Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20839
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn, Katja Dörner, Uwe Kekeritz, Memet
Kilic, Sylvia Kotting-Uhl, Agnes Krumwiede,
Monika Lazar, Beate Müller-Gemmeke,
Dr. Hermann E. Ott, Lisa Paus und Dorothea
Steiner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zur
namentlichen Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung und den Bericht zu dem Antrag:
Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
und Leistungseinschränkungen im Zwölften
Buch Sozialgesetzbuch abschaffen
(Tagesordnungspunkt 4 b)
Gegenwärtig setzt die Arbeitsmarktpolitik vor allem
auf Sanktionen, nicht auf Angebote, um „Gegenleistun-
gen“ der Transferempfänger und -empfängerinnen zu er-
reichen. Das ist falsch. Der Grundbedarf, der für eine
Teilhabe an der Gesellschaft notwendig ist, muss jeder-
zeit gewährleistet sein und darf nicht durch Sanktionen
angetastet werden. Die Frage nach der Gegenleistung
wird nicht durch Zwang, sondern vor allem durch faire
Spielregeln und positive Anreize beantwortet.
Die Erwartung einer „Gegenleistung“ darf nicht zum
Ausgangspunkt werden für bürokratische Zumutungen,
bei denen am Ende die Würde der Betroffenen auf der
Strecke bleibt. Stattdessen müssen zwingend die Fähig-
keiten, Vorstellungen und Wünsche der Hilfebedürftigen
berücksichtigt werden. Es muss ein Wunsch- und Wahl-
recht geben, das Recht jeder und jedes Einzelnen, selbst
vorzuschlagen, wie sie am besten zum Nutzen der Ge-
sellschaft beitragen können und wollen. Eigeninitiative
soll gefördert werden, wobei Engagement bei der Jobsu-
che, Existenzgründung, Aus- und Weiterbildung, Fami-
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Aigner, Ilse CDU/CSU 26.04.2012
Bär, Dorothee CDU/CSU 26.04.2012
Beck (Bremen),
Marieluise
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.04.2012*
Becker, Dirk SPD 26.04.2012
Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.04.2012
Brandner, Klaus SPD 26.04.2012
Dr. Braun, Helge CDU/CSU 26.04.2012
Brinkmann (Hildes-
heim), Bernhard
SPD 26.04.2012
Fischer (Karlsruhe-
Land), Axel E.
CDU/CSU 26.04.2012*
Friedhoff, Paul K. FDP 26.04.2012
Grindel, Reinhard CDU/CSU 26.04.2012
Groschek, Michael SPD 26.04.2012
Jelpke, Ulla DIE LINKE 26.04.2012
Kolbe, Manfred CDU/CSU 26.04.2012
Korte, Jan DIE LINKE 26.04.2012
Möller, Kornelia DIE LINKE 26.04.2012
Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.04.2012
Dr. Neumann (Lausitz),
Martin
FDP 26.04.2012
Nord, Thomas DIE LINKE 26.04.2012
Pflug, Johannes SPD 26.04.2012
Röspel, René SPD 26.04.2012
Rupprecht (Tuchen-
bach), Marlene
SPD 26.04.2012*
Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 26.04.2012
Schlecht, Michael DIE LINKE 26.04.2012
Schneider, Ulrich BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.04.2012
Süßmair, Alexander DIE LINKE 26.04.2012
Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 26.04.2012
Werner, Katrin DIE LINKE 26.04.2012
Dr. Westerwelle, Guido FDP 26.04.2012
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Anlagen
20840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
(D)(B)
lienarbeit, Pflege und Ehrenamt berücksichtigt werden
sollen. Eine angemessene, auch monetäre Anerkennung
und Würdigung von Ehrenamt, bürgerschaftlichem En-
gagement bzw. gemeinwohlorientierter Arbeit darf nicht
einhergehen mit Kürzungen der Sozialleistungen.
Wir sind deshalb für die Abschaffung der Sanktionen
im SGB II und treten zudem für Reformen der sozialen
Sicherung in Richtung eines bedingungslosen Grundein-
kommens ein.
Einfach nur die Sanktionen bei Hartz IV abzuschaf-
fen, wie das die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag for-
dert, ist zu einfach und geht uns nicht weit genug. Des-
halb und weil wir einen eigenen besseren Antrag gestellt
haben, enthalten wir uns bei dem Antrag der Linken.
In unserem Antrag – Bundestagsdrucksache 17/3207 –
fordern wir, dass es bei der Grundsicherung keine Kür-
zungen unter den Bedarf, der für eine Teilhabe an der Ge-
sellschaft notwendig ist, geben darf, konkrete Maßnah-
men zur Verbesserung der Rechte von Arbeitslosen und
die Aussetzung aller Sanktionen – Sanktionsmorato-
rium –, bis die Rechte der Arbeitsuchenden gestärkt wor-
den sind.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset-
zes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und
anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 15)
Michael Hennrich (CDU/CSU): Wir haben uns
heute zur ersten Lesung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer
Vorschriften versammelt. Es ist ein Gesetz, das nach
dem AMNOG das zweite große gesetzgeberische Vorha-
ben auf dem Arzneimittelsektor ist. Alles in allem lässt
sich feststellen, dass es im Arzneimittelbereich gut und
ruhig verläuft. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren
sind bisher auch keine Entschließungsanträge der Oppo-
sition eingegangen. Ich verstehe das so, dass Sie, werte
Damen und Herren von der SPD, den Grünen und der
Linken, mit unserer Arzneimittelpolitik durchaus zufrie-
den sind.
Anders, ich erinnere mich lebhaft, war das noch beim
AMNOG vor gut eineinhalb Jahren. Bei der Verabschie-
dung des AMNOG waren Sie noch nicht ganz so weit,
und Sie haben damals bei der namentlich Abstimmung
– die übrigens bezeichnenderweise am 11.11. stattfand –
geschlossen mit Nein gestimmt. Heute haben sich die
Zeichen gewendet, wie ich erst neulich auf einer Veran-
staltung des BPI feststellen konnte. Frau Bender von den
Grünen ist im Hinblick auf das AMNOG so etwas wie
der Lordsiegelbewahrer, der bereit ist, in die Bresche zu
springen, wenn es Überlegungen gibt das Gesetz zu ver-
ändern.
Aber in der Tat wir können mit der Arzneimittelpoli-
tik der Koalition zufrieden sein. Die mit dem GKV-
Finanzierungsgesetz verabschiedete Erhöhung des Her-
stellerabschlags zeigt Wirkung. In der Folge konnten die
Arzneimittelausgaben – übrigens als einziger Teilbereich
des öffentlichen Gesundheitssystems – deutlich reduziert
werden. Auch mit dem AMNOG haben wir Maßnahmen
auf den Weg gebracht, die zu einer Stabilisierung der
Arzneimittelausgaben führen. Einen wesentlichen Bei-
trag hierzu leisten zweifelsohne der Apothekenabschlag
und die Großhandelsvergütung. Die frühe Nutzenbewer-
tung stellt in Bezug auf die Effektivität der Arzneimittel-
versorgung einen wahren Quantensprung dar, und zwar
ohne dass den Menschen in Deutschland der Zugang zu
Innovationen verkürzt wurde.
Heute wird das AMNOG im Ausland selbst von denje-
nigen gepriesen, die es vor eineinhalb Jahren noch vehe-
ment bekämpft haben. Auch den Vertretern des GKV-Spit-
zenverbands, die das Gesetz ursprünglich als „Pharma-
beglückungsgesetz“ bezeichneten, konnte – wenn auch
mühsam – die Wirkungsweise der Vorgaben verständlich
gemacht werden. Selbst die Industrie hat das neue Sys-
tem zwischenzeitlich anerkannt, sodass wir uns in erster
Linie auf die Umsetzung der AMG-Novelle konzentrie-
ren können.
Mit dem Gesetz sollen zwei Richtlinien der Europäi-
schen Union umgesetzt werden, zum einen die Richtlinie
zur Pharmakovigilanz, zum anderen die Richtlinie zum
Schutz vor Arzneimittelfälschungen. Beide Richtlinien
verbindet das Ziel, den Schutz der Patienten und Versi-
cherten im Bereich der Arzneimittelversorgung verbes-
sern zu wollen. Vor diesem Hintergrund greifen Sie in
viele Bereiche des Arzneimittelgesetzes ein. Wir haben
dadurch die Chance, einige Vorschriften ganz grundsätz-
lich zu überdenken und auf den Prüfstand zu stellen.
Einen großen Teil der Neuerungen halte ich für
durchaus begrüßenswert. So werden etwa die Risiko-
managementsysteme der Zulassungsinhaber optimiert.
Und auch die Zusammenarbeit der Gesundheitsbehörden
wird verbessert, indem die europäische Vernetzung end-
lich forciert wird. Dem Schutz der Versicherten dient,
dass etwa der Begriff der Nebenwirkung erweitert wird.
§ 4 Nr. 13 AMG erfasst dann auch Überdosierungen,
Medikationsfehler und Missbrauch. Zugute kommt ihm
auch, dass die Meldewege bei Verdachtsfällen verkürzt
werden. Hier werden bereits in den Patienteninformatio-
nen Hinweise zu finden sein, wohin man sich bei Ver-
dachtsfällen wenden soll. Für die Fachinformation wird
eine gleichlautende Regel erlassen werden. Gleichzeitig
werden die Informationsmöglichkeiten der Verbraucher
verbessert. Ein nationales Internetportal wird aufgebaut
und mit europäischen Datenbanken vernetzt werden, um
Transparenz für den Versicherten zu schaffen und ihm
eine umfassende Aufklärung zu ermöglichen.
Begrüßenswert halte ich auch den Schritt, zum Schutz
der legalen Vertriebswege die Anforderungen an Her-
steller und Vertreiber zu konkretisieren und auf diese
Weise transparenter zu gestalten. Besonders fälschungs-
gefährdete Arzneimittel etwa erhalten in diesem Rahmen
zusätzliche Sicherheitsmerkmale zur Identifizierung ein-
zelner Arzneimittelpackungen. Die Richtlinien bringen
überdies Veränderungen im Bereich Betäubungsmittel-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20841
(A) (C)
(D)(B)
recht sowie die Anpassung des Heilmittelwerbegesetzes
an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.
Ich möchte nicht verschweigen, dass diese Neurege-
lungen teilweise zu erheblichen finanziellen Belastungen
für die Industrie führen. Allerdings halte ich – unabhän-
gig davon, dass uns sowieso nur ein geringfügiger Um-
setzungsspielraum verbleibt – die Vorgaben mit Blick
auf Schutz und Sicherheit der Patientinnen und Patienten
für notwendig.
Natürlich werden wir uns im Zuge der AMG-Novelle
noch einmal mit dem AMNOG beschäftigen. Allerdings
muss nicht immer der Gesetzgeber Probleme lösen,
manchmal obliegt diese Aufgabe allein der Selbstver-
waltung. Teilkomplexe hat die Selbstverwaltung bereits
guten Lösungen zugeführt; ich denke an dieser Stelle
zum Beispiel an die Orphan Drugs. Trotzdem müssen
die Beteiligten zukünftig weiter miteinander arbeiten
und sich auf praxisgerechte Lösungen einigen.
Aufmerksam beobachten wir in diesem Zusammen-
hang etwa das Thema Vergleichstherapie. Hier muss bei
der Auswahl der Vergleichstherapie die Frage im Mittel-
punkt stehen, ob ein tatsächlicher Zusatznutzen für das
neue Arzneimittel im Vergleich zum bisherigen Thera-
piestandard besteht. Erst bei den Preisverhandlungen
steht dann die Kostenfrage im Mittelpunkt. Es ist zudem
sicherzustellen, dass keine Studien mit einer Vergleichs-
therapie verlangt werden dürfen, die aus ethischen Grün-
den nicht genehmigt würden.
Beim Thema Beratungsgespräche hat sich vieles posi-
tiv gewendet. Aber in Bezug auf die Verbindlichkeit des
Beratungsgesprächs beim GBA findet sich durchaus
noch etwas Sand im Getriebe. Möglich wäre es etwa,
dass die Vergleichstherapien vor Studien der Phase III
gemeinsam verbindlich vereinbart werden. Hier wäre
dann zum Beispiel die Frage zu klären, welche Ver-
gleichstherapie für ein Solitärmedikament zu wählen ist.
Der vom GBA durchgeführte Workshop am 22. März
zeigt aber, dass man hier auf einem guten Weg ist.
Die Preisfindung ist sicherlich ein Komplex, bei dem
wir erst einmal abwarten sollen, wie verhandelt wird.
Entspannt sehe ich übrigens der Forderung der Indus-
trie nach der Vertraulichkeit des Erstattungsbetrags ent-
gegen. Hier sollten wir uns überlegen, ob uns das nicht
sogar entgegenkommt, weil in vertraulichen Verhand-
lungen mehr Spielraum für eine Rabattgewährung ver-
bleibt.
Überprüft werden muss aber die Möglichkeit zur
Ausschreibung von Zytostatika; denn es droht zu einem
Oligopol in der Versorgung der Krebspatienten zu kom-
men. Zudem drohen Qualitätseinbußen und Probleme in
der Flächendeckung, wenn die Krankenkassen mit ein-
zelnen Apothekern Selektivverträge über die Zytostati-
kaversorgung abschließen. Dabei will ich die Wirkweise
der Rabattverträge nicht infrage stellen. Sie tragen maß-
geblich zu Einspareffekten bei Arzneimittelversorgung
bei.
Allerdings ist auch Teil unserer Aufgabe, die Versor-
gungssicherheit zu gewährleisten; Lieferengpässe müs-
sen vermieden werden. Gleiches gilt übrigens für die
Oligopolbildung.
Was passiert mit den sogenannten Portfolioverträgen?
Seit dem Jahr 2009 wird hier vergeblich nach einer ein-
vernehmlichen Lösung gesucht. Dabei behindern die Er-
weiterungs- und Aufnahmeklauseln unstreitig den Wett-
bewerb. Ohne gesetzgeberische Maßgaben scheint sich
hier aber nichts zu tun. Dieses Fazit gilt leider auch für
den Umgang mit der personalisierten Medizin. Die be-
sondere Diagnostik, die hier notwendig wird, wird letzt-
lich wegen einer fehlenden Abrechnungsziffer im EBM
nicht ausreichend erbracht. Das kann und darf nicht sein.
Abschließend möchte ich noch auf die Rahmenbedin-
gungen für Apotheker eingehen. Am Pick-up-Verbot
halten wir fest. Nachdem auch die Bundesregierung ein
Verbot des Versandhandels anstrebt, liegt es in den Hän-
den des Bundesrates, hier die richtigen Entscheidungen
zu treffen. Nach Auslaufen der Sparmaßnahmen Ende
dieses Jahres ist der Apothekenabschlag erneut zu ver-
einbaren. Um hier eine faire Verhandlungsbasis zu
schaffen, soll der für 2009 und 2010 geltende Abschlag
als Grundlage dienen.
Wie ich eingangs ankündigte, nutzen wir die AMG-
Novelle auch, um die bestehende Regelung kritisch zu
hinterfragen. Unsere Pläne in diese Richtung habe ich
Ihnen gerade vorgelegt. Ich möchte die Gelegenheit aber
auch nutzen, an alle Beteiligten zu appellieren: Lassen
Sie uns konstruktiv miteinander tätig werden und nicht
in allgemeines Wehgeschrei ausbrechen, wie es beim
AMNOG der Fall war. Diese Worte richte ich auch noch
einmal explizit an die Industrie, die immer wieder ge-
droht hat, bestimmte Produkte nicht auf den deutschen
Markt zu bringen. Damit schneidet man sich ins eigene
Fleisch. Ich gebe zu bedenken, dass unsere europäischen
Nachbarländer über keine rosige Finanzlage verfügen.
Das gilt auch für Frankreich, wo Sarkozy gerade ange-
kündigt hat, 4,5 Milliarden Euro Einsparungen allein bei
der Arzneimittelversorgung erzielen zu wollen. Spanien
geht in eine ähnliche Richtung, und Griechenland will
ich hier gar nicht erwähnen.
Zu denken, dies wäre ein europäisches Problem, ist
naiv. lndien ist ja nicht einmal mehr bereit, Patente und
Eigentumsrechte anzuerkennen. Insofern wünsche ich
keine weitere Drohungen, sondern den konstruktiven
Dialog aller Beteiligten, auf den ich mich freue.
Dr. Marlies Volkmer (SPD): Mit der aktuellen
AMG-Novelle wollte die Bundesregierung eigentlich
nur eine recht fade Suppe zusammenköcheln. Es ging ur-
sprünglich nur darum, europäisches Recht umzusetzen,
namentlich die Pharmakovigilanz- und die Fälschungs-
richtlinie. Nun ist die Novelle ein Artikelgesetz und lädt
damit geradezu zum Missbrauch als Omnibus ein. Zu-
dem ist sie zustimmungspflichtig, seit der Föderalismus-
reform gerade für Gesundheitsgesetze eine Seltenheit.
Also entscheiden die Länder hier mit. So standen plötz-
lich viele selbsternannte Köche aus unserem Gesund-
heitssystem Schlange, um die Suppe kräftig nachzuwür-
zen.
20842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
(D)(B)
Die EU-Vorgaben sollen die Arzneimittelsicherheit
erhöhen, was natürlich ein lobenswertes Ziel ist. Um das
zu erreichen, werden die Meldepflichten für Verdachts-
fälle von Arzneimittelrisiken verschärft und die Melde-
fristen für vermutete Nebenwirkungen verkürzt. Die De-
finition von Nebenwirkungen wird erweitert und umfasst
auch unerwünschte Wirkungen, die bei Medikationsfeh-
lern sowie bei nicht-bestimmungsgemäßem Gebrauch
auftreten können. Die Möglichkeiten für Patientinnen
und Patienten, sich zu informieren, werden etwas ver-
bessert. Zukünftig kann beispielsweise der Beipackzettel
von Arzneimitteln im Internet eingesehen werden. Das
ändert allerdings nichts an der oft unverständlichen
Sprache, in der diese Patienteninformationen verfasst
sind. Für besonders fälschungsgefährdete Arzneimittel
sind Sicherheitsmerkmale wie einzigartige Strichcodes,
Siegel, Hologramme vorgesehen – allerdings erst ab
dem Jahr 2017. Hinzu kommen noch weitere technische
Regelungen.
Auch die Anforderungen an Hersteller, Importeure
und Vertreiber von Wirkstoffen, die Transparenz der
Handelswege zu erhöhen, sind sicherlich sinnvoll. Aller-
dings wird der größte Teil der gefälschten Arzneimittel
nicht über die reguläre Lieferkette vertrieben. Der Bun-
desrat fordert ein Verbot des Versandhandels für ver-
schreibungspflichtige Medikamente. Hintergrund ist,
dass er sich davon einen gangbaren Weg für ein Verbot
der Pick-up-Stellen verspricht. Die Bundesregierung
lehnt diese Forderung aus verfassungsrechtlichen Grün-
den ab. Allerdings hat sie bisher keinen anderen Vor-
schlag gemacht, wie Pick-up-Stellen untersagt werden
können. Die Forderung nach Abschaffung steht aber im
Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP. Es ist an der
Zeit für Sie, hier endlich einmal aktiv zu werden und
eine verfassungskonforme Regelung vorzuschlagen.
Ein bisschen Würze hat die Bundesregierung dann
doch noch hereingebracht, indem sie die pharmazeuti-
schen Vertreter aus dem Sachverständigenausschuss für
Verschreibungspflicht verbannt hat. Auch die Erlaubnis
für die Landesbehörden, bei erheblichem Versorgungs-
mangel eine Bereitstellung der Arzneimittel zu erzwin-
gen, schmeckte nicht jedem.
Auch das Heilmittelwerberecht will die Koalition
durch die vorliegende Novelle an die EU-Vorgaben an-
passen. Hier hatten Sie bei der Umsetzung der Richtlinie
etwas freiere Hand, und da bemerkt man schon den ers-
ten Hautgout: Die Pharmaunternehmen dürfen künftig
mit Krankengeschichten und Patientenschicksalen wer-
ben. Auch ausgewählte Gutachten und fachliche Veröf-
fentlichungen dürfen zu Werbezwecken gebraucht wer-
den. Schwer verdaulich ist auch die Lockerung des
Werbeverbots für rezeptfreie Schlafmittel und Stim-
mungsaufheller.
Diese Maßnahmen sind sicher förderlich für den Ab-
satz der Hersteller, aber ganz sicher nicht für die Ge-
sundheit und die Sicherheit der Patientinnen und Patien-
ten. Sie fördern hierdurch die zunehmende Sorglosigkeit
im Umgang mit Medikamenten nach dem Motto „Es ist
ja rezeptfrei, damit harmlos“. Medikamente sind jedoch
keine Konsumgüter wie Kaugummis oder Schnittblu-
men, die man mal eben vom Einkauf mitbringt. An die-
sem Montag lief ein Bericht über rezeptfreie Medika-
mente im Fernsehprogramm des NDR. Hier wurde
erstens darauf hingewiesen, dass frei verkäufliche Arz-
neimittel oft nicht für Kinder und ältere Menschen ge-
eignet sind. Zweitens enthalten viele Medikamente iden-
tische Wirkstoffe. Wenn sie gemeinsam eingenommen
werden, kann es daher zu einer unfreiwilligen Überdo-
sierung und Schäden kommen. Sie sehen, eine unabhän-
gige und objektive Information der Patientinnen und Pa-
tienten ist notwendig. Das ist zuerst Aufgabe der
Apothekerinnen und Apotheker. Sie sind dazu gesetzlich
verpflichtet; aber auch die Verbraucherzentralen und die
Stiftung Warentest nehmen diese Aufgabe wahr und ver-
dienen unsere Unterstützung. Das ist allemal sinnvoller,
als die Werbemöglichkeiten der pharmazeutischen Un-
ternehmen zu vereinfachen.
Aber nicht nur das Gesundheitsministerium, auch die
Arbeitsgruppe Gesundheit der CDU war nicht untätig.
Fleißig haben die Kolleginnen und Kollegen alle Forde-
rungen der pharmazeutischen Industrie gesammelt und
in einem Positionspapier zusammengefasst. Diese Würz-
mischung mit neuen Regelungen zu früher Nutzenbe-
wertung, Apotheken und Rabattverträgen sorgte in den
Medien und bei den Krankenkassen für Ablehnung und
Empörung. In der aktuellen Version hat das Papier zwar
etwas an Schärfe verloren, wirklich bekömmlich ist es
aber noch immer nicht. So stellen Sie die mühsam
gefundene Lösung für die Referenzländer bei den Preis-
verhandlungen zwischen Krankenkassen und Arzneimit-
telherstellern infrage. Sie setzen sich für die Geheimhal-
tung der zwischen GKV-Spitzenverband und Herstellern
ausgehandelten Arzneimittelpreise ein.
Heute wurde schon der erste Schwung von 30 Ände-
rungsanträgen in die Welt gesetzt, die auch einige Vor-
schläge aus dem Positionspapier von CDU und CSU um-
fassen. So ist leider eine schwerverdauliche Suppe
entstanden. Auslöffeln müssen sie die Versicherten.
Kathrin Vogler (DIE LINKE): Bei der AMG-No-
velle geht es unter anderem um den Schutz vor gefälsch-
ten Arzneimitteln. Dabei soll die systematische Überwa-
chung der Sicherheit eines Medikaments nach seiner
Zulassung verbessert werden, um unerwünschte Wirkun-
gen zu entdecken und das Risiko für Patientinnen und
Patienten zu vermindern. Aber es geht auch um andere
Regelungen im Arzneimittelbereich.
In einigen dieser Punkte können wir schnell Überein-
stimmung herstellen. Ich möchte mich aber auf diejeni-
gen Fragen konzentrieren, in denen der vorliegende Ge-
setzentwurf Widerspruch erfordert.
Fangen wir mit den Plänen zum Kampf gegen ge-
fälschte Medikamente an. Der weltweite Umsatz mit ge-
fälschten Arzneimitteln hat den Umsatz aus dem Dro-
genhandel längst überholt. Arzneimittelfälschungen sind
in einigen europäischen Staaten und insbesondere im In-
ternethandel ein erhebliches Problem. Doch in Deutsch-
land handelt es sich bei den meisten gemeldeten Fällen
nur um falsch deklarierte Reimporte, also um echte Me-
dikamente, die sicher und wirksam sind. Reimporte ma-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20843
(A) (C)
(D)(B)
chen aber nur Sinn, wenn die Arzneimittelpreise in
Deutschland weit höher sind als etwa in Griechenland.
Das könnten wir ganz einfach abstellen, wenn sich die
hiesigen Preise am europäischen Durchschnitt orientie-
ren müssten. Doch gegen eine solche Regelung stemmt
sich insbesondere die CDU.
Die Gefahren aus dem illegalen Internethandel könnte
man leicht eindämmen: Verbieten Sie den Versandhandel
von Medikamenten; denn zuverlässige und kontrollierte
Handelswege sind bislang der beste Schutz vor Arznei-
mittelfälschungen. Die Linke fordert das seit Jahren, und
nun unterstützt auch der Bundesrat die Initiative, den
Versandhandel zumindest für verschreibungspflichtige
Medikamente komplett zu verbieten. Für Patientinnen
und Patienten sind seriöse und unseriöse Internetanbieter
kaum zu unterscheiden. Dieses Einfallstor für Fälschun-
gen bekommt man auch nicht mit aufwendigen Siegeln
und Packungsnummern in den Griff. Dafür sollen die
Unternehmen in den nächsten zehn Jahren je nach Schät-
zung zwischen 1 und 9 Milliarden Euro ausgeben. Dass
diese Kosten auf die Preise geschlagen und letztlich von
den Kranken und den Versicherten bezahlt werden müs-
sen, versteht sich von selbst.
Zum Thema Arzneimittelpreise. Die Linke hat dem
Bundestag ein Konzept für eine nutzenorientierte Preis-
bildung bei Arzneimitteln vorgelegt; aber die Mehrheit
war ja dagegen und setzt lieber auf die völlig intranspa-
renten Rabattverträge. Die Lockerungen im Werbever-
bot, die uns mit diesem Gesetzentwurf vorgelegt wird,
ist ein Skandal. Statt Beratung und Information bekom-
men die Patientinnen und Patienten demnächst Manipu-
lation und Emotionen frei Haus geliefert.
Man sage jetzt bitte nicht, dass man doch nur eine ent-
sprechende EU-Richtlinie umsetze, wozu man schließ-
lich vertraglich verpflichtet sei. Schließlich war die Bun-
desregierung an den Beratungen über diese Richtlinie
beteiligt. Nachdem der Europäische Gerichtshof sie für
weitgehend bindend erklärt hat, hat sich die Bundesre-
gierung auch nicht bemüht, diese Richtlinie zu ändern.
Die Linke will, dass Arzneimittel eben nicht wie Smar-
ties beworben, sondern in der Apotheke nach kompeten-
ter Beratung an Patientinnen und Patienten abgegeben
werden.
Besonders gespannt sind wir auch auf eventuelle Än-
derungsanträge. Es kann nämlich durchaus noch schlim-
mer kommen. Wir wollen einmal schauen, wie standhaft
sich hier Herr Bahr und seine FDP zeigen werden. Die
Arbeitsgruppe Gesundheit der Union hat hier Vorstellun-
gen vorgelegt, die sich lesen wie der Weihnachtswunsch-
zettel der Pharmakonzerne. Wenn die Union sich damit
in der Bundesregierung durchsetzt, dann werden mit ei-
nem Federstrich gleich mehrere Milliarden Euro Versi-
chertengelder auf die Konten der Pharmaaktionäre ge-
spült. Der Beifall auf den Aktionärsversammlungen von
Bayer und Co ist wohl sicher. Die Linke verzichtet gerne
auf Beifall aus dieser Ecke. Wir würden mit dem Geld
der Versicherten lieber die Praxisgebühr abschaffen.
Wenn SPD, Grüne und FDP, wie sie das im Wahlkampf
in Schleswig-Holstein und NRW versprechen, an dieser
Stelle mitziehen würden, dann könnten wir gemeinsam
etwas für die Menschen in diesem Land tun.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ge-
fordert wird viel rund um dieses Gesetz, in dem eigent-
lich Pharmakovigilanz und Fälschungssicherheit ste-
cken. Kollege Spahn und die AG Gesundheit der CDU/
CSU-Fraktion melden sich mit Forderungspapieren zu
Wort. Hört der Minister ihnen nicht zu, oder ist er ande-
rer Meinung? Befremdlich, wie diese Koalition via
Presse kommuniziert.
Kaum sind die Regeln zur Preisbildung neuer Arznei-
mittel in Kraft, will die Union sie aufweichen und die
Regierung prüft, ob Rabatte, die Hersteller hierzulande
mit Krankenkassen für neue Arzneimittel aushandeln
müssen, der Vertraulichkeit unterliegen. Die Industrie
trägt vor, dass das Nichtwissen anderer Länder, wie hoch
denn der in Deutschland real existierende Preis sei, allen
Beteiligten zum Vorteil gereiche. Nun scheint man in der
Pharmaindustrie die europäischen Entscheider für ziem-
lich unbedarft zu halten. Hierzulande muss jedenfalls
gelten: Verhandlungsergebnisse sollten nicht als Ge-
heimsache behandelt und der Kontrolle entzogen wer-
den. Wie sonst soll denn die Öffentlichkeit beurteilen, ob
die neuen Regeln was bringen, ob die Preisverhandlun-
gen zwischen Kassen und Pharmaindustrie tatsächlich zu
niedrigeren und stärker am Zusatznutzen eines Arznei-
mittels ausgerichteten Preisen führen?
Bei der Gesundheitsreform 2003 handelte Rot-Grün
mit der Union und der – zum Schluss abgesprungenen –
FDP Kompromisse aus. Wir mussten auf die Positivliste
verzichten und akzeptierten als Krücke den Ausschluss
von nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln aus
der Erstattung. Bedingung waren Ausnahmen für
schwerwiegende Erkrankungen. Bedingung war außer-
dem, dass der therapeutischen Vielfalt Rechnung zu
tragen ist.
In der Folge gab es Streit, zum Beispiel um die
Misteltherapie bei Krebserkrankungen. Die vom Ge-
meinsamen Bundesausschuss beschlossene Regelung
wurde aus gutem Grund vom BMG kritisiert: Die in der
Arzneimittelrichtlinie enthaltene Koppelung dieser bei-
den Ausnahmen war vom Gesetzgeber nicht gewollt. Sie
bedeutete eine deutliche Einschränkung der therapeuti-
schen Vielfalt. Daher verweigerte das BMG die Geneh-
migung der Richtlinie und ließ bis vor das Bundessozial-
gericht nicht locker. Konsequenterweise hätte man nach
dem verlorenen Prozess bei diesem Gesetzgebungsver-
fahren eine Klarstellung vornehmen müssen, die dem
damaligen Willen von Grünen, SPD und CDU/CSU ent-
spricht – aber Fehlanzeige.
Unsere Kleine Anfrage förderte zutage, dass das
BMG nicht mehr zu wissen scheint, was es noch bis vor
kurzem vertrat. Gesundheitsminister Bahr lehnt es ab,
die Therapievielfalt zu erhalten. Das Ganze ist aber kein
exotisches Hobby der Grünen. Sehr viele Krebspatien-
tinnen und Krebspatienten bekamen auch bei schul-
medizinischer Behandlung eine ergänzende Mistel-
therapie. Nun müssen viele Patientinnen und Patienten
auf diese häufig verordnete Behandlungsoption verzich-
20844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
(D)(B)
ten oder die Therapiekosten selbst tragen. Wir Grünen
erwarten von der Koalition eine gesetzliche Klarstel-
lung, damit die therapeutische Vielfalt greift und damit
Krebspatientinnen und Krebspatienten wieder eine zu-
sätzliche Therapieoption zur Verfügung steht.
Die Neverending Story „Verbote für den Versandhan-
del“: Wann hat diese Koalition, wann hat dieser Minister
endlich den Mut, sich von nicht haltbaren Wahlverspre-
chen zu verabschieden? Wann hört das Verstecken hinter
den Verfassungsressorts auf, die bisher – ich prophezeie:
auch in Zukunft – jeden Vorschlag ablehnten, da ein
Missbrauch an die Wand gemalt wird, der in der Realität
des legalen Versandhandels aber nicht existiert? Die
Apothekerlobby ihrerseits sollte sich, statt diese symbo-
lische Monstranz weiter vor sich her zu tragen, endlich
mit konkreten Perspektivfragen für die Apothekerschaft
beschäftigen. Wo bleiben die Ideen für die Arzneimittel-
versorgung der Zukunft, die wirkungsvolle Einbezie-
hung der Kompetenzen der Apothekerinnen und Apothe-
ker in die Behandlung von Patientinnen und Patienten
oder die Lösungen für Versorgungsprobleme vor Ort?
Stattdessen höre ich von der ABDA nichts anderes als
Forderungen nach mehr Geld, und das ist, wie die Union
in diesem Fall völlig richtig sagt, überzogen.
Ulrike Flach, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
minister für Gesundheit: Der von der Bundesregierung
beschlossene und heute eingebrachte Entwurf für ein
Zweites Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher
und anderer Vorschriften stärkt und strafft die bestehen-
den Regelungen zur Arzneimittelsicherheit im Arznei-
mittelgesetz. Ein weiterer Schwerpunkt des Gesetzes ist
der Schutz vor gefälschten Arzneimitteln. Gefälschte
Arzneimittel stellen auch in Europa ein wachsendes Pro-
blem dar.
Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus Änderun-
gen in anderen Gesetzen und Anpassungen der einschlä-
gigen Rechtsverordnungen.
Nachfolgend möchte ich Ihnen die wichtigsten Ände-
rungen des Gesetzentwurfs vorstellen. Ich beginne mit
dem Arzneimittelgesetz:
Die wichtigsten Änderungen im Arzneimittelgesetz
gehen auf zwei europäische Richtlinien zurück: die
Richtlinie zur Verbesserung der Pharmakovigilanz und
die Richtlinie zur Verhinderung des Eindringens ge-
fälschter Arzneimittel in die legale Lieferkette.
Die im Bereich Pharmakovigilanz, das heißt der Arz-
neimittelsicherheit, vorgesehenen Regelungen schaffen
mehr Transparenz über zugelassene Arzneimittel, bes-
sere Überprüfungsmöglichkeiten für Zulassungsbehör-
den und eine stärkere Einbeziehung der von Patientinnen
und Patienten gemeldeten Nebenwirkungen.
Die erhebliche Ausweitung des Nebenwirkungsbe-
griffs auch auf Medikationsfehler zielt schließlich auf
mehr Sicherheit für Patientinnen und Patienten ab. Typi-
sche Fehler zu erkennen und zu beschreiben, ist die beste
Gewähr, sie zukünftig zu vermeiden.
Mit der Umsetzung der Fälschungsrichtlinie werden
die Anforderungen an Hersteller, Importeure und Ver-
treiber von Wirkstoffen konkretisiert und transparenter
gestaltet. So ist zum Beispiel zukünftig bereits die allei-
nige Arzneimittelvermittlung anzuzeigen. Die wichtigste
Neuregelung ist die Einführung einer Sicherheitskenn-
zeichnung auf der Packung für besonders fälschungsge-
fährdete Arzneimittel. Bevor dies in Europa Realität
werden kann, müssen jedoch noch die genauen Anforde-
rungen auf europäischer Ebene festgelegt werden.
Ein weiterer Beitrag zur Stärkung der legalen Ver-
triebskette betrifft den Versandhandel. Damit Patientin-
nen und Patienten den legalen Versandhandel sicher
erkennen können, wird ein Versandapothekenlogo zu-
künftig europaweit eingeführt, wie wir es in Deutschland
bereits kennen.
Weitere Änderungen des Arzneimittelgesetzes betref-
fen notwendige Klarstellungen und Änderungen auf-
grund der Erfahrungen aus der Praxis und aus dem Voll-
zug. Folgende möchte ich hervorheben:
Für klinische Prüfungen mit Arzneimitteln werden
Änderungen vorgesehen, die insbesondere Belange der
nichtkommerziellen Forschung an Hochschulen aufgrei-
fen. Dies wird zu Einsparungen bei den eingesetzten
Ressourcen und zur Kostensenkung beitragen.
Damit auch in Zukunft die flächendeckende Arzneimit-
telversorgung für Patientinnen und Patienten gewährleis-
tet ist, erhalten die Länder eine effektivere Möglichkeit,
den öffentlichen Bereitstellungsauftrag durchzusetzen,
der den pharmazeutischen Unternehmern und dem Groß-
handel nach dem Arzneimittelgesetz obliegt. Die Länder
können künftig Maßnahmen treffen, um erheblichen Stö-
rungen bei der Bereitstellung von Arzneimitteln entge-
genzuwirken. Dies betrifft die für die Versorgung beson-
ders wichtigen Arzneimittel, nämlich solche, die der
Behandlung schwerwiegender oder lebensbedrohlicher
Erkrankungen dienen.
Wir wollen, dass die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher auch beim Versandhandel mit Arzneimitteln einen
hohen Gesundheitsschutz haben. Daher halten wir es für
erforderlich, dass auch der Versandhandel den einheitli-
chen Apothekenabgabepreis zu gewährleisten hat. Wir
wollen nicht, dass Apotheken Rabatte auf verschrei-
bungspflichtige Arzneimittel geben. Das ist erforderlich,
damit Arzneimittelmissbrauch vermieden wird und Pa-
tienten in der besonderen Situation der Krankheit von ei-
nem Preisvergleich verschont bleiben und nicht durch
Rabatte oder andere Vorteile beeinflusst werden. Dies
muss ebenso für den Einkauf bei ausländischen Ver-
sandapotheken gelten.
Das vom Bundesrat geforderte Verbot des Versand-
handels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln be-
gegnet verfassungsrechtlichen Vorbehalten, da es zu ei-
nem ungerechtfertigten Eingriff in die grundrechtlich
geschützte Berufsausübungsfreiheit führen würde. Der
Vorschlag nebst seiner Begründung zeigt jedoch, dass
die Mehrheit der Länder zumindest ein isoliertes Verbot
von Pick-up-Stellen zwischenzeitlich ebenfalls für ver-
fassungsrechtlich bedenklich hält.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20845
(A) (C)
(D)(B)
Fragen der Arzneimittelsicherheit werden und sollten
zuallererst aus wissenschaftlicher Perspektive beurteilt
werden. Daher haben wir uns entschlossen, dass im
Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht al-
lein Vertreter der Wissenschaft und der Arzneimittel-
kommissionen stimmberechtigt sein sollen.
Mit den Änderungen des Arzneimittelgesetzes sind
Änderungen in anderen Rechtsvorschriften verbunden,
die nicht im Zusammenhang mit den Änderungen im
Arzneimittelgesetz stehen. Das betrifft das Apotheken-
gesetz, das Heilmittelwerbegesetz, das Betäubungsmit-
telgesetz sowie das Medizinproduktegesetz.
Besonders hervorheben möchte ich die Änderungen
im Heilmittelwerberecht. Diese sind erforderlich, um der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nachzu-
kommen. Da die nationalen Gerichte die europäische
Rechtslage bereits berücksichtigen, werden die Auswir-
kungen der Änderungen in der Praxis gering sein und ha-
ben eher klarstellenden Charakter.
Sie sehen, der Entwurf enthält wichtige Maßnahmen,
um europäisches Recht umzusetzen und dabei Arznei-
mittelsicherheit und Arzneimittelversorgung auf hohem
Niveau zu halten und weiter zu verbessern. Nicht zuletzt
wegen der europarechtlichen Bezüge müssen wir den
Entwurf rasch umsetzen. Lassen Sie uns daher mit voller
Konzentration in die nun anstehenden Beratungen ge-
hen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Pressefreiheit europa-
weit umsetzen – Medien als wichtigen Grund-
pfeiler der Demokratie stärken (Tagesord-
nungspunkt 16)
Karl Holmeier (CDU/CSU): Als Abgeordneter des
Deutschen Bundestages finde ich es mittlerweile beschä-
mend, in welcher Weise die deutschen Oppositionspar-
teien ihre Kampagne gegen Ungarn betreiben. Unter
dem Deckmantel der Wahrung von Rechtsstaatlichkeit,
Demokratie und Menschenrechten gefährden Sie mit ih-
ren Anfeindungen inzwischen die traditionell guten Be-
ziehungen zu Ungarn. Dabei sind Sie es, die Tatsachen
ignorieren und falsch darstellen, das europäische Recht
und Grundprinzipien wie Zuständigkeiten, Subsidiarität
und begrenzte Einzelermächtigung missachten und da-
rüber hinaus jeden Respekt sowie die Beachtung diplo-
matischer Gepflogenheiten vermissen lassen.
Ich möchte daher an dieser Stelle noch einmal einiges
klarstellen. Ungarn war immer ein freiheitsliebendes
Volk, und gerade wir Deutschen haben Ungarn aufgrund
dieser Freiheitsliebe sehr viel zu verdanken. Ich wage
sogar die These zu sagen, dass die deutsche Einheit ohne
das Vertrauen der ungarischen Freunde in die Freiheit
nicht möglich gewesen wäre. Das scheinen einige inzwi-
schen völlig vergessen zu haben; denn genau diesen Un-
garn wird vorgeworfen, sie würden elementare Grund-
werte einer freiheitlichen Gesellschaft missachten. Ich
möchte daher an dieser Stelle noch einmal allen ans Herz
legen, den Weg zu Sachlichkeit und respektvollem Um-
gang zurückzufinden.
Wenn Sie sachlich Kritik anbringen möchten, tun Sie
dies bitte im direkten Dialog mit den ungarischen Kolle-
gen, aber nicht in der unwürdigen Weise, in der dies
zurzeit geschieht. Ja, in Ungarn regiert eine Zweidrittel-
mehrheit. Die Regierungspartei wurde mit einer über-
wältigenden Mehrheit der Bevölkerung gewählt. Dieses
Ergebnis hatte seinen Grund in der katastrophalen Bilanz
der Vorgängerregierungen. Und dieses demokratisch zu-
stande gekommene Ergebnis sollte jeder respektieren.
Im Übrigen sollten alle einmal die Tatsache zur
Kenntnis nehmen, dass den Kritikern im In- und Aus-
land auch heute noch eine Mehrheit von ungarischen
Bürgerinnen und Bürgern gegenübersteht, die die unga-
rische Regierungspolitik befürworten. Ich mahne daher
dringend dazu, diese Menschen nicht vor den Kopf zu
stoßen.
Mit ihrer Zweidrittelmehrheit ist die Regierung Orban
jetzt in der Lage, jahrelang aufgeschobene Reformen an-
zustoßen und dies tut sie auch. Bei der Vielzahl der an-
gestoßenen Reformen haben die Ungarn unbestritten
auch Fehler gemacht. Aber: Erstens. Der Deutsche Bun-
destag hat nicht darüber zu befinden, ob die Gesetze an-
derer Länder gegen höherrangiges Recht verstoßen.
Zweitens. Es ist absolut unangemessen gegenüber
einem befreundeten Land und widerspricht nicht nur
diplomatischen Gepflogenheiten, sondern dem Selbst-
verständnis eines souveränen Staates, ihn „unmissver-
ständlich“ zur Änderung seiner nationalen Gesetze auf-
zufordern.
Drittens. Es scheint an Ihnen offenbar vorbeigegan-
gen zu sein, dass die Regierung Orban sofort, nachdem
die EU-Kommission Kritik an dem Mediengesetz geäu-
ßert hatte, angekündigt hat, das Gesetz entsprechend den
Kritikpunkten zu korrigieren. Darüber hinaus ist doch
gerade das ungarische Mediengesetz das beste Beispiel
dafür, dass das ungarische Verfassungsgefüge durchaus
noch intakt ist.
Ja, ob Sie es glauben oder nicht, verehrte Opposi-
tionskollegen, auch Ungarn hat eine Verfassung. Und
wer sich die Mühe macht, einen Blick in diese Verfas-
sung zu werfen, wird sehen, dass dort ausführlich die
von Ihnen eingeforderten Grundrechte und Grundfrei-
heiten anerkannt werden und festgeschrieben sind, unter
anderem auch die Meinungs- und Pressefreiheit. Auf
dieser Grundlage hat das ungarische Verfassungsgericht
auch bereits wesentliche Teile des Mediengesetzes kas-
siert und damit gezeigt, dass Meinungsfreiheit und Pres-
sefreiheit in Ungarn nach wie vor gelten. Vor diesem
Hintergrund wirkt die Kritik der deutschen Opposition
eher unaufrichtig als besorgt.
Des Weiteren hat mich Ihre Forderung, die EU-Kom-
mission solle als Hüterin der Verträge nach Maßgabe der
EU-Grundrechtecharta die Einhaltung der Pressefreiheit
in der gesamten EU prüfen – nicht nur in Ungarn, son-
dern ausdrücklich auch in Deutschland, Frankreich und
20846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
(D)(B)
Italien –, vorsichtig formuliert, ein wenig erstaunt. Sie
werfen also allen Ernstes auch noch Deutschland, Frank-
reich und Italien die Missachtung europäischer Grund-
werte vor. So allmählich habe ich das Gefühl, wir reden
nicht mehr über europäische Länder, sondern über
Schurkenstaaten. Ich habe jedenfalls von den weißrussi-
schen Zuständen bei uns noch nichts gemerkt. Sollte ich
mich hier irren, wovon ich nicht ausgehe, vertraue ich al-
lerdings vollkommen auf die Funktionsfähigkeit unseres
Rechtsstaates. Ich bin überzeugt, dass in letzter Instanz
unser Bundesverfassungsgericht darauf achtet, dass die
Pressefreiheit in Deutschland auf allen Ebenen respek-
tiert wird.
Außerdem möchte ich auf Folgendes hinweisen: Ich
bin zwar kein Jurist, habe mich aber sachkundig gemacht
und erfahren, dass – so wie Sie es wollen – die EU-Kom-
mission überhaupt nicht dazu berechtigt ist, das ungari-
sche Mediengesetz auf seine Vereinbarkeit mit der EU-
Grundrechtecharta zu überprüfen. Das gilt übrigens auch
für andere nationale Gesetze. Hierzu fehlt der EU und da-
mit auch der Kommission schlichtweg die Zuständigkeit.
Schauen Sie bitte in Art. 51 der Grundrechtecharta. Dort
ist der Anwendungsbereich der Charta beschrieben. Die
EU-Kommission weiß das auch und hat sich daher bisher
auf eine Prüfung der Vereinbarkeit des Mediengesetzes
mit der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste be-
schränkt. Vielleicht sollten Sie, meine sehr verehrten Op-
positionskollegen, einmal überlegen, inwieweit Sie sich
mit Ihren Forderungen im Rahmen des geltenden Rechts
bewegen, bevor Sie andere auf die Anklagebank setzen.
Abschließend noch eine kurze Anmerkung zu der
Forderung über die sogenannte Taskforce Media. Ich
kann die Forderung nicht ganz nachvollziehen, da sie
den Eindruck erweckt, die Taskforce hätte ihre Arbeit
beendet und es sei dringend ein Handeln erforderlich,
was derzeit nicht stattfindet. Nur zu Ihrer Information:
Die Taskforce Media gibt es noch, und sie befasst sich
unter anderem genau mit den von Ihnen genannten
Punkten. Sie fordern also Dinge, die keiner Forderung
bedürfen. Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn Sie
sich künftig etwas genauer mit den Fakten und den Tat-
sachen auseinandersetzen, bevor Sie Anträge in einem
Parlament stellen.
Zusammenfassend muss ich leider feststellen, dass
die bisherigen Anträge, die die Opposition im Deutschen
Bundestag bereits gegen Ungarn eingebracht hat und mit
denen angeblich ein ehrlicher Dialog geführt werden
sollte, bisher alles andere als ehrlich waren.
Es mangelt Ihnen stark am notwendigen Respekt ge-
genüber einem befreundeten europäischen Land und
dessen Menschen. Und es mangelt ihnen leider auch an
Ehrlichkeit und sachlicher Richtigkeit. Ich habe mich ei-
gentlich von Beginn der Debatte über Ungarn an dage-
gen gewehrt, als Anwalt Ungarns aufzutreten. Denn das
können die Ungarn selbst viel besser. Aber die Kampa-
gne, die die deutsche Opposition betreibt, zwingt mich
dazu, öffentlich klarzustellen, dass es auch noch andere
Meinungen in Deutschland gibt und Grüne, SPD und
Linke nicht für ganz Deutschland sprechen. Ich möchte
mich daher an dieser Stelle in aller Form beim ungari-
schen Volk und der ungarischen Regierung für die Kam-
pagne der deutschen Oppositionsfraktionen entschuldi-
gen.
Martin Dörmann (SPD): In den letzten Monaten
haben wir im Zusammenhang mit den Euro-Rettungs-
schirmen so oft über Europa diskutiert wie wohl kaum
jemals zuvor. Von fast allen Fraktionen wurde dabei
nicht nur die wirtschaftliche Bedeutung der Europäi-
schen Union hervorgehoben, sondern auch die gemein-
samen Werte und politischen Zielsetzungen betont. In
der Tat: Die EU ist eine Wertegemeinschaft, die wir stär-
ken und erhalten müssen. Wenn dies aber so ist, dann
müssen wir gemeinsam konsequent dafür eintreten, dass
diese Werte und die darauf bezogenen Normen der Ver-
träge von allen Mitgliedstaaten eingehalten werden.
Bei unserer heutigen Debatte geht es um die Stärkung
der Pressefreiheit und Medienvielfalt in Europa. Die
SPD-Bundestagsfraktion teilt nachdrücklich die ent-
sprechende Zielsetzung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Dabei geht es vordringlich um
das ungarische Mediengesetz, das gerade diese Presse-
freiheit und Medienvielfalt in Ungarn fundamental in
Zweifel zieht. Hierzu hatte die SPD-Bundestagsfraktion
gemeinsam mit den Grünen bereits frühzeitig einen um-
fassenden Bundestagsantrag eingebracht, der leider
auch damals keine Zustimmung bei den Koalitionsfrak-
tionen gefunden hat.
Ich halte es für in keiner Weise nachvollziehbar und
geradezu skandalös, dass insbesondere die Medienpoliti-
ker der Unionsfraktion im Hinblick auf das ungarische
Mediengesetz eine beschwichtigende Haltung einneh-
men, die an den Auswirkungen des Gesetzes völlig vor-
beigeht. So wird ausweislich des Berichts des Ausschus-
ses für Kultur und Medien von der Union vorgetragen,
das oft kritisierte Ausgewogenheitsgebot im ungarischen
Mediengesetz, das der dortige Medienrat zu überwachen
habe, spiele in der Praxis keine Rolle. Bisher sei nur ein
einziger Fall vorgekommen, der sich noch dazu als Kri-
tik an einer zu positiven Berichterstattung über die Re-
gierung entzündet habe. Sämtliche Befürchtungen ent-
behrten demnach einer realen Grundlage. So weit die
Position der Medienpolitiker der Union.
Ich möchte Ihnen gerne ein Zitat von Andreas Weiss,
dem früheren Koordinator Internationales bei der ARD,
entgegenhalten. Der Ausschuss für Kultur und Medien
hatte im Juli letzten Jahres ein öffentliches Expertenge-
spräch zur Gefährdung der internationalen Pressefreiheit
durchgeführt. Dabei ging es auch um die Auswirkungen
des ungarischen Mediengesetzes.
Andreas Weiss hat hierzu ausgeführt: „Es herrscht
dort bereits ein Klima der Einschüchterung. Das bedeu-
tet, unsere Korrespondenten finden immer weniger
Bereitschaft, dass Menschen vor ausländischen Medien
aussagen. Die sonst hilfreichen Kollegen in den Medien
selber unterwerfen sich der Selbstzensur, auch amtliche
Stellen verweigern jetzt zunehmend die Zusammenar-
beit. Früher war das kein Problem, aber jetzt sichern sich
alle nach oben ab, bis auf die Ebene von Ministerpräsi-
dent Orban.“
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20847
(A) (C)
(D)(B)
Und weiter führte Andreas Weiss aus: „Das ist ein-
fach nicht mehr würdig einer normalen demokratischen
Medienverfasstheit. Da kann man von Freiheit nicht
mehr sprechen. Ich finde es sogar äußerst bedrückend,
wenn sich Angst in einem EU-Mitgliedsland so breit
macht, dass man sich nicht mehr traut, sich in die Öffent-
lichkeit zu begeben.“
Andreas Weiss wies darauf hin, dass Deutschland und
die Europäische Union zu der mit dem ungarischen
Mediengesetz einhergehenden möglichen Kontrolle und
Beschränkung der Presse-, Meinungs- und Informations-
freiheit in Ungarn nicht schweigen dürften. Ansonsten
würden sie in Zukunft jegliches Recht verspielen, Miss-
stände außerhalb der Staatengemeinschaft aufzuzeigen
und glaubhaft zu kritisieren.
Genau dies ist das Anliegen der SPD-Fraktion: Wir
wollen, dass es über unsere gemeinsamen Werte Presse-
freiheit und Medienvielfalt eine breite öffentliche
Debatte in Europa gibt, damit die Regierungen der ein-
zelnen EU-Mitgliedsländer sowie die Europäische Kom-
mission konsequenter und nachhaltiger tätig werden als
in der Vergangenheit. Wir sind der Auffassung, dass das
ungarische Mediengesetz gegen Art. 11 der Grund-
rechtecharta verstößt. Die Kommission als Hüterin der
Verträge müsste hier noch entschiedener als bisher vor-
gehen. Insoweit ist es zu bedauern, dass die von der EU-
Kommission in den letzten Tagen angekündigte Klage
gegen Ungarn wegen Verletzung der EU-Verträge vor
dem Europäischen Gerichtshof sich auf andere Vertrags-
verstöße beschränkt und das ungarische Mediengesetz
nicht ebenfalls mit angreift. Umso notwendiger ist die
breite Diskussion hierüber, auch im Bundestag.
Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel benennen, an dem
die subtile Vorgehensweise der ungarischen Regierung
Orban deutlich wird. Wir sollten uns zunächst vor Augen
halten, dass rund 80 Prozent der ungarischen Medien als
regierungsnah einzuschätzen sind. Es gibt nur wenige
kritische Stimmen. Dazu zählt der unabhängige private
Radiosender „Klubradio“, der ein traditionelles Profil als
populärster Talkradiosender in Ungarn hat. Nun wurde
seitens der neuen ungarischen Medienbehörde ein
Anfang dieses Jahres anstehendes Bieterverfahren zur
Neuausschreibung der entsprechenden Frequenzen so
gestaltet, dass der Sender nicht zum Zuge kam, sondern
ein anderer völlig unbekannter Sender. Wie hat man das
angestellt? Nun, ganz einfach: Man hat einfach die Aus-
schreibungsbedingungen so festgelegt, dass sie mit dem
bisherigen Profil des Radiosenders „Klubradio“ nicht in
Einklang zu bringen waren, indem man einen Musik-
anteil von 60 Prozent festgeschrieben hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion,
Sie sollten sich die Frage stellen, ob Sie tatsächlich sol-
chen Praktiken tatenlos zusehen wollen oder mit uns
gemeinsam die europäischen Werte hochhalten.
Es geht hierbei nicht um politische Entscheidungen
des deutschen Parlamentes über innere Angelegenheiten
Ungarns. Es geht um das Verteidigen der gemeinsamen
Werte der Europäischen Union, sei es in Ungarn, Italien,
Frankreich oder Deutschland. Es geht um Pressefreiheit
und Medienvielfalt als Grundlage einer funktionsfähigen
Demokratie. Das ungarische Volk ist der EU ja gerade
aus diesen Gründen beigetreten. Es darf nicht sein, dass
eine konservative ungarische Regierung, die aus anderen
Gründen eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parla-
ment errungen hat, diese zu einer Machtzementierung
missbrauchen darf. Sie hat eine Medienkontrollbehörde
einseitig mit lauter Parteigängern und diese für eine
überlange Amtszeit von neun Jahren eingesetzt, um kri-
tische Stimmen einzuschüchtern und kleinzuhalten.
Lassen Sie uns unsere Stimme für das ungarische
Volk und für eine lebendige Demokratie erheben.
Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Der Wert der
Pressefreiheit für die demokratische Grundordnung kann
kaum überschätzt werden. Entsprechend fand das Bun-
desverfassungsgericht anlässlich seines Spiegel-Urteils
von 1966 deutliche Worte:
Ein freie, nicht von der öffentlichen Gewalt ge-
lenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein
Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbeson-
dere ist eine freie, regelmäßig erscheinende politi-
sche Presse für die moderne Demokratie unentbehr-
lich. ... In der repräsentativen Demokratie steht die
Presse zugleich als ständiges Verbindungs- und
Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen ge-
wählten Vertretern in Parlament und Regierung. Sie
dient der politischen Willensbildung.
Wir Liberale verstehen diesen Leitsatz als Richt-
schnur und auch als Motivation, den Schutz der Presse-
freiheit ernst zu nehmen und auszubauen. So hat die
Koalition auf Initiative der Bundesjustizministerin
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger jüngst das Presse-
freiheitsgesetz verabschiedet und weitet damit den
Schutz investigativ tätiger Journalisten deutlich aus.
Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ge-
nießt weltweit Ansehen und hat Vorbildfunktion. Das
verschafft uns Autorität, die wir nutzen sollten. Gerade
gegenüber unseren ungarischen Freunden, denen wir ih-
ren Mut zur Freiheit 1989 nicht vergessen werden, müs-
sen wir nun Mut zusprechen. Erinnern wir sie an ihren
erfolgreichen Weg hin zum europäischen Wertekanon
und ermutigen wir sie zu mehr Freiheit!
Mit den Ungarn verbindet uns inzwischen längst
mehr als die gemeinsame Geschichte. Uns verbindet die
europäische „Einheit in Vielfalt“. In Europa sind wir als
Wertegemeinschaft vereint. Nicht nur die Verträge, son-
dern insbesondere Art. 11 der EU-Grundrechtecharta
bindet auch die ungarische Regierung, wonach jede
Person das Recht auf freie Meinungsäußerung hat. Ich
zitiere: „Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und
die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behörd-
liche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu
empfangen und weiterzugeben. Die Freiheit der Medien
und ihre Pluralität werden geachtet.“
Gerade weil wir uns mit den Ungarn verbunden füh-
len, müssen wir sie an diese gemeinsamen Werte erin-
nern. Je einstimmiger dieser Aufruf seitens der EU ins-
gesamt erfolgt und je nachdrücklicher die Kommission
die Beachtung einfordert, umso größer ist die Chance,
20848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
(D)(B)
dass die Ungarn aus eigener Überzeugung den Mut zur
Freiheit fassen.
Das ungarische Verfassungsgericht hat bereits we-
sentliche Teile des Mediengesetzes als unrechtmäßig
qualifiziert. Und in der Bevölkerung formiert sich be-
reits bürgerschaftlicher Widerstand wie zum Beispiel die
Bewegung „Eine Million für die Pressefreiheit“. Ich so-
lidarisiere mich ausdrücklich mit diesen Strömungen,
weil sie demokratisch vom Souverän ausgehen: dem
ungarischen Volk. Ich bin überzeugt, dass wir den res-
pektvollen Ton unter Freunden halten und gleichzeitig
die Ungarn zu demokratischen Reformen aufrufen kön-
nen, ohne sie dabei in ihrer Souveränität zu verletzen.
Außenpolitik mit der Brechstange stärkt die falsche Seite
in Ungarn, weil dann die Regierung gegen Einflüsse des
Auslands leicht die Karte der nationalen Solidarität spie-
len könnte.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert in ihrem
Antrag eine unmissverständliche Positionierung der
Bundesregierung. Ich muss den Kolleginnen und Kolle-
gen entgegenhalten, dass die Position der Bundesregie-
rung eindeutig ist. Sowohl der ehemalige Staatsminister
Werner Hoyer als auch sein Nachfolger im Amt, Michael
Link, fanden ebenso angemessene wie deutliche Worte,
als sie die Ungarn an unseren europäischen Wertekanon
erinnerten und Änderungen am Mediengesetz forderten.
Entsprechend hat die Bundesregierung gegenüber der
EU-Kommission ihre Erwartung formuliert, dass die
Einhaltung der Grundrechtecharta gewährleistet wird.
Als erster, wenn auch kleiner Erfolg dieser abge-
stimmten Politik darf die Gesetzesänderung aus dem
Frühjahr gelten, in der zum Beispiel von der Verpflich-
tung der Presse zu einer „ausgewogenen Berichterstat-
tung“ Abstand genommen wurde.
Insofern werden wir den heute zur Abstimmung ste-
henden Antrag ablehnen. Das Anliegen, die Ungarn zu
einer liberalen Mediengesetzgebung zu bewegen, wer-
den wir aber ohne Nachlassen weiterverfolgen.
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Der Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen befasst sich mit einem
Thema, das seit Jahren Unbehagen hervorrufen muss:
Die Aushöhlung der Informationsfreiheit – hier, mitten
in Europa. Als Beispiele nennt der Antrag Ungarn, Ita-
lien und Frankreich. Dazu gehört unbedingt auch der
Abhörskandal in Großbritannien. Dankenswerterweise
wird auch die Einflussnahme deutscher Politiker auf die
Medienpolitik des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in
unserem Land angesprochen. Alle diese Prozesse und
Verfehlungen untergraben in der Tat, wie es in dem
Antrag heißt, den europäischen Wertekanon, also auch
den Wertekanon in den Kernländern der westlichen De-
mokratie. Dieser Kritik, so wie sie in dem Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen benannt wird, kann sich meine
Fraktion anschließen. Deswegen können wir dem Antrag
auch zustimmen.
Was uns fehlt – dies ist für die Fraktion Die Linke ein
generelles Problem –, ist, dass der Begriff der Pressefrei-
heit relativ vage bleibt. Tatsache ist, dass der Prozess der
Medienkonzentration aus wirtschaftlichen Gründen einer
ungehinderten Meinungsäußerung aller Bürgerinnen und
Bürger immer noch sehr enge Grenzen setzt. Oder, nach
den Worten des Publizisten Paul Sethe – ich zitiere –:
„Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen
Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“ Tatsache ist auch,
dass die Meinungs- und Pressefreiheit gerade von den
Mächtigen des Landes zur Stimmungsmache und zur pu-
blizistischen Beeinflussung missbraucht wird.
Sie erinnern sich doch bestimmt an folgende Schlag-
worte: „Die faulen Griechen“, „ALG-II-Empfänger als
Sozialschmarotzer“, „Der Krieg in Afghanistan als huma-
nitäre Intervention“. Das alles ist mediale Irreführung –
im Namen der Pressefreiheit.
Es gibt noch ein weiteres Argument: Der Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen spricht davon, dass durch die
Einflussnahme von Regierungen und Konzernen auf
Journalistinnen und Journalisten die Medien – Zitat –
„ihre Aufgabe als Wachhund nicht mehr effektiv wahr-
nehmen“ können. Der Wachhund ist allerdings von sich
aus schon ziemlich zahnlos geworden, und das nicht nur
wegen der Macht des Geldes der großen Medienhäuser
und nicht nur wegen der Bemühungen vonseiten der
politisch Herrschenden.
Die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit
der Medien wird beschnitten. Manchmal reicht schon
der direkte Griff zum Telefon, wie jüngst erlebt. Die
Zahnlosigkeit hat auch damit zu tun, dass die Demokra-
tie selbst sich nicht mehr hinterfragt und dass dadurch
journalistisches Handeln beeinflusst wird. Gleichzeitig
ist der Berufsstand von Journalistinnen und Journalisten
in der Zwickmühle, Täter und Opfer in einer Person sein
zu müssen.
Senden oder schreiben Journalistinnen und Journalis-
ten entlang der natürlich unausgesprochenen Vorgaben
des herrschenden Meinungsklimas, behalten sie ihren
Job länger und verlieren schneller ihren kritischen Geist.
Senden oder schreiben sie gegen den Strom, kann es
passieren, dass der nachfragende Beitrag ihr letzter beim
alten Arbeitgeber war. Die alternative Ausweichbewe-
gung in den Onlinebereich führt eher zur Annahme eines
handfesten Zweitjobs als zur einträglichen Beschäfti-
gung im erlernten Beruf.
Die Presse- und Medienfreiheit hängt also nicht im
luftleeren Raum. Das gilt auch für die Erweiterung durch
die Netzrealität. Um Digitalisierung und Netzaffinität
wird man in der Mediendebatte nicht mehr herumkom-
men. Das Internet ist unzweifelhaft ein neues integriertes
Gesamtmedium, das traditionelle Inhalte neu verteilt,
aufbereitet und mit bislang undenkbarer Geschwindig-
keit überallhin transportiert.
Nun passiert vonseiten der Politik etwas Seltsames:
Die Vorzüge des Netzes – der ungehinderte Informa-
tionsaustausch, die mitgestaltende Medienproduktion
und Mediennutzung, die verwertungsfreie Kommunika-
tion – werden zu wenig als wesentliche und bewahrens-
werte Güter demokratischer Teilhabe verteidigt. Statt-
dessen unterstützen die politisch Verantwortlichen
Teilinteressen von Unternehmen, Verwertungsgesell-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20849
(A) (C)
(D)(B)
schaften, Presseverlagen und Einzelverbänden, um aus
Rentabilitätsgründen marktgängige Vergütungsformen
durchzusetzen. Dadurch werden die Verteilungskämpfe
für bestmögliche Verkaufspositionen auf dem Feld der
Information nun im Internet fortgeführt. Der Freiheits-
aspekt der Medien, der sich zum ersten Mal in der Ge-
schichte technisch wirklich realisieren lässt, wird hier
nicht in seiner vollen Tragweite ernst genommen.
Die Achtung rechtsstaatlicher Grundsätze, von der in
dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen die Rede ist,
bedarf sicherlich in allen Medienformaten der Verteidi-
gung. Dazu gehört auch eine ethisch verantwortungs-
volle mediale Präsentationsform. Die Linke im Deut-
schen Bundestag streitet für eine Pressefreiheit, die auch
die konkrete ökonomische und inhaltliche Ausgestaltung
im Fokus hat.
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am
3. Mai ist der Internationale Tag der Pressefreiheit. An
diesem Tag werden wir wieder an die Verstöße gegen die
Pressefreiheit erinnert werden. Diese finden leider nicht
nur in diktatorischen Regimen statt, sondern auch in Eu-
ropa. In der Rangliste der Pressefreiheit, die die Organi-
sation Reporter ohne Grenzen zu diesem Tag veröffent-
licht, war Ungarn vergangenes Jahr zu Recht nur auf
Platz 40, Frankreich auf Platz 38, Italien auf Platz 61.
Das zeigt erst einmal: Es gibt einiges zu tun. Ich bin
überzeugt, dass das Hohe Haus das gemeinsame Ziel an-
strebt, die Pressefreiheit in ganz Europa zu verbessern.
Wir wollen in allen europäischen Staaten Champions ha-
ben, die auf Platz 1 erscheinen. Es ist zu hoffen, dass
sich die von uns im vorliegenden Antrag kritisierten
Missstände wenigstens ein Stück weit verbessert haben
und dass sowohl Deutschland als auch Ungarn in der
Rangliste von Reporter ohne Grenzen nächste Woche
weiter oben erscheinen.
Wir Grünen sind der Überzeugung, dass eine freie
Presse ein wesentlicher Bestandteil einer funktionieren-
den Demokratie ist. Sie ist die Grundlage der Meinungs-
findung und Willensbildung. Nach Art. 11 der Grund-
rechtecharte der Europäischen Union ist die Meinungs-
äußerung und Informationsfreiheit zu achten. Wir for-
dern daher gegenüber den Regierungen der Mitgliedstaa-
ten der Europäischen Kommission, dass die Missach-
tung der Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit
innerhalb der Staatengemeinschaft in keiner Weise tole-
riert werden.
Als wir Grünen diesen Antrag vor fast einem Jahr ein-
gebracht haben, ist diese Vorgabe der Grundrechtecharte
der EU jedoch in einigen europäischen Ländern erodiert.
Gerade in Ungarn waren die Zustände besorgniserre-
gend. Die Kollegen aus der Regierungskoalition haben
in den Beratungen des Antrags im Ausschuss behauptet,
dass die strittigen Befugnisse des dortigen Medienrates
in der Praxis keine Rolle spielen. Ich sehe das anders:
Einem kritischen Radiosender wurde zum Beispiel seine
Sendelizenz entzogen. Seit wir unseren Antrag einge-
bracht haben, hat zwar auf Druck der Europäischen
Kommission die ungarische Regierung unter Viktor
Orban das Gesetz partiell abgeschwächt, aber die Ein-
schränkungen der Pressefreiheit sind dort noch immer
massiv: So ist der Medienrat nur mit Parteigängern des
Ministerpräsidenten besetzt und die Vorgabe der „ausge-
wogenen Berichterstattung“ bleibt für Rundfunk und
Fernsehen erhalten. Wer dagegen verstößt, muss mit
Strafzahlungen rechnen. Darunter kann niemand ernst-
haft eine Lösung des Problems verstehen.
Angesichts dessen möchte ich deshalb noch einmal
deutlich betonen, dass das Klima in Ungarn unter den
Journalisten dort häufig ein ängstliches ist. Angst ist
aber eine dramatisch schlechte Voraussetzung für kriti-
sche Berichterstattung, die in einer Demokratie als Kon-
trollfunktion und als vierte Gewalt im Staat elementar
ist. Das ungarische Mediengesetz entspricht zudem
selbst nach der Auffassung des Auswärtigen Amtes nicht
den Standards, die in Europa allgemein gelten müssten.
Gerade wenn in der aktuellen Euro-Debatte immer wie-
der – und das zu Recht – mit der europäischen Wertege-
meinschaft argumentiert wird, dann müssen wir genau-
estens darauf achten, dass diese Werte nicht nur als
Orientierung dienen, sondern auch eingehalten werden.
Leider findet sich Deutschland in der Rangliste von
Reporter ohne Grenzen aber auch nicht unter den
Top 10, sondern erst an Stelle 16. Während der Aus-
schussberatungen wurde kritisiert, dass die Situation in
Deutschland mit Frankreich oder Italien nicht zu verglei-
chen sei. Das ist auch nicht der Fall. Aber in Deutsch-
land herrschen Missstände, die in einer Demokratie an-
gesprochen werden müssen.
Zum einen hat die Exekutive in der Vergangenheit
immer wieder versucht, journalistisches Material zu be-
schlagnahmen – zum Beispiel durch die Polizei bei den
jüngsten Castortransporten – und die Herausgabe von
journalistischen Mobilfunkverbindungsdaten bei der
Strafverfolgung Dritter zu erzwingen. Zum Zweiten sind
Journalisten von der Auswertung ihrer Verbindungsda-
ten durch Polizei und Justiz betroffen. Zum Dritten
macht die Umsetzung des Rechts auf Zugang zu den Ak-
ten öffentlicher Stellen nur langsame Fortschritte. Zum
Vierten bereitet die zunehmend restriktive Akkreditie-
rungspraxis von privaten und halböffentlichen Veranstal-
tern Probleme. Sie schränken die Berichterstattung ein
oder machen die Akkreditierung von einer vorherigen
Überprüfung durch den Verfassungsschutz abhängig.
Der Deutsche Journalisten-Verband kritisiert außer-
dem Versuche seitens der Politik, Einfluss auf Sendun-
gen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu nehmen,
um unliebsame Berichterstattung zu vermeiden. Darüber
hinaus gab es in der Vergangenheit immer wieder Fälle,
in denen Vertreter des Staates bei der Besetzung von
zentralen Positionen bei den öffentlich-rechtlichen Rund-
funkanstalten eingegriffen haben und Aufsichtsgremien
in den öffentlich-rechtlichen Anstalten oft nicht ausrei-
chend staatsfern, sondern mit Ministerpräsidenten oder
anderen Mitgliedern der Exekutive besetzt sind. All
diese Punkte lassen keinen Platz eins zu.
Unsere Regierung ist daher aufgerufen, weitere
Schritte anzustoßen, um die Pressefreiheit in Deutsch-
land und Europa zu verbessern. Deshalb bitten wir um
die Unterstützung unseres Antrags.
20850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zehnten Ge-
setzes zur Änderung des Versicherungsauf-
sichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 17)
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Mit dem heute ein-
gebrachten Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Ände-
rung des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) machen
wir den ersten Schritt zur Realisierung eines der wich-
tigsten EU-Reformvorhaben im Finanzdienstleistungs-
bereich der letzten Jahre: Wir setzen die EU-Richtlinie
über die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs-
und Rückversicherungstätigkeit – besser bekannt unter
dem Namen „Solvency II“ bzw. „Solvabilität II“ – in
nationales Recht um.
Mit Solvency II erfolgt im Versicherungsbereich eine
grundlegende Reform des Versicherungsaufsichtsrechts
in Europa. Insbesondere die Eigenkapital- und Risiko-
managementvorschriften für Versicherer werden voll-
ständig modernisiert. Die Zusammenarbeit der Aufseher
in Aufsichtskollegien und die Aufsicht über Versiche-
rungsgruppen werden verbessert.
Solvency II gehört damit in die Reihe der großen
Finanzmarktreformen wie Basel II und III oder die Er-
richtung des Europäischen Finanzaufsichtssystems.
Auch wenn der Beginn der Arbeiten an Solvency II
lange vor der Krise lag, ist Solvency II inzwischen
wesentlicher Bestandteil der Finanzmarktreformen, die
wir als Konsequenz aus der letzten Krise bereits umge-
setzt haben. Als weitere Beispiele nenne ich hier nur das
Restrukturierungsgesetz, das Leerverkaufsverbot, die
Regeln zu Vergütungen, die Regulierung der Rating-
agenturen, das Anlegerschutz- und Funktionsverbesse-
rungsgesetz oder das Finanzanlagenvermittlergesetz. In
naher Zukunft werden weitere Regulierungsvorhaben,
wie die Regulierung der außerbörslichen Derivate-
märkte, MiFID 2 sowie die Regulierung von Hedge-
fondsmanagern und des Schattenbankenwesen folgen.
Versicherungen haben eine erhebliche volkswirt-
schaftliche Bedeutung. Der europäische Versicherungs-
markt und insbesondere der Versicherungs- und Rück-
versicherungsmarkt in Deutschland haben ein immenses
Volumen. So beträgt der Kapitalanlagebestand der deut-
schen Erst- und Rückversicherer mehr als 1 Billion
Euro. Die Beitragseinnahmen der Lebensversicherung
betrugen im vergangenen Jahr gut 85 Milliarden, die der
Schadens- und Unfallversicherung gut 55 Milliarden
Euro. Hinzu kommen noch Beiträge an die private Kran-
kenversicherung in Höhe von knapp 35 Milliarden Euro.
Fast jeder Bürger ist auch Versicherungsnehmer, sei
es zur Absicherung von Lebensrisiken oder zur Alters-
vorsorge. In Deutschland haben einige der größten Ver-
sicherer der Welt, aber auch viele kleinere Versiche-
rungsunternehmen ihren Sitz. Diese Unternehmen
beschäftigen direkt fast 300 000 Arbeitnehmer. Darüber
hinaus sind über 250 000 selbstständige Versicherungs-
vermittler und -berater in diesem Bereich tätig. Diese
Zahlen verdeutlichen, dass wir in den nächsten Monaten
ein Gesetz mit enormer Bedeutung für jeden Bürger und
für den Standort Deutschland beraten.
Neben seiner finanzpolitischen Bedeutung spielt vor
allen Dingen auch seine sozialpolitische Bedeutung eine
große Rolle, denn es werden insbesondere auch Lebens-
risiken abgedeckt und Altersvorsorgen durch Versiche-
rungen gesichert. Dies ist gerade auch vor dem Hin-
tergrund der demografischen Entwicklung und der
steigenden Lebenserwartung essenziell. Es ist also gut
und richtig, dass wir uns – gerade im Hinblick auf die
vergangenen Finanzkrisen – nun auch mit Regulierungs-
reformen im Versicherungsbereich beschäftigen.
Mit Solvency II erfolgt eine Neuordnung der regula-
torischen Landkarte für europäische Versicherungsunter-
nehmen. Die Umsetzung führt zu einem Paradigmen-
wechsel bei ihren wert- und risikoorientierten
Entscheidungsprozessen. Solvency II ist ein unglaublich
komplexes Regelwerk, über das bereits auf europäischer
Ebene sehr viel diskutiert und verhandelt wurde. Zu Sol-
vency II wurden zahlreiche Auswirkungsstudien erstellt.
Viele Einzelfragen waren und sind noch zu klären.
Das Solvency-II-Projekt ist im Übrigen auch noch
nicht abgeschlossen. Solvency II wird – wie mittler-
weile sehr viele europäische Regulierungsvorhaben –
auf Basis des sogenannten Lamfalussy-Verfahrens um-
gesetzt. Das bedeutet, dass das Europäische Parlament
und der Europäische Rat nur noch eine Rahmenrichtli-
nie verabschieden. Die technischen Fragen und Ausfüh-
rungsdetails werden dann in weiteren Schritten von der
Kommission und der Europäischen Aufsichtsbehörde
EIOPA ausgearbeitet und umgesetzt. Die europäische
Rahmenrichtlinie wurde bereits 2009 verabschiedet;
eine Umsetzung in nationales Recht war bis zum
31. Oktober 2012 vorgesehen. Wesentliche technische
Details sind aber noch immer in der Erarbeitung.
Inhaltlich lässt sich feststellen, dass sich die aufsichts-
rechtlichen Bestimmungen durch Solvency II wesentlich
stärker als zuvor an qualitativen Vorgaben orientieren
werden. Darüber hinaus gewinnen auch die Instrumente,
die im Bankenbereich seit Jahren üblich sind, wie bei-
spielsweise ein professionelles Risikomanagement, an
Bedeutung. Damit sind dann auch Versicherungsunter-
nehmen besser in der Lage, Risiken zu erkennen, zu be-
urteilen und entsprechend zu steuern und zu überwa-
chen. Die Veränderungen durch Solvency II im Bereich
Risikomanagement und beim Kapitalallokationsprozess
der Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen
sind daher wichtig und begrüßenswert.
Selbstverständlich sind wir uns darüber im Klaren,
dass die Umsetzung von Solvency II einen erheblichen
Kraftakt für die Versicherungs- und Rückversicherungs-
branche bedeutet. Wir glauben aber, dass sich dieser Auf-
wand lohnt. Denn die regulatorischen Neuerungen durch
Solvency II dienen vor allen Dingen dem besseren Schutz
von Versicherungsnehmern und Versicherungsnehmerin-
nen sowie Begünstigten. Zudem dient das Regelwerk der
Integration des europäischen Versicherungsmarktes und
einer Verbesserung seiner Wettbewerbsfähigkeit. Auch
werden regulatorische Unterschiede zwischen dem Ban-
ken- und Versicherungsbereich beseitigt. Und ganz wich-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20851
(A) (C)
(D)(B)
tig: Die Umsetzung von Solvency II dient in großem
Maße der Erhöhung der Finanzmarktstabilität.
Wir werden den Gesetzentwurf nun in die Ausschüsse
überweisen und dort bearbeiten. Wie Sie alleine dem
Seitenumfang des Gesetzentwurfs entnehmen können,
wird die Beratung sehr arbeitsintensiv. Es werden sich
im Verlaufe des parlamentarischen Prozesses noch sehr
viele Einzelfragen ergeben. Wir werden daher den inten-
siven Kontakt zur Branche und zu den betroffenen Un-
ternehmen, aber auch zur Opposition suchen und hoffen
hier auf eine konstruktive Zusammenarbeit.
Zwei Aspekte von Solvency II wurden bisher leider
politisch zu wenig beachtet:
Erstens. Die Auswirkungen von Solvency II auf die
Anlagestrategie von Versicherungsunternehmen und da-
mit auf andere Marktteilnehmer in der Finanzwirtschaft.
Hier ist die erhebliche Bedeutung des Versicherungsbe-
reichs für die Bankenfinanzierung zu nennen, aber auch
die Auswirkung auf die Realwirtschaft; hierzu gab es im
Vorfeld zum Beispiel umfangreiche Diskussionen mit
der Immobilienwirtschaft.
Zweitens: die Interdependenzen zwischen dem Sol-
vency-II-Regelwerk und anderen Regulierungsvorha-
ben, wie zum Beispiel Basel III oder CRD IV.
Wohl wissend, dass unser Gestaltungsspielraum auf
nationaler Ebene hierbei sehr gering ist, werden wir
diese Fragen bei der Umsetzung der VAG-Novelle sehr
genau im Auge behalten.
Zusätzlich zu der ohnehin sehr hohen Vielschichtig-
keit des Gesetzentwurfs ergibt sich eine weitere Kom-
plexität: Wie eingangs erwähnt, müssten wir die Sol-
vency-II-Rahmenrichtlinie nach derzeitiger Rechtslage
bis Ende Oktober umgesetzt haben. Allerdings wird sich
der Zeitplan, wie die EU-Kommission heute angekün-
digt hat, weiter verschieben. Hintergrund sind die lau-
fenden Verhandlungen auf EU-Ebene zur Omnibus-II-
Richtlinie, die auch Änderungen an der bereits bestehen-
den Rahmenrichtlinie vorsehen. Natürlich ist es wün-
schenswert, die durch die Omnibus-II-Richtlinie entste-
henden Änderungen noch im laufenden Gesetz-
gebungsverfahren zur zehnten Novelle des VAG aufzu-
nehmen und umzusetzen, um ein nachträgliches, erneu-
tes Aufreißen des Versicherungsaufsichtsgesetzes zu
vermeiden. Ich möchte Sie daher bereits jetzt darauf
vorbereiten, dass möglicherweise sehr viele Änderungs-
anträge gestellt werden und sich der Gesetzgebungspro-
zess insgesamt verzögern wird.
Sie sehen: Die zügige Umsetzung des gesamten Vor-
habens wird eine große Herausforderung darstellen.
Diese Herausforderung können wir nur meistern, wenn
wir alle gemeinsam intensiv daran arbeiten. Wir laden
Sie ein, sich intensiv an den Beratungen zu beteiligen.
Denn so komplex der Sachverhalt und das Regelwerk
auch sein mögen: Ich denke, am Ende wird sich der Auf-
wand lohnen, wenn wir damit eine höhere Stabilität des
Versicherungssektors erreichen.
Manfred Zöllmer (SPD): Wir debattieren heute über
den Entwurf des Zehnten Gesetzes zur Änderung des
Versicherungsaufsichtsgesetzes. Auch dieses Gesetz hat
mit den Folgen der Finanzkrise zu tun. Mit diesem Zehn-
ten Änderungsgesetz wird die Solvency-II-Richtlinie im
deutschen Gesetz verankert. Solvency II ist insgesamt
eines der wichtigsten Projekte im Bereich Finanzdienst-
leistungsaufsicht auf der EU-Ebene. Die heutigen Eigen-
mittelanforderungen für Versicherungsunternehmen sol-
len damit zu einem konsequent risikoorientierten System
weiterentwickelt werden. Die neuen Regelungen sollen
Versicherungsunternehmen vor der Insolvenz bewahren
und zu einer verbesserten Eigenmittelausstattung von
Versicherungsunternehmen führen. Darüber hinaus wird
mit Solvency II eine angemessene Harmonisierung der
Aufsicht in Europa angestrebt.
Dies ist zu begrüßen wie auch das übergeordnete Ziel,
nämlich die Erst- und Rückversicherungsunternehmen in
der Europäischen Union, die bislang vergleichsweise gut
durch die Finanzkrise und die jetzige europäische Staats-
schuldenkrise gekommen sind, auch für die Zukunft kri-
senfest zu machen. Die Kernelemente des Vorhabens
sind die Verbesserung des Schutzes der Versicherungs-
nehmer, die Modernisierung des regulatorischen Rah-
mens, eine vorausschauende, risikobasierte Aufsicht und
die Integration des europäischen Versicherungsmarktes.
Gleichzeitig sollen regulatorische Unterschiede zwi-
schen Banken und Versicherungen verringert werden,
was sinnvoll ist, da die Finanzkrise durchaus gezeigt hat,
dass es zu vergleichbaren Risiken kommen kann, die der
Steuerzahler womöglich auffangen muss.
Die Berechnung der Eigenmittelanforderungen von
Versicherungsunternehmen wird mit dem Gesetz neu
ausgerichtet. Um das Insolvenzrisiko von Versiche-
rungsunternehmen zu minimieren, soll mithilfe einer so-
genannten Drei-Säulen-Strategie den Risiken begegnet
werden. Im Rahmen der ersten Säule wird geregelt, wie
hoch die Eigenmittel der Versicherer künftig sein müs-
sen. In der zweiten Säule werden die Aufsichtsrechte der
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin,
und der europäischen Versicherungsaufsichtsbehörde,
EIOPA, festgelegt. Weiterhin ist geregelt, wie sie ihre in-
nere Organisation, Governance, gestalten müssen. Die
dritte Säule befasst sich mit Marktdisziplin, Transpa-
renz, Veröffentlichungspflichten und dem Meldewesen
gegenüber den Aufsichtsbehörden.
Wie bei jedem umfangreichen Gesetz – dieser Gesetz-
entwurf umfasst fast 350 Seiten – liegen einige Pro-
bleme im Detail. So werden wir uns anschauen müssen,
inwieweit das Gesetz den in Deutschland besonders
wichtigen Bereich der betrieblichen Altersversorgung,
Pensionskassen und Pensionsfonds berührt. Ich denke,
es ist keinem damit geholfen, wenn wir Eigenkapitalvor-
schriften in einer Form ausweiten, die einer etablierten
und erfolgreichen betrieblichen Altersversorgung entge-
genstehen. Im Moment sieht der Gesetzentwurf bei-
spielsweise vor, dass Pensionskassen nicht die Möglich-
keit eröffnet wird, sich per Antrag der Anwendung der
Solvency-II-Rahmenrichtlinie zu unterwerfen. Ausweis-
lich der Gesetzesbegründung dient dies dem Ziel, den
aktuellen Überlegungen auf EU-Ebene, die Solvency-II-
20852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
(D)(B)
Rahmenrichtlinie auf Pensionskassen und Pensionsfonds
zu übertragen, nicht vorgreifen zu wollen. Der Bundesrat
hat in seiner Stellungnahme bereits darauf hingewiesen,
dass eine Eins-zu-eins-Übertragung den Unterschieden
zwischen Versicherern und Einrichtungen der betriebli-
chen Altersversorgung nicht gerecht würde. Wir werden
uns nachdrücklich dafür einsetzen, dass die Einrichtun-
gen der betrieblichen Altersversorgung auch in Zukunft
ihre Aufgaben erfüllen können.
Einen kritischen Blick werden wir auf die Regelun-
gen zur Geschäftsorganisation werfen. Hier scheint es ei-
nige Inkonsistenzen mit anderen europäischen Rechts-
vorschriften zu geben. Sowohl der Bundesrat als auch
die Versicherungsunternehmen haben darauf verwiesen,
dass geprüft werden muss, ob die Anforderungen an die
Einstufung handelsrechtlicher Rückstellungen für Bei-
tragsrückerstattung, RfB, als Eigenmittel weiter konkre-
tisiert werden könnten. Für die deutschen Versicherer ist
es von Bedeutung, in welcher Höhe ihre RfB als Eigen-
mittel, Qualitätsklasse 1, aufsichtsrechtlich anerkannt
werden. Hier scheint das vorliegende Gesetz noch wenig
präzise zu sein.
Der Bundesrat fordert in seiner Stellungnahme unter
anderem, das 2009 in das Versicherungsaufsichtsgesetz
aufgenommene Kreditaufnahmeverbot für Versicherer
wieder zu streichen. Die Aufnahme von Fremdmitteln
solle im engen Rahmen zulässig sein. Die Bundesregie-
rung will den Vorschlag offenbar prüfen. Es gibt Hin-
weise, dass diese Regelung mit dazu beigetragen hat,
dass die deutschen Versicherungsunternehmen relativ
unbeschadet durch die Finanzkrisen der letzten Jahre ge-
kommen sind.
Eine Reihe von weiteren Punkten werden wir sicher-
lich in der kommenden ausführlichen Anhörung erör-
tern. Die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht
soll bis zum 31. Oktober 2012 erfolgen. Offenbar erwägt
die Europäische Kommission, die neuen Anforderungen
an die Versicherungsunternehmen erst zum 1. Januar
2014 in Kraft zu setzen. Wir brauchen ein novelliertes
Versicherungsaufsichtsgesetz und sollten uns die not-
wendige Zeit für ein intensives Beratungsverfahren neh-
men.
Björn Sänger (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf zur Novellierung des Versicherungsaufsichts-
gesetzes wird dieses komplett umgekrempelt.
Das seit 1901 bestehende Versicherungsaufsichts-
gesetz wird mit dem Artikelgesetz siebenteilig geglie-
dert. Es gibt zunächst die Allgemeinen Vorschriften,
dann die Vorschriften über die Erstversicherung und die
Rückversicherung, die Betriebliche Altersvorsorge,
Gruppen von Versicherungsunternehmen, die Aufsicht,
die Straf- und Bußgeldvorschriften und schließlich die
Übergangs- und Schlussbestimmungen.
Der versicherungsaufsichtsrechtliche Neustart wird
durch die europäische Richtlinie 2009/138/EG, genannt
Solvency II, nötig. Diese entschlackt das europäische
Aufsichtsrecht ebenfalls: war die Versicherungsaufsicht
zuvor in 13 Richtlinien geregelt, gibt es nun nur noch
diese eine.
Doch warum war ein solcher Neustart nötig? John
Maynard Keynes sagte schon: „Markets can remain irra-
tional a lot longer than you can remain solvent“. Zwar
verlief die Finanzmarktkrise für die europäischen Versi-
cherungskonzerne recht glimpflich, doch hat man am
Beispiel des US-amerikanischen Unternehmens AIG ge-
sehen, welches Szeanrio droht, sollte es Turbulenzen im
Versicherungssektor geben.
War zuvor die tatsächliche Risikoexposition der Ver-
sicherer nur unzureichend berücksichtigt, gibt es nun mit
Solvency II einen ökonomischen und risikobasierten
Ansatz, in dessen Zentrum die eigenständige Ermittlung
und Beherrschung der Unternehmensrisiken durch die
Versicherer stehen. Die Aufsicht beruht dabei auf drei
Säulen: Die erste Säule normiert die quantitativen Eigen-
mittelanforderungen im Hinblick auf die Bezugsgrößen
Zielsolvenzkapital und Mindestkapital. In der zweiten
Säule geht es um das Governanceregime in den Versi-
cherungsunternehmen, und die dritte Säule erlegt den
Unternehmen umfangreiche Berichtspflichten gegenüber
den Aufsehern und der Öffentlichkeit auf.
Zudem sieht die im Lamfalussy-Verfahren verab-
schiedete Rahmenrichtlinie Solvency II eine Gruppen-
aufsicht für komplexe Unternehmensverpflichtungen,
die im Versicherungssektor häufig zu finden sind, vor
und beschränkt sich bei der Betrachtung nicht nur auf
EU bzw. EWR, sondern ermöglicht auch die Einbezie-
hung von Drittstaaten.
Ebenso wie diese Vollharmonisierung des Aufsichts-
rechts einen Meilenstein darstellt, ist sie auch hochkom-
plex und stellt besonders kleine und mittlere Versiche-
rungsunternehmen vor erhebliche Probleme durch etwa
die aufwendigen Eigenmittelkalkulationen. Das Propor-
tionalitätsprinzip muss daher stets Beachtung finden.
Die Eigenmittelregelungen beeinflussen das Investi-
tionsverhalten der Versicherungsunternehmen erheblich
und verändern damit auch die Rahmenbedingungen für
die Anbieter von Finanzprodukten als potenziellen
Investitionen. Die Anrechnungsfähigkeit und Klassi-
fizierung der Eigenmittelbestandteile hat enorme Aus-
wirkungen auf die Anlagepolitik.
So gibt es etwa enorm hohe Kapitalanforderungen für
Immobilieninvestments, die pauschal privilegierten EU-
Staatsanleihen gegenüberstehen. Da muss man sich dann
fragen, ob das ganze Solvency-II-Projekt tatsächlich
dem eigenen Anspruch an eine risikoangemessene und
verhältnismäßige Regulierung gerecht werden kann.
Wie schon in unserem Antrag aus dem Sommer ver-
gangenen Jahres formuliert, sollte darauf ein besonderes
Augenmerk bei den weiteren Verhandlungen zur konkre-
ten Ausgestaltung des Regelungsrahmens liegen.
Außerdem muss es beim Übergang in eine komplett
neue Versicherungsaufsichtswelt praktikable Übergangs-
fristen geben. Dies erscheint inzwischen sogar der EU-
Kommission fraglich, weshalb sie das Scharfschalten
der neuen Regelungen gestern um mindestens ein halbes
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20853
(A) (C)
(D)(B)
Jahr verschoben hat. So wichtig diese Regelungen sind,
so wichtig ist es auch, nichts mit heißer Nadel zu stri-
cken und so nicht nur die Versicherer gegebenenfalls in
die Bredouille zu bringen, sondern es kann auch die
ganze Finanzindustrie durch unausgereifte Investment-
vorschriften unangemessen betroffen werden.
Die schon jetzt vorhandene Komplexität wird durch
die Erlassung von korrespondierenden Level-2- und
Level-3-Rechtsakten weiter erhöht.
Wir werden daher bei der Umsetzung von Solvency II
ins deutsche Versicherungsaufsichtsrecht sehr genau
hinschauen müssen, welche Auswirkungen die notwen-
digen Maßnahmen haben, um nicht ein unnötiges Büro-
kratiemonster zu schaffen oder die Finanzierung ganzer
Branchen abzuwürgen.
Harald Koch (DIE LINKE): Wir beraten heute einen
Gesetzentwurf zur Änderung des Versicherungsauf-
sichtsgesetzes, dessen Inhalte uns – ähnlich wie bei
Basel III – schon monate-, ja sogar jahrelang beschäfti-
gen. Die Rede ist von der Umsetzung der EU-Richtlinie
zu Solvency II. Damit soll künftig verhindert werden,
dass Versicherer pleitegehen und Verpflichtungen gegen-
über Kunden und Geschädigten nicht mehr erfüllen kön-
nen.
Dies bringt einiges an Neuem für die Versicherungs-
unternehmen mit sich. In der Tat handelt es sich um ein
ambitioniertes und hochkomplexes Projekt.
Im Kern geht es in der Neuregelung darum, dass die
Versicherer zumeist mehr Eigenkapital unterlegen müs-
sen. Dem liegt nun eine „ganzheitliche Risikobetrach-
tung“, ein neues Risikomanagement zugrunde. Die
Eigenkapitalanforderungen sollen sich an den tatsächlich
eingegangenen Risiken in der Kapitalanlage orientieren
und nicht mehr am Prämienvolumen. Je höher das ermit-
telte Risiko, desto mehr Eigenmittel müssen zukünftig
zur Unterlegung dieses Risikos bereit stehen.
Es werden des Weiteren neue Bewertungsvorschriften
aufgestellt. Und das Aufsichtsrecht im europäischen
Binnenmarkt soll einheitlichen Regelungen folgen.
Die Linke unterstützt es, dass in dem neuen System
nicht nur reine Versicherungsrisiken, wie noch unter Sol-
vency I, berücksichtigt werden. Die Versicherer sollen
zukünftig auch für Markt-, Kredit- und sonstige betrieb-
liche Risiken Kapital vorhalten müssen. Wenigstens hier
werden ökonomische Scheuklappen ein klein wenig
abgelegt und ein realistischerer, weil umfassender Blick
auf die Risiken am Kapitalmarkt an den Tag gelegt.
Die hohen Anforderungen des Solvency-Projekts – zum
Beispiel bei der Eigenmittelausstattung – sind auch drin-
gend notwendig, um Risiken zu vermindern. Eine ge-
sunde Eigenkapitalanforderung kann zum Teil verhin-
dern, dass sich Versicherer „verheben“, immer mehr
Kapital in die Finanzmärkte pumpen und in der Hatz
nach Rendite spekulativ über die Stränge schlagen. Ob
bei Banken oder Versicherungen lehnen wir es ab, dass
die Steuerzahlenden dann die Retter für zu groß gewor-
dene und sich um Kopf und Kragen gezockte Unterneh-
men spielen müssen. In diesem Zusammenhang ist auch
ein weitreichendes Kreditaufnahmeverbot für Versiche-
rungsunternehmen nötig, das zuletzt immer weiter auf-
geweicht wurde. Der Kontokorrentkredit beispielsweise
ist jedoch von diesem Verbot auszunehmen.
Hingegen erscheint die Komplexität von Solvency II
für kleine Versicherer teilweise wirklich problematisch.
Hier sollte man nachdenken, ob auf diese Versicherer
alle geplanten Regelungen uneingeschränkt Anwendung
finden sollen. Einen ähnlichen Fall stellt die Übertra-
gung von Basel III auf Sparkassen und Genossenschafts-
banken dar. Kleine Institute arbeiten oft sehr kundennah
und verbraucherorientiert und sind nicht unbedingt sys-
temrelevant oder Großzocker auf den Finanzmärkten.
Auch bei den Eigenkapitalanforderungen muss man
aufpassen, dass kleine Versicherer durch überhöhte An-
forderungen nicht vom Markt gedrängt werden. Denn
Die Linke ist gegen eine verbraucherfeindliche Monopo-
lisierung des Versicherungsmarktes, aber für eine um-
sichtige und durchgreifende Regulierung!
Nach großem Gejammere und saftigem Selbstmitleid
hat die wirkmächtige Versicherungslobby schließlich
dafür gesorgt, die Kapitalregeln für alle aufzulockern.
Sie boxte eine Reihe von Anpassungen durch, um erfor-
derliche Rückstellungen der Versicherer zu senken.
Zwei Dämpfungsfaktoren wurden daher noch kurz-
fristig eingepflanzt: der antizyklische Zuschlag, Coun-
tercyclical Premium, sowie der symmetrische Anpas-
sungsfaktor, Matching Premium. Niemand analysierte
im Vorfeld, welche Auswirkungen diese Veränderungen
an Solvency II haben. Das ist doch blauäugig!
Der antizyklische Zuschlag zum Beispiel verringert in
schlechten Zeiten versicherungstechnische Rückstellun-
gen, ohne in guten Zeiten Reserven aufzubauen. Sol-
vency II bevorzugt so in hohem Maße pauschal alle
OECD-Staatsanleihen bei der Eigenkapitalunterlegung.
Weil es sich oftmals um langfristige Anlagen handelt,
sollen die Versicherer nicht mehr ganz so hohe Rückstel-
lungen leisten müssen.
Begründet wird dies damit, dass der Wertverfall von
Staatsanleihen und Schwankungen auf dem Finanzmarkt
so für Versicherer und deren Bilanz gemildert werden
sollen. Dabei wird zum einen das durchaus vorhandene
Risiko von Staatsanleihen ausgeblendet. Wollen Sie uns
etwa weißmachen, dass eine Anlage in griechische
Staatsanleihen risikolos ist? Zum anderen können Versi-
cherer dadurch wieder riskanter anlegen und drauflos-
zocken.
Ebenso muss man erwähnen, dass die festgelegten
Anlagegrundsätze viel zu dehnbar sind. Nach § 115
Abs. 1 Nr. 6 VAG neu sollen auf „vorsichtigem Niveau“
sogar Finanzinstrumente erlaubt sein, die nicht auf
einem geregelten Finanzmarkt zugelassen sind.
Die Bundesregierung tut also wieder mal so, als ob
es nie eine Finanzkrise gegeben hätte. Sie hofieren zum
x-ten Mal Ihre Lobbygruppen und setzen die Versicher-
ten höheren Risiken aus. Die Linke streitet dagegen für
den Schutz der versicherten Menschen!
20854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
(D)(B)
Ein grundlegendes Defizit fällt obendrein ins Auge:
Für Basel III bei den Banken und Solvency II bei den
Versicherungsunternehmen liegt kein einheitlicher Re-
gulierungsansatz zugrunde. Kapitalanforderungen für
die jeweils gleiche Anlage unterscheiden sich in den
beiden Regelungssystemen teils enorm. Hier hätte sich
besser abgestimmt werden müssen, damit nachvollzieh-
barere und sinnigere Ergebnisse erzielt werden. Der
Blick muss sich doch darauf richten, welche Risiken von
Banken und welche Risiken von Versicherungen samt
ihrer jeweiligen Branchengruppen besser geschultert
werden können.
Über die Frage, in welcher Form Solvency-II-Rege-
lungen auf Einrichtungen der betrieblichen Altersvor-
sorge anwendbar sein sollten, haben wir im Plenum
bereits an diesem Abend debattiert.
Wie so oft waren Verbraucherschützer und Gewerk-
schaften in den ganzen Gesetzgebungsprozess völlig
unzureichend eingebunden. Wenn es eine konsequente
Linie in der Regierungspolitik gibt, dann die: Schutz der
Steuerzahler, Verbraucherschutz sowie stabile und
durchgreifend regulierte Finanzmärkte spielen eine
nebensächliche Rolle!
Viele Versicherer beklagen in der ewig gleichen Leier
die unberechenbaren kurzfristigen Marktausschläge, die
ihre Bewertungen erschweren. Darauf kann man doch
nur eine klare Antwort geben:
Die Finanzmärkte dürfen nicht länger der uferlosen
Spekulation ausgesetzt sein, die zu übertriebenen
Schwankungen führt. Daher sind sie umfassend zu regu-
lieren. So können schließlich auch Versicherer wieder
solider wirtschaften. Dies wäre hoch effektives Risiko-
management!
Versicherte müssen auf den Schutz ihrer Ansprüche
und die versprochenen Leistungen vertrauen können.
Deshalb steht Die Linke ebenfalls für eine strikte, aber
umsichtige Regulierung des Versicherungssektors und
kämpft für die Interessen der Verbraucher!
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Solvency II ist für die Versicherungswirtschaft ein regu-
latorischer Meilenstein, fast vergleichbar mit der großen
Deregulierung 1994. Stand heute gibt es aber einige
Zweifel an dieser Neuordnung.
Solvency II wird die im Bankenbereich bereits übli-
chen mathematischen Verfahren zur Eigenkapitalermitt-
lung auch auf Versicherer übertragen. Versicherern wird
wie Banken dabei die Möglichkeit gegeben, mittels in-
terner Modelle selbstständig die Höhe des von ihnen
vorzuhaltenden Eigenkapitals zu berechnen. Dabei gilt
das Eigenkapital eines Instituts dann als ausreichend,
wenn das mathematische Modell eine Wahrscheinlich-
keit von 99,5 Prozent anzeigt, dass das Institut innerhalb
eines Jahres nicht insolvent wird.
Offen bleiben dabei, entgegen allen Bekenntnissen
der Bundesregierung, jegliche Aspekte makropruden-
zieller Regulierung. 99,5 Prozent Wahrscheinlichkeit,
nicht insolvent zu werden, heißt, die Güte des Modells
vorausgesetzt, dass die Versicherung alle 200 Jahre in-
solvent wird. Was passiert aber, wenn alle Versicherer
ähnliche Modelle nutzen? Was, wenn die Modelle unge-
nau sind oder die Zukunft anders ist, als durch das Mo-
dell eingeschätzt?
Außerdem stellt sich die Frage, ob der Einjahreshori-
zont bei der Kapitalermittlung angemessen ist. Versiche-
rungen haben ein sehr langfristiges Geschäftsmodell.
Lebensversicherer legen die Mittel ihrer Kunden oft bis
zu 50 Jahre an. Ist es dann sinnvoll, dass sie ihr Eigenka-
pital so bestimmen müssen, dass es die Insolvenzwahr-
scheinlichkeit in einem Jahr minimiert? Fördert das nicht
eine sehr kurzfristige Perspektive?
Ein weiteres Problem ergibt sich durch die Prozykli-
zität der Regulierung. 2006, bei der Umsetzung von Ba-
sel II, habe ich hier im Plenum nach den problemati-
schen prozyklischen Wirkungen von Basel II gefragt.
Das Problem wurde von der damaligen Bundesregierung
als völlig irrelevant dargestellt. Nun, eine Finanzkrise
später, sind sich alle einig, dass man Basel II reformieren
muss, gerade auch um die prozyklischen Wirkungen ein-
zudämmen. Nun stehen wir bei Solvency II an einem
Punkt, der mit der Einführung von Basel II 2006 ver-
gleichbar ist. Und wieder frage ich: Wirkt diese Regulie-
rung nicht prozyklisch?
Da mit Solvency ähnliche Erfordernisse an Versiche-
rungen gestellt werden wie an Banken, werden die nun
zukünftig paralleler agieren als vorher: Das heißt, beide
bekommen gleichzeitig aufsichtsrechtliche Anreize oder
Hemmnisse für die Investition in bestimmte Anlagefor-
men. Bislang haben die unterschiedlichen Aufsichtsan-
forderungen Versicherern die Möglichkeit gegeben, bei
Panikverkäufen von Banken als Käufer aufzutreten –
was allzu starke Kursabstürze abfedern kann. Wenn alle
Investoren aber ihr Kapital nach den gleichen Modellen
steuern, werden die Ausschläge am Markt größer. Unter-
schiedliche Verhaltensweisen im Markt hingegen ma-
chen das System stabiler. Solvency II tut seinen Teil für
eine gleiche Ausrichtung von Banken- und Versiche-
rungsindustrie.
Wie in Basel II gibt es neben der Möglichkeit, interne
Modelle zu entwickeln, auch ein Standardverfahren für
kleine Versicherer. Und wie viel Eigenkapital muss ein
Versicherer in diesem Modell für Staatsanleihen vorhal-
ten? Richtig: nichts. Und warum wird Solvency II über-
haupt eingeführt, wenn Versicherer doch bisher so we-
nige Probleme hatten? Richtig: weil Solvency II die
Risiken besser einschätzen soll. Wie kann man von einer
risikobasierten Eigenkapitalunterlegung sprechen, wenn
ein Akteur bestimmte Geschäfte tätigen und Geld he-
rausgeben darf, ohne dass er dafür einen Cent eigenes
Kapital vorhält? In einem solchen System ist der Begriff
„risikobasierte Kapitalunterlegung“ nichts als ein Eu-
phemismus dafür, dass faktisch weniger Kapital verlangt
wird!
Auch bleibt die Frage, welche Konsequenzen Sol-
vency II auf die aktuellen Marktstrukturen hat. Regulie-
rung führt generell zu Konzentrationstendenzen. Der
deutsche Versicherungsmarkt ist aber traditionell sehr
kleinteilig strukturiert. Es gibt viele kleine Anbieter,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20855
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manche davon arbeiten ehrenamtlich, die nun mit kom-
plizierten Anforderungen und Meldepflichten konfron-
tiert werden. Die Idee ist, dass, wenn Versicherer alle
ihre Risiken und Engagements melden und überwachen,
sie dann bestimmt auch mit weniger Eigenkapital aus-
kommen. Erstens hat sich diese Annahme schon im Ban-
kenbereich als Trugschluss erwiesen, und zweitens
könnte sie in der Versicherungsbranche zum Verschwin-
den von kleinen Akteuren führen, die sich etwas mehr
Eigenkapital zwar leisten könnten, aber nicht zwei neue
Vollzeitstellen zur Bearbeitung aufsichtsrechtlicher
Formulare. Insbesondere bei der Frequenz und dem
Detaillierungsgrad muss es Erleichterungen für solche
Versicherer geben, die ein weniger komplexes Ge-
schäftsmodell betreiben. Ich spreche dabei bewusst nicht
von „kleinen Versicherern“, sondern von weniger kom-
plexen Geschäftsmodellen. Wenn ein Versicherer ein
komplexes Geschäftsmodell wie zum Beispiel die Le-
bensversicherung anbietet, bei der Sterbetafeln kalkuliert
werden und Kapital lange angelegt werden muss, dann
braucht er auch die Expertise dafür, und der Aufseher hat
das Recht und die Pflicht, sich diese dokumentieren zu
lassen. Aber gerade die vielen kleinen Sachversicherer
mit langjähriger Erfahrung und teilweise oft in genos-
senschaftlicher Struktur haben sich bislang als stabilisie-
rend für den deutschen Versicherungsmarkt erwiesen.
Eine durch Regulierung veranlasste Marktbereinigung
würde vielleicht die Marktanteile zugunsten mancher
großer Versicherungen verschieben, für die Stabilität des
Finanzsystems wäre sie aber sich nicht von Vorteil.
Versicherer sind bisher dank einer strengen Regulie-
rung und der konservativen Regulierung nicht in Pro-
bleme geraten. Die Begrenzung auf bestimmte Anlage-
formen soll nun aufgehoben werden – mit ungewissen
Konsequenzen. Basel II hat mit der Eigenkapitalermitt-
lung durch mathematische Modelle dazu geführt, dass
Banken heute faktisch deutlich weniger Eigenkapital ha-
ben als noch vor zehn Jahren. Mit Solvency II könnte
sich dieser Prozess nun bei Versicherungen wiederholen.
Das wäre falsch.
Was heißt das konkret für den vorliegenden Gesetz-
entwurf?
Das Projekt Solvency II hat eine lange Vorlaufzeit.
Der Beginn des Projekts datiert von vor der Finanzkrise.
Und immer wieder haben Experten gewarnt. So empfahl
der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschafts-
ministerium 2009, von Solvency II „vorerst abzusehen
und darauf hinzuwirken, dass die europäische Be-
schlussfassung zu diesem Thema aufgrund der Erfahrun-
gen mit den systemischen Wirkungen der Eigenkapital-
regulierung in der Finanzkrise neu durchdacht wird“.
Inzwischen liegen die europäischen Regelungen vor.
Wir müssen sie umsetzen und haben dabei als deutscher
Gesetzgeber nur wenige Entscheidungsspielräume.
Deshalb wird nun für meine Fraktion die Frage im
Vordergrund stehen, was wir in der parlamentarischen
Umsetzung in Deutschland tun können, um absehbare
problematische Auswirkungen zumindest zu dämpfen.
Außerdem muss es darum gehen, für die europäische
Ebene eine Diskussion anzustoßen, damit mögliche
Fehlentwicklungen frühzeitig adressiert werden.
Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Mit dem heute ein-
gebrachten Gesetzentwurf leistet die Bundesregierung
einen wichtigen Beitrag sowohl zur Stärkung der Versi-
cherungswirtschaft, als auch zur Verbesserung des Anle-
gerschutzes in unserem Land. Der Versicherungsstandort
Deutschland wird durch eine Modernisierung des
Aufsichts- und Regulierungsrahmens gestärkt. Der
Gesetzentwurf dient der Umsetzung einer Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates in deutsches
Recht und normiert die Aufnahme und Ausübung der
Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit.
Die Arbeiten an dem als „Solvency II“ bekannten
Projekt begannen bereits vor mehreren Jahren. Gleich-
wohl hat die Finanzmarktkrise die Entwicklung von
Solvency II nachdrücklich mitbestimmt.
Solvency II weist in seiner Struktur Parallelen zur Ban-
kenregulierung im Rahmen von Basel II bzw. Basel III
auf. Die erste Säule betrifft die quantitative Neuregelung
der Eigenkapitalunterlegung, die von den Prämieneinnah-
men entkoppelt wird und stattdessen alle Risiken abdeckt.
Bei der zweiten Säule geht es um die behördliche Aufsicht
und die Vorschriften für das Risikomanagement der Versi-
cherer. Die dritte Säule umfasst die Publizitätsvorschriften
zur Erhöhung der Marktdisziplin und Transparenz.
Ziel der Regelungen ist, das Risiko der Insolvenz ei-
nes Versicherungsuntemehmens auch künftig so gering
wie möglich zu halten. Gleichzeitig dient die Richtlinie
der Harmonisierung des Aufsichtsrechts im europäi-
schen Binnenmarkt.
Viele bisher an das Versicherungsaufsichtsgesetz oder
an die zu dessen Durchführung erlassenen Verordnungen
adressierte Fragen werden künftig auf europäischer
Ebene entschieden werden. Viele bisher nationale Rege-
lungen müssen aufgehoben oder geändert werden. Es
bleibt jedoch weiterhin Spielraum für den nationalen Ge-
setzgeber. Das bestehende Recht wird dort geändert, wo
es durch die Richtlinie zwingend vorgegeben ist. Im
Übrigen soll es unverändert bleiben. Außerdem soll in
besonders wichtigen Bereichen, wie zum Beispiel der
Lebensversicherung, der Schutz der Versicherten aus-
gebaut werden.
Schließlich berücksichtigt der Entwurf auch das Ur-
teil des Europäischen Gerichtshofs vom 1. März 2011,
das mit Wirkung vom 21. Dezember 2012 das Verbot für
die Versicherungsuntemehmen beinhaltet, für Frauen
und Männer unterschiedliche Prämien zu verlangen. Im
Gesetzentwurf werden die zwingenden Vorgaben des
Gerichts umgesetzt.
Bei manchen Betroffenen gibt es noch eine gewisse
Skepsis gegenüber Solvency II. Diese richtet sich insbe-
sondere gegen die Komplexität des Regelwerks und die
befürchteten Auswirkungen auf lang laufende Lebens-
versicherungsverträge.
Lassen Sie mich noch einmal klarstellen: Für uns
steht seit Beginn des Solvency-II-Projekts fest, dass Sol-
20856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
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vency II nicht zu einer Marktbereinigung führen darf,
sondern wettbewerbsneutral sein muss. Die große Viel-
falt und der starke Wettbewerb im deutschen Versiche-
rungsmarkt haben sich bewährt und sollen weiter fort-
bestehen. Im Koalitionsvertrag haben wir es bereits
formuliert: „Solvency II als eines der wichtigen europäi-
schen Projekte im Bereich der Finanzdienstleistungs-
Wirtschaft ist so umzusetzen, dass der deutsche Versi-
cherungsmarkt gestärkt wird.“ Ich denke, das ist mit dem
vorlegenden Entwurf gelungen.
Der Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang
Schäuble, hat zusammen mit seiner damaligen französi-
schen Amtskollegin Christine Lagarde eine Verein-
fachungsinitiative zur Verringerung der Komplexität von
Solvency II erfolgreich imitiert. Ich darf Ihnen versi-
chern, dass die Bundesregierung das Thema Vereinfa-
chung im Rahmen dieses Projekts auch weiterhin verfol-
gen wird.
Im Bereich der Lebensversicherungen bleibt der
Bundesregierung wichtig, dass dauerhafte Garantien
finanzierbar bleiben müssen. Wir dürfen den Blick daher
nicht vor dem langfristig größten Risiko einer dauerhaf-
ten Niedrigzinsphase für die Versicherer verschließen.
Eine Niedrigzinsphase würde die Erträge und die Erfüll-
barkeit von vertraglichen Garantien erheblich belasten
und hätte jahrelange Nachwirkungen. Insbesondere die
Lebensversicherer, deren Portfolien unter Druck geraten
könnten, wären stark betroffen. Dies gilt umso mehr
angesichts des demografischen Wandels und der steigen-
den Lebenserwartung der Versicherungsnehmer.
Die Solvency-II-Rahmenrichtlinie ist am 17. Dezem-
ber 2009 im Amtsblatt der Europäischen Union veröf-
fentlicht worden. Der Rechtsrahmen dieses Projekts
muss nunmehr von den Mitgliedstaaten in nationales
Recht umgesetzt werden. Noch sieht die Solvency-II-
Richtlinie den 31. Oktober 2012 als Umsetzungsdatum
vor.
Gleichzeitig wird auf europäischer Ebene bereits die
Diskussion über eine Anpassung der Solvency-II-Richt-
linie an die neue EU-Aufsichtsstruktur geführt. Die so-
genannte Omnibus-II-Richtlinie beinhaltet zudem auch
Übergangsregelungen und eine Verschiebung des Um-
setzungsdatums. Diskutiert wird als neuer Umsetzungs-
termin ein Datum in 2013 und für eine Anwendung
durch die Versicherungswirtschaft ab 2014.
Wir setzen uns für eine zeitnahe Klärung ein, um
Rechtssicherheit für die nationale Umsetzung zu erlan-
gen. Der avisierte Zeitplan für die Befassung des
Bundestags wird entsprechend angepasst, um auch die
Vorgaben der Omnibus-II-Richtlinie im laufenden Ge-
setzgebungsverfahren berücksichtigen zu können.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Bildung für nachhaltige Entwicklung dauer-
haft sichern – Folgeaktivitäten zur UN-
Dekade „Bildung für nachhaltige Entwick-
lung“ ermöglichen
– Bildung für nachhaltige Entwicklung ermög-
lichen – Gleiche Bildungsteilhabe sichern
(Tagesordnungspunkt 18 a und b)
Anette Hübinger (CDU/CSU): Mit der heutigen De-
batte treten wir über Fraktionsgrenzen hinweg für ein
wichtiges Thema ein. Mit dem Konzept der UNESCO
„Bildung für nachhaltige Entwicklung“ und unserem un-
terstützenden Antrag wollen wir die Zukunft unseres
Landes, sogar der ganzen Welt prägen. Das sind ohne
Zweifel große Worte und große Erwartungen. Wer sich
aber keine hohen Ziele steckt, kann diese erst gar nicht
erreichen.
Warum ist dieses Thema so wichtig? In einem Satz
zusammengefasst: Es ist sowohl ein zentrales Gegen-
warts- als auch Zukunftsthema und betrifft Entwick-
lungs- und Schwellenländer genauso wie alle Industrie-
länder, also auch uns.
Wirtschafts- und Schuldenkrisen führen uns genauso
wie alle ökologischen Herausforderungen immer wieder
vor Augen, dass das Streben nach immer mehr Wachs-
tum an seine Grenzen stößt. Es wird und soll Wachstum
bzw. Entwicklung weiterhin geben, aber im Sinne einer
nachhaltigen Entwicklung. Dazu brauchen wir einen Be-
wusstseinswandel bei allen Menschen rund um den Glo-
bus. Das ist gewaltige Herausforderung, der wir uns in
Kooperation mit unseren internationalen Partnern stel-
len.
Eine solche Entwicklung werden wir allerdings nicht
mit einem Ansatz, der von oben verordnet wurde, ansto-
ßen und umsetzen können. Denn die Menschen müssen
diesen Bewusstseinswandel in unsere Gesellschaften tra-
gen, und dazu müssen wir jedes Individuum befähigen.
Deshalb wurde die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige
Entwicklung“ ins Leben gerufen.
Es war vor acht Jahren ein richtiges und wichtiges Si-
gnal, dass die deutsche Umsetzung der UN-Dekade auf
der Grundlage eines einstimmigen Bundestagsbeschlusses
auf den Weg gebracht wurde. Die bisherigen Erfolge zei-
gen, dass wir in Deutschland auf dem richtigen Weg
sind, dieses innovative Lehr- und Lernmodell in allen
Bildungsbereichen – vom Kindergarten bis zur Erwach-
senenbildung – zu verankern.
Die deutsche Umsetzung gilt im internationalen Ver-
gleich als vorbildlich bzw. modellhaft. Ein Grund dafür
ist, dass viele Akteure hinter dem Konzept stehen. Ein
besonderes Lob möchte ich an die Deutsche UNESCO-
Kommission richten, die die vielfältigen Maßnahmen in
Deutschland koordiniert.
Auf den bisherigen Erfolgen können wir uns aller-
dings nicht ausruhen. Dieses Thema wird auch in den
kommenden Jahrzehnten weltweit höchst relevant sein,
weil wir die großen Herausforderungen, zum Beispiel
Klimawandel, Energieeffizienz, Gleichstellungs- und
Teilhabeaspekte, nur dann bewältigen, wenn die Bürge-
rinnen und Bürger ihre Rolle bei der Problemlösung ver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20857
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stehen und annehmen. Für die deutschlandweite Umset-
zung der UN-Dekade heißt das, bestehende Defizite
abzubauen und „Bildung für nachhaltige Entwicklung“
weiter so energisch wie bisher voranzutreiben. Dazu
sind wir gewillt, und der vorliegende Antrag unterstützt
diese Bemühungen.
Etwas anders stellt sich die weltweite Umsetzung dar.
Bei allem Lob für die deutschen Bemühungen dürfen wir
nicht vergessen, dass bei der internationalen Veranke-
rung ein gewaltiges Nord-Süd-Gefälle klafft. Viele Re-
gionen dieser Welt sind nicht im Ansatz so weit wie wir.
Deshalb muss es gerade vonseiten der internationalen
Staatengemeinschaft weitere Anstrengungen auch nach
Ablauf der UN-Dekade im Jahr 2014 geben.
Die ersten Anzeichen in diese Richtung sind ermuti-
gend. So hat die Generalkonferenz der UNESCO im No-
vember 2011 eine Resolution verabschiedet, wonach
Optionen für die Umwandlung der UN-Dekade „Bildung
für nachhaltige Entwicklung“ in einen institutionalisier-
ten Prozess entwickelt werden sollen. Dies ist dringend
erforderlich, damit das Thema in allen Regionen der
Welt Fahrt aufnimmt. Hier ist auch deutsches Engage-
ment gefragt. Aus diesem Grunde ist „Bildung für nach-
haltige Entwicklung“ seit vielen Jahren ein fester Be-
standteil unserer Entwicklungszusammenarbeit. Das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung trägt diesen Ansatz in unsere Partner-
länder weltweit. Auch hier wäre Stillstand ein Rück-
schritt. Wir schlagen deshalb vor, „Bildung für nachhal-
tige Entwicklung“ als Themenschwerpunkt der Ent-
wicklungskooperation mit unseren zehn Partnerländern
– mit denen wir im Bereich Bildung eng zusammenar-
beiten – zu integrieren.
Die Bundesregierung kann auf internationalem Par-
kett aber auch noch an anderer Stelle aktiv werden. Des-
halb fordern wir in unserem Antrag die Bundesregierung
auf, sich im Rahmen der UNESCO und auf der anste-
henden UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung
„Rio+20“ für Folgeaktivitäten der UN-Dekade einzuset-
zen. Die Ausrufung einer Folgedekade oder eines Welt-
aktionsprogramms wäre sicherlich das Tüpfelchen auf
dem i.
Ein grundsätzliches Problem teilen die deutsche und
die weltweite Umsetzung. So ist es uns noch nicht in ge-
nügendem Maße gelungen, die vielen, oft sehr erfolgrei-
chen Einzelprojekte strukturell zu verankern. Erst wenn
wir diesen Schritt gemeistert haben, haben wir unser Ziel
erreicht. Schaut man sich im internationalen Vergleich
die bisherigen Umsetzungen an, wird schnell deutlich,
dass noch ein langer Weg vor uns liegt.
Für Deutschland muss in den kommenden Jahren das
Ziel sein, als eines der ersten Länder die strukturelle Ver-
ankerung der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ auf
allen Ebenen umzusetzen. Die Voraussetzungen sind ge-
geben, da wir in Deutschland über eine Vielzahl von
qualitativ hochwertigen Einzelprojekten verfügen. So
wurden seit 2005 rund 1 400 beispielhafte Aktivitäten
im Bildungsbereich ausgezeichnet. An mangelnden
Ideen und Impulsen kann es also nicht scheitern.
Bildung für nachhaltige Entwicklung gehört meines
Erachtens als ganzheitliches Konzept in die Lehrpläne
der Schulen, der Hochschulen sowie in die berufliche
Aus- und Weiterbildung. Sie ist ein unverzichtbarer Teil
einer qualitativ hochwertigen Bildung und Ausbildung.
Eine Verankerung in den Lehrplänen wäre ein Meilen-
stein im internationalen Vergleich, und Deutschland
sollte beispielgebend vorangehen.
Lassen Sie uns also gemeinsam die noch ausstehen-
den Herausforderungen im nationalen Kontext lösen.
Lassen Sie uns gemeinsam mit der Bundesregierung im
Rahmen der Vereinten Nationen für Folgeaktivitäten zur
UN-Dekade werben. Zu guter Letzt: Verhelfen wir der
„Bildung für nachhaltige Entwicklung“ auch in den Re-
gionen der Erde zum Durchbruch, wo es im Rahmen der
UN-Dekade bisher noch nicht gelungen ist.
Axel Knoerig (CDU/CSU): Der fraktionsübergrei-
fende Antrag zur UN-Dekade „Bildung für nachhaltige
Entwicklung“ macht deutlich, dass es im Deutschen
Bundestag hierzu einen breiten Konsens gibt. Die von
den Vereinten Nationen weltweit angestrebten Bildungs-
ziele sollen auch in Deutschland weiterhin umgesetzt
werden.
Nur die Linke hat sich diesem Antrag verweigert und
pocht auf eigene Bildungsstrategien.
Der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ wurde ur-
sprünglich nur in ökonomischen oder ökologischen Zu-
sammenhängen verwandt. Seit Ende der 1980er-Jahre
findet er auch Anwendung im sozialen und kulturellen
Bereich. So legte die damalige UN-Bildungsbeauftragte
Gro Harlem Brundtland 1987 einen Bericht vor, der
diesen Aspekt in den Mittelpunkt der internationalen
Bildungspolitik stellte. Inzwischen ist die „nachhaltige
Entwicklung“ längst zum Leitbegriff in allen Politik-
feldern geworden.
Aktuelle Entwicklungen wie die Finanzkrise in
Europa und der Klimawandel haben gleichzeitig auf
anschauliche Weise deutlich gemacht, dass nur eine
nachhaltige Politik zukunftsfähig ist. Dabei impliziert
der Begriff „Nachhaltigkeit“ gleich eine ganze Reihe
von gesellschaftspolitischen Zielen, wie Generationen-
gerechtigkeit, sozialen Zusammenhalt, Lebensqualität
und die Wahrnehmung internationaler Verantwortung.
Um diese Ziele zu verwirklichen, muss vor allem im Be-
reich Bildung angesetzt werden.
Die Vereinten Nationen haben das Jahrzehnt von
2005 bis 2014 zur sogenannten Weltdekade ausgerufen:
Das Konzept „Bildung für nachhaltige Entwicklung“
wurde in diesem Zusammenhang als einheitliches Ziel
von allen 193 Mitgliedstaaten anerkannt. In dem genann-
ten Zeitraum sollen neue Maßnahmen im Bildungsbereich
eingeführt werden, um die Vorgaben der Agenda 21 zu
unterstützen. Dieses Aktionsprogramm der Vereinten
Nationen zur Entwicklungs- und Umweltpolitik wurde
1992 in Rio de Janeiro beschlossen und 2002 in Johan-
nesburg noch einmal bestätigt. Das ganzheitliche
Konzept umfasst alle Bereiche des Bildungssystems:
Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen, Weiter-
20858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
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bildungs- und Kultureinrichtungen sowie Forschungs-
institutionen. Dazu gehören auch das außerschulische,
lebenslange Lernen sowie informelles Lernen außerhalb
traditioneller Bildungsstätten.
Als Organisation der Vereinten Nationen ist die
UNESCO für die Bereiche Erziehung, Wissenschaft und
Kultur zuständig. Die deutsche UNESCO-Kommission
hat 2004 ein Nationalkomitee berufen, um einen Ak-
tionsplan für die Bundesrepublik zu erstellen. Dieser
wurde durch einen Beschluss des Bundestages bestätigt
sowie durch einen Staatssekretär-Ausschuss und den
„Rat für nachhaltige Entwicklung“ begleitet. Ergebnis
ist ein umfangreicher Maßnahmenkatalog, der weiterhin
laufend ergänzt wird.
Gemeinsam mit der UNESCO und der Deutschen
UNESCO-Kommission hat das Bundesbildungsministe-
rium 2009 eine internationale Konferenz ausgerichtet.
Unter dem Titel „Bildung für nachhaltige Entwicklung“
fand die Tagung in Bonn statt. An dieser Stelle möchte
ich Frau Ministerin Professor Schavan noch einmal für
ihr besonderes Engagement danken. Ergebnis des Gip-
fels war die Forderung, die globalen Bildungssysteme
gemäß dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung neu
auszurichten. Bisher sind von der Bundesregierung drei
„Berichte zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“
veröffentlicht worden. Der vierte Bericht wird bis zum
Ende dieser Legislaturperiode 2013 folgen. Für die
verbleibenden drei Jahre der laufenden Weltdekade sieht
der Nationale Aktionsplan vor, die Vernetzung der Ak-
teure und der Bildungsfelder zu intensivieren.
Ich möchte zwei Beispiele aus dem „Nationalen Ak-
tionsplan für Deutschland 2011“ anführen:
Da ist zum einen der Girls’ Day zu nennen, der vom
Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und
Jugend ausgerichtet wird. Diese Veranstaltung gehört in
den Bereich „außerschulische Bildung und Weiter-
bildung“. Zum anderen ist die Förderinitiative „Deutsch-
land – Land der Ideen“ zu erwähnen, die zukunftsorien-
tierte Projekte in „365 Orten“ auszeichnet. Darunter sind
auch zwei Firmen aus meinem Wahlkreis Diepholz/
Nienburg, die sich für einen nachhaltigen Umgang mit
der Ressource Wasser einsetzen: die Internationale Geo-
textil GmbH und EcoRain International, beide ansässig
in Twistringen.
Mein heimatliches Bundesland Niedersachsen hat
sich der „Norddeutschen Partnerschaft zur Unterstüt-
zung der UN-Dekade“ angeschlossen. Die Mitglieder
haben sich verpflichtet, alle zwei Jahre länderübergrei-
fende Konferenzen zum Thema abzuhalten. Die Nach-
haltigkeitsstrategie des Landes Niedersachsen sieht vor,
junge Menschen am Konzept „Bildung für nachhaltige
Entwicklung“ zu beteiligen. Ein erfolgreiches Projekt
hierbei trägt den Titel „Umweltschule in Europa/Interna-
tionale Agenda 21-Schule“. Jede teilnehmende Schule
setzt sich mit zwei Themen aus dem Bereich Umwelt/
Nachhaltigkeitsbildung auseinander, zum Beispiel mit
den Themen Energie, Abfall, Naturschutz und Mobilität.
Dabei geht es auch um passgenaue und ganzheitliche
Bildungskonzepte für den ländlichen Raum. Eine Jury
zeichnet die besten Arbeiten aus. In meinem Wahlkreis
nehmen im Zeitraum 2010 bis 2013 insgesamt 15 Schu-
len an diesem Wettbewerb teil.
Man sieht: Es gibt vielfältige Möglichkeiten, „Bil-
dung für nachhaltige Entwicklung“ umzusetzen. Haupt-
sächlich kommt es aber darauf an, künftige Genera-
tionen auf neue Herausforderungen vorzubereiten. Ich
fordere deshalb alle bildungspolitischen Akteure im
Hohen Haus auf, sich angesichts der erfolgreichen
Bilanz des deutschen Aktionsplans für eine Fortsetzung
von „Bildung durch nachhaltige Entwicklung“ ab 2015
einzusetzen.
Ulla Burchardt (SPD): Wissen Sie eigentlich, wie
Ihr Essen unser Klima beeinflusst? Nein? Dann haben
Ihnen die Schüler der UNESCO-Projektschulen von
heute an einiges voraus. Unter dem Motto „Hinterm Tel-
lerrand geht’s weiter“ haben sich ihre Schüler heute an
einem deutschlandweiten Projekttag mit Fragen wie „re-
gionale Lebensmittel“, „fairer Handel“ oder „zukünftige
Welternährung“ befasst. Das Thema ist an die UN-De-
kade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ angelehnt,
deren Schwerpunkt in diesem Jahr im Bereich Ernäh-
rung liegt.
Diese Dekade wird im Jahr 2015 auslaufen. Wir wol-
len den Bildungsansatz dieser Dekade dauerhaft veran-
kert wissen, da eine zukunftsfähige Weltgesellschaft
noch mehr Anstrengungen in diesem Bereich braucht. In
dem vorliegenden Antrag fordern wir die Bundesregie-
rung daher auf, sich auf internationaler Ebene, auf der
UN-Konferenz „Rio+20“, dafür einzusetzen, entweder
eine Folgedekade oder ein nachfolgendes Weltaktions-
programm auszurufen. Bildung für nachhaltige Entwick-
lung soll darüber hinaus bei der internationalen Koope-
ration Deutschlands und in der Entwicklungszusammen-
arbeit stärker in den Vordergrund rücken.
Gerade in Deutschland wurde die UN-Dekade vor-
bildlich umgesetzt; aber es gibt immer noch viel zu tun.
Daher müssen auf nationaler Ebene bisherige Initiativen
fortgesetzt werden. Schließlich wollen wir, dass durch
Bildung für nachhaltige Entwicklung Kommunen mehr
Unterstützung erfahren, ehrenamtliches Engagement
von Bürgern gewürdigt und bildungsferne Schichten
besser integriert werden. Die Leitidee der Nachhaltigkeit
muss endlich dauerhaft in informellen Bildungsprozes-
sen wie in den klassischen Bildungsinstitutionen veran-
kert werden, von der Grundschule bis zur Hochschule
und in der beruflichen Aus- und Weiterbildung.
Aber vor allem international liegen noch große He-
rausforderungen vor uns. Insbesondere im subsahari-
schen Afrika muss das Konzept der Bildung für nachhal-
tige Entwicklung noch besser mit Bildungsprogrammen
verknüpft werden. 2002 rief die UNO die Weltdekade
„Bildung für nachhaltige Entwicklung“ aus. Ziel war,
das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung in allen Bil-
dungsbereichen zu verankern und allen Menschen die
Chance zu geben, sich Wissen und Werte für eine le-
benswerte Zukunft anzueignen. Alle müssen lernen, ihre
täglichen Entscheidungen zu ändern. Weniger wird dann
mehr: mehr Wohlstand und mehr Lebensqualität durch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20859
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weniger Energie- und Ressourcenverbrauch, weniger
Schadstoffe, Emissionen und Abfälle.
Die Weltdekade ist wie die nachhaltige Entwicklung
kein Projekt, das sich von oben beschließen lässt. Ohne
die Beteiligung vieler Menschen aus den unterschied-
lichsten gesellschaftlichen Bereichen ist eine nachhaltige
Zukunftsgestaltung nicht zu machen. Um ihren Einsatz
sichtbar zu machen und zu würdigen, zeichnet das
Nationalkomitee der UN-Dekade Projekte für herausra-
gendes Engagement im Bereich BNE aus. Preisträger
sind Kitas, Schulen und Hochschulen, aber auch Kom-
munen, Verwaltungen, Betriebe und Medien. So ver-
schieden die Ausgezeichneten, so vielfältig sind auch die
Projekte:
In meiner Heimatstadt Dortmund etwa lernen die
„fairspielten Kinder“, wie man mit Sonne kochen kann.
Im Projekt „Welt:Klasse“ reisen Schüler nach Kenia
oder Thailand, um dort an Partnerschulen zu unterrich-
ten, Bäume zu pflanzen oder Spielplätze zu bauen. In ei-
nem anderen Projekt werden die Prinzipien der Bildung
für nachhaltige Entwicklung systematisch in die Ausbil-
dung junger Lehramtsanwärter verankert. 1 400 Projekte
wurden so inzwischen ausgezeichnet. Hinzu kommen
13 Kommunen.
Damit aus der Vision Nachhaltigkeit auch Wirklich-
keit wird, reicht Wissen allein nicht aus. „Sustain abili-
ties“, das meint Fähigkeiten, dieses Wissen auch anwen-
den zu können. Das genau sind die Fähigkeiten, die
hierzulande bislang zu wenig gefördert werden: vernetz-
tes und vorausschauendes Denken, Probleme angemes-
sen kommunizieren zu können und nicht zuletzt die Fä-
higkeit zu lebenslangem Lernen. Wir fordern, die
Leitidee der Nachhaltigkeit in allen Bildungsbereichen
zu verankern. Gelänge dies, wäre das für das Bildungs-
angebot wie die Bildungspraxis in Deutschland ein qua-
litativer Meilenstein.
Ich danke den vielen Unterstützern dieses Antrags für
die gute Zusammenarbeit: der Deutschen UNESCO-
Kommission, dem Büro des Vorsitzenden des National-
komitees Bildung für nachhaltige Entwicklung und na-
türlich den Kollegen der anderen Fraktionen, mit denen
wir diesen Antrag gemeinsam eingebracht haben.
Angelika Brunkhorst (FDP): Seit 2005 hat die UN-
Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, BNE,
zahlreiche Erfolge erzielt. Insgesamt 1 400 Beispiele aus
der Praxis wurden als „Offizielle deutsche Dekade-Pro-
jekte“ deklariert. Alle zeichneten sich besonders durch
ihre innovativen und qualitativ hochwertigen Aktivitäten
aus. Eine ähnliche Würdigung erhielten ebenso 13 Kom-
munen, die sich das Thema nachhaltige Entwicklung
zum Leitmotiv gemacht haben und sich als „Offizielle
deutsche Dekade-Kommune“ bezeichnen dürfen. In fast
allen Bundesländern existieren Beratungs- und Unter-
stützungsstrukturen, die zu einer Festigung der BNE in
der Gesellschaft führen sollen. Eine nahezu flächen-
deckende Implementierung dieser Thematik ist daher
deutlich erkennbar. Deutschland hat sich damit zu Recht,
auch aus internationaler Sicht, zum Vorzeigeland für die
Umsetzung der UN-Dekade entwickelt.
Bildung für nachhaltige Entwicklung erhöht die Bil-
dungsqualität und führt dazu, dass gerade Kinder und Ju-
gendliche aus bildungsfernen Schichten besser integriert
werden. Insbesondere die verknüpfte Vermittlung von
Fachwissen mit Werten und Kompetenzen und prakti-
schen Fertigkeiten bietet Kindern und Jugendlichen die
Möglichkeit, sich dem Thema nachhaltige Entwicklung
auf unterschiedliche Weise zu nähern. Daher ist eine
Verankerung von nachhaltigkeitswirksamen Themen in
der gesamten Bildungskette von essenzieller Bedeutung:
von der Kita, den Schulen, den Berufsschulen, den Uni-
versitäten bis zu den Erwachsenenbildungseinrichtun-
gen.
Die Abschlusserklärung der UNESCO-Weltkonferenz
in Deutschland vom Frühjahr 2009 hat gezeigt, dass Bil-
dung für nachhaltige Entwicklung immer mehr als natio-
nales und auch internationales Handlungsfeld akzeptiert
wird und einen wesentlichen Beitrag zur Steigerung der
Bildungsqualität leistet. Nichtsdestotrotz ist es notwen-
dig, sich für Folgeaktivitäten der UN-Dekade einzuset-
zen, um eine umfassende Verankerung der BNE in allen
Bereichen der Bildung zu erreichen.
Vier Handlungsfelder, die im Antrag zum Ausdruck
kommen, möchte ich daher besonders hervorheben, da
sie in meinen Augen für Deutschland von ganz besonde-
rer Bedeutung sind.
Das erste Handlungsfeld ergibt sich in der Elementar-
pädagogik. Hier muss gezielt die Begeisterungsfähigkeit
der Jüngsten genutzt werden, um sie spielerisch mit dem
Thema BNE vertraut zu machen. Dafür ist es wichtig,
dass gerade Erzieherinnen und Erzieher die Möglichkeit
bekommen, sich durch Fort- und Weiterbildungsmaß-
nahmen gezielt zu qualifizieren.
Ein weiteres Handlungsfeld ist die Förderung der so-
genannten Entrepreneurship skills, also des unternehme-
rischen Denkens und Handelns, wie es bereits in nach-
haltigen Schülerfirmen erlernt wird. Diese Fähigkeiten
sind insbesondere für Unternehmen von besonderem In-
teresse und oftmals Anreiz für Public Private Partner-
ships. Darüber hinaus leisten private Investitionen von
Firmen oder Bürgern in vielen anderen Bereichen einen
wichtigen Beitrag zur Verankerung des Themas Bildung
für nachhaltige Entwicklung in der Gesellschaft. Priva-
tes Engagement trägt dazu bei, dass nicht nur die Le-
bensqualität in den Kommunen gesteigert wird, sondern
auch dazu, dass das Bildungsniveau der Bürgerinnen
und Bürger verbessert wird. Weitere private Investitio-
nen sollten daher mobilisiert werden.
Auch im Bereich der sogenannten MINT-Fächer leis-
tet die gezielte Implementierung von BNE durch ihren
interdisziplinären Ansatz einen positiven Beitrag und
führt zur Steigerung der Attraktivität von naturwissen-
schaftlichen Themen. Studenten und spätere Absolven-
ten erlernen so ganzheitlich einen ressourceneffizienten
Umgang. Die Einbindung technisch-naturwissenschaftli-
cher Expertise in BNE kann so direkt auch dem Fach-
kräftemangel entgegenwirken.
Ein weiteres Handlungsfeld ist die Implementierung
und Verfestigung von BNE im Rahmen der deutschen
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Entwicklungszusammenarbeit. Hier gilt es, die Vorbild-
funktion Deutschlands zu nutzen und gezielt das Thema
global weiter auszubauen und zu festigen. Denn häufig
besitzen die Menschen in vielen Entwicklungsländern
nicht die Möglichkeit zur Grundbildung. Insbesondere
der afrikanische Kontinent stellt hier eine große Heraus-
forderung dar.
Dieser Antrag würdigt die Arbeit der vielen Men-
schen, die in diesem Bereich tätig sind; ehrenamtlich
oder professionell. Sie werden durch die Forderung für
Folgeaktivitäten der UN-Dekade in ihrem Handeln be-
stärkt. Ich möchte all jenen danken, die es sich zur Auf-
gabe gemacht haben, das Thema Bildung für nachhaltige
Entwicklung in der Gesellschaft zu implementieren und
dieses innovative Lehr- und Lernmodell in der Praxis an-
wenden. Es zeigt sich jedoch, dass zehn Jahre nicht aus-
reichen, um die Denkweise und den Lebensstil einer Ge-
sellschaft nachhaltig zu verändern. Daher setzen wir uns
als FDP-Fraktion für eine Weiterführung von BNE nach
2014 ein.
Sylvia Canel (FDP): Die Zunahme und Intensivie-
rung globaler Verflechtungen in den Bereichen Wirt-
schaft, Politik, Kultur, Umwelt und Kommunikation hat
Auswirkungen auf den Alltag jedes Einzelnen. Denn un-
ser Handeln hat Einfluss nicht nur auf uns selbst, son-
dern auch auf unsere Mitmenschen, auf die Umwelt, die
Wirtschaft, die Politik. Aber unser heutiges Handeln hat
auch entscheidenden Einfluss auf das Leben von Men-
schen, mit welchen wir nicht unmittelbar zusammenle-
ben, auf Menschen in anderen Weltregionen und auf die
Chancen und Möglichkeiten zukünftiger Generationen.
Dies ist umso bedeutender in einer Zeit, in welcher Kri-
sen zum Kennzeichen der Gegenwart geworden sind: Fi-
nanzkrise, Staatsschuldenkrise, Euro-Krise, Klimakrise.
Die damit verbundenen Herausforderungen und auch
Bedrohungen verlangen eine Änderung der Politik und
des individuellen Verhaltens.
Bildung für nachhaltige Entwicklung hat deshalb zum
Ziel, den Umgang mit den daraus resultierenden globa-
len, oft sehr abstrakten Problemen zu erlernen und zum
nachhaltigen Handeln anzuleiten. Nachhaltigkeit bezieht
sich auf drei Bereiche: Ökologie, Ökonomie und Sozia-
les. Vor allem der ökonomische Aspekt sollte meines Er-
achtens noch viel stärker in den Fokus rücken, gerade im
Angesicht der Debatte um die europäische Staatsschul-
denkrise.
Nachhaltigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang
auch, eine verantwortliche Haushaltspolitik zu betreiben,
die eben nicht auf Schulden aufbaut und die Handlungs-
spielräume zukünftiger Generationen massiv einschränkt.
Wir sehen uns mit immer größeren Belastungen und Fehl-
entwicklungen in Politik und Wirtschaft konfrontiert, die
immer größere Belastungen für die Gesellschaft bedeu-
ten.
Schülerinnen und Schüler sollten deshalb in den
Schulen grundlegende ökonomische Zusammenhänge
erlernen und reflektieren. Wie gehen wir mit diesen Kri-
sen um? Wie wollen wir in Zukunft leben? Dies sind
grundlegende Fragen, die in einer Pädagogik, die für ein
Leben im Welthorizont befähigen will, aufgegriffen wer-
den müssen. Die Herausforderung für Lehrende und Ler-
nende liegt daher in der Bewusstmachung und Vermitt-
lung einer globalen Perspektive des Denkens, Urteilens
und Handels in den Bereichen Ökonomie, Ökologie und
Soziales. Um globale Probleme wahrzunehmen, zu re-
flektieren und um einen Umgang mit Kontingenzerfah-
rungen zu ermöglichen, müssen Kompetenzen ausgebil-
det werden, die den Weg für ein motiviertes und
engagiertes Problemlösehandeln bereiten. Dies ist im
Besonderen im Bereich der ökonomischen Bildung an
Schulen grundlegend. Ökonomische Zusammenhänge
müssen an den Schulen gelehrt, gelernt und reflektiert
werden. Die Bedeutung einer Bildung für nachhaltige
Entwicklung liegt in ihrem Innovationspotenzial für die
Bewältigung von Krisen vor dem Hintergrund der Nach-
haltigkeit und für die Gestaltung des Bildungswesens.
Dies entspricht einer der Forderungen, die in der Bon-
ner Erklärung von den Teilnehmerinnen und Teilneh-
mern der ersten UNESCO-Weltkonferenz „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“, die vom 31. März bis 2. April
2009 in Bonn stattfand, verankert ist: „BNE unterstützt
Gesellschaften beim Umgang mit verschiedenen Hand-
lungsfeldern und Themen, darunter Wasser, Energie,
Klimawandel, Katastrophenvorsorge, Verlust der Arten-
vielfalt, Nahrungsmittelkrisen, Gesundheitsgefährdun-
gen, soziale Verwundbarkeit und Unsicherheit. Sie ist
entscheidend für die Entwicklung neuen ökonomischen
Denkens.“
Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir, dass diese
gute und zukunftsweisende Arbeit weitergeführt wird.
Die Erfolge sind sehr gut. Nun muss es um die dauer-
hafte Implementierung der Bildung für nachhaltige Ent-
wicklung im Unterricht an den Schulen und allen ande-
ren Bildungseinrichtungen gehen und auch um die
Stärkung des ökonomischen Aspekts. Es bedarf weiterer
Anstrengungen, um das Leitbildung- und Bildungskon-
zept noch tiefer im Bewusstsein der Bevölkerung, im
Alltag der Schulen und in der Aus- und Weiterbildung
des Lehrpersonals zu verankern. Aus diesem Grund set-
zen wir uns für Folgeaktivitäten ein, um die Verbreite-
rung einer zukunftsfähigen Bildung national und interna-
tional voranzutreiben.
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Bildung für
nachhaltige Entwicklung soll bewirken, dass Menschen
sich ihrer Verantwortung für Natur und Gesellschaft be-
wusster werden und begreifen, dass die Erhaltung der
natürlichen Lebensgrundlagen und die Gestaltung einer
sozial gerechten und nach ökologischen Grundsätzen ge-
stalteten Gesellschaft das verantwortliche Handeln aller
erfordert. Nachhaltig zu denken und zu handeln, das er-
fordert, die Zusammenhänge in der Welt zu begreifen,
die Wirkungen neuer Technologien ebenso vorausschau-
end zu beachten und die Folgen eines hemmungslosen
Ressourcenverbrauches im Blick zu haben. Dabei ist es
wichtig, das soziale und ökologische System der Erde
als System kommunizierender Röhren zu begreifen, was
heißt, dass verantwortungsloses Handeln, zum Beispiel
in Europa, verheerende Folgen am Nordpol oder in Süd-
amerika haben kann. Bildung für nachhaltige Entwick-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20861
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lung will Menschen in die Lage versetzen, diese Zusam-
menhänge zu verstehen und danach zu handeln. Das ist
ein ehrenwertes Ziel.
Es ist aber nicht umzusetzen, wenn große Teile der
Bevölkerung von diesem gemeinsamen Lernprozess aus-
geschlossen sind, wenn ihnen Bildung nicht oder nur un-
zureichend zugänglich ist. Darum fordert Die Linke,
dass Bildung selbst nachhaltig sein muss, wenn Bildung
für nachhaltige Entwicklung erfolgreich sein soll. Der-
zeit aber sind wir selbst in einem so hochentwickelten
Land wie Deutschland davon weit entfernt. Ich will das
an einem Beispiel deutlich machen:
Neulich war ich in meinem Wahlkreis Schönebeck in
einer Einrichtung eines freien Trägers der Jugendhilfe,
Rückenwind e. V. „Unser Hauptaugenmerk gilt jungen
Menschen und ihren Entwicklungsmöglichkeiten und -un-
möglichkeiten“, so kann man auf der Internetseite des
Vereins lesen. Innerhalb seines Angebotes bietet „Rü-
ckenwind“ unter anderem Hilfe bei Schulproblemen,
und der Träger beteiligt sich am ESF-Programm
„2. Chance“. Auf dem Flur der Lernstätte finden sich
Plakate mit den Erfolgen des Programmes. Silke S. – der
Name ist erfunden, das Mädchen nicht – hat über dieses
Programm ihren Realschulabschluss geschafft und eine
Lehre aufgenommen. Silke S. kam in dieses Programm
aus der Förderschule Lernen und hatte dort gar keinen
Abschluss erreichen können.
Was war falsch gelaufen in der Bildungskarriere die-
ser jungen Frau, die erst an die Förderschule für Lernbe-
hinderung verwiesen wurde und nun doch ihren Real-
schulabschluss mit gutem Erfolg gemacht hat? Warum
konnte sie die erste Chance, die Regelschule, nicht er-
folgreich meistern? Was hat sie gehindert, nachhaltig zu
lernen? Diese und andere Fragen müssen wir stellen,
wenn es um nachhaltige Bildung geht.
Wenn junge Menschen, wie die LEO-Studie nach-
wies, trotz Hochschulabschluss zu funktionalen An-
alphabeten werden oder gleich ohne ausreichende
Grundbildung die Schule verlassen, dann ist Bildung
nicht nachhaltig, dann stimmt etwas nicht in unserem
Bildungssystem. Wenn frühkindliche Bildung zwar pos-
tuliert, aber nicht mit ausreichend gut ausgebildeten
Fachkräften besetzt werden kann und Tausende Fach-
kräfte fehlen, dann stimmt etwas nicht in unserem Bil-
dungssystem. Wenn Kindern aus sozial benachteiligten
Familien nicht genügend Bildung in- und außerhalb der
Schule zugänglich gemacht werden kann und selbst Bil-
dungspakete nicht wirklich greifen, dann stimmt etwas
nicht in unserem Bildungssystem. Wenn private Nach-
hilfe der Notanker ist, weil Lehrerinnen und Lehrer sich
nicht in der Lage sehen, alle Schülerinnen und Schüler
ausreichend zu fördern, dann stimmt etwas nicht in unse-
rem Bildungssystem. Wenn Kommunen Schulen nicht
angemessen ausstatten können und moderne Lehr- und
Lernmittel unerschwinglich sind, dann stimmt etwas
nicht in unserem Bildungssystem. Wenn im Jahre 2009
über 1,5 Millionen Menschen im Alter zwischen 25 und
35 Jahren keinen Berufsabschluss haben, dann stimmt
etwas nicht in unserem Bildungssystem. Wenn so vieles
in unserem Bildungssystem nicht stimmt, dann kann Bil-
dung nicht nachhaltig sein, dann läuft auch Bildung für
nachhaltige Entwicklung für einen großen Teil von Men-
schen ins Leere.
Die nachhaltige Entwicklung unserer und der Weltge-
sellschaft wird aber nur erreichbar sein, wenn möglichst
alle an diesem Entwicklungsprozess teilhaben können,
wenn sich alle Bildung für nachhaltige Entwicklung an-
eignen können. Diese Dimension ist im Antrag der Gro-
ßen Koalition von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen
leider nicht enthalten. Darum haben wir diesen Antrag
gestellt.
Möglicherweise werden die Antragstellerinnen und
Antragsteller des anderen Antrages unserem nicht zu-
stimmen. Doch das Problem wird bleiben, und wir wer-
den nicht müde, es immer wieder zu thematisieren.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
große Mehrheit dieses Hauses legt heute eine Initiative
vor, um die „Bildung für nachhaltige Entwicklung“,
BNE, dauerhaft zu sichern und Folgeaktivitäten zur
gleichnamigen UN-Dekade zu ermöglichen. Die Auffor-
derung des Parlaments geht also an die Bundesregie-
rung, hier mehr Engagement zu zeigen, Impulse zu
setzen und zu entsprechenden internationalen Verhand-
lungen und Vereinbarungen zu kommen.
Denn die BNE ist für den gesamten Bereich der
Nachhaltigkeit eine Art „Schlüsselkatalysator“. Und das
gilt auch für die Bildung in Deutschland.
Seit fast 20 Jahren, seit der UN-Konferenz für Um-
welt und Entwicklung, auch bekannt als Rio 1992, ist
Nachhaltigkeit ein zentraler Begriff und eine Herausfor-
derung in der internationalen Politik. Vor 20 Jahren
wurde auf dem „internationalen Parkett“ endlich Thema,
dass die großen Menschheitsherausforderungen nicht
von einzelnen Staaten, sondern nur in einer globalen
Partnerschaft gelöst werden können. Die nachhaltige
Entwicklung aller Staaten, Gesellschaften und Wirt-
schaftssysteme wurde als Voraussetzung identifiziert,
um Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu reduzieren, Ar-
mut, Hunger und Krankheit sowie Analphabetismus zu
verringern, aber auch um die Zerstörung der Ökosys-
teme zu verringern, die natürlichen Lebensgrundlagen
der Menschheit zu erhalten und das Klima zu schützen
statt zu zerstören.
Für all diese Ziele ist Bildung eine zentrale Vorausset-
zung. Dies hat auf Bundesebene schon die rot-grüne
Bundesregierung mit ihrer „Nationalen Nachhaltigkeits-
strategie“ 2002 aufgegriffen. Im Jahr 2005 wurde ein
rot-grüner Parlamentsantrag für einen Aktionsplan zur
UN-Weltdekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“
einstimmig angenommen.
Ende Juni 2012 steht nun, wiederum in Rio, die „UN-
Konferenz für nachhaltige Entwicklung 2012“ an. Wir
Grüne wollen, dass dort nicht nur Bilanz gezogen wird,
sondern dass vor allem auch weitergehende Lösungen
für die Zukunft erarbeitet, präsentiert und verabredet
werden. Deswegen muss es nicht um ein „Rio+20“
gehen, sondern um ein „Rio20+“. Das gilt auch für die
Bildungsinitiativen.
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In dieser Woche hat das Kinderhilfswerk der Verein-
ten Nationen, UNICEF, mit einem Bericht erst wieder
deutlich gemacht, dass zum Beispiel der Analphabetis-
mus in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern noch
immer ein riesiges Problem ist. Wenn in den ärmsten
Ländern der Erde rund ein Viertel der jungen Frauen und
ein Drittel der jungen Männer nicht lesen und schreiben
kann, sind sie damit fast zwangsläufig vom sozialen
Fortschritt abgeschnitten und ihrer individuellen Rechte,
Teilhabechancen und Zukunftsperspektiven beraubt.
Auch hier müssen internationale Vereinbarungen entge-
genwirken. Es ist daher eine Minimalforderung, dass alle
Bundesministerien zukünftig BNE zu einem Kernbe-
standteil in der Umsetzung der jeweiligen Internationali-
sierungsstrategie machen. Wir halten es für notwendig,
dass darüber hinaus alle Ressorts gefordert sind, BNE
sowohl in ihren nationalen Strategien zu verankern als
auch sich international für ihre Sicherung, Verstetigung
und Umsetzung starkzumachen.
Aber auch auf unserer nationalen Ebene ist noch eini-
ges zu tun:
Qualitativ hochwertige Bildung muss sowohl nach-
haltigkeitsrelevante Themen einbeziehen als auch nach-
haltige Methoden wählen. Im Rahmen der Bonner Erklä-
rung der UNESCO-Weltkonferenz „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“ hat sich die damalige Bundes-
regierung 2009 unter anderem dazu verpflichtet, „das
Leitbild der Nachhaltigkeit in die Lehrer-Ausbildung …
(zu) integrieren.“
In der letzten Woche hat Bundesbildungsministerin
Schavan mit den Wissenschaftsministerinnen und -minis-
tern der Länder verabredet, die Qualität der Lehrerausbil-
dung mit einem – noch zu konkretisierenden – gemein-
samen Programm weiter zu steigern. Wir fordern die
Bundesregierung nun auf, ihre 2009 in Bonn eingegan-
gene Verpflichtung umzusetzen und die Stärkung des
Leitbildes der Nachhaltigkeit in dieses Programm mit
aufzunehmen.
In der Jugendpolitik steht unter Ministerin Schröder
eine weitere Verpflichtung des Jahres 2009 aus: Das
Recht junger Menschen auf Mitsprache bei der Umset-
zung von BNE muss gestärkt werden. BNE muss zudem
stärker in der Kita Schule machen. Nebenbei in diesem
Zusammenhang: Die schwarz-gelbe Antikitaprämie Be-
treuungsgeld ist das glatte Gegenteil einer nachhaltigen
Bildungspolitik.
Außerdem fordern wir als grüne Fraktion die Bundes-
regierung auf, im Mai 2012 eine Grundgesetzänderung
vorzulegen, die nicht nur die Kooperation von Bund und
Ländern bei der Finanzierung von Einrichtungen an
Hochschulen erleichtert, sondern die es vor allem er-
möglicht, dass Bund und Länder ihrer gesamtstaatlichen
Verantwortung für die Bildung gemeinsam nachkommen
können. Dabei können und müssen die Koalitionsfrak-
tionen einen energischen Beitrag leisten.
Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, der erste
Schritt dahin ist mit dem vorliegenden gemeinsamen
BNE-Antrag getan: Dort erkennen die Koalitionsfraktio-
nen BNE als innovatives Lehr- und Lernmodell an sowie
als ein wichtiges Leitbild für alle Bildungsbereiche und
die nachhaltige Gestaltung der Organisation der Bil-
dungseinrichtungen selbst.
Wer in der Lage ist, so vernetzt zu denken, und die
Bildungseinrichtungen als befähigenden Teil einer um-
fassenden Bildungskette vom Kindergarten bis zur Er-
wachsenenbildung ansieht, der sollte doch auch den
einen weiterführenden Schluss daraus ziehen können:
Nur die verfassungsrechtliche Ermöglichung einer ge-
samtstaatlichen, ebenenübergreifenden Verantwortung
stellt sicher, dass diese Anforderungen auch erfüllt wer-
den können.
Wir wollen dabei keine Verfassung, in der der Bund
zum zentralstaatlichen Lenker aller Bildungsprozesse
wird. Wir wollen eine Ermöglichungsverfassung, damit
Bund, Länder und Kommunen zum Wohle der Kinder,
Jugendlichen und Erwachsenen kooperieren können, wo
es sinnvoll und notwendig ist.
Zum Antrag der Linksfraktion: Wir lehnen ihn ab,
weil er zwar bildungspolitische Forderungen enthält,
aber letztlich kein Antrag zum Thema ist. Wer die Schul-
denbremse abschaffen und die Bologna-Reform kom-
plett rückabwickeln will, liegt nicht nur haushalts- und
bildungspolitisch falsch, sondern dem scheint es am
Grundverständnis für BNE zu mangeln.
Die Bundesregierung fordere ich im Namen meiner
Fraktion auf, gemäß dieses fraktionsübergreifenden Par-
lamentsbeschlusses zu handeln: das heißt, mit den Stake-
holdern ein Konzept für Folgeaktivitäten zu entwickeln
und vorzulegen, das sie dann mit Rückenwind dieses
Hauses auf internationaler Ebene einspeisen können.
Deutschland hatte und hat hier eine Vorreiterrolle und
Vorbildfunktion und war wichtiger Impulsgeber – dies
müssen wir auch künftig bleiben.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen:
– Kampf gegen wissenschaftliches Fehlverhal-
ten aufnehmen – Verantwortung des Bundes
für den Ruf des Forschungsstandortes
Deutschland wahrnehmen
– Wissenschaftliche Redlichkeit und die Qua-
litätssicherung bei Promotionen stärken
(Tagesordnungspunkt 19)
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): „Der Geist
stiehlt, wo er kann.“ Davon war zumindest Paul Valéry,
ein französischer Dichter des 19. Jahrhunderts, über-
zeugt. Plagiate gibt es eben nicht erst seit der Erfindung
des Internets. Plagiate gibt es auch nicht erst seit der Er-
findung des Buchdrucks. Plagiate sind so alt wie die
Menschheit. Wir alle hier im Bundestag kennen be-
rühmte Plagiatsfälle aus ganz unterschiedlichen Lebens-
bereichen: Ob in der Literatur mit Bertolt Brecht, in der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20863
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Musik mit Johann Sebastian Bach oder in der Kunst, wo
Rubens von Michelangelo kopierte. Natürlich oder, bes-
ser gesagt, leider kennen wir auch berühmte Plagiatsfälle
aus der Wissenschaft: Dazu zählt zum Beispiel die Dok-
torarbeit von Martin Luther King: Große Teile seiner Ar-
beit übernahm der amerikanische Bürgerrechtler von an-
deren Autoren, ohne diese Abschnitte entsprechend zu
kennzeichnen.
Heute debattieren wir hier, weil es wieder aktuelle
Plagiatsfälle gegeben hat. Wir alle kennen die Namen,
die ich an dieser Stelle aber nicht nennen werde. Das er-
spare ich mir aus einem guten Grund. Denn das eigentli-
che Problem sind nicht die wenigen Fälle, wo bekannte
Personen ihre Arbeiten kopiert oder gar gefälscht haben.
Das eigentliche Problem geht noch tiefer: Seriöse Schät-
zungen gehen davon aus, dass mittlerweile bis zu
10 Prozent aller wissenschaftlichen Arbeiten Plagiate
sind – 10 Prozent! Im Jahr 2010 gab es fast 26 000 Pro-
motionen in Deutschland. Damit sind wir Spitze im in-
ternationalen Vergleich. Freuen können wir uns dabei
insbesondere über die deutliche Steigerung bei den Pro-
motionen in den MINT-Fächern. Aber 26 000 Promotio-
nen bedeuten dann auch: 2 600 davon werden wissen-
schaftlichen Maßstäben nicht gerecht. Um es deutlich zu
sagen: Jedes Plagiat, jede Kopie, jedes bewusste, aber
auch jedes unbewusste Fehlverhalten ist zu verurteilen.
Jedes Plagiat schadet dem Ruf des Wissenschaftsstand-
ortes Deutschland massiv.
Was ist also die Ursache für das Fehlverhalten von so
vielen angehenden oder auch bereits etablierten Wissen-
schaftlern? Natürlich ist es heutzutage viel einfacher,
Textabschnitte zu kopieren und als die eigenen auszuge-
ben. Vielfach führen aber auch einfach Zeitdruck oder
Auftragsüberlastung dazu, dass Quellen nicht mehr ord-
nungsgemäß angegeben oder recherchiert werden. Für
viele erhöht ein akademischer Grad auch den sozialen,
wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Rang: Die Mo-
tivation zum Beispiel für das Schreiben einer Doktorar-
beit kann also auch ganz entscheidend sein für deren
Qualität. Aber die eigentliche Ursache für wissenschaft-
liches Fehlverhalten liegt woanders. Für mich liegt diese
Ursache in einem generellen moralischen Fehlverhalten.
Dies bezieht sich aber auf unsere gesamte Gesellschaft
und nicht nur auf einzelne Fälle in der Wissenschaft. Ge-
sellschaftliches Fehlverhalten spiegelt sich eben auch im
Fehlverhalten in der Wissenschaft wider.
Was können wir also machen, um dieses Fehlverhal-
ten abzustellen? Ich denke, wir sollten gemeinsam zwei
Ziele anstreben. Erstens. Wir brauchen in unserer Ge-
sellschaft eine Rückbesinnung auf Werte. Wir brauchen
mehr Ehrlichkeit, mehr Sein als Schein; darauf muss es
in unserer Gesellschaft wieder ankommen. Dies bezieht
sich auf alle Lebensbereiche und nicht nur auf die Wis-
senschaft. Moralisch einwandfreies Verhalten kann man
aber nicht verordnen; das kann man nur vorleben. Und
gerade dafür brauchen wir Vorbilder: in der Politik, in
der Wirtschaft, in der Kirche und in allen weiteren ge-
sellschaftlichen Bereichen.
Zweitens – ich habe es bereits betont –: Niemand
kann Moral und Anstand verordnen oder gar gesetzlich
regeln. Das gilt eben auch für die Wissenschaft. Die Uni-
versitäten, Fachhochschulen oder Forschungseinrichtun-
gen müssen in erster Linie selbst dafür sorgen, dass sie
die sogenannte gute wissenschaftliche Praxis umsetzen.
Die entsprechenden Empfehlungen der DFG sind dabei
eine sehr gute Maßgabe. Es reicht aber nicht aus, nur die
Symptome zu bekämpfen, also die Kontrollmechanis-
men der Hochschulen zu verbessern, verstärkt auf Soft-
ware zu setzen, die Plagiate aufspürt, oder konsequent
Bestrafungen umzusetzen. Das ist alles wichtig und rich-
tig, keine Frage. Zum Beispiel ist für die Redlichkeit ei-
ner Promotion vor allem der Doktorand verantwortlich.
Genauso tragen aber auch der Doktorvater oder die
Zweitprüfer eine große Verantwortung für die wissen-
schaftliche Arbeit; für ihre Betreuung und die Benotung.
Es kommt also gerade auch in unserem Wissenschafts-
system darauf an, dass sich alle Beteiligten korrekt, an-
ständig und vor allem ehrlich verhalten.
In Deutschland brauchen wir Innovationen, um auf
Dauer wettbewerbsfähig zu bleiben und um unseren
Wohlstand zu sichern. Innovationen beruhen aber nicht
auf Kopien. Innovationen beruhen nicht auf Plagiaten.
Innovationen beruhen auf neuen, kreativen Ideen. Wir
brauchen also ein transparentes Wissenschaftssystem, in
dem Innovationen gefordert und gefördert werden. Das
stärkt den Ruf des Wissenschaftsstandortes Deutschland,
und es stärkt dadurch auch unseren Wirtschaftsstandort.
Grundlage dafür ist – ich habe es bereits betont – ein
Mehr an Ehrlichkeit: ein Mehr an Ehrlichkeit des Einzel-
nen, ein Mehr an Ehrlichkeit der Gesellschaft. Eben weil
wir mehr Ehrlichkeit brauchen, rufe ich Sie dazu auf:
Lassen Sie uns Vorbild sein, ein Vorbild, vielleicht mit
„kleinen Fehlern“, wie es unser Kollege Wolfgang
Börnsen in seinem Buch so treffend beschrieb, aber
trotzdem ein Vorbild. Ich fordere die Universitäten dazu
auf: Gehen Sie offen, transparent, aber auch konsequent
mit wissenschaftlichem Fehlverhalten um.
An all diejenigen, die vielleicht darüber nachdenken,
ihre eigene wissenschaftliche Arbeit „abzukürzen“, an
sie kann ich nur appellieren: Machen Sie es nicht. Blei-
ben Sie ehrlich. Wenn dieser Appell nicht hilft, kann ich
nur eines sagen: Ihr Fehlverhalten wird aufgedeckt –
eher früher als später.
Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): In den vergange-
nen Monaten haben diverse Plagiatsaffären für mediale
Aufmerksamkeit gesorgt. Dies hat zu hitzigen Diskus-
sionen in Wissenschaft und Politik über die Zukunft des
deutschen Promotionssystems geführt. Damit beschäfti-
gen sich auch die heutigen Anträge von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Im Fokus des Antrages der SPD steht
die Einführung von Maßnahmen gegen wissenschaftli-
ches Fehlverhalten. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen kritisiert in ihrem Antrag die nicht einheitlichen
Qualitätsstandards bei Promotionen und die daraus re-
sultierenden Lücken in der Selbstkontrolle der Wissen-
schaft.
Auch ich halte diese Debatte für wichtig, um den
Qualitätsstandard des Promotionssystem in Deutschland
zu sichern. Jedoch ist der Adressat der Falsche. Nicht der
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Bund bzw. die Bundesregierung ist hier gefordert, wie
dies in den Anträgen der Oppositionsfraktionen formu-
liert wurde, sondern Wissenschaft und Hochschulen in
ihrer grundrechtlich geschützten Selbstverantwortung
und Selbstorganisation, etwa in der HRK, Hochschulrek-
torenkonferenz, und DFG, Deutsche Forschungsgemein-
schaft. Der Bund ist sich seiner Verantwortung zur Un-
terstützung und konstruktiven Begleitung bewusst und
wird dieser auch in Zukunft nachkommen.
Eine Qualitätssicherung der Promotion erreichen wir
nachhaltig nur, indem wir Veränderungen im Wissen-
schaftssystem vornehmen. Die Hauptverantwortung
liegt hier aber bei den Hochschulen und nicht beim
Bund – und das ist auch richtig so. Die Hochschulen
müssen ihre Qualitätssicherungssysteme konsequent
weiterentwickeln. Uns ist es besonders wichtig, dass das
Vertrauen in die Arbeit der Hochschulen und in die
Selbstverantwortung des Wissenschaftssystems in
Deutschland erhalten wird. Denn eine gute wissenschaft-
liche Praxis darf nicht auf staatliche Vorgaben oder Re-
gularien angewiesen sein, sondern muss auf einem inten-
siven Austausch innerhalb des Wissenschaftssystems
beruhen. Gerade im Zuge der Exzellenzinitiative liegt es
im Eigeninteresse jeder Universität, möglichst gute For-
schungsergebnisse zu erzielen und einen herausragenden
Beitrag für die Wissenschaft zu leisten.
Wir unterstützen das Vorhaben der generellen Quali-
tätssicherung von Promotionen in Deutschland. Aller-
dings sollte das Augenmerk weniger auf Sanktionsmaß-
nahmen gerichtet werden, wie dies im Antrag der
Oppositionsparteien gefordert wird, sondern auf die In-
strumente für die Vermeidung von wissenschaftlichem
Fehlverhalten. So wird es erst gar nicht zu Sanktionen
kommen müssen. Des Weiteren ist eine Vereinheitli-
chung von Sanktionen durch die Bundesregierung, wie
sich das die Antragsteller vorstellen, gar nicht möglich.
Aufgrund der grundgesetzlich garantierten Hochschul-
autonomie sowie der richtigen Kulturhoheit der Länder
gibt es gute und klare Verantwortungen. Wer dies – wie
Sie – ignoriert, offenbart seine Ideenlosigkeit und
schreibt Schaufensteranträge.
Uns ist selbstverständlich bewusst, dass es klare He-
rausforderungen auf dem Weg zu gestärkten Qualitätssi-
cherungssystemen gibt: Denn bisher existiert weder eine
rechtlich noch eine praktisch geregelte Erfassung der Pro-
movierenden. Es fehlen in Deutschland empirisch belast-
bare Aussagen über die Anzahl der Promovierenden, die
Abbruchs- und Erfolgsquoten, die Promotionsdauer und
die prozessualen Daten zu Betreuungsqualitäten. Auf-
grund dieser Problematik startete das Bundesministerium
für Bildung und Forschung bereits eine Initiative, um mit
den entscheidenden Stakeholdern einen Dialog über eine
mögliche Lösung des Problems zu initiieren.
Auch die im Antrag der Oppositionsparteien gefor-
derte gemeinsame Stelle der Wissenschaft existiert be-
reits seit 1999. Das von der Deutschen Forschungsge-
meinschaft eingesetzte Gremium „Ombudsmann für die
Wissenschaft“ ist eine unabhängige Instanz, die allen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutsch-
land als Ansprechpartner zur Verfügung steht, wenn es
um die gute wissenschaftliche Praxis und um Verletzun-
gen durch wissenschaftliche Unredlichkeit geht.
In der Zwischenzeit sind die erwarteten Empfehlungen
des Wissenschaftsrates für die Hochschulen veröffent-
licht worden. Die Hochschulrektorenkonferenz nimmt
ihre Verantwortung wahr: Am 24. April 2012 hat sie elf
substanzielle Leitlinien zur Qualitätssicherung in Promo-
tionsverfahren verabschiedet. Die Promotionsordnung
muss in Zukunft so gestaltet und angewandt werden, dass
zu jeder Zeit die Transparenz und die Integrität der wis-
senschaftlichen Praxis sichergestellt werden können. Ein
weiterer wichtiger Punkt für die Doktoranden ist, dass da-
für Sorge getragen wird, dass die Arbeit an einer Disser-
tation in der Regel in drei Jahren abgeschlossen werden
kann. In der gleichen Sitzung hat sich die HRK mit klaren
Empfehlungen an ihre Mitglieder auch der Frage der Be-
fristungspraxis bei Nachwuchswissenschaftlern gestellt.
Wir als christliche liberale Koalition werden die
Hochschulen bei der Umsetzung der Empfehlungen und
Leitlinien im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstüt-
zen. Was unterscheidet uns also? Nichts weniger als das
Grundverständnis. Während Sie letztlich dem zentralen
Dirigismus das Wort reden, setzen wir auf Subsidiarität
und Unterstützung und Stärkungen der Verantwortlichen
in den Ländern und Hochschulen. Dies trägt Früchte,
wie Sie an den Aktivitäten der DFG, des Wissenschafts-
rats, der HRK und an vielen Hochschulen in Deutsch-
land sehen können. Dies haben wir politisch begleitet.
Zentralisierung und Schwächung der Verantwortlichen
vor Ort ist historisch bei vielen Themen gescheitert. Hie-
raus sollten Sie zumindest langsam beginnen zu lernen.
Ich bin überzeugt davon, dass Promotionen in
Deutschland weiterhin für eine exzellente wissenschaft-
liche Qualifikation stehen, und gehe davon aus, dass un-
sere Universitäten unserem wissenschaftlichen Nach-
wuchs weiterhin eine gute Betreuung zukommen lassen.
Es kann immer Einzelfälle wissenschaftlichen Fehlver-
haltens geben, die zu sanktionieren sind – keine Frage;
aber es dürfen nicht jede Doktorandin und Doktorand
unter Generalverdacht gestellt werden. Die gestärkte
Eigenmotivation und Eigenverantwortung von Wissen-
schaftlern und Wissenschaftlerinnen und ihre starke
intrinsische Motivation, die Grenzen der Erkenntnis
ständig zu verschieben, sind das beste Qualitätssiche-
rungssystem für die Wissenschaft.
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Als wir Anfang
Mai letzten Jahres den vorliegenden Antrag für die SPD
in den Bundestag eingebracht haben, hätte wohl keiner
von uns geahnt, dass innerhalb eines Jahres allein sechs
prominente Politikerinnen und Politiker – im Wesentli-
chen mit einem konservativ-liberalen Hintergrund – per-
sönliche und politische Konsequenzen aus Plagiatsvor-
würfen ziehen mussten. Aber mehr noch als die indi-
viduellen Fälle provozierte das lange Schweigen promi-
nenter Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft
und Politik zum Fall Guttenberg einen enormen und ver-
ständlichen Sturm der Entrüstung. Insbesondere diejeni-
gen, die selbst als Promovierende in das Blickfeld der
öffentlichen Wahrnehmung rückten, waren schockiert
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20865
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von dem Verhalten dieser „Würdenträger“. Diesem Auf-
schrei mussten nach unserer festen Überzeugung politi-
sche und parlamentarische Reaktionen folgen.
Die Entrüstung war mehr als gerechtfertigt; denn das
wissenschaftliche Fehlverhalten Einzelner gefährdet den
Ruf des gesamten deutschen Wissenschaftssystems. Um
es klarzustellen: Bei wissenschaftlichem Fehlverhalten
geht es nicht nur um das Kopieren ganzer Textpassagen
bzw. Ideen ohne Nennung des Urhebers. Viel verbreite-
ter ist die Manipulation ganzer Datensätze. So gab zum
Beispiel letzten Herbst der renommierte niederländische
Sozialpsychologe Diederik Stapel zu, massenweise Da-
ten gefälscht bzw. sogar erfunden zu haben. Solche Fälle
können das Vertrauen in das Siegel der „wissenschaftlich
fundierten“ Ergebnisse zerstören. Das dürfen wir nicht
zulassen. Genau deshalb sollten wir, Politik wie Wissen-
schaft, ein großes Interesse daran haben, dem entgegen-
zuwirken. Überall dort, wo wissenschaftliches Fehlver-
halten bekannt wird, müssen Wissenschaft und Politik
mit starker Stimme das Wort führen für eine „saubere“
Wissenschaft und Forschung.
In der öffentlichen Anhörung Ende letzten Jahres zu
diesem Thema haben wir ausführlich mit den geladenen
Expertinnen und Experten über die Problematik disku-
tiert. Dabei kam unter anderem heraus, dass nicht einmal
bekannt ist, wie viele Promovierende es in Deutschland
überhaupt gibt. Es existiert bisher keine Stelle, wo diese
Zahlen für Deutschland zentral gesammelt werden. Wir
wissen somit auch nicht, wie viele Doktoranden ihre
Promotion vorzeitig abbrechen, geschweige denn, wa-
rum. Das muss sich ändern. Nötig sind diese Zahlen
auch deshalb, da uns in der Anhörung sehr deutlich ge-
sagt wurde, dass zur Verbesserung des wissenschaftli-
chen Arbeitens die Betreuung der Promovierenden ver-
bessert werden muss. Man muss sich schon fragen, wie
ein einzelner Professor bzw. eine einzelne Professorin
zehn oder mehr Promovierende adäquat betreuen kann.
Hier muss es dringend ein Umdenken innerhalb des Wis-
senschaftssystems geben. Statt Masse brauchen wir hier
Klasse! Doktorandenbetreuung ist kein „Nebenge-
schäft“, sondern eine Grundaufgabe von Professorinnen
und Professoren, die aus dem besonderen Privileg, letzt-
lich Doktorgrade verleihen zu dürfen, auch Verpflichtun-
gen eingehen, dass diese wissenschaftliche Auszeich-
nung durch wahrhaftige und eigenständige Arbeit zu-
stande gekommen ist.
Ein ähnliches „Massenproblem“ haben wir auch im
Bereich der Publikationen. Wenn Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler das Gefühl haben, dass sie jedes
Jahr eine gewisse Anzahl von Publikationen veröffentli-
chen müssen, dann brauchen wir uns nicht zu wundern,
wenn am Ende auch geschummelt wird, um diese Zahl
zu erreichen, oder wenn die „least publishable unit“ ein
Maßstab für das eigene Publikationsverhaltens wird, ob-
wohl es sich nur noch um wissenschaftliche Brosamen,
aber mit imponierendem Titel in Publikationslisten han-
delt. Der Beschluss der DFG, gegen diese Publikations-
flut anzugehen, war auch in dieser Hinsicht eine richtige
Entscheidung und sollte von weiteren Institutionen über-
nommen werden. Wir registrieren mit Freude, dass die
DFG hiermit auch für andere Wissenschaftsorganisatio-
nen und für die Hochschulen ein Zeichen gesetzt hat.
Auch müssen wir uns selbst die Frage stellen, ob nicht
der Druck zur verstärkten Einwerbung von Drittmitteln
ein Faktor darstellt, der zu Plagiaten und Datenmanipu-
lationen führt. Wo frei geforscht wird, können Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler auch einfacher den
Misserfolg eines Experiments kommunizieren, ohne
Angst zu haben, dass ihnen die Gelder für das nächste
Projekt gestrichen werden.
Ändern muss sich auch, dass festgestelltes Fehlver-
halten von Promovierten und Habilitierten anders bzw.
geringer geahndet wird als das von Studierenden. Im
Sinne der Gerechtigkeit, aber auch im Sinne des Vorbild-
charakters kann so etwas nicht sein. Wir brauchen des-
halb eine Vereinheitlichung der Sanktionen, unabhängig
vom Status des Beschuldigten. Die kürzlich getroffene
Verabredung, dass entsprechende Erklärungen zur eigen-
ständigen Erarbeitung der Promotion verbindlich und
einheitlich an allen Hochschulen abgegeben werden
müssen, unterstützt das Anliegen, den Flickenteppich an
Regelungen durch klare, eindeutige und gleiche Ver-
pflichtungen und Sanktionen in ganz Deutschland abzu-
lösen.
Viele wissenschaftliche Themen sind so speziell, dass
Datenmanipulationen oder Ideenklau nur durch wenige
Spezialisten aufgedeckt werden können. Im Zweifel sind
dies sogar die eigenen Kollegen oder Teammitglieder.
So haben zum Beispiel im oben genannten Fall des nie-
derländischen Psychologen seine eigenen Nachwuchs-
wissenschaftler den entscheidenden Tipp zur Aufde-
ckung der Datenmanipulationen gegeben. Diese Whistle-
blower setzten durch ihren Mut aber im Zweifel auch
ihre eigene Karriere aufs Spiel. Um diese Whistleblower
zu schützen, existieren in Universitäten und Instituten
spezielle Ombudsfrauen und -männer. In der Anhörung
wurde darauf verwiesen, dass in einigen deutschen Uni-
versitäten diese Personen nur schwer zu finden sind. Das
muss sich ändern. Studierende und Mitarbeiter müssen
über die Funktion und die Kontaktmöglichkeiten dieser
Anlaufstellen deshalb noch besser informiert werden. In
Zeiten des Internets sollte es doch kein Problem sein,
diese Personen leicht auffindbar zu machen und An-
sprechpartner klar zu benennen.
Zu einer weiteren wichtigen Frage, die wir als SPD in
unserem Antrag angesprochen haben, konnten uns ins-
besondere die Vertreterinnen und Vertreter der Bundes-
regierung keine Antwort geben, nämlich wie wir wirk-
sam gegen das „akademische Ghostwriting“ vorgehen.
Es kann doch nicht sein, dass man sich ganze Publikatio-
nen einfach fremdschreiben lässt und dann nur noch sei-
nen eigenen Namen darüber setzt. Gegen diese kommer-
ziellen Angebote muss die Bundesregierung nun endlich
etwas unternehmen. Professorinnen und Professoren
sollten sich aber auch fragen, ob sie es wirklich verant-
worten können, dass ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter
forschen, die Ergebnisse dann aber nur unter dem Na-
men der Professorinnen und Professoren veröffentlicht
werden. Hier hat sich eine Aneignung von geistigem Ei-
gentum qua Herrschaft und Abhängigkeit eingeschli-
chen, die dann die guten Sitten hin zu einem noch viel
extremeren Missbrauch verdirbt.
20866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
(D)(B)
Im Ganzen haben die Anhörung und unsere Beratun-
gen gezeigt, wie weitläufig das Problem des wissen-
schaftlichen Fehlverhaltens ist. Es geht eben nicht allein
um „copy and paste“, sondern genauso um eingefahrene
Strukturen, die zu Plagiaten und Datenmissbrauch er-
muntern. Genauso klar haben die Expertinnen und Ex-
perten aber auch dargestellt, dass das Problem nicht al-
lein bei Promotionen liegt. Der uns vorliegende Grünen-
Antrag betrachtet somit nur die Spitze des Eisberges.
Wie aber CDU/CSU und FDP nach dieser Anhörung
noch immer jeglichen Handlungsbedarf des Bundes
beim Thema wissenschaftliches Fehlverhalten negieren
können, ist uns, ehrlich gesagt, schleierhaft. Das hängt
doch hoffentlich nicht mit einer gerüchtweise im konser-
vativen-liberalen Umfeld vorhandenen Auffassung zu-
sammen, dass ein Doktortitel jemanden zu einem besse-
ren Menschen oder Politiker macht.
Aufgabe der Politik wie auch der Wissenschaft ist es,
die Rahmenbedingungen für ein gutes wissenschaftli-
ches Arbeiten zu gewährleisten. Dazu müssen jetzt
Strukturen reformiert werden. Die schwarzen Schafe des
Wissenschaftssystems und in der Politik sollten hinge-
gen wissen, dass die Wissenschaftsgemeinschaft ihnen
am Ende auf die Schliche kommt und dass ihre Verfeh-
lungen spürbare Konsequenzen haben.
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Um es vorne-
weg klar und deutlich zu sagen: Die FDP-Bundestags-
fraktion misst der Wissenschaft und der wissenschaftli-
chen Redlichkeit einen großen Stellenwert bei. Wir
vertrauen daher – im offenkundigen Gegensatz zu den
Oppositionsfraktionen – im Kampf gegen Plagiate und
gegen Fehlverhalten in wissenschaftlichen Arbeiten auf
die Selbstkontrollmechanismen der Hochschulen und
Wissenschafts- und Forschungsorganisationen.
Die Wissenschaft und wissenschaftliches Arbeiten ge-
rieten in 2011 durch einzelne Fälle wissenschaftlichen
Fehlverhaltens in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Ein
Zerrbild wissenschaftlicher Praxis entstand für einen kur-
zen Zeitraum in der öffentlichen Wahrnehmung. Wenige
Einzelfälle führten zu einem Generalverdacht von Dokto-
randen. Es wurden Fragen zur Selbstkontrolle der Wis-
senschaft aufgeworfen, die zu einer intensiven Debatte
und Selbstreflexion innerhalb des Wissenschaftssystems
und ihrer Institutionen führte. Mittlerweile haben sich
sowohl Wissenschaftsrat, außeruniversitäre Forschungs-
einrichtungen als auch Hochschulrektorenkonferenz mit
Positionspapieren, Leitlinien und Vorschlägen zur Siche-
rung guter wissenschaftlicher Praxis zu Wort gemeldet.
Nicht zuletzt an den Universitäten, an denen die Plagiats-
fälle publik wurden, setzte eine Selbstbefassung in den
Fachbereichen und Hochschulgremien über Promotions-
verfahren und Mechanismen der Qualitätssicherung ein.
Es zeigt sich, dass das Wissenschaftssystem sich selbst ei-
ner kritischen Überprüfung unterzogen hat und weiter un-
terzieht und generell zu Selbstkontrolle in der Lage ist. Es
zeigt, dass es nicht des Staates braucht, und bestätigt da-
mit unsere Auffassung.
Die von Bündnis 90/Die Grünen und SPD vorgeleg-
ten Anträge lassen tief blicken, mit welcher Denkweise
Grüne und SPD dem deutschen Wissenschaftssystem ge-
genüberstehen. Wie überzogen und offensichtlich unbe-
dacht viele der Forderungen sind, zeigt sich in dem an
die Bundesregierung erhobenen Anspruch, als Korrektiv
tätig zu werden. Bundestag und Bundesregierung sollen
die Initiative ergreifen, um wissenschaftliche Missstände
zu beheben. Wissenschaft und Forschung – so der
Tenor – müssen durch staatliches Handeln reglementiert
und normiert werden, um mehr Transparenz und einheit-
liche Kriterien zu fassen. Per Beschluss des Deutschen
Bundestags soll der Wissenschaft mehr Redlichkeit zu-
geführt werden. Per Beschluss soll die Bundesregierung
beauftragt werden, in die Selbstkontrolle der Wissen-
schaft einzugreifen und wissenschaftliche Standards und
Qualitätskriterien begleitend zu erarbeiten.
Dabei übertrifft die SPD sogar die Grünen in ihren
Forderungen. In ihrem Antrag „Kampf gegen wissen-
schaftliches Fehlverhalten aufnehmen“ verfallen die So-
zialdemokraten in Überlegungen zu bundeseinheitlichen
Strafen und Sanktionen für wissenschaftliches Fehler-
verhalten, anstatt zum Kern des Problems vorzudringen.
So fordert die SPD stattdessen die Bundesregierung dazu
auf, die Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V.
eine Stellungnahme erarbeiten zu lassen, die Sanktionen
bei wissenschaftlichem Fehlverhalten nachgeht. Weiter
im Antrag heißt es dann, dem Ansinnen der SPD nach
soll es eine „zentrale Stelle der Wissenschaft“ geben, wo
unter Anonymität wissenschaftliches Fehlverhalten an-
gezeigt werden kann.
Nach Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion ist ein
Eingreifen von Bundesregierung oder Bundestag weder
erforderlich noch zielführend. Denn die Wissenschaft
lässt sich keine fremden Kriterien oder einheitliche Stan-
dards überstülpen, sondern folgt ihren eigenen, selbster-
arbeiteten Qualitätsstandards in der eigenen Fachkultur.
Der Wissenschaftsrat verweist in seinem Positionspapier
„Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promo-
tion“ vom November 2011 genau auf diese Selbststän-
digkeit: „Eine Verständigung über inhaltliche Standards,
die an eine Promotion angelegt werden, kann nur fach-
spezifisch erfolgen.“
Der beste Schutz vor wissenschaftlichem Fehlverhal-
ten liegt aber nicht nur in der Erarbeitung neuer Stan-
dards und Kriterien. Wichtiger als die Formulierung
neuer und abstrakter Standards und Kriterien ist ein kla-
res Bekenntnis der Wissenschaftler zu den eigenen Stan-
dards und Kriterien sowie zu den Rekrutierungs- und
Begutachtungsprozessen. Diese müssen selbst als Instru-
mente begriffen werden. Denn das Promotionsrecht ist
ein vom Staat an die Universitäten verliehenes Recht.
Mit diesem Recht sind zugleich unteilbar die Verantwor-
tung und die Pflicht für die Einhaltung wissenschaftli-
cher Standards verbunden.
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt es jedenfalls ab,
eine weitere Verrechtlichung und Bürokratisierung der
deutschen Hochschulen voranzutreiben. Wir sind davon
überzeugt, dass die deutschen Hochschulen ein Mehr an
Autonomie und Selbstbestimmung benötigen – und nicht
ein Mehr an Bürokratie. Das deutsche Wissenschaftssys-
tem weiß selbst am besten, wie die gute Qualität wissen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20867
(A) (C)
(D)(B)
schaftlichen Arbeitens zu sichern ist, unter Einsatz ihrer
Reputation.
Die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und SPD
werden diesem Anspruch an das Wissenschaftssystem
nicht gerecht. Die erhobenen Forderungen sind vollkom-
men überzogen und werden aus diesem Grund abge-
lehnt.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Vor etwas mehr als ei-
nem Jahr hat die Debatte über richtiges Zitieren, über
Plagiate und über wissenschaftliches Fehlverhalten ins-
gesamt die Schlagzeilen beherrscht. Sie führte zu einer
intensiven Diskussion in der Wissenschaft selbst, aber
auch in der Politik. Heute debattieren wir am „Welttag
des geistigen Eigentums“ eine spezielle Facette dieses
schillernden Begriffs.
Da wir hier im Bundestag bereits mehrfach unsere
Positionen zum Problem verdeutlichen konnten, wähle
ich heute für meinen Beitrag eine des Themas angemes-
sene Form und zitiere – gewissermaßen „auf den Schul-
tern von Riesen“, so Robert K. Merton, stehend –: „Viel-
leicht sind wir altmodisch und vertreten überholte
konservative Werte, wenn wir die Auffassung hegen,
dass Aufrichtigkeit und Verantwortungsbewusstsein
Werte sein sollten, die auch außerhalb der Wissenschaft
gelten sollten. Herr zu Guttenberg schien bis vor kurzem
auch dieser Meinung zu sein.“ Zu finden ist dieses Zitat
in: Offener Brief von Doktoranden an die Bundeskanz-
lerin. 2011. Online.
Richtig bleibt: „Wissenschaftler, die ihre Tätigkeit in
erster Linie als Weg zu Ruhm, Macht und Reichtum se-
hen, sind vermutlich eher als andere dazu prädisponiert,
über ein ganz spezielles Hindernis zu stolpern – den so-
genannten Mogelfaktor.“ Geschrieben von: Fischer,
Klaus: Spielräume wissenschaftlichen Handelns. Die
Grauzone der Wissenschaftspraxis.
Denn: „Die Forderung nach Uneigennützigkeit hat ihre
feste Grundlage im öffentlichen und überprüfbaren Cha-
rakter der Wissenschaft.“ Zu lesen in: Merton, Robert K.:
Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur.
Daraus folgt: „Die Plagiatsaffäre weist an dieser
Stelle weit über den spektakulären Einzelfall hinaus. Im-
merhin hat sie auch in der Rechtswissenschaft eine
Selbstvergewisserung über das Grundverständnis der
Profession angestoßen. Diese Reflexion bezieht sich der-
zeit in erster Linie darauf zu fragen, wie die Dokto-
randenausbildung so reformiert werden kann, dass es
unwahrscheinlicher wird, eine allzu fehlerhafte Doktor-
arbeit mit summa cum laude zu bewerten, und dass es
wahrscheinlicher wird, Plagiate aufzudecken.“ Aus:
Fischer-Lescarno, Andreas: Guttenberg oder der „Sieg
der Wissenschaft“.
Richtig ist auch: „Außerhalb der Täuschung in Quali-
fikationsschriften ist das Rechtsfolgenregime bisher in
der Praxis nur unzureichend entwickelt. Deutliches Fehl-
verhalten (Plagiate) wird von Hochschulen bisher nicht
immer seinem moralischen (und rechtlichen) Fehlverhal-
tensgewicht entsprechend behandelt. Es geht nicht an,
dass Hochschullehrern solches Fehlverhalten nicht mit
der gleichen Härte vorgehalten wird wie Autoren von
Doktorarbeiten oder Habilitationsschriften.“ Gehört von:
Löwer, Wolfgang: Stellungnahme vor dem Ausschuss
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung,
7. November 2011.
Wir müssen uns folgendes vergegenwärtigen: „Die
Hinweise kommen von Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftlern aus unterschiedlichen Karrierestufen. So
waren unter den Hinweisgebern 16 Prozent Nichtgra-
duierte, 50 Prozent Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler und 34 Prozent Professorinnen und Professoren.
Dagegen betrug bei den Angezeigten der Hochschulleh-
reranteil 61 Prozent, es kamen 35 Prozent aus dem Mit-
telbau und 5 Prozent waren Nichtgraduierte.“ Ombuds-
mann der DFG: Bericht 10 Jahre Ombudsarbeit.
Darüber hinaus bedenken wir Folgendes: „Überden-
kenswert ist, ob jenseits der Reputationswahrung weitere
Anreiz- und Belohnungsstrategien nicht die Wahrschein-
lichkeit von Fehlverhalten steigern, wie dies im Diskurs
über die parameterisierte Mittelverteilung etwa nach der
Zahl der Dissertationen zuletzt diskutiert worden ist.
Wenn es keine Grundfinanzierung der naturwissen-
schaftlichen Fächer gibt, die dem Eigensinn Raum
geben, wenn jeder Euro wettbewerblich eingeworben
werden muss, steigt die Abhängigkeit vom Einwer-
bungserfolg; Abhängigkeit ist im Ergebnis eine zusätz-
liche moralische Last, die die Standard-Einhaltung gege-
benenfalls im einzelnen Fall lockert.“ Analysiert von:
Löwer, Wolfgang: Stellungnahme vor dem Ausschuss
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung,
7. November 2011.
Und: „Das Schizophrene liegt im guten Glauben von-
seiten der Ministerien, dass eine hohe Anzahl von Veröf-
fentlichungen irgendeine Qualität beweist. Das bereitet
den Boden für Plagiatoren, obwohl es nach wie vor die
bewusste Entscheidung des Einzelnen ist, die Grenze
zum wissenschaftlichen Fehlverhalten zu überschrei-
ten.“ Stellt fest: Weber-Wulff, Deborah: Unter Schizo-
phrenen. Plagiate bekämpfen mit Open Access.
Überraschend die Feststellung: „Anhängern quantita-
tiver Evaluation sollte zu denken geben, dass etliche viel
zitierte hot papers … inzwischen eindeutig als gefälscht
gelten: Zitationsraten sind keineswegs wie oft behauptet
ein Qualitätsmaß.“ Fröhlich, Gerhard: Plagiate und
unethische Autorenschaften.
Ich teile die folgende Position: „Wissenschaftliche
Werke gehören in die Öffentlichkeit. Sie dürfen, entspre-
chend den Potenzialen elektronischer Räume, nicht
exklusiv privatisiert werden.“ Zu lesen bei: Kuhlen,
Rainer: Guttenberg und Wissenschaftsethik.
Ich unterstütze die Forderung nach Open Access in
der Wissenschaft: „Das Verfassen einer Dissertation er-
fordert hohe Präzision beim Formulieren und Gestalten
eigener und der Wiedergabe übernommener Daten, Gra-
fiken und Texte. Aus informationswissenschaftlicher
Sicht gehört dazu eine deutliche Trennung von eigenen
und zitierten Passagen, verbunden mit einer klaren und
nachvollziehbaren Quellenangabe. Elementare Bedin-
gungen zur Gewährleistung der Einhaltung dieser
20868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
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(D)(B)
Grundsätze sind Offenheit und Nachprüfbarkeit. Dies
kann durch eine allgemeine Verpflichtung zu Open-
Access-Veröffentlichungen erreicht werden. Damit wird
den Möglichkeiten und Versuchungen moderner Kom-
munikationssysteme (Internet) eine gleichgewichtige
Überprüfungsmöglichkeit entgegengesetzt. Open Access
ist dann gegeben, wenn weltweit im Internet frei und
vollständig wissenschaftliche Qualifizierungsarbeiten
digitalisiert zur Verfügung stehen.“ Gelesen bei: Deut-
sche Gesellschaft für Informationswissenschaft und
Informationspraxis, Brief an die Hochschulrektorenkon-
ferenz vom 7. November 2011.
Zum Abschluss zur Kultur in der Wissenschaft:
„Nicht das Fehlermachen an sich, sondern das Nichtaus-
seinen-Fehlern-Lernen, Die-Fehler-nicht-Zugeben sei
der eigentliche Fehler. Eine auf einer fehler- und damit
menschenfreundlicheren Anthropologie aufbauende
Kulturphilosophie, Methodologie und Wissenschafts-
ethik könnte vielleicht gerade durch die Enttabuisierung,
die Entemotionalisierung und die teilweise psychische
Entlastung fehlerentdeckender oder von anderen fehler-
überführter Wissenschaftler dazu führen, dass Betrug
und Selbstbetrug abnehmen zugunsten unbefangener,
mit weniger Schadenfreude und Scham verbundener
Fehlersuche – bei sich und anderen.“ Erdacht von: Fröh-
lich, Gerhard: Betrug und Täuschung in den Sozial- und
Kulturwissenschaften. In: Hug, T. (Hg.): Wie kommt die
Wissenschaft zu ihrem Wissen?
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
finde es erfreulich, wie resistent und renitent der Wissen-
schaftsbereich sich gezeigt hat gegenüber Versuchen,
wissenschaftliches Fehlverhalten und Plagiate zu baga-
tellisieren.
Bei der Koalition herrschte lange der Eindruck vor,
dass wir sie nur mit politisch prominenten Plagiatsfällen
ärgern wollten. Aber es hat sich ja gezeigt, dass auch der
Wissenschaftsbereich selbst sich mit der Frage, wie die
Qualität wissenschaftlicher Arbeiten und gute wissen-
schaftliche Praxis in Zukunft besser gesichert werden
können, kritisch auseinandergesetzt hat. Auch die Wis-
senschaftsorganisationen wie die DFG, die MPG und
jüngst die HRK mit ihren Empfehlungen zur „Qualitäts-
sicherung in Promotionsverfahren“ haben dieses Thema
aktiv aufgenommen. Der Wissenschaftsrat hat in seinem
Positionspapier zur „Qualitätssicherung der Promotion“
im letzten Herbst eine Reihe von Empfehlungen abgege-
ben; beide Papiere untermauern viele der Forderungen
aus unserem Antrag.
Wir halten strukturelle Veränderungen für notwendig
und wollen, dass die Universitäten mehr institutionelle
Verantwortung im Promotionsverfahren übernehmen.
Dazu zählt, dass Betreuungsvereinbarungen das Verhält-
nis zwischen Promovierenden und Betreuerinnen und
Betreuern klar und transparent regeln und dass verstärkt
externe Gutachter zur Bewertung einer Promotion hinzu-
gezogen werden. Dazu gehört auch, dass ein einheitli-
cher Doktorandenstatus an den Universitäten eingeführt
wird. Diese Forderungen haben die Koalitionsfraktionen
ja nun auch in ihrem aktuellen Antrag zum wissenschaft-
lichen Nachwuchs übernommen.
Es setzt falsche Anreize, wenn die Leistung der Pro-
fessorinnen und Professoren rein quantitativ nach der An-
zahl der Promotionen gemessen wird. Darüber waren
sich auch alle Sachverständigen im Fachgespräch im Bil-
dungs- und Forschungsausschuss einig. Deshalb wollen
wir, dass in die leistungsbezogene Mittelvergabe auch
qualitative Gesichtspunkte bei der Betreuung, aber auch
Zweitgutachtertätigkeiten und die Mitwirkung an Prüfun-
gen berücksichtigt werden. Der Wissenschaftsrat hat sei-
nerseits vorgeschlagen, eine binäre Notenskala einzufüh-
ren und nur noch die Noten „Bestanden“ oder „Mit
besonderem Lob“ zu vergeben. Diese Idee kann helfen,
die örtlich sehr unterschiedlichen Praktiken bei der No-
tenvergabe zu vereinheitlichen. Das Fachgespräch hat
auch gezeigt, dass die Unis ihre Kompetenzen zur Erken-
nung von Plagiaten erweitern müssen. Anti-Plagiatssoft-
ware ist dabei kein Allheilmittel, sondern kann stets nur
ein ergänzendes Hilfsmittel sein. Wir halten es auch für
sinnvoll, dass alle Doktoranden, wie es bereits in Berlin
und München praktiziert wird, eine eidesstattliche Erklä-
rung unterzeichnen, um sich darin zu verpflichten, die
Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis einzuhalten
und es hier nicht unterschiedliche Standards von Uni zu
Uni gibt. Strukturierte Promotionsverfahren in Graduier-
tenschulen und Graduiertenkollegs sollten ausgebaut und
gestärkt werden. Wir wollen aber auch die Vielfalt der
Wege zur Promotion weiter offenhalten, also auch ex-
terne Promotionen weiter ermöglichen.
Die Bedeutung von wissenschaftlicher Redlichkeit
und guter wissenschaftlicher Praxis sollte schon zu ei-
nem frühen Zeitpunkt im Studium vermittelt werden.
Die Zugänge und die Zulassung zur Promotion sollten
fair und transparent geregelt werden und nicht allein der
subjektiven Intimität eines „Meister-Schüler-Verhältnis-
ses“ überlassen bleiben. Promovierenden, die auf soge-
nannten Qualifizierungsstellen Aufgaben an der Univer-
sität in Forschung, Lehre und Management übernehmen,
muss hinreichend Raum für ihre eigene Qualifizierung
gegeben werden.
In sehr vielen unserer Vorschläge und Forderungen
sehen wir uns von den deutschen Wissenschaftsorganisa-
tionen unterstützt. Dass sich am Ende auch der Aus-
schuss gemeinsam und ernsthaft mit dem Thema befasst
hat, ist erfreulich; denn deutsche Promovierte genießen
auch international ein hohes Ansehen, das es gegen
„schwarze Schafe“ zu verteidigen gilt. In diesem Zusam-
menhang kam aus der Wissenschaft auch der Hinweis,
dass der Doktorgrad von gesellschaftlichen Überhöhun-
gen befreit und nicht länger wie eine Art „bürgerlicher
Adelstitel“ behandelt werden sollte. Der Doktor sollte
vielmehr auf seine eigentliche Bedeutung – als Nach-
weis der besonderen wissenschaftlichen Qualifikation –
zurückgeführt werden. Als Schritt dazu haben wir in ei-
nem gesonderten Gesetzentwurf beantragt, den Doktor-
grad künftig nicht mehr in Pass und Personalausweis
einzutragen. Diese Forderung wird inzwischen auch
durch eine Bürgerpetition unterstützt, die demnächst im
Petitionsausschuss beraten wird. Damit unterstützen wir
auch eine alte Forderung des Bundesinnenministeriums,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20869
(A) (C)
(D)(B)
auf die Sie weniger reflexhaft reagieren sollten, als dies
bisher der Fall war.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
– Antrag: Frühzeitige Veröffentlichung der
Rüstungsexportberichte sicherstellen – Par-
lamentsrechte über Rüstungsexporte einfüh-
ren
– Unterrichtung: Bericht der Bundesregie-
rung über ihre Exportpolitik für konventio-
nelle Rüstungsgüter im Jahr 2010 (Rüs-
tungsexportbericht 2010)
(Tagesordnungspunkt 21 a und c)
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Das Thema Rüs-
tungsexporte hat uns alle im letzten Jahr sehr bewegt,
wir haben es sehr häufig hier im Deutschen Bundestag
debattiert. Heute legen uns die Sozialdemokraten einen
Antrag vor, der sehr an die Debatte vom 20. Oktober des
letzten Jahres erinnert. Das Thema ist emotional sehr
aufgeladen, und es befindet sich in einem Spannungsfeld
aus notwendiger Geheimhaltung in sicherheitspoliti-
schen Fragen und den Transparenzerfordernissen unse-
rer Demokratie.
Bei Debatten um Rüstungsexporte ist immer zu beto-
nen, dass Deutschland sich selbst eine strenge Selbstbe-
schränkung auferlegt hat. Das zuständige Bundesminis-
terium für Wirtschaft und Technologie richtet sich bei
der Genehmigung von Rüstungsexporten nach den
„Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den
Export von Kriegswaffen“ aus dem Jahr 2000. „Liefe-
rungen an Länder, die sich in bewaffneten äußeren Kon-
flikten befinden oder bei denen eine Gefahr für den Aus-
bruch solcher Konflikte besteht, scheiden (…)
grundsätzlich aus“, heißt es. Auch bei dem „hinreichen-
den Verdacht“, dass deutsche Waffen zur Unterdrückung
der Bevölkerung oder „sonstigen fortdauernden (…)
Menschenrechtsverletzungen“ im Empfängerland miss-
braucht werden, gibt es grundsätzlich keine Exportge-
nehmigung. Die Genehmigung von Rüstungsexporten
unterliegt also ständiger Abwägung und Reaktion auf
politische Ereignisse. Diese Regelung, aufgestellt von
einer rot-grünen Bundesregierung, wurde von der christ-
lich-liberalen Regierung nicht aufgeweicht, wie es hier
stets angedeutet wird. Auch die Geheimhaltung der Be-
schlüsse des Bundessicherheitsrates und die jährliche
Publikation des Rüstungsexportberichtes geht auf Ent-
scheidungen der rot-grünen Bundesregierung zurück.
Warum haben Sie denn die in Ihrem Antrag geforderten
Maßnahmen nicht bereits im Jahr 2000 umgesetzt?
Wenn die SPD nun also Änderungsbedarf an ihren da-
maligen Entscheidungen sieht, so ist dies grundsätzlich
in Ordnung, allerdings fehlt mir dann in ihrem Antrag
ein Wort der Selbstkritik.
Ihre Forderung nach einem parlamentarischen Kon-
trollgremium für den Bundessicherheitsrat, wie es im
Bereich der Geheimdienste praktiziert wird, klingt spon-
tan zunächst charmant. Allerdings ist Ihre begleitende
Forderung nach einer Veröffentlichung der Abwägungs-
erwägungen des Bundessicherheitsrates, falls er oder die
Bundesregierung einer Empfehlung des Kontrollgre-
miums nicht folgen, im Rüstungsexportbericht naiv,
wenn nicht sogar schädlich. Nicht jede Debatte, die wir
in der Außen- und Sicherheitspolitik mit und gerade über
andere Länder führen, können wir öffentlich führen. Ge-
rade in diesen sensiblen Feldern muss es Räume der Ver-
traulichkeit und der Nichtöffentlichkeit geben. Der Zu-
stand der Vertraulichkeit ist die Voraussetzung, dass vor
einer wichtigen Entscheidung alle – auch geheime –
Fakten auf den Tisch kommen, um wohlinformierte und
sorgfältige Abwägungen vornehmen zu können. Die
Notwendigkeit der Nichtöffentlichkeit trifft insbeson-
dere auf den Umgang mit unseren Verbündeten zu. Es ist
sicherlich nicht förderlich für unsere Bündnisfähigkeit
und Zuverlässigkeit, insbesondere in der NATO, wenn
jede vertrauliche Information oder Anfrage von unseren
Partnern umgehend veröffentlicht wird.
Der letzte Punkt im Antrag, der Punkt neun, ist jedoch
unerhört. Sie fordern, dass Rüstungsunternehmen bei
Exportanträgen offenlegen sollen, ob diese Spenden an
Parteien geleistet haben. Das ist einerseits überflüssig,
da Spenden ab 10 000 Euro anzeigepflichtig sind und in
den Rechenschaftsberichten der Parteien sowie in Mit-
teilungen des Präsidenten des Deutschen Bundestages
veröffentlicht werden. Das „Mindestmaß an Transparenz
und Öffentlichkeit“ ist also längst gewährleistet, Ihr Ak-
tionismus ist daher nicht erforderlich. Im Rechenschafts-
bericht 2010 findet sich übrigens eine Spende von EADS
an die SPD, aber das nur am Rande. Andererseits ist die-
ser Punkt deswegen ärgerlich, weil Sie suggerieren, Ent-
scheidungen einer Bundesregierung – unabhängig von
der parteipolitischen Färbung – seien über Parteispenden
käuflich. Sie mögen damit auf die aktuelle Koalition zie-
len, aber Sie treffen die gesamte politische Landschaft in
diesem Land. Sie beschädigen damit das kostbare und
verletzliche Vertrauen in die Politik als Ganzes. Darauf
sollte sich die SPD nicht einlassen.
Hier liegt ein klassischer Oppositionsantrag vor, der
Forderungen enthält, die frei von Verantwortungsbe-
wusstsein aufgestellt sind. Sollten Sie in diesem Land ir-
gendwann wieder Regierungsverantwortung tragen, so
werden Sie diese Forderungen niemals umsetzen.
Klaus Barthel (SPD): Die Rüstungsexportpolitik der
jetzigen schwarz-gelben Bundesregierung entwickelt
eine ähnlich fatale Dynamik wie zu Zeiten von Helmut
Kohl. Nach und nach werden die Restriktionen, die sich
Deutschland aus gutem Grund gesetzlich auferlegt hatte
und die in den rot-grünen Richtlinien aus dem Jahr 2000
weiter konkretisiert wurden, zwar nicht formal aufgeho-
ben, aber auf leisen Sohlen aufgeweicht, uminterpretiert
und schließlich im Ergebnis umgangen.
Obwohl auch schon früher die eine oder andere Einzel-
entscheidung umstritten war: Die derzeitige Regierung
20870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
(D)(B)
bricht alle Rekorde, die ihr bei anderen Wachstumsraten
versagt bleiben. Beim Anstieg der Rüstungsexporte ge-
genüber dem Zeitraum 2002 bis 2006 schafft sie sage und
schreibe 37 Prozent, so SIPRI.
Kein anderer als Helmut Schmidt hat in diesen Tagen
die Kanzlerin in Sachen Export von Panzern nach Saudi-
Arabien und U-Booten nach Israel deutlich kritisiert und
die Rückkehr zu dem Grundsatz, „Kriegswaffen nur an
Verbündete zu liefern“, gefordert. Bahrein, Mexiko, Pa-
kistan, Ägypten, Libyen, das sind weitere Weltregionen,
die das Problem deutscher Waffen in den falschen Hän-
den veranschaulichen.
Die Bundesrepublik ist wieder, wie nach der angebli-
chen Sondersituation der deutschen Wiedervereinigung
mit den Altbeständen der NVA, mit 9 Prozent Anteil am
weltweiten Waffenhandel auf dem dritten Platz. Unsere
einschlägigen Ausfuhren wuchsen damit deutlich schnel-
ler als der Gesamtmarkt. Selbst dort, wo es um unsere eu-
ropäischen Verbündeten geht, muss man sich doch nach
der Sinnhaftigkeit dieses Treibens fragen: Ausgerechnet
die Krisenstaaten Griechenland und Portugal waren und
sind derzeit Hauptempfänger deutscher Waffenlieferun-
gen. De facto leiht und garantiert der deutsche Steuerzah-
ler derzeit Griechenland als Abnehmer von 13 Prozent
der deutschen Rüstungsexporte das Geld für deren Be-
zahlung. Absurder geht es doch nicht in einer Verschul-
dungssituation, in der wir alles andere brauchen als
U-Boote und Panzerhaubitzen für Athen.
Da könnte man sagen: Okay, das sind Fehler der Ver-
gangenheit. Der Gipfel ist aber, dass diese Bundesregie-
rung gar kein Problem damit hat. Im Gegenteil: Weder
verlangt sie bei den Sparauflagen an die Krisenstaaten,
dass dieser Unfug ein Ende hat, während die Hälfte der
Jugendlichen auf der Straße steht, noch plant sie, ihre ei-
gene Genehmigungspraxis zu ändern. Alle Antworten
auf entsprechende parlamentarische Anfragen haben
eine klare Botschaft: Weiter so!
Es gäbe noch viel zu erzählen über die „Segnungen“
einer konfusen Außenpolitik und einer Sammlung ge-
fährlicher Rüstungsexportentscheidungen, denen unter
dem Strich nur noch eines gemeinsam ist: Der Vorrang
kurzfristiger betriebswirtschaftlicher Einzelinteressen.
Wegen 0,2 Prozent unserer Gesamtexporte riskiert die
Bundesregierung Menschenleben und Menschenrechte,
außenpolitische Glaubwürdigkeit und Handlungsspiel-
räume.
Eines will ich an dieser Stelle aus sozialdemokrati-
scher Sicht noch einmal klarstellen: Uns sind die Be-
triebe, die für die Ausstattung der Bundeswehr und unse-
rer Verbündeten arbeiten, und die Arbeitsplätze dort
nicht egal, im Gegenteil. Solange wir das noch brauchen
– aus meiner Sicht hoffentlich möglichst bald nicht mehr –
wollen wir nicht von anderen abhängig werden und sind
gut beraten, die technologischen und industriellen Kapa-
zitäten im Land zu halten.
Etwas ganz anderes ist es aber, wenn eine Bundesre-
gierung den besonderen Charakter der Ware Waffe nicht
mehr zu erkennen scheint und Waffenexporte als Teil ih-
rer weltweiten Exportstrategie begreift, so nach dem
Motto: Egal was und egal wie, Hauptsache wir können
wem auch immer möglichst viel andrehen. Eine solche
Exportpolitik sichert keine Arbeitsplätze, sondern ge-
fährdet sie. Das kann man doch an den Beispielen, die
ich genannt habe, gut nachvollziehen, gleich ob es sich
um die südeuropäischen Krisenländer handelt oder um
den Flurschaden im Nahen Osten. Auch ist es ein völlig
falsches Signal an die Rüstungsindustrie, dem Druck
nachzugeben, der sich aus der Bundeswehrreform ergibt,
und dabei entstehende Umsatzverluste durch verschärfte
Exportanstrengungen kompensieren zu wollen. Die Un-
ternehmen haben es schon in den 90er-Jahren vorge-
macht, dass es möglich ist, sehr erfolgreich auf zivile
Produkte umzusteigen. Diejenigen, die es nicht geschafft
haben, hatten die falschen Manager und die falschen
Konzepte. Die anderen stehen heute besser da als in den
Zeiten, da sie Hoflieferanten der Bundeswehr waren.
Gerade in der Region, aus der ich komme, im Groß-
raum München, hat die Umstrukturierung von Rüstungs-
betrieben gerade nicht zu Ödnis und Stillstand geführt,
sondern die Innovationskraft und Marktchancen der Be-
triebe erhöht. Die Zahlen des Bundesverbandes der
Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie für das Jahr
2011 bestätigen diese Tendenz. Wegen der Kürzungen in
den staatlichen Budgets sei erstmals seit 15 Jahren der
Umsatz im Segment Sicherheit/Rüstung um gut 1 Pro-
zent gesunken, und das bei einem Gesamtwachstum der
Branche um 4,1 Prozent. Die Beschäftigung stieg dabei
um 2 Prozent auf 97 400. Also: Nicht der militärische
Bereich braucht Staatsaufträge und Exportgenehmigun-
gen, sondern der zivile Bereich bringt Wachstum und
Beschäftigung. Da kann sich richtig verstandene Indus-
triepolitik Lorbeeren erwerben.
Nicht das ist aber der Kern unseres Antrags, sondern
die Frage, wie wir wieder zu einer restriktiven Genehmi-
gungspraxis beim Rüstungsexport zurückkehren können.
Dazu brauchen wir dauerhaft wirkende Mechanismen
parlamentarischer Kontrolle und öffentlicher Transpa-
renz, angefangen von einer zeitnahen Vorlage des Rüs-
tungsexportberichts über eine wirksame parlamentari-
sche Beteiligung bis hin zur Erfassung von Parteispenden
beteiligter Unternehmen.
Im Detail kann man das alles in unserem Antrag
nachlesen. Ähnliche Vorstellungen entwickeln gerade
die Grünen. Wir lösen damit das ein, was wir bei der
letzten Debatte in diesem Hohen Haus angekündigt ha-
ben, als wir von Vertretern der Koalition gefragt wurden,
wie wir uns das eigentlich alles konkret vorstellen mit
der Transparenz und der Parlamentsbeteiligung. Damals
hieß es auch seitens einzelner Redner der Koalition, man
wolle das ja im Grunde auch.
Wir sind jetzt gespannt auf Ihre Antwort, auf Ihre Kri-
tik und auf Ihre Alternativen und Verbesserungsvor-
schläge. Ich kann mir jedenfalls gut vorstellen, dass es
im gemeinsamen Interesse von uns Abgeordneten liegt,
rechtzeitig informiert und beteiligt zu sein, wie das in
anderen Ländern längst üblich ist, ohne dass deren
Bündnisfähigkeit gefährdet wäre oder deren Unterneh-
men ihre Geschäftsgeheimnisse nicht gewahrt sähen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20871
(A) (C)
(D)(B)
Wir alle sollten es leid sein, über geplante oder schon
genehmigte Rüstungsexporte zuerst in den Medien zu
hören und zu lesen, dann erst medial dazu gefragt zu
werden und dann auch noch nichts dazu sagen zu können
und zu dürfen, weil wir Genaueres, wenn überhaupt je-
mals, vielleicht eineinhalb Jahre später dem Rüstungs-
exportbericht entnehmen dürfen. Wir alle erinnern uns
doch an einschlägige gespenstische Fragestunden, Ak-
tuelle Stunden, Ausschuss- und Plenardebatten. So, wie
das jetzt geregelt ist, bei aller Anerkennung des Letztent-
scheidungsrechtes der Exekutive, kann es für ein Parla-
ment und eine Informationsgesellschaft im 21. Jahrhun-
dert nicht bleiben.
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Ähnliche
Anträge zu dem Themenkomplex „Frühzeitige Veröffent-
lichung der Rüstungsexportberichte sicherstellen – Parla-
mentsrechte über Rüstungsexporte wahren“ haben wir
schon im Wirtschaftsausschuss ausführlich behandelt.
Dort haben wir die inhaltsleeren Argumente der Opposi-
tion zurückgewiesen. Die in diesem Antrag gewünschten
parlamentarischen Beteiligungsrechte an Rüstungsex-
portentscheidungen der Regierung sowie eine größere
Transparenz in diesem Bereich hat die SPD-Fraktion in
Regierungsverantwortung nie gefordert. Sie selbst haben
unter Rot-Grün die Rüstungsexportpolitik nach den
„Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den
Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“
im Jahr 2000 neu ausgerichtet.
Eine verfrühte Veröffentlichung der Rüstungsexport-
berichte ohne weitergehende Prüfung dieser schwierigen
Materie ist verantwortungslos. Zumal die Mehrheit der
deutschen Rüstungsexporte an die verbündeten EU- oder
NATO-Staaten geht.
Des Weiteren erfolgen die Entscheidungen über Aus-
fuhranträge jeweils im Einzelfall insbesondere unter Be-
rücksichtigung der außenpolitischen Situation und der
Menschenrechtslage im Empfängerland. Eine verfrühte,
vierteljährliche Vorlage des Rüstungsexportberichts ist
aufgrund der notwendigen Auswertung umfangreicher
Statistiken kaum realisierbar. Hinzu kommt die Abstim-
mung zwischen den einzelnen Ressorts über die Darstel-
lung und Bewertung des zusammengeführten Daten-
materials. Daher kann der Rüstungsexportbericht in der
Regel frühestens in der zweiten Jahreshälfte des Folge-
jahres dem Deutschen Bundestag vorgelegt werden. Eine
noch weitergehende Ausgestaltung mit Angaben über
Dual-Use-Ausfuhren würde die Erstellung des Rüs-
tungsexportberichts noch weiter erheblich verzögern.
Dies würde genau der hier geforderten frühzeitigeren
Veröffentlichung der Berichte in Gänze entgegenstehen.
Hier zeigt sich die unausgereifte Forderung des SPD-
Antrages. Auch die Forderung nach Einsetzung eines
Kontrollgremiums im Bundestag missachtet die verfas-
sungsrechtlichen Grundsätze der Gewaltenteilung. Denn
Genehmigung von Rüstungsgüterexporten ist Aufgabe
der Exekutive.
Die Forderungen dieses Antrages sind populistisch
und wider besseres Wissen nicht zielführend zur Verbes-
serung der Rüstungsexportbestimmungen angelegt. Des-
halb lehnen wir diesen Antrag der SPD-Fraktion ab.
Jan van Aken (DIE LINKE): Seit Jahren ist
Deutschland weltweit der drittgrößte Exporteur von Rüs-
tungsgütern; nur die USA und Russland verkaufen noch
mehr. Rund 11 Prozent aller weltweiten Rüstungsaus-
fuhren stammen aus Deutschland. Als sich im vergange-
nen Jahr die Bevölkerungen Nordafrikas und des Mittle-
ren Ostens gegen die jahrzehntelange Unterdrückung
erhoben, haben wir die direkten Folgen dieser Politik
sehen können. Gekämpft wurde mit Kriegsgerät aus
Deutschland: Aus Libyen erreichten uns Bilder von
Panzertransportern aus deutscher Produktion. Wir sahen
in Gaddafis Palast ein Lager mit nagelneuen Sturmge-
wehren des Typs G 36 von Heckler & Koch. Mubaraks
Truppen waren mit der Maschinenpistole MP 5 ausge-
rüstet; deutsche Wasserwerfer trieben die Protestieren-
den auf dem Tahrir-Platz auseinander.
Das ließe sich jetzt noch lange fortführen. Das reicht
aber schon. Es reicht, weil es auch der deutschen Bevöl-
kerung reicht. Im Herbst des vergangenen Jahres sprach
sich in einer repräsentativen Umfrage die überwälti-
gende Mehrheit von 78 Prozent gegen den Verkauf von
Rüstungs- und Kriegsgerät aus. Es gibt kaum jemanden
in Deutschland, der dieses Geschäft mit dem Tod gut-
heißt.
Es freut mich, zu beobachten, dass auch hier im Bun-
destag die Waffenexporte zunehmend kritischer gesehen
werden. Noch hat das keine Konsequenzen, noch geneh-
migt diese Bundesregierung ungebremst jede Waffen-
ausfuhr, bis hin zu Kampfpanzern für Saudi-Arabien.
Aber das wollen wir ändern, und das werden wir ändern.
Der erste Schritt dahin ist, dass sich in der SPD etwas
ändern muss. Im letzten Jahr gab es viel Kritik an Rüs-
tungsexporten von den Sozialdemokraten. Jetzt haben
sie hier dazu einen Antrag eingebracht. Der ist allerdings
eine einzige Frechheit. Im Kern fordert die SPD näm-
lich, möglichst gar nichts zu ändern. Wenn Sie von der
SPD glauben, Sie könnten hier der Öffentlichkeit weis-
machen, Sie wollen etwas an den grenzenlosen Waffen-
exporten ändern, dann müssen Sie die Menschen wirk-
lich für komplett naiv halten.
Drei Beispiele:
Erstens. Die SPD fordert: „Keine Lizenzen zur
Waffenproduktion mehr an Drittstaaten vergeben, die
den Endverbleib nicht zweifelsfrei sicherstellen kön-
nen.“ Ihrer Vorstellung nach dürfen also deutsche
Hersteller weiter ganze Waffenfabriken in Ländern wie
Saudi-Arabien bauen. Ihre Einschränkung, dass der End-
verbleib „zweifelsfrei sichergestellt“ sein muss, ist eine
Nebelkerze. Denn das gilt heute schon: Jedes Empfän-
gerland muss den Endverbleib bestätigen, und die Ex-
portrichtlinien sehen vor, dass keine Waffen an Länder
geliefert werden, bei denen es Anlass gibt, an diesem
Endverbleib zu zweifeln. Alle wissen, dass der End-
verbleib natürlich nicht gesichert ist. Die G 36 in den
Händen von Gaddafi-Getreuen und Panzerabwehrrake-
ten des Typs MILAN bei den Aufständischen in Libyen
20872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
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haben das wieder mal gezeigt. Deshalb muss man hier
etwas grundsätzlich verändern. Ich persönlich plädiere
für ein generelles Verbot solcher Exporte. Aber die SPD
beantragt hier schlicht und einfach nur, dass alles so
bleibt, wie es ist. Das ist beschämend.
Zweitens. Wir sind uns alle einig, dass es mehr Trans-
parenz bei den Rüstungsexporten braucht. In anderen
Ländern ist es bereits gang und gäbe, dass alle drei
Monate die aktuellen Exportzahlen veröffentlicht wer-
den. Auch im Bundestag wurde dies schon diskutiert.
Was schlägt die SPD jetzt vor? Es bleibt, wie es ist: Ein-
mal im Jahr wird ein Bericht veröffentlich, nur etwas
früher als bislang. Offen gesagt: Das lässt mich ratlos
zurück! Wen will die SPD mit diesem Kleinstvorstoß
täuschen? Die Öffentlichkeit? Oder ist das eine Art
Selbstbetrug, damit man behaupten kann, irgendetwas
irgendwann einmal vorgeschlagen zu haben?
Drittens: Die SPD möchte ein Parlamentsgremium
einrichten, in dem die Bundesregierung in geheimer
Sitzung über die im Bundessicherheitsrat getroffenen
Waffenexportentscheidungen unterrichtet. Also: In ge-
heimer Sitzung wird über geheime Entscheidungen des
geheim tagenden Bundessicherheitsrates unterrichtet.
Glauben Sie wirklich, das ist transparent?
Es ist ein Trauerspiel, dass die Waffenlobby selbst auf
eine SPD in der Opposition noch mehr Einfluss hat als
einige Abgeordnete in den eigenen Reihen, die sich ja
wirklich ehrlich und ernsthaft für eine Beschränkung
von Waffenexporten einsetzen. Wie kann es denn sein,
dass Rüstungslobbyisten wie Johannes Kahrs bei Ihnen
so viel Einfluss haben – so viel Einfluss, dass Sie uns
hier diesen lächerlichen Antrag vorlegen?
Ich kann aus Ihren heutigen Forderungen nur einen
Schluss ziehen: Sollte es der SPD gelingen, 2013 an die
Regierungsmacht zurückzukehren, wird sie an der Praxis
der deutschen Rüstungsexporte nichts, aber auch gar
nichts ändern. Denn genau das beantragen Sie hier. So
traurig das ist: Es überrascht eigentlich auch kaum. In
der letzten SPD-Regierungszeit wurden die Rüstungs-
exporte schließlich deutlich ausgeweitet.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
gar keine Waffen mehr exportieren sollte. Aber das geht
offensichtlich nur mit einer starken Linken und einer
schwachen SPD.
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was für
ein erfreulicher Antrag und was für eine unerfreuliche
Uhrzeit! Dieses Thema sollten wir nicht am späten
Abend zu Protokoll reichen, sondern am helllichten Tage
laut diskutieren. Denn Licht ist dringend nötig im
Dickicht der deutschen Rüstungskontrolle.
Im Dezember 2011 wurde uns der Rüstungsexportbe-
richt für das Jahr 2010 endlich vorgelegt. Was für eine
Schmach, dass es so lange dauert, bis ein paar Zahlen zu-
sammengefasst wurden. So verschleppt man die Debatte
auf einen Zeitpunkt, an dem sich kaum noch jemand für
die längst abgewickelten Vorgänge interessiert. Zumin-
dest zeitgleich mit dem Jahresabrüstungsbericht könnte
auch der Rüstungsexportbericht vorliegen. Vor 2000, als
es noch keinen Rüstungsexportbericht gab, konnte das
Wirtschaftsministerium die Zahlen als Reaktion auf eine
jährlich wiederholte Anfrage der Grünen ebenfalls be-
reits im März vorlegen. Warum geht dies inzwischen im-
mer erst so spät? Warum setzt die Regierung den Export-
bericht nicht selber zur Debatte auf, so wie sie das mit
dem Abrüstungsbericht tut? Andere Nachbarländer der
EU gehen mit dem Thema inzwischen weit offener um,
als es hier im drittgrößten Waffenexportland üblich ist.
So werden beispielsweise in England die Zahlen zu den
Rüstungsexportgenehmigungen vierteljährlich bis je-
weils zum nächsten Quartalsende vorgelegt und in einem
gesonderten Ausschuss debattiert. Das sollte auch bei
uns machbar sein.
Transparenz ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie.
Dies muss für alle Bereiche der Politik gelten. Wenn
man sich den Bericht dann einmal genauer anschaut,
versteht man allerdings, warum möglichst lange geheim
bleiben soll, was die Bundesregierung da treibt. Wenn
Spannungsgebiete, wie Indien und Pakistan, gleicherma-
ßen hochgerüstet werden, Waffen zur Unterdrückung des
arabischen Frühlings fleißig genehmigt wurden und die
Menschenrechtslage in Saudi-Arabien keine Rolle spielt,
ist dieser Bundesregierung natürlich daran gelegen, zu
verbergen, wie inkonsequent ihre Außenpolitik ist.
Diese Bundesregierung tut sich gerne als Waffenmak-
ler hervor und versucht, wie zum Beispiel im Falle der
Eurofighter für Indien, Werbung für die deutsche Rüs-
tungsindustrie zu machen. Wenn Vermittler und Geneh-
migungsbehörde identisch sind, kann es mit der Kon-
trolle ja nicht mehr weit her sein. Deswegen sieht unser
Grundgesetz ja auch vor, dass der Bundestag die Regie-
rung kontrollieren soll. Der wird aber so spät informiert,
dass eine wirkliche Kontrolle nicht mehr möglich ist.
Deshalb wollen auch wir Grünen eine Unterrichtung des
Bundestages im Vorfeld von Genehmigungen in einem
zu schaffenden fachpolitischen Gremium. Ich bin aber
dagegen, daraus ein weiteres geheimes parlamentari-
sches Kontrollgremium zu machen. Damit haben wir
nicht wirklich gute Erfahrungen gemacht. Dann geht das
mit der Geheimniskrämerei gerade so weiter, und die
Parlamentarier dürfen sich nicht einmal untereinander
informieren. Vertraulichkeit ist nur da angebracht, wo
berechtigte Interessen Einzelner geschützt werden müs-
sen. Aber auch nur da. Das ist im Einzelfall zu begrün-
den. Spätestens wenn eine Genehmigung erteilt wurde,
ist diese vor dem Parlament öffentlich zu begründen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, in
dieser Sache sollten wir uns nicht hinter der jeweiligen
Regierung verstecken. Hier ist der Zusammenhalt aller
Parlamentarier gegenüber der Exekutive angesagt. Sie
haben sich doch insgeheim selbst darüber geärgert, dass
die Regierung uns im letzten Sommer nicht einmal sagen
wollte, ob sie nun über die Panzerlieferung nach Saudi-
Arabien entschieden hat oder nicht. Vergessen Sie nicht:
Das gilt dann auch nach einem Regierungswechsel.
Auch die Forderung nach einer tatsächlichen Endver-
bleibskontrolle ist richtig. Die Bundesregierung vertraut
auf Endverbleibserklärungen, die oft noch nicht einmal
das Papier wert sind, auf dem sie stehen. Dies konnte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20873
(A) (C)
(D)(B)
man zum Beispiel in Mexiko beobachten. Aber auch die
in Libyen gefundenen G-36-Gewehre hätten Ägypten
nie verlassen dürfen, wenn sie überhaupt jemals dort ge-
wesen sein sollten. Die Vergabe von Lizenzen, also der
Verkauf von ganzen Waffenfabriken in Drittstaaten, ist
nicht zu verantworten, da hier eine Kontrolle nach dem
Verkauf so gut wie unmöglich ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, meine
Fraktion teilt fast alles, was Sie hier in Sachen Transpa-
renz und parlamentarischer Beteiligung einfordern. Das
reicht uns aber nicht. Wir haben gerade erst im Februar
Eckpunkte für ein künftiges Rüstungsexportkontrollge-
setz beschlossen. Unser Vertrauen in Grundsätze, Richt-
linien und freiwillige Ansätze ist nämlich restlos aufge-
braucht. Die Kriterien der Menschenrechtslage und die
Gefahr innerer Repression wollen wir gesetzlich kodifi-
zieren, genauso wie die Berichtspflichten. Der Gesetzes-
rang gäbe diesen Kriterien mehr Gewicht gegenüber den
ohnehin stets gut vertretenen Wirtschaftsinteressen.
Spannend wäre auch ein Verbandsklagerecht, wie bei-
spielsweise im Umweltrecht, um dem Menschenrechts-
kriterium zur Durchsetzung zu verhelfen. Um den Blick-
winkel auf Rüstungsexportanträge zu verändern und die
Menschenrechtslage stärker in den Fokus zu rücken,
wollen wir außerdem die Zuständigkeit für Rüstungsex-
porte ins Auswärtige Amt übertragen.
Trotz allem: Ihre Vorschläge weisen in die richtige
Richtung, und vielleicht denken Sie im Verlauf der wei-
teren Verhandlungen noch einmal über unseren Vor-
schlag für eine gesetzliche Regelung nach. Ich kann mir
vorstellen, dass die Union, sobald sie wieder in der Op-
position ist, diesem Vorhaben plötzlich offener gegen-
überstehen wird.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung
– Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung
des Rechtsschutzes in Wahlsachen
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes (Artikel 93)
(Tagesordnungspunkt 26 a und b)
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Vorliegender Ent-
wurf, den wir heute in erster Lesung beraten, beinhaltet
streng genommen nicht nur die Verbesserung des
Rechtsschutzes in Wahlsachen, sondern er führt einen
solchen Rechtsschutz im Subjektiven überhaupt erst ein.
In einem ansonsten fast schon hypertroph ausgebildeten
gerichtlichen Rechtsschutz in unserem Land klafft aus-
gerechnet bei dem vornehmsten Bürger- und Mitwir-
kungsrecht des Wahlrechts eine eklatante Lücke. Hierauf
hat uns inzwischen sogar die OSZE hingewiesen und
explizit eine Subjektivierung des Rechtsschutzes gefor-
dert.
Mit diesem Gesetzentwurf schließen wir diese Lücke.
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat das in
einem Gespräch unlängst sehr prägnant und ein wenig
sarkastisch zusammengefasst: „das System sei deshalb
konsistent, weil es vor der Wahl keinen Rechtsschutz
gebe und danach auch keinen“. Der Handlungsbedarf ist
also in Wissenschaft und Politik anerkannt und unbe-
stritten. Daher freut es mich besonders, dass mit der
Union, der FDP, der SPD und Bündnis 90/Die Grünen
vier Fraktionen den Entwurf gemeinsam und im Kon-
sens einbringen, nachdem wir in einer fraktionsübergrei-
fenden Arbeitsgruppe lange und konstruktiv diskutiert
haben.
Wir lösen als Koalitionsfraktionen zugleich ein Ver-
sprechen aus der Debatte zur Reform des Bundestags-
wahlrechts vom 30. Juni letzten Jahres ein, indem wir
diesen gemeinsamen Vorschlag zur Verbesserung des
Rechtsschutzes in Wahlsachen erarbeitet haben und
heute in die parlamentarische Beratung geben. An dieser
Stelle daher herzlichen Dank an die Kollegen aus den
anderen Fraktionen für die gemeinsame Arbeit, die sehr
sachorientiert, offen und frei von parteitaktischem Kal-
kül war.
Das Wahlrecht ist vom Bundesverfassungsgericht
schon im ersten Band seiner Entscheidungssammlung
als das vornehmste Recht des Bürgers bezeichnet wor-
den. Jeder Bürger kann wählen und gewählt werden.
Nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsge-
richts soll der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe
an der öffentlichen Gewalt sogar in der Würde des Men-
schen verankert sein. Auch wenn man über diese Veran-
kerung in Art. 1 unserer Verfassung trefflich streiten
kann, so wird damit jedenfalls deutlich und ist unbe-
streitbar, dass die Bedeutung des Wahlaktes nicht hoch
genug angesetzt werden kann.
Von wo sind wir bei unseren gemeinsamen Reform-
überlegungen nun gestartet? Natürlich sollten Rechts-
schutzmöglichkeiten auch dazu dienen, häufige Fehler-
quellen abzustellen. Ein Rechtsschutz, der alle
denkbaren Fehler im Wahlvorbereitungsverfahren er-
fasst und gerichtliche Abhilfe noch vor dem Wahltermin
garantiert, ist rechtsstaatlich sicherlich wünschenswert,
aber nicht praktikabel. Wichtiger Maßstab muss sein,
dass die termingerechte Durchführung der Wahl nicht
gefährdet wird. Daher haben wir uns entschlossen, die
Rechtsschutzmöglichkeiten auf wesentliche Lücken zu
konzentrieren.
Das Recht aus Art. 38 des Grundgesetzes ist ein ver-
fassungsbeschwerdefähiges Recht. Die Bürger können
sich also prinzipiell gegen mögliche Eingriffe mit einer
Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht
zur Wehr setzen. Dies gilt jedoch nur eingeschränkt. Ge-
rade bei einer möglichen Verletzung des subjektiven
Wahlrechts ist diese Möglichkeit durch die Ausschließ-
lichkeit des Wahlprüfungsverfahrens bislang stark einge-
schränkt.
Das Wahlprüfungsverfahren und die anschließend
mögliche Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht
gewährleisten Rechtsschutz nur nach der Wahl und nur,
wenn die Gültigkeit der Wahl betroffen ist, dass heißt,
sich die Verletzung subjektiver Rechte als mandatsrele-
vant erweist und somit eine Verletzung objektiven Wahl-
20874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
(D)(B)
rechts vorliegt. Bei „bloß“ subjektiver Rechtsverletzung
besteht zurzeit überhaupt kein Rechtsschutz. Politisches
Ziel ist es daher, gerade auch den Wahlberechtigten, den
Bürgerinnen und Bürgern, einen verbesserten Rechts-
schutz zu gewähren.
Ebenso düster sieht es für den Rechtsschutz von Par-
teien gegen die Nichtzulassungsentscheidung des Bun-
deswahlausschusses vor der Wahl aus. Während gegen
zentrale Entscheidungen der Wahlbehörden im Vorfeld
der Wahl der Rechtsbehelf der Beschwerde bei dem je-
weils übergeordneten unabhängigen Wahlorgan möglich
ist, gibt es bislang keine Möglichkeit für eine Partei, die
ablehnende und für sie existenzielle Entscheidung des
Bundeswahlausschusses über ihre Parteieigenschaft
prüfen zu lassen.
Der Regelungsinhalt des vorliegenden Gesetzent-
wurfs lässt sich somit in zwei zentrale Blöcke aufteilen.
Die Gewährung von Rechtsschutz vor der Wahl und
nach der Wahl.
Vor der Wahl führen wir jetzt eine neue Beschwerde-
möglichkeit für Parteien bzw. Vereinigungen zum Bun-
desverfassungsgericht ein, wenn ihre Wahlteilnahme
durch den Bundeswahlausschuss abgelehnt wurde. Da-
mit schließen wir die bislang bestehende Rechtsschutz-
lücke. Diese Möglichkeit eines explizit für Vereinigun-
gen bzw. Parteien ausgestalteten Rechtsschutzes ist auch
aufgrund der verfassungsrechtlichen Stellung der Parteien
und ihrer Aufgaben überfällig. Hatten Parteien in der
deutschen Geschichte auch nicht immer einen leichten
Stand, so gilt Deutschland heute als eine Parteiendemo-
kratie. Die Parteien sind als zentraler Bestandteil unseres
politischen Systems anerkannt und in Art. 21 GG veran-
kert. Sie tragen dazu bei, dass sich die Willensbildung
vom Volk zu den Staatsorganen hin vollzieht und nicht
umgekehrt. Parteien sind ein Scharnier zwischen Bürger
und Politik und stehen als solche im engen Bezug zur
grundrechtlichen Freiheitsidee. Dies hat das Bundesver-
fassungsgericht im KPD-Urteil prägnant formuliert: „Ein
Staat, der seine verfassungsrechtliche Ordnung als frei-
heitlich-demokratisch bezeichnet und sie damit in die
große verfassungsgeschichtliche Entwicklungslinie der
liberalen rechtsstaatlichen Demokratie einordnet, muss
aus dem Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung
ein grundsätzliches Recht der freien politischen Betäti-
gung und damit auch der freien Bildung politischer Par-
teien entwickeln, wie in Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG ge-
schehen.“
Werden Parteien nicht zur Wahl zugelassen, fehlt den
Konkurrenten der Wettbewerbsdruck, dies kann zu feh-
lender Auseinandersetzung und somit zu einer unzurei-
chenden politischen Willensbildung im demokratischen
Sinne führen. Wird einer Partei die Wahlteilnahme ver-
sagt, so ist dies im Endeffekt fast genauso einschneidend
wie ein Parteiverbot, das nur das Bundesverfassungs-
gericht unter strengsten Voraussetzungen aussprechen
kann. Daher ist die vorgesehene neue Beschwerdemög-
lichkeit zum Bundesverfassungsgericht eine konse-
quente, richtige und eigentlich überfällige Lösung.
So wichtig allerdings die Parteien für die Demokratie
sind, so klar ist auch, dass im Mittelpunkt des Wahl-
rechts der Wahlbürger steht. Die anstehende Reform
bliebe also noch nicht einmal auf halbem Wege stecken,
wenn sie sich auf diese Beschwerdemöglichkeit der Par-
teien beschränken würde. Vielmehr ist es ein rechtsstaat-
liches Gebot, dass auch der Bürger – als Wähler und
Kandidat – eine Rechtschutzmöglichkeit erhält, die prin-
zipiell unabhängig von einem knappen oder klaren
Wahlausgang sein muss und die der Durchsetzung seines
subjektiven Rechts gilt.
Ebenso wichtig ist aber auch, dass diese Rechts-
schutzmöglichkeit nicht den Termin und den geordneten
Ablauf einer Bundestagswahl gefährden darf. Denn un-
verzichtbar ist nicht nur die Wahrung der subjektiven
Rechte bei einer Wahl, sondern auch, dass die Wahl
überhaupt stattfindet. Wir implementieren den subjekti-
ven Rechtsschutz daher innerhalb des bewährten Wahl-
prüfungsverfahrens, das sich nach der Wahl anschließt.
Künftig sollen also Bundestag und das Bundesverfas-
sungsgericht grundsätzlich eine eigene Rechtsverletzung
der Rechte aus Art. 38 des Grundgesetzes prüfen und ge-
gebenenfalls feststellen. Auch wenn diese Feststellung
nach dem Wahltermin erfolgen wird, führt ihre Tenorie-
rung zweifellos nicht nur zu einer Genugtuung, sondern
hat direkte Folgewirkungen für eine mögliche Wieder-
holung eines solchen Fehlers bei der nächsten Wahl. Wir
schaffen hier also eine Konstellation, wie sie im Rahmen
etwa von Fortsetzungsfeststellungsklagen im deutschen
Verwaltungsrecht seit langem bekannt ist und sich her-
vorragend bewährt hat.
Zwar gab es in der historischen Entwicklung der
Wahlprüfung unter der Reichsverfassung von 1871 und
der Weimarer Reichsverfassung bereits eine Prüfung
nicht mandatsrelevanter Fehler. Aber die bisherige, jah-
relang erprobte Praxis des Wahlprüfungsausschusses un-
ter dem Grundgesetz kennt eine solche Maßgabe nicht.
Auch wenn unsere Reformüberlegungen ersichtlich am
gerichtlichen Rechtsschutz durch das Bundesverfas-
sungsgericht ausgerichtet sind, so verkennen wir doch
nicht, dass jegliche Verbesserungen im Hinblick auf das
verfassungsgerichtliche Verfahren auch Rückwirkungen
auf die Arbeit des Wahlprüfungsausschusses zeitigen.
Und wir nehmen die dort zum Teil vorgebrachten Be-
sorgnisse nach einer Veränderung und Vermehrung der
parlamentarischen Arbeit ernst. Letztlich läuft es zwar
auf eine Abwägung zwischen diesen Bedenken im Hin-
blick auf die Arbeitsweise einerseits und dem rechts-
staatlichen Gebot, eine eklatante Rechtsschutzlücke zu
schließen, andererseits hinaus. Dennoch scheint es mir
möglich, die Besorgnisse im Kern auszuräumen, indem
wir aus meiner Sicht während der parlamentarischen Be-
ratungen auch durch eine Erweiterung des Gesetzesan-
trages deutlich machen können, dass auch und gerade im
Rahmen der Amtsermittlung eines Bundestagsausschus-
ses und schließlich des Bundesverfassungsgerichts die
Intensität der Beweiserhebung je nach der politischen
Relevanz einer potenziellen Rechtsverletzung variieren
kann. Das scheint auch deshalb geboten, weil den
Rechtsschutzsuchenden kaum mit einer Verlängerung
der Dauer der Wahlprüfung geholfen wäre, zumal deren
Dauer anerkanntermaßen bereits heute ein Problem der
Wahlprüfung darstellt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20875
(A) (C)
(D)(B)
Konsequente Folge der Einführung des subjektiven
Rechtsschutzes ist ferner die vorgesehene Abschaffung
der 100 Unterstützerunterschriften für die Wahlprü-
fungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Abge-
sehen davon, dass die Beibringung von 99 weiteren Un-
terschriften im Internetzeitalter ohnehin keine ernsthafte
Hürde mehr darstellt, hat danach auch formal jeder für
sich die Chance, unabhängig von der Beteiligung ande-
rer, seine Rechte geltend zu machen.
Der Entwurf verschließt auch nicht die Augen vor der
Frage der Zusammensetzung der Wahlausschüsse. Ne-
ben dem Bundeswahlleiter bzw. dem jeweiligen Landes-
wahlleiter gehören diesen derzeit ausschließlich von den
Parteien vorgeschlagene Wahlberechtigte als Beisitzer
an. Ich bin sicher nicht allein, wenn ich diesen Zustand
für sehr unbefriedigend halte. Hier schlagen wir vor,
richterliche Kompetenz mit in die Ausschüsse zu geben,
indem der Bundeswahlausschuss um zwei Richter des
Bundesverwaltungsgerichts und die Landeswahlaus-
schüsse um zwei Richter des jeweiligen Oberverwal-
tungsgerichts ergänzt werden. Dies unterstützt und be-
tont den besonderen Charakter der Ausschüsse auch als
Beschwerdeinstanz für die Rechtsbehelfe im Wahlvorbe-
reitungsverfahren.
Mit den heute vorgelegten Vorschlägen, füllen wir
eine Rechtsschutzlücke im Wahlrecht. Und ich freue
mich auf die Beratungen, die wir mit dem Ziel einer
praktischen Konkordanz zwischen rechtsstaatlichen, de-
mokratischen und Praktikabilitätserwägungen führen
werden.
Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): In dem hochkomple-
xen Verfassungsstaat Deutschland gibt es bei allem Per-
fektionsdrang, der uns Deutschen eigen ist, Lücken. Eine
geradezu erstaunliche Lücke wollen wir mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf schließen.
Wir haben in Deutschland das Wahlrecht zu Bundes-
tagswahlen im Großen und Ganzen sehr präzise und de-
tailliert geregelt. Dabei klammere ich hier den aktuellen
Verfassungsstreit über das negative Stimmgewicht und
Überhangmandate aus. Das Bundestagswahlrecht ist na-
hezu perfekt geregelt. Die Durchführung der Bundes-
tagswahlen vollzieht sich bundesweit immer wieder mit
äußerster Präzision. Gleichwohl existiert eine bemer-
kenswerte Lücke. Bei der durchaus bedeutsamen Frage,
ob eine Gruppierung als politische Partei zu einer Bun-
destagswahl zugelassen wird, gibt es bislang keinen an-
gemessenen Rechtsschutz. Gegen Entscheidungen des
Bundeswahlausschusses über die Parteieigenschaft exis-
tiert bislang kein Rechtsbehelf. Dies ist für etablierte
Parteien kein Problem, weil ihre Parteieigenschaft nicht
infrage steht. Bei Neugründungen oder „jungen Par-
teien“ kann eine Entscheidung des Bundeswahlaus-
schusses eine Entscheidung von existenzieller Bedeu-
tung sein. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll
dieses vielfach beklagte Problem beseitigt werden. In
Umsetzung des neuen Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 c GG wird
vor der Wahl die Beschwerde zum Bundesverfassungs-
gericht gegen die Wahlvorschlagsberechtigung vernei-
nende Feststellungen des Bundeswahlausschusses zuge-
lassen.
Wir haben andere Varianten geprüft, wir sind aber in-
terfraktionell der Auffassung, dass Statusfragen der Par-
teien im Beschwerdeverfahren vom Bundesverfassungs-
gericht entschieden werden sollten. Der vorgeschlagene
Weg schließt eine unrühmliche Lücke im Bereich des
Rechtsschutzes gegen zentral wichtige hoheitliche Ent-
scheidungen ohne substanziell, oder gar störend, in die
Effektivität des Wahlverfahrensrechtes einzugreifen.
Gegenstand der Wahlprüfung durch den Bundestag
nach der Wahl und der Wahlprüfungsbeschwerde beim
Bundesverfassungsgericht ist nicht die Verletzung subjek-
tiver Rechte, sondern die Gültigkeit der Wahl. Beschwer-
den werden darum bisher zurückgewiesen oder verwor-
fen, wenn sie sich auf die Mandatsverteilung nicht
ausgewirkt haben können, auch wenn Recht verletzt
wurde. Diese Gegebenheiten wollen wir weiterentwickeln.
Im Wahlprüfungsverfahren nach der Wahl werden Rechts-
verletzungen des Einsprechenden beziehungsweise des
Beschwerdeführers künftig vom Bundestag und vom Bun-
desverfassungsgericht im Entscheidungstenor festgestellt,
auch wenn sie keine Auswirkungen auf die Gültigkeit der
Wahl haben. Das subjektive Wahlrecht eines Bürgers hat
in der Demokratie einen so hohen Stellenwert, dass eine
Verletzung dieses Rechtes auch dann festgestellt werden
sollte, wenn die Gültigkeit der Wahl insgesamt nicht in-
frage steht.
Dr. Stefan Ruppert (FDP): Wir leben in einem
demokratischen Rechtsstaat. Jeder Einzelne kann in
Deutschland gegen Schulnoten, Dachrinnen und die
Höhe von Gartenhecken klagen. Wenn man als Bürger
jedoch an der Teilnahme an Wahlen gehindert wird, hatte
man dagegen bisher kein subjektives Klagerecht. Gerade
weil Wahlen aber zum Fundament unserer Demokratie
gehören, darf der individuelle Rechtsschutz hier nicht
fehlen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir
diesen unbefriedigenden Zustand ändern. Auf diese ge-
meinsame Initiative von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/
Die Grünen und uns Liberalen bin ich stolz.
Zur Bundestagswahl 2009 schickte die OSZE auf
Einladung der Bundesregierung ein Team von Wahl-
beobachtern nach Deutschland. Das Fazit der OSZE-
Mission zu den Wahlen fiel überwiegend positiv aus.
Dennoch rügten die Wahlbeobachter einige Lücken im
Rechtsschutzsystem, die vor ihnen lediglich in der
rechtswissenschaftlichen Literatur Erwähnung gefunden
hatten. Insbesondere kritisierte die OSZE die mangeln-
den Einspruchsmöglichkeiten gegen die Entscheidung
des Bundeswahlausschusses vor der Wahl. Ebenso bean-
standeten die Wahlbeobachter, dass der einzelne Bürger
im Prüfungsverfahren nach der Wahl keinen freien Zu-
gang zur Justiz habe. Denn bisher muss jeder Bürger erst
100 Unterschriften sammeln, bevor er die Entscheidung
des Wahlprüfungsausschusses vom Bundesverfassungs-
gericht überprüfen lassen kann.
Ich bin froh, dass wir die entscheidenden Anregungen
der OSZE im vorliegenden Gesetzentwurf aufnehmen
konnten. Allerdings hat sich in unseren Beratungen auch
20876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
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herausgestellt, dass nicht alles, was theoretisch für ein
Mehr an Rechtsschutz bei den Wahlen wünschenswert
wäre, aus praktischer Sicht auch machbar ist. So hatte
die OSZE beispielsweise angeregt, viele gerichtliche
Überprüfungen bereits vor der Wahl zuzulassen. Jedoch
ist die Vorbereitung von Bundestagswahlen von der Ein-
reichung der Unterlagen der zahlreichen Parteien und
Wahlkreiskandidaten bis zur eigentlichen Abstimmung
ein hochsensibler Akt. Eng aufeinander abgestimmte
Fristen bis zum Wahltag lassen es praktisch nicht zu,
jede einzelne Entscheidung noch vor der Wahl gericht-
lich überprüfen zu lassen. Deswegen haben wir nur den
wichtigsten Fall, nämlich die Zulassung von Parteien
durch das Bundesverfassungsgericht, vor die Wahl verle-
gen können. Diese Entscheidung ist richtig. Denn ver-
einfacht gesprochen haben die Bürger nichts davon,
wenn sie zwar rechtmäßig wählen dürfen, sich ihr Wahl-
favorit aber in einem Rechtsstreitverfahren befindet und
noch nicht antreten darf. Insgesamt haben wir mit Blick
auf den Bericht der OSZE einen guten Kompromiss ge-
funden.
Wie sieht die Neuregelung nun genau aus? Sie besteht
aus zwei wichtigen Bausteinen. Erstens geben wir Par-
teien, die vom Bundeswahlausschuss nicht zur Wahl zu-
gelassen wurden, die Möglichkeit, noch vor dem Wahl-
tag beim Bundesverfassungsgericht zu klagen. Diese
notwendige Verbesserung wurde vor allem vor der letz-
ten Bundestagswahl diskutiert. Damals wurden „Die
PARTEI“ des bekannten Satirikers Martin Sonneborn
sowie die „Freie Union“ um Gabriele Pauli vom Bundes-
wahlausschuss nicht zur Wahl zugelassen. Freilich ist
gerade im ersteren Fall fraglich, ob die Vertreter ein
ernsthaftes Interesse an Politik verfolgen. Fakt ist je-
doch, dass beide Vereinigungen keine Chance hatten, die
Entscheidung des Bundeswahlausschusses gerichtlich
überprüfen zu lassen. Das ist deswegen mit einem
„Geschmäckle“ behaftet, weil im Bundeswahlausschuss
die etablierten Parteien über die Zulassung von neuen
Parteien entscheiden, noch dazu in einem sehr hohen
Tempo. Auch die OSZE hat in ihrem Bericht diesbezüg-
lich einen Interessenkonflikt vermutet. Deshalb ist es
gut, dass wir nicht zugelassenen Parteien nun den ge-
richtlichen Rechtsschutz noch vor der Wahl eröffnen.
Zweitens, und nicht weniger wichtig, ist die Verbesse-
rung des Rechtsschutzes für den Einzelnen nach der
Wahl. Diese Subjektivierung des Wahlprüfungsverfah-
rens wird durch zwei wesentliche Änderungen erreicht.
Zum einen wird die Hürde von 100 Unterschriften, die
bei einer Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht
bisher notwendig waren, zukünftig wegfallen. Zum an-
deren stellen nun der Wahlprüfungsausschuss des Bun-
destages sowie das Bundesverfassungsgericht explizit
fest, wenn dem einzelnen Bürger oder einer Gruppe von
Personen Wahlrechtsfehler widerfahren sind. Im Sinne
des Grundsatzes des Rechtsfriedens ist das eine sehr be-
grüßenswerte Reform.
Abschließend danke ich den Kollegen Krings,
Wiefelspütz und Montag noch einmal ausdrücklich für
die wirklich sehr guten und kollegialen Gespräche der
vergangenen Wochen. Ich finde es sehr positiv, wie sach-
lich wir uns mit dem Problem auseinandergesetzt und
gemeinsam Lösungen erarbeitet haben. Ich freue mich,
dass wir nun zusammen einen Antrag zum Wahlrechts-
schutz vorlegen können. Die Kolleginnen und Kollegen
der Linksfraktion lade ich auch ausdrücklich ein, dem
vorliegenden Kompromiss im weiteren Verfahren zuzu-
stimmen. Sie haben zwar schon vor zwei Monaten einen
Gesetzentwurf zum gleichen Thema vorgelegt. Aller-
dings waren ihre Lösungsvorschläge damals noch nicht
ausgereift. Unserem Gesetzentwurf können sie nun mit
gutem Gewissen zustimmen.
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Ich freue mich
außerordentlich, dass auch Sie mit dem vorgelegten Ge-
setzentwurf zur Verbesserung des Rechtsschutzes in
Wahlsachen eine Sonneborn-Regelung einführen wollen,
auch wenn Sie diese nicht so nennen und auch wenn es
nur eine halbe Sonneborn-Regelung ist.
Ich will den vorgelegten Gesetzentwurf an den
„Krings-Kriterien“ messen, also an den Punkten, die
Herr Krings im Rahmen der letzten Debatte am Gesetz-
entwurf der Linken kritisiert hat. Das tut mir jetzt ein
wenig leid für die anderen Parteien, aber wir sollen ja
hier Rede und Gegenrede halten.
Erstens. Die Fristen zwischen der Entscheidung des
Bundeswahlausschusses und der Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichtes sind bei Ihrem Gesetzentwurf
knapper als beim Gesetzentwurf der Linken. Entgegen
der Gesetzesbegründung betragen sie bei Ihnen nicht
20 Tage sondern im schlechtesten Fall 16 Tage.
Der Bundeswahlausschuss soll spätestens am 79. Tag
vor der Wahl eine Entscheidung treffen, die Beschwerde
muss spätestens am 4. Tag nach der Bekanntmachung
beim Bundesverfassungsgericht eingereicht werden. Das
ist dann der 75. Tag vor der Wahl. Da die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts am 59. Tag vor der Wahl
erfolgen soll, ergibt dies 16 Tage.
Die Linke hat in ihrem Gesetzentwurf die Frist, bin-
nen der über die Entscheidung des Bundeswahlausschus-
ses vom Bundesverfassungsgericht zu entscheiden ist,
auf 18 Tage festgesetzt.
Der Bundeswahlausschuss entscheidet am 72. Tag vor
der Wahl, die Beschwerde muss spätestens drei Tage
nach Bekanntmachung eingereicht sein, also am 69. Tag
vor der Wahl. Die Entscheidung muss bis zum 51. Tag
vor der Wahl getroffen sein.
Zweitens. Ihr Gesetzentwurf enthält keinerlei Formu-
lierung, wie mit einer vorgezogenen Bundestagswahl
umzugehen ist. Ich halte eine solche gesonderte Rege-
lung nicht für erforderlich, aber dies war einer der Kri-
tikpunkte von Herrn Krings am Gesetzentwurf der Lin-
ken. Ich stelle fest, diese Kritik geht dann auch an Ihren
eigenen Gesetzentwurf.
Drittens. Sie regeln allein den Rechtsschutz bei Nicht-
zulassung als Partei. Sie haben keinerlei Vorschläge
unterbreitet, wie der gerichtliche Schutz gegen die
Nichtzulassung einer Landesliste oder eines Kreiswahl-
vorschlages aussehen könnte. Da endet der Rechtsschutz
bei Ihnen bei den Wahlausschüssen. Damit regeln Sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012 20877
(A) (C)
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nur die Hälfte des Rechtsweges, sie geben für diesen Fall
keinen gerichtlichen Rechtsschutz vor der Wahl, das
heißt, Sie führen nur die halbe Sonneborn-Regelung ein.
Im Hinblick auf die Kritik von Herrn Krings im Gesetz-
entwurf der Linken könne es angeblich zu divergieren-
der gerichtlicher Entscheidungen kommen, sei darauf
verwiesen, dass die Zulassung einer Landesliste oder
eines Kreiswahlvorschlages auch jenseits der Partei-
eigenschaft versagt werden kann. Insoweit besteht keine
Gefahr divergierender Entscheidungen.
Viertens. Das demokratietheoretische Problem der
Wahlausschüsse, das darin besteht, dass die im Parla-
ment vertretenen Parteien über die potenzielle Konkur-
renz entscheiden, lösen sie aus meiner Sicht nicht befrie-
digend. Durch die Ernennung von Richtern und
Richterinnen sieht es demokratietheoretisch besser aus,
ist es aber nicht wirklich. Es bleibt ein Placebo.
Fünftens. Sie entscheiden sich, Ihren Vorschlag zur
Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen mit
einer Grundgesetzänderung zu flankieren. Wir hielten
das nicht für notwendig, finden aber auch nicht, dass
dies ein Grund ist, sich dieser Grundgesetzänderung zu
verweigern.
Sechstens. Sie suggerieren einen subjektiven Rechts-
schutz für Bürger und Bürgerinnen einzuführen, die der
Ansicht sind, es lägen Rechtsverletzungen im Rahmen
des Wahlverfahrens vor. Es ist ja schon interessant, dass
Sie hier eine Anregung der Linken aufgreifen. Es bleibt
aber das grundsätzliche Problem, dass die Bürger und
Bürgerinnen über den Wahlprüfungsausschuss und gege-
benenfalls das Bundesverfassungsgericht auf eine nach-
trägliche Feststellung der Rechtsverletzung verwiesen
werden. Das schadet natürlich nichts, ist eine Verbesse-
rung zum vorherigen Zustand, aber wirklicher Rechts-
schutz ist in meinen Augen etwas anderes. Vielleicht
sollten wir da noch einmal gemeinsam genauer überle-
gen, wie der subjektive Rechtsschutz ausgestaltet wer-
den kann.
Siebtens. Aus meiner Sicht gibt es noch die eine oder
andere Sache zu klären, zu präzisieren und zu verbes-
sern. Wenn das Bundesverfassungsgericht die Partei-
eigenschaft bejaht, für welchen Zeitraum soll die Ent-
scheidung Gültigkeit haben? Was folgt, wenn das
Bundesverfassungsgericht in der gesetzten Frist nicht
entscheidet? Gilt dann, wie ich vorschlagen würde „im
Zweifel für die Parteieigenschaft“?
Vielleicht sollten wir das einfach mal gemeinsam klä-
ren, denn gemeinsam sind wir klüger.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
haben im Jahre 2009 das Büro für demokratische Institu-
tionen und Menschenrechte der Organisation für Sicher-
heit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, eingeladen,
die Bundestagswahlen 2009 zu beobachten. Über diese
Beobachtung wurde ein Bericht der Wahlbewertungs-
kommission vorgelegt, der Deutschland eine stabile
Grundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen
bescheinigt. Als bedenklich wurde jedoch eingestuft,
dass es vor der Wahl keine Möglichkeit der juristischen
Überprüfung von Entscheidungen der Wahlorgane gibt
und damit die Rechtslage in Deutschland hinter inter-
national eingegangenen Verpflichtungen zurückbleibt.
Der OSZE ist für ihren Bericht auch von dieser Stelle zu
danken. Wir fassen die Beurteilung nicht als ungehörige
Kritik, sondern als konstruktive Vorschläge zur Verbes-
serung eines schon heute beispielhaft guten Zustands des
Wahlrechts in Deutschland auf.
Was ist in der Folgezeit passiert?
Der frühere Bundesinnenminister de Maizière hat im
Januar 2010 der OSZE geschrieben, dass die Bundes-
regierung diese Anregung aufnehmen und einen Vor-
schlag machen wird. Aber die Bundesregierung hat
nichts getan.
Der 1. Ausschuss des Hohen Hauses, für das Wahl-
recht federführend zuständig, hat im Juni 2011 mit
Zustimmung aller Fraktionen beschlossen, die Bundes-
regierung aufzufordern, etwas in dieser Sache zu unter-
nehmen. Geschehen ist nichts. Ich will annehmen, dass
die Bundesregierung ausschließlich aus Respekt vor dem
Parlament untätig geblieben ist. Wahlrecht ist eben
Sache des Parlaments, heißt es.
Deshalb haben sich einige Kollegen, Herr Dr. Krings
und Herr Dr. Ruppert, Herr Wiefelspütz und auch ich
ganz basisdemokratisch und über die Fraktionsgrenzen
hinweg zusammengetan, um den Rechtsschutz im Wahl-
recht des Bundestages zu stärken. Und dies ist uns, ich
sage dies schon mit einigem Stolz, auch gelungen. Ich
möchte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des In-
nen- wie auch des Justizministeriums ganz ausdrücklich
danken, dass sie uns mit ihrem Sachverstand zur Seite
gestanden haben. Ich danke auch den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern in unseren Abgeordnetenbüros, die
wirklich wertvolle Zuarbeit geleistet haben.
Heute liegen dem Hohen Hause zwei Gesetzentwürfe
vor, mit denen der Rechtsschutz im Wahlrecht gestärkt
wird. Vor einigen Wochen ist es in der Öffentlichkeit
wegen der sehr kurzfristigen Absetzung der Gesetzent-
würfe von der Tagesordnung zu der Befürchtung gekom-
men, wir wollten klammheimlich den Zugang der
Bürgerinnen und Bürger zu den Gerichten, ganz beson-
ders zum Bundesverfassungsgericht, einschränken. Des-
halb betone ich auch heute ganz deutlich, dass genau das
Gegenteil zutrifft.
Was bringen die Gesetzentwürfe für Änderungen mit
sich?
Neue Parteien und Vereinigungen, die an Bundestags-
wahlen teilnehmen wollen, haben es naturgemäß beson-
ders schwer. Werden sie vom zuständigen Bundeswahl-
ausschuss nicht zur Wahl zugelassen, können sie sich
erst nach der Wahl dagegen zur Wehr setzen. Das ändern
wir. Wir geben den betroffenen Gruppierungen die
Möglichkeit, noch vor der Wahl Rechtsschutz beim Bun-
desverfassungsgericht zu suchen und vielleicht auch zu
finden. Wegen der laufenden Wahlvorbereitungen muss
es schnell gehen, aber die Zeit zur Überprüfung einer
Zurückweisung einer Gruppierung von der Wahl muss
sich finden. Dazu muss auch das Grundgesetz geändert
werden. Wir appellieren an dieser Stelle an den Bundes-
20878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. April 2012
(A) (C)
(D)(B)
rat, konstruktiv mitzuziehen und diese gute Reform mit-
zutragen.
Bei der möglichen Zurückweisung von Landeslisten
auf Landesebene, von Direktkandidatinnen und -kandi-
daten in den Wahlkreisen und im Falle der Zurück-
weisung einzelner Bürgerinnen und Bürger schien es uns
schwer möglich, einen Rechtsschutz vor den Fachge-
richten innerhalb der ganz kurzen Fristen, die das
Grundgesetz und das Bundeswahlrecht vorschreiben, zu
organisieren. Immerhin sieht das Wahlgesetz in allen
diesen Fällen die Möglichkeit einer Überprüfung vor den
nächst höheren Wahlausschüssen vor, sodass die Betrof-
fenen nicht völlig rechtlos sind.
Aber wir haben für diese Gruppen und Personen den
Charakter der nachträglichen Überprüfung vor dem
Wahlprüfungsausschuss des Bundestags und vor dem
Bundesverfassungsgericht entscheidend verändert.
Während bisher nur eine objektive Prüfung möglicher
Fehlentscheidungen auf ihre Wahlausgangsrelevanz
stattfindet, wird es in der Zukunft zu einer Feststellung
über die Verletzung der subjektiven Wahlrechte der be-
troffenen Gruppen und Personen kommen, selbst, wenn
sich der Rechtsverstoß auf das Wahlergebnis nicht aus-
gewirkt hat. Wenn ihnen Unrecht geschehen ist, wird
dies in Zukunft schwarz auf weiß festgestellt.
Die Landeswahlausschüsse und der Bundeswahlaus-
schuss sollen nicht nur mit Vertreterinnen und Vertretern
der etablierten Parteien besetzt bleiben, um den Ein-
druck eines Closed Shops zulasten von neuen Gruppen
und Kandidatinnen und Kandidaten zu vermeiden. In
jedem dieser Ausschüsse werden in Zukunft zwei Rich-
terinnen oder Richter mitentscheiden. Und schließlich
brauchen die Bürgerinnen und Bürger keine 100 Unter-
stützerinnen oder Unterstützer mehr, um beim Bundes-
verfassungsgericht eine Wahlbeschwerde einzulegen.
Dies passt nicht mehr zum neu eingeführten subjektiven
Rechtsschutz im Wahlrecht.
Zwei Schlussbemerkungen erscheinen mir notwendig.
Leider hat die Fraktion der Linken an diesem gemein-
samen Projekt nicht teilnehmen können. Wenn es sich
um Parlamentsrecht handelt und Sache des ganzen Hau-
ses ist, sollte die Union ihre Haltung gegenüber der
Fraktion der Linken überdenken. Ich muss allerdings
auch sagen, dass es nicht sinnvoll war, dass die Linke im
letzten November einen eigenen Gesetzentwurf vor-
gelegt hat, der fachlich mangelhaft und ideologisch
überfrachtet war. Damit liefert sie selbst Argumente, sie
an gemeinsamen Aktivitäten nicht zu beteiligen.
Die Einbindung der Kolleginnen und Kollegen des
Wahlprüfungsausschusses hätte besser sein können. Dies
wurde nachgeholt und ich will mich für die konstrukti-
ven Änderungsvorschläge aus diesem Ausschuss bedan-
ken. Sie bilden eine gute Grundlage für die jetzt notwen-
digen und, wie ich hoffe, sehr raschen Beratungen im
Ausschuss und werden uns helfen, ein noch besseres Ge-
setz zur Reform und zum Ausbau des Rechtsschutzes im
Wahlrecht zu verabschieden.
175. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3 Neuausrichtung der Pflegeversicherung
TOP 4 Sanktionen in den Hartz IV-Regelungen
TOP 40, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 41, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 1 Aktuelle Stunde zum deutsch-schweizerischen Steuerabkommen
TOP 5 Nachtragshaushaltsgesetz 2012
TOP 6 Elterliche Sorge bei nicht verheirateten Eltern
TOP 7 EU-Operation Atalanta
TOP 8 Verbesserung der Situation an Hochschulen
TOP 9 Sicherung der betrieblichen Altersversorgung
TOP 10 Bewältigung von Konversionsfolgen
TOP 11 Fortbestand des Klosters Mor Gabriel
TOP 12 Deutsche nukleare Abrüstungspolitik
TOP 13 Bundeswehrreform
TOP 14, ZP 5 Feste Fehmarnbeltquerung
TOP 15 Arzneimittelrechtliche Vorschriften
TOP 16 Europaweite Pressefreiheit
TOP 26 Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen
TOP 17 Versicherungsaufsichtsgesetz
TOP 19 Wissenschaftliches Fehlverhalten
TOP 18 Bildung für nachhaltige Entwicklung
TOP 21 Parlamentarische Rüstungsexportkontrolle
TOP 20 Nationales Waffenregister-Gesetz
TOP 23 Anrechnung von Aufwandsentschädigungen im SGB
TOP 22 Fortentwicklung des Meldewesens
TOP 25 Flughafenasylverfahren
TOP 24 Perspektive für den wissenschaftlichen Nachwuchs
TOP 27 Umsetzung von Basel III
TOP 28 Private Sicherheitsdienste im Kampf gegen Piraterie
TOP 29 „Miami Five“
TOP 30 EU-Klimaziel
TOP 31 Konzept für naturnahe Flusslandschaften
TOP 32 EU-Vorschläge zur Transparenz im Rohstoffsektor
TOP 33 Elbekonzept
Anlagen