigung und
Autonomie in Personal- und Forschungsfragen ermögli-
chen. Diese zwei Kategorien würden Sinn machen, wenn
die eine als Transferstelle zur Vollprofessur angelegt
wäre – wie heute bereits die Juniorprofessur –, die an-
dere aber als Zielstation, mit Option auf Aufstieg. Hier
ist der vorgelegte Antrag aus meiner Sicht aber nicht
ganz klar. Die unbefristeten Postdoktorandenstellen
scheinen als Zwischenstation zwischen Juniorprofessur
bzw. Nachwuchsgruppenleitung einerseits und Vollpro-
fessur andererseits angelegt zu sein. Wenn sich darauf
aber nicht der oder die hervorragende Promovierte be-
werben kann, würde damit nur eine Professur zweiter
Klasse geschaffen.

Doch lässt sich an der Ausgestaltung der Personal-
kategorien weiter feilen. Entscheidend ist, wie ein sol-

ches Vorhaben finanziert werden kann. Die Linke hatte
hierzu ein Sonderprogramm des Bundes vorgeschlagen,
da es sich um ein wissenschaftspolitisches Ziel von über-
greifender Bedeutung handelt. Hier wäre es also span-
nend, zu erfahren, ob die Koalition dazu mit ihren
Wissenschaftsministerien der Länder im Benehmen ist.
Im Antrag schweigt Sie sich zur Finanzierung völlig aus,
wodurch jeder noch so gutgemeinte Vorschlag zum
Papiertiger wird.

Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass die
Stellenbasis auch von unten zerbröselt, weil reguläre
Qualifikationsstellen für Promovierende zunehmend
durch Stipendien ersetzt werden. Das hatte eine Befra-
gung unter Promovierenden der Max-Planck-Gesell-
schaft ergeben. Dabei sind die Max-Planck-Institute im
Vergleich zu Hochschulen finanziell gut ausgestattet,
sodass man sich für die letzteren ein noch weit größeres
Ausmaß der gleichen Entwicklung ausmalen kann.
Mitnichten liegt diese Entwicklung daran, dass immer
mehr Promovierende ungebunden an ihrer Qualifikation
arbeiten wollen. Denn die Studie zeigt, dass die Stipen-
diatinnen und Stipendiaten ähnlich stark in Projekte
außerhalb ihrer eigenen Qualifikation eingebunden
werden wie Angestellte. Sie arbeiten also regulär, nur zu
einem für die Institute deutlich günstigeren Tarif. Sie
werden weder sozial- noch renten- noch krankenver-
sichert. Statt mehr Stipendien, die bei der Bundesregie-
rung im Trend liegen, brauchen wir deshalb mehr
Stellen. Ich hoffe, dass die Diskussion zu diesem Antrag
in tragfähige Konzepte mündet.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717535500

Als wir 2010 in unserem grünen Antrag einen Pakt

für den wissenschaftlichen Nachwuchs und bessere Be-
schäftigungsbedingungen forderten, haben Vertreter der
Koalition noch abgewiegelt und von „Gejammer auf ho-
hem Niveau“ gesprochen. Ihrem heutigen – seit langem
angekündigten – Antrag kann man jetzt entnehmen, dass
inzwischen auch bei Ihnen die Erkenntnis angekommen
ist, dass die schlechten Beschäftigungsverhältnisse, die
mangelnden Perspektiven für den wissenschaftlichen
Nachwuchs und die überholte Personalstruktur tatsäch-
lich ein Problem sind und es bei unserer Kritik eben
nicht um bloße Miesmacherei der Opposition geht.

Wenn es aber um die notwendigen Konsequenzen
geht, sind Sie leider immer noch nicht in der Realität an-
gekommen. Der Forderungskatalog Ihres Antrags ist vor
allem dadurch gekennzeichnet, dass Sie der Bundesre-
gierung nichts, aber auch gar nichts abverlangen. Dabei
hätten Sie aus den Fachgesprächen im Ausschuss und
den Anträgen der Opposition genügend Vorschläge auf-
greifen können. In dieser Beziehung ist Ihr Antrag ärm-
lich.

Um der Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhält-
nisse bei den hauptberuflichen wissenschaftlichen Mit-
arbeitern entgegenzuwirken, muss die Unterfinanzie-
rung im Hochschulpakt endlich beseitigt werden. Wir
brauchen die Ausfinanzierung von Studienplätzen und
nicht nur die Schaffung von Studiermöglichkeiten zum
Sparpreis. Wir brauchen außerdem eine Verstetigung

Zu Protokoll gegebene Reden





Krista Sager


(A) (C)



(D)(B)


der Finanzierung über 2014 hinaus und Anreize und
Vereinbarungen für die Verbesserung der Beschäfti-
gungsperspektiven und der Personalstruktur.

Dazu muss ein Bundesprogramm für zusätzliche Juni-
orprofessuren mit Tenure-Track-Regelung gehören, wie
wir es mehrfach vorgeschlagen haben. Doch statt sol-
cher konkreter Maßnahmen schlägt die Koalition ledig-
lich vor, dass die Juniorprofessur zukünftig Assistenz-
professur heißen soll. Ja, was soll das denn bringen?

Es waren CDU und CSU, die jahrelang die Junior-
professur blockiert haben, weshalb es davon heute auch
nur 1 000 und nicht die geplanten 6 000 gibt. Trotzdem
ist die Juniorprofessur inzwischen in allen Bundeslän-
dern anerkannt und hat sich als Karriereweg bewährt.
Aber statt mit einem Förderprogramm kommen Sie mit
einem Umbenennungsvorschlag, wobei die Bezeichnung
„Assistenz“ den Vorteil der Juniorprofessur, nämlich die
frühe Selbstständigkeit, eher wieder relativiert.

Wir haben gefordert, neben und jenseits der traditio-
nellen Vollprofessur für qualifizierte und erfahrene Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftler Stellen zu schaf-
fen, die auch selbstständige Forschung und Lehre
ermöglichen. Auch diese Einsicht ist nun bei der Koali-
tion angekommen, und Sie machen dafür den Benen-
nungsvorschlag „Associate-Professur“, aber Sie ma-
chen keinen einzigen belastbaren Vorschlag, wie wir
denn zur Einrichtung solcher Beschäftigungsverhält-
nisse kommen. Wir haben zum Beispiel mit dem Risiko-
aufschlag für die Fortsetzung von Befristungen im Rah-
men der Drittmittelförderung immerhin einige Ideen
entwickelt.

Da, wo die Bundesregierung selbst handeln könnte,
ducken Sie sich ebenfalls weg. Zwar kritisieren Sie die
extrem kurzen Laufzeiten bei den befristeten Verträgen,
die immer mehr von der Dauer der eigentlichen Aufga-
ben abweichen, aber zu einer Änderung des Wissen-
schaftszeitvertragsgesetzes sind Sie offenbar nicht be-
reit: Aufhebung der Tarifsperre? Für die Koalition kein
Thema! Verbindliche Ausgestaltung der familienpoliti-
schen Komponente? Fehlanzeige!

Dort, wo der Bund als Geldgeber, Forschungsförde-
rer oder Mitglied von Aufsichtsgremien und Kuratorien
von wissenschaftlichen Einrichtungen aktiv ist, könnte
er sich doch direkt für einen Code of Conduct, also die
Vereinbarung von Standards für die Beschäftigung des
wissenschaftlichen Personals, einsetzen. Stattdessen
wollen Sie diese Möglichkeit nur als Appell an die Hoch-
schulrektorenkonferenz richten, die diese Woche dazu
allgemeine Leitlinien verabschiedet hat, die den Hoch-
schulen alle Hintertüren offen lassen, einfach so weiter-
zumachen wie bisher.

Dass Sie im Bereich der Promotion einige Vorschläge
aufgreifen, die sich in unserem Antrag zu Qualitätssi-
cherung finden, wie Betreuungsverträge, stärkere Ein-
beziehung externer Gutachter, die Schaffung eines Dok-
torandenstatus an den Universitäten, transparente Ver-
fahren und größere Verantwortung der Institutionen, ist
zwar zu begrüßen, aber für die Bundesebene auch rela-
tiv wohlfeil. Aber warum wollen Sie den Nachwuchs-

gruppenleitern eigentlich nicht wie den Juniorprofessu-
ren ein Promotionsrecht zugestehen? Bei Ihrem Antrag
zu den Beschäftigungsperspektiven für den wissen-
schaftlichen Nachwuchs geht es Ihnen offenbar darum,
Ihre Bundesministerin Schavan nicht mit diesem Pro-
blem zu belämmern.

Wenn Sie in ihrem Antrag schreiben, die Stellensitua-
tion für Postdoktoranden sei so gut wie nie zuvor, dann
haben Sie offenbar nicht mitbekommen, wie es gerade
bei diesen Mitarbeitern an den Unis brodelt. Es gibt
zwar so viele wie nie zuvor, aber ihre Beschäftigungsbe-
dingungen und Perspektiven sind immer schlechter ge-
worden. 86 Prozent des wissenschaftlichen Personals
gilt als wissenschaftlicher Nachwuchs bis ins fünfte Le-
bensjahrzehnt, 83 Prozent haben befristete Stellen,
53 Prozent mit Laufzeiten unter einem Jahr. So sieht der
Normalfall an deutschen Universitäten inzwischen aus.

Wenn Sie in Ihrem Antrag mehr Teilzeitbeschäftigung
für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf for-
dern, dann haben Sie offenbar nicht mitbekommen, dass
die Anzahl der Teilzeitverträge ebenfalls explodiert ist,
aber nicht aus Familienfreundlichkeit, sondern als zu-
sätzliche Variante der Prekarisierung, von der Frauen
noch stärker betroffen sind als ihre männlichen Kolle-
gen.

Hochmotivierte und -qualifizierte Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftler sichern oft über viele Jahre die
Funktionsfähigkeit unserer Universitäten, und zwar als
Lehrkräfte mit 16 Semesterwochenstunden oder in der
Projektforschung mit neun Verträgen in fünf Jahren und
ohne jede Aussicht auf eine Zukunftsperspektive. Es
reicht nicht, in dieser Situation nur auf die Länder zu
verweisen. Der Bund muss hier endlich Mitverantwor-
tung übernehmen – für die Zukunft, die Qualität und die
Wettbewerbsfähigkeit unseres Hochschul- und Wissen-
schaftssystems. Denn um nicht weniger geht es.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717535600

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9396 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Damit ist auch diese
Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 27:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktion der SPD

Umsetzung von Basel III: Finanzmärkte sta-
bilisieren – Realwirtschaft stärken – Kom-
munalfinanzierung sichern

– zu dem Antrag der Fraktion der SPD

Besonderheiten der nationalen Finanz-
märkte bei Umsetzung von Basel III berück-
sichtigen

– Drucksachen 17/9167, 17/6294, 17/9439 –





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Manfred Zöllmer

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Ralph Brinkhaus, Peter
Aumer, Manfred Zöllmer, Björn Sänger, Dr. Axel Troost
und Dr. Gerhard Schick.


Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1717535700

Die Umsetzung des Basel-III-Pakets in europäisches

Recht gehört zu den Grundpfeilern einer neuen Finanz-
marktordnung für Europa – einer neuen Finanzmarkt-
ordnung, die, wie wir alle in der Finanzkrise 2008 und in
der Staatsschuldenkrise 2010 gesehen haben, zwingend
notwendig ist.

Die Umsetzung dieses Basel-III-Pakets im Rahmen
der Verordnung und Richtlinie zu „CRD V“ wird enorme
Auswirkungen auf das Handeln von Banken haben. Es
wird mehr Eigenkapital verlangt, mehr Liquidität, und
das Berichts- und Meldewesen wird sich verändern. In-
sofern ist dieser Prozess – nicht ausschließlich, aber vor
allen Dingen – für die kleineren und mittleren Banken
mit vielen Sorgen und Ängsten verbunden. Insbesondere
Sparkassen und Volksbanken haben dies in den Medien
und in vielen Schreiben an uns Abgeordnete adressiert.
Diese Sorgen und Ängste sind nicht unbegründet und
daher sehr ernst zu nehmen, auch vor dem Hintergrund
der Bedeutung von Sparkassen, Volksbanken und klei-
nen Privatbanken für den Finanzplatz Deutschland.
Denn diese Institute sind bedeutsam für die Aufrechter-
haltung des Zahlungsverkehrs und ganz besonders auch
für die Bereitstellung von Finanzdienstleistungen für
den Mittelstand.

Mittelstand ist ein gutes Stichwort. Europa zeichnet
sich durch eine außerordentlich vielfältige Wirtschafts-
und Bankenlandschaft aus. Charakteristisch für Deutsch-
land ist im Besonderen der starke Mittelstand – und
zwar nicht nur der realwirtschaftliche Mittelstand, son-
dern auch der Mittelstand im Finanzdienstleistungsbe-
reich. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern,
in denen zumeist große Institute den Markt dominieren,
haben wir in Deutschland eine gute Mischung aus Groß-
banken auf der einen Seite und mittelständischen, regio-
nalen Banken wie Volksbanken, Sparkassen und kleinen
Privatbanken auf der anderen Seite. Diese Vielfalt hat
eine große Bedeutung für die Stabilität des Finanzsys-
tems in Deutschland und eine noch größere Bedeutung
für die Versorgung des Mittelstandes und der ländlichen
Räume mit Finanzdienstleistungen.

Auf europäischer Ebene ist diese Vielfalt natürlich um
ein Vielfaches größer, da wir hier von 27 unterschiedli-
chen Staaten reden, die sich dementsprechend auch alle
in Brüssel für die Berücksichtigung ihrer nationalen Be-
sonderheiten einsetzen. Strebt man nun eine Reform der
bisher bestehenden Regulierung an, insbesondere wenn
es sich um ein „Mehr“ an regulatorischen Anforderun-
gen handelt, wie das bei Basel III der Fall ist, sollten ei-
nige Voraussetzungen gegeben sein:

Erstens. Der Vielfalt im europäischen Finanzmarkt
und insbesondere der mittelständischen Strukturen so-
wie dem Grundsatz der abgestuften Aufsichtsintensität
sollte entsprechend der Risikostruktur des beaufsichtig-
ten Instituts angemessen Rechnung getragen werden.

Zweitens. Bei allen Regulierungsreformen sind im-
mer die damit einhergehenden Auswirkungen auf die Re-
alwirtschaft zu beachten, wobei der Begriff Realwirt-
schaft hierbei nicht nur Unternehmen einschließt, sondern
auch kommunale Kreditnehmer und Hypothekardarle-
hensnehmer.

Drittens. Regulierung sollte keine industriepoliti-
schen Auswirkungen haben und nicht zu einer Diskrimi-
nierung einzelner Anbieter aufgrund ihrer Größe oder
ihres Kapitalmarktzugangs führen. Höhere regulatori-
sche Anforderungen benachteiligen insbesondere klei-
nere Institute – nicht wegen der Einhaltung von quanti-
tativen Vorgaben wie Eigenkapitalquoten oder Liquidi-
tätsvorgaben, sondern aufgrund des höheren adminis-
trativen Aufwandes, der mit der Meldung und der Kon-
trolle dieser Kennzahlen zusammenhängt.

Betrachten wir vor dem Hintergrund dieser drei zen-
tralen Punkte den Basel-III- bzw. CRD-IV-Prozess:

Ausgangspunkt vieler Überlegungen zu Basel III war
insbesondere das Modell einer angelsächsischen, kapi-
talmarktorientierten Bank. Bereits an dieser Stelle ha-
ben die deutschen Vertreter im Baseler Komitee darauf
hingewirkt, dass die für Genossenschaftsbanken, Spar-
kassen und kleinen Privatbanken essenzielle Frage der
Eigenkapitaldefinition im Sinne der deutschen Finanz-
wirtschaft gelöst wurde, indem das Eigenkapital rechts-
formneutral definiert worden ist. Auf europäischer
Ebene konnte – nach bisherigem Verhandlungsstand –
zudem erreicht werden, dass die Frage der Risikoge-
wichtung von Mittelstandskrediten zeitnah neu justiert
wird. Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle darauf hin-
weisen, dass auf Bitten der G20 das Basel-III-Paket um
Risikozuschläge für global systemrelevante Institute er-
gänzt werden soll.

Wie sieht nun unsere Bewertung des gegenwärtigen
Verhandlungsstandes aus:

Erstens. Zunächst muss klar sein, dass CRD IV nicht
nur für die deutsche Bankenlandschaft erstellt wurde,
sondern für die Gesamtheit der europäischen Banken-
landschaft. Es ist daher selbstverständlich, dass die Re-
gelungen nicht hundertprozentig auf die deutsche Ban-
kenstruktur passen. Hätten wir sie national und nur für
uns alleine erstellt, wären wahrscheinlich andere quan-
titative Vorgaben und auch andere Governance-Regeln
dabei herausgekommen. Es ist also abzuwägen zwischen
der nicht vollständigen Passgenauigkeit von gemeinsa-
men europäischen Regeln auf der einen Seite und dem
Vorteil, den wir gerade durch diese gemeinsamen euro-
päischen Regeln gewinnen, auf der anderen Seite. Hin-
sichtlich des gegenwärtig erreichten Verhandlungsstan-
des sind wir der Meinung, dass die durch die Verhand-
lungen der Bundesregierung erzielten Kompromisse ver-
tretbar sind. Wir sehen allerdings mit großer Sorge, dass
insbesondere aus Großbritannien Forderungen gestellt

Zu Protokoll gegebene Reden





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


werden, den Eigenkapitalbegriff neu zu definieren. Der
prinzipienorientierte Eigenkapitalbegriff, der zum Bei-
spiel auch Genossenschaftskapital und Formen der stil-
len Beteiligungen enthält, ist für uns die rote Linie – ein
Überschreiten dieser Linie ist für uns nicht verhandel-
bar. Substanz muss über Form stehen.

Zweitens. Die Auswirkungen auf die Realwirtschaft:

Es wird oft die Kritik geäußert, dass durch die Vorga-
ben von CRD IV insbesondere Mittelstandskredite teurer
würden. Das ist richtig – aber nach den uns vorliegen-
den Auskünften ist diese Verteuerung signifikant niedri-
ger als 0,5 Prozentpunkte am Ende eines mehrjährigen
Übergangszeitraums. Zudem setzt sich die Bundesregie-
rung dafür ein, dass die Risikogewichtung für Mittel-
standskredite neu justiert wird. Dieser Fragenkomplex
ist derzeit Gegenstand von empirischen Untersuchungen
auf europäischer Ebene. Wir gehen davon aus, dass wir
hier noch in diesem Jahr erste Ergebnisse erzielen wer-
den.

Ein weiteres wichtiges Feld ist die Frage der Kommu-
nalfinanzierung. Eine höhere Eigenkapitalunterlegung
dieser traditionell margenschwachen Kredite könnte
dazu führen, dass sich Kommunalkredite a) verteuern
bzw. b) sich Institute aus der Kommunalfinanzierung zu-
rückziehen.

Wir nehmen diese Sorgen sehr ernst. Wir müssen uns
der Herausforderung stellen und eine angemessene Ein-
beziehung der Risiken von Kommunalkrediten in die Ei-
genkapitalunterlegung auf der einen Seite erreichen und
die Auswirkungen auf den Markt für Kommunalkredite
auf der anderen Seite berücksichtigen. Wir werden dies
sehr genau verfolgen und gegebenenfalls gegensteuern.
Die Forderung nach einer europaweiten pauschalen He-
rausnahme von Kommunalkrediten aus wesentlichen
Teilen des Regelwerks von CRD IV – Leverage Ratio –
halten wir allerdings für falsch. Zumal es sich bei der
Leverage Ratio zunächst um eine Beobachtungskenn-
zahl handelt. Dies würde im Übrigen bedeuten, dass
auch Kommunalkredite aus Krisenregionen nicht mit Ei-
genkapital zu unterlegen sind. Dies wäre aus Sicht der
Stabilität der Finanzmärkte sehr gefährlich.

Drittens. Sicherstellung der risikoadäquaten Behand-
lung von Instituten:

Regulierung sollte keine industriepolitischen Auswir-
kungen haben. Dies ist bei der Umsetzung von CRD IV
in der Tat ein Problem. Beginnen wir mit den global sys-
temrelevanten Instituten – den G-SIFIs – global systemi-
cally important financial institutions. Diese können sich
aufgrund einer impliziten Staatsgarantie (too big to fail)

gegebenenfalls günstiger refinanzieren als kleinere In-
stitute. Das sollte so nicht sein und entspricht auch nicht
der Risikosituation der G-SIFIs. Insofern ist es gut, dass
auf Initiative der G20 nunmehr im Rahmen der Beratun-
gen des Baseler Ausschusses geprüft wird, zusätzliche
Risikozuschläge auf das Eigenkapital dieser Banken, die
über die Anforderungen von Basel III hinausgehen, zu
verlangen. Wir sollten diese Risikozuschläge möglichst
schnell einführen.

Wir beobachten allerdings mit großer Sorge, dass
vermehrte Regulierung ganz besonders kleine Institute
– also Sparkassen, Volksbanken und kleine Privatban-
ken – überfordert. Dabei geht es weniger um die Einhal-
tung von quantitativen Vorgaben, sondern um den admi-
nistrativen Aufwand und das Berichtswesen. Wir fordern
an dieser Stelle eine ständige Überprüfung des Auf-
sichtshandelns auf Proportionalität, das heißt auf Ange-
messenheit im Vergleich zu den tatsächlichen Risikopo-
sitionen. Wir glauben, dass dies in der gegenwärtigen
und angedachten Regulierung noch nicht ausreichend
gelungen ist und fordern an dieser Stelle Nachjustierun-
gen. Wenn Regulierungsanforderungen nur noch von
großen Instituten mit angemessenem Aufwand erfüllt
werden können, führt dies zu Wettbewerbsverzerrungen
und letztlich zu Konzentration. Diesen Konzentrations-
prozess wollen wir in Deutschland im Hinblick auf die
Mittelstandsfinanzierung, aber auch auf die Versorgung
mit Finanzdienstleistungen in der Fläche vermeiden.

Ebenfalls mit Sorge beobachten wir, dass den euro-
päischen Aufsichtsbehörden – EBA, ESMA, EIOPA –
über delegierte Rechtsakte Grundsatzentscheidungen
über die Ausgestaltung der regulatorischen Rahmenbe-
dingungen zugewiesen werden. Diese Grundsatzent-
scheidungen sollten ausschließlich den demokratisch le-
gitimierten Rechtsetzungsorganen der Europäischen
Union vorbehalten sein. Diese Sorge haben wir bereits
in unserem kürzlich eingebrachten Antrag „Europäische
Finanzaufsicht stärken und effizient ausgestalten“ zum
Ausdruck gebracht.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Bun-
desregierung in den Verhandlungen zu CRD IV in vielen
Teilen sehr erfolgreich war. Wir hoffen, dass wir diese
Position auch in den schwierigen abschließenden Ver-
handlungen, die momentan auf europäischer Ebene
stattfinden, halten können. Gerade die britische Seite
wehrt sich – wie schon erwähnt – vehement gegen die
für uns so wichtige rechtsformneutrale Definition von
Eigenkapital. Nun gilt es vor allen Dingen, unsere be-
reits erreichten Verhandlungsergebnisse zu verteidigen
und zudem die bereits erwähnte Nachjustierung bei der
Eigenkapitalunterlegung bei Risiken aus Mittelstands-
krediten zu erreichen.

Wir als christlich-liberale Koalition haben unsere
Kernforderungen an mehreren Stellen bereits deutlich
und klar formuliert: zum einen in unserem Antrag „Sta-
bilisierung des Finanzsektors – Eigenkapitalvorschrif-
ten für Banken angemessen überarbeiten“ vom Mai
2010 und zum anderen in unserem Antrag „Effektive Re-
gulierung der Finanzmärkte nach der Finanzkrise“ vom
Juni 2011. In unserem Antrag zur europäischen Finanz-
aufsicht vom März dieses Jahres haben wir unsere Be-
fürchtungen bezüglich der Proportionalität der Aufsicht
zum Ausdruck gebracht. Die Bundesregierung arbeitet
unsere Anregungen und Forderungen konsequent ab.
Dafür bedanken wir uns ausdrücklich.

Wir begrüßen es, dass sich auch die SPD intensiv mit
dieser wichtigen Thematik beschäftigt. Sie sehen, dass
wesentliche Teile der Forderungen, die in den vorliegen-
den Anträgen der SPD gestellt werden, bereits erfolg-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


reich abgearbeitet werden. In einigen Punkten stimmen
wir – wie aus meinen Ausführungen in der heutigen und
auch in vorangegangenen Debatten deutlich wurde – in
der Diktion und auch im Inhalt nicht mit den SPD-For-
derungen überein. Wir halten es insgesamt für sehr ge-
fährlich, Maximalforderungen aufzustellen, die im Um-
kehrschluss natürlich auch bisher erreichte Verhand-
lungsergebnisse infrage stellen. Wer in die Richtung
„geteiltes Aufsichtsrecht“ argumentiert, wer fordert,
noch einmal die Diskussion über das Thema „Umset-
zung in einer Richtlinie oder einer Verordnung“ zu füh-
ren, der schnürt auch alle bereits verhandelten Pakete
wieder auf. Ich weise an dieser Stelle nur auf die bereits
mehrfach erwähnte Eigenkapitaldefinition hin. Ich habe
durchaus Verständnis dafür, dass man gut und kontro-
vers über diese Themen diskutieren kann. Dies sollte
aber nicht dazu führen, bereits Erreichtes zu gefährden.

Aus diesen Gründen werden wir den vorliegenden
Anträgen nicht zustimmen.


Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1717535800

Der Beinahezusammenbruch des internationalen Fi-

nanzsystems offenbarte uns deutliche Schwächen im
Ordnungsrahmen der Finanzmärkte. Im Verlauf der
Finanz- und Weltwirtschaftskrise wurde vor allem die
Bedeutung des Liquiditätsrisikos und -managements
deutlich. Aufgrund dieser Erkenntnisse und Fehlent-
wicklungen auf den Finanzmärkten wurde die Notwen-
digkeit für eine Überarbeitung der bisherigen Eigenka-
pital- und Liquiditätsregeln klar. Der Baseler Ausschuss
für Bankenaufsicht veröffentlichte hierzu unter Beach-
tung der Vorgaben der G 20 im Dezember 2010 das
Maßnahmenpaket „Basel III“. Im Juli 2011 stellte
schließlich die Europäische Kommission ein Gesetzes-
paket zur Umsetzung der Vorgaben des Baseler Aus-
schusses vor. Die bis heute geltende Kapitalanforde-
rungsrichtlinie CRD III soll nach den Vorschlägen der
Kommission durch eine Richtline, CRD IV, sowie durch
eine Verordnung, CRR I, umgesetzt werden.

Die neuen Regelungen stellen eines der wichtigsten
Regulierungsvorhaben nach der vergangenen Finanz-
und Weltwirtschaftskrise dar. Mit den Vorschlägen strebt
die Kommission eine grundlegende Neugestaltung des
europäischen Bankenaufsichtsrechts an. Hierzu gehören
unter anderem Neuregelungen zur Höhe und Qualität
der Eigenmittel sowie zum Risiko- und Liquiditätsma-
nagement. Ziel des Vorschlags ist es, den EU-Banken-
sektor widerstandsfähiger zu machen und gleichzeitig
dafür zu sorgen, dass die Banken weiterhin die Wirt-
schaft und das Wachstum finanzieren können.

Wir beschäftigen uns heute mit dem von der SPD-
Fraktion eingereichten Antrag zur Umsetzung von Ba-
sel III. In ihm fordern Sie, dass die neuen Eigenkapital-
und Liquiditätsregelungen nach Geschäftsmodell und
Größe der Kreditinstitute differenziert angewandt wer-
den sollen, Risikogewichte von Mittelstandskrediten an
ihr tatsächliches Risiko angepasst werden und bei Kapi-
talabzügen für Finanzbeteiligungen die besonderen
Bedingungen der Finanzverbünde der Sparkassen und
Genossenschaftsbanken berücksichtigt werden. Ferner

fordern Sie, dass bei der Ausgestaltung der risikounab-
hängigen Verschuldungsobergrenze auf das margenarme
Hypotheken- und Kommunalkreditgeschäft Rücksicht
genommen wird, die von der europäischen Bankenauf-
sicht erarbeiteten Aufsichtsstandards und Meldepflich-
ten keine unmittelbare Wirkung für regional tätige
Kreditinstitute erhalten, sondern durch die nationale
Aufsicht angemessen angewandt werden und dass es eine
angemessene Arbeitsteilung zwischen europäischer und
nationaler Bankenaufsicht gibt.

Wir, meine sehr verehrten Damen und Herren der
SPD, beschäftigen uns schon längst mit diesen Fragen.
Die Aufrechterhaltung der Mittelstandsfinanzierung so-
wie die Berücksichtigung der Besonderheiten unseres
dreigliedrigen Bankensystems sind wichtige Punkte bei
der Umsetzung der Basel-III-Regeln. Die CDU/CSU-
Fraktion sowie die Bundesregierung setzen sich aber
schon seit langem für diese Besonderheiten und für die
Beachtung der Punkte im Bereich der Mittelstandsfinan-
zierung ein. Wir setzen uns hier für eine Absenkung der
Risikogewichte ein. Eine Analyse bei der Europäischen
Bankenaufsichtsbehörde, EBA, wird zeigen, ob eine Ab-
senkung der Anforderung für die Eigenmittelunterle-
gung für das Retail- und Mittelstandsportfolio angemes-
sen sein wird. Die Bundesregierung hat sich hier bei den
Verhandlungen deutlich dafür eingesetzt, dass die Un-
tersuchung noch vor der Sommerpause und vor der Ab-
stimmung auf europäischer Ebene veröffentlicht wird.
Damit können wir das Ziel, das Gesetzespaket noch vor
der Sommerpause abzuschließen, erreichen.

Die Bundesregierung konnte weitere deutliche Er-
folge bei den Verhandlungen auf EU-Ebene, zum Beispiel
die Erhaltung der Eigenkapitalinstrumente der stillen
Einlagen und der Geschäftsguthaben der eingetragenen
Genossenschaftsmitglieder als aufsichtliches Kernkapi-
tal, erreichen. Das von Ihnen angesprochene Proportio-
nalitätsprinzip ist bereits an mehreren Stellen in den
aktuellen europäischen Textvorschlägen ausdrücklich
verankert. Die Besonderheiten des deutschen Bankensys-
tems müssen Berücksichtigung finden. Dafür haben wir
als CDU/CSU-Fraktion in Brüssel verhandelt; dafür hat
sich die Bundesregierung bereits frühzeitig eingesetzt.

Diese mühsam durch die Bundesregierung ausgehan-
delten Kompromisse stellen Sie nun, einige Wochen vor
dem Abschluss der Verhandlungen, wieder infrage. Das,
meine sehr geehrten Damen und Herren der SPD, ist
verantwortungslos und zeigt, dass Sie den richtigen
Zeitpunkt zur Einflussnahme verschlafen haben. Es wa-
ren und sind die Regierungskoalition und die Bundesre-
gierung, die sich bereits seit Beginn der Diskussion für
die Berücksichtigung deutscher Interessen, besonders
für die Interessen im Bereich der Mittelstandsfinanzie-
rung, in Brüssel starkgemacht haben und die dies auch
bis zum letztmöglichen Zeitpunkt ausverhandeln werden.

Meine Damen und Herren der SPD, Ihre beiden An-
träge verkennen die Erfolge, welche die Bundesregie-
rung im deutschen Interesse bereits bei den Verhandlun-
gen auf europäischer Ebene erreicht hat. Ihren Anträgen
können wir somit nicht zustimmen; denn sie blenden

Zu Protokoll gegebene Reden





Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)


zwei Jahre intensiver Verhandlungen und bereits er-
reichte Erfolge komplett aus.


Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1717535900

Die Europäische Kommission wird in Kürze Entwürfe

für Rechtsakte vorlegen, mit denen die Vorschläge des
Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht zur Neurege-
lung der Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen
für Kreditinstitute – das sogenannte Basel III – in euro-
päisches Recht umgesetzt werden sollen.

Mit diesen Neuregelungen sollen Konsequenzen aus
den in der Finanzkrise offenbar gewordenen Lücken in
der Finanzmarktregulierung gezogen werden. Die ers-
ten länderübergreifenden Eigenmittelstandards für Ban-
ken – Basel I – sind bereits 1988 verabschiedet worden.
Im Jahr 2004 folgte Basel II, das neue Risikokategorien
einführte, aber den großen, international tätigen Institu-
ten erlaubte, Risiken mit eigenen Modellen zu bewerten
und zu gewichten.

Dieses Zugeständnis nutzten die Banken aus, um ihre
Eigenkapitalausstattung anzupassen. Vom Ergebnis her
hielten sie in der Folge dann aber nicht mehr, sondern
weniger Eigenkapital. Dies geschah offenbar in der
Überzeugung, die zur Umsetzung von Basel II geschaf-
fene Risikomanagementinfrastruktur mache es möglich,
Risiken so zuverlässig zu erfassen, dass auch eine Bank
mit geringerem Eigenkapital gut geschützt sei.

Die Finanzkrise hat diese Haltung als Illusion ent-
larvt, und insoweit ist es gut, wenn unter anderem an
diesem Punkt nachjustiert wird.

Der Großteil der geplanten Basel-III-Änderungen
soll nach dem Willen der Europäischen Kommission mit-
tels einer Verordnung und nicht wie bisher bei solchen
Regelungen üblich durch eine Richtlinie vorgenommen
werden.

Wir sind davon überzeugt, dass eine Umsetzung von
Basel III durch eine Verordnung mit großen Nachteilen
verbunden wäre. Eine Verordnung stellt gemäß Art. 249 II
EG unionsweit unmittelbar geltendes Recht dar – die so-
genannte Verbindlichkeit in allen Teilen. Diese grenzt die
Verordnung von der Richtlinie ab. Die Verordnung ist
gänzlich geltendes Recht, während die Richtlinie nur hin-
sichtlich der Zielbestimmung verbindlich ist. Die Umset-
zung der Zielbestimmung bei Richtlinien bleibt jedem
einzelnen Mitgliedstaat vorbehalten.

Dem Deutschen Bundestag würden somit seine Mit-
wirkungsmöglichkeiten genommen, und nationale Be-
sonderheiten könnten nicht berücksichtigt werden. Eine
Richtlinie eröffnet Spielräume bei der Ausfüllung und
Konkretisierung der europäischen Vorgaben durch die
Mitgliedstaaten.

Die Wahl des Rechtsinstrumentes ist insoweit eine
wichtige Weichenstellung, als sie die Beteiligungsmög-
lichkeiten nicht nur hinsichtlich der aktuellen Reform,
sondern auch der künftigen Regulierungsvorhaben be-
stimmt.

Der Deutsche Bundestag muss die neuen Regelwerke
zu Basel III angesichts ihrer hohen Bedeutung sowohl

für die Kreditwirtschaft als auch für die Unternehmen
und Anleger aktiv mitgestalten. Eine bloße Begleitung
des europäischen Rechtsetzungsprozesses würde der
Verantwortung des Deutschen Bundestages für die
wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes
nicht gerecht. Die Mitwirkung der Parlamente bietet die
beste Gewähr, dass bei der Anwendung der globalen
Basel-III-Vorschriften den spezifischen Bedingungen
der jeweiligen Finanzmärkte ausreichend Rechnung ge-
tragen wird.

Es steht fest, dass zwischen den Finanzmärkten
erhebliche Unterschiede bestehen. Für den deutschen
Finanzmarkt sind eine langfristige Orientierung, eine
bankbasierte Unternehmensfinanzierung und ein dezen-
tral ausgerichtetes Bankensystem signifikant. Dem ste-
hen Finanzmärkte mit einer kurzfristigen Orientierung,
einer kapitalmarktorientierten Finanzierung und einem
stärker zentralisierten Bankensystem gegenüber.

Eine Umsetzung der Basel-III-Vorschriften ohne
Rücksicht auf diese Unterschiede wäre gerade für den
deutschen Bankenmarkt mit seinem hohen Anteil kleiner
und regionaler Institute nicht angemessen. Es bestünde
die Gefahr, dass die auf international tätige und kapital-
marktorientierte Bankkonzerne ausgerichteten Vorga-
ben die Kreditvergabefähigkeit von Sparkassen und
Genossenschaftsbanken über Gebühr einschränken und
so zu einer Verringerung und Verteuerung der Kreditver-
sorgung für den Mittelstand führen. Das Ergebnis wäre
nicht mehr Wettbewerbsgleichheit, sondern eine Verzer-
rung im Wettbewerb zulasten vieler deutscher Institute.

Eine effektive Finanzmarktregulierung setzt gleich-
wertige, aber keine uniformen europäischen Vorgaben
für alle Mitgliedstaaten voraus. Es darf keine Regulie-
rungsarbitrage zwischen den Mitgliedstaaten geben.
Gleichwertige Wettbewerbsbedingungen lassen sich
aber auch bei einer Umsetzung der Basel-III-Vorschrif-
ten mittels einer Richtlinie erreichen.

Uniforme Regelungen würden sich auf verschieden
strukturierten Märkten sehr unterschiedlich auswirken.
Die bei einer Richtlinie vorhandenen Entscheidungs-
spielräume ließen es zu, sich den spezifischen Gegeben-
heiten entsprechend anzupassen und dadurch eine wett-
bewerbsneutrale Wirkung zu erreichen. Dabei kann es
sich in bestimmten Fällen als erforderlich erweisen,
über die europäischen Vorgaben hinaus höhere Stan-
dards anzuwenden.

Hierbei gehen wir davon aus, dass eine in Rede ste-
hende Richtlinie hinsichtlich ihrer Zielsetzung strikt for-
muliert sein muss. Den Mitgliedstaaten muss aber die
Wahl der Mittel zu ihrer Umsetzung überlassen bleiben.

Wir fordern daher mit unserem Antrag die Bundes-
regierung auf, sich gegenüber der Europäischen Kom-
mission und den Mitgliedstaaten für eine Umsetzung der
Basel-III-Vorschriften durch eine Richtlinie einzusetzen;
bei den Beratungen über die Richtlinie für eine Berück-
sichtigung der Besonderheiten des deutschen Finanz-
marktes einzutreten, insbesondere bezüglich der lang-
fristigen Finanzierungsorientierung, der bankbasierten
Unternehmensfinanzierung und der dezentralen Ban-

Zu Protokoll gegebene Reden





Manfred Zöllmer


(A) (C)



(D)(B)


kenstruktur; dem Bundestag frühzeitig und regelmäßig
über den Stand der Beratungen auf europäischer Ebene
zu berichten.


Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1717536000

Wieder einmal zeigen sich die Sozialdemokraten als

unbelehrbar. Ihre beiden Anträge sind nicht zielführend;
das haben wir ihnen im Rahmen der Beratungen im Ple-
num und Ausschuss ausgiebigst erläutert. Trotzdem sind
sie nicht von Ideen wie der, Basel III in Form einer
Richtlinie umsetzen zu wollen, abzubringen. Wenn in
Brüssel so entschieden würde, dass Basel III im Wege ei-
ner Richtlinie umgesetzt würde, die nationale Freiheiten
lässt, besteht die große Gefahr, dass Abweichungsmög-
lichkeiten von anderen Ländern ungünstig ausgenutzt
werden, was zu Fehlentwicklungen führen kann. Auf
diese hätten wir dann keinerlei Einfluss, müssten aber
notfalls im Zuge europäischer Rettungsmaßnahmen Gel-
der aufbringen. Genau so etwas muss aber vermieden
werden. Wir wollen gleiche Standards für alle Banken in
der Europäischen Union. Dass dies teilweise auch für
unsere Banken aller Säulen mit Schwierigkeiten bei der
Umsetzung verbunden sein kann, ist uns bewusst, und
auch durch unsere Initiativen ist die Bundesregierung
entsprechend sensibilisiert, in Brüssel im Rahmen der
Möglichkeiten entsprechend zu verhandeln.

Wir sind absolut zuversichtlich, was die Umsetzungs-
fähigkeit unserer Banken betrifft. Das ewige Argument
der Benachteiligung kleiner Institute durch ein Büro-
kratiemonster ist ein Ammenmärchen. Schauen wir uns
doch beispielsweise einmal die Solvabilitätsregeln an:
Zur Ermittlung der Eigenkapitalanforderungen für
Kredit-, Markt- und operationelle Risiken wird das Pro-
portionalitätsprinzip angewandt. Damit hängen Umfang
und Schwierigkeitsgrad der anzuwendenden Regelun-
gen vom Risikoprofil eines Kreditinstituts ab. Damit
stehen kleinen und mittleren Kreditinstituten einfache
Standardansätze zur Berechnung der Eigenmittel zu Ver-
fügung. Oder betrachten wir die Liquiditätsregelungen:
Dort sind Ausnahmen von der Erfüllung der Liquidi-
tätsanforderungen auf Einzelinstitutsebene auch für Ver-
bundunternehmen vorgesehen, womit Verbundinstitute
faktisch Konzerngruppen gleichgestellt werden. Auch
die komplexen Regeln im Rahmen der Großkreditüber-
wachung brauchen Institute mit einem kleinen Handels-
buchvolumen nicht anwenden.

Gegebenenfalls wird bei Verwaltungssanktionen auf
die Finanzkraft der kleineren Institute geschaut, um sie
vor Überforderung zu schützen. Auch die ganzen Gover-
nanceregeln müssen dem Umfang und der Komplexität
des Instituts angemessen sein. Das Proportionalitäts-
prinzip ermöglicht es kleinen Instituten so, auf die
Einrichtung etwa des Risiko-, Nominierungs- und Ver-
gütungsausschusses zu verzichten. Das beliebteste
Argument, man würde die kleinen Banken durch uner-
füllbare Meldepflichten so sehr beschäftigen, dass sie zu
nichts anderem mehr kämen, ist auch nicht überzeu-
gend; denn auch dort gilt das Proportionalitätsprinzip.

Wir haben in den vorangegangenen Debatten zur
Aufsicht schon mehrfach ausgeführt: Es besteht auch

kein direkter Zugriff des Schreckgespensts EBA auf die
kleinen Finanzinstitute in den Regionen, es sei denn die
zuständige nationale Aufsichtsbehörde sei völlig un-
tätig, was aus unseren vergangenen Erfahrungen mit
unserer Aufsicht dieser nun wirklich nicht zu unterstel-
len ist.

Wieso also die große Angst vor den europäischen
Regelungen? Auch die Interessenvertreter der Sparkas-
sen und Genossenschaftsbanken, die landauf und landab
postulieren, dass Basel III im Wege einer Richtlinie
umgesetzt werden muss, haben auf ein gemeinsames
Schreiben meines verehrten Kollegen Brinkhaus und mir
überhaupt nicht reagiert, als wir sie um Aufklärung
gebeten haben, welche Spielräume zum Schutze der
kleinen Institute sie sich erhoffen, falls es statt der
Verordnung nun eine Richtlinie mit nationalen Umset-
zungsspielräumen gäbe. Das ist also vor allem Panik-
mache und nicht zielführend auf dem Wege zu einer eu-
ropäischen Harmonisierung der Regelungen für
Finanzinstitute. Wir haben dies verstanden, wissen um
das Proportionalitätsprinzip, das unsere kleineren und
mittleren Institute nicht überfordert, und bauen auf
europäische, vereinheitlichende Regelungen für ein
Mehr an Stabilität.


Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717536100

Wir debattieren über Basel III, das Eigenkapital- und

Liquiditätsanforderungen für Banken neu regelt. Europa
leidet nach wie vor unter der jüngsten Bankenkrise, die
schwerste in einer Reihe von Bankenkrisen seit Beginn
der Deregulierung – seit 1985 gab es weltweit 30 Ban-
kenkrisen. Deswegen ist die Stoßrichtung von Basel III
auch unumstritten. Wir sind uns im Bundestag allerdings
auch relativ einig, dass Basel III für grenzüberschrei-
tend tätige Banken konzipiert wurde, die Sparkassen und
Genossenschaftsbanken nur wenig an der Krise beteiligt
waren und nicht unter den Dampfzug einer europäi-
schen Regulierung geraten sollen.

Nach meiner Erfahrung aus sechs Jahren Finanzpoli-
tik im Bundestag hat sich der Finanzausschuss bei
Basel III und der Umsetzung in europäisches Recht er-
kennbar zu wenig für die Belange der Sparkassen und
Genossenschaftsbanken eingesetzt. Der Finanzaus-
schuss hat daher auf unsere Initiative im Januar ein
Fachgespräch zu Basel III durchgeführt. Dessen Er-
kenntnisse sind erkennbar in den Antrag der SPD einge-
flossen. Sicherlich haben sie auch die Position der Bun-
desregierung beeinflusst. Wir sind aber nicht davon
überzeugt, dass mit der aktuell diskutierten Fassung so-
wohl das globale Finanzkasino ausreichend einge-
schränkt wird als auch Kollateralschäden auf boden-
ständige Finanzgeschäfte vermieden werden.

Wir unterstützen daher die Forderungen der SPD
nach differenziert nach Größe und Geschäftsmodell ge-
stalteten Eigenkapital- und Liquiditätsregelungen und
nach einer wohlwollenden Behandlung von Mittel-
stands-, Hypotheken- und Kommunalkrediten. Unsere
Vorstellungen zum Verhältnis der europäischen und
deutschen Bankenaufsicht habe ich bereits in meiner

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)


Rede am 29. März 2012 erläutert. Die SPD bleibt insge-
samt jedoch konkrete Vorschläge schuldig.

Zu den einzelnen Vorschlägen möchte ich kurze An-
merkungen machen. Solange die Leverage Ratio nur als
Beobachtungsinstrument implementiert wird, dürften
die Auswirkungen auf die Kommunal- oder Immobilien-
finanzierung überschaubar bleiben. Wir sehen jedoch
Gefahren, sobald sie verpflichtend gemacht würde. Das
könnte mit einer niedrigen Leverage Ratio vermieden
werden, bei der dann jedoch Derivate nicht saldiert wer-
den dürften. Damit wären Zockerbanken betroffen und
gerade nicht das risikoarme Geschäft der Sparkassen,
Genossenschaftsbanken oder Pfandbriefbanken.

Ich weiß, dass die Koalitionsfraktionen im Zusam-
menhang mit der Risikogewichtung von Kommunalkre-
diten und Staatsanleihen auf der finanziellen Lage eini-
ger Staaten und Kommunen herumreiten werden. Sie
sollten aber ehrlicherweise die Rolle der dafür maßgeb-
lich verantwortlichen neoliberalen Wirtschaftspolitik
benennen, der abgeholfen werden könnte.

Ich bin im Antrag der SPD über den Begriff „tatsäch-
liches Risiko“ gestolpert. Dieser ist ein Widerspruch in
sich und somit regulierungsuntauglich. Risiken werden
mit vereinfachenden Mitteln analysiert und quantifiziert.
Die Ergebnisse sind aber niemals objektiv oder unstrit-
tig, weil niemand eine Kristallkugel hat. Warum ich das
sage: Gerade deswegen liegen Banken, Ratingagenturen
und auch Aufseher in ihrer Einschätzung regelmäßig da-
neben. Deswegen muss der Regulierer besondere Vor-
sorge für grobe kollektive Fehleinschätzungen treffen
und Anreize zum Schönrechnen beseitigen. Dazu reichen
die Vorschläge des Basel-Komitees, der EU-Kommis-
sion, der Bundesregierung und auch der SPD nicht aus.

Das bedeutet: Wenn unter anderem Großbritannien
und die Schweiz als Staaten mit einem großen Banken-
sektor höhere Eigenkapitalzuschläge anstreben, warum
setzt sich die Bundesregierung nicht dafür ein, dass es
EU-weit oder national weit höhere Eigenkapitalzu-
schläge für grenzüberschreitend tätige Großbanken ge-
ben kann und soll? Damit Basel III einen Beitrag gegen
die Too-big-to-fail-Problematik liefert, sollten die
Eigenkapitalzuschläge progressiv mit der Bilanzgröße
ausgestaltet sein und ambitionierter ausfallen als die
verabredeten 2,5 Prozent für die weltweit größten Insti-
tute.

Tatsächlich haben Banken schon seit Basel II Anreize,
mit internen Risikomodellen Risiken runterzurechnen,
um wenig Eigenkapital vorhalten zu müssen. Die Folge
sind große Risiken für die Gesellschaft. Ein Schönrech-
nen bei Risikogewichtungsmethoden könnte durch ver-
pflichtenden Abgleich mit einem Standard-portfolio of-
fengelegt werden. Einen wirklichen Durchbruch brächte
eine deutliche Komplexitätsreduktion, wie sie mit dem
von uns vorgeschlagenen Finanz-TÜV erreicht würde.
Wir vermissen auch Forderungen wie zum Entfernen von
Verweisen auf externe Ratings oder auf einen höheren
Selbstbehalt bei transferierten Risiken. Ohne diese Maß-
nahmen bleibt das Finanzsystem weiterhin stark krisen-
anfällig.


Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717536200

Zweifellos: Basel III kann ein Meilenstein im Bereich

der Finanzmarktregulierung werden. Viele Details mit
oft weitreichenden Wirkungen werden derzeit auf euro-
päischer Ebene verhandelt. Für uns Bündnisgrüne ist
dabei die verbindlich einzuhaltende Einführung einer
Art Schuldenbremse für Banken – eine sogenannte Leve-
rage-Ratio – sehr wichtig.

Eine solche Schuldenbremse begrenzt das Verhältnis
von Bilanz zu vorhandenem Eigenkapital und damit den
Verschuldungsgrad einer Bank. Hintergrund ist: Wir ha-
ben in der Krise immer wieder gesehen, dass hohe risi-
kogewichtete Eigenkapitalquoten bei hohem Verschul-
dungsgrad, wie sie insbesondere bei deutschen Banken
anzutreffen sind, eine gefährliche Scheinsicherheit ver-
mitteln, die für Aktionäre zwar eine attraktive Divi-
dende, aber für den Steuerzahler gefährliche Risiken
versprechen. Denn ein hoher Schuldenstand macht Ban-
ken sehr instabil, auch und gerade Pfandbriefbanken,
denen Sie in Ihrem Antrag ein risikoarmes Geschäftsmo-
dell attestieren: Die irische Tochter der Hypo Real Es-
tate, die Depfa, agierte mit einem Hebel von 125. Das ist
nicht risikoarm, das ist hochriskant! Schon kleine Ver-
luste zehren dann das geringe Eigenkapital auf, die
Bank gerät in eine Schieflage, und der Ruf nach dem
Staat als Retter der letzten Instanz, der die Verluste so-
zialisieren soll, wird laut. Insofern sehen wir in der Le-
verage-Ratio einen elementar wichtigen Beitrag für
mehr Stabilität auf den Finanzmärkten und auch einen
Teil einer Lösung der sogenannten Too-big-to-fail-Pro-
blematik.

Die SPD fordert hier die Aufweichung dieses Kon-
zepts, weil sie eine Verteuerung des Kommunalkredits
befürchtet. Auch wir nehmen die dahinter stehenden Be-
denken durchaus ernst. Wir sind aber der Überzeugung,
dass zur Bewältigung vorhandener Probleme in den
kommunalen Haushalten bei den Ursachen angesetzt
werden muss: Eine aufgabenadäquate Finanzierung und
ein Altschuldentilgungsfonds sind die Ansätze, um die es
da unserer Ansicht nach gehen muss. Wenn Sie hier Vor-
schläge in der Sache machen, haben Sie uns auf Ihrer
Seite.

Die Aufweichung wichtiger Finanzmarktreformen ist
an dieser Stelle aber fehl am Platz. Das können wir nicht
mitmachen. Ich bitte auch zu bedenken, dass die erfor-
derliche Eigenkapitalunterlegung nur einer von vielen
anderen Faktoren ist, die am Ende über den Kreditzins
entscheiden: Die Wettbewerbssituation, das allgemeine
Zinsniveau, die Verwaltungs- und Refinanzierungskos-
ten und anderes mehr sind ebenso wichtige Determinan-
ten.

Ferner verlangen Sie, die neuen Basel-III-Regeln
nach Geschäftsmodell und Größe zu differenzieren. Vor
dem Hintergrund der noch immer ungelösten Großban-
kenproblematik, wonach zu große Banken gerettet wer-
den müssen, fordern wir zwar konzeptionell Ähnliches,
konkret: eine Größenbremse für Banken, bei der Eigen-
kapitalanforderungen mit der Größe des Instituts über-
proportional ansteigen. Wichtiger Unterschied zum
vorliegenden Antrag: Der Startpunkt unserer Größen-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


bremse sind die aktuellen Basel-III-Anforderungen.
Nach unseren Vorstellungen für stabile Finanzmärkte
betrachten wir die quantitativen Basel-III-Anforderun-
gen als regulatorische Minima. Sie hingegen wollen Ba-
sel III für bestimmte Institutsgruppen quantitativ nach
unten öffnen. Abweichungen nach unten können wir uns
für regionale Banken aber allenfalls in qualitativer Sicht
vorstellen, also zum Beispiel hinsichtlich bürokratischer
Anforderungen.

Außerdem blenden Sie hier einen wichtigen Teil der
Diskussion einfach aus: Großbritannien fordert, für
seine Banken über Basel III hinausgehen zu können, um
seine Banken stabiler zu machen. Nach den Erfahrungen
in Island, Irland und jetzt Spanien, wo zu große Banken
die Solvenz ganzer Staaten bedrohen, finde ich die da-
hinter stehende Ratio sehr nachvollziehbar. Die EU-
Kommission, die Bundesregierung und die derzeitige
französische Regierung wollen das aber nicht zulassen.
Wir sind hier ausnahmsweise auf der Seite der Briten:
Wer seine Banken mit höheren Anforderungen sicherer
machen will, muss das dürfen. Folgte man aber Ihrem
Antrag, wäre solch ein Abweichen nach oben nicht mög-
lich.

Insgesamt lehnen wir daher Ihren Antrag vom März
ab. Auch den älteren SPD-Antrag vom Juni 2011 sehen
wir mit Skepsis: Bei Ihrem Ansinnen, Basel III mittels
Richtlinie umzusetzen, damit die nationalen Parlamente
die Besonderheiten ihrer Bankenmärkte einspeisen
konnten, sehen wir die Gefahr, am Ende einen regulato-
rischen Flickenteppich zu erhalten, der gefährlicher Re-
gulierungsarbitrage – also der bewussten Ausnutzung
regulatorischer Unterschiede – Tür und Tor öffnete. Da
inzwischen die Kommission Basel III sowohl mittels
Richtlinie als auch Verordnung umsetzt, betrachten wir
Ihren Antrag aber bereits weitestgehend als überholt
und werden uns daher enthalten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717536300

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/9439.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/9167. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die
Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken angenom-
men.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrages der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/6294. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei
Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken
angenommen.

Tagesordnungspunkt 28:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Einsatz privater Sicherheitsdienste im Kampf
gegen Piraterie zertifizieren und kontrollieren

– Drucksache 17/9403 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig

Folgende Kollegen und Kolleginnen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Eckhardt Rehberg, Uwe
Beckmeyer, Paul Schäfer, Dr. Valerie Wilms, Parl.
Staatssekretär Hans-Joachim Otto.


Eckhardt Rehberg (CDU):
Rede ID: ID1717536400

Ich darf zunächst meine Verwunderung zum Ausdruck

bringen, dass die Kolleginnen und Kollegen der SPD-
Fraktion sich hier so vehement für den Schutz der See-
leute auf deutschen Handelsschiffen einsetzen. Das ist
ausgesprochen löblich, jedoch offenkundig nicht konse-
quent. Die deutsche Handelsflotte und deren Angehörige
wären sicherlich erfreut gewesen, wenn Sie, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der SPD, die heutige Ankündigung
im Parlament, dem modifizierten Atalanta-Einsatz der
Bundeswehr nicht zustimmen zu wollen, unterlassen hät-
ten. Mit der heutigen Einbringung ist ein weiterer we-
sentlicher Schritt zur Pirateriebekämpfung vor der
Küste Somalias eingeleitet worden, dem Sie sich verwei-
gern wollen. Insofern ist die Ernsthaftigkeit der Inten-
tion Ihres Antrages an dieser Stelle zu hinterfragen.

Das Problem der Pirateriebekämpfung, liebe Antrag-
steller von der SPD, eignet sich wahrlich nicht als
Schlachtfeld parteiinterner Richtungs- und Personal-
kämpfe. Dass Sie sich Ihren Ankündigungen zufolge
beim Atalanta-Mandat nur eine Enthaltung abringen
wollen, ist in Anbetracht dessen, dass wir hier über die
Gefahrenabwehr für deutsche Seeleute diskutierten, die
mit ihrer harten und mittlerweile auch nicht mehr unge-
fährlichen Arbeit einen erheblichen Beitrag für unser al-
ler Wohlstand in Deutschland leisten, eine Blamage und
ein Offenbarungseid Ihrer Regierungs- und Handlungs-
unfähigkeit. Eine Blamage ist es auch deshalb, weil Sie
gegen jedwede Vernunft argumentieren. Die Stiftung
Wissenschaft und Politik stellte schon im Juli 2010 in
der Studie „Piraterie und maritime Sicherheit“ einen
zusätzlichen Bedarf militärischer Mittel fest: „Zu die-
sem Zweck ist es erforderlich, die Luftaufklärung über
See zu verstärken und zusätzliche Kriegsschiffe außer-
halb der Monsunzeiten einzusetzen.“ Insofern konnten
auch wissenschaftliche Argumente Sie nicht überzeugen.





Eckhardt Rehberg


(A) (C)



(D)(B)


Bitte lassen Sie mich ein weiteres Zitat an dieser
Stelle anbringen: „Meine Forderungen an die Bundesre-
gierungen sind klar. Erstens muss unsere Marine vor
dem Horn von Afrika verstärkt werden – eine Fregatte
reicht nicht aus. Zweitens muss der Einsatz notfalls ‚ro-
buster‘ gestaltet werden, dabei müssen, wenn nötig,
auch Basislager der Piraten angegriffen werden.“ Diese
Forderungen, denen die Bundesregierung im Übrigen
mit der Fortsetzung und Modifizierung des Atalanta-
Mandats nachkommt, entstammen nicht etwa innenpoli-
tischen Kreisen unserer Koalition, nein, diese Äußerun-
gen sind auf der Internetseite des hamburgischen SPD-
Innensenators Michael Neumann zu finden, datiert mit
dem 17. Juli 2011. Ein Blick in Ihren Antrag wiederum,
liebe Kollegen von der SPD, verrät uns nun, dass Sie der
Ansicht sind – ich zitiere –: „Die Größe des Operations-
gebietes steht jedoch in keinem Verhältnis zu der Zahl
der zur Verfügung stehenden Einsatzkräfte. Ein flächen-
deckender Schutz von deutschflaggigen Handelsschiffen
durch den Einsatz der Bundeswehr oder der Bundespoli-
zei ist angesichts der hohen Zahl von Schiffspassagen
weder personell und logistisch noch finanziell möglich.“

Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, ab-
gesehen davon, dass Sie damit Ihrem mit maritimen The-
men durchaus vertrauten Innensenator der Hansestadt
Hamburg in den Rücken fallen wollen, ist zu fragen, was
Sie eigentlich bezwecken. Eine ernsthafte und nach Lö-
sungen ringende Beratung, die dem Problem der Pirate-
rie angemessen wäre, ist vermutlich nicht Ihr primäres
Anliegen. Wenn doch, würden Sie dem Rat Ihres Partei-
genossen aus Hamburg folgen und in den parlamentari-
schen Beratungen Atalanta zustimmen.

Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
hingegen werden nicht nur durch die Fortsetzung des
Atalanta-Mandats der Bundeswehr einen Beitrag zur
Bekämpfung der Piratenangriffe vor der Küste Somalias
erbringen, sondern arbeiten mit Hochdruck an einem
Zulassungsverfahren für Bewachungsunternehmen auf
Seeschiffen. Um es an dieser Stelle noch einmal festzu-
halten: Bisher ist der Einsatz privater Sicherheitsunter-
nehmen nicht verboten, sondern bislang nur nicht gere-
gelt, da wir es hier mit einer Sondersituation zu tun
haben, deren Ausmaß und Konsequenzen erst in den
letzten Jahren deutlich wurde. Der Erfolg von Einsätzen
privater Sicherheitsunternehmen lässt sich bereits jetzt
feststellen. Sofern Bewachungsunternehmen an Bord
von Handelsschiffen waren, ließen die Piraten von ihrem
geplanten Angriff ab oder die Angriffe konnten erfolg-
reich abgewehrt werden.

Die Bundesregierungen unter der Großen Koalition
und unter der christlich-liberalen Koalition haben be-
reits seit 2008 unterschiedliche Maßnahmen ergriffen,
etwa durch die Beteiligung der Bundeswehr im Zuge in-
ternationaler Einsätze, um die humanitären Hilfsliefe-
rungen für das afrikanische Krisengebiet zu sichern und
um natürlich auch dem auftretenden Phänomen der
Schiffs- und Besatzungsentführungen sowie der Lösegeld-
erpressung wirksam entgegenzutreten. Sie nennen in Ih-
rem Antrag zu Recht den Aufbau staatlicher Strukturen
als Voraussetzung für den wirtschaftlichen Wiederauf-
bau in Somalia und die damit verbundene Eindämmung

von Hunger und Armut. Deutschland leistet hier einen
wichtigen Beitrag: Deutsche Soldaten, die Sie durch
Ihre Ankündigung am heutigen Tag bei Atalanta offen-
bar nicht weiter beteiligen wollen, partizipieren bei-
spielsweise auch an der EU-geführten Ausbildungsmis-
sion „EUTM Somalia“. Bislang konnten dadurch
1 800 Soldaten der somalischen Übergangsbundesre-
gierung in Uganda ausgebildet werden. Bis Dezember
dieses Jahres sollen es dann 3 000 somalische Soldaten
sein.

Im Februar 2010 wurde als Reaktion auf die weltweit
steigenden Piraterievorfälle das Piraterie-Präventions-
zentrum bei der Bundespolizei See in Neustadt in Hol-
stein geschaffen. Diese Einrichtung bietet den deutschen
Reedern unterschiedliche Dienstleistungen zur Vorbeu-
gung möglicher Attacken durch Piraten an. Mit Risiko-
analysen, der Darstellung technischer Präventionsmaß-
nahmen, wie etwa der aktiven Abwehr durch nautische
Manöver, und der Vermittlung von Verhaltensgrundsät-
zen ist eine wichtige Anlaufstelle eingerichtet worden.
Die deutschen Reeder sind gesetzlich dazu angehalten,
die Eigensicherung ihrer Schiffe zu unterstützen und die
Umsetzung der Best Management Practice, BMP, der
Verhaltensregeln der International Maritime Organiza-
tion, IMO, zu gewährleisten. Hierbei kann auch das Pi-
raterie-Präventionszentrum zurate gezogen werden, das
die Umsetzung der jeweils gültigen Fassung der BMP
unterstützt. Darüber hinaus informiert die Bundespoli-
zei durch Vorträge, Seminare und Workshops, steht zur
individuellen Beratung zur Verfügung und trainiert Ree-
der. Eine weitere wichtige Maßnahme ist die Einrich-
tung von sogenannten Safety Rooms an Bord der Schiffe.
Diese mit besonderen Schutzmaßnahmen ausgestatteten
Panikräume bieten im Ernstfall Schutz vor möglichen
Geiselnahmen, die durch Lösegeldforderungen für die
Piraten besonders attraktiv sind. Neben dem hoheitli-
chen Engagement der Bundeswehr in internationalen
Einsätzen, der präventiven Arbeit durch die Bundespoli-
zei kommt es also auch auf die verpflichtenden Maßnah-
men an, die durch die deutschen Reeder gewährleistet
sein müssen.

Die Bundesregierung bekennt sich aber natürlich zu
ihrer Verantwortung. Das Bundesministerium für Wirt-
schaft und Technologie hat in Übereinstimmung mit den
Koalitionsfraktionen Maßnahmen entwickelt und einen
entsprechenden Diskussionsentwurf zur Einführung ei-
nes Zulassungsverfahrens für Bewachungsunternehmen,
die auf Seeschiffen tätig werden, vorgelegt. Dieser
Schritt, den Sie mit Ihrem Antrag einfordern, ist längst
umfänglich vorbereitet, seit langem mit den Betroffenen
diskutiert und stellt in dem Bündel an Aktivitäten zur Pi-
rateriebekämpfung eine weitere wichtige Ergänzung
dar. Damit wird den Forderungen und Bedürfnissen der
Branche entsprochen. Diese Arbeit erfährt im Übrigen
auch die Würdigung der deutschen Reeder, die neben
anderen Interessensvertretungen und den Bundeslän-
dern im Diskussionsprozess eingebunden sind.

Bei der inhaltlichen Ausgestaltung gilt es, die Heraus-
forderung zu meistern, der Besatzung den nötigen Schutz
vor etwaigen Angriffen zu ermöglichen und dabei die Ge-
fahr zu minimieren, dass Menschen zu Schaden kommen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Eckhardt Rehberg


(A) (C)



(D)(B)


Diese anspruchsvolle Aufgabe kann nicht ausschließlich
durch die EU-geführte Atalanta-Mission erfüllt werden.
In einem Seegebiet, das 18-mal größer ist als Deutsch-
land, ist die Bedrohung für die Schiffsbesatzung und den
freien Warenverkehr nach wie vor hoch. Es sei an dieser
Stelle erwähnt, dass 95 Prozent des internationalen Wa-
renverkehrs und 90 Prozent der europäischen Güterex-
porte an Drittstaaten über den Seeweg erfolgen. Nach
dem Krisenjahr 2008 hat sich der Welthandel und damit
auch die maritime Wirtschaft erholen können. Das führt
nun erfreulicherweise dazu, dass der internationale See-
verkehr seinen Wachstumsprozess fortsetzt. Auch wenn
die Wahrscheinlichkeit eines Piratenüberfalls unter
1 Prozent liegt und wir 2011 einen Rückgang von Angrif-
fen durch Piraten verzeichnen dürfen, ist der Anlass zur
Sorge nach wie vor gegeben. Ein wachsender Schiffsver-
kehr bedeutet einerseits wirtschaftlich positive Effekte,
allerdings auch zusätzliche Angriffsmöglichkeiten für die
Piraten. Insbesondere vor den Küsten Somalias, an de-
nen 236 der 439 Attacken im Jahr 2011 erfasst wurden,
muss also weiter aktiv die Pirateriebekämpfung verfolgt
werden. Auch wenn die Erfolgsquote der Piraten in den
letzten zwei Jahren insgesamt betrachtet erheblich ge-
sunken ist, besteht also kein Grund zum Aufatmen.

Die bisher getroffenen Maßnahmen haben bereits zu
einer Reduzierung der Attacken durch Piraten geführt.
Dennoch bleibt der Handlungsbedarf, wie eingangs be-
reits erwähnt, gegeben. Immer mehr Reeder setzen inter-
national agierende Bewachungsunternehmen ein, um in
risikobehafteten Gebieten besseren Schutz in Anspruch
zu nehmen. Umso bedeutsamer ist es, dass Bewachungs-
unternehmen eingesetzt werden, die über die nötige
Professionalität, Zuverlässigkeit und ausreichend Er-
fahrung verfügen. An erster Stelle muss hier Rechtssi-
cherheit geboten werden. Dieser Forderung der Reeder
wird die Bundesregierung nachkommen, indem von den
Bewachungsunternehmen und ihren Mitarbeitern ein-
deutige Anforderungsprofile gesetzlich eingefordert
werden. Dabei geht es vor allem um die fachliche, der
besonderen Situation auf den Schiffen angepasste Quali-
fikation und Eignung derjenigen, die für zusätzliche Si-
cherheit an Bord sorgen sollen. Das Personal muss ne-
ben den sicherheitstechnischen Anforderungen auch
über maritime Kenntnisse verfügen, denn die Leistungen
werden auf hoher See erbracht und bedürfen einer ge-
wissen Vertrautheit mit den Vorgängen an Bord eines
Schiffes. Allein hieran wird der Regelungsbedarf deut-
lich, dem die Bundesregierung nachkommen wird, wobei
sie sich an den noch vorläufigen Leitlinien der IMO
orientieren wird. Die Bundesregierung richtet sich dabei
auch an europäischen Nachbarn aus, die ebenso Bewa-
chungsunternehmen zertifizieren. Mit der Orientierung
an europäischen Standards bilden wir vergleichbare und
rechtlich verbindliche Normen für internationale Bewa-
chungsunternehmen, die zügig zugelassen werden kön-
nen. Für unsere Seeleute und die deutschen Reeder wird
eine notwendige Rahmenbedingung für zusätzliche Si-
cherheit an Bord geschaffen. Die Zulassung der Bewa-
chungsunternehmen über das Bundesamt für Wirtschaft
und Ausfuhrkontrolle mit Unterstützung der Bundespoli-
zei erfolgen zu lassen, ist aus Sicht der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion richtig.

Meine Damen und Herren Antragsteller, es ist erfreu-
lich, dass man sich auch aus den Reihen der Opposition
Gedanken zu möglichen Maßnahmen der Pirateriebe-
kämpfung gemacht hat. Jedoch sind Ihre – in weiten Tei-
len richtigen – Überlegungen längst von der Bundesre-
gierung im Diskussionsentwurf aufgegriffen worden. Ich
kann diesem Umstand jedoch entnehmen, dass auch die
SPD-Bundestagsfraktion den Gesetzgebungsprozess bei
der Zertifizierung privater Sicherheitsunternehmen kon-
struktiv begleiten und letztlich den mit Verbänden und
Betroffenen beratenen Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung befürworten wird. Insofern bedarf es keiner Zu-
stimmung zu Ihrem Antrag, da alle aufgeführten Punkte
bereits Berücksichtigung erfahren haben.

Gestatten Sie mir noch einen Hinweis zu Ihrem vor-
letzten Forderungspunkt, der die Rückflaggung der un-
ter anderen Flaggenstaaten fahrenden Schiffe deutscher
Reeder umgesetzt sehen will. Auch wenn Sie damit ein
Thema jenseits der Pirateriebekämpfung an dieser Stelle
eröffnen, möchte ich Ihnen entgegnen, dass die Koali-
tion mit dem Maritimen Bündnis für Beschäftigung und
Ausbildung, auch schon unter der Regierungsbeteili-
gung der SPD, wichtige Grundlagen geschaffen hat.
Insofern können Sie in den Fragen der maritimen Wirt-
schaft unserer politischen Arbeit unbesorgt und ver-
trauensvoll entgegensehen.


Uwe Beckmeyer (SPD):
Rede ID: ID1717536500

Immer wieder überfallen Piraten Handelsschiffe auf

hoher See. Auch ein international geführter Militärein-
satz kann das Problem bisher nicht lösen. Wurden im
Jahr 2006 noch 239 Piratenüberfälle gemeldet, ist ihre
Zahl in 2011 auf 439 gestiegen; in diesem Jahr waren
bisher 62 Übergriffe zu verzeichnen. Der regionale
Schwerpunkt liegt am Golf von Aden und vor der Küste
Ostafrikas, insbesondere vor Somalia.

Da hier eine der wichtigsten internationalen Han-
delsrouten verläuft, können die Reedereien nicht aus-
weichen. Der UN-Sicherheitsrat hat wiederholt festge-
stellt, dass die internationale Sicherheit in diesem
Gebiet gefährdet ist. Moderne Piraten sind mit Raketen-
werfern und Schnellbooten ausgerüstet, und die Seeräu-
ber gehen nach einem Bericht des Internationalen
Schifffahrtsbüros immer brutaler vor und setzen immer
größere Waffen ein.

Jährlich passieren allein mehr als 1 700 deutsche
Schiffe die gefährliche Seeregion. Zwar geht auch die
deutsche Marine dort im Rahmen der EU-Mission Ata-
lanta gegen Piraten vor. Ein flächendeckender Begleit-
schutz durch die Bundeswehr direkt an Bord deutscher
Schiffe stößt aber nicht nur auf verfassungsrechtliche
Bedenken. Der Marine fehlen – ebenso wie der Bundes-
polizei – schlicht die personellen, logistischen und
finanziellen Kapazitäten für einen solchen Einsatz.

Dabei ist Deutschland aufgrund seiner Position in
der internationalen Handelsschifffahrt besonders von
Piraterie betroffen; schließlich macht die deutsche Han-
delsflotte einen Anteil von 34 Prozent an der Welthan-
delsflotte aus, und im Bereich der Containerschiffe liegt
Deutschland im internationalen Vergleich sogar an ers-

Zu Protokoll gegebene Reden





Uwe Beckmeyer


(A) (C)



(D)(B)


ter Stelle. Sichere Seewege tragen wesentlich dazu bei,
Deutschlands Rolle als eine der führenden Exportnatio-
nen in der Welt aufrechtzuerhalten, und eine ungefähr-
dete Durchfahrt dieser Seeregion ist für die maritime
Wirtschaft in unserem Land von strategischer Bedeu-
tung.

Piraterie stellt jedoch nicht nur eine Gefahr für den
Welthandel dar. Neben dem wirtschaftlichen Schaden
durch Piraterie, der nach Schätzungen rund 5 bis 6 Mil-
liarden Euro pro Jahr beträgt, tritt die Gefahr für
körperliche Unversehrtheit und Leben der Schiffsbesat-
zungen. Bei den 439 Piratenangriffen, die laut dem Jah-
resbericht des Internationalen Schifffahrtsbüros in 2011
registriert worden sind, wurden 802 Seeleute als Geiseln
genommen, 10 von ihnen wurden ermordet.

Die Bundesregierung will nun den Weg für einen ver-
stärkten Einsatz privater Sicherheitskräfte auf deut-
schen Handelsschiffen frei machen. Trotz ablehnender
Haltung der Gewerkschaft der Polizei und großer Be-
denken bei den maritimen Verbänden haben Union und
FDP entschieden, künftig verstärkt auf privates Sicher-
heitspersonal im Kampf gegen Piraterie zu setzen.

Wenn die Bundesregierung den Schutz vor Piraten
durch private Sicherheitsdienste will, dann muss sie die
notwendigen rechtlichen Voraussetzungen dafür schaf-
fen. Anschließend müssen dafür geeignete Sicherheits-
unternehmen ausgewählt werden. Bis Ostern wollte die
Bundesregierung einen abgestimmten Entwurf ins Bun-
deskabinett einbringen; geschehen ist bisher nichts.

Die SPD hat ihre Forderungen auf den Tisch gelegt.
Bisher ist der Einsatz der Sicherheitskräfte an Bord von
Seeschiffen nicht klar geregelt. Dabei haben nach letz-
ten Studien bereits 12 Prozent der Schifffahrtsunterneh-
men in Deutschland private Firmen engagiert, die auf
gefährlichen Routen mitfahren.

Unsere Forderung lautet daher: Der Einsatz privater
Sicherheitsunternehmen an Bord von deutschen Han-
delsschiffen ist gesetzlich klar zu regeln und zu begren-
zen, und nur qualifizierte Sicherheitsdienstleister dürfen
mit diesen sensiblen Aufgaben betraut werden. Die für
den Einsatz vorgesehenen Sicherheitsfirmen müssen in
Bezug auf ihre bisherigen Unternehmensaktivitäten, die
Erfahrungen im Bereich der maritimen Sicherheit und
die fachliche und soziale Kompetenz des Personals um-
fassend geprüft werden.

Notwendig ist ein Sachkundenachweis, wie er bereits
heute von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von
privaten Sicherheitsdiensten erforderlich ist, die Kon-
trollgänge im öffentlichen Verkehrsraum durchführen.

Der Schiffssicherheitsausschuss der IMO hat im ver-
gangenen Jahr „Vorläufige Leitlinien für Schiffseigner,
Schiffsbetreiber und Schiffsführer“ als wesentliche Vor-
arbeiten für ein künftiges Zertifizierungssystem verab-
schiedet, die als Grundlage für alle weiteren Planungen
der schwarz-gelben Bundesregierung dienen müssen.
Dazu gehört auch, dass die Kommandokette an Bord
eindeutig geregelt wird. Die Beschäftigten der Sicher-
heitsfirma dürfen erst auf Anweisung des Kapitäns tätig
werden. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass die

Sicherheitslage von Kapitän und privaten Sicherheits-
kräften unterschiedlich beurteilt wird. Und: Der Erwerb
und Einsatz von Kriegswaffen nach dem Kriegswaffen-
kontrollgesetz müssen für private Sicherheitskräfte an
Bord deutschflaggiger Handelsschiffe auch künftig ver-
boten bleiben. Es gilt, der Gefahr einer gegenseitigen
„Aufrüstung“, die sich bereits heute abzeichnet, und da-
mit letztlich einer weiteren Eskalation der Gewalt entge-
genzuwirken.

Eines ist aber auch klar: Langfristig ist ein Ende der
Gefahrensituation nur durch eine Stabilisierung der
Lage in Somalia herbeizuführen. Auch dafür muss sich
die Bundesregierung gemeinsam mit den europäischen
und internationalen Partnern einsetzen.


Paul Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717536600

Es ist gut, dass sich der Bundestag jetzt mit dem mög-

lichen Einsatz privater Sicherheitsdienste gegen Piraten
beschäftigt.

Demnächst will die Bundesregierung einen Gesetz-
entwurf präsentieren, der den Einsatz von sogenannten
privaten bewaffneten Sicherheitsfirmen, PBS, an Bord
von Schiffen erlauben soll, die unter deutscher Flagge
fahren. Damit würde erstmals der Einsatz von bewaffne-
ten Militär- und Sicherheitsdienstleistungsunternehmen
aus Deutschland außerhalb Deutschlands erlaubt wer-
den. Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass
damit unweigerlich die Tür für eine Legalisierung von
Söldnerfirmen à la Blackwater/Xe Systems, Dyncorp
oder Gurkha Services in Deutschland aufgestoßen wird.

Natürlich kann man trefflich über die Begriffe strei-
ten. Ob „Söldner“ oder „Sicherheitsdienstleister“ oder
„Militärexperte“ – klar ist: Sie üben ihre Tätigkeit we-
gen des Geldes aus. Und im Fall des Einsatzes auf Schif-
fen gegen Piraten üben sie ihre Tätigkeit im Auftrag von
Unternehmen aus. Das heißt, es geht den Sicherheits-
unternehmen nicht um Ideale wie die freie Seefahrt oder
um politische Ziele wie den Schutz von Transportwegen.
Es geht ihnen um Profit. Dessen sollte man sich immer
klar sein, wenn man Privatpersonen erlaubt, Waffenge-
walt anzuwenden.

An diese Töpfe wollen die deutschen Sicherheits-
unternehmen nun heran und machen Lobbyarbeit in ei-
gener Sache – auch unterstützt von einigen Reedern.

Mit dem vorliegenden Antrag will sich nun auch die
SPD in diesen Reigen einreihen. Sicherlich: Einige Be-
denken werden geäußert, es wird zur Vorsicht gemahnt.
Aber unter dem Strich bleibt: Die SPD will private be-
waffnete Sicherheitsdienstleister an Bord – und am bes-
ten deutsche Sicherheitsdienstleister. Erneut drängt sich
die Analogie zu Rüstungsexportfragen auf: Streitkräfte
brauchen Waffen. Daher wäre es doch gut, wenn es deut-
sche Waffen nach deutschen Qualitätsstandards sind. So
wurde Deutschland zu einem der größten Rüstungs-
exporteure. Soll das nun auch in dieser Branche so wer-
den? Die Linke lehnt das ab.

Während auf internationaler Ebene eher darum ge-
rungen wird, das Problem, das diese privaten bewaffne-
ten Sicherheitskräfte in den vielen Konfliktregionen dar-

Zu Protokoll gegebene Reden





Paul Schäfer (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


stellen, einzuhegen, wollen Bundesregierung und nun
auch SPD also die Voraussetzung schaffen, dass auch
von Deutschland aus Söldnernachschub kommt. Ent-
scheidende rechtliche und ethische Fragen werden aus-
geblendet, der Öffentlichkeit wird Sand in die Augen
gestreut und suggeriert, dass die Risiken privater be-
waffneter Sicherheitskräfte beherrschbar sind.

Es soll der Anschein erweckt werden, dass an Bord
die Einhaltung menschenrechtlicher Standards, die Ein-
haltung des humanitären Völkerrechts gewährleistet
werden kann – auf dem Papier sicherlich, genauso wie
auf dem Papier der Endverbleib deutscher Rüstungs-
exporte jedesmal verbindlich zugesichert wird. Aber wo
es keine Kontrollen gibt, keine Rechenschaftspflicht und
de facto kaum Klagemöglichkeiten der betroffenen mut-
maßlichen Piraten, wird es mit diesen Standards nicht
weit her sein.

Die Bundesregierung hat dies bereits in ihrer Antwort
auf eine Kleine Anfrage der Linken bestätigt: Der Waf-
feneinsatz durch Privatpersonen an Bord führt nicht au-
tomatisch zu einem Ermittlungsverfahren. Und: „Eine
fortlaufende Überwachung und Aufsicht der Bewa-
chungsunternehmen auf Seeschiffen ist nicht möglich.“

Die privaten bewaffneten Sicherheitskräfte dürfen
also quasi im rechtsfreien Raum agieren. Das soge-
nannte Jedermanns- bzw. Notwehrrecht wird auf diese
Firmen ausgedehnt.

Hier sei noch angemerkt, liebe Kolleginnen und Kol-
legen von der SPD: Das Verbot von Kriegswaffen an
Bord von Handelsschiffen ist schön und gut – aber auch
andere Kleinwaffen sind tödlich. Halbautomatische
Waffen zählen zum Beispiel nicht per se zu den Kriegs-
waffen.

Der Vorstoß der Bundesregierung, aber auch der An-
trag der SPD offenbart nicht nur Ratlosigkeit darüber,
wie Seewege wirkungsvoll und im Einklang mit dem Völ-
kerrecht geschützt werden können. Beide Initiativen sind
in hohem Maße fahrlässig.

Ärgerlich ist auch, dass eine Initiative mit einer solch
großen Tragweite auf so dünner Wissensgrundlage vo-
rangetrieben wird. Die Bundesregierung räumt ein, dass
sie im Vorfeld des Gesetzesvorhabens nicht einmal eine
genaue Analyse der bisherigen Erfahrungen anderer
Staaten vorgenommen hat: genaue Zahlen – Fehl-
anzeige. Man verlässt sich auf einige wenige Auskünfte
von wahrlich nicht altruistischen Reedereien. Auch die
SPD ist kaum besser informiert.

Die Fragen, wie viele mutmaßliche Piraten von pri-
vaten Sicherheitskräften, die von anderen Handelsflot-
ten eingesetzt werden, bereits verwundet oder getötet
wurden, scheint auch keine Nachforschung wert gewe-
sen zu sein.

Nein, der Antrag der SPD wird dem Problem der si-
cheren Seeschifffahrt nicht gerecht. Der Antrag schafft
zudem eine unübersichtliche Zahl neuer Probleme. Das
zeigt sich schon im Kleinen. Im Bestreben, eine mög-
lichst eindeutige Kommandokette an Bord zu gewähr-
leisten, soll die Rolle des Kapitäns aufgewertet werden.

Aber hat man die Kapitäne gefragt, ob sie sich für aus-
reichend qualifiziert halten, quasi als Oberbefehlshaber
den Waffeneinsatz zu befehlen und den Tod anderer
Menschen in Kauf zu nehmen? Sind die Kapitäne bereit,
die Haftung dafür zu übernehmen?

Es zeigt sich auch im Großen: Viele Staaten werden
sich zu Recht weigern, die Fahrt von ausländischen
Schiffen mit schwerbewaffneten Privatpersonen an Bord
durch ihre Hoheitsgewässer zu erlauben. Die Regierung
Südafrikas hat zum Beispiel jüngst der britischen Regie-
rung eine entsprechende Absage erteilt.

Natürlich wäre eine Legalisierung praktisch: prak-
tisch für die Reeder, praktisch für die Sicherheitsunter-
nehmen und praktisch für den Staat. Die Bundesregie-
rung würde sich damit der leidigen Frage nach einer
politischen und völkerrechtlichen Lösung des Piraterie-
problems entledigen – und die Haftung für getötete und
verletzte mutmaßliche Piraten abgeben. Erinnert sei nur
an den Fall, dass italienische Soldaten indische Fischer
fälschlicherweise für Piraten gehalten und diese getötet
haben. Jetzt steht die italienische Regierung unter
Druck. Das wäre natürlich mit privaten Sicherheitskräf-
ten nicht passiert – ein zynischer Gedankengang.

Der gegenwärtige Kurs von SPD und Bundesregie-
rung ist verantwortungslos. Die Auslagerung von
Sicherheitsaufgaben darf sich nicht an Opportunität und
Kosten orientieren. Auf hoher See das Recht des Stärke-
ren zu fördern – das ist gefährlich. Da geht die Linke
nicht mit.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717536700

Piraterie ist kein Phänomen des 21. Jahrhunderts.

Seit es Seefahrt und Handel gibt, tritt das Phänomen auf.
Verändert hat sich nicht nur die internationale Seeschiff-
fahrt, sondern verändert haben sich auch die Mittel, die
von Piraten bei Übergriffen zum Einsatz kommen. Hier-
gegen müssen Maßnahmen ergriffen werden. Eine ge-
setzliche Regelung zum Einsatz privater Sicherheits-
dienste an Bord deutscher Schiffe soll nun in einem
bisherigen rechtlichen Graubereich Klarheit schaffen.

Die deutsche Handelsflotte ist – nach Eignern und
Anzahl der Schiffe – die größte weltweit. Sie zählt über
3 700 Schiffe und ist weltweit im Einsatz. Keine andere
Nation steht also in einer solch großen Verantwortung
gegenüber ihren Reedern und der auf den Schiffen Be-
schäftigten wie Deutschland.

Wegen anhaltender wirtschaftlicher und politischer
Instabilität ist vor allem die Küste vor Somalia ein welt-
weiter Brennpunkt der Piraterieangriffe auf Handels-
schiffe.

Die bereits seit Jahren anhaltende Piraterie vor der
Küste Somalias geht bis weit in den Indischen Ozean hi-
nein. Derzeit wird versucht, die Piraterie militärisch
durch die Operation Atalanta einzudämmen bzw. zu ver-
hindern.

Dass bei dieser militärischen Operation nicht alle Pi-
ratenübergriffe auf internationale Handelsschiffe ver-
hindert werden können, steht außer Frage. Dennoch

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)


steht Deutschland in der Pflicht zum Schutz der Men-
schen auf deutschen Schiffen. Die Schiffsbesatzungen
sind diejenigen, die am stärksten unter der Piraterie zu
leiden haben. Es ist nicht zu verantworten, sie und ihre
Angehörigen bei jeder Passage im Ungewissen zu las-
sen. Sie haben als Hauptbetroffene Recht auf Schutz und
einen sicheren Arbeitsplatz, so wie auch jeder Ange-
stellte hier in Deutschland keine Angst auf seinem oder
ihrem Arbeitsplatz haben will. Nach deutschem Recht ist
dieser Schutz eindeutig eine Polizeiaufgabe – und keine
militärische. Ein Einsatz von Polizei auf Schiffen deut-
scher Flagge ist jedoch aus Kapazitäts- und Kosten-
gründen für die öffentlichen Haushalte nicht möglich.
Daher bedient man sich nun der Idee des Einsatzes pri-
vater Sicherheitsdienste an Bord von Schiffen. Es wer-
den bereits heute private Sicherheitsdienste an Bord von
ausländischen Handelsschiffen eingesetzt. Wir brauchen
auch klare Regeln für deutsche Schiffe.

Verschiedene offene Fragen müssen jedoch bei einem
Einsatz privater Sicherheitsdienste an Bord von deut-
schen Handelsschiffen berücksichtigt werden: Welche
Aspekte gehen in eine gesetzlich zu regelnde Zertifizie-
rung ein? Welche Arten von Bewaffnung sind erlaubt?
Wie wird sichergestellt, dass beim Einsatz von Sicher-
heitsdiensten auf deutschen Handelsschiffen keine
Kriegswaffen eingesetzt werden? Inwieweit wird der Ka-
pitän im Rahmen seiner Anweisungsbefugnis bei der Ge-
fahrenabwehr für die Folgen haftbar gemacht?

In einem bevorstehenden Gesetzesvorschlag der Bun-
desregierung müssen die oben genannten Fragen ge-
klärt sein. Es darf nicht sein, dass auf Schiffen deutscher
Flagge private Sicherheitsdienste Kriegswaffen einset-
zen. Das fördert eine Gewaltspirale. Auch müssen die
Besatzungen und Sicherheitsdienste im Umgang mit Pi-
raten gut geschult werden. Daher finde ich die Forde-
rung der SPD, eine menschenrechtliche und humanitäre
Schulung von Sicherheitsdienstleistern in einem Geset-
zesvorhaben mit aufzunehmen, sehr sinnvoll.

Geklärt werden muss auch die Weisungsbefugnis des
Kapitäns und dessen Haftung. Es kann nicht sein, dass
sich der Kapitän strafbar macht, wenn es zu Personen-
schäden kommt. Damit dürfen Kapitäne nicht allein ge-
lassen werden.

Ein Lizenzierungsverfahren der Sicherheitsdienste ist
auch deshalb erforderlich, weil ohne Registrierungs-
und Genehmigungspflicht deutsche Behörden bei ver-
mutetem strafrechtlich relevantem Verhalten erst nach
konkreten Verdachtsmomenten handeln können.

Wir fordern daher die Bundesregierung auf, uns zügig
einen Gesetzesvorschlag vorzulegen, der sich im Rah-
men der Lizenzierung und Zertifizierung privater Si-
cherheitsdienste auf internationale Abkommen stützt
und die Beschränkungen des Grundgesetzes zum Kriegs-
waffeneinsatz auf deutschen Schiffen nicht außer Acht
lässt. Der Antrag der SPD geht hier voran und sollte
auch von der Koalition in den Ausschüssen offen und un-
voreingenommen debattiert werden.

H
Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1717536800


Die wirkungsvolle Bekämpfung der Piraterie auf See
ist für diese Bundesregierung und für mich als Koordi-
nator für die maritime Wirtschaft eine Aufgabe, der wir
sehr große Bedeutung zumessen. Bei der Bekämpfung
der Seepiraterie geht es zuallererst um die Gesundheit
und die allgemeine Sicherheit der Seeleute.

Es geht überdies um erhebliche wirtschaftliche Inte-
ressen Deutschlands als Exportnation. Mehr als 90 Pro-
zent des interkontinentalen Warenverkehrs werden über
den Seeweg abgewickelt. Außerdem gehört unser Land
zu den führenden Seefahrtnationen der Welt.

Die komplexe Herausforderung der Bekämpfung der
Seepiraterie kann nur mit einem Bündel von kurz-, mit-
tel- und langfristig wirkenden Gegenmaßnahmen bewäl-
tigt werden. Ich habe deshalb frühzeitig die betroffenen
Ressorts innerhalb der Bundesregierung, die Seever-
kehrs- und Versicherungswirtschaft und Gewerkschaften
zusammengerufen, um über wirksame Gegenmaßnah-
men zu beraten.

Es hat sich gezeigt: Aus operativen, logistischen, per-
sonellen und finanziellen Gründen ist ein flächende-
ckender Einsatz von hoheitlichen Kräften nicht möglich.
Die militärischen Kapazitäten sind mit der für die Stabi-
lisierung der Sicherheitslage am Horn von Afrika über-
aus wichtigen EU-Mission Atalanta ausgeschöpft.

Auch Gefahrenabwehrkräfte der Bundespolizei kön-
nen keinen umfassenden Schutz der deutschen Handels-
flotte gewährleisten. Allerdings weise ich darauf hin,
dass umfangreiche Beratungsleistungen beim Pirate-
riepräventionszentrum der Bundespolizei See in
Neustadt/Holstein angeboten und auch nachgefragt
werden. Vor kurzem habe ich mir bei einem Besuch in
Neustadt einen persönlichen Eindruck von der großen
Kompetenz und Einsatzbereitschaft der Bundespolizei
bei diesem Thema verschafft.

Bei der Abwehr von Piratenangriffen auf hoher See
hat sich die Einhaltung der „Best Management Practi-
ces“ der International Maritime Organization, IMO, als
sehr wirkungsvoll erwiesen. In Ergänzung und Umset-
zung der IMO-Richtlinien setzen immer mehr Reeder in-
ternational agierende Sicherheitsunternehmen ein.

Erfreulicherweise gibt es bisher keinen einzigen Fall,
in dem ein durch private bewaffnete Sicherheitskräfte
geschütztes Schiff erfolgreich angegriffen wurde, – auch
dies nehme ich mit Freude und Beruhigung zur Kennt-
nis – die vielfach befürchteten Gewalteskalationen sind
bisher ausgeblieben. Jetzt geht es darum, sicherzustel-
len, dass nur solche Sicherheitsfirmen eingesetzt wer-
den, die über die nötige Zuverlässigkeit und Erfahrung
verfügen.

Mit dem neuen Zulassungsverfahren für Bewa-
chungsunternehmen auf Seeschiffen kommt die Bundes-
regierung auch einem Wunsch der Reeder nach. Diese
fordern berechtigterweise mehr Rechtssicherheit bei der
Beauftragung von privaten Bewachungsunternehmen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Otto


(A) (C)



(D)(B)


Wenn ich mir den Antrag der SPD ansehe, der Grund-
lage der heutigen Debatte ist, könnte ich zu zweierlei
Schlussfolgerungen kommen. Zum einen könnte ich ihn
für überflüssig halten, da dessen wesentlicher Inhalt von
der Bundesregierung längst auf den Weg gebracht ist
und wir bereits in Kürze einen Gesetzentwurf im Bun-
deskabinett beschließen werden.

Zum anderen – und diese Lesart möchte ich mir zu ei-
gen machen – nehme ich mit Freude zur Kenntnis, dass
auch die SPD bei dieser wichtigen und für die Seeleute
existenziellen Frage auf der Linie der Bundesregierung
ist. Dies würde ich mir – am Rande bemerkt; dies ist ja
heute nicht unser Thema – auch für die Operation
Atalanta wünschen, die eine ähnlich zentrale Bedeutung
für die Sicherheit der deutschen Handelsflotte und ihrer
Besatzungen hat.

Lassen Sie mich abschließend noch einige Eckpunkte
unseres Vorschlages skizzieren und auch hier die Über-
einstimmung mit den Forderungen Ihres Antrages fest-
stellen: Erstens. Die privaten Sicherheitsdienste werden
keine Kriegswaffen mit sich führen. Zweitens. § 106 See-
mannsgesetz bleibt unangetastet. Der jahrhundertealte
Grundsatz, dass auf jedem Schiff allein der Kapitän das
Sagen hat, bleibt unverändert, auch im Verhältnis zu den
Sicherheitsdiensten. Drittens. Die Befugnisse der
Sicherheitsdienste werden bewusst nicht erweitert. Es
bleibt in klarer Abgrenzung zu „Söldnerdiensten“ bei
den „Jedermannsrechten“ der Notwehr und Nothilfe.
Viertens. Mit dem neuen Zulassungsverfahren werden
wir sicherstellen, dass Bewachungsunternehmen nur
zuverlässiges und sachkundiges Personal einsetzen
werden.

Schließlich fünftens. Wir wissen, dass wir in den
Gefahrenregionen keine funktionierenden staatlichen
Strukturen, aber wirtschaftliche Armut haben. Deshalb
wird die Bundesregierung über die Instrumentarien der
Entwicklungszusammenarbeit und anderer langfristig
angelegter Aufbauprojekte zum Beispiel in Somalia wei-
terhin flankierend aktiv bleiben.

Auf der Grundlage dieser gemeinsamen Überzeugun-
gen hoffe ich, dass wir bei dem anstehenden parlamen-
tarischen Verfahren mit einer breiten Unterstützung
aller Fraktionen zu einer schnellen und guten Lösung im
Sinne und zum Wohle der Seeleute und der Seeschifffahrt
kommen werden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717536900

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9403 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP
wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie. Die Fraktion der SPD wünscht die Fe-
derführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD, also Federführung beim Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer

stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs-
vorschlag ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfrak-
tionen abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion von CDU/CSU, also Federführung beim Wirt-
schaftsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? Ent-
haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 29:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Maurer, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Freilassung der „Miami Five“

– Drucksachen 17/7416, 17/8395 (neu)

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Egon Jüttner
Dr. Rolf Mützenich
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden der folgenden Kollege zu Protokoll gegeben:
Dr. Egon Jüttner, Dr. Wolfgang Götzer, Klaus Barthel,
Marina Schuster, Heike Hänsel und Hans-Christian
Ströbele.


Dr. Egon Jüttner (CDU):
Rede ID: ID1717537000

Mit ihrem Antrag „Freilassung der ‚Miami Five‘“

möchte die Fraktion Die Linke die Freilassung respek-
tive Begnadigung und Ausreise von fünf Kubanern er-
reichen, denen vorgeworfen wird, die exilkubanische
Organisation Alpha 66 infiltriert zu haben, um weitere
Anschläge auf ihr Heimatland Kuba zu verhindern.
„Miami Five“ bezeichnet eine Gruppe von Kubanern,
die im Jahre 1998 als Anführer eines Spionagenetzwer-
kes in Miami verhaftet und zu hohen Strafen verurteilt
wurden. In Kuba werden Antonio Guerrero Rodríguez,
Fernando González Llort, Gerardo Hernández Nordelo,
Ramón Labañino Salazar sowie René González
Sehwerert von der Propagandamaschine des Regimes
der Castro-Brüder als ungerecht inhaftierte National-
helden verehrt, da sie im Auftrag der kubanischen
Regierung neben der Ausspähung von US-Militärein-
richtungen unter anderem auch Informationen über Ak-
tivitäten in exilkubanischen Organisationen sammelten.

Ohne sämtliche Aktivitäten von Alpha 66 und anderen
dem bewaffneten Kampf nicht abgeneigten Gruppen der
kubanischen Opposition gutheißen zu wollen, setzt die-
ser Antrag völlig falsche Akzente und zeigt einmal mehr
die Treue, die von den Linken der Terrorherrschaft des
Castro-Regimes entgegengebracht wird. Dieser Antrag
reiht sich ein in eine ganze Reihe von peinlichen Anbie-
derungsversuchen seitens der Linken gegenüber der





Dr. Egon Jüttner


(A) (C)



(D)(B)


kubanischen Regierung. Ich erinnere hier nur an das
Glückwunschschreiben von Frau Lötzsch und Herrn
Ernst zum 85. Geburtstag Fidel Castros, in dem von ei-
nem „kampferfüllten Leben und erfolgreichen Wirken“
die Rede war und in dem Kuba als „Beispiel und Orien-
tierungspunkt für viele Völker dieser Welt“ gepriesen
wird.

Ein weiteres Beispiel der Kuba-Verherrlichung durch
die Linke war der Antrag „Für eine Normalisierung der

(Drucksache 17/3188)

das totalitäre Regime in Kuba fand, dafür aber unhalt-
bare Vergleiche mit Ländern wie Mexiko, Kolumbien
und Peru angestellt wurden. Wie zu erwarten, wurde das
Ansinnen der in dieser Frage auf europäischer Ebene
völlig isolierten damaligen spanischen Regierung von
allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union
nicht unterstützt.

Insofern überrascht es nicht, dass die Fraktion Die
Linke nun die Freilassung bzw. Begnadigung von fünf
Personen verlangt, die wegen Spionagetätigkeit und in
einem Fall sogar wegen Verschwörung zum Mord ange-
klagt und in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu hohen
Haftstrafen verurteilt worden sind. Es ist bedenklich,
dass hierüber im Hohen Hause nicht völlige Einigkeit
besteht, aber Spionagetätigkeit und Verschwörung zum
Mord sind keine Kavaliersdelikte, bei denen man die
Verurteilten „einfach mal so“ freilässt oder begnadigt.
Das Ansinnen der Linken ist mit dem eines demokratisch
gewählten und legitimierten Parlaments nicht in Ein-
klang zu bringen. Die Linke hat durch diesen Antrag ein-
mal mehr bewiesen, dass sie von einer demokratischen
Partei nach dem Verständnis des deutschen Grundgeset-
zes weit entfernt ist.

Besonders bedenklich und befremdlich ist, dass die
Linke nicht einmal eine Gegenleistung von kubanischer
Seite für deren Freilassung oder Begnadigung fordert.
In dem Antrag findet sich kein Wort zu den inakzepta-
blen Umständen in Kuba. Das Land ist eines der totali-
tärsten Länder der westlichen Hemisphäre, in dem die
bürgerlichen und politischen Rechte stark eingeschränkt
sind, Regierungskritiker inhaftiert werden und aus dem
freigelassene Häftlinge berichten, dass sie während der
Haft geschlagen worden seien.

So wenig rechtsstaatlich und so politisch, wie Sie,
meine Damen und Herren von der Linken, das Verfahren
der amerikanischen Justiz in dem zur Abstimmung vor-
liegenden Antrag darstellen, ist dieses aber nicht. Oder
wie beurteilen Sie die Tatsache, dass dem bereits freige-
lassenen, aber mit einer Fußfessel in den USA lebenden
René González Sehwerert am 19. März 2012 eine huma-
nitäre Sondergenehmigung für einen zweiwöchigen Be-
such seines in Kuba lebenden kranken Bruders gewährt
wurde? Von solchen humanitären Sondergenehmigun-
gen können die Gefangenen auf Kuba nur träumen.
Schlimmer noch: Setzen sich deren Familienangehörige
für eine Verbesserung der Haftbedingungen ein, so wer-
den auch diese den Repressalien des Castro-Regimes
unterworfen und ihre persönlichen Freiheitsrechte aufs
Stärkste eingeschränkt. Wie es leider schon Tradition bei

Ihren Anträgen zu Kuba ist, findet sich im Antrag „Frei-
lassung der ‚Miami Five‘“ zu den Zuständen auf Kuba,
die einzig und allein das totalitäre Regime dort zu ver-
treten hat, kein Wort.

Einmal mehr wird durch diesen Antrag deutlich, wo
die ideologischen Partner der Linken zu finden sind. Sie
sind nicht beim kubanischen Volk zu finden, sie sind
nicht in den kubanischen Gefängnissen zu finden, und
sie sind nicht bei der großen, in der Regel friedlichen ku-
banischen Diaspora zu finden, nein, sie sind an den
Schalthebeln der Macht in Kuba zu finden.

Wir werden deshalb dem Antrag der Linken nicht zu-
stimmen.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1717537100

Auf Antrag der Fraktion Die Linke befassen wir uns

heute mit der Freilassung der sogenannten Miami Five,
fünf Kubanern, die in den USA 2001 wegen Spionagetä-
tigkeit und Beihilfe zum Mord verurteilt wurden. Diesen
Antrag lehnen wir entsprechend der Beschlussempfeh-
lung des Auswärtigen Ausschusses ab.

Bei den Verbrechen der Miami Five handelt es sich
nicht um Kavaliersdelikte. Die USA haben nach einem
mehrjährigen Gerichtsverfahren hohe Haftstrafen ver-
hängt. Diese wurden in Revisionsverfahren teils bestä-
tigt und teils reduziert. Dabei wurde die Haft von René
González vorzeitig wegen guter Führung ausgesetzt. Im
März dieses Jahres durfte er seinen kranken Bruder in
Kuba besuchen. Somit ist die Behauptung der Fraktion
Die Linke, die USA würden René González die Ausreise
verweigern, gegenstandslos.

Wenn die Fraktion Die Linke nun eine Begnadigung
der übrigen Vier fordert, dann ist das ganz offensichtlich
mit ihrer verqueren Ideologie zu erklären, die offene
Sympathie für kommunistische Diktaturen zeigt. Lassen
Sie mich an dieser Stelle nur kurz an das unselige Glück-
wunschschreiben von Klaus Ernst und Gesine Lötzsch zu
Castros Geburtstag letztes Jahr erinnern.

Dabei erwartet Die Linke noch nicht einmal eine Ge-
genleistung von Kuba für eine Begnadigung der vier Ku-
baner. Diese Forderung ist ausschließlich der politi-
schen Nähe der Fraktion Die Linke zu dem kubanischen
Regime geschuldet und setzt die völlig falschen Akzente
im Umgang mit Kuba.

Da Menschenrechtsverletzungen und starke Ein-
schränkungen bürgerlicher und politischer Rechte und
Freiheiten in Kuba nach wie vor an der Tagesordnung
sind, muss es uns darum gehen, den Weg Kubas in eine
freie und demokratische Zukunft zu unterstützen.

Für eine Verbesserung der Lebensbedingungen und
für demokratische Reformen gibt es positive Anzeichen,
die die EU in ihrer zweigleisigen Politik gegenüber
Kuba auch entsprechend würdigt. Dies ist der richtige
Ansatz. Man kann über die Lockerung von Sanktionen
nachdenken, wenn Fortschritte in Richtung Demokratie
zu verzeichnen sind, und damit weitere Anreize für de-
mokratische Reformen setzen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Wolfgang Götzer


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(D)(B)


Unsere Bereitschaft zum Dialog und zur Unterstüt-
zung der schwierigen Wirtschaftsreformen Kubas bleibt
dabei ungebrochen. So hat die EU in den vergangenen
20 Jahren mehr als 200 Millionen Euro bereitgestellt,
um Reformen in Kuba zu unterstützen. An dieser Politik
werden wir festhalten. Sie hat in den vergangenen Jah-
ren erste Früchte getragen und kann Kuba den Weg in
die Gemeinschaft westlicher Demokratien weisen.


Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1717537200

Der Papst war kürzlich zu Besuch auf Kuba. Auch

aus der evangelischen Kirche hört man, die Blockade
Kubas habe sich historisch überlebt. Das Gipfeltreffen
der Staaten Nord-, Mittel- und Südamerikas in Kolum-
bien ist kürzlich ohne Abschlusserklärung grandios ge-
scheitert, weil allein die USA – und Kanada – weiter auf
dem Ausschluss Kubas bestehen und damit ziemlich iso-
liert dastehen. Man könnte beim Thema Kuba den Ein-
druck gewinnen: Alle bewegen sich, nur die USA und die
Bundesregierung nicht.

Für die Miami Five scheinen die Dinge geradeso
festgefahren: Kritisch und mit großer Sorge beobachten
wir seit längerer Zeit Verlauf und Ergebnis des Strafver-
fahrens gegen die fünf Kubaner, nämlich Fernando
González Llort, René González Sehwerert, Antonio
Guerrero Rodríguez, Gerardo Hernández Nordelo und
Ramón Labañino Salazar, die im Dezember 2001 von
einem Bundesgericht in Miami, Florida, zu langjährigen
Strafen verurteilt worden sind. Sie waren am 12. Sep-
tember 1998 verhaftet worden. Schon vor knapp acht
Jahren – mit Briefen vom 1. Juli 2004 und später vom
16. Juni 2006 – hatten Abgeordnete des Deutschen Bun-
destages ihre Kolleginnen und Kollegen im US-Kon-
gress auf die Problematik dieses Falles aufmerksam
gemacht und sie aufgefordert, leider vergeblich, sich für
die baldige Freilassung der fünf Gefangenen einzuset-
zen. Sie bzw. wir waren weltweit nicht die Einzigen, die
das getan haben, sondern es gibt eine weltweite Solida-
ritätsbewegung.

Wir wissen, dass der ordentliche Rechtsweg erschöpft
ist, dass aber zurzeit noch über Anträge in dem von den
Verurteilten anhängig gemachten sogenannten Habeas-
Corpus-Verfahren zu entscheiden ist. Die Regierung hat
hierzu inzwischen wohl Stellung genommen und bean-
tragt, die Anträge zurückzuweisen. Einen Termin zur
Verhandlung in diesen Verfahren hat die zuständige
Richterin bisher nicht anberaumt.

In diesem Stadium des Verfahrens bitten wir alle Be-
teiligten nachdrücklich, sich für die Freilassung der fünf
Männer und ihre Rückkehr in ihr Heimatland Kuba ein-
zusetzen. Es sollte geprüft werden, ob es möglich ist, die
fünf auf dem Wege eines Gnadenerlasses in die Freiheit
und nach Kuba zu entlassen. Der Präsident der Verei-
nigten Staaten hätte nach der Verfassung das Recht
hierzu. Amnesty International hat dies in der ausführli-
chen und nach unserer Auffassung zutreffenden Stel-
lungnahme vom Oktober 2010 ausdrücklich angeregt.

Gemeinsam mit der Arbeitsgruppe zu willkürlichen
Inhaftierungen des Menschenrechtsausschusses der Ver-
einten Nationen in der Entscheidung vom Mai 2005, mit

Amnesty International und vielen anderen sind wir der
Überzeugung, dass die fünf in Miami keinen fairen Pro-
zess hatten. Im Report 2011 von Amnesty International
ist diese Kritik ausdrücklich wiederholt worden.

Die fünf Kubaner sind, wie bereits gesagt, seit Sep-
tember 1998, also seit mehr als 13,5 Jahren inhaftiert.
Unstreitig haben sie dadurch gegen US-Recht versto-
ßen, dass sie als Agenten eines fremden Staates tätig ge-
worden sind, ohne dies den zuständigen Stellen anzuzei-
gen; einige von ihnen haben auch unter falscher
Identität gearbeitet. Dabei lassen wir offen, ob dies
nicht dadurch gerechtfertigt sein kann, dass sie Schaden
von ihren eigenen Landsleuten, aber auch von US-Bür-
gern abwenden wollten. Es sind ja gerade die USA, die
ihrerseits in anderen Ländern US-Agenten und -Militärs
nicht der jeweiligen Justiz unterwerfen wollen. Für ihre
Verfehlungen haben die fünf nach unserer Überzeugung
nach so langer Zeit mehr als gebüßt. Wir kommen zu
dieser Überzeugung, weil die übrigen Mitglieder der
Gruppe kubanischer Agenten, die sich mit der Staatsan-
waltschaft geeinigt hatten, wesentlich milder bestraft
worden sind und sich inzwischen alle in Freiheit befin-
den.

Selbstverständlich sollte es sein, dass die Familien-
angehörigen der fünf, solange jene sich noch in den Ver-
einigten Staaten aufhalten müssen, die erforderlichen
Visa erhalten, um in dem üblichen Rahmen die Gefange-
nen besuchen zu können. Das gilt insbesondere für Olga
Salanueva, die Gattin von René González, und für
Adriana Pérez, die Gattin von Gerardo Hernández,
denen bisher immer die Erteilung von Besuchsvisa ver-
weigert worden ist. Auch insoweit hat Amnesty Interna-
tional des Öfteren das Verhalten der zuständigen US-
Behörden beanstandet. Der Fall von Adriana Pérez und
Gerardo Hernández ist aus noch einem weiteren Grund
menschlich in hohem Maße unbefriedigend. Frau Pérez
ist heute 42 Jahre alt; die Ehe ist bisher kinderlos ge-
blieben. Das Ehepaar hat indessen den dringenden und
nachvollziehbaren Wunsch nach einem Kind. Dieser
Wunsch ist unter den gegebenen Umständen unerfüllbar.

Positiv ist zu vermerken: René González, der inzwi-
schen auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wor-
den ist, zurzeit aber noch unter sogenannter überwach-
ter Freiheit in Florida zu bleiben hat, ist es gestattet
worden, für zwei Wochen nach Kuba auszureisen, um
seinen schwerkranken Bruder zu besuchen.

Keine Frage: Die Miami Five müssen endlich freige-
lassen werden! Aber die völlige Unbeweglichkeit der
US-Regierung wird sicher nicht dadurch gelockert,
wenn auf der anderen Seite ebenso gebetsmühlengleich
und reflexartig die immer gleichen Appelle an die USA
gerichtet werden. Was wir brauchen, sind politische
Wege, die festgefahrene Kuba-Politik der USA aufzulo-
ckern, in enger Abstimmung mit den Ländern Mittel-
und Südamerikas und den zahlreichen EU-Partnern, die
dazu bereit sind. Eine Korrektur der europäischen
Kuba-Politik ist überfällig. Der Gemeinsame Stand-
punkt ist überholt.

Auf Kuba ist ein interessanter „Anpassungsprozess“
im Gang. Beobachter sprechen von relativ weit reichen-

Zu Protokoll gegebene Reden





Klaus Barthel


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(D)(B)


den, vor allem wirtschaftlichen Reformen. Auch wenn
ich an dieser Stelle nicht ins Detail gehen kann: Es lohnt
sich, diesen Prozess viel stärker zu beachten und zu ana-
lysieren.

Der Punkt ist: Gerade diejenigen, die von der kubani-
schen Regierung gebetsmühlenartig die Freilassung von
Gefangenen und innere Reformen verlangen, ignorieren
die positiven Veränderungen. Sie scheinen damit den
Verdacht zu bestätigen, es gehe ihnen weder um Men-
schenrechte noch um Reformen, sondern lediglich um
Machtdemonstrationen gegen eine missliebige Regie-
rung. Aber auch umgekehrt scheint es manchem Appell
auf Freilassung der Miami Five weniger um die betrof-
fenen Menschen zu gehen, weniger um eine insgesamt
veränderte Kuba-Politik, weniger um eine Unterstüt-
zung der zunehmenden Integration Kubas in Lateiname-
rika, sondern vor allem darum, sich politisch zu profilie-
ren. Über die Reflexe in den USA braucht man sich dann
nicht zu wundern.

Was mich allerdings schon wundert, ist das Verhalten
der Koalitionsabgeordneten in dieser Frage. Was in den
Reden zu diesem Thema hier zu Protokoll gegeben
wurde, atmet den Geist einer längst vergangenen Epo-
che. Selbst wenn einem die kubanische Regierung nicht
passt, muss man doch in einer solchen humanitären
Frage einmal über seinen eigenen Schatten springen
können und Objektivität walten lassen.

Die SPD-Bundestagfraktion fordert die Bundesregie-
rung auf, sich innerhalb der EU für eine grundlegende
Korrektur des Gemeinsamen Standpunktes einzusetzen.
Dies wäre auch ein Schritt, die eigene Lateinamerika-
Strategie ernst zu nehmen und mit Leben zu füllen. Der
dort immer wieder geforderte Dialog muss auch mit
Kuba geführt werden. Wer die positiven Veränderungen
in Kuba unterstützen will, muss den konfrontativen Geist
und die diskriminierende Praxis, die im offiziellen EU-
Standpunkt enthalten sind, aufgeben. Am Ende – spätes-
tens – wird sich auch die US-Regierung bewegen müs-
sen, auch hinsichtlich der Miami Five. Jenseits der heu-
tigen Antragsdebatte könnte die Bundesregierung ohne
großen Lärm einiges dazu beitragen.

Eine konkrete und umfassende Neuausrichtung der
Kuba-Politik ist nötig. Symbolanträge verhärten die
Fronten mehr, als dass sie helfen. Wir werden uns zu
dem Antrag enthalten, weil wir sein Ziel teilen, aber den
Weg für nicht zielführend halten.


Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1717537300

In dem uns vorliegenden Antrag fordert die Links-

Fraktion eine Freilassung der Miami Five – von denen
sich mittlerweile noch vier Personen in amerikanischer
Gefangenenschaft befinden. René González war im Ok-
tober 2011 mit drei Jahren auf Bewährung, während de-
rer er die USA nicht verlassen darf, aus der Haft entlas-
sen worden.

Die Anklage in den USA lautete auf Spionage. Die
fünf Angeklagten sind im Jahr 2001 für schuldig erklärt
und verurteilt worden.

Unmittelbar nach der Freilassung von René González
im vergangenen Jahr hatten die USA Kuba den Vor-
schlag unterbreitet, González gegen Alan Gross auszu-
tauschen. Alan Gross war im April 2011 von einem ku-
banischen Gericht zu 15 Jahren Haft wegen „Vergehen
gegen die Unabhängigkeit und Integrität des Staates“
verurteilt worden und ist nun in Havanna inhaftiert.
Diesen Vorschlag hatte Kuba jedoch ausgeschlagen.

Die USA und Kuba befinden sich also in Fragen der
Freilassung bzw. Überstellung von Gefangenen in Kon-
takt. Der Antrag der Links-Fraktion ist dahin gehend
obsolet.

In der Frage des Besucherrechts stimme ich jedoch
mit den Antragstellern überein. Dies genügt jedoch
nicht, dem Antrag zuzustimmen.

Uns muss es darum gehen, Kuba auf dem Weg in eine
freie und demokratische Zukunft zu unterstützen. Es gilt
deshalb, die vorsichtigen positiven Zeichen zu sehen,
aber gleichzeitig die negativen Signale nicht auszublen-
den.

So liegt zwischen der ersten Beratung dieses Antrags
und heute der bemerkenswerte Besuch des Papstes in
Kuba. Selbst die große Aufmerksamkeit der Weltöffent-
lichkeit hat das Regime nicht davon abhalten können, im
Monat des Besuchs mehr als 1 100 Personen festzuneh-
men. Das ist die höchste Zahl in einem einzigen Monat
seit 50 Jahren. Mehr als die Hälfte der Festnahmen ist
vor und während des Besuchs von Papst Benedikt XVI.
erfolgt. Die kubanische Regierung behandelt Oppositio-
nelle und Regimekritiker nach wie vor mit harter Hand.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie dür-
fen diese Ereignisse nicht ausblenden, was Sie jedoch
leider immer wieder tun. Auch deshalb war es richtig,
dass die Koalitionsfraktionen Ihren Antrag im vergange-
nen Dezember abgelehnt haben.

Der Missstand im politischen sowie menschenrechts-
politischen Bereich ist weiterhin besorgniserregend. Be-
reits im September 2011 wurden mehr als 560 Dissiden-
ten vorübergehend festgenommen. Das war – bis zum
vergangenen Monat – die größte Festnahmewelle seit
30 Jahren.

Der seit 1996 geltende „Gemeinsame Standpunkt“
der EU setzt dennoch auch auf Dialog mit der kubani-
schen Regierung, um diese an ihre Verantwortung für
die Menschenrechte zu erinnern und auf Reformen der
kubanischen Gesetze und die Einhaltung internationaler
Übereinkünfte hinzuwirken. Ich zitiere: „In dem Maße,
wie die kubanische Regierung Fortschritte auf dem Weg
zur Demokratie macht, wird die Europäische Union die-
sen Prozess unterstützen, insbesondere durch Intensivie-
rung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Vertie-
fung des Dialogs.“

Leider haben uns die Ereignisse der vergangenen
Monate weitestgehend enttäuscht, weshalb – abgesehen
von dem in großen Teilen nicht zustimmungsfähigen In-
halt – der Zeitpunkt des vorliegenden Antrags nicht mit
der Wirklichkeit der aktuellen Lage übereinstimmt.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



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Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717537400

Es ist zynisch, dass in diesem Jahr im Rahmen des

UN-Ausschusses gegen Folter, CAT, vom 7. Mai bis
1. Juni einschlägige Organisationen von US-Exilkuba-
nern eine Beobachtungsreise auf kubanisches Territo-
rium missbrauchen, um Kuba wegen Folter anzuklagen.
Es sind die Regierungen der USA, die mit ihrer
unmenschlichen Handels-, Wirtschafts- und Finanz-
blockade offen gegen die Menschenrechte verstoßen und
auf dem besetzten kubanischen Territorium im Gefange-
nenlager Guantánamo sich der massiven Folter schul-
dig machen. Es ist erwiesen, dass Guantánamo ein
rechtsfreier Raum ist.

Dass die EU und die Bundesregierung mit zweierlei
Maß an das Thema Menschenrechte und Kuba herange-
hen, zeigt sich auch im Umgang mit den fünf Kubanern,
die seit 1998 in den USA gefangen gehalten werden.
Antonio Guerrero Rodríguez, Fernando González Llort,
Gerardo Hernández Nordelo, Ramón Labañino Salazar
und René González Sehwerert hatten exilkubanische
Terrorgruppen in den USA infiltriert, um Attentate auf
ihr Land zu verhindern.

Dafür gebührt ihnen Respekt.

Die US-Justiz hat sie indes unter dem Vorwurf der
Spionage zu hohen Haftstrafen verurteilt. Wir erwarten
von der Bundesregierung, dass sie sich für die Freiheit
der fünf einsetzt. Aber wir erkennen keinerlei Bemühun-
gen. Dabei bestätigen weltweit Menschenrechtsorgani-
sationen und auch die UNO, dass Verhaftung, Prozess-
verlauf und Haftbedingungen rechtsstaatlichen
Standards völlig entgegenliefen. Seit Jahren dürfen zum
Beispiel die Ehefrauen ihre Männer nicht im Gefängnis
besuchen.

Wir freuen uns, dass René González Sehwerert nun
zumindest aus dem Gefängnis entlassen wurde und zum
zweiwöchigen humanitären Besuch in Havanna in die-
sem Jahr weilen konnte.

Wenn die Bundesregierung Glaubwürdigkeit in ihrer
Außenpolitik erreichen will, darf sie nicht mit zweierlei
Raster messen und einerseits mit Ländern wie Mexiko
und Kolumbien, in denen Journalisten und Gewerk-
schafter ihres Lebens nicht sicher sind, kooperieren und
andererseits bei Kuba Bedingungen stellen, deren Erfül-
lung die Aufgabe und Auflösung des dortigen sozialis-
tischen Systems bedeuten würde.

Wenn die im Mai 2011 beschlossenen Maßnahmen
zur Zulassung eines nicht staatlichen Sektors im Dienst-
leistungssektor und die selbstständige Bewirtschaftung
bei der Landwirtschaft erfolgreich sein sollen, kann
internationale Unterstützung hilfreich sein. Gerade die
von Minister Niebel gern angesprochene trilaterale EZ
und die Süd-Süd-Kooperation könnten vom BMZ unter-
stützt werden. Die Linke wirbt dafür, die erfolgreiche
Süd-Süd-Kooperation Kubas mit anderen lateinameri-
kanischen, afrikanischen und asiatischen Ländern zu
unterstützen.

Voraussetzung dafür ist, endlich vom unsäglichen
sogenannten Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Kuba
abzurücken. Die EU braucht einen neuen Ansatz, eine

echte Kooperation mit diesem Land, das für den
Aufbruch in Lateinamerika, für die sozialen und demo-
kratischen Fortschritte und für die regionalen Integra-
tionsprozesse dort eine wichtige Rolle spielt.

Zum Schluss möchte ich daran erinnern, dass in vielen
Ländern der Welt, auch in den USA und sogar in Miami
selbst, Solidaritätskomitees bestehen, die den Prozess
gegen die Miami Five als politisch beeinflusstes Verfah-
ren sehen und der US-amerikanischen Justiz schwere
Menschenrechtsverletzungen und Rechtsbeugung vor-
werfen, darunter die zehn Nobelpreisträger José Ramos-
Horta, Wole Soyinka, Adolfo Pérez Esquivel, Nadine
Gordimer, Rigoberta Menchú, José Saramago, Günter
Grass, Alice Walker, Mikis Theodorakis und Noam
Chomsky.

Die Fraktion Die Linke fordert gemeinsam mit diesen
vielen Menschen weltweit: Freiheit für Antonio
Guerrero Rodríguez, Fernando González Llort, Gerardo
Hernández Nordelo und Ramón Labañino Salazar und
die freie Ausreise für René González Sehwerert! Das
Embargo gegen Kuba muss beendet werden, denn die
Blockade Kubas ist völkerrechtswidrig und schadet der
kubanischen Bevölkerung.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Schicksal der sogenannten Miami Five gehört zu
den dunklen Kapiteln der US-Justizgeschichte. Es ist im
Zusammenhang mit der jahrzehntelangen Embargopoli-
tik der USA gegen Kuba zu sehen, die sogar der Papst
bei seinem jüngsten Besuch in Kuba kritisiert hat. Es hat
zu tun mit aggressiven und kriegerischen Aktionen von
Exilkubanern in Florida gegen Kuba.

Im September 1998 wurden die Miami Five, die fünf
Kubaner Antonio Guerrero Rodríguez, Fernando
González Llort, Gerardo Hernández Nordelo, Ramón
Labañino Salazar und René González Sehwerert in den
USA von der Bundespolizei FBI verhaftet. Ihnen wurde
vorgeworfen, Mitglieder eines „Wasp Network“ zu sein,
das exilkubanische Gruppen ausspioniert haben soll.
Um Anschläge auf Einrichtungen und Personen auf
Kuba zu verhindern, sollen sie exilkubanische Terror-
organisationen in Florida unterwandert haben, die kri-
minelle Akte gegen Kuba planten. Drei Monate vorher
war seitens der Regierung in Havanna einer Delegation
desselben FBI umfangreiches Aktenmaterial übergeben
worden, aus dem sich ergeben sollte, dass Gruppen von
Exilkubanern in Florida weit über 100 Anschläge auf
Kuba geplant haben sollen. Die fünf Gefangenen kamen
sofort in Isolationshaft. Sie wurden der Verschwörung
zur Spionage angeklagt, einer von ihnen auch der Ver-
schwörung zum Mord. Im Dezember 2001 wurden sie zu
lebenslangen Gefängnisstrafen verurteilt. Prozess-
beobachter kritisierten, dass der Prozess in Miami nicht
fair gewesen sei und Beweise fehlten. Die Verurteilten
legten Berufung ein.

Im Mai 2001 stellte die UN-Arbeitsgruppe für will-
kürliche Verhaftungen – Menschenrechtskommission –
nach Prüfung des Falles fest, dass die Freiheitsentzie-
hung der Miami Five willkürlich ist und einen Verstoß

Zu Protokoll gegebene Reden





Hans-Christian Ströbele


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(D)(B)


gegen Art. 14 des Internationalen Paktes über zivile und
politische Recht darstellt. Die Arbeitsgruppe forderte
die US-Regierung auf, die notwendigen Schritte zu un-
ternehmen, der Situation abzuhelfen. In Atlanta fand
2005 eine Anhörung vor drei Richtern des Berufungsge-
richts statt, bei der ausländische Juristen, auch solche
aus Deutschland, als Beobachter teilnehmen konnten.
Die Richter stellten fest, dass die Strafurteile wegen vor-
urteilsbelasteter Atmosphäre ergangen waren und auf-
zuheben seien. Ein Jahr später hob das Gericht in ande-
rer Zusammensetzung dieses Urteil auf. Wieder waren
ausländische Beobachter anwesend, auch zwei deutsche
Juristen. Diese bestätigten übereinstimmend die erhebli-
chen Zweifel daran, dass die Verurteilung der Miami
Five in Florida in einem fairen Prozess nach rechts-
staatlichen Prinzipien zustande gekommen ist.

Äußerst problematisch waren und sind auch die Haft-
bedingungen der Verurteilten. Sie wurden in Hoch-
sicherheitsgefängnisse auf die USA verteilt. Lange Zei-
ten waren sie immer wieder in Isolationshaft. Selbst den
Ehefrauen zweier Inhaftierter wurde und wird das Be-
suchsrecht bei Ihren Ehemännern dauerhaft verweigert,
indem sie keine zeitlich begrenzten Visa für die USA er-
halten. René González Sehwerert wurde im Oktober
2011 freigelassen. Allerdings darf er nicht weiter nach
Kuba ausreisen. Er muss bis 2014, versehen mit einer
elektronischen Fußfessel, in den USA bleiben.

Nicht nur Amnesty International, der UN-Menschen-
rechtsrat, sondern auch zahlreiche weitere Menschen-
rechts- und Solidaritätsgruppen haben in den vergange-
nen Jahren viel Aufklärungsarbeit zum Schicksal der
Miami Five geleistet. Sie haben sich unermüdlich für die
Freilassung der fünf eingesetzt, für bis zur Freilassung
verbesserte Haftbedingungen und für das Besuchsrecht
der Ehefrauen. Angesichts der gravierenden Menschen-
rechtsverletzungen, der schwerwiegenden Verfahrens-
mängel und der auffallend schlechten Haftbedingungen
unterstützen wir diese Forderung. Dem Antrag der Lin-
ken, der diese Forderungen enthält, stimmen wir zu. Es
geht um die Einhaltung von Menschenrechten und das
Recht auf ein faires Verfahren, die wir überall einfor-
dern, auch von den USA.

Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich
für die Freilassung der Miami Five einsetzt. Es ist eine
humanitäre Selbstverständlichkeit, dass die Ehefrauen
ihre Männer im Gefängnis besuchen können und dass
der freigelassene Kubaner in seine Heimat Kuba ausrei-
sen kann. Ideologische Brillen sind hier doch fehl am
Platze.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717537500

Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-

schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8395 (neu), den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/7416 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der
SPD angenommen.

Tagesordnungspunkt 30:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Dr. Hermann E. Ott, Hans-Josef Fell, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

EU-Klimaziel anheben – 30 Prozent Emis-
sionsminderung bis 2020

– Drucksache 17/9175 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Andreas Jung, Frank
Schwabe, Michael Kauch, Eva Bulling-Schröter, Bärbel
Höhn.


Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1717537600

Auch wenn es derzeit weitere große Herausforderun-

gen innerhalb der Europäischen Union zu bewältigen gilt
und wir den Kampf um die Stabilisierung des Euro zu
führen haben, hat der internationale Klimaschutz nicht
an Bedeutung verloren und weiterhin in der Politik der
Bundesregierung und der Koalition hohe Priorität. Ef-
fektiver Klimaschutz ist eine wichtige Vorsorge für eine
langfristig tragfähige wirtschaftliche und ökologische
Entwicklung und zugleich ein Wettbewerbsmotor für
neue Technologien. Deutschland muss und wird seine
Vorreiterrolle im Klimaschutz fortführen, gerade auch
nach der Weltklimakonferenz in Durban und auch mit
Blick auf die Konferenz in Rio dieses Jahr. Gerade in die-
sem symbolträchtigen Jahr, 20 Jahre nach der Konfe-
renz, die als Ausgangspunkt für die gemeinsamen inter-
nationalen Anstrengungen für nachhaltige Entwicklung
gilt, halte ich es für notwendig, deutliche positive Signale
für einen erfolgreichen internationalen Klimaschutz zu
setzen.

Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag
haben sich zum Ziel gesetzt, die Emissionen in Deutsch-
land bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu reduzie-
ren. Dabei sind wir auf einem guten Weg. So konnte
Deutschland im Jahr 2010 seine Verpflichtungen aus
dem Kioto-Protokoll erfüllen. Gegenüber dem Basisjahr
1990 sind die Treibhausgasemissionen Deutschlands
2010 um fast 25 Prozent zurückgegangen. Das ent-
spricht einer Verminderung um mehr als 295 Millionen
Tonnen Kohlendioxid pro Jahr und zeigt: Ein großes
Stück des Wegs haben wir bereits geschafft. Wir können
feststellen, dass von unserer Klimaschutzpolitik gleich-
zeitig kräftige Impulse für Wirtschaftswachstum, Inno-
vation und Beschäftigung ausgehen.

Allein die Tatsache, dass wir uns in Deutschland auf
den Weg machen, mit neuen Technologien und erneuer-
baren Energien dieses Ziel zu erreichen, und darin auch
eine wirtschaftliche Chance sehen, löst Diskussionen
und ein Umdenken bei Staaten auf der ganzen Welt aus.
Deutschland demonstriert, dass es machbar ist, den Kli-
maschutz voranzutreiben, ohne an wirtschaftlichem
Schwung zu verlieren.





Andreas Jung (Konstanz)



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(D)(B)


Diese Impulse gilt es nun auch international zu nut-
zen, vor allem auch innerhalb der Europäischen Union.
Ich halte es für notwendig und realistisch, die bereits ge-
steckten Ziele von 20 Prozent Emissionsreduzierung in-
nerhalb der Europäischen Union bis 2020 auf eine
höhere Prozentzahl zu setzen. Eine Initiative der däni-
schen Ratspräsidentschaft, das EU-Klimaschutzziel auf
30 Prozent bis 2020 zu erhöhen, wurde auf der Sitzung
des Umweltministerrats vom 9. März 2012 von Deutsch-
land und 25 anderen Mitgliedstaaten unterstützt. Sie ist
jedoch an der Ablehnung Polens gescheitert. Aus meiner
Sicht ist es jetzt notwendig, dass wir weiter intensiv für
ein 30-Prozent-Ziel werben, die Bedenken auf polni-
scher Seite ausräumen und so einen gesamteuropäi-
schen Schritt im Klimaschutz nach vorne gehen. Europa
muss nach meinem Dafürhalten den positiven Nachweis
erbringen, dass Klimaschutzpolitik eine leistbare Zu-
kunftsvorsorge darstellt, dass sie kein Gegensatz zu
wirtschaftlicher Entwicklung ist, sondern dass die Inte-
gration von modernen Technologien natürliche Ressour-
cen schonen und klimaschädliche Emissionen nachhal-
tig reduzieren kann. Denn eine technologische Moderni-
sierung ist es, die uns wettbewerbsfähiger, produktiver,
wirtschaftlich erfolgreicher macht und darum auch wirt-
schaftlich zu empfehlen ist.

Dafür reicht es nicht, dass die Europäische Union bei
ihrem 20-Prozent-Reduzierungsziel bleibt, sondern wir
brauchen mehr. Denn die 20 Prozent CO2-Reduzierun-
gen bis 2020 werden wir in Europa aller Voraussicht
nach ohne weitere Anstrengungen erreichen. Aber wenn
wir uns nur das vornehmen, was wir ohne zusätzliche
Maßnahmen erreichen, dann ist das zu wenig. Dann ist
es auch kein Anreiz für Technologieentwicklung, dann
senden wir keine positiven Signale an andere Länder,
die es ungleich schwerer haben, ihren CO2-Ausstoß zu
reduzieren.

Ziel der gemeinsamen Anstrengungen sollte ein Wett-
bewerb auf Augenhöhe sein. Deutschland hat sich be-
reits zu einem ehrgeizigen unbedingten Reduktionsziel
bekannt. Deshalb ist es auch in unserem wirtschaft-
lichen Interesse, dass die Europäische Union und damit
die anderen EU-Staaten gleichziehen. So erreichen wir
gemeinsam mehr Klimaschutz und schaffen einheitliche
Wettbewerbsbedingungen.

Am Mittwoch, dem 23. Mai 2012, wird es eine Anhö-
rung zur Erhöhung des EU-Klimaziels auf 30 Prozent
geben. Auch von dieser Anhörung verspreche ich mir
nochmals wichtige Hinweise für die Diskussion um die
Erhöhung des Klimaziels der Europäischen Union. Wir
sollten jeden Spielraum nutzen, den uns die Technolo-
gieentwicklung lässt, um den Klimaschutz international
voranzubringen. Klimaschutz kann nicht isoliert betrie-
ben werden. Deutschland hat mit seinem Engagement
gezeigt, dass der Weg gangbar ist. Nun gilt es, den
Erfolg auch innerhalb der Europäischen Union fortzu-
schreiben, um auch international entsprechende Schritte
anzustoßen.


Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1717537700

Ich möchte meine Rede mit einem Zitat beginnen:

„Das Europäische Emissionshandelssystem produziert
nicht länger die anfangs angestrebten Ergebnisse und

muss deshalb repariert werden.“ Diese Aussage stammt
nicht etwa von einer Umweltschutzorganisation, son-
dern von der Chefin einer großen Investorengruppe. Sie
kündigt sogar an, auch zukünftig Druck für mehr Klima-
schutz zu machen. „Solange der Klimawandel negativen
Einfluss auf die Wirtschaftssysteme, in denen unsere
Mitglieder aktiv sind, und die ihnen anvertrauten Ver-
mögenswerte haben kann, solange werden Investoren
ein entschlossenes Vorgehen fordern“, so schreibt sie
weiter und fordert die Erhöhung des viel zu niedrigen
Klimaziels der EU. Dies fordern auch viele Unterneh-
men, so zum Beispiel die Deutsche Telekom oder Alstom.
Denn es gibt viele gute Argumente für eine Erhöhung
der Klimaschutzbemühungen der EU, jedoch keine da-
gegen.

Aber die Bundesregierung konnte sich lange nicht ei-
nigen, ob sie das auch will: Der Umweltminister schrieb
Zeitungsartikel dafür, der Wirtschaftsminister hat dage-
gengehalten, und die Kanzlerin hat geschwiegen. Nun
scheint es so, dass auch die Bundesregierung ein euro-
päisches Klimaziel von 30 Prozent unterstützt, wenn von
Deutschland nicht mehr als das deutsche 40-Prozent-
Ziel gefordert wird und andere EU-Mitgliedstaaten ei-
nen fairen Beitrag zur Zielerreichung leisten. So steht es
im Fortschrittsbericht 2012 der nationalen Nachhaltig-
keitsstrategie der Bundesregierung. Da die Grünen in
ihrem Antrag genau diese Formulierung aufgenommen
haben, haben die Vertreterinnen und Vertreter von CDU,
CSU und FDP kein Argument, diesem Antrag nicht zu
zustimmen.

Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition,
Sie wissen, wie wichtig das 30-Prozent-Ziel für den Kli-
maschutz, aber auch für die Finanzierung der deutschen
Energiewende ist und wie wichtig der Meinungsaus-
tausch hierüber beim informellen Umweltministerrat
letzen Donnerstag war. Die dänische Ratspräsident-
schaft hatte geladen, damit alle Mitgliedstaaten ihre
Meinung zur Zukunft des Emissionshandels abgeben
können. Die meisten Länder waren durch ihre Minister
vertreten.

Und Deutschland? Wo war Röttgen? Kein Minister,
am zweiten Tag des Treffens nicht einmal mehr eine
Staatssekretärin, niemand aus der Leitungsebene des
BMU. Deutschland war durch einen Beamten des Um-
weltministeriums vertreten. Es ist einfach nur peinlich
und ärgerlich, wie wenig Bedeutung Norbert Röttgen
dem wichtigen Thema Klimapolitik gibt, sein Minister-
amt vernachlässigt und lieber Wahlkampf in NRW
macht. Aber Energiewende und Klimapolitik brauchen
den vollen Einsatz eines Ministers, ein Teilzeitminister
ist damit überfordert.

Brisant ist auch, dass Staatssekretärin Reiche auf
meine Frage in der Fragestunde am 28. März 2012 noch
berichtet hat, dass geplant sei, dass der Minister in Hor-
sens anwesend sei. Sie hat sogar noch angefügt, dass
Röttgen sowohl Wahlkampf als auch Umweltpolitik ma-
chen könne. Offensichtlich hat sie da etwas übertrieben.
Röttgen schwankt zwischen Düsseldorf und Berlin; Kli-
mapolitik und Energiewende geraten weiter in Schief-
lage.

Zu Protokoll gegebene Reden





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)


Auch wenn die Debatte über das 30-Prozent-Ziel
schon über zwei Jahre geführt wird, möchte ich die Ar-
gumente noch einmal anführen. Wie sich vor allem am
CO2-Preis gezeigt hat, haben unsere Argumente an Be-
deutung gewonnen. Sollte die Politik das Klimaziel nicht
erhöhen oder durch eine andere Maßnahme in den
Markt eingreifen, so gehen die Analysten der Deutschen
Bank davon aus, dass der Preis die nächsten Jahre dau-
erhaft unter 10 Euro bleiben wird. Für das Jahr 2012
gehen sie von einem Preis von 6 Euro aus. Man sollte
aber auch in Erinnerung behalten, dass die Prognosen
dieser Bank auch schon zu hoch angesetzt waren. Die
schweizerische UBS geht sogar von einer Untergrenze
des Preises der EUA von 3 Euro aus. UBS sieht einen
Überschuss an Zertifikaten von etwa 2 Milliarden Euro
und geht davon aus, dass wir eine bessere Preissituation
erst nach dem Jahr 2020 haben werden, da sich die
Überstände erst in zehn Jahren abgebaut haben werden.
Andere Marktanalysten haben ähnliche Prognosen,
wenn die Politik das Klimaziel nicht erhöht.

Durch den Preisverfall auf dem CO2-Markt ist auch
die Finanzierung der Energiewende gefährdet. Denn die
Erlöse aus dem Emissionshandel fließen in den Energie-
und Klimafonds, der wichtige Projekte und Programme
der Energiewende finanziert. Bleibt es beim gegenwärti-
gen 20-Prozent-Klimaziel der EU, verliert die Bundesre-
gierung durch die niedrigen Zertifikatspreise im Ver-
gleich zu den erwarteten Erlösen ab 2013 jährlich
Einnahmen in Milliardenhöhe. Um dem Preisverfall zu
begegnen, ist es nicht nur wichtig, die Zertifikatemenge
zu verringern, sondern auch, die Menge an Zertifikaten
aus CDM/JI-Projekten zu verkleinern. Die Kosten eines
30-Prozent-Ziels sind durch die Finanz- und Wirt-
schaftskrise erheblich gesunken. Zu diesem Ergebnis
kommen auch Modellrechnungen der EU.

Auf dem letzten Umweltministerrat scheiterte eine
politische Einigung am Widerstand Polens. Nachdem
die polnische Regierung schon im vergangenen Jahr
ambitionierte Klimaschutzziele verhindert hatte, legte
sie auch beim Treffen am 9. März dieses Jahres ihr Veto
ein. Nun ist der nächste Rat im Juni entscheidend. Die
Zeit bis dahin gilt es mit Hochdruck zu nutzen. Die Bun-
desregierung muss alles tun, damit Polen nicht auch
beim nächsten Treffen eine Einigung blockiert. Jetzt
kommt es auf die Staats- und Regierungschefs an. Des-
wegen habe ich einige Fragen an die Bundesregierung:

Wie möchte die Bundesregierung die polnische Blo-
ckade bis Juni auflösen? Wie zeigt die Bundesregierung,
dass sie die polnischen Sorgen ernst nimmt? Welche An-
gebote möchte die Bundesregierung Polen machen?
Kann sich die Bundesregierung zum Beispiel vorstellen,
die bilateralen Umweltprojekte zwischen Deutschland
und Polen auszubauen? Sind vor dem Juni-Rat Gesprä-
che zwischen Merkel und Tusk geplant? Umweltver-
bände fordern die Schaffung eines Sonderbotschafters,
der Pendeldiplomatie zwischen den Hauptstädten der
EU betreibt. Unterstützt die Bundesregierung diese For-
derung nach einem Sonderbotschafter? Gibt es in der
deutschen Botschaft in Warschau überhaupt jemand, der
zu Klimapolitik arbeitet? Wenn nein, warum nicht? Es
wäre unverantwortlich, wenn die Bundesregierung in

der Zeit bis Juni nicht mit allem Engagement daran ar-
beiten würde, Polen ins Boot zu holen. Denn realisti-
scherweise wird sich das Zeitfenster für das 30-Prozent-
Ziel mit dem Ende der dänischen Ratspräsidentschaft
schließen.

Um dieses Thema noch einmal ganz oben auf die Ta-
gesordnung zu setzen, werden wir im Umweltausschuss
am 23. Mai eine öffentliche Anhörung durchführen.
Grundlage der Anhörung werden die Anträge der Oppo-
sitionsfraktionen zum 30-Prozent-Ziel sein. Nach dem
Standpunkt der Bundesregierung, wie sie ihn im Fort-
schrittsbericht 2012 der nationalen Nachhaltigkeitsstra-
tegie beschrieben hat, müssen die Regierungsfraktionen
den Anträgen zustimmen. Zustimmen allein reicht je-
doch nicht. Die anderen Staaten Europas warten auf ein
starkes Signal aus Deutschland für mehr Klimaschutz.
Nach jahrelangem Herumlavieren muss die Bundesre-
gierung anderen Staaten erklären, dass für sie ein höhe-
res Klimaziel von vitalem Interesse ist. Wenn sie weiter-
hin nur stumm am Rande steht, macht sie sich
mitschuldig, den Klimaschutz zu verhindern. Angesichts
der Opfer, die der Klimaschutz heute schon fordert, kann
das niemand wollen.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1717537800

Deutschland ist und bleibt Vorreiter beim Klima-

schutz. Wir als christlich-liberale Koalition haben Kli-
maschutzziele beschlossen, wie sie noch keine Bundesre-
gierung zuvor beschlossen hat. 40 Prozent national und
unkonditioniert bis 2020, 80 bis 95 Prozent bis 2050 –
das ist international vorbildlich, und es ist ein Signal der
Glaubwürdigkeit Deutschlands insbesondere gegenüber
den Schwellen- und Entwicklungsländern.

Wir brauchen im internationalen Klimaschutz Mit-
streiter; denn allein national werden wir nicht die Er-
folge erzielen, die wir erzielen müssen. 2 Grad als Per-
spektive werden wir nur dann schaffen, wenn wir andere
Länder – die großen Emittenten dieser Welt – ins Boot
holen. Deutschland allein kann nur einen Akzent setzen.
Deshalb war es so wichtig, dass es bei der UN-Konfe-
renz in Durban gelungen ist, eine Allianz mit Afrika, den
Inselstaaten und den am wenigsten entwickelten Län-
dern zu schmieden. Deshalb war es so wichtig, dass
auch Brasilien und Mexiko in die gleiche Richtung gear-
beitet haben. Diese Allianzen waren das Momentum von
Durban; diese Allianzen haben den Druck auf die gro-
ßen Emittenten ausgeübt. Allerdings hat sich auch eines
herausgestellt: Die Frage einer Anhebung des EU-Kli-
maziels hat bei den Verhandlungen in Durban keine
Rolle gespielt.

Die Frage einer Anhebung des EU-Klimaziels über
das 20-Prozent-Ziel hinaus sollte vielmehr aus binnen-
wirtschaftlichen Gründen diskutiert werden. Bliebe es
beim 20-Prozent-Ziel der EU und beim 40-Prozent-Ziel
Deutschlands, so müssten in Deutschland vorrangig die
Sektoren, die nicht vom Emissionshandel erfasst werden,
die Emissionseinsparungen erbringen; denn der Emis-
sionshandel ist europäisch bestimmt, die anderen Sekto-
ren sind es national. Am Ende würden vor allem die pri-
vaten Haushalte, das kleine Gewerbe und die

Zu Protokoll gegebene Reden





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


Verkehrswirtschaft die Lasten zu schultern haben. Wir
sagen: Wir brauchen eine Balance der Anstrengungen
von Industrie und privaten Haushalten. Allerdings läge
ein europäisches 30-Prozent-Ziel in Kenntnis der übli-
chen Verteilung der Anstrengungen in der EU über den
deutschen 40 Prozent. Daher müssen wir eine mittlere
Lösung innerhalb der Bandbreite zwischen 20 und
30 Prozent finden.

Dabei müssen Produktionsverlagerungen bei energie-
intensiven Branchen vermieden werden. Es ist wichtig,
hier einen für alle gangbaren Weg zu finden. Denn Pro-
duktionsverlagerungen in Länder, die es mit Klima-
schutz nicht ernst meinen, helfen niemandem: der Um-
welt nicht und schon gar nicht den Arbeitsplätzen in
Deutschland. Deshalb prüfen wir derzeit, ob ambitio-
nierte Klimaschutzziele im Rahmen der begrenzten fi-
nanziellen und beihilferechtlichen Möglichkeiten mit
Kompensationen für diejenigen energieintensiven Un-
ternehmen verbunden werden können, die im internatio-
nalen Wettbewerb stehen.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717537900

Im letzten Jahr hatte Die Linke anlässlich der UN-

Klimakonferenz in Durban bereits in einem Antrag
gefordert, die europäischen Klimaschutzziele den Reali-
täten anzupassen. Wir waren und sind der Meinung, wer
bereits fast 16 Prozent Treibhausgase gegenüber 1990
eingespart hat, verspielt die Vorreiterrolle im Klima-
schutz, wenn als Ziel für 2020 lediglich 20 Prozent an-
gepeilt werden. Folglich haben wir 30 Prozent gefor-
dert, und wir tun dies auch heute.

Warum brauchen wir diese 30 Prozent? Erstens weil
sie dem Weltklima nützen. Zweitens weil sie technisch
und wirtschaftlich erreichbar sind. Drittens weil das ein
Beitrag wäre, die Blockade bei den UN-Klimaverhand-
lungen aufzubrechen. Nicht wer sich als Erster bewegt,
hat bei Letzteren verloren, sondern wer sich als Letztes
bewegt, wird der Verlierer sein. Schließlich würde das
30-Prozent-Ziel, wenn es mit Programmen und Instru-
menten unterlegt ist, einen Schub an Innovationen
auslösen, nicht nur in erneuerbare Energien, Speicher-
systeme und intelligente Netze, sondern auch in Energie-
einspartechnologien und alternative Verkehrssysteme.
Ein solcher Schub schafft Beschäftigung und spart teure
Importe von Kohle und Öl. Das kann im internationalen
Wettbewerb nur von Vorteil sein.

Wie ich bereits gesagt habe, muss ein solches Ziel un-
terlegt sein. Darum wiederholen wir auch unsere Forde-
rung vom Antrag im letzten Jahr, überschüssige Zertifi-
kate im EU-Emissionshandelssystem stillzulegen. Die
Preise für die Emissionsberechtigungen dümpeln gegen-
wärtig um die 7 Euro je Tonne CO2. Dafür investiert
niemand in Energieeffizienz. Dafür bräuchten wir jene
20 bis 25 Euro, die für das System ursprünglich voraus-
gesagt waren. Die Lenkungswirkung des Emissionshan-
dels ist also genauso abgestürzt, wie der CO2-Preis. Wa-
rum? Weil deutlich mehr Emissionsrechte am Markt sind
als benötigt werden. Dafür gibt es drei Gründe:

Erstens hatten und haben wir in weiten Teilen Euro-
pas eine Wirtschafts- und Finanzkrise, durch die Emis-
sionen zwischenzeitlich rückläufig waren.

Zweitens wurden, selbst wenn es gar keine Krise ge-
geben hätte, viel zu viele Emissionsrechte verteilt, vor
allem an die Industrie.

Drittens haben wir noch eine Schwemme an Emissi-
onsgutschriften aus CDM-Auslandsprojekten. Viele
davon sind zweifelhafter Herkunft, blähen also das Sys-
tem mengenmäßig auf, ohne dass dahinter eine entspre-
chende CO2-Minderung im globalen Süden steht.

Natürlich drückt in der Tendenz auch ein Mehr an
Energieeffizienz oder erneuerbaren Energien auf den
CO2-Preis. Dies dürfte aber nur marginal der Fall sein;
denn diese Entwicklung wurde ja bei der Festsetzung
der Emissionsobergrenzen weitgehend berücksichtigt.

Unter dem Strich bleibt die Feststellung: Wenn dau-
erhaft eine solche Menge überschüssige Zertifikate am
Markt ist, warum auch immer, wurde das System falsch
justiert. Die Klimaschutzziele waren dann offensichtlich
nicht ambitioniert genug. Doch solch niedrige Zertifi-
katspreise sind nicht akzeptabel, weil sie Investitionen in
Energieeffizienz hemmen.

Darum ist die Linke der Auffassung, dass es notwen-
dig ist, jene Menge der Emissionsberechtigungen um
mindestens 1,4 Milliarden CO2-Zertifikate zu kürzen, die
in der nächsten Handelsperiode versteigert bzw. ander-
weitig vergeben werden soll. Denn die Überschüsse sind
ja leider dahin übertragbar. Andernfalls wird Europa
die innovationsfeindlich niedrigen CO2-Preise in die
ferne Zukunft schleppen. Die EU-Kommission hat für
eine solche Kürzung mehrfach Vorstöße gemacht.
Deutschland hat sich hier jedoch stets bedeckt gehalten
oder gar blockiert, wie auch bei der EU-Energieeffi-
zienz-Richtlinie.

Dennoch gibt es ein ermutigendes Signal aus Brüssel.
Klimakommissarin Connie Hedegaard hat beim infor-
mellen EU-Umweltministerrat letzte Woche angekün-
digt, Änderungen an der EU-Versteigerungsverordnung
in Angriff nehmen zu wollen. Deutschland muss dies un-
terstützen, und zwar mit dem Ziel, die Emissionsrechte
nicht nur eine Weile beiseitezulegen, sondern endgültig
stillzulegen. Dieser Prozess muss verbunden werden mit
der Verschärfung des europäischen Klimaschutzziels auf
minus 30 Prozent bis 2020 gegenüber 1990. Um dies bei
allen Mitgliedstaaten durchsetzbar zu machen, halten
wir es für geboten, Solidarität zu üben. Staaten, die be-
sonders schlechte Voraussetzungen für die zusätzlichen
CO2-Einsparungen haben, sollte unter die Arme gegrif-
fen werden, auch und gerade von Deutschland.

Konkret sollte die gegenwärtig prosperierende
Bundesrepublik seinem Nachbarn im Osten helfen. Denn
das Kohleland Polen wird einem ambitionierten gemein-
samen Klimaschutzziel nur zustimmen, wenn es Unter-
stützung erhält. Diese Unterstützung sollten wir gewäh-
ren. Das wäre auch ein Beitrag dazu, Europa wieder zu
einem starken Verhandlungspartner bei den UN-Klima-
verhandlungen zu machen.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717538000

Die europäische Klimapolitik steht vor einer zentra-

len Weichenstellung. Die Staaten der Europäischen
Union müssen entscheiden, ob sie ihr Klimaschutzziel
für das Jahr 2020 von den bisher vereinbarten 20 Pro-
zent Emissionsminderung auf 30 Prozent anheben. Dazu
ist realistischerweise nur noch bis Ende Juni Zeit. Dann
schließt sich mit dem Ende der dänischen Ratspräsident-
schaft auch das Zeitfenster, um die dringend notwendige
Anhebung des EU-Klimaziels zu beschließen.

Grüne und Umweltverbände haben diesen Schritt seit
Jahren immer wieder gefordert. Nach langem Zögern
hat jetzt auch die Bundesregierung ihren Widerstand ge-
gen eine Anhebung des EU-Klimaziels aufgegeben.
Diese Kursänderung ist zu begrüßen. Besser spät als
nie! Aber es ist schon bitter, welche Chancen durch die
Blockadehaltung der Bundesregierung vertan wurden.
Sie hat über die Jahre viel klimapolitisches Porzellan
zerschlagen und Europas Position bei den Klimaver-
handlungen geschwächt.

2009 in Kopenhagen hätte die Anhebung des EU-Kli-
maziels neue Dynamik in die festgefahrenen Klimaver-
handlungen bringen können. Bundeskanzlerin Merkel
hat das mit ihrem Widerstand verhindert. Auch in Can-
cún 2010 und in Durban 2011 war die Bundesregierung
nicht bereit, das 30-Prozent-Ziel mitzutragen. Dabei
war längst offensichtlich, dass das alte 20-Prozent-Ziel
durch die Wirtschaftskrise jede klimapolitische Legiti-
mation verloren hatte. Das 20-Prozent-Ziel war von An-
fang an nicht übermäßig ehrgeizig. Durch den Rückgang
des Treibhausgasausstoßes in der Wirtschaftskrise von
2008/2009 wurde es endgültig Makulatur. Unter den ge-
änderten Umständen bedeuten 20-Prozent Emissions-
minderung praktisch acht Jahre klimapolitischen Still-
stand. Das ist mit dem Anspruch an Deutschland und die
EU, Vorreiter im Klimaschutz zu sein, nicht vereinbar.

Die Anhebung des Klimaziels auf 30 Prozent ist aus
drei Gründen geboten:

Erstens wäre sie ein wichtiges Signal an die interna-
tionale Gemeinschaft, dass die EU am Kurs einer ehr-
geizigen Klimaschutzpolitik festhält. Das würde die in
Durban angebahnte Allianz zwischen EU und Entwick-
lungsländern stärken und positive Impulse für die Kli-
maverhandlungen in Doha geben.

Zweitens erleichtert es ein 30-Prozent-Ziel der EU
Deutschland, das eigene 40-Prozent-Minderungsziel bis
2020 zu erreichen. Denn ohne zusätzliche Emissionsre-
duktionen bei den vom europäischen Emissionshandel
erfassten Industrien und Kraftwerken wird auch das
deutsche 40-Prozent-Ziel nur schwer zu erreichen sein.

Drittens ist die Verschärfung des EU-Klimaziels un-
verzichtbar, um das angeschlagene Emissionshandels-
system wieder auf die Beine zu bringen. Das lasche
20-Prozent-Ziel hat zu einem gewaltigen Überangebot
an Emissionszertifikaten und einem dramatischen Ein-
bruch des CO2-Preises geführt. Investitionen in Energie-
effizienz und erneuerbare Energien werden dadurch we-
niger attraktiv. Außerdem brechen die Einnahmen aus
der Versteigerung von Emissionszertifikaten weg, aus de-

nen die Bundesregierung die Energiewende in Deutsch-
land bezahlen will. Die Anhebung des EU-Klimaziels ist
der richtige Weg, um diese Fehlentwicklungen zu korri-
gieren.

Nach dem Umdenken der Bundesregierung besteht
jetzt die Chance, dass Deutschland in der EU mit breiter
Unterstützung des Bundestages für das 30-Prozent-Ziel
werben kann, insbesondere bei unseren polnischen
Nachbarn, die sich noch gegen die Anhebung des Klima-
ziels stemmen. Wir haben unseren Antrag bewusst so
formuliert, um eine breite, parteiübergreifende Zustim-
mung möglich zu machen. Lassen Sie uns deshalb ge-
meinsam ein Signal setzen für mehr Klimaschutz in
Deutschland und in der EU.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717538100

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9175 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 31:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Stüber, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Neue Flusspolitik – Ein „Nationales Rahmen-
konzept für naturnahe Flusslandschaften“

– Drucksache 17/9192 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Ingbert Liebing, Waltraud
Wolff, Horst Meierhofer, Sabine Stüber, Nicole Maisch.


Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1717538200

„Wasser ist keine übliche Handelsware, sondern ein

ererbtes Gut, das geschützt, verteidigt und entsprechend
behandelt werden muss.“ Dieser Auszug aus den
Erwägungsgründen der europäischen Wasserrahmen-
richtlinie beschreibt die Überzeugung, aus der heraus
die Gemeinschaft ihre integrierte Gewässerschutzpolitik
entwickelt hat. Dieser Überzeugung fühlen sich auch die
Bundesregierung und die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion in ihrem Handeln verpflichtet, der Schutz der Um-
welt steht weit oben auf ihrer politischen Agenda. Sie ist
und bleibt weltweit Schrittmacher beim Umweltschutz.
Dies gilt nicht nur, aber insbesondere auch für den Be-
reich der Wasserpolitik. Deutschland verfügt hier – wie
in vielen anderen Bereichen – über ein international
vorbildliches Umweltschutzniveau.

Vor diesem Hintergrund suggeriert nun die Fraktion
Die Linke im vorliegenden Antrag, es sei anlässlich der
Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie vor einem hal-
ben Jahr zu einem umfassenden Vertragsverletzungsver-
fahren der Europäischen Kommission gegen Deutsch-
land gekommen. Die Beschreibung des Vorgangs fällt





Ingbert Liebing


(A) (C)



(D)(B)


kurz und undifferenziert aus, dient aber dennoch als
Aufhänger für einen Antrag, der das Engagement der
Bundesregierung in der Gewässerpolitik kritisieren will.
Die verfälschende Darstellung zieht sich von Anfang bis
Ende des Antrags hin – immerhin ein roter Faden, den
dieser Antrag für sich in Anspruch nehmen kann. Aber
wahrlich kein rühmlicher!

Bevor ich auf die Forderungen des Antrags im Einzel-
nen eingehe, möchte ich zunächst die bereits erwähnte
Initiative der Europäischen Kommission richtig einord-
nen:

In einer Ende September 2011 an Deutschland und
andere EU-Mitgliedstaaten versendeten, mit Gründen
versehenen Stellungnahme greift die Europäische Kom-
mission im Wesentlichen das sogenannte Kostende-
ckungsprinzip nach Art. 9 Wasserrahmenrichtlinie auf.

Die Europäische Kommission äußert Befürchtungen,
Deutschland verschaffe einzelnen Wirtschaftsbereichen
Kostenvorteile – zum Beispiel Gewässerausbau für die
Schifffahrt, Hochwasserschutz, Energieerzeugung durch
Wasserkraft –, da diese Bereiche kostenlos Wasser-
dienstleistungen in Anspruch nähmen.

Wie für andere EU-Mitgliedstaaten auch sind in
Deutschland nur die Bereiche „Wasserversorgung“ und
„Abwasserbeseitigung“ Wasserdienstleistungen, andere
Bereiche sind Wassernutzungen. Letztere sind in
Deutschland ordnungsrechtlich geregelt und müssen ih-
rerseits einen angemessenen Beitrag zur Kostendeckung
leisten, wenn sie sich verteuernd auf die Wasserdienst-
leistungen auswirken.

Zusammenfassend geht es hier im Kern um eine
Rechtsauffassung der Europäischen Kommission, die
sich im Bereich des Kostendeckungsprinzips von der
Rechtsauffassung verschiedener EU-Mitgliedstaaten
unterscheidet. Keinesfalls wird das deutsche Umset-
zungsverfahren insgesamt bzw. das umgesetzte deutsche
Schutzniveau kritisiert. Die Bundesregierung hat ihre
Rechtsauffassung der Europäischen Kommission am
31. Januar 2012 fristgerecht mitgeteilt. Eine Reaktion
der Europäischen Kommission lag bis zum 20. April
2012 nicht vor.

Nun zur Kernforderung des Antrags der Fraktion Die
Linke, zur Schaffung eines nationales Rahmenkonzepts
für naturnahe Flusslandschaften. Diese Forderung rich-
tet die Fraktion an den Bund, offensichtlich in Unkennt-
nis der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung zwi-
schen dem Bund und seinen Ländern. Diese besagt
nämlich, dass die Bundesländer für die Bewirtschaf-
tungsplanung mit den darin für die Gewässer integrier-
ten Maßnahmenprogrammen zuständig sind. Die Be-
wirtschaftungspläne sind ein wesentliches Element zur
Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie.

Deutschland hat der Europäischen Kommission frist-
gerecht am 22. März 2010 die Bewirtschaftungspläne
inklusive einer Zusammenfassung der Maßnahmenpro-
gramme zur Verfügung gestellt. Die Realisierung der
Programme erfolgt durch die Bundesländer. Diese
Phase muss bis Ende 2012 abgeschlossen sein. Bewirt-
schaftungspläne und Maßnahmenprogramme müssen

alle sechs Jahre überprüft und nötigenfalls angepasst
sowie aktualisiert werden. Die im Antrag geforderte
Evaluierung findet – darauf möchte ich die Linken auf-
merksam machen – also bereits statt. Darüber hinaus
gibt es im Zuge der Umsetzung der Wasserrahmenricht-
linie bereits flussgebietsweite Planungen.

Gleiches gilt für die Antragsforderung nach einer in-
terministeriellen Arbeitsgruppe auf Bundesebene: Die
Einsetzung einer solchen ergibt nicht nur vor dem Hin-
tergrund der bereits genannten Kompetenzverteilung
keinen Sinn. Die Forderung verkennt auch, dass sich die
zuständigen Ministerien auf Bundes- und Länderebene
bereits im engen Austausch befinden. Darüber hinaus
wurden Vertreter interessierter Kreise frühzeitig in die
Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie eingebunden.

Dies macht deutlich: Die Wasserrahmenrichtlinie
– wie übrigens auch die im Antrag zitierte Hochwasser-
risikomanagement-Richtlinie – verlangen bereits heute
nach einer intensiven Kooperation aller beteiligten Ak-
teure und einer aktiven Beteiligung der Öffentlichkeit.
Dem ist die Bundesregierung selbstverständlich umfas-
send nachgekommen. Dabei hat sie zugunsten einer
möglichst breiten Einbindung der Öffentlichkeit zum Teil
innovative Wege beschritten.

Forderungen der Fraktion Die Linke nach einer Be-
teiligung der Öffentlichkeit und der Entwicklung neuer
Beteiligungsverfahren im Rahmen der deutschen Ge-
wässerschutzpolitik sind schlichtweg überflüssig: Diese
existieren bereits; sie wurden in den relevanten Gesetzen
verankert und von der Bundesregierung umgesetzt.

Unkenntnis der föderalen Kompetenzverteilung bzw.
der allgemein geltenden Rechtslage erklären meiner An-
sicht nach auch weitere Forderungen des Antrags:

Sie fordern eine bundesweite Regelung für die Ko-
ordination der Gefahrenabwehr bei Hochwasserereig-
nissen und beim vorbeugenden Hochwasserschutz nach
Gewässereinzugsgebieten: In Umsetzung der Hochwas-
serrisikomanagement-Richtlinie nach § 80 Abs. 2 Was-
serhaushaltsgesetz sind Hochwasserrisikomanagement-
pläne und der damit einhergehende Hochwasserschutz
bereits von den zuständigen Landesbehörden flussge-
bietsbezogen zu koordinieren. Hintergrund ist eine Be-
stimmung des Grundgesetzes, wonach der Katastro-
phenschutz in erster Linie in den Verantwortungsbereich
der Länder fällt.

Sie fordern ein generelles Verbot von Grünlandum-
bruch: Nach § 38 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 Wasserhaushalts-
gesetz ist die Umwandlung von Grünland in Ackerland
bereits heute verboten. Darüber hinaus sind nach § 77
Wasserhaushaltsgesetz Überschwemmungsgebiete als
Rückhalteflächen zu erhalten bzw. frühere Überschwem-
mungsgebiete soweit möglich wieder herzustellen.

Sie fordern die Gewährleistung einer öffentlichen
Finanzierung, die vorrangig auf Synergien zwischen
dem Hochwasserschutz und dem Erhalt bzw. der Ent-
wicklung freifließender Flüsse mit naturnahen Auen
ausgerichtet ist: Die geltenden finanzverfassungsrecht-
lichen Rahmenbedingungen besagen, dass die Finanzie-
rungsverantwortung vorrangig bei den Ländern liegt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Ingbert Liebing


(A) (C)



(D)(B)


Nichtsdestotrotz engagiert sich die Bundesregierung im
Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und
Küstenschutz“ für die Finanzierung des Hochwasser-
schutzes. Auch setzt sie sich auf EU-Ebene stets dafür
ein, dass der Hochwasserschutz in den einschlägigen
europäischen Förderprogrammen Berücksichtigung fin-
det.

Sie fordern, an den Grenzflüssen für eine zwischen
den Anrainerstaaten abgestimmte Flusspolitik Sorge zu
tragen: Innerhalb der internationalen Flussgebiete bzw.
an den Grenzflüssen wird schon seit langer Zeit zuguns-
ten des Gewässerschutzes kooperiert. Die Kooperation
findet Ausdruck in der Gründung internationaler Fluss-
gebiets- und Grenzgewässerkommissionen, zum Beispiel
bei der vor über 60 Jahren geschaffenen Internationalen
Kommission zum Schutz des Rheins, IKSR.

Abschließend möchte auf das im Antrag aufgewor-
fene Thema „Forschung“ eingehen. Beispielshaft ver-
weise ich auf umfangreiche Arbeiten, die Grundlage des
Auenzustandsberichts und des Kartendienstes „Fluss-
auen in Deutschland“ waren. Darüber hinaus werden
im Rahmen des Umweltforschungsplans des Bundes-
umweltministeriums regelmäßig Vorhaben zur Unter-
stützung der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie er-
möglicht.

Zusammenfassend stelle ich fest: Die Bundesregie-
rung setzt sich aktiv ein für die Harmonisierung des Ge-
wässerschutzes und die Verbesserung des Zustands der
Gewässer innerhalb der EU. Dazu dient als zentrales In-
strument die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie in
nationales Recht. Das Herzstück der EU-weit verbindli-
chen Richtlinie ist es, bis 2015 einen guten ökologischen
und chemischen Zustand bei oberirdischen Gewässern
und einen guten quantitativen und chemischen Zustand
beim Grundwasser herzustellen.

Zur Realisierung dieses ambitionierten Ziels werden
wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach Kräften
beitragen. Den uns vorliegenden Antrag der Linken leh-
nen wir ab. Dieser Antrag strotzt vor Unkenntnis, for-
dert Dinge, die längst erledigt oder auf den Weg
gebracht sind, und er verfolgt ein falsches Ziel: Er will
neben der Wasserrahmenrichtlinie ein neues Instrumen-
tarium schaffen und so vom erfolgreichen Instrument
der Wasserrahmenrichtlinie ablenken. Anstatt über die
Erstellung neuer theoretischer Rahmenkonzepte nachzu-
denken, setzen wir uns lieber ganz praktisch für eine
optimale Umsetzung bereits beschlossener Konzepte
ein. Wir verzetteln uns nicht, wir handeln. So leisten wir
einen aktiven Beitrag zum Schutz der Umwelt und unter-
stützen die Bundesregierung auf nationaler und europäi-
scher Ebene bei der Umsetzung der Wasserrahmenricht-
linie.


Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1717538300

Wasser ist Leben. Ohne Wasser gibt es kein Leben,

ohne Wasser ist auch unsere Industriegesellschaft nicht
vorstellbar. Die Nutzung unserer Flüsse ist – das wissen
wir alle – nicht ohne Konflikte mit dem Ziel des Erhalts
der Flusslandschaften und vor allem der ökologischen
Funktionen dieser Flusslandschaften.

Die Flüsse und vor allem die Flussauen sind die Le-
bensadern unserer Landschaft. Sie sorgen im Naturkreis-
lauf für sauberes Trinkwasser, leisten einen wichtigen
Beitrag zur Gewässerqualität, sind wichtige Erholungs-
räume für den Menschen sowie länderübergreifende
Achsen für den Biotopverbund. Sie sind Wasserstraßen
und durch die Wasserkraft Energielieferanten.

Mit der Wasserrahmenrichtlinie wurde auf europäi-
scher Ebene ein Instrument geschaffen, Gewässer in ih-
rer Multifunktionalität zu betrachten und integrierte
Maßnahmen zu entwickeln. Nach den Kriterien dieser
Richtlinie ist der chemische Zustand unserer Flüsse
überwiegend gut. Hier sind wir auf einem guten Weg.
Anders beim ökologischen Zustand: Lediglich 10 Pro-
zent der deutschen Oberflächengewässer erreichen ei-
nen guten oder sehr guten ökologischen Zustand.

Fließgewässer und Auen sind durch Nutzungen wie
Schifffahrt, technischen Hochwasserschutz, Wasserkraft
und Landwirtschaft vielfach verändert worden. 80 Pro-
zent unserer Fließgewässer sind deutlich bis vollständig
verändert, nur noch 15 bis 20 Prozent der natürlichen
Auen sind erhalten. 83 Prozent aller Biotoptypen der
Flüsse und Auen sind gefährdet. Lediglich 5 700 Hektar
naturnahe Hartholzauwälder, entsprechend 1 Prozent
des ursprünglichen Bestandes, sind bundesweit erhalten
geblieben. Feuchtgebiete, die natürlicherweise große
Flächenanteile einnehmen würden, umfassen mit rund
10 000 Hektar nur noch circa 2 Prozent der Über-
schwemmungsauen und deutlich weniger als 1 Prozent
der Altauen. Flüsse und Auen beherbergen in Deutsch-
land die größte Artenvielfalt. Zwei Drittel aller bei uns
vorkommenden Lebensgemeinschaften sind hier in vie-
len verschiedenen, eng verzahnten Biotopen zu Hause.
Die Konflikte zwischen Nutzung und Erhalt sind also
nicht gelöst, es gibt demzufolge deutlich sichtbaren
Handlungsbedarf.

Im Vordergrund muss dabei der Erhalt der ökologi-
schen Funktionen stehen. Die Eingriffe des Menschen
wirken sich bereits jetzt erheblich aus. Biotope, wie zum
Beispiel naturnahe Auen, die bei Überschwemmungen
zu einem großräumigen Anstieg des Grundwassers füh-
ren, oder Moore, die ebenfalls für einen hohen Grund-
wasserstand sorgen, verschwinden allmählich aus unse-
rem Landschaftsbild. Als Folgen des Klimawandels
werden in Deutschland die Niederschläge im Winter zu-,
im Sommer jedoch abnehmen. Die Hochwasserwahr-
scheinlichkeit im Winter und Frühjahr steigt, im
Sommer wird es häufiger Niedrigwassersituationen ge-
ben. Die Binnenschifffahrt wird mit einer Häufung extre-
mer Wasserstände zu kämpfen haben. Nachhaltig und
kostengünstiger ist es, dem zu begegnen, indem natürli-
che Wasserrückhalte wie naturnahe Gewässer, Auwäl-
der, naturnahe Auen geschützt und renaturiert werden.

Notwendig ist ein neues integriertes Konzept, das so-
wohl den Naturschutz als auch die Binnenschifffahrt be-
rücksichtigt. Es muss gemeinsam mit den Ländern den
Erhalt aller noch intakten Gewässer und Auen fördern.
Es muss aber vor allem die verschiedenen Fachpolitiken
verzahnen. Viele Einzelforderungen drängen sich natür-
lich auf: eine Binnenschifffahrt, die stärker an die

Zu Protokoll gegebene Reden





Waltraud Wolff (Wolmirstedt)



(A) (C)



(D)(B)


Flüsse angepasst ist; eine Landwirtschaft, die die Rück-
haltefunktion der Böden erhält, oder aber auch eine
Rückverlegung von Deichen. Entscheidend ist aber, dass
Flüsse als multifunktionale Systeme gesehen werden und
die Politik auch so ausgerichtet ist.

Entscheidend ist also, dass die Flusspolitik in der Zu-
sammenarbeit der Ressorts und in der Zusammenarbeit
von Bund und Ländern gestaltet wird. Wichtig dafür sind
die Prozesse. Das kann zum Beispiel heißen, die gesetz-
lichen Grundlagen bei der Raumplanung dafür zu schaf-
fen, dass ein ausgeglichener Wasserhaushalt und der
Wasserrückhalt in der Fläche stärker als bisher, vor al-
lem in vom Klimawandel besonders betroffenen Regio-
nen, beachtet wird. Das muss vor allem heißen, dass
Konzepte für die einzelnen Flüsse mit einer echten Be-
teiligung von Bürgern und Verbänden entwickelt wer-
den. So können von Anfang an alle Interessen in die
Konzepte mit einbezogen werden.


Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1717538400

Der Antrag der Linken zur Flusspolitik ist ein seltsa-

mes Konstrukt: Einerseits befinden sich darin einzelne
gute und diskussionswürdige Ansätze. Andererseits be-
sticht er durch eine etwas wirre und unsystematische An-
einanderreihung merkwürdiger Ansichten auch auf-
grund unvollständiger und fehlerhafter Annahmen.

Zuerst möchte ich einige Dinge geraderücken: Der
Antrag beginnt damit, dass die europäische Gewässer-
schutzpolitik angeblich von der Bundesregierung bis
heute nicht wirkungsvoll umgesetzt worden ist. Der An-
trag begründet dies mit einem von der Kommission im
September 2011 eingeleiteten Vertragsverletzungsver-
fahren.

Ich gehe davon aus, dass Sie damit das Mahnschrei-
ben der Kommission meinen, das sich gegen die Ausle-
gung des Begriffs Wasserdienstleistungen im deutschen
Recht richtet. Hier sind drei Aspekte anzumerken:

Erstens. Bei diesem Mahnschreiben selbst handelt es
sich noch nicht um das eigentliche Vertragsverletzungs-
verfahren, sondern lediglich um ein Vorverfahren.

Zweitens. Es geht hierbei um einen juristisch höchst
umstrittenen Teilbereich, der nicht geeignet ist, eine an-
geblich falsche Politik zu belegen.

Drittens. Hinter diesem Streit steckt die Kernfrage, in
welcher Konsequenz das Verursacherprinzip verfolgt
wird. Und gerade hierauf legen wir als FDP wahrschein-
lich den höchsten Wert von allen Parteien.

Danach überraschen Sie in Ihrem Antrag mit der Be-
hauptung, dass seit dem 19. Jahrhundert der Zustand
der Flüsse immer schlechter und schlechter geworden
sein soll und diese vorwiegend von Landwirtschaft, In-
dustrie und Schifffahrt geprägt seien. Ich bitte Sie: Ge-
rade die Linke müsste doch wissen, dass sich beispiels-
weise an Elbe und Saale seit der Wiedervereinigung der
Zustand doch nicht ganz unwesentlich verbessert hat.
Dass gerade die Elbe oder andere Flüsse vorwiegend
von Schifffahrt und Industrie geprägt sein sollen, halte
ich gelinde gesagt für eine maßlose Übertreibung. Set-

zen Sie sich doch einmal ein paar Stunden in Dessau an
die Elbe. Wenn Sie Glück haben, erwischen Sie vielleicht
einmal ein Schiff. Das sieht im Hamburger Hafen definitiv
anders aus. Aber auch, dass man im Rhein wieder baden
kann, ist ein Riesenerfolg, der in den 70er- und 80er-Jah-
ren nie und nimmer denkbar gewesen wäre.

Jetzt aber noch zu Ihren 27 Forderungspunkten, die
Sie katalogartig und ohne inneren Zusammenhang ab-
spulen: Richtig ist, dass Sie ein Hochwasserwarnsystem
mit bundeseinheitlich verbindlichen Standards fordern.
Flüsse machen nun einmal nicht an den Ländergrenzen
Halt. Dabei übersehen Sie leider nur, dass genau die von
Ihnen geforderten Standards in Form von Hochwasser-
risikokarten und Hochwassermanagementplänen schon
längst in der Bearbeitung sind. Ein Blick in die Unterla-
gen der Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser aus
dem Jahr 2010 wird Wunder tun.

Dann bieten Sie eine Reihe von Vorschlägen an, die
vollkommen unkonkret sind: Beispielsweise fordern Sie,
die derzeit diskutierte Klassifizierung der Bundeswas-
serstraßen mit den Ländern, der Binnenschifffahrt und
Transportlogistik, den Umweltverbänden sowie der
Sport- und Tourismuswirtschaft abzustimmen. Was soll
das? Glauben Sie ernsthaft, die Klassifizierung würde im
willkürlichen Alleingang des Ministeriums erfolgen?
Oder auch die Forderung, die Erfordernisse zum Erhalt
der biologischen Vielfalt und des vorbeugenden Hoch-
wasserschutzes besonders zu berücksichtigen: Selbstver-
ständlich hat dies zu erfolgen. Das ist im Koalitionsver-
trag in einer ähnlichen Formulierung festgeschrieben.
Ich gehe davon aus, dass dies bei allen Maßnahmen ent-
sprechende Berücksichtigung findet. Wenn Ihnen gegen-
teilige konkrete Punkte bekannt sind, müssen Sie diese
nennen. Sonst ist es nicht mehr als eine bloße Worthülse.

Sie fordern auch die Entwicklung neuer Beteiligungs-
verfahren, die garantieren sollen, dass alle Interessen-
vertretungen von vornherein eingebunden werden. Da-
bei sprechen Sie explizit von der Einbindung sich
bildender Bürgerinitiativen. Mit Verlaub – das ist voll-
kommen absurd. Wie stellen Sie sich das vor? Es könnte
sich vielleicht eine Bürgerinitiative bilden. Diese soll
dann das Anrecht auf Teilnahme an einem Runden Tisch
haben, ohne wahrscheinlich einen Ansprechpartner be-
nennen zu können. Vielleicht sind Ihnen einzelne Ent-
wicklungen der vergangenen Jahre entgangen. Aber
dass beispielsweise an der Donau eine unabhängige
Monitoringgruppe aus Wissenschaft, Gesellschaft, Um-
welt- und Wirtschaftsvertretern bereits im Vorfeld von
Ausbaumaßnahmen eingesetzt wurde, müsste Ihnen ei-
gentlich bekannt sein. Gerade im Umweltbereich hat
sich eine Vielzahl unterschiedlichster Beteiligungsfor-
men gebildet. Diese Entwicklungen verfolgen wir selbst-
verständlich weiter.

Auch der Ansatz, wie Sie die Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung in Ihr Rahmenkonzept einbinden wol-
len, erscheint mir wenig durchdacht. Die 13 000 Ange-
stellten der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung wollen
Sie ganzheitlich erhalten und ihnen vornehmlich neue
Aufgaben im Bereich Flussschutz zukommen lassen.
Dass grundsätzlich eine Akzentverschiebung erforder-

Zu Protokoll gegebene Reden





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


lich war, gestehe ich Ihnen gerne zu. Auch hier haben
wir im Koalitionsvertrag verabredet, die Aufgaben der
Verwaltung stärker an ökologischen Erfordernissen aus-
zurichten. Nur müssen Sie auch bedenken, dass die An-
gestellten ausschließlich für Bundeswasserstraßen zu-
ständig sind und auch nur sein dürfen. Sofern ich Ihr
Rahmenkonzept richtig verstehe, soll dieses ja gerade
nicht nur für Bundeswasserstraßen, sondern für alle
Flüsse wirken. Abgesehen davon, dass Sie offenkundig
eine Mischverwaltung – also ein ähnliches Problem wie
bei den Jobcentern – herbeiführen wollen, schaffen Sie
damit eine Monsterbehörde voller „Umwelt-Ranger“,
ohne in irgendeiner Form die Aufgabenverteilung weiter
zu konkretisieren. Das ist schlichtweg nicht durchdacht.

Zu guter Letzt fehlt mir in Ihrem Antrag aber auch die
Erwähnung von Problemen, die ich dringend für lö-
sungsbedürftig halte und mit denen wir uns intensiv aus-
einandersetzen: Als Beispiel sei der Streit zwischen
Bund und Ländern über die Frage, wer für wasserwirt-
schaftliche Ausbaumaßnahmen zuständig ist, genannt.
Darunter fallen diejenigen Maßnahmen zum Wohle des
Flusses, die mehr sind als reine Unterhaltung, also ins-
besondere Verbesserungen der Sohlenstruktur, der Strö-
mungsdiversität, Tiefen- und Breitenvarianz, Längs- und
Querbänke und einiges mehr. Dieses Problem ist seit
über zehn Jahren ungelöst und führt an unterschiedli-
chen Flüssen immer wieder zu Problemen. Hier sehe ich
beispielsweise Handlungsbedarf und auch einiges, was
Sie als Opposition politisch hätten einbringen können,
ja vielleicht sogar müssen.

Ihr Antrag hat einige ernst zu nehmende Anregungen.
Leider ist er an manchen Stellen derartig fehlerbehaftet
und unsystematisch, dass wir ihn ablehnen müssen.


Sabine Stüber (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717538500

Der Äquator hat eine Länge von rund 40 000 Kilome-

tern. Die Flüsse bringen es in Deutschland auf rund
127 000 Kilometer Länge. Auch wenn hierbei die klei-
nen Wasserläufe mitgezählt werden, aneinandergereiht
reichen unsere Flüsse dreimal um den Äquator. Das ist
eigentlich unvorstellbar, macht uns aber klar, wie stark
unsere Landschaft durch Fließgewässer geprägt ist.
Flüsse waren schon immer Lebensadern, an denen die
großen Städte entstanden, und schon immer wurden sie
nach den jeweils mächtigsten Wirtschaftsinteressen aus-
gebaut und verändert. Wirklich „zähmen“ lassen sie
sich allerdings nicht.

Oft genug schlagen sie zurück und treten mit reißen-
den Fluten über die Ufer. Wir alle kennen die dramati-
schen Bilder: Hochwasser, das nicht nur immense mate-
rielle Schäden hinterlässt, sondern überdies Mensch und
Tier in Gefahr bringt.

Auch wenn längst bekannt ist, dass Flüsse nicht ein-
fach so beherrschbar sind, wurden sie weiter begradigt,
vertieft, umverlegt und aufgestaut. Dabei gehen Über-
flutungsflächen und Auen verloren, während im Gegen-
zug die Hochwassergefahr steigt. Vom Verlust der Arten-
vielfalt in den Flussauen will ich gar nicht erst sprechen
oder von den wandernden Fischen, die in unseren Flüs-
sen zu Hause sind und die, wenn sie Glück haben und

eine Fischtreppe finden, auch überleben. Deshalb müs-
sen wir das Verständnis, Flüsse vor allem unter wirt-
schaftlichen Aspekten als Wasserstraße zu sehen, end-
gültig korrigieren und um einen umfassenden
Gewässerschutz erweitern.

Wie immer ist Deutschland gut, wenn es um techni-
sche Lösungen geht. Und so gibt es selbstverständlich
Erfolge bei der industriellen und kommunalen Abwas-
serreinigung. Trotzdem sind die Flüsse verseucht. Es ge-
langen viel zu viele Nährstoffe und Pflanzenschutzmittel
aus der Land- und Forstwirtschaft in die Gewässer. Und
so muss es nicht erstaunen, wenn der ökologische Zu-
stand der Flüsse wesentlich schlechter ist als erwartet.
Wer jedoch genau hinschaut, hat ihn genauso erwartet.

Es gibt viele, nicht selten in Konkurrenz stehende In-
teressen und Ansprüche, angefangen von der Binnen-
schifffahrt über die Freizeitschifffahrt und den Touris-
mus, den Gewässer- und Naturschutz, den Hochwasser-
schutz bis hin zur Industrie und Energiegewinnung.
Hinzu kommen die Belange von Fischerei und Landwirt-
schaft, und auch kommunale Gesichtspunkte spielen
eine Rolle.

Sauberes Wasser ist für alle unverzichtbar. Da sind
wir in Mitteleuropa, gemessen an anderen Regionen die-
ser Welt, zwar in einer komfortablen Situation. Noch
gibt es bei uns ausreichend sauberes Wasser. Damit das
so bleibt, soll nach EU-Recht bis 2015 die Wasserrah-
menrichtlinie umgesetzt werden. Das heißt, bis dahin
soll für die europäischen Gewässer ein guter chemischer
und ökologischer Zustand erreicht werden. Deutschland
ist derzeit davon meilenweit entfernt. Da gibt es jede
Menge unerledigte Hausaufgaben, die wir in unserem
Antrag von der Bundesregierung einfordern. Wir brau-
chen eine neue Flusspolitik mit dem Ziel, die Ressource
Wasser zu erhalten. Dazu müssen wir unsere Flussland-
schaften naturnah entwickeln. Um das zu erreichen, sol-
len in einem nationalen Rahmenkonzept ökologische
Eckpunkte festgeschrieben werden, die bundesweit für
alle Flussgebiete gelten. Das bedarf des politischen Wil-
lens und kann auch dann nur gemeinsam mit der Zivilge-
sellschaft und im Einvernehmen mit den verschiedenen
Interessengruppen entwickelt werden. Dafür ist ein brei-
ter gesellschaftlicher Dialog die entscheidende Voraus-
setzung. Den Anstoß muss die Politik geben, und genau
das wollen wir mit dem Antrag erreichen.

Es geht um viel, es geht um gesellschaftliche Partner-
schaft für einen umfassenden Gewässerschutz. Mit der
Elbe wird ein erster Schritt getan, aber es ist nur ein An-
fang. Wir brauchen einen Handlungsrahmen für das
ganze Land. Dann kann auch der gesellschaftliche Dia-
log im ganzen Land beginnen und nicht nur an der Elbe.

Jetzt – wann sonst? – wollen wir endlich Ernst ma-
chen mit der Befreiung unserer Flüsse.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717538600

Natürliche und naturnahe Gewässer sind von heraus-

ragender Bedeutung für die Erhaltung der biologischen
Vielfalt. Flüsse, Bäche, Seen, Übergangs- und Küstenge-
wässer sind ein riesiger Lebensraum für eine Vielzahl

Zu Protokoll gegebene Reden





Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)


von Tier- und Pflanzenarten. In einigen Regionen wird
ein nicht unwesentlicher Teil des Trinkwassers aus
Oberflächengewässern gewonnen. Auen und Flussufer
sind zudem Überflutungsräume, die wesentlich zum
Schutz vor Hochwasserschäden beitragen können.

Doch der Zustand unserer Gewässer und Flüsse ist
schlecht. Verbauung und Entwässerung der Flussufer
und Auen, die mitunter viel zu hohen Nährstoffeinträge
aus der Landwirtschaft sowie Abwasser- und Abwärme-
einleitungen bedrohen die biologische Vielfalt.

Die Bundesregierung versagt beim Schutz unserer
Gewässer und Flusslandschaften. Nicht einmal 20 Pro-
zent der Oberflächengewässer in Deutschland werden
bis 2015 einen guten ökologischen Zustand erreichen,
wie es die Wasserrahmenrichtline verlangt. Statt aktiv zu
werden und für besseren Gewässerschutz zu sorgen, spe-
kuliert die Bundesregierung auf Fristverlängerungen.
Dabei wurde Deutschland bereits mehrfach wegen Ver-
säumnissen bei der Umsetzung der Wasserrahmenricht-
linie von der EU-Kommission ermahnt, unter anderem
aufgrund von Fristversäumnissen bei der Festlegung
der Bewirtschaftungspläne und jüngst erneut wegen der
– nach Auffassung der Kommission – falschen Ausle-
gung des Begriffs der Wasserdienstleistungen, die zu
nicht angemessenen Wassergebühren und zu einer nicht
adäquaten Kostendeckung in Deutschland führt. Das ist
peinlich!

Wir fordern die Bundesregierung auf, die Wasserrah-
menrichtlinie endlich konsequent umzusetzen und dafür
eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzuberufen. Hier
müssen insbesondere der Schutz von Gewässerrand-
streifen und die Kostendeckung bei allen Wasserdienst-
leistungen im Sinne des Verursacherprinzips gewähr-
leistet werden. Außerdem müssen die Maßnahmen des
Gewässerschutzes stärker als bisher in die unterschied-
lichen Politikbereiche wie Land- und Verkehrswirt-
schaft, Siedlungsentwicklung, Industrie, Energiewirt-
schaft und Hochwasserschutz integriert werden.

Darüber hinaus fordern wir von der Bundesregierung,
endlich das lange angekündigte nationale Fluss- und Au-
enprogramm aufzulegen. Überall dort, wo es möglich ist,
sollen Auen renaturiert und frei fließenden Flüssen Vor-
rang gewährt werden. Dazu sind Deichrückbauten und
Rücknahmen von Flussbegradigungen notwendig, die
sich nicht nur auf hydrologische Maßnahmen beschrän-
ken, sondern auch auf die Wiederherstellung der auenty-
pischen Vielfalt gerichtet sein müssen. Die Bewirtschaf-
tungsauflagen bei Gewässern und ihren Auen, die Teil
des europaweiten Schutzgebietssystems Natura 2000
sind, bedürfen einer besseren Durchsetzung.

Auch eine Novelle des Hochwasserschutzgesetzes ist
notwendig, die ein allgemeines Bau- und Nutzungsver-
bot der Auen innerhalb eines bestimmten Korridors und
Einschränkungen für den Einsatz von Pestiziden und
Düngern in Hochwassergebieten enthalten sollte.

Auch in der aktuellen Neuordnung der Bundeswas-
serstraßen müssen sich die Schwerpunkte Hochwasser-
schutz und Auenrenaturierung konsequent spiegeln.

Nehmen Sie Gewässerschutz endlich ernst!


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717538700

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9192 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit offen-
sichtlich einverstanden? – Dann haben wir die Überwei-
sung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 32:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,
Volker Beck (Köln), Uwe Kekeritz, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Transparenz im Rohstoffsektor – EU-Vor-
schläge umfassend umsetzen

– Drucksachen 17/8354, 17/8914 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Dr. Sascha Raabe
Harald Leibrecht
Niema Movassat
Ute Koczy

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Jürgen Klimke,
Dr. Sascha Raabe, Joachim Günther, Heike Hänsel, Ute
Koczy.


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1717538800

Am 25. Oktober des vergangenen Jahres hat die EU-

Kommission Vorschläge für mehr Transparenz im Roh-
stoffsektor gemacht.

Diese Transparenzrichtlinie der EU hat dabei zwei
Ziele. Es geht zunächst darum, kleinen und mittleren
börsennotierten Gesellschaften den Zugang zu Märkten
zu erleichtern, vor allem durch die Streichung der Ver-
pflichtung zur Offenlegung von Quartalsberichten.

Der vorliegende Antrag der Grünen, der den Anlass
für die heutige Debatte liefert, geht darauf jedoch nicht
ein. Er beschäftigt sich vielmehr ausschließlich mit dem
anderen Aspekt der Richtlinie: Es handelt sich dabei um
die Verpflichtung für börsennotierte Unternehmen sowie
Großunternehmen der Rohstoff- und Forstbranche, ihre
Zahlungen an Regierungen offenzulegen.

Ziel dieser Regelung ist es, die Zivilgesellschaft in
rohstoffreichen Ländern besser über die Zahlungsströme
zu informieren und einem Ausverkauf von Rohstoffen
vorzubeugen. Auf der anderen Seite wird schlechter Re-
gierungsführung und Korruption in den rohstoffreichen
Entwicklungsländern vorgebeugt, wenn bekannt ist, wel-
che Einnahmen die Regierungen in diesem Bereich er-
zielen.

Diese auch und gerade für die Entwicklungspolitik
wichtige Zielstellung nutzen Bündnis 90/Die Grünen für
einen eigenen Antrag, in dem sie sich für die Umsetzung
der EU-Vorschläge einsetzen und an einigen Punkten
auch noch darüber hinausgehen wollen. So sollen die im





Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)


Kommissionsvorschlag bestehenden Ausnahmeregelun-
gen gestrichen werden. Das betrifft vor allem den Um-
gang mit einem Offenlegungsverbot der Empfängerlän-
der für solche Zahlungen. In diesem Fall will die EU-
Kommission von einer Offenlegung absehen, während
die Grünen dadurch – sicher nicht ganz zu Unrecht –
eine Verwässerung der Schlagkraft des Vorschlages be-
fürchten. Andererseits ist schwer vorstellbar, inwieweit
man europäische Unternehmen zu einem Rechtsbruch in
diesen Staaten anhalten kann.

Noch gravierender als die Streichung von Ausnahmen
ist die im Antrag vorgebrachte Forderung nach einer
umfassenden Offenlegung anderer Unternehmensdaten
in deren Geschäftsverkehr mit Regierungen. Hierbei be-
ziehen Bündnis 90/Die Grünen auch nationale Regelun-
gen in ihre Überlegungen zur Ausweitung mit ein. Diese
Überlegungen lehnen wir ab, und sie sind auch der
Hauptgrund, warum wir dem Antrag trotz guter Ansätze
nicht zustimmen können.

Auch wir Entwicklungspolitiker der Union halten die
Vorschläge der EU-Kommission für entwicklungspoli-
tisch zielführend. Wir unterstützen deshalb grundsätz-
lich die Umsetzung dieser Vorschläge, die ja mit den Re-
gelungen des Dodd-Frank-Act bereits ein Vorbild in den
USA haben.

Trotzdem sind bei der Ausgestaltung der Transpa-
renzrichtlinie noch einige Fragen offen:

Da stellt sich zunächst die Frage der Definition der
Größe der von der Regelung betroffenen Unternehmen.
Hier spricht die EU zunächst ganz allgemein von „gro-
ßen“ Unternehmen. Dazu brauchen wir klarere Anga-
ben. Eine weitere Frage betrifft die konkrete Umsetzung
der Regelungen: Es soll ja eine projektbezogene Offen-
legungspflicht geben – da müsste man klären, wie eine
solche Verpflichtung ohne bürokratische Überforderung
der Unternehmen umgesetzt werden soll. Schließlich
geht es auch darum, inwieweit europäischen Unterneh-
men Wettbewerbsnachteile aus den Regelungen erwach-
sen könnten.

Es ist klar, dass eine europäische Regelung in diesem
Bereich einer nationalen Regelung bei weitem vorzuzie-
hen ist. Noch besser ist aber eine internationale Rege-
lung, bei der verbindliche Standards auch für die immer
stärkeren Akteure gerade aus dem asiatischen Raum
gelten. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass sich
auch die Grünen in ihrem Antrag für globale Standards
im Tranzparenzbereich einsetzen.

Die Verantwortung der Unternehmen für die Verbes-
serung der Bedingungen in Entwicklungsländern ist in-
zwischen allgemein anerkannt. Auch die Unternehmen
selbst erkennen sie zunehmend und unterstützen freiwil-
lig internationale Übereinkommen wie die Leitlinien der
Vereinten Nationen oder der OECD zur Unternehmens-
verantwortung. Auch eigene, darüber hinausgehende
CSR-Verpflichtungen sowie die Durchführung entwick-
lungspolitischer Projekte in den Produktionsländern
sind keine Einzelfälle mehr. Auch für dieses Thema Cor-
porate Social Responsibility hat die EU grundlegende
Vorschläge gemacht, die sich zunehmend vom Konzept

der Freiwilligkeit hin zu einer verpflichtenden Verant-
wortung der Unternehmen bewegen. In diesem Zusam-
menhang ist auch die Transparenzrichtlinie mit der Zah-
lungsoffenlegung zu bewerten.

Über diese Aktivitäten auf europäischer Ebene wer-
den wir in den kommenden Wochen und Monaten sicher
noch häufiger diskutieren. Hier gilt es, die Folgen im
Positiven und Negativen gut abzuwägen. Auch wenn wir
als Entwicklungspolitiker diese Impulse aus Europa
grundsätzlich begrüßen, sehe ich zu den Detailfragen
noch viel Erklärungsbedarf. In manchen Fragen gibt es
auch Diskussions- und Abstimmungsbedarf zwischen
Wirtschafts-, Entwicklungs-, Außen- und Menschen-
rechtspolitikern.

In der ganzen Diskussion darf uns jedoch ein Aspekt
nicht verloren gehen. Es ist nicht die Hauptaufgabe der
Wirtschaft, sich als Entwicklungshelfer oder Menschen-
rechtsorganisation zu betätigen. Eigentlich sollte es ge-
nügen, wenn sich die Unternehmen an die jeweiligen
Gesetze halten. Das eigentliche Problem besteht darin,
dass in vielen Staaten die Gesetze nicht im Sinne der ein-
fachen Bürger sind, dass der Regierung die Mittel feh-
len, diese Gesetze durchzusetzen, oder dass Korruption
die Rechtsstaatlichkeit nur auf dem Papier entstehen
lässt.

Es sind die Regierungen und die staatlichen Insti-
tutionen der Entwicklungsländer, die für nachhaltige
Verbesserungen zuständig sind. Hier setzt unsere Ent-
wicklungs- und Menschenrechtspolitik deshalb auch zu
Recht an.

Dieses Bekenntnis zur Verantwortung der Regierun-
gen in den rohstoffreichen Ländern kommt mir beim An-
trag der Grünen zu kurz. Hier wird alle Verantwortung
auf die Unternehmen abgewälzt. Auch die Zielstellung
des Grünen-Antrags, die darin besteht, dass Europä-
erinnen und Europäer das Recht haben, zu erfahren, ob
die europäischen Unternehmen weltweit fair agieren,
zeugt von dieser Haltung. Denn den Schaden durch un-
gerechtfertigt geschlossene Verträge und Mangel an
Transparenz haben die Menschen in den Entwicklungs-
ländern. Hier sollen gerade die Wege eröffnet werden,
sich über die Einnahmen der Regierung besser zu infor-
mieren, um Korruption und schlechter Regierungsfüh-
rung vorzubeugen.

Es ist eine Tatsache, dass der Rohstoffreichtum vieler
Staaten der Bevölkerung nur wenig zugutekommt und
der Entwicklung der Staaten oft nicht förderlich ist. Um
dies zu ändern, betreiben wir Entwicklungspolitik – zum
Beispiel durch konkrete Projekte zur Verhinderung ille-
galen Abbaus, für den Aufbau von Wertschöpfungsketten
sowie zum Aufbau einer staatlichen Finanzverwaltung.
Wir knüpfen unsere Hilfen zudem verstärkt an Verbesse-
rungen der Menschenrechtssituation in den Partnerlän-
dern und konnten durch diese Konditionierung bereits
Erfolge feststellen.

Die stärkere Einbeziehung von Unternehmen kann
diese Bemühungen nicht ersetzen. Sie bildet aber einen
weiteren ergänzenden Baustein unserer entwicklungs-
politischen Arbeit – nicht mehr und nicht weniger.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1717538900

Transparenz im weltweiten Handel mit Rohstoffen ist

die absolute Grundvoraussetzung dafür, dass künftig
mehr Menschen in Entwicklungsländern von den Gewin-
nen, die erzielt werden, profitieren können. Jährlich wer-
den enorme Summen im Rohstoffhandel umgesetzt; zu
den Gewinnern dieser Geschäfte zählen aber nur einige
wenige. Dabei würde dieses Geld dringend benötigt, um
Hunger und Armut zu bekämpfen, um Bildungs-, Gesund-
heits- und soziale Sicherungssysteme aufzubauen. Es ist
jenes Paradoxon, das uns unbegreiflich erscheint und
wütend macht: Trotz des vorhandenen Rohstoffreichtums
ihrer Länder müssen Menschen um ihr tägliches Überle-
ben kämpfen.

Wo aber bleibt das Geld? Vieles davon versickert
nach wie vor in den Taschen korrupter Regierungen und
international operierender Unternehmen, weil die Zah-
lungsflüsse nicht aufgedeckt werden müssen. Ein gutes
Geschäft für einige wenige Reiche, die sich ungeniert
bedienen, ein schlechtes für die vielen Armen. Sie dürfen
allenfalls in den Minen schuften; von dem, was sie dort
aus dem Boden holen, haben sie nichts. Und da viele
dieser Geschäfte im Dunkeln bleiben, haben die Armen
auch kaum eine Chance, ihren gerechten Anteil einzu-
fordern.

Seit Jahren schon setzt sich die SPD gemeinsam mit
der Zivilgesellschaft für mehr Transparenz ein. Es ist ein
Umdenken angestoßen worden, und selbst die USA ha-
ben erkannt, dass etwas passieren muss. Sie haben mit
dem Dodd-Frank-Act, mit dem börsennotierte Unter-
nehmen verpflichtet werden sollen, die Zahlungsströme
zu melden und so nachvollziehbar zu machen, einen sehr
guten Aufschlag gemacht. Auch die EU-Kommission hat
reagiert und im vergangenen Oktober zwei Richtlinien-
vorschläge vorgelegt, die sehr weitgehende Offen-
legungspflichten für Unternehmen im Rohstoffsektor be-
inhalten. Darin ist vorgesehen, dass Unternehmen ihre
Zahlungen, die sie im Zusammenhang mit der Gewin-
nung von Rohstoffen an Regierungen leisten, offenlegen
müssen. Neben der klassischen fördernden Industrie,
also etwa Öl, Gas, Bergbau, betrifft dies auch die holz-
gewinnende Industrie. Das ist grundsätzlich klar zu un-
terstützen, und daher werden wir auch dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zustimmen, der unter
bestimmten Voraussetzungen eine Umsetzung der Richt-
linien fordert.

So weit, so gut. Allein die Bundesregierung spielt bei
den noch laufenden Verhandlungen eine undurchsich-
tige Rolle oder, um es auf einen kurzen Nenner zu brin-
gen: Beim so wichtigen Thema Transparenz herrscht bei
der Bundesregierung alles andere als Transparenz. Die
Unterrichtung zum aktuellen Verhandlungsstand, die
wir in dieser Woche im Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung auf der Tagesord-
nung hatten, hat mich jedenfalls einigermaßen ratlos
und verärgert zurückgelassen. Während das Entwick-
lungsministerium Hü sagt, sagt das federführende
Justizministerium Hott und tritt kräftig auf die Bremse.
Dafür hagelt es zu Recht heftige Kritik vonseiten vieler
Nichtregierungsorganisationen. Nicht umsonst hat der
Deutschlandchef der Organisation ONE, Tobias Kahler,

die Bundesregierung erst in dieser Woche zum wieder-
holten Male aufgefordert, endlich ihren Widerstand ge-
gen die Korruptionsbekämpfung in der Rohstoffpolitik
aufzugeben.

Eigentlich sollen die Verhandlungen über die Richt-
linien noch in der dänischen Ratspräsidentschaft bis zur
Jahresmitte abgeschlossen werden. Ob das gelingt,
scheint angesichts der vielen ungeklärten Fragen zwei-
felhaft. So ist beispielsweise noch offen, ob es eine
Wesentlichkeitsgrenze geben soll, also eine festgelegte
Grenze des jeweiligen Geschäftsumfangs, unterhalb
derer eine Berichtspflicht nicht besteht. Hier wird man
aufpassen müssen, dass eine solche Grenze keine Ein-
fallstore für Tricksereien – etwa das Splitten eines Ab-
schlusses in mehrere kleinere Geschäfte zur Umgehung
der Offenlegungspflicht – eröffnet.

Ebenfalls keine Einigkeit gibt es bislang darüber, ob
sich die Berichtspflichten auf einzelne Projekte beziehen
sollen oder ob nur Gesamtsummen pro Land genannt
werden müssen. Und wohlgemerkt: Die Uneinigkeit in
diesem zentralen Punkt besteht nicht nur innerhalb der
EU, sondern ganz offensichtlich auch zwischen den be-
teiligten Ressorts innerhalb der Bundesregierung. Dabei
handelt es sich hier um eine der entscheidenden Fragen:
Wird der Vorschlag der Kommission von einigen Regie-
rungen der Mitgliedstaaten so weit aufgeweicht, dass er
zum zahnlosen Tiger wird, oder wird er am Ende wirk-
lich ein wirksames Instrument zur Bekämpfung von
Korruption und dreckigen Geschäften sein können? Aus
unserer Sicht kann es da keine zwei Meinungen geben:
Ohne die eindeutige Projektbezogenheit macht die
Offenlegung wenig Sinn. Eine klare Festlegung der
Bundesregierung – so es sie nicht in Wirklichkeit schon
gibt; die Töne, die von deutschen Regierungsvertretern
in Brüssel angeschlagen werden, klingen jedenfalls ein-
deutiger als das, was uns hier in Berlin erzählt wird –
wäre dringend angezeigt. Aber leider Fehlanzeige – das
Bundesjustizministerium laviert uns gegenüber im Aus-
schuss herum und versteckt sich hinter der Aussage,
dass es in diesem Punkt auch zum Dodd-Frank-Act noch
keine Ausführungsbestimmungen gibt. Das ist zum einen
nur die halbe Wahrheit; denn die Dodd-Frank-Regelun-
gen sind in puncto Projektbezogenheit bereits recht ein-
deutig, und da der US-amerikanische Wertpapier- und
Börsenausschuss bei der Formulierung der technischen
Ausführungsbestimmungen an die Buchstaben des Geset-
zes gebunden ist, ist absehbar, dass er die Project-by-Pro-
ject-Regelung umsetzen muss. Der Interpretationsspiel-
raum ist hier nach Aussagen von Senator Cardin, einem
der Urheber von Dodd-Frank, äußerst begrenzt. Würde
also eine EU-Regelung nicht die eindeutige Projektbezo-
genheit umfassen, wäre die Industrie demnächst zwei
Standards unterworfen. Man kann sich das Chaos, das
dann entsteht, ungefähr ausmalen.

Eine Prognose über die Entscheidung der Amerika-
ner ist also nicht so schwer, wie es uns die Bundesregie-
rung glauben machen will. Aber selbst wenn wir dem
Justizministerium folgend davon ausgehen, dass es noch
der Ausführungsbestimmungen zum Dodd-Frank-Act
bedarf, kann man andererseits nur sagen: Dann gehen

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Sascha Raabe


(A) (C)



(D)(B)


Sie doch mutig voran und treffen Sie eine eigene Ent-
scheidung für eine wirksame und kraftvolle Regelung!

Die Bundesregierung scheint – zumindest in Teilen –
auf Zeit zu spielen. Sie lässt sich statt von kritischen
Nichtregierungsorganisationen lieber vom BDI beraten,
um mit dem Scheinargument, eine übermäßige Bürokra-
tie verhindern zu wollen, eine möglichst weichgespülte,
industriefreundliche Fassung der Richtlinie zu bekom-
men. Dabei hält sogar der frühere BP-Chef Lord John
Browne die Einwände seiner ehemaligen Kollegen, dass
eine Umsetzung der Richtlinien für die Unternehmen zu
kostspielig sei und möglicherweise zu Konkurrenznach-
teilen führen könnte, für abwegig. So hat er es in dieser
Woche in einem Beitrag für die „Financial Times“ ge-
schrieben. Lord Browne – und das ist bemerkenswert –
sieht insbesondere die deutsche Regierung in der
Pflicht. Als einstmals treibende Kraft hinter der Initia-
tive für Transparenz in der Rohstoffwirtschaft, EITI, und
als, wie er schreibt, „Champion der guten Regierungs-
führung“ sollte gerade Deutschland dieses Gesetz un-
terstützen. Es werden also international in dieser Frage
große Erwartungen an die Bundesregierung geknüpft.
Bisher hat sie diese Erwartungen leider enttäuscht. Und
solange sie ihre Blockadehaltung nicht ablegt, macht sie
sich zum Handlanger jener korrupten Regime und skru-
pellosen Konzerne, die die Bevölkerung gnadenlos aus-
beuten.

Rohstoffe dürfen nicht länger Fluch, sondern sie müs-
sen Segen für die ärmsten Länder sein.


Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1717539000

Es ist auf den ersten Blick schon paradox: Einige der

ressourcenreichsten Länder der Erde, zahlreiche davon
in Subsahara-Afrika, gehören zugleich auch zu den
ärmsten und am wenigsten entwickelten Ländern welt-
weit.

Ein geradezu klassisches Beispiel für dieses Phäno-
men ist Nigeria: Während in den Böden des Niger-Del-
tas Ölvorkommen von schier unvorstellbarer Größe
schlummern, gehört die nigerianische Bevölkerung zu
den ärmsten der Welt. So liegt das Land beim Human
Development Index weit abgeschlagen auf dem 156. von
187 Plätzen.

Dieses in der Fachwelt als „Ressourcenfluch“ be-
zeichnete Phänomen ist hinreichend beschrieben wor-
den. So werden wertvolle natürliche Ressourcen gerade
in den ärmsten Ländern in besonderem Maße für Bür-
gerkriege, Korruption, schlechte Regierungsführung
und bewaffnete Konflikte verantwortlich gemacht. So
wird ein Reichtum an Bodenschätzen vom Segen schnell
zum Fluch für die gesamte Bevölkerung.

Einer der Wege, wie man dieses Phänomen bekämp-
fen kann, ist, Transparenz zu schaffen. Denn Transpa-
renz ist ein Schlüsselfaktor für gute Regierungsführung
und damit auch für nachhaltige Entwicklung.

Indem Zahlungen an Regierungen, die von rohstoff-
fördernden Unternehmen in den Ländern ihrer Ge-
schäftstätigkeit geleistet werden, offengelegt werden,
wird transparent gemacht, wie viel eine Regierung aus

den natürlichen Bodenschätzen des Landes einnimmt.
Dies macht es möglich, eine Regierung gegenüber ihren
Bürgern und der Zivilgesellschaft zur Rechenschaft zu
ziehen. Es können Schlussfolgerungen gezogen werden,
ob die Höhe der Einnahmen angemessen erscheint, oder
es kann Aufklärung darüber verlangt werden, wofür die
Einnahmen verwendet wurden.

Eine international abgestimmte Regelung zur Her-
stellung von Transparenz im Bereich der Rohstoffunter-
nehmen ist somit auch im Interesse einer nachhaltigen
Entwicklungspolitik. Unser Ziel ist, Entwicklungsländer
dabei zu unterstützen, Einnahmen aus dem Rohstoffsek-
tor rohstoffreicher Entwicklungsländer gezielt für die
soziale und ökonomische Entwicklung dieser Länder zu
nutzen. Eine Offenlegung der Einnahmen aus dem Roh-
stoffsektor durch Rohstoffländer und Unternehmen trägt
zur Herstellung von Transparenz und guter Regierungs-
führung bei der Rohstoffgewinnung bei und ist ein Kern-
ziel der weiterentwickelten Rohstoffstrategie der Bun-
desregierung.

Anders als im Antrag der Grünen dargestellt, unter-
stützt die Bundesregierung aktiv die Vorschläge der EU-
Kommission und regt einen Dialog an, wie diese Vor-
schläge mit dem Ziel einer effizienten Regelung ohne
„Schlupflöcher“ erst verbessert und schließlich reali-
siert werden können. Im Zuge dessen hat die Bundesre-
gierung bereits im Vorfeld des Vorschlags verschiedene
wichtige Hürden aus dem Weg geräumt, welche die ge-
wünschte Transparenz im Rohstoffsektor gefährdet hät-
ten: So sind beispielsweise Regeln formuliert worden,
die übermäßige Bürokratie und damit zusammenhän-
gende Kosten verhindern. Ferner wurden aufgrund von
Anregungen der Bundesregierung Aspekte des Daten-
schutzes bei der Ausgestaltung des Detaillierungsgrades
der Aufschlüsselung berücksichtigt, sodass der Schutz
von Betriebsgeheimnissen gewährleistet sein wird. Ein
weiterer wichtiger Aspekt zur Verbesserung des Vor-
schlags ist die Kohärenz mit anderen Transparenzinitia-
tiven, insbesondere EITI und Dodd-Frank. Wichtig für
uns ist, dass sowohl die Belastungen der Wirtschaft und
deren Interesse am Schutz von Geschäftsgeheimnissen
ausreichend berücksichtigt werden, als auch das Ziel ei-
nes globalen Level-Playing-Field, also gleiche Voraus-
setzungen für alle Marktteilnehmer, für die betroffenen
Unternehmen beachtet wird.

Sie sehen: Um die Vorteile einer umfassenden Trans-
parenz im Rohstoffsektor zu gewährleisten, bedarf es ei-
ner genauen Betrachtung der zusammengetragenen Vor-
schläge.

Es ist schließlich festzuhalten, dass die Bemühungen
für die Gestaltung einer transparenten Rohstoffwirtschaft
insbesondere für rohstoffreiche Entwicklungsländer um-
fassende Potenziale freisetzen können. Transparenz stellt
einen Schlüsselfaktor für gute Regierungsführung dar
und eröffnet vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten für die
Zivilgesellschaft, sodass diese an der Entwicklung ihres
Landes konstruktiv teilhaben können.

Wie Sie nunmehr vernommen haben müssten, tritt die
Bundesregierung keineswegs „bremsend“ auf, wie im
Antrag voreilig formuliert wurde. Vielmehr unterstützen

Zu Protokoll gegebene Reden





Joachim Günther (Plauen)



(A) (C)



(D)(B)


wir die Vorschläge der Kommission und setzen uns dafür
ein, dass die Bemühungen für mehr Transparenz im Roh-
stoffsektor weder von Staaten noch von Unternehmen
umgangen werden können und so ihr gesamtes Potenzial
zum allseitigen Nutzen entfalten können.

Folglich sind die Forderungen im Antrag der Grünen
zwar geleitet von gutem Willen, berücksichtigen aber
wesentliche Punkte nicht und sind deshalb abzulehnen.


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717539100

„Die deutsche Großindustrie steckt ihr Terrain im

Wettrennen um die weltweite Rohstoffversorgung ab:
Zehn deutsche Großkonzerne haben sich nun offiziell zu
einer Allianz zusammengeschlossen“, stand vor zwei Ta-
gen im „Manager Magazin online“ geschrieben. Finan-
ziert werden sollen die Beteiligungen an diesem Roh-
stofffonds teils durch Eigeninvestitionen, aber auch
durch „außenwirtschaftliche Instrumente des Bundes“,
etwa Fördermittel für Industrieansiedlung in Entwick-
lungsländern. Der Zugang zu Rohstoffen ist nach Ein-
schätzung von Kanzlerin Angela Merkel eine der wich-
tigsten Voraussetzungen für weiteren Wohlstand in
Deutschland.

In diesen Tagen ist einmal mehr die Rohstoffstrategie
der Bundesregierung besiegelt worden, die vom Bundes-
verband der Deutschen Industrie – BDI – verfasst wor-
den war. In dieser im Oktober 2010 veröffentlichten
Rohstoffstrategie soll „durch die Schaffung politischer,
rechtlicher und institutioneller Rahmenbedingungen ein
Beitrag zu einer nachhaltigen, international wettbe-
werbsfähigen Rohstoffversorgung der deutschen Indus-
trie“ geleistet werden. Was hinter den Schlagwörtern
„Rohstoffsicherheit“ und „Rohstoffallianz“ steckt, ist
nichts anderes, als eine vollständige Liberalisierung des
Handels zu erwirken, um den Rohstoffhunger der deut-
schen Industrie zu stillen. Entwicklungspolitik wird im-
mer offensiver für Interessen der deutschen Unterneh-
men instrumentalisiert, wie von Entwicklungsminister
Niebel massiv propagiert. Nicht um die Entwicklung der
Länder des Südens geht es, sondern um den Profit der
deutschen Wirtschaft, denn die Rohstoffstrategie der
Bundesregierung fordert den Abbau der Exportzölle und
umfasst Drohungen gegen Länder des Südens, falls sie
bei der vollständigen Liberalisierung nicht mitmachen.

Die Gewinnung und Vermarktung von Rohstoffen ru-
fen vielfach soziale Verwerfungen hervor und sind oft
von Gewalt begleitet, sie erzeugen in den Rohstofflän-
dern Konflikt- und Kriegssituationen oder heizen solche
an, wie es in der Demokratischen Republik Kongo oder
in Nigeria seit vielen Jahren zu beobachten ist. Um Roh-
stoffe werden Kriege geführt, wie im Irak, in Afghanis-
tan oder in Libyen.

Jüngst berichtete die „NZZ“ – 17. April – davon,
dass der Rohstoffkonzern Glencore im Kongo Klein-
schürfer ausnützt, die Umwelt schädigt und Steuern ver-
meidet. In Kolumbien werden Kleinbauern vertrieben
und Gewerkschafter bedroht, die sich im Kohlentagebau
Cerrejón für ihre Rechte und den Schutz ihres Landes
einsetzen. Bei diesen und vielzähligen anderen Beispie-
len weltweit werden Menschenrechte, Umwelt-, Sozial-

und Arbeitsstandards mit Füßen getreten. Dennoch
schließt die Bundesregierung Freihandelsabkommen mit
Ländern des Südens ab. Wir fordern die Bundesregie-
rung auf, das EU-Freihandelsabkommen mit Peru und
Kolumbien nicht zu ratifizieren. Die Rohstoffstrategie
der Bundesregierung hat eine klare neokoloniale und
ausbeuterische Agenda.

Die Bundesregierung lehnt die hoffnungsvolle Initia-
tive Ecuadors ab, zum Schutz des Regenwaldes Yasuni
auf die Erschließung von Ölfeldern zu verzichten. Das
ITT-Projekt ist aber wegweisend, um die zerstörerische
Ausbeutung in den Ländern des Südens zu stoppen.

Die Grünen unterstützen in ihrem Antrag die Vor-
schläge der EU-Kommission für mehr Transparenz im
Rohstoffsektor. Den Vorschlägen zufolge sollen europäi-
sche Konzerne verpflichtet werden, ihre Zahlungen an
Regierungen von Rohstoffländern offenzulegen. Ange-
sichts der Riesensummen – so werden in Deutschland
pro Jahr Rohstoffe im Wert von circa 140 Milliarden
Euro verbraucht –, die durch das Rohstoffgeschäft um-
gesetzt werden, bemängeln sie zu Recht, dass zu wenig
Geld in die Entwicklung der Länder des Südens inves-
tiert wird. Dafür machen sie korrupte Regierungen und
Intransparenz in den Ländern verantwortlich und for-
dern mehr Kontrolle der Unternehmen und der Rohstoff-
länder. Wir halten die Forderungen nach Transparenz
für notwendig, aber bei weitem nicht ausreichend. Die
Weigerung der Bundesregierung, auf europäischer
Ebene die Transparenzregeln für jedes einzelne Roh-
stoffprojekt festzuschreiben, ist nicht zu akzeptieren.

Wir kritisieren seit langem den Druck der EU bei
sämtlichen Freihandelsabkommen, Ausfuhrzölle zu sen-
ken oder abzuschaffen, die eine wichtige Einnahme-
quelle für Rohstoffländer sind. Auch die fehlende Wert-
schöpfung in den Rohstoffländern durch massive
Konkurrenz europäischer Konzerne ist ein großes Ent-
wicklungshindernis. Bestrebungen lateinamerikanischer
Staaten, die Rohstoffindustrie zu renationalisieren, um
damit Sozialprogramme zu finanzieren, wie zum Beispiel
in Bolivien, Venezuela und jüngst Argentinien, halten
wir deshalb für einen wichtigen Beitrag zur Armutsbe-
kämpfung.

Auch können sich die Forderungen nach Transparenz
nicht nur an die Regierungen in den Ländern des Südens
richten, sondern auch an die Industrieländer. Die Ein-
flussnahme von Lobbyverbänden der Industrie auf die
europäische Handels-, Investitions- und Rohstoffpolitik
ist ein Skandal und gehört verboten. Die deutsche Bun-
desregierung und die EU-Kommission agieren in Han-
delsfragen völlig intransparent; deshalb fordern wir seit
langem die Offenlegung von Vertragsentwürfen und eine
breite Beteiligung von Zivilgesellschaft.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die jüngste Kritik des
UNO-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nah-
rung, Oliver De Schutter, der die Deutsche Bank für ihre
Geschäfte mit dem Rohstoff-Indexfonds scharf angegrif-
fen hat – „UNO-Experte greift Deutsche Bank an“,
Spiegel 24. April 2012. Die Spekulation mit Rohstoffen
sei verantwortungslos und müsse verboten werden, Nah-
rungsmittelspekulation verschärfe Hungersnöte. De

Zu Protokoll gegebene Reden





Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)


Schutter fordert die Politik zum Handeln; auf die Fi-
nanzmärkte müssen stärker direkt reguliert werden. Es
reicht nicht aus, nur die Transparenz der Märkte zu er-
höhen, auf denen Agrargüter physisch gehandelt wer-
den. Ebenso wichtig sei es, Regeln für die Finanzmärkte
zu schaffen. Die FDP-Blockade gegen eine Finanztrans-
aktionsteuer ist hier nochmals klar zu verurteilen.

Die Linke lehnt eine Rohstoffpolitik, die Kriege und
Bürgerkriege, Umweltzerstörung, Menschenrechtsver-
letzungen verursacht und vom Geist des Neokolonialis-
mus getragen ist, strikt ab. Dafür muss das Konzept der
Rohstoffpartnerschaften fallen gelassen werden. Men-
schenrechte, soziale Mindeststandards und Umwelt-
schutz dürfen nicht der Profitgier deutscher Wirtschafts-
unternehmen geopfert werden.

Wir weisen in diesem Sinne die in den 2011 vorge-
stellten verteidigungspolitischen Richtlinien formulierte
Vorstellung zurück, der Zugang der deutschen Wirt-
schaft zu Rohstoffen und ihren Vertriebswegen sei deut-
sches Sicherheitsinteresse und im Zweifelsfall militä-
risch durchzusetzen.

Wir brauchen eine grundsätzlich andere Weltwirt-
schaftspolitik, Rohstoffreichtum darf nicht mehr Armut
für die Bevölkerungen der Länder des Südens bedeuten.
Entscheidend ist, den Rohstoffverbrauch in den Indus-
triestaaten zu senken.


Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717539200

Mich regt das auf: Rohstoffabbau bedeutet viel zu

häufig: Gewalt, Menschenrechtsverletzungen, massive
ökologische Schäden, Misswirtschaft und Korruption.
Es gelingt zu selten, den Rohstoffreichtum so zu nutzen,
dass sich die Lebensverhältnisse der lokalen Bevölke-
rung verbessern. Deswegen drängen wir auf eine inter-
national gerechte, nachhaltige Rohstoffpolitik, die diese
Ungerechtigkeit beendet.

Jetzt gibt es eine große Chance, mehr Transparenz im
Rohstoffsektor zu verankern. Die EU-Kommission hat
Vorschläge vorgelegt, nach denen Rohstoffunternehmen
verpflichtet werden sollen, ihre Zahlungen im Rohstoff-
sektor offenzulegen.

Mit diesen Vorschlägen geht die Kommission einen
richtigen und wichtigen, einen dringend notwendigen
Schritt. Wir wissen: Transparenz ist eine entscheidende
Voraussetzung für den Zugang zu Informationen und für
Korruptionsbekämpfung im Rohstoffsektor. Mit den
Kommissionvorschlägen steht das Fenster dafür offen.

Die Beratung der Kommissionvorlagen läuft – Euro-
päisches Parlament und Europäischer Rat setzen sich in
diesen Wochen damit auseinander. Und was hören wir
von der Bundesregierung? Sie opponiert, wo sie nur
kann. Aus Brüssel erfahren wir, dass Schwarz-Gelb auf
die Bremse tritt, um die EU-Vorschläge zu verwässern.
Die Bundesregierung ist gegen eine Offenlegung der
Zahlungen auf Projektbasis. Die Bundesregierung ist
gegen eine Offenlegung von Zahlungen an EU-Mitglied-
staaten. Ich könnte diese Liste fortführen.

Auch der Ende März vorgestellte Berichtsentwurf des
zuständigen Berichterstatters im EP, Klaus-Heiner
Lehne, Mitglied der EVP und damit Ihr Kollege, meine
sehr verehrten Damen und Herren aus der Unionsfrak-
tion, geht deutlich weiter als das, was die Bundesregie-
rung für vertretbar hält. So spricht sich der Lehne-Be-
richt etwa für eine Offenlegung auf Projektebene aus.
Ich kann in keinster Weise nachvollziehen, wie die Bun-
desregierung ihre ablehnende Haltung rechtfertigt. Wir
wissen doch alle, dass nur eine umfassende Veröffentli-
chung der Zahlungen auf Länder- und Projektebene es
Parlamentarierinnen und Parlamentariern, der Zivilge-
sellschaft und den Bürgerinnen und Bürgern rohstoffrei-
cher Länder ermöglicht, ihre Regierungen zu kontrollie-
ren und eine angemessene Beteiligung an den Ein-
nahmen einzufordern. Ich sage zugespitzt auch: Das Ziel
muss sein, den Kleptokraten das Handwerk zu legen.

Mit den EU-Vorlagen wird es konkret. Jetzt zeigt sich,
wer sich einsetzt für entwicklungsfördernde Maßnah-
men. Obwohl die Bundesregierung nicht müde wird, zu
betonen, dass auch für sie Transparenz im Rohstoffsek-
tor ein wichtiges Anliegen sei, wurde unser Antrag

(Drucksache 17/8354), in dem wir die EU-Vorschläge

unterstützen, in den Ausschüssen von Schwarz-Gelb ab-
gelehnt. Ich fordere substanzielle Politik statt Lippenbe-
kenntnisse!

Die ewigen Argumente der Bundesregierung gegen
umfassende Offenlegung, wie sie uns im Ausschuss vor-
getragen wurden – zuletzt gestern –, sind Wettbewerbs-
nachteile und Kosten für die Rohstoffunternehmen. Wir
wissen, dass diese Argumente nicht greifen. Die Daten
werden sowieso erhoben, sind in der Branche bekannt,
und die Veröffentlichung bezöge sich auf Zahlen der Ver-
gangenheit, also nach Abschluss des Börsenjahres. Das
heißt: weder Auswirkungen auf die Kostenstruktur noch
auf den Wettbewerb. Wenn selbst der ehemalige BP-Chef
Lord Browne Deutschland öffentlich dazu aufruft, eine
konstruktivere Haltung bei der Korruptionsbekämpfung
im Rohstoffsektor einzunehmen, wie gestern geschehen,
dann frage ich mich schon: Wessen Interessen meinen
Sie zu vertreten?

Mit unserem Antrag „Transparenz im Rohstoffsektor –

(Drucksache 17/8354)

mission und fordern die Bundesregierung auf, ihre Blo-
ckadehaltung aufzugeben und sich in Brüssel für einen
umfassenden Ansatz bei der Offenlegung stark zu ma-
chen. Denn freiwillige Maßnahmen reichen nicht aus.
Wir Grüne fordern verbindliche Maßnahmen für eine
entwicklungsförderliche und faire internationale Roh-
stoffpolitik.

Noch ist es nicht zu spät. Die Beratungen in Brüssel
laufen. Ich möchte die Bundesregierung eindringlich
dazu auffordern, die EU-Vorschläge nicht zu blockieren
und sich für eine umfassende Offenlegung einzusetzen.
Wir stehen vor der einmaligen Chance, jetzt Pflöcke ein-
zuschlagen für mehr Transparenz im Rohstoffsektor.
Diese Chance müssen wir nutzen.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717539300

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/8914, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/8354 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung
der Linken angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-
Schröter, Sabine Stüber, Ralph Lenkert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Umfassendes Elbekonzept erstellen

– Drucksache 17/9160 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Ulrich Petzold, Waltraud
Wolff, Horst Meierhofer, Sabine Stüber, Stephan Kühn.


Ulrich Petzold (CDU):
Rede ID: ID1717539400

„Die Elbe ist eine internationale Wasserstraße und

soll es auch bleiben.“ Dieser Satz des Antrags lässt auf
mehr Realitätssinn hoffen als in den vielen vorhergehen-
den Anträgen zur Elbe, mit denen wir uns bislang be-
schäftigen mussten.

Wenn ich dann jedoch den ersten Satz der Begrün-
dung lese, muss ich an die alte Weisheit denken: Die
hinterhältigste Lüge ist die Auslassung.

Der Antrag zitiert in diesem ersten Satz der Begrün-
dung die Überschrift des zweiten Anstrichs einer Aus-
arbeitung des Umweltbundesamtes mit dem Titel „Die
Elbe: Schifffahrt und Ökologie im Einklang?“ mit
folgenden Worten: „Der ökologische Zustand der deut-
schen Binnenelbe ist in weiten Teilen ‚unbefriedigend‘“.
Diese Überschrift geht jedoch weiter, und hier erlaube
ich mir auch deshalb weiter zu zitieren: „Er ist damit
besser als der aller anderen großen Bundeswasserstra-
ßen, aber bei weitem noch nicht gut genug.“

Wenn man zitiert, sollte man also vollständig zitieren:
„Der ökologische Zustand der deutschen Binnenelbe ist
in weiten Teilen ‚unbefriedigend‘. Er ist damit besser als
der aller anderen großen Bundeswasserstraßen, aber
bei weitem noch nicht gut genug.“

Wer jedoch unbefangen den Antrag der Linken an
dieser Stelle liest, muss zu der Annahme kommen, die
Situation an der Elbe sei eine einzige Katastrophe, denn
„unbefriedigend“ heißt im Volksmund die Note 5 und
damit nicht bestanden.

Genau das stimmt aber nicht. In den Ausführungen
zur Erläuterung des zitierten Anstrichs heißt es: „Der

ökologische Zustand der Binnenelbe ist mäßig bis unbe-
friedigend. Dies entspricht den Stufen 3 und 4 der fünf-
stufigen EG-Klassifikation …“ Das ist wahrlich kein
Grund, sich auf den unzweifelhaften Erfolgen auszu-
ruhen, aber es ist eben beileibe keine Katastrophe, wie
uns der Antrag weismachen will, sondern ein ökologisch
qualitativer Zustand, wie er an keinem anderen Fluss in
Deutschland erreicht wird, der schifffahrtlich genutzt
wird.

Fazit: Der vorliegende Antrag operiert mit Halb-
wahrheiten, die dann den gesamten Antrag diskreditie-
ren.

Der Philosoph Arthur Schnitzler sagt dazu: „Eine so-
genannte Halbwahrheit, sie mag sich aufspielen, wie sie
will, wird niemals eine ganze Wahrheit werden. Ja, wenn
wir ihr nur scharf genug ins Auge sehen, so ist sie immer
eine ganze Lüge gewesen.“

Trotzdem will ich mich bemühen, mich objektiv mit
dem Antrag auseinanderzusetzen und die Forderung
nach einem Elbekonzept zu untersuchen. Deshalb die
erste Frage: Ist die Forderung nach einem umfassenden
Elbekonzept neu?

Wer bei Google in die Suchmaske „Elbekonzept“ ein-
gibt, bekommt sofort 183 Einträge dazu angezeigt. Dies
sind Ausarbeitungen mit sehr unterschiedlichem Niveau.
Als Beispiel sei hier das „Konzept für eine nachhaltige
Entwicklung der Region Elbtalaue“ des Instituts für
ökologische Wirtschaftsförderung Wuppertal genannt,
das bereits aus dem Jahr 1995 stammt. Aber auch Kon-
zepte mit ganz gegenläufigen Aussagen finden sich dort.

Wenn ich in einem früheren Redebeitrag darüber be-
richtet habe, dass für das Ministerium für Landesent-
wicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt
69 Elbe-Studien evaluiert worden sind, so muss man da-
von ausgehen, dass so gut wie jede dieser 69 Studien in
ein Konzept eingeflossen ist. Dabei gehört das Konzept
des Wuppertaler Instituts mit seinen 264 Seiten bestimmt
zu den umfangreicheren Konzepten mit sehr weitrei-
chenden Handlungsempfehlungen.

Die Forderung nach einem Elbekonzept ist also bei-
leibe nicht neu, sodass ein Neuigkeitswert des Antrags
nicht gegeben ist.

Warum dann also der Antrag jetzt und in dieser
Form?

Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung und das Bundesministerium für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit sind im vorigen Jahr
übereingekommen, in Absprache mit den Elbanlieger-
ländern ein gemeinsam abgestimmtes Konzept für die
Elbe zu entwickeln. Denn leider war in den vergangenen
Legislaturperioden immer wieder zu beobachten, dass
bei Einzelmaßnahmen unterschiedliche Zielvorstellun-
gen existierten, die dann in der Folge mühevoll mitei-
nander abgestimmt werden mussten. Forderungen des
Umweltministeriums überforderten das Verkehrsminis-
terium und umgekehrt, da die Ansätze und Zielrichtun-
gen verschiedene waren. Dazu kam, dass die unter-
schiedlichen Bundesländer ebenfalls mit unterschied-





Ulrich Petzold


(A) (C)



(D)(B)


lichen Konzepten an die Nutzung der Elbe herangingen.
Während Sachsen-Anhalt sehr viel Wert auf die Schiff-
barkeit der Elbe für den Güterschiffsverkehr legte, war
das in Dresden nicht die große Herzensangelegenheit.
Während Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Nieder-
sachsen das Biosphärenreservat Elbe vorantrieben, war
Sachsen dabei eher zurückhaltend. Dieses zu überwin-
den, war also bereits im vorigen Jahr das Anliegen der
Bundesregierung. Demzufolge finden seitdem zielfüh-
rende Gespräche zwischen den Ministerien des Bundes
und der Länder statt, wie zum Beispiel in der vorigen
Woche und am 4. Juli wieder. Dieses Bemühen scheint
sich bis zur Fraktion der Linken herumgesprochen zu
haben, die nun scheinbar auf den fahrenden Zug auf-
springen wollen.

Die Gespräche zu einem Elbekonzept sind bisher
durchaus zufriedenstellend gediehen und zeigen mit ers-
ten Eckpunkten gute Ergebnisse. So hat man sich als
Beispiel darauf geeinigt: die Unterhaltungsgrundsätze
zur Wiederherstellung des Status quo ante 2002 in enger
Abstimmung mit den zuständigen Landesbehörden um-
zusetzen und weiterzuentwickeln; die sich im Rahmen
der wasserwirtschaftlichen Unterhaltung ergebenden
Möglichkeiten zu ökologischen, ökonomischen und ver-
kehrlichen Verbesserungen zu nutzen; ein aktualisiertes
Stromregelungskonzept für die Bundeswasserstraße
Elbe zu erarbeiten.

Es wurde zu einem hydromorphologischen Maßnah-
menkatalog Einigung erzielt, der sich mit den Fragen zu
einem Sohlenstabilisierungskonzept, einem Konzept zur
Durchgängigkeit im Elbeeinzugsgebiet, dem Hoch-
wasserschutz und auch dem Naturschutz unter Betrach-
tung auch der Auenentwicklung befasst.

Es wird anerkannt, dass die Verantwortlichkeit des
Bundes für ökologische und wasserwirtschaftliche
Belange künftig über eine Berücksichtigung bei der Er-
füllung seiner verkehrlichen Aufgaben hinausgeht.

Aus diesen Eckpunkten wird bis zum Herbst eine fun-
dierte Diskussionsgrundlage erarbeitet, die nach der
Planung dann auch in der Öffentlichkeit breit diskutiert
werden soll. Der Nachteil aller bisherigen Elbekonzepte
war, dass sie entweder gar nicht öffentlich oder aber nur
mit einer kleinen Gruppe diskutiert wurden, möglichst
noch begrenzt auf Gleichgesinnte, wie man an den
Expertenlisten unschwer erkennen konnte. Ich finde es
sehr gut und mutig, dass diese Bundesregierung nicht
wieder den Weg der Wunschexperten geht.

Sie sehen also, dass der Grundgedanke des Antrags
sich längst in der Realisierung befindet und somit keine
Neuheit darstellt. Lassen Sie mich deshalb einzelne
Gedanken des Antrags aufgreifen und auf ihren für ein
Elbekonzept verwertbaren Inhalt untersuchen:

Da fallen dem Leser Sätze auf wie: „Eine möglichst
natürliche Entwicklung ist für die Elbe und ihre Neben-
flüsse zu gewährleisten.“ Wer kann einen solchen Satz
ablehnen? Doch höchstens die, die unsere Flüsse kana-
lisieren wollen – und wer will das schon? Was heißt
überhaupt: „möglichst natürliche Entwicklung“? Wer

sich diesen Satz genau überlegt, wird zu dem Schluss
kommen: Lyrik ohne Aussage.

Viel spannender ist da der nächste Satz: „Das bedeu-
tet auch, einen Elbe-Saale-Kanal darf es nicht geben.“.
Es ist schon verwunderlich, wenn im gleichen Antrag
der Ausbau und die Nutzung des Elbe-Seitenkanals ge-
fordert werden und gleichzeitig ein Saale-Seitenkanal
aus Naturschutzgründen verboten werden soll.

Ist mit einer solchen Vorfestlegung einem Elbekon-
zept wirklich gedient?

Wenn wir ein Elbekonzept entwerfen wollen, sollte es
nicht bereits Vorfestlegungen von Ergebnissen geben.
Die Bundesregierung macht genau dieses mit ihrem
Elbekonzept nicht. Wenn die Linke in ihren Antrag ge-
schrieben hätte: „Wir lehnen den Saale-Seitenkanal
ab“, wäre das durchaus nachvollziehbar gewesen und
steht als Meinungsäußerung jeder Partei zu. Mit der
Festlegung: „darf es nicht geben“, enthüllt die Linke
ihre Herkunft, indem sie in die alte SED-Rhetorik zu-
rückfällt.

Wenn dann im Antrag geschrieben wird: „Flusspoli-
tik auf Kosten der Ökologie darf es nicht geben“, reibt
man sich schon verwundert die Augen über diese weise
und späte Einsicht der Linken. Denn nicht nur für mich
stellt sich die Frage: Wann ist denn an der Elbe zuletzt
auf Kosten der Ökologie Missbrauch getrieben worden,
und das über Jahrzehnte?

Denn erst seit wenigen Jahren wird jährlich der Elbe-
badetag festlich begangen. Ich kann mich noch gut erin-
nern, dass wir als Kinder in der Elbe gebadet haben,
aber spätestens seit 1960 war das nicht mehr möglich –
die Elbe war zu verschmutzt. Sie wurde von der DDR im-
mer mehr als billiger Abwasserkanal missbraucht. Es
freut mich ja, wenn die Linke sich heute von dieser
ökologisch katastrophalen Politik des real existierenden
Sozialismus distanziert, aber die Verantwortung als da-
malige Regierungspartei hat sie dafür nie übernommen.
Damit erinnert mich die Forderung des Antrags nach ei-
ner ökologischen Flusspolitik schon an das Motto „Hal-
tet den Dieb!“.

So stammen die PCB- und HCH-belasteten Sedi-
mente, deren Beobachtung und Beseitigung der Antrag
fordert, nicht aus irgendeiner grauen Vorzeit, sondern in
erster Linie von der DDR-Chemie und von ungeklärten
Haus- und Gewerbeabwässern des DDR-Sozialismus.
Dass dieses Problem angegangen werden muss, war der
Bundesrepublik schon vor dem Zusammenbruch der
DDR klar. Deswegen bekamen solche Städte und
Chemiestandorte wie meine Heimatstadt Wittenberg
schon 1988 das Angebot der Finanzierung eines Klär-
werks durch die Bundesrepublik, was dann auch ab
1990 realisiert wurde.

Grotesk wird es, wenn der Antrag fordert, dass, wenn
keine Verursacher der chemischen Verschmutzung fest-
zustellen sind, die Allgemeinheit für die Kosten der Er-
fassung und Beseitigung der Belastungen aufzukommen
hat. Seien Sie ehrlich: Wir, aber auch Sie, kennen die
Verursacher.

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulrich Petzold


(A) (C)



(D)(B)


Die Länder der Bundesrepublik – und hier kann ich
für das Land Sachsen-Anhalt sprechen – haben sich in
hervorragender Weise in die Beseitigung dieser Hinter-
lassenschaften eingebracht, indem dort seit circa zwei
Jahren ein Schadstofferfassungs- und -minderungskon-
zept läuft:

In der sehr schwierigen Situation, dass durch die vie-
len Hochwasserereignisse seit der Entstehung der
Schadstoffbelastung sich Hotspots der belasteten Sedi-
mente in den Flussauen gebildet haben, nehmen die
Landesbetriebe für Altlasten nicht nur die Schäden auf,
sondern sind aktiv bei der Entwicklung von Beseiti-
gungsstrategien wie zum Beispiel auf den Elb- und
Muldewiesen um Dessau. Dabei soll nicht nur die Auf-
nahme der Belastung durch Nutzvieh verhindert werden,
sondern die Belastung allgemein zurückgeführt werden.
Beim Nutzvieh fördert darüber hinaus das Landesamt
für Umweltschutz, LAU, des Landes Sachsen-Anhalt die
Eigenprüfung der Viehbestände und ergänzt dieses
durch Stichprobenkontrollen. Es ist erfreulich, dass sich
Auffälligkeiten dabei in ganz engen Grenzen halten.
Jedoch stimmt es mich nachdenklich, dass selbst bei
Biobetrieben Auffälligkeiten festgestellt wurden, die
nachweisen, dass nicht in jedem Fall sorgfältig genug
mit der Nutzung von Futter von den Flussauenwiesen
umgegangen wird.

Dass die Kontrolle und Aufsicht in diesem Fall ent-
sprechend unseres Föderalismusprinzips bei den Län-
dern liegt, ist nicht nur in der Tradition begründet. Nur
die Länder haben fachlich qualifizierte Aufsichtsbehör-
den und sind mit ihren Verwaltungen näher am Problem.

Auf der anderen Seite ist es richtig und wichtig, dass
der Bund die Kosten für die Flussbaumaßnahmen über-
nimmt, wie zum Beispiel im Rahmen der Sohlenstabili-
sierung. Die qualifizierten Behörden, wie die Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung, sind nun einmal beim Bund
angesiedelt. Aber es wird nicht gegeneinander, sondern
konstruktiv miteinander gearbeitet. Gemeinsam wurde
von Bund, Ländern, Biosphärenreservatsverwaltung
und Umweltverbänden ein Sohlenstabilisierungskonzept
erarbeitet, was letztendlich einhellige Zustimmung er-
fahren hat. Einer weiteren Fahrrinnenvertiefung, wie im
Antrag befürchtet, wird damit Einhalt geboten. Die
Abstimmung gerade auch mit den Umweltverbänden
sichert eine breite Unterstützung, der sich auch die
Antragssteller nicht entziehen sollten.

Aber nicht nur an dieser Stelle gehen WSV und die
Umweltverbände aufeinander zu. Ein schönes Beispiel
ist auch die ökologisch optimierte Buhne als Knick- und
Flutmuldenbuhnen oder auch als Totholzbuhnen. Hier
muss nicht erst, wie im Antrag gefordert, etwas entwi-
ckelt werden, sondern hier ist bereits etwas vorhanden,
womit die WSV Ost für alle anderen Schifffahrtsverwal-
tungen ein Vorbild ist. Und jetzt einmal ganz vorsichtig –
sind die Natursteine der Pflasterungen oder Schüttun-
gen keine natürlichen Materialien? Wenn Sie also im
Antrag fordern, dass als Baumaterialien für Flussbau-
werke nur natürliche Materialien verwendet werden sol-
len, dann ist die Redensart von der „Steinigung unserer
Flüsse“ kaum aufrechtzuerhalten.

Einen interessanten Gedanken bringt der Antrag mit
seinen Ausführungen zur Nutzung mobiler Kleinstwas-
serkraftwerke ein. Inwieweit das jedoch an der Elbe
nutzbar ist, steht sehr infrage. So schlägt das Unterneh-
men selbst in der Elbe nur einen Standort stromaufwärts
von Dresden vor, da hier die Strömungsbedingungen
durch die Felseinengungen die geforderten Parameter
erreichen. Da eine solche Anlage eine Wassertiefe von
mindestens 2 Metern benötigt, ist die Zahl der nutzbaren
Stellen in der Elbe bei der angestrebten Fahrrinnentiefe
von 1,6 Metern an 340 Tagen im Jahr wohl eher ein
Hinderungsgrund. So kritisch, wie die Naturschutz-
verbände jedoch allgemein Laufwasserkraftwerken
gegenüberstehen, befürchte ich, auch hier auf einen
vehementen Widerstand zu stoßen, und bezweifle, dass
selbst auch nur eine Erprobung akzeptiert würde. Als
schnellstfließender Fluss Mitteleuropas scheint mir da-
her die Mulde für die Erprobung dieser Technologie
eher geeignet zu sein.

Positiv bewerten möchte ich auch die grundsätzliche
Zustimmung des Antrags zu einer flussverträglichen
Schifffahrt. Recht gut den Gegebenheiten der Elbe an-
gepasst, verkehren bereits jetzt in merklicher Zahl
Schubverbände insbesondere aus der Tschechischen Re-
publik. Das seit 2000 existierende Konzept für ein flach-
gehendes Elbschiff wurde leider nie umgesetzt, aber mit
Albatros haben wir seit mehreren Jahren einen Linien-
verkehr auf der Elbe, der die Bahn integriert. Wir müs-
sen jedoch feststellen, dass die Kapazität der Bahntrans-
porte nach Hamburg durch den Schienenengpass um
Hamburg so gut wie ausgereizt ist und Schienenlärm
insbesondere im Elbtal nördlich von Dresden ein Pro-
blem darstellt. Ein weiterer ökologisch angepasster
Transport in den Hamburger Hafen ist nur mit dem
Binnenschiff ausbaubar. Unverständlich ist dabei, dass
durch die Hafenverwaltung das Binnenschiff systema-
tisch wirtschaftlich benachteiligt wird. Solange der
Umschlag eines Containers vom Binnenschiff zum
Hochseeschiff mehr als doppelt so teuer ist wie der
Umschlag von allen anderen Verkehrsträgern, ist kein
fairer Wettbewerb möglich. Wenn wir jetzt als Bund den
Hamburger Hafen wieder mit sehr viel Steuermitteln un-
terstützen sollen, muss diese ökologische Fehlsteuerung
beseitigt werden.

Zusammenfassend kann ich für meine Fraktion nur
feststellen, dass ich mich freue, dass sich auch die Linke
in die Erarbeitung eines umfassenden Elbekonzepts kon-
struktiv einbringen will. Allerdings ist hierfür schon vie-
les geschehen, was uns dieser Antrag als Neues verkau-
fen will, aber wir werden natürlich den Antrag gern im
Ausschuss weiter beraten.


Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1717539500

Die Elbe ist durch menschliche Eingriffe geprägt, und

sie fließt durch eine menschlich geprägte Kulturland-
schaft. Sie ist deutlich verkürzt worden, durch Buhnen
und Deiche ist ihr Lauf befestigt worden, ihre Fließge-
schwindigkeit hat sich im Laufe der Schiffbarmachung
erhöht. Damit einhergegangen ist eine Veränderung der
Landschaft und der Lebensräume entlang der Elbe.

Zu Protokoll gegebene Reden





Waltraud Wolff (Wolmirstedt)



(A) (C)



(D)(B)


Das Flussprofil wurde enger. Das bedeutet: Ufer wur-
den steiler, weniger Fläche wird bei Hochwasser über-
schwemmt, Nebenarme, Kiesbänke und Inseln ver-
schwanden. Kurz: Lebensräume haben sich verändert.

Trotz der starken Veränderungen für die Schifffahrt
hat sie in weiten Strecken immer noch den Charakter ei-
nes frei fließenden Flusses. Die Elbe besitzt immer noch
einen großen ökologischen Wert. Der Elbebiber hat hier
sein Hauptverbreitungsgebiet, die größten zusammen-
hängenden Auenwälder Mitteleuropas befinden sich ent-
lang der Elbe. Gerade diese Auenwälder sind wichtiger
Lebensraum, sie sind geprägt durch eine hohe Artenviel-
falt. Die Elbe ist trotz der starken Veränderungen ein le-
bendiger Fluss geblieben.

Die Europäische Wasserrahmenrichtlinie schreibt ei-
nen guten ökologischen Zustand mit weitgehender Wie-
derherstellung natürlicher Prozesse für das gesamte
Einzugsgebiet der Elbe vor. Im Fokus des Regelwerks
stehen die integrierte Betrachtung der Fließgewässer
mitsamt ihren Auen und angrenzenden Feuchtgebieten
sowie ihren verbundenen Grundwasserleitern. Verstärkt
wird dieser Entwicklungsanspruch durch das Natura-
2000-System der EU. Viele Flüsse sind Bestandteile von
Schutzgebieten nach der Flora-Fauna-Habitat-Richtli-
nie und der Vogelschutzrichtlinie.

Gerade im Bereich des vorsorgenden Hochwasser-
schutzes können auch Maßnahmen zum Einsatz kom-
men, die Änderungen der Nutzungen in Überschwem-
mungsgebieten mit sich bringen können, etwa bei
Maßnahmen zur Reduzierung der Flächenversiegelung,
bei der Rückverlegung von Deichen oder Maßnahmen,
die zu Beschränkungen landwirtschaftlicher Tätigkeiten
und in der Siedlungsentwicklung führen können. Dem
gegenüber stehen große Vorteile für die Menschen wie
der Schutz materieller Werte und damit verbunden der
dauerhafte Schutz von Arbeitsplätzen und Wohngebie-
ten, die Verminderung finanzieller Schäden durch Hoch-
wasser, die größere Rechtssicherheit beim Erwerb von
Grundstücken und beim Versicherungsabschluss sowie
der Zugewinn an Lebensqualität durch die Erhaltung
und Schaffung naturnaher Gebiete für Erholung und
Naturerlebnis für heutige und für kommende Generatio-
nen.

Der Schutz der Elbe als Naturraum und ihre wirt-
schaftliche Nutzung als Bundeswasserstraße schließen
sich nicht aus. Flüsse haben eine wichtige Bedeutung für
energiesparenden und umweltverträglichen Gütertrans-
port durch die Binnenschifffahrt. Auch die Elbe ist eine
Wasserstraße. Sie hat im Vergleich der Jahrestonnagen
– soweit die Tonnage als Indikator geeignet ist – anderer
Bundeswasserstraßen nur eine untergeordnete Bedeu-
tung. Sie hat jedoch relevantes Potenzial als Verkehrs-
achse mit unmittelbarer Anbindung an die Hochseehä-
fen. Schwer- und Projekttransporte sind weder über die
Straße noch über die Schiene abzuwickeln. Das Poten-
zial der Schiene begrenzt sich durch bestehende Eng-
pässe in den Knoten und Trassen; sie ist allein nicht in
der Lage, die Transporte der Zukunft aufzunehmen.
Hinzu kommt das Problem der Lärmbelastung entlang
der Gütertrassen.

Auf der Elbe sollen weiterhin an den Fluss ange-
passte Schiffe fahren. Das steht für mich außer Frage.
Außer Frage steht aber auch, dass der ökologische Zu-
stand der Flusslandschaft Elbe dabei den Rahmen setzt.
Notwendig ist ein Elbekonzept, das den unterschiedli-
chen Funktionen der Elbe Rechnung trägt. Sie ist eine
Wasserstraße, sie ist Lebensraum für viele Arten, sie ist
Erholungsraum. Notwendig ist ein gemeinsames Elbe-
konzept von Bund und Ländern, das mit einer echten Be-
teiligung von Bürgern und Verbänden entwickelt wird.
So können von Anfang an alle Interessen in die Konzepte
mit einbezogen werden.


Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1717539600

In meiner Funktion als Vorsitzender der parlamentari-

schen Gruppe „Frei fließende Flüsse“ habe ich große
Sympathie für den Schutz von Flüssen und Auen. Auch die
Koalition aus Union und FDP hat sich im Koalitionsver-
trag klar zur Verbesserung der Ökologie und Durchgän-
gigkeit der Flüsse bekannt.

Beim Lesen Ihres Antrags entsteht der Eindruck, dass
die Koalition eine Flusspolitik auf Kosten der Ökologie
betreibt und anstrebt. Das ist sachlich falsch. Ich kann
nur empfehlen, sich anhand der von Umwelt- und Ver-
kehrsministerium beschlossenen Eckpunkte des Gesamt-
konzepts Elbe ein Bild über die Schwerpunkte der ge-
planten Maßnahmen zu machen. Das Konzept betrachtet
dabei neben den erforderlichen Maßnahmen zur Auf-
rechterhaltung der schifffahrtlichen Nutzung gleichran-
gig die Anforderungen an den Gewässer-, Auen- und
Naturschutz. Hierzu gehören auch die zu erwartenden
Auswirkungen des Klimawandels auf die Elbe.

Aufrechterhaltung der schifffahrtlichen Nutzung
meint dabei gerade nicht die Durchführung eines ver-
kehrsbedingten Ausbaus oder ähnlicher Schwerstein-
griffe in den Fluss, wie sie noch in den vergangenen
Jahrzehnten erfolgt sind. Vielmehr sind Sohlstabilisie-
rungskonzepte oder ähnliche Maßnahmen erforderlich,
die nicht nur Vorteile für die Umwelt, sondern auch für
den Verkehr mit sich bringen. Schließlich ist das Binnen-
schiff als solches auch eines der umweltfreundlichsten
Transportmittel. Darum sollte man nicht nur Schlauch-
und Luftkissenboote im Blick haben, wenn es um die Be-
lange der Elbe geht. Das Elbehochwasser von 2002 hat
auch den Schiffsverkehr erschwert, sodass nicht nur die
ökologischen Schäden, sondern ebenso die dadurch be-
dingten Verkehrsprobleme umweltverträglicher Lösun-
gen harren.

Insofern ist die von der Koalition ergriffene Initiative
zur Erstellung eines Gesamtkonzepts zur Elbe seit lan-
gem überfällig und im Interesse aller Beteiligten. Man
muss sich aber auch darüber klar werden, dass die
Ziele, die wir im Gesamtkonzept verfolgen, nicht von ei-
nem auf den anderen Tag erreicht werden können.
Durchgängigkeit, Auenschutz, Naturschutz, Sohlstabili-
sierung und die Nutzung der Unterhaltungsmöglichkei-
ten zur Verbesserung der ökonomischen, ökologischen
und verkehrlichen Belange sind große Aufgaben. Die
dafür erforderliche Koordinierung zwischen Bundes-
und Landesbehörden und anderen Beteiligten ist an-

Zu Protokoll gegebene Reden





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


spruchsvoll genug. Insofern geht mir Ihr Ansatz, in diese
Koordinierung gleichzeitig die Nachbarstaaten einzu-
binden, zu weit. Wenn man sich die tschechischen Pläne
mit der von der FDP abgelehnten Staustufe in Decin be-
trachtet, wird klar, dass zwischen Deutschland und
Tschechien große Differenzen über die Prioritäten in der
Flusspolitik bestehen. Wenn man diese Differenzen dem
Gesamtkonzept aufbürdet, verlangsamt man das eigene
Vorankommen oder hält schlimmstenfalls den Prozess
ganz auf. Ich halte deshalb den Vorschlag der Linken an
dieser Stelle nicht für sachgerecht.

Auch an einigen anderen Stellen wirft der Antrag
mehr Fragen auf als er tatsächlich löst. Ihr Vorschlag
zur Einrichtung eines Fonds zur Analyse der Dioxinbe-
lastung tierischer Produkte, die auf flussnahen Flächen
produziert werden, halte ich zwar für eine nette Idee. Ich
sehe aber bei dieser Frage keine Verantwortlichkeit des
Bundes, sondern eine der Länder. Auch zur Finanzie-
rungsstruktur, zum Umfang, zur Organisationsform und
zu weiteren Fragen beziehen Sie keine Stellung.

Des Weiteren halte ich auch die von Ihnen ange-
strebte Förderung von flussangepassten Schiffstypen
nicht für die Aufgabe der Politik. Diese im Interesse der
Branche stehende Fortentwicklung ist zwar sinnvoll und
richtig, aber verdient dennoch keine staatliche Förde-
rung. Solide Haushaltspolitik kann man nicht verfolgen,
wenn man immer wieder versucht, jede erdenkliche
Branche mit Subventionen aufzupäppeln. Aus welchem
Grund die Schifffahrt das nicht selbst leisten soll, er-
schließt sich mir nicht. Wir wollen gerade nicht mit ge-
öffnetem Füllhorn das Geld verschleudern, bis die uns
allen bekannten Haushaltslöcher zu saarländischen
oder berlinerischen Verhältnissen führen, wo marode
Verwaltungen nicht einmal mehr Mittel für die notwen-
digsten staatlichen Aufgaben haben.

Es freut mich, dass Sie es als gutes Zeichen anerken-
nen, dass in unserem Gesamtkonzept die Elbe ab Lauen-
burg nicht weiter ausgebaut werden soll. Dass Sie den-
noch jegliche Flussbettvertiefung auch im Bereich des
Hamburger Hafens ablehnen, halten wir für nicht sach-
gerecht. Es handelt sich hier um einen globalen Wirt-
schafts- und Verkehrsknotenpunkt, wo zwar jede Aus-
baumaßnahme genauestens abgewogen werden muss,
Absolutheitsansprüche jedoch fehl am Platz sind.

Insgesamt sind wir mit dem Gesamtkonzept auf einem
sehr guten Weg. Ihr Antrag hat helle Momente, teilt die
Welt dennoch in Gut und Böse ein und wird den Realitä-
ten dabei nicht immer gerecht. Deshalb können wir dem
Antrag nicht zustimmen.


Sabine Stüber (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717539700

Sie erinnern sich noch an das große Elbehochwasser

im Sommer 2002? Dresden – die Altstadt stand unter
Wasser, die Semperoper war überschwemmt. Oder
Grimma – ganze Häuser wurden vom Wasser wegge-
spült. Seitdem ist klar, dass hier die Politik gefragt ist.
Ein Flusskonzept für die Elbe, davon war schon 2005
die Rede.

Das alles ist jetzt Jahre her, und wir haben immer
noch kein Konzept für die Elbe. Im Sommer 2011 hat die
Bundesregierung zumindest ein Eckpunktepapier vorge-
legt. Sie will so den veränderten Bedingungen Rechnung
tragen, seien es die Auswirkungen des Klimawandels
oder rechtliche Vorgaben der Europäischen Union zum
Gewässerschutz. Dazu muss die Elbe von der Quelle bis
zur Mündung und mit all ihren Nebenflüssen betrachtet
werden. Das bedeutet in der Konsequenz, die Elbe nicht
weiter auszubauen, sondern naturnah zu entwickeln.
Nur so kann ein guter ökologischer Zustand des Flusses
erreicht werden. Dazu verpflichtet uns auch die europäi-
sche Wasserrahmenrichtlinie. Doch ich denke, unsere
eigene Verantwortung für die Umwelt und den Natur-
reichtum unserer Landschaften ist uns genauso Ver-
pflichtung.

Trotz ständiger Eingriffe ist die Elbe heute noch über
weite Strecken einer der wenigen naturnahen Flüsse in
Deutschland und prägt die Kulturlandschaft in ihrem
Einzugsbereich.

Auch wenn es noch kein Gesamtkonzept für die Elbe
gibt, ist die gesellschaftliche Debatte zu den verschiede-
nen Nutzungsansprüchen längst in vollem Gang. Zum
Beispiel verändert sich seit einigen Jahren der Schiffs-
verkehr auf der Elbe. Das gesamte Transportaufkommen
ist gesunken und nimmt weiterhin ab. Dafür sind nun
mehr und mehr Schwer- und Sondertransporte auf dem
Fluss unterwegs, und auch der Wassertourismus wächst
und gewinnt zunehmend an wirtschaftlicher Bedeutung.

Ob ein guter ökologischer Gewässerzustand, ein effi-
zienter Hochwasserschutz oder ein attraktiver Wasser-
tourismus, all das ist nur mit einer naturnahen Elbe zu
erreichen. Das strategische Ziel muss daher sein: die
Entwicklung der Elbe als freifließender Fluss in seinem
Einzugsgebiet und mit seinen Nebenflüssen und angren-
zenden Lebensräumen. So kann auch der Artenreichtum
der Elbauen erhalten werden und sich weiterentwickeln.
Alles andere ist langfristig weder ökologisch noch wirt-
schaftlich sinnvoll. Das alles ist seit Jahren bekannt und
wird immer wieder unter verschiedenen Fragestellun-
gen auch wissenschaftlich belegt.

Von Tschechien bis nach Hamburg gibt es etliche Nut-
zungsinteressen. Die Liste der Ansprüche ist lang und
die Konkurrenz manchmal groß: Von der Binnenschiff-
fahrt über den Hochwasserschutz, den Gewässer- und
Naturschutz zum Tourismus und zu der Industrie bis hin
zur Energiegewinnung. Hinzu kommen die Bedürfnisse
der Fischerei sowie der Land- und Forstwirtschaft, und
auch kommunale Aspekte spielen eine Rolle.

Genau da liegt das Problem, aber auch eine Chance:
Wir brauchen nicht nur ein Konzept zu Entwicklungs-
maßnahmen für einen naturnahen Elbraum. Nein, wir
brauchen, damit das kein Sturm im Wasserglas wird,
eine breite gesellschaftliche Akzeptanz, und das in allen
Anrainerländern.

Das bedeutet Umdenken. Andere Wege zu suchen, ist
immer ein hartes Stück Arbeit. Auch wenn das Ziel klar
ist, braucht man dazu Partnerschaften, Kooperation und
Zeit. Akzeptanz ist die Voraussetzung für eine naturnahe

Zu Protokoll gegebene Reden





Sabine Stüber


(A) (C)



(D)(B)


Flusslandschaft Elbe. Dafür müssen wir werben, indem
alle Interessen gehört und beraten werden, um gemein-
same Lösungen zu finden. Das betrifft die ökologischen,
wirtschaftlichen und sozialen Interessen gleichermaßen
und ist ein Grundanliegen in unserem Antrag für ein um-
fassendes Elbekonzept. Wir wollen, dass aus den Eck-
punkten für ein Gesamtkonzept Elbe auch ein umfassen-
des Konzept für die gesamte Elbe wird mit dem Ziel,
diesen wunderbaren Fluss mit seinen Landschaften so
naturnah wie möglich zu entwickeln.

Das geht nur länderübergreifend und grenzüber-
schreitend und vor allem gemeinsam mit allen Nutzern
der Elbe.


Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717539800

Die Debatte zum Elbekonzept kommt zum richtigen

Zeitpunkt. Im vergangenen Sommer haben die Parla-
mentarischen Staatssekretäre Enak Ferlemann und
Katherina Reiche endlich die Erarbeitung eines Ge-
samtkonzepts Elbe angekündigt und ein Eckpunktepa-
pier vorgelegt. Ein solches Konzept ist lange überfäl-
lig und wird von unserer Fraktion schon seit Jahren
gefordert. Doch bei der Ankündigung ist es bisher ge-
blieben. Die für Sommer 2011 anvisierten Gespräche
zwischen den Umweltverbänden, Kirchen, Verbänden
der Binnenschifffahrt und des Tourismus mit Bund,
Ländern und Kommunen hat es bisher nicht gegeben.
Der Prozess steht still. Auf Anfragen, wie es jetzt kon-
kret weitergeht, gibt es keine Antwort.

Wie groß das Bedürfnis der einzelnen Interessengrup-
pen – sei es aus Wirtschaft oder der Umwelt –, ins Ge-
spräch zu kommen, ist, hat unsere Elbekonferenz mit fast
100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern am 16. April in
Magdeburg gezeigt. In der Diskussion wurden drei
Dinge deutlich:

Erstens. Die Wirtschaft hat sich auf die schwanken-
den Wasserstände der Elbe bereits eingestellt und plant
ihre Transporte entsprechend.

Zweitens. Im Hinblick auf die Transportkapazitäten
hat der Ausbau der Eisenbahninfrastruktur wesentlich
höhere Bedeutung.

Drittens. Die Binnenschifffahrt wird in Zukunft nicht
an Bedeutung zunehmen, sondern eher die Nische der
Sonder- und Schwertransporte füllen.

Das Gesamtkonzept muss jetzt weiter vorangebracht
werden, bevor jedes Jahr mehr und mehr Steuergelder in
Baumaßnahmen zur Schiffbarkeit investiert werden. Al-
lein 2012 sollen in die Unterhaltung der Infrastruktur
sowie für Um-, Aus- und Neubau der Anlagen und Ob-
jekte an der Elbe 24 Millionen Euro investiert werden.
Die Baumaßnahmen haben es bisher weder geschafft,
eine verlässliche Fahrrinnentiefe herzustellen, noch,
mehr Verkehr auf die Elbe zu locken. Seit 1997 wurde
das Ziel einer ganzjährigen Fahrrinnentiefe von
1,60 Meter auf allen Elbestrecken nur 2002 und 2010
erreicht. Allein 2011 wurde die angestrebte Mindesttiefe
beispielsweise an der Elbestrecke 4 zwischen Elster-
und Saalemündung an 116 Tagen unterschritten. Ent-
sprechend niedrig sind auch die Transportzahlen für die

Elbe: Im letzten Jahr wurden auf der Stadtstrecke Mag-
deburg beispielsweise nur 0,8 Millionen Tonnen Güter
transportiert. Statt einen tatsächlichen Nutzen zu haben,
greifen die Baumaßnahmen stark in den Wasserhaushalt
der Elbauen ein und gefährden das empfindliche Öko-
system. Hier werden auch in diesem Jahr wieder Tatsa-
chen geschaffen, wird das Gesamtkonzept Elbe ver-
schleppt und womöglich an anderer Stelle hintertrieben.
Als Beispiel hierfür seien nur die Pläne der EU-Kom-
mission genannt, die Elbe in die Liste der Kernnetzkor-
ridore aufzunehmen und einen entsprechenden Ausbau
zwischen Hamburg–Dresden–Paradubice vorzusehen.
Staatssekretär Enak Ferlemann behauptet, die Bundes-
regierung wäre an dem Vorschlag nicht beteiligt gewe-
sen. Doch aus dem EU-Parlament wissen wir, dass bei
derartigen Vorschlägen die Mitgliedstaaten die Projekt-
listen mindestens über ein IT-System mitarbeiten.

Viele Punkte im Antrag sind richtig: Bund, Länder,
Kommunen müssen mit den Verbänden und den zivilge-
sellschaftlich aktiven Initiativen vor Ort an einen Tisch.
Die ökologische Durchgängigkeit muss verbessert wer-
den, Hochwasserschutz darf den Fluss nicht weiter ein-
engen, sondern muss ihm mehr Raum geben. Die Aus-
wirkungen des Klimawandels müssen im Gesamtkonzept
Elbe Berücksichtigung finden. Die Staustufe Decin muss
ebenso wie vom Freistaat Sachsen auch von der Bundes-
regierung abgelehnt werden. Die Priorität muss beim
Ausbau der Schieneninfrastruktur liegen. Selbst in
Tschechien wird dem Ausbau der Schiene im Hinblick
auf die Transportkapazitäten eine wesentlich höhere Be-
deutung beigemessen. All diese Punkte sind Teil unseres
Antrags „Elberaum entwickeln – Nachhaltig, zukunfts-
fähig und naturverträglich“, Drucksache 17/4554, den
wir bereits im letzten Jahr eingereicht haben. Inwiefern
allerdings die Unterhaltungsmaßnahmen tatsächlich na-
turnah erfolgen können, bleibt zu bezweifeln. Denn die-
ser Spagat wird nicht immer funktionieren: Schotterung
bleibt Schotterung. Das heißt für uns Grüne weiterhin:
Sämtliche Baumaßnahmen müssen hinsichtlich ihrer
Auswirkungen auf Natur und Umwelt überprüft werden
und bei negativen Folgen konsequent unterbleiben. Nur
so kann die einzigartige und wertvolle Natur- und Kul-
turlandschaft Elbe erhalten werden, und nur so können
ihre Potenziale, zum Beispiel beim naturverträglichen
Tourismus, weiter ausgebaut werden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717539900

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9160 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Damit sind wir vollkommen überraschend am Schluss
unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages ein auf morgen, Freitag, den 27. April 2012,
9 Uhr.

Die Sitzung ist geschlossen.

Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe.