Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alleherzlich und rufe gleich den Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Demografiestrategie derBundesregierung.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat der Bundesminister des Innern, Herr Dr. Hans-PeterFriedrich. Bitte schön.Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-nern:Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Das Bundeskabinett hatte heute inseiner 100. Sitzung in dieser Wahlperiode ein wichtigesThema auf der Tagesordnung, nämlich die Demografie-strategie der Bundesregierung. Wie Sie sich vielleicht er-innern, haben wir im Oktober im Kabinett den Demogra-fiebericht, also den Bericht der Bundesregierung überdie aktuelle demografische Lage und zu Prognosen derdemografischen Entwicklung, zur Kenntnis genommen.Damals hat es nicht überrascht und überrascht auchheute nicht, dass sich die demografische Entwicklung indiesem Land dergestalt auswirkt, dass die Bevölkerungs-zahl sinkt und die Menschen im Durchschnitt älter wer-den. Es gilt, dieser Tatsache Rechnung zu tragen, stattwie das Kaninchen vor der Schlange abzuwarten, bis dieDinge zum Problem werden. Man sollte also die Chan-cen, die in einer solchen Entwicklung liegen, wahrneh-men.Ich glaube, die größte Chance besteht darin, dass mansich eine Modernisierung von Staat, von Gesellschaft,von Strukturen, von Arbeitswelt vornimmt. Deshalb hatdie Bundesregierung in Form der vorliegenden Demo-grafiestrategie ein Rahmenwerk entwickelt, welches denTitel trägt: „Jedes Alter zählt“. Mit dem Titel wird schonzum Ausdruck gebracht, was wichtig ist: Wir brauchennämlich jeden in dieser Gesellschaft; wir brauchen dasPotenzial eines jeden, um zum Gelingen dieser Gesell-schaft beizutragen.Wir haben insgesamt sechs verschiedene Bereicheidentifiziert, die als Rahmen für den Dialog mit Gesell-schaft, Ländern und Kommunen dienen sollen.Erstens die Familie. Die Familie ist der Ort des engs-ten sozialen Miteinanders: Alt und Jung, Kinder, Elternund Großeltern.Zweitens den Bereich der Arbeitswelt. Also: Wiemuss sich die Arbeitswelt verändern, um den Anforde-rungen, den Wünschen und den Bedürfnissen der Men-schen Rechnung zu tragen?Drittens selbstbestimmtes Leben auch im Alter. Ichglaube, auch das ist ein wichtiges, zentrales Thema.Viertens die Unterschiede zwischen ländlichen Räu-men und Metropolen. Hier gibt es völlig unterschiedli-che und sehr ausgeprägte Problemstellungen: Wie haltenwir auf der einen Seite den ländlichen Raum attraktivund lebenswert? Wie können wir auf der anderen Seitedie Vielfalt, die sich in den Metropolen in vielerlei Hin-sicht abzeichnet, zu einer integrierten Stadtpolitik zu-sammenfassen?Fünftens. Wie können wir als älter werdende Gesell-schaft mit den jungen und dynamischen Volkswirtschaf-ten dieser Welt auch in Zukunft konkurrieren und wett-bewerbsfähig bleiben? Hier geht es also um denökonomischen Aspekt.Sechstens die Frage der Handlungsfähigkeit des Staa-tes, und zwar sowohl in finanzpolitischer Hinsicht alsauch im Hinblick auf die Dienstleistungsfähigkeit unddie moderne Verwaltung des Staates.Nach Bekanntgabe des Beschlusses im Kabinett ist esjetzt unser Ziel, das weitere Vorgehen in verschiedenenArbeitsgruppen, in denen ein Kovorsitz jeweils einemRessortminister zufallen soll, während der andere Ko-vorsitzende aus einem der gesellschaftlichen Bereichekommen soll, mit unterschiedlichen Schwerpunkten zudiskutieren. Dies soll gruppen-, aber auch ebenenüber-greifend geschehen; zugleich sollte aber bei den Ländern
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Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
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und Kommunen das Bewusstsein vorhanden sein, dasswir uns nicht in ihre Kompetenzen einmischen wollen,sondern dass wir gemeinsam mit ihnen eine Politik desdemografischen Wandels aus einem Guss gestalten wol-len.So weit, Herr Präsident.
Vielen Dank, Herr Minister. – Die erste Nachfrage
geht an die Kollegin Bätzing-Lichtenthäler.
Ganz herzlichen Dank, Herr Minister Friedrich. – Sie
haben gerade die Demografiestrategie der Bundesregie-
rung vorgestellt. Aktuell wird noch ein anderes Thema
heiß diskutiert, nämlich das Projekt der Koalition zur
Einführung eines Betreuungsgeldes. Ich würde mich
freuen, wenn Sie kurz skizzieren könnten, wie ein sol-
ches Instrument wie das Betreuungsgeld mit den Zielen
Ihrer Demografiestrategie – bessere Bildungschancen
für Kinder, Integration und Fachkräftesicherung – in
Einklang zu bringen ist.
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
nern:
Das ist ein wichtiger Aspekt, der insbesondere mit
dem ersten Themenkomplex Familien stärken zusam-
menhängt. Im Rahmen unserer Strategie haben wir als
einen wichtigen Punkt identifiziert, dass sich unsere Fa-
milien mehr Zeitsouveränität für sich und ihre Angehöri-
gen wünschen, um ihren jeweiligen familiären Wün-
schen, Anliegen und Vorhaben gerecht werden zu
können. In diesem Rahmen spielt natürlich die Frage
eine große Rolle, mit welchen zusätzlichen Möglichkei-
ten wir bei der Betreuung und Erziehung von Kindern
Unterstützung gewähren können.
In diesem Kontext geht es auch darum, dass die Zahl
der Kitaplätze weiter ausgebaut wird, um für diejenigen
– es sind immerhin zwischen 35 und 40 Prozent der Be-
völkerung –, die ihr Kind früh in eine Kita geben wollen,
eine entsprechende Möglichkeit zu schaffen. Andere ent-
scheiden sich für Tagesmütter, wiederum andere wollen
ihre Kinder selbst betreuen. Die entsprechende Wahlfrei-
heit sollte durch eine Vielfalt der Möglichkeiten in jeder
Hinsicht unterstützt werden. Ich denke, dass das Betreu-
ungsgeld, das von der Koalition vereinbart wurde und
von der Bundesregierung beschlossen ist, hierzu einen
Beitrag leisten kann.
Frau Gottschalck, bitte.
Sie haben im Bericht dargestellt, wie ungleichmäßig
die demografische Entwicklung in den Regionen und in
den Metropolen verläuft. Fakt ist, dass die Kommunen
hierfür vor Ort einen großen Teil der Verantwortung tra-
gen und entsprechende Maßnahmen umsetzen müssen.
In dem Zusammenhang möchte ich fragen: Gibt es in Ih-
rem neuen Papier konkrete Vorschläge für eine Strategie,
wie Sie die Kommunen stärken und fördern wollen? Das
haben wir in der Beantwortung unserer Großen Anfrage
ein wenig vermisst. Deshalb meine Nachfrage: Wo wol-
len Sie hier Verantwortung übernehmen, und welche
Schwerpunkte wollen Sie setzen?
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
nern:
Was die finanzielle Entlastung der Kommunen an-
geht, hat diese Koalition, glaube ich, bereits Maßstäbe
gesetzt; ich erinnere beispielsweise an die Übernahme
der Kosten für die Grundsicherung. Die finanzielle Ent-
lastung aller Kommunen ist ein wichtiger Aspekt.
Sie haben recht, dass insbesondere die Kommunen in
strukturschwachen Gebieten gefordert sind, die vom de-
mografischen Wandel in besonderer Weise betroffen
sind. Es gibt hier – das haben Sie in Ihrer Frage auch be-
reits zum Ausdruck gebracht – hervorragende Beispiele,
insbesondere von Kommunen in den neuen Ländern, die
zuallererst gefordert waren – manche schon vor 20 Jah-
ren –, weil sie die Hälfte ihrer Bevölkerung in kürzester
Zeit verloren haben. Der Dialog mit den Kommunen ist
also sehr wichtig. Wir wollen deswegen eine Internet-
plattform schaffen, um mit den Ländern – das müssen
wir allerdings mit ihnen noch besprechen – und Kommu-
nen zu einem Dialog zu kommen.
Ein Problem ist – damit wird auch jeder von uns im-
mer wieder in seinem Wahlkreis konfrontiert –, dass es
eigene Programme des Landes, des Bundes und der
Kommunen gibt. Das Programm des Bundes läuft dann
aus; die Anschlussfinanzierung ist nicht gesichert. Die-
ses Durcheinander muss beendet werden. Wir brauchen
für jeden Bereich, für Kommunen oder etwas größere
Regionen, einen Gesamtansatz. Wir wollen versuchen,
einen solchen mit einem Dialog über diese Strategie zu
erreichen.
Frau Dittrich, bitte.
Vielen Dank. – Ich möchte Sie gerne fragen, ob Siemit mir übereinstimmen bzw. es ebenso sehen: LautArt. 20 des Grundgesetzes ist die Bundesrepublik ein„sozialer Bundesstaat“. Die Demokratie hat sich im Ver-lauf der Jahrtausende von der griechischen Antike, alsnur freie, besitzende, reiche Bürger abstimmen durften,über den Feudalismus bis hin zum jetzigen Parlamenta-rismus, in dem alle Bürger, nicht nur die Reichen undBesitzenden bzw. die Unternehmer, abstimmen dürfen,entwickelt. Im Hinblick auf die Demografie bedeutetdas, dass man davon ausgehen muss, dass die Menschen,die arbeiten, all diejenigen unterhalten müssen, die nochnicht arbeiten, also die Kinder, diejenigen, die nicht ar-beiten können, also die Menschen mit Behinderung, unddiejenigen, die schon älter sind und nicht mehr arbeitenmüssen, ebenso wie die kleine, radikale Minderheit, diein keiner Gesellschaftsordnung jemals gearbeitet hat,weil sie es nicht nötig hat. Nach Angaben der gewerk-schaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung haben wir nun
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Heidrun Dittrich
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eine demografische Situation, in der der Gesamtquotientder Menschen, die nicht arbeiten bzw. nicht im arbeitsfä-higen Alter sind und unterhalten werden müssen, gerin-ger ist als in den 70er-Jahren.
Frau Kollegin.
Wie können Sie angesichts dessen von einer „Vertei-
lungsproblematik“, von einer Spaltung zwischen Alt und
Jung sprechen? Wie kommen Sie auf solch eine Spal-
tung?
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
nern:
Zunächst einmal stimme ich Ihnen voll und ganz zu:
Ich glaube, dass es in der Geschichte auch im internatio-
nalen Vergleich kaum ein Land gibt, das mit einer sol-
chen rechtsstaatlichen Kraft für die Gesamtheit, für die
Summe seiner Bürger sorgt wie dieses Land. An der Ge-
staltung dieses Sozialstaates haben so viele Menschen
mitgewirkt. Sie haben recht: Wir können wirklich stolz
darauf sein und müssen alles daransetzen, dass es auch
in Zukunft unter veränderten Bedingungen so bleibt.
Ein Zustand wird jedoch immer bleiben: Diejenigen,
die arbeiten können, die aktiv sein können, müssen et-
was für die tun, die nicht mehr arbeiten können, die nicht
mehr aktiv sind. Dieser Verteilungszusammenhang wird
immer existieren. Die Aktiven sind also auch für diejeni-
gen da, die nicht mehr aktiv sein können. Im Idealfall
sind nur diejenigen nicht aktiv, die es objektiv nicht kön-
nen, und nicht auch diejenigen, die es nicht wollen.
Notwendig ist, dass wir das Potenzial all derjenigen
nutzen, die schaffen, arbeiten und einen Beitrag leisten
können. So gewinnen wir – jeder von uns – vor dem
Hintergrund der demografischen Entwicklung zusätzli-
che Jahre. Wir haben diese als „gewonnene Jahre“ be-
zeichnet, die man für sich nutzen kann, aber auch für die
Gesellschaft im Ehrenamt einbringen kann. Ich glaube,
wir können auch unter den veränderten Bedingungen das
Potenzial, das überall in der Bevölkerung vorhanden ist,
optimal nutzen, um diese Gesellschaft, dieses Land vo-
ranzubringen und, wie Sie richtig sagen, seine großen
sozialen Errungenschaften zu bewahren.
Kollege Liebing.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie ha-
ben bei der Darstellung der verschiedenen Handlungsfel-
der unter viertens darauf hingewiesen, wie unterschied-
lich sich die demografische Entwicklung in den
ländlichen und den städtischen Regionen vollzieht: In
den ländlichen Regionen kommt der demografische
Wandel früher an und ist in seinen Wirkungen heftiger;
manche Probleme sind schon heute sehr viel stärker
spürbar. Ich würde gerne von Ihnen wissen, inwieweit
Sie mit dieser Strategie spezielle Lösungsansätze für
diese ländlichen Regionen anbieten, welche speziellen
Themen- und Handlungsfelder Sie dort identifiziert ha-
ben und ob mit dieser Strategie schon bestimmte Maß-
nahmen verbunden sind, die umgesetzt werden sollen.
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
nern:
Vielen Dank. – Die Antwort auf die Frage: „Wie kön-
nen wir die ländlichen Räume lebenswert halten?“, fällt
ja sehr individuell aus; denn es ist ein Unterschied, ob
eine Kleinstadt im Umfeld von Berlin oder München
liegt oder irgendwo fernab der Metropolen. Insofern hat
man auch in den ländlichen Räumen durchaus unter-
schiedliche Ausgangspunkte und -situationen. Wichtig
ist aber, dass wir insbesondere in vier Bereichen dafür
sorgen, dass der ländliche Raum und die strukturschwä-
cheren Gebiete lebenswert bleiben: im Bereich Bildung,
also beim Zugang zu Bildung, auch zu Weiterbildung für
junge Menschen, für Kinder; im Bereich Infrastruktur,
insbesondere Verkehrsinfrastruktur, Mobilität, aber auch
Internet – ein spezielles Thema, über das man ausführli-
cher sprechen müsste –; im Bereich Gesundheitsversor-
gung – auch das wird ein Schwerpunkt sein, bei dem
sich der Bundesgesundheitsminister in besonderer Weise
einbringt – und schließlich im Bereich Kultur; ich
glaube, das darf man nicht unterschätzen. Wir müssen
dafür sorgen, dass nicht die Situation entsteht, dass es
nur noch in den Großstädten und Metropolen einen Zu-
gang zu Kultur gibt und nicht mehr sozusagen draußen
in den ländlichen Räumen. Vielmehr müssen wir dafür
sorgen, dass auch in den ländlichen Räumen der Zugang
zu Kultur – Erreichbarkeit von Theatern, von Kinos usw. –
gewährleistet ist. Das ist eine große Aufgabe, insbeson-
dere muss man sich hier der Frage stellen: Welche neuen
Mobilitätskonzepte brauchen wir?
Frau Scharfenberg.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie ha-ben in der Demografiestrategie „Selbstbestimmtes Le-ben im Alter“ als einen der zentralen Punkte identifi-ziert. In diesem Zusammenhang wird auch auf diepflegerische Versorgung Bezug genommen. Es werdeneinige wichtige und auch richtige Punkte genannt, bei-spielsweise die Einführung des neuen Pflegebegriffsoder auch das Thema Prävention.Sie haben zu Beginn gesagt: Wir dürfen nicht abwar-ten, bis die Dinge zum Problem werden. Darum frage ichSie: Wenn wir erkannt haben, dass wir die Einführungeines neuen Pflegebegriffs und auch eine Stärkung derPrävention gerade im Bereich „Selbstbestimmtes Lebenim Alter“ brauchen, warum wird dann dieses Wissen imaktuellen Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz nicht genutzt?Warum greift man nicht darauf zurück, indem man sichmit dem Pflegebegriff oder auch mit dem Thema Prä-vention befasst? Warum werden jetzt nur Absichtserklä-rungen formuliert, denen aktuell nichts folgt, obwohl wirdas wissen und auch Sie der Auffassung sind, dass wirnicht abwarten dürfen, bis die Dinge zum Problem wer-den?
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Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-nern:Sie weisen völlig zu Recht darauf hin, dass der As-pekt Pflegebegriff in der aktuellen Diskussion eine wich-tige Rolle spielt. Ich will mich in die Auseinandersetzun-gen der Fachpolitiker nicht einmischen, kann aber sagen,dass wir bei den verschiedenen Veranstaltungen, die wirim Vorfeld durchgeführt haben, ein Faktum festgestellthaben, nämlich dass in Deutschland der Zeitraum zwi-schen dem Auftreten von Pflegebedürftigkeit und demTod relativ lang ist, und zwar viel länger als in anderenLändern. Hier kommt der Prävention eine besondere Be-deutung zu; denn alle Experten sagen uns: Ihr wärt in derLage, diesen Zeitraum zu verringern, wenn ihr im Be-reich Prävention früher und konsequenter ansetzt.Ich möchte auch darauf hinweisen, dass Alter – früherwar es definiert: Jemand ist nicht mehr im Arbeitspro-zess, jemand kann sich nicht mehr beteiligen und be-kommt Rente – heute eine völlig neue Dimension hat.Wir haben aktive Senioren, wir haben Menschen, diezwar aus dem aktiven Erwerbsleben ausscheiden, aberdie noch für viele erfüllte Jahre Kraft haben und die sicham gesellschaftlichen Geschehen beteiligen können.Insofern hat auch Alter heute ganz verschiedene Ab-schnitte. Der Pflegeabschnitt ist sehr wichtig, aber ihmgeht der Abschnitt der Prävention voraus. Hier wollenwir einen Schwerpunkt setzen. Im Bereich der Pflege istes notwendig, dass Aspekte des menschenwürdigen Le-bens auch in einer solch hilflosen Situation beachtet wer-den. Als Expertin für den Bereich Pflege werden Sie mitden Kollegen einen fruchtbaren und sinnvollen Dialogführen, der im weiteren Fortgang auch in die Strategieeinfließen wird.
Kollege Müntefering.
Herr Minister, Sie nehmen die Zahlen bis 2030 als
Grundlage für die Strategie. Das ist eine Verniedlichung
und auch ein bisschen eine Irreführung, weil man sehr
genau weiß, dass wir es 2050 bzw. 2060 mit ganz ande-
ren Dimensionen zu tun haben. Die Menschen, die heute
20 Jahre alt sind, werden 2030 38 Jahre alt sein; es lie-
gen dann aber noch 20, 30 Jahre vor ihnen, in denen sie
in aller Massivität mit den Aufgaben konfrontiert sein
werden, die sich aus der zukünftigen Situation ergeben.
Sie sprechen über Metropolen und ländliche Räume,
sagen aber nichts dazu, dass es Städte, auch große
Städte, gibt, die längst ganz konkret erhebliche Probleme
mit dem demografischen Wandel haben. Sie sind mitten
drin. Das Land kann man also nicht in Dörfer und Städte
aufteilen, sondern hier geht es um ganz andere Dimen-
sionen. Sie sagen eigentlich nichts dazu, was getan wer-
den soll, damit die Kommunen in entsprechender Weise
– so unterschiedlich sie betroffen sind – in die Entschei-
dungsprozesse einbezogen werden. Im Gegenteil, Sie
kündigen – sozusagen eine Verkündigung aus dem
Kanzleramt – an: Es wird Gipfel geben.
Wären Sie bereit, im weiteren Verlauf der Debatte die
Zahlen bis 2050/2060 zur Grundlage zu nehmen und da-
für zu sorgen, dass es einen Dreieckstisch gibt, an dem
Vertreter von Bund, Ländern und Kommunen und mög-
lichst auch vom Parlament sitzen, damit man zu Rege-
lungen kommt, die wirklich zielführend sind?
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
nern:
Herr Müntefering, Sie geben einen wichtigen Hin-
weis. Wir haben uns im Demografiebericht vom Oktober
auch die Zahlen bis 2050 angeschaut. Je nach Szenario,
das man zugrunde legt, kommt man auf bis zu 17 Millio-
nen Menschen weniger in Deutschland. Insofern haben
Sie recht: Man könnte einen längeren Zeitraum nehmen.
Warum haben wir einen kürzeren gewählt? Weil es ohne-
hin sehr schwierig ist, in die Zukunft zu blicken. Je wei-
ter man in die Zukunft geht, umso zahlreicher und nebu-
löser werden die möglichen Szenarien. Deswegen haben
wir gesagt: Wir nehmen einen überschaubaren Zeitraum.
Ich glaube, 20 Jahre sind eine Zeit, an der man sich auch
sehr konkret bei den tagespolitischen Weichenstellungen
orientieren kann.
Sie sagen darüber hinaus etwas ganz Zentrales: Wir
brauchen für das Gelingen der Modernisierung von Staat
und Gesellschaft vor allem diejenigen, die unmittelbar
vor Ort aktiv sind. Das sind die Kommunen. Deswegen
haben wir die Kommunen einbezogen. Dem Bericht
– übrigens auch der Strategie – liegen die Handlungs-
empfehlungen aus den neuen Ländern zugrunde, wo
Bürgermeister schon sehr viele Erfahrungen gesammelt
haben. Wir haben gestern bei der Veranstaltung im
Kanzleramt Landräte und Stadträte aus den Metropolen
eingeladen. Selbstverständlich haben wir vor, einen ganz
engen Dialog mit den Kommunen zu führen. Mit den
Ländern wollen wir über die Einrichtung eines Internet-
portals sprechen, sodass wir unter Nutzung der moder-
nen Kommunikationsmöglichkeiten sehr zügig ins Ge-
spräch kommen können. Wie genau wir das konkret
machen werden – mit Dreiecks-, Vierecks-, Fünfecks-
oder runden Tischen –, können wir uns überlegen. Ich
bin für alle Vorschläge offen.
Frau Rößner.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, lassenSie mich eine kurze Vorbemerkung zur Information desBundestages machen. Während wir als Bundestagsabge-ordnete die Strategie erst heute zu Gesicht bekommenhaben, lag sie einzelnen Medien – wie der Zeit oder derWelt – schon seit mindestens fünf Tagen vor. Das ver-wundert schon sehr. Vielleicht können Sie dazu etwassagen; denn auch die Studie „Lebenswelten junger Mus-lime in Deutschland“ wurde der Presse vorab zugespielt,bevor die Öffentlichkeit und der Bundestag darüber in-formiert wurden.Meine Frage bezieht sich auf die Breitbandversor-gung. Sie geben das Ziel an, bis 2014 in drei Vierteln der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20539
Tabea Rößner
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Haushalte Breitband mit 50 Megabit zur Verfügung zustellen. Ich frage Sie: Mit welchen Mitteln wollen Siedieses Ziel in gut eineinhalb Jahren erreichen, da heutenicht einmal 10 Prozent der Haushalte eine solche Band-breite nutzen oder nutzen können? Bedarf es nicht ersteinmal einer flächendeckenden Grundversorgung vonrichtigem Breitband?Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-nern:Sie sagen zu Recht, dass diese Strategie schon imVorfeld diskutiert wurde. Wir haben an der Erarbeitungdieser Strategie – das muss man sehen – fast alle Res-sorts beteiligt. Es gab also eine breite Einbindung, undda ist es immer möglich, dass Teile der Strategie vorabbekannt werden.
Ich glaube aber, dass es unschädlich ist, wenn man da-rüber redet und diskutiert. Wir wollen ja eine breite De-batte anstoßen.Das Gesamtwerk ist heute im Kabinett beschlossenworden. Es wird Ihnen heute vorgelegt. Ich glaube, dasist der entscheidende Punkt, auf den es ankommt. Wirwerden sehen, wie wir künftig die Vorschläge, die imDialog bzw. in den Gesprächen gemacht werden, einbe-ziehen. Das ist überhaupt keine Frage. Alles, was Ihrer-seits, vonseiten des Parlaments und vonseiten der Ge-sellschaft, an Impulsen kommt, wird aufgenommen. Dasist ein Prinzip, eine Methode, eine Herangehensweise,die wir so vereinbart haben.Wir stehen jetzt ja am Beginn dieses Prozesses. Ichmöchte darauf hinweisen, dass wir am Ende des Strate-giepapiers unter der Überschrift „EbenenübergreifenderDialog“ die Gründung von Arbeitsgruppen angekündigthaben, bei denen die verschiedenen Ressortchefs Kovor-sitzende sein sollen. Wenn Sie sich das anschauen, er-kennen Sie, dass die Möglichkeit besteht, sich an der ei-nen oder anderen Stelle einzubringen. Ich glaube, das istinsbesondere für das Parlament ein wichtiger Punkt, weiljeder von uns in seinem Wahlkreis gefordert wird.
Mit Blick auf die nach wie vor beachtliche Anzahl
von Wortmeldungen möchte ich noch einmal darum bit-
ten, die vorgesehene Redezeit von einer Minute mög-
lichst einzuhalten.
Nächste Frage von Frau Crone. Bitte.
Danke sehr, Herr Präsident. – Herr Minister, im Zu-
sammenhang mit dem demografischen Wandel sprechen
wir immer vom Fachkräftemangel. Zwei Berufsgruppen
sind davon schon jetzt besonders betroffen: die Pflege-
rinnen und die Erzieherinnen. Die Arbeitsbedingungen
und die Ausbildung in diesen Bereichen müssen ganz
schnell und ganz massiv verbessert werden. Ich frage
Sie: Muss Ihre Strategie in Anbetracht dieser Herausfor-
derung – ich denke vor allem an den erforderlichen Aus-
bau im Bereich der Kinderbetreuung – nicht bereits
heute um dieses Thema ergänzt und entsprechend kon-
kretisiert werden?
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
nern:
Sie haben absolut recht. Das Thema Zuwanderung ist
ein zentrales Thema, auch in der aktuellen tagespoliti-
schen Auseinandersetzung.
– Ich dachte, Sie meinten die Zuwanderung von Pflege-
kräften.
– Entschuldigung. Das habe ich missverstanden. Die
Ausbildung von Pflegekräften ist ein zentrales Thema.
Beim Thema Pflegekräfte dachte ich an die Diskussion
über die Pflegekräfte, die aus anderen Ländern zu uns
kommen, die heute oder gestern geführt wurde. Ich bitte
um Verzeihung.
Die Ausbildung von Pflegekräften ist ein wichtiges
Thema. Es ist auch dafür zu sorgen, dass in den Kitas
bzw. Kindergärten ausreichend Erzieherinnen vorhanden
sind. Das werden zentrale Themen sein, über die wir mit
Frau von der Leyen und Frau Schröder, aber auch mit
der Wissenschaftsministerin sprechen werden. Die Wis-
senschaftsministerin hat ja angekündigt, das ganze
nächste Jahr unter die Überschrift „Forschung und De-
mografie“ zu stellen. Ich glaube, es wird möglich sein,
dass Familien-, Frauen- und Jugendministerium, Ar-
beitsministerium und Forschungsministerium gemein-
sam einen Ansatz finden, wie wir qualitativ hochwertig
ausgebildete Erzieherinnen und Pflegekräfte zur Verfü-
gung stellen können; denn – damit haben Sie völlig recht –
das sind wir den Menschen schuldig, auch unseren Kin-
dern.
Herr Körber.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Bundesminister,Sie haben viel Richtiges zu den Punkten ausgeführt, diegroße Konsequenzen für den ländlichen Raum habenwerden: Zugang zu Bildung und Mobilität. Vielleichtkönnen Sie noch etwas dazu ausführen, was konkret imBereich des Wohnens, des Städtebaus gemacht wird.Wenn ältere Menschen so lange wie möglich zu Hausewohnen können, was oftmals ihr Wunsch ist, ist das jaauch günstiger. Bundesminister Bahr hat das Modell derPflege-WG vorgestellt. Vielleicht können Sie dazu etwasausführen.Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-nern:Sie haben einen wichtigen Hinweis gegeben. Das Mo-dell der Pflege-WG und unsere Überlegungen zumHandlungsfeld „Selbstbestimmtes Leben im Alter“ ma-chen deutlich, dass wir uns hier stark engagieren und unsder Frage stellen, wie wir dafür sorgen können, dass
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20540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
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Menschen in ihrem häuslichen Umfeld Pflege erfahren.Es geht hier um zentrale Fragen, die jetzt beantwortetwerden müssen.Der Bauminister hat in verschiedenen Zusammenhän-gen darauf hingewiesen, dass eine große Offensive aufden behindertengerechten und altersgerechten Aus- undUmbau von Wohnungen zielt, sodass man sich in diesenWohnungen auch mit Rollstühlen und Gehhilfen fortbe-wegen kann.Das alles sind wichtige Bestandteile der Strategie.Diese müssen jetzt, wie gesagt, von den Fachpolitikernvorangetrieben werden, wobei natürlich eine enge Ver-zahnung mit den Sozialministerien der Länder notwen-dig ist. Man muss ja sehen, dass wir vonseiten der Bun-desregierung in vielen Bereichen zwar den Rahmenvorgeben und Impulse setzen können, dass vieles aberdurch die Länder, insbesondere durch die Sozialministe-rien, ausgeführt bzw. gesetzlich umgesetzt werden muss.Jetzt kommt es darauf an, dass wir all die Ansätze, dieschon existieren, zusammenführen und bündeln, umdann gemeinsame Lösungen zu präsentieren.Ich weiß nicht, wie ich jetzt noch am besten den Bo-gen zum Breitbandausbau schlagen kann; auch danachhaben Sie ja gefragt. Der Breitbandausbau ist ein wichti-ges Thema, über das wir natürlich auch mit den Ländernsprechen müssen; denn Breitbandstrategie und -ausbausind nicht nur Bundesangelegenheit, sondern auch An-gelegenheit der Länder und der Kommunen. Über einessind wir uns, glaube ich, alle im Klaren: Genauso wich-tig, wie es ist, weit abgelegene Dörfer mit Strom undWasser zu versorgen und Straßen dorthin zu bauen, istes, diese Dörfer mit Internetanschlüssen und Breitbandzu versorgen. Hierzu ist eine große Kraftanstrengung er-forderlich.
Frau Klamt, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie ha-
ben ausgeführt, dass eines der strategischen Handlungs-
felder die Sicherung der Grundlagen für nachhaltiges
Wachstum und für Wohlstand ist. Dazu gehört natürlich,
die Bildungspotenziale in unserem Land zu sichern. Wir
machen derzeit bereits viel, um in den Bereichen Aus-
und Weiterbildung sowie Qualifizierung vorwärtszu-
kommen. Ich glaube, das müssen wir uns immer wieder
auf die Fahne schreiben.
Wir sind heute eines der wirtschaftlich erfolgreichsten
Länder dieser Welt, gleichzeitig schrumpft unsere Be-
völkerung, wir haben weniger junge Menschen. Daher
stellt sich trotz der gerade genannten Maßnahmen die
Frage: Wie decken wir unseren Bedarf an Fachkräften
ab? Werden wir dies aus eigener Kraft schaffen, oder
müssen wir uns ein Stück weit in Richtung Zuwande-
rung und einer Willkommenskultur öffnen?
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
nern:
Ich glaube, man muss hier eine bestimmte Reihen-
folge einhalten:
Erstens muss man alle Potenziale, die man im eigenen
Land hat, nutzen und ausschöpfen. Das tun wir – Sie ha-
ben es angesprochen – über Bildungsstrategien und Aus-
bildungsallianzen vor Ort. Wir müssen auch älteren
Menschen bei der Weiterbildung, bei der Fortbildung,
bei der Umschulung, bei der Entwicklung ihrer Fähig-
keiten helfen, damit sie sich einbringen und ihre Fähig-
keiten und Potenziale entwickeln können. Wir müssen
also erstens die eigenen Potenziale nutzen.
Zweitens weise ich in diesem Zusammenhang auf den
europäischen Aspekt hin. Die Jugendarbeitslosigkeit
liegt in Spanien bei etwa 46 Prozent und in Italien bei
etwa 32 Prozent. Wir haben einen gemeinsamen Wäh-
rungsraum und müssen begreifen, dass jeder arbeitslose
Jugendliche, zum Beispiel in Italien, in Spanien oder in
Portugal, eine Belastung für unsere gemeinsame Wäh-
rung darstellt. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir
europäisch denken und auch das Potenzial nutzen, das in
Europa zur Verfügung steht. Wir müssen sehr eng mit
den anderen europäischen Ländern zusammenarbeiten.
Soweit ich weiß, hat die Bundesagentur für Arbeit be-
reits eine Offensive gestartet, um beispielsweise junge
Leute aus Spanien hierher zu bringen.
Drittens muss man sich natürlich auch im Rest der
Welt umschauen. Was brauchen wir? Welche Fachkräfte
brauchen wir? Wer möchte mit uns zusammen in un-
serem Land die Gesellschaft und die Zukunft gestalten?
Es ist wichtig, dieses Thema in dieser Reihenfolge
– Deutschland, Europa, Welt – zu betrachten.
Ich kann Ihnen die freudige Botschaft überbringen,
dass Sie daran mitwirken können. Am Freitag ab 9 Uhr
wird dieses Hohe Haus über die Umsetzung der Blue-
card-Richtlinie der Europäischen Union beraten, durch
die die Möglichkeiten von Fachkräften, nach Deutsch-
land zu kommen, erweitert werden. Ich hoffe, dass der
Deutsche Bundestag die Umsetzung der Bluecard-Richt-
linie am Freitag in zweiter und dritter Lesung verab-
schieden wird. Insofern, glaube ich, sind wir auch in die-
ser Frage auf einem richtigen Weg.
Dass die Bundesregierung jetzt aktiv für die Teil-nahme an Plenarsitzungen wirbt, nehme ich mit beson-derer Freude zur Kenntnis.
– Absolut. Eben darum habe ich darauf hingewiesen. –Jenseits unserer üblichen 30-Minuten-Regelung liegenmir jetzt noch fünf Wortmeldungen vor. Ich schlage vor,dass wir diese noch aufrufen, dass ich damit aber auchdie Liste der Nachfragen abschließe. Ich habe mir no-tiert: Frau Bätzing, Frau Dittrich, Franz Müntefering,Frau Scharfenberg und Frau Crone. Können wir so ver-fahren? – Sie wollten auch gerne noch einmal nachfra-gen?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20541
Präsident Dr. Norbert Lammert
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– Ich nicke manchmal, ohne dass daraus Rechtsansprü-che hergeleitet werden können. – Ich unterstelle, dassallgemeines Einvernehmen besteht, dass ich auch Sienoch einmal aufrufe. Aber wir sollten uns jetzt bemühen,es so kurz und knapp wie eben möglich zu halten. – FrauBätzing.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Friedrich,
ich bin über Ihre Antwort von eben etwas verwundert.
Sie haben gesagt, dass das Programm „Altersgerecht
umbauen“ extrem wichtig ist und dass Sie es sehr bemer-
kenswert finden. Das finden auch wir. Umso mehr ver-
wundert es, dass Sie die finanziellen Mittel für das Pro-
gramm gekürzt haben; das nur als Vorbemerkung.
Ich möchte eine Frage stellen, die sich auf das Thema
Altersarmut bezieht. Ihre Kabinettskollegin Frau von der
Leyen hat immer wieder vor der drohenden Altersarmut
gewarnt. Wir wissen, dass gute Löhne für gute Renten
sorgen. Ich frage Sie: Welche Zielsetzungen verfolgen
Sie mit Ihrem Konzept bzw. Ihrer Strategie in Bezug auf
den Zusammenhang zwischen guter Arbeit, guten Löh-
nen und guter Rente? Oder spielt dieses Thema vielleicht
gar keine Rolle?
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
nern:
Schon allein die Tatsache, dass wir die Wettbewerbs-
fähigkeit und die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft the-
matisieren – es geht nämlich darum, Arbeitsplätze zu
schaffen; es gab in diesem Land übrigens noch nie so
viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsver-
hältnisse wie derzeit –, zeigt, wie wichtig uns dieses
Thema ist. Jeder Einzelne soll die Möglichkeit haben,
sich weiterzuqualifizieren, sich weiterzubilden und vo-
ranzukommen.
Sie haben das Thema Rente angesprochen. Ich
glaube, dies ist einer der Schwerpunkte, über den wir zu
reden haben. Es geht um einen veränderten Zugang zu
den Fragen: Wie geht man in Rente? Gibt es Übergangs-
formen? Gibt es eine echte Altersteilzeit, die anders or-
ganisiert ist als das, was wir in diesem Bereich einmal
hatten? Ist beispielsweise eine Kombination aus Rente
und Teilzeitarbeit bzw. eine Zuschussrente möglich? Ich
glaube, dies ist ein wichtiger Punkt. Der entscheidende
Leitsatz lautet: Wir wollen denjenigen, die gearbeitet ha-
ben, und denjenigen, die Vorsorge getroffen haben, ge-
recht werden, indem wir dafür sorgen, dass sie im Alter
eine auskömmliche Rente erhalten.
Frau Dittrich.
Herr Minister, ich möchte Sie fragen: Warum wird die
Beschäftigung älterer Menschen, auch über das Ren-
tenalter hinaus, von der Bundesregierung so sehr befür-
wortet – Sie sagten, dass wir jeden brauchen und alle
Potenziale ausschöpfen müssen, auch die von Frauen
und Alleinerziehenden –, obwohl es bei uns immer noch
Erwerbslose gibt und sogar Erwerbslose aus Spanien
nach Deutschland einwandern dürfen? Das hat nämlich
zur Folge, dass bei uns in Deutschland Auszubildende
nicht übernommen werden. Denken Sie auch an die
Frauen, die bei Schlecker gearbeitet haben und nun, mit
über 55 Jahren, keinen anderen Arbeitsplatz mehr fin-
den, vielleicht auch deshalb, weil sie zu Hause jemanden
pflegen. Was bedeutet es für Sie, dass hauptsächlich Äl-
tere weiterarbeiten sollen, wie es Ihr Vorschlag der
Kombirente vorsieht? Wollen Sie für die armen Men-
schen ein Modell schaffen, das sicherstellt, dass sie le-
benslang weiterarbeiten können, solange sie es können?
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
nern:
Wir wollen jedem, der arbeiten will und kann, die
Möglichkeit eröffnen, dies zu tun; darum geht es. Wir
wollen jedem in diesem Land, der arbeits- und ausbil-
dungswillig ist, die Chance eröffnen, einen Ausbildungs-
platz zu finden bzw. zu arbeiten. Deutschland soll ein
Land der Chancen sein. Wir als christlich-liberale Regie-
rung gehen von einem mündigen, selbstständigen Men-
schen aus, der bemüht ist, sich zu entfalten und sich sei-
nen Möglichkeiten entsprechend einzubringen. Ich
glaube, wenn wir von diesem Menschenbild ausgehen,
wird es gelingen, dieser Gesellschaft eine gute Zukunft
zu ermöglichen.
Kollege Müntefering.
Ich komme auf die Zahlenbasis der Strategie, die Sieuns vorgelegt haben, zurück. Als Grundlage nehmen Siedie Zahlen bis 2030. Das Statistische Bundesamt undviele Wissenschaftler verfügen über entsprechende Er-kenntnisse bis zum Jahr 2050 oder 2060; das wissenauch Sie. Meine Frage: Wären Sie bereit, an dieser Stellenachzuarbeiten und dem Deutschen Bundestag in abseh-barer Zeit sozusagen den Teil zwei Ihrer Strategie vorzu-legen, damit wir sehen können, welche Konsequenzensich ergeben, wenn man über das Jahr 2030 hinaus-blickt? Oder würden Sie uns raten, Ihnen eine KleineAnfrage zukommen zu lassen, die Sie uns dann in dennächsten 14 Tagen oder drei Wochen beantworten?
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-nern:Sie haben recht, dass wir über den Tag hinausdenkenmüssen. Da Sie offensichtlich davon ausgehen, dass wirnoch sehr lange regieren,
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20542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
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(B)
kann ich Ihnen zusagen: Sie werden auch für die Zeitvon 2030 bis 2060 rechtzeitig eine entsprechende Strate-gie von mir vorgelegt bekommen.
Spaß beiseite: Selbstverständlich werden wir uns auchmit der Frage auseinandersetzen, wie es jenseits desZeitraums, für den wir nun konkrete Weichenstellungenvornehmen müssen, weitergehen kann. Man muss abernatürlich sehen, dass die Stellschrauben und die Rah-menbedingungen so vielfältig sind, dass Sie, je weiterSie in die Zukunft blicken, natürlich immer mehr ver-schiedene Szenarien betrachten müssen, ohne zu wissen,was davon im Einzelnen zutrifft. Ich kann Ihnen aberversprechen, dass wir auch im Rahmen der Diskussionum die Strategie immer noch – auch zeitlich – über denHorizont hinausdenken.
Frau Scharfenberg.
Herr Präsident! Herr Minister! Ich möchte gerne noch
einmal auf die Fachkräfte zurückkommen. Mir geht es
um die Fachkräfte im Bereich der Pflege.
In der Demografiestrategie heißt es, die Bundesregie-
rung werde die Fachkräftebasis in der Pflege sichern und
zukunftsweisende Angebotsstrukturen für Betreuung
und Pflege unterstützen. Ich frage Sie jetzt ganz konkret:
Halten Sie es für den richtigen Weg, dass Sie mit dem
Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz das Risiko der Lohn-
drückerei für die Pflegekräfte in Kauf nehmen, nämlich
dadurch, dass Sie die Bindung einer Zulassung von Pfle-
geeinrichtungen an die ortsübliche Vergütung kippen
und die Vergütung auf das Niveau des Pflegemindest-
lohns absenken wollen?
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
nern:
Wichtig ist natürlich die Erkenntnis: Wir bekommen
in allen Bereichen nur dann gute Leute, wenn wir ihnen
auch anständiges Geld bezahlen. Das ist überhaupt keine
Frage. Umgekehrt verlangen wir natürlich auch eine or-
dentliche Qualifikation und Ausbildung.
Ich kann diese spezielle Frage aus dem Pflegebereich,
die Sie vielleicht auch einmal mit der zuständigen Minis-
terin besprechen sollten, jetzt nicht beantworten, aber ich
kann Ihnen sagen: Ja, es ist unser Ziel, die Fachkräfte-
basis in der Pflege zu sichern, und zwar auch dadurch,
dass wir den Pflegeberuf für diejenigen, die in diesem
Bereich arbeiten wollen, in der Zukunft attraktiv und lu-
krativ halten. Ich glaube, dass wir auch mit unserem
Bundesfreiwilligendienst einen Zugang junger Men-
schen – zunächst auf freiwilliger Basis – zum gesamten
Bereich der sozialen Dienstleistungen ermöglichen. Von
daher erwarte ich mir sehr viele Impulse für den gesam-
ten Sozialbereich, vor allem aber für den Bereich der
Pflege.
Frau Crone.
Herr Minister, ich freue mich natürlich, dass Sie
schon so emanzipiert sind, dass Sie den Gesundheits-
minister als Ministerin bezeichnen. Das finde ich wun-
derbar.
Deswegen möchte ich auch eine Frage stellen. Ich
vermisse in Ihrer Strategie die Zielsetzung „Förderung
einer partnerschaftlichen Aufteilung von Familien- und
Erwerbsarbeit“. Welchen Stellenwert räumen Sie einer
umfassenden Gleichstellung von Frauen und Männern
ein? Das bezieht sich auch ein bisschen auf Ihre Aus-
sage. Meinen Sie nicht, dass Ihr Konzept auch in diesem
Punkt unbedingt angepasst werden müsste?
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
nern:
Wir räumen dieser Frage einen so hohen Stellenwert
ein und dies ist für uns so selbstverständlich, dass wir
das nicht extra erwähnen mussten. Das liegt sozusagen
allem zugrunde, was wir aufgeschrieben haben.
Frau Rößner.
Vielen Dank, Herr Präsident, dass ich doch noch zuWort kommen darf.Herr Minister, ich möchte noch einmal kurz auf dieSituation der Kommunen eingehen. Sie beschreiben inder Strategie ja immer wieder die Aufgaben der Kom-munen. Eine richtige Lösung dafür, wie die Kommunengestärkt werden können, finde ich in dieser Strategieaber nicht.Sie weisen auf Modellprogramme hin, die Sie weiterfördern wollen, wie beispielsweise das Modellvorhaben„LandZukunft“ und auch das Städtebauförderprogramm„Kleine Städte und Gemeinden“. Daneben betonen Siedie Programme „Die soziale Stadt“ und „Altersgerechtumbauen“. Ich frage mich natürlich – das wurde hierauch schon angemerkt –: Heißt das, dass Sie diese Pro-gramme weiter unterstützen, dass Sie also „Altersge-recht umbauen“ wieder neu auflegen und die Kürzungenbeim Programm „Die soziale Stadt“ zurücknehmen? InIhrer Demografiestrategie werden diese ja als besondersfamilien- und altersgerechte Infrastrukturen mit genera-tionenübergreifenden Angeboten ausdrücklich betontund hervorgehoben.Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-nern:Das ist völlig richtig. Ich glaube, die Mehrgeneratio-nenhäuser sind sehr erfolgreich. Ebenfalls sehr erfolg-reich ist das Programm „Die soziale Stadt“. Jeder, derentsprechende Fälle kennt, weiß das, wobei die Baupoli-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20543
Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
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tiker immer aufbegehrt und gesagt haben: Das gehört ei-gentlich in den Sozialhaushalt und nicht in den Bauhaus-halt.
Das ist eine Frage der Ordnung. Aber ich glaube, wirsind uns einig, dass das ein guter Ansatz ist. Das Pro-gramm „Soziale Stadt“ ist im Zusammenhang mit denStadtquartieren, die sich in den Großstädten ganz unter-schiedlich entwickeln – auch innerhalb der Großstädtegibt es Wanderungsbewegungen –, ein wichtiges Thema.Sie haben richtig darauf hingewiesen: StadtumbauOst und Stadtumbau West sind zwei wichtige Pro-gramme, die auch in der Zukunft fortgeführt werdenmüssen. Überall da im Lande, wo diese Programme um-gesetzt worden sind, kann man sehen, wie segensreichdas Geld verwendet worden ist und was man damit wirk-lich erreicht hat. Nehmen Sie das als ein Bekenntnis zuerfolgreichen Programmen, die wir umgesetzt haben.Glauben Sie mir, dass wir uns nach Kräften bemühen,aber dies immer im Rahmen der finanziellen Möglich-keiten; denn eines haben wir nicht: Wir haben noch kei-nen Dukatenesel. Auch bei dieser Strategie wissen wirnoch nicht, wie weit wir mit unseren Mitteln kommen;wir müssen immer mit dem Geld, das wir haben, zu-rechtkommen. Aber glauben Sie mir, dass wir alles tunwerden, um die erfolgreichen Programme, die Sie aufge-zählt haben, finanziell weiter auszustatten. Ich glaube,dass wir in den Kommunen, die im Umgang mit Mittelnmehr Selbstbestimmungsrecht haben müssen, wichtigePartner und Unterstützer haben werden.
Vielen Dank, Herr Minister. – Wir schließen damit
diesen Themenbereich ab.
Gibt es Fragen zu anderen Themen der heutigen Ka-
binettssitzung? – Das ist nicht der Fall. Hat jemand sons-
tige Fragen an die Bundesregierung?
– „Heute nicht“, sagt Frau Enkelmann. – Dann schließen
wir damit die Befragung der Bundesregierung ab.
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksache 17/9351 –
Wir rufen die einzelnen zur mündlichen Beantwor-
tung eingereichten Fragen in der Reihenfolge der Res-
sorts auf, die Ihnen vorliegt.
Ich rufe zunächst den Geschäftsbereich der Bundes-
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz auf. Der Kollege Parlamentarischer Staatsse-
kretär Peter Bleser steht zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die Frage 1 der Kollegin Cornelia
Behm auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Bestandsentwick-
lung beim Aal nach Inkrafttreten der Aalbewirtschaftungs-
pläne, und welche über die bisherigen hinausgehenden Maß-
nahmen planen die Bundesregierung und, nach Kenntnis der
Bundesregierung, die EU-Kommission – zum Beispiel Ex-
portstopp für Glasaale, Verbot des Glasaalverzehrs, techni-
sche Vorgaben zur Senkung der Mortalität beim Glasaalfang,
Besatz nur in Gewässer, in denen ein ausreichender Fischab-
stieg möglich ist, höhere Mindestfanggröße, Fangverbot,
technische Vorgaben zur Senkung der Mortalität an den Was-
serkraftwerken)?
Pe
Danke, Herr Präsident. – Liebe Frau Kollegin, in der
Verordnung der Europäischen Gemeinschaft Nr. 1100/
2007 des Rates mit Maßnahmen zur Wiederauffüllung
des Bestands des Europäischen Aals ist vorgesehen, dass
die Mitgliedstaaten bis 30. Juni 2012 Bericht über die
von ihnen getroffenen Maßnahmen erstatten.
Die Berichte behandeln die Überwachung, die Wirk-
samkeit und die Ergebnisse der Aalmanagementmaßnah-
men in den Mitgliedstaaten. Die Berichte enthalten die
bestmöglichen Schätzungen der Biomasse der zum Lai-
chen ins Meer abgewanderten Blankaale für den betref-
fenden Mitgliedstaat oder den Anteil der Biomasse der
Blankaale, die das Gebiet dieses Mitgliedstaates see-
wärts zum Laichen verlassen, im Verhältnis zur Abwan-
derungsrate des jährlichen Fischereiaufwandes für Aale,
der außerfischereilichen Mortalitätsfaktoren und der
Fangmengen an Aal von weniger als 12 Zentimetern in
ihrer prozentualen Aufschlüsselung nach Verwendungs-
zwecken.
Der Bericht der Bundesregierung an die Europäische
Kommission wird derzeit erarbeitet. Erst nach Vorliegen
der Berichte der Mitgliedstaaten am 30. Juni dieses Jah-
res kann eine Bewertung der Bestandsentwicklung des
Europäischen Aals vor dem Hintergrund der Aalbewirt-
schaftungspläne erfolgen. Ebenfalls danach können wei-
tere, über die bisherigen Maßnahmen hinausgehende
Schritte diskutiert werden.
Zusatzfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für diese doch sehrwenig inhaltsreiche Antwort.
Sie sagen, die Antwort bzw. der deutsche Bericht an dieEU wird gerade erarbeitet. Ich kann mir nicht vorstellen,dass Sie über die Situation des Europäischen Aals, zu-mindest was Deutschland betrifft, keine Aussagen ma-chen können; denn bereits im Februar 2010, als ich da-nach fragte, also vor reichlich zwei Jahren, wurde dieSituation des Aals durch die Bundesregierung – dassagte damals die Staatssekretärin Klöckner – als schwie-rig eingeschätzt. Ich möchte gerne wissen: Wann wirdder Evaluationsbericht der EU vorliegen?
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20544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
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(B)
Pe
Sehr verehrte Frau Kollegin, ich habe Ihnen schon in
meiner Antwort berichtet, dass dies im Juni dieses Jahres
der Fall sein soll.
Sie haben gesagt: Deutschland bzw. die Mitgliedstaa-
ten müssen bis zum 30. Juni liefern. – Wir wissen aber
noch nicht, wann die EU den Bericht vorlegt. Danach
habe ich eben gefragt.
Pe
Danach wird die Europäische Union natürlich die Be-
richte auswerten und einen Bericht verfassen. Welchen
Zeitraum dies in Anspruch nimmt, kann ich Ihnen nicht
voraussagen.
Dann würde ich gerne eine zweite Frage anschließen.
Sie sind dabei, den Bericht zu erstellen, und wissen um
die schwierige Situation des Europäischen Aals, jeden-
falls auf Deutschland bezogen. Ich frage Sie: Halten Sie
es aufgrund der schlechten Bestandsentwicklung, die
seit Jahren besorgniserregend ist, für sinnvoll, dass nach
wie vor Glasaale gefangen und exportiert werden, auch
in Länder und Gebiete, wo sie nicht zur Reproduktion
eingesetzt werden können, weil zum Beispiel keine Ab-
wanderungsmöglichkeiten vorhanden sind, und meinen
Sie nicht, dass man aus dem gleichen Grund, aus dem
man nicht dorthin exportieren sollte, auch den Verzehr
von Glasaal unterbinden sollte? Ich halte das für eine
dringend notwendige Maßnahme. Ich frage Sie: Warum
macht die Bundesregierung da noch nichts? Auf wen
muss man an dieser Stelle noch Rücksicht nehmen?
Pe
Sehr verehrte Frau Kollegin, Sie werden verstehen,
dass die Bundesregierung erst dann Entscheidungen
trifft, wenn die entsprechenden Berichte vorliegen und
damit eine fundierte Bewertungsmöglichkeit besteht.
Ich rufe die Frage 2 des Kollegen Ostendorff auf:
Wann wird die Bundesregierung ihren Entwurf für das
Sechzehnte Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes,
das unter anderem Maßnahmen zur Begrenzung des Antibioti-
kaeinsatzes in der Tierhaltung enthalten soll, im Kabinett be-
handeln bzw. in den Deutschen Bundestag einbringen, und
warum hat die Bundesregierung die Initiative noch nicht ein-
gebracht, obwohl bei der Präsentation des Entwurfs am
10. Januar 2012 angekündigt wurde, dass dies in einem Zeit-
raum von vier bis sechs Wochen passieren solle?
Pe
Danke, Herr Präsident. – Verehrter Herr Kollege
Ostendorff, die Bundesregierung befindet sich derzeit im
Abstimmungsprozess zur Kabinettsvorlage des Entwur-
fes eines Sechzehnten Gesetzes zur Änderung des Arz-
neimittelgesetzes. Nach Abschluss der Vorbereitungen
wird der Kabinettsbeschluss zeitnah erfolgen. Die Ein-
bringung in den Bundestag und die weitere Zeitplanung
hängen vom Zeitpunkt der Beschlussfassung der Bun-
desregierung ab.
Bei diesem Abstimmungsprozess sind auch die rele-
vanten Beschlüsse der Amtschefskonferenz am 19. Ja-
nuar dieses Jahres sowie der zu erwartende Beschluss
der Amtschefs- und Agrarministerkonferenz vom 25. bis
27. April, also in dieser Woche, zu berücksichtigen.
Diese Beschlüsse haben Auswirkungen auf den Entwurf
eines Sechzehnten Gesetzes zur Änderung des Arznei-
mittelgesetzes.
Bitte schön.
Schönen Dank, Herr Staatssekretär, für die nichtssa-
gende Antwort.
Die Bundesregierung hat am 10. Januar dieses Jahres
verlauten lassen, dass es vier bis sechs Wochen dauern
werde, diese Dinge einzubringen. Jetzt sind wir weit im
April. Ich denke, vier bis sechs Wochen sind vorbei. Sie
haben schon Anfang April auf unsere damalige Anfrage
sehr nichtssagend geantwortet.
Können Sie das, was zumindest kolportiert wird, be-
stätigen, nämlich dass die Bundesregierung die vier bis
sechs Wochen nach dem 10. Januar nicht vor der Som-
merpause auszuschöpfen gedenkt, sondern das Ende der
Sechswochenfrist erst nach der Sommerpause erreicht
sieht?
Pe
Sehr verehrter Herr Kollege, die Bewertung von Aus-sagen steht Ihnen natürlich frei. Ob es eine Frage ist,mag jemand anderes bewerten. Sie werden aber verste-hen, dass es gerade bei diesem Problem darauf an-kommt, betriebsbezogene Antibiotikaminimierungsstra-tegien zu verfassen. Hierzu bedarf es einer intensivenDiskussion, bei der auch die Länder eine wichtige Rolleübernehmen müssen, weil sie die Umsetzung der Ge-setze vor Ort gestalten müssen.Insofern ist es von entscheidender Bedeutung, wiesich die Länder in dieser Frage positionieren. Das wirdselbstverständlich auch in die Beratungen der Bundesre-gierung mit einfließen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20545
(C)
(B)
Das bringt mich zwangsläufig zu einer weiteren Frage.Da sich die Länder schon seit Dezember 2011 in der Ab-stimmung befinden, ist die Frage zu stellen – diese Frageist ernster gemeint als die zuvor –: Welches sind die strit-tigen Punkte, die dazu führen, dass die Frist so weit ge-dehnt worden ist, Herr Staatssekretär?Pe
In der Tat ist es das, was ich vorhin angesprochen
habe, nämlich die Frage, wie wir betriebsbezogene Da-
ten bekommen, aus denen hervorgeht, in welchen Men-
gen und in welchen Zeiträumen Antibiotika eingesetzt
worden sind. Das ist keine einfach zu beantwortende
Frage, weil hier verfassungsrechtliche Gesichtspunkte
zu berücksichtigen sind und – ich betone das noch ein-
mal – der Vollzug der Gesetze durch die Länder geregelt
sein muss.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Ostendorff auf:
Wie viele Pharmaunternehmen bzw. Großhändler haben
ihre Daten zu verschriebenen Tierarzneimitteln im Jahr 2011
nicht wie in der Verordnung über das datenbankgeschützte In-
formationssystem des Deutschen Instituts für Medizinische
Dokumentation und Information, DIMDI-AMV, vorgesehen
bis zum 31. März 2012 beim Deutschen Institut für Medizini-
sche Dokumentation und Information eingereicht, und müs-
sen die säumigen Pharmaunternehmen/Großhändler mit Sank-
tionen rechnen?
Pe
Nach den vom Deutschen Institut für Medizinische
Dokumentation und Information, DIMDI, an das Bun-
desamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicher-
heit übermittelten Informationen haben sich mit Stand
vom 23. April dieses Jahres 42 Pharmaunternehmen und
20 Großhändler entsprechend der DIMDI-Arzneimittel-
verordnung registriert. Die Validierung der Daten erfolgt
derzeit durch das DIMDI. Im Rahmen des allgemeinen
Verwaltungsverfahrens ist es den Ländern möglich, mit
Mitteln des Verwaltungszwangs gegen säumige Pharma-
unternehmen bzw. Großhändler vorzugehen.
Wie weit die Länder sind, Sanktionen durchzusetzen,
entzieht sich wahrscheinlich Ihrer Kenntnis. Ich frage
daher die Bundesregierung: Was gedenken Sie denn zu
tun, um die Unternehmen zu zwingen, die Daten, die sie
erheben müssen, rechtzeitig einzuspeisen? 42 Unterneh-
men, die bisher melden, ist eine relativ geringe Zahl. Ich
bin verwundert, dass nicht der ganze Bereich erfasst
wird.
Pe
Herr Kollege Ostendorff, ich erlaube mir nicht, Ihnen
die rechtsstaatliche Ordnung in diesem Land zu erklären.
Nur so viel: Die Durchführung der Gesetze obliegt den
Ländern. Diese werden entsprechende Maßnahmen zu
vollziehen haben.
Teile der Tierärzteschaft fragen immer wieder – das
ist auch die Frage an die Bundesregierung –, warum
nicht die Abgabebelege, die in den Betrieben angefertigt
werden, genutzt werden. Ich darf die Praxis kurz darstel-
len: Die Tierärztin oder der Tierarzt kommt auf den Hof,
behandelt ein Tier, und dies wird mit einem Beleg doku-
mentiert. Tierärzte haben mich nun gefragt, warum diese
Belege nicht direkt in die Datenbank eingepflegt wer-
den. Warum geht man mit dem DIMDI einen kompli-
zierten Weg? Die Daten müssen bislang zuerst an das
BVL übermittelt werden, das dann zu handeln und die
Großhändler anzuschreiben hat. Das ist ein sehr kompli-
zierter Weg. Warum pflegt man die Daten nicht direkt
ein? Das kann doch im Computerzeitalter nicht so
schwierig sein. Was gedenkt die Bundesregierung hier
zu tun?
Pe
Herr Kollege Ostendorff, es gibt Maßnahmen, die wir
beim Monitoring der Abgabe von Arzneimitteln – hier
werden statistische Daten erhoben, die, auf Postleitzah-
len bezogen, registriert werden – im Rahmen der
DIMDI-Verordnung vollziehen. Es geht zudem darum,
wie wir nun durch die neue Änderung des Arzneimittel-
gesetzes in die Lage versetzt werden können, Daten von
Einzelbetrieben zu bekommen. Ich stimme Ihnen zu:
Wir haben schon durch eine frühere Änderung des Arz-
neimittelgesetzes die Möglichkeit geschaffen, dass ins-
besondere beim Tierarzt entsprechende Daten vorliegen.
Wir sind jetzt dabei, die rechtlichen Bedingungen so zu
gestalten, dass sie einen verfassungsgemäßen Zugriff auf
betriebliche Anwendungs- und Verwendungspraktiken
erlauben.
Ich rufe die Frage 4 des Kollegen Ebner auf:
Welche Position vertritt die Bundesregierung im Hinblick
auf die – in der Berliner Zeitung vom 18. April 2012 berich-
tete – Absicht der Europäischen Kommission, Verunreinigun-
gen von Lebensmitteln mit dafür nicht in der Europäischen
Union zugelassenen gentechnisch veränderten Organismen
künftig bis zu einem Schwellenwert zu tolerieren – Low Level
Presence, LLP?
Pe
Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Kollege Ebner, indem Artikel der Berliner Zeitung vom 18. April dieses
Metadaten/Kopzeile:
20546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Parl. Staatssekretär Peter Bleser
(C)
(B)
Jahres wurde berichtet, dass die EU-Kommission beab-sichtige, eine Verordnung vorzuschlagen, welche bei Le-bensmitteln einen Analyseschwellenwert von 0,1 Pro-zent für in Drittländern oder nicht in der EU zugelassenegentechnisch veränderte Organismen vorsieht. Einensolchen Analyseschwellenwert gibt es bereits bei Futter-mitteln. Bisher hat die EU-Kommission einen solchenVorschlag nicht vorgelegt. Die Bundesregierung wird ei-nen entsprechenden Vorschlag, wenn er dann vorliegt,prüfen und sich hierzu positionieren.
Danke schön, Herr Staatssekretär. – Die Kommission
führt nach verlässlichen Informationen seit Wochen Ge-
spräche mit Mitgliedstaaten und lotet deren Positionen
aus. Ich gehe davon aus, dass das der Bundesregierung
nicht verborgen geblieben sein kann, da Deutschland
nach wie vor ein Mitgliedstaat der EU ist. Deshalb frage
ich jetzt nach: Inwieweit haben Vertreter der Bundesre-
gierung auf EU-Ebene bereits an Gesprächen über die
Einführung eines solchen Schwellenwertes für nicht zu-
gelassene GVO teilgenommen, und, falls ja, welche
Positionen zur obigen Frage haben andere Mitgliedstaa-
ten eingenommen?
Pe
Ich kann Ihnen über die Positionen der anderen Mit-
gliedstaaten im Detail nichts berichten. Ich kann Ihnen
nur sagen, dass wir eine Bewertung der Vorschläge erst
dann vornehmen, wenn sie vorliegen.
Ich möchte trotzdem nachfragen, wie sich denn aus
Sicht der Bundesregierung bei Lebensmitteln eine Re-
gelung analog zu der bei Futtermitteln gefundenen Re-
gelung rechtfertigen oder begründen ließe vor dem
Hintergrund, dass im „Agrarpolitischen Bericht der Bun-
desregierung 2011“ im Zusammenhang mit der Gentech-
nik eindeutig der Vorrang von Mensch und Umwelt vor
ökonomischen Interessen benannt ist, vor dem Hinter-
grund, dass die fraglichen GVO nicht zugelassen und
damit auch nicht risikogeprüft wären, und vor dem Hin-
tergrund, dass die Mehrzahl der Verbraucherinnen und
Verbraucher Gentechnik in Lebensmitteln nicht möchte.
Pe
Herr Kollege Ebner, auch da muss ich auf das zurück-
kommen, was ich schon berichtet habe. Die Kommission
hat angekündigt, im Lichte der Bewertung der entspre-
chenden Grenzwertsetzung für Futtermittel zu entschei-
den, ob sie für Lebensmittel einen entsprechenden
Grenzwert vorschlägt. Diese Entscheidung ist auf der
europäischen Ebene noch nicht getroffen worden. Inso-
fern ist eine Bewertung unsererseits noch nicht möglich.
Ich rufe die Frage 5 auf:
Inwieweit beabsichtigt die Bundesregierung, Transparenz
über die Verfahren und Abläufe bezüglich der Frage der Ein-
führung eines Schwellenwertes für Verunreinigungen mit
nicht zugelassenen gentechnisch veränderten Organismen in
Lebensmitteln herzustellen?
Pe
Das Verfahren für den Erlass von EU-Durchführungs-
vorschriften im Wege einer Kommissionsverordnung zur
Einführung eines Analyseschwellenwertes für gentech-
nisch veränderte Organismen – abgekürzt: GVO – in
Lebensmitteln ist im europäischen Recht geregelt. Ge-
mäß Art. 11 Abs. 4 der Verordnung Nr. 882/2004
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April
2004 über amtliche Kontrollen zur Überprüfung der Ein-
haltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts sowie
der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz
kann die EU-Kommission Verfahren nach Art. 62 Abs. 3
im Wege von Durchführungsvorschriften einen Analyse-
schwellenwert auch für Lebensmittel festlegen.
Das Verfahren zum Erlass von EU-Durchführungs-
vorschriften regelt die Verordnung Nr. 182/2011
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Fe-
bruar 2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und
Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahr-
nehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kom-
mission kontrollieren. Danach kann die EU-Kommission
den vorgeschlagenen Rechtsakt erlassen, wenn sie hier-
für im Ständigen Ausschuss für die Lebensmittelkette
und die Tiergesundheit, StALuT, eine qualifizierte
Mehrheit erhält. Ist dies nicht der Fall, kann sie entweder
innerhalb von zwei Monaten eine geänderte Fassung
unterbreiten oder den ursprünglichen Entwurf dem Beru-
fungsausschuss vorlegen. Stimmt der Berufungsaus-
schuss dem Vorschlag mit qualifizierter Mehrheit zu, so
erlässt die Kommission den Durchführungsrechtsakt.
Gibt der Berufungsausschuss keine Stellungnahme ab,
so kann die EU-Kommission den Durchführungsrechts-
akt erlassen. Bei qualifizierter Mehrheit dagegen ist der
Vorschlag der EU-Kommission gescheitert.
Der StALuT und der Berufungsausschuss beraten
nicht öffentlich. Das Europäische Parlament und der Rat
sind rasch über die Ausschussverfahren zu informieren.
Sie haben die Möglichkeit, jederzeit darauf hinzuweisen,
dass ein Entwurf der Kommission zum Analyseschwel-
lenwert bei Lebensmitteln ihres Erachtens die in der Ver-
ordnung Nr. 882/2004 vorgesehenen Durchfüh-
rungsbefugnisse überschreiten würde.
Zusatzfrage.
Vielen Dank für den Ausflug in die Komitologie. Da-nach hatte ich aber gar nicht gefragt. Mir ging es um dieTransparenz bei den Verfahrensabläufen hier.Deshalb möchte ich fragen, inwieweit und in welcherForm die Bundesregierung vor der endgültigen Positio-nierung in dieser Frage jetzt plant, den Deutschen Bun-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20547
Harald Ebner
(C)
(B)
destag und die Öffentlichkeit, insbesondere auch dieUmwelt- und Verbraucherverbände, an ihrer Entschei-dungsfindung zu beteiligen.Pe
Sehr geehrter Kollege Ebner, Sie genießen doch jetzt
schon das Recht, hier jederzeit zu fragen. Die Antwor-
ten, die ich Ihnen gegeben habe, stellen den derzeitigen
Stand der Beratungen dar. Erst nach Vorlage eines Vor-
schlages werden wir eine Positionierung vornehmen.
Zweite Zusatzfrage.
Dann möchte ich abschließend noch fragen, wie denn
die Bundesregierung die öffentliche Meinung zu dieser
Fragestellung einschätzt.
Pe
Die öffentliche Meinung hierzu kann durchaus unter-
schiedlich interpretiert werden. Es liegt aber nicht in
meiner Befugnis, eine entsprechende Einschätzung bzw.
Wertung vorzunehmen.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereiches.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums der Verteidigung auf. Der Parlamentarische
Staatssekretär Christian Schmidt steht für die Beantwor-
tung der Fragen zur Verfügung.
Die Frage 6 der Abgeordneten Inge Höger und die
Frage 7 des Abgeordneten Omid Nouripour werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 8 der Kollegin Karin Evers-Meyer
auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass unter Einbe-
ziehung betriebswirtschaftlicher Überlegungen zivile Betrei-
ber den Betrieb der Offizierheimgesellschaften, Unteroffizier-
heimgesellschaften und Gemeinsamen Heimgesellschaften,
die durch Kameradschaften geführt werden, effektiver und ef-
fizienter gestalten können und dass durch zivile Betreiber die
Kameradschaftspflege und das gesellige Miteinander der
Soldatinnen und Soldaten in den Heimgesellschaften besser
gewährleistet werden kann als durch kameradschaftliche
Betreiber?
C
Frau Kollegin Evers-Meyer, ich darf die Komplexität
der Fragestellung zum Anlass nehmen, vorneweg Fol-
gendes zu sagen: Jeder weiß – auch die Bundesregierung
weiß das –, dass es aufgrund der Fürsorgepflicht und mit
Blick auf ein kameradschaftliches Verständnis eine ganz
wichtige Aufgabe ist, innerhalb der genannten Gesell-
schaften eine gute Verpflegung und Möglichkeiten zur
Freizeitgestaltung vorzuhalten. Deswegen ist es auch
notwendig – das kommt auch in Ihrer Fragestellung zum
Ausdruck –, dass man hier sorgfältig abwägt.
Die Bereitstellung und der Betrieb von Einrichtungen
in der sogenannten bewirtschafteten Betreuung in der
Bundeswehr werden zukünftig in eine neue Konzeption
überführt werden. Das ergibt sich einfach aus der Tat-
sache, dass es bei den Standorten Veränderungen gibt.
Deswegen muss auch das Konzept angepasst werden.
Wir prüfen in diesem Zusammenhang auch andere
Betriebsformen. Dazu gehört die Beteiligung privater
Betreiber. Inwieweit wir da zu einer reinen Fremdver-
gabe oder zu Mischstrukturen kommen werden – mögli-
cherweise an die einzelnen Standorte angepasst –, ist
noch nicht entschieden.
Ziel bleibt, mit der Neuausrichtung der bewirtschafte-
ten Betreuung den Bedürfnissen der Bundeswehrange-
hörigen auch zukünftig im Rahmen der Fürsorgepflicht
gerecht zu werden, diese Neuausrichtung allerdings auch
mit dem Umfang der vorhandenen Ressourcen in Ein-
klang zu bringen.
Zusatzfrage? – Keine.
Dann rufe ich die Frage 9 der Kollegin Evers-Meyer
auf:
In welche Kategorien können die im Dritten Erfahrungs-
bericht der Bundesregierung zum Soldatinnen- und Soldaten-
gleichstellungsgesetz, Berichtszeitraum 1. Januar 2009 bis
31. Dezember 2010, zitierten „wenigen Einzelfälle“, in denen
die Integration von Frauen in die Bundeswehr Probleme be-
reitet hat, geordnet werden, und wie ist die zahlenmäßige Ver-
teilung der Fälle auf die einzelnen Kategorien?
C
Frau Kollegin, Sie sprechen im Hinblick auf den Drit-ten Erfahrungsbericht der Bundesregierung zum Solda-tinnen- und Soldatengleichstellungsgesetz – mit diesemGesetz hat die Bundesregierung den Auftrag erhalten,jeweils über den Stand der Gleichstellung von Soldatin-nen und Soldaten zu berichten – den Zeitraum von 2009bis 2010 an. In diesem Bericht sind wenige Einzelfällegenannt, in denen die Integration von Frauen in die Bun-deswehr Probleme bereitet hat.Wie sieht die zahlenmäßige Verteilung der Fälle aufdie einzelnen Kategorien aus? Vorneweg darf ich sagen:Erfreulicherweise handelt es sich um Einzelfälle. Ich er-laube mir, zu sagen, dass die mit erheblicher Unterstüt-zung des Deutschen Bundestages möglich gewordenekonsequente Öffnung sämtlicher Dienstposten der Bun-deswehr für Frauen eine gemeinsame Erfolgsstory ist.Im Berichtszeitraum, den Sie ansprechen, lassen sichin der Kategorie „frauenfeindliches Verhalten“ zwei Ein-zelfälle, in der Kategorie „sexuelle Belästigung“ vierEinzelfälle und in der Kategorie „familienbedingte Be-nachteiligung“ drei Einzelfälle namentlich dokumentie-ren. Die Lebenswirklichkeit legt uns nahe, diese Zahlennicht als endgültig zu betrachten. Ich muss Ihnen sagen,dass ich ein Vorliegen weiterer Einzelfälle nicht völligausschließen kann, wenngleich sie sowohl im Bericht
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20548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Parl. Staatssekretär Christian Schmidt
(C)
(B)
des Wehrbeauftragten als auch im Gleichstellungsberichtder Bundesregierung nicht aktenkundig geworden sind.Soweit uns konkrete Fälle aus diesem Zeitraum noch be-kannt werden sollten, werden wir Sie darüber grundsätz-lich gern informieren. Meine Hoffnung ist aber, dass ichFehlanzeige vermelden muss.
Wie ich sehe, haben Sie, Frau Evers-Meyer, auch hier
keine Zusatzfragen. Dann sind wir mit diesem Ge-
schäftsbereich durch. Ich bedanke mich bei dem Herrn
Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf. Der
Parlamentarische Staatssekretär Hermann Kues beant-
wortet die Fragen.
Die Fragen 10 und 11 der Abgeordneten Monika
Lazar werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 12 der Kollegin Ferner:
Wie und mit welcher Vereinbarung haben die Bundes-
ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Dr. Kristina Schröder, und die Referatsleiterin des Bundes-
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Caroline W., vor Beginn des gemeinsamen Buchprojektes
sichergestellt, dass dafür keinerlei technische und personelle
Ressourcen des Bundesministeriums in Anspruch genommen
werden und während der Dienstzeit kein Austausch über ein-
zelne Elemente des Buches stattfindet, und wie wurde diese
Vereinbarung umgesetzt?
Dr
Zunächst einmal ist es selbstverständlich so, dass
diese Mitarbeiterin im Mai 2011 eine Nebentätigkeit an-
gezeigt hat, wozu sie laut Tarifvertrag verpflichtet ist,
und dass sie als Koautorin ausschließlich in der dienst-
freien Zeit, also an den Abenden, an Wochenenden, an
Urlaubstagen usw., daran gearbeitet hat. Natürlich haben
beide darauf geachtet, dass die dienstliche Arbeit und
das Anliegen, ein Buch zu veröffentlichen, strikt ge-
trennt werden. Insofern war es selbstverständlich, dass
es diese Trennung von Anfang an gab. Darüber ist keine
formelle Vereinbarung getroffen worden.
Erste Zusatzfrage.
Gut, es ist keine Vereinbarung getroffen worden.
Wie wurde praktisch dafür Sorge getragen, dass die-
ses Buchprojekt nicht während der Dienstzeit angegan-
gen wurde? Wenn diese Referatsleiterin beispielsweise
eine Rede für Frau Ministerin geschrieben hat, mit ihr
darüber gesprochen hat und eine der beiden eine gute
Idee hatte, von der man glaubte, sie für dieses Buch ver-
wenden zu können: Hat man diese Idee dann im Hinter-
kopf behalten, und hat man dann abends nach Dienst-
schluss gesimst oder telefoniert? Wie darf man sich das
praktisch vorstellen?
Dr
Praktisch können Sie sich das folgendermaßen vorstel-
len: Es ist so abgelaufen, wie es beispielsweise abläuft,
wenn Sie mit Kollegen eine Veröffentlichung welcher Art
auch immer vorbereiten. Man setzt sich irgendwann hin
– hier ist es in der privaten Zeit passiert – und überlegt,
was man eigentlich will, was die Grundthesen der Veröf-
fentlichung sind und was alles in das jeweilige Buch hi-
neingehört. Das strukturiert man entsprechend. Dann
schreibt jeder seinen Teil. Danach trifft man sich noch ein-
mal und tauscht sich darüber aus. Das Konzept für dieses
Buch ist also so entstanden wie Konzepte für andere
Bücher auch.
Frau Ferner, haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Nein, ich warte auf die Beantwortung der nächsten
Frage, Herr Präsident.
Ich rufe somit die nächste Frage – das ist die Frage 13 –
auf:
War dem Bundesministerium insbesondere bei der Bewil-
ligung der Nebentätigkeit gemäß § 3 des Tarifvertrages für
den öffentlichen Dienst bekannt, dass Caroline W. nicht nur
an Wochenenden und in ihrer Freizeit, sondern auch während
ihres gesamten Erholungsurlaubes und zusätzlich noch
während zu gewährender Zeitausgleichstage an dem gemein-
samen Buch schreiben wird, und wie ist das mit der Fürsorge-
pflicht des Bundesministeriums gegenüber Caroline W. als al-
leinerziehender Mutter zu vereinbaren?
Dr
Ich will, was die Freizeit angeht, einmal Folgendes
sagen: Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe des Arbeit-
gebers ist, zu überprüfen, was ein Arbeitnehmer, der
seine dienstlichen Aufgaben engagiert erledigt, mit sei-
ner freien Zeit anstellt. Zumindest würde das meinem
Verständnis widersprechen.
Sie beziehen Ihre Frage auf eine alleinerziehende
Mutter. Ich gehe einmal davon aus, dass Sie nicht der
Auffassung sind, dass die Regelungen für eine alleiner-
ziehende Mutter andere sein müssen als die für einen al-
leinerziehenden Vater oder für andere Mitarbeiter, son-
dern dass die Regelungen für alle Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter gelten. Entscheidend ist, dass die Arbeit im
Ministerium im eigentlichen Aufgabenbereich bestens
erledigt wird, was in diesem Fall gegeben ist.
Zusatzfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,Sie sind also der Auffassung, dass es ganz normal ist,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20549
Elke Ferner
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dass man 40 Tage Jahresurlaub – diese Information hatIhr Pressesprecher zur Verfügung gestellt – und 26 TageZeitausgleich vollständig für eine Nebentätigkeit ver-wendet, sodass der Erholungsurlaub nicht der Erholungund der Regeneration der Arbeitskraft dient, wie es ei-gentlich – so habe ich es damals, als ich noch erwerbstä-tig war, gelernt – der Fall sein müsste.D
Frau Kollegin, den Urlaub verbringen die Menschen
in Deutschland und anderswo sehr unterschiedlich. Die
einen setzen sich hin und lesen ein Buch.
Die anderen setzen sich hin und schreiben ein Buch. Die
einen machen dieses, die anderen jenes. Ich finde, es ist
auch ein Stück Kultur, dass der Arbeitgeber nicht im
Einzelnen überprüft, was jemand in seinem Urlaub oder
in seiner Freizeit macht. Wenn ein Arbeitnehmer seinen
dienstlichen Verpflichtungen nicht nachkommen würde,
dann gäbe es Anlass, einmal nachzufragen. Aber wenn
das bestens ist, besteht dafür kein Grund.
Im Übrigen ist es so: Wenn man sich etwas Großes
vornimmt – das Veröffentlichen eines Buches ist schon
eine gewaltige Sache, wenn man das neben seinen
dienstlichen Verpflichtungen macht –, dann ist es nicht
unüblich, dass man auch Urlaubstage, die man noch hat,
bündelt. Das kann einem ein großes Maß an Zufrieden-
heit verschaffen. Das halte ich überhaupt nicht für abwe-
gig. Ich weiß nicht, ob Sie schon ein Buch veröffentlicht
haben.
– Das kommt vielleicht noch.
Wenn Sie ein Buch veröffentlichen würden, würden
auch Sie sich überlegen, wie Sie das im Einzelnen orga-
nisieren.
Das lässt sich mit einer weiteren Zusatzfrage konkre-
tisieren.
Sie hatten in der Antwort auf meine Frage auf das
Prinzip der Gleichbehandlung hingewiesen. Ich gehe
einmal davon aus, dass man daraus durchaus schließen
darf, dass jeder Beschäftigte und jede Beschäftigte in Ih-
rem Haus, der oder die eine Nebentätigkeit anzeigt und
ausübt, dafür den gesamten Erholungsurlaub eines Jah-
res und auch noch Resturlaubstage aus dem Vorjahr ver-
wenden darf.
Dr
Erstens ist das eine theoretische Frage. Zweitens muss
eine Nebentätigkeit von Tarifbeschäftigten nicht geneh-
migt werden; sie muss – das ist richtig – angezeigt wer-
den. Ich glaube aber nicht, dass das der Normalfall ist.
Es ist schon außergewöhnlich, wenn sich jemand auf
diese Art und Weise auf ein Projekt konzentriert.
Möglicherweise deutet sich hier ebenfalls eine gewal-
tige gesetzliche Regelungslücke in der Frage an, wer
wann überhaupt und unter welchen Bedingungen Bücher
schreiben darf.
Nun rufe ich die Frage 14 der Kollegin Diana Golze
auf:
In welchem Verhältnis zueinander stehen nach Ansicht der
Bundesregierung die Anliegen der propagierten Wahlfreiheit
durch das Betreuungsgeld und der gleichfalls geltende
Rechtsanspruch auf eine frühkindliche Förderung vor dem
Hintergrund, dass die Einflussmöglichkeiten der Kinder auf
das eine oder andere Angebot gering sind, da die Eltern diese
Entscheidung treffen, und geht die Bundesregierung davon
aus, dass Anreize für den Verzicht einer Frühförderung in ei-
ner Einrichtung mit der UN-Kinderrechtskonvention verein-
bar sind, wonach Kinder den Rechtsanspruch auf eine frühest-
mögliche und beste Förderung haben?
Dr
Frau Kollegin Golze, in der UN-Kinderrechtskonven-
tion steht ausdrücklich, dass in erster Linie die Eltern für
die Erziehung und Entwicklung des Kindes verantwort-
lich sind. Sie können durch den Rechtsanspruch auf ei-
nen Betreuungsplatz auf der einen Seite und durch das
Betreuungsgeld auf der anderen Seite ihre Wahlfreiheit
unter Berücksichtigung des Kindeswohls ausüben. Inso-
fern steht das Betreuungsgeld dem Ausbau der Betreu-
ung in Kindertageseinrichtungen, in der Kindertages-
pflege nicht entgegen.
Es ist tatsächlich so, dass dieser Ausbau konsequent
vorangetrieben wird. Die parallel laufenden Unterstüt-
zungsleistungen, die in den letzten Jahren auf den Weg
gebracht worden sind, tragen den Vorgaben der UN-Kin-
derrechtskonvention in vollem Umfang Rechnung. Ich
sage noch einmal: Der Staat ist verpflichtet, sowohl die
Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgaben
zu unterstützen als auch für den Ausbau von Einrichtun-
gen für die Betreuung von Kindern zu sorgen.
Zusatzfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,um es noch einmal klarzustellen: Die Eltern haben dieVerpflichtung zur Erziehung, und die Kinder haben nach
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20550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Diana Golze
(C)
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der UN-Kinderrechtskonvention einen Rechtsanspruchauf frühestmögliche und bestmögliche Förderung.Vom Familienministerium gibt es die „OffensiveFrühe Chancen“. In diesem Zusammenhang wurdenStellen für Sprachförderung in Kitas geschaffen. Ichfrage Sie: Inwieweit orientiert man sich am Wohl unddem Rechtsanspruch des Kindes auf bestmögliche För-derung, wenn man auf der anderen Seite einen milliar-denschweren Anreiz setzt, um Kinder von dieser frühenFörderung fernzuhalten?Dr
Ich sage noch einmal: In der UN-Kinderrechtskon-
vention steht, dass zunächst einmal die Eltern für die Er-
ziehung und die Entwicklung eines Kindes verantwort-
lich sind. Die Eltern dürfen entscheiden, wie sie die
Erziehung handhaben.
Das ist keine politische Aussage von mir. Deshalb muss
es ein Betreuungsangebot geben. Dieses haben wir in
den letzten Jahren auf den Weg gebracht. Es muss aber
auch qualitativ gut sein. Die Eltern entscheiden aber
letztlich, wie sie die Erziehung des Kindes gestalten. Das
ist so. Der Staat hingegen ist für das Schaffen der Rah-
menbedingungen verantwortlich.
Weitere Zusatzfrage.
Dann lassen Sie uns auf diese Entscheidung noch ein-
mal eingehen; denn das Betreuungsgeld wird auch damit
begründet, dass man Wahlfreiheit schaffen möchte. Dies
setzt aber voraus, dass man eine Wahl hat. Meine Frage
ist: Wie sieht es mit der Wahlfreiheit von Eltern aus,
wenn es in ihrer Kommune keine ausreichende Anzahl
an Kitaplätzen gibt, wovon wir auch 2013 ausgehen
müssen? Ich ergänze: Wenn die Kitaplätze knapp sind,
werden zuerst diejenigen Eltern einen Kitaplatz bekom-
men, die erwerbstätig sind. Andere werden auf Wartelis-
ten gesetzt. Das heißt, diesen Kindern wird weder ihr
Rechtsanspruch erfüllt noch eine Wahlfreiheit ermög-
licht.
Dr
Frau Kollegin, es gibt ab 2013 einen Rechtsanspruch.
Dies haben wir vor einigen Jahren beschlossen. Alle
Länder – sie sind dafür zuständig, dieses Programm um-
zusetzen – sagen, dass sie es schaffen werden. Wir ken-
nen keine präzisen Zahlen darüber, wie viele Plätze tat-
sächlich in Anspruch genommen werden.
Die Länder, die in der Verantwortung stehen, gehen
davon aus, dass sie es schaffen werden, den Rechtsan-
spruch zu erfüllen. Ob das wirklich in jeder einzelnen
Kommune gelingt, muss man sich anschauen. Hier ste-
hen wir in Gesprächen mit den Ländern. Aber wir gehen
davon aus – das ist der heutige Stand –, dass wir erfolg-
reich sind. Wir werden weitere Aktivitäten entfalten, um
sicherzustellen, dass die Länder ihrer Verantwortung ge-
recht werden. Inwieweit die Schaffung einer ausreichen-
den Zahl von Kitaplätzen in den Kommunen tatsächlich
realisiert werden kann, wird, wie schon gesagt, zu über-
prüfen sein.
Es gibt einen Rechtsanspruch. Die Forderung des
Vorsitzenden eines kommunalen Spitzenverbandes, die-
sen Rechtsanspruch außer Kraft zu setzen, unterstützen
wir nicht.
Frau Enkelmann.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade gesagt, dass der
Bund „weitere Aktivitäten“ entfalten wird. Um welche
„weiteren Aktivitäten“ könnte es sich handeln?
Dr
Es sind verschiedene Varianten denkbar. Der Bund
wird mit Sicherheit keine zusätzlichen finanziellen Mit-
tel in die Hand nehmen. Er wird sich besonders darum
kümmern, wie man die Schaffung einer ausreichenden
Zahl von Kitaplätzen sicherstellen kann. Es gibt Kom-
munen, in denen das Angebot völlig ausreichend ist. Das
zeigen die Zahlen, die uns vorliegen. Allerdings liegen
uns die entsprechenden Zahlen nicht immer zeitnah vor;
denn die Jugendhilfeplanung erfolgt in der jeweiligen
Kommune, und auf Landesebene erfolgt die Koordinie-
rung. Deshalb müssen wir uns im Gespräch mit den Län-
dern darüber verständigen, wie weit wir beim Ausbau
tatsächlich sind.
Nicht alle Mittel, die vom Bund zur Verfügung ge-
stellt werden, wurden schon abgerufen. Es gibt also noch
verfügbare Mittel.
Wir werden also überlegen, wie man gewährleistet, dass
diese Mittel tatsächlich abfließen. Darüber werden wir
mit den Ländern sprechen.
Weitere Zusatzfrage, Frau Hein.
Herr Präsident, vielen Dank. – Reden wir einmal überdie Flächenländer. Das Problem wird am ehesten in denländlichen Regionen eine Rolle spielen. Gehen Sie da-von aus und ist es Bestandteil Ihrer Strategie, dass dieKompensation des Mangels an Kinderbetreuungsein-richtungen im ländlichen Raum zu einem Ausbau vonprivatwirtschaftlichen Angeboten führen wird, mit de-nen man die Wahlfreiheit realisieren könnte?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20551
(C)
(B)
Dr
Es gibt schon jetzt privatwirtschaftliche Angebote;
darüber hinaus gibt es betriebliche Angebote und auch
Überlegungen, den Einsatz von Tagespflegepersonen zu
intensivieren. Darüber wird auf Länderebene diskutiert.
Es gibt ländliche Regionen, die bereits bestens ausge-
stattet sind, auch im Westen unseres Landes und in den
Flächenländern. Andere Regionen hingegen sind längst
noch nicht so weit. Zwischen den Kommunen herrscht
ein Wettbewerb; das ist auch völlig in Ordnung. Das hat
es bei familienpolitischen Entwicklungen immer gege-
ben. Einige Kommunen sind eben besonders engagiert,
vielleicht engagieren sich dort auch ortsansässige Unter-
nehmen besonders. Es ist jedenfalls nicht so, dass alle
Kommunen, die die gleichen Voraussetzungen haben,
immer auch zu gleichen Ergebnissen kommen. Denn das
politische Engagement ist durchaus unterschiedlich. Wir
gehen aber davon aus, dass das Ziel am Ende erreicht
werden wird.
Wir werden jedenfalls alles tun, die zusätzlichen
Aktivitäten, die man von uns erbittet, auf den Weg zu
bringen. Es geht nicht nur um die Schaffung von Kita-
plätzen, sondern es geht auch um die Anstellung qualifi-
zierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das ist eine
Aufgabe, die der Bund neben vielen anderen mit koordi-
niert. Wir beschäftigen uns damit und werden zu gegebe-
ner Zeit darüber Auskunft geben.
Frau Dittrich.
Herr Kues, wissen Sie, dass die Erzieherinnen von
den Kommunen bezahlt werden müssen, diese aber fi-
nanziell schlecht dastehen, weil die Steuerumverteilung
hin zu den Firmen und zu den Banken geht?
Wissen Sie auch, dass nach Berechnungen von Verdi
20 000 und mehr Erzieherinnen mit entsprechender Aus-
bildung fehlen? Ist Ihnen klar, dass das Betreuungsgeld
bei der Bevölkerung daher so verstanden wird, dass es
sich quasi um das Freikaufen von einem Rechtsanspruch
handelt?
Dr
Ich glaube, dass das Betreuungsgeld von der Bevölke-
rung noch gar nicht verstanden werden kann, weil es bis-
lang noch kein fertiges Konzept gibt, über das man dis-
kutieren könnte. Wir befinden uns vielmehr inmitten der
Diskussion, wie man den Medien unschwer entnehmen
kann.
Man wird darauf zu achten haben, dass ein Weg gefun-
den wird, der sachgerecht ist und der die Menschen nicht
vom Arbeitsmarkt fernhält, sondern der letztlich die
Wahlmöglichkeiten verbessert. Das ist der entscheidende
Punkt.
Im Übrigen weiß ich, dass es Tausende von arbeits-
losen Erzieherinnen gibt. Mir ist bekannt, dass es ein Ar-
beitskräftepotenzial gibt, das für diesen Bereich bislang
noch gar nicht aktiviert worden ist. Hier muss man sich
etwas einfallen lassen. Was das im Einzelnen ist, wird
von Kommune zu Kommune unterschiedlich sein.
Ich rufe die Frage 15 des Kollegen Wunderlich auf:
Geht die Bundesregierung davon aus, dass sich die finan-
zielle und soziale Lage von Alleinerziehenden und ihren Kin-
dern nachhaltig durch die Einführung eines Betreuungsgeldes
verbessert, oder eher davon, dass Alleinerziehende aufgrund
des Betreuungsgeldes ihre Erwerbsbeteiligung reduzieren
werden und in dessen Folge ihre Erwerbskarriere eher ge-
bremst wird?
Dr
Ich sage ausdrücklich: Die Familienpolitik der Bun-
desregierung ist auf alle Familien ausgerichtet, unabhän-
gig davon, nach welchem Modell sie leben. Sie zielt da-
rauf ab, durch gute finanzielle, infrastrukturelle und
zeitliche Rahmenbedingungen die Situation von Allein-
erziehenden zu verbessern und zu stärken. Mit dem Be-
treuungsgeld soll eine Leistung geschaffen werden, die
im Zusammenwirken mit den übrigen Geld- und Infra-
strukturleistungen der öffentlichen Hand eine bestmögli-
che Wahlfreiheit eröffnet. Der Staat hat den Menschen
nicht vorzuschreiben, wie sie leben sollen. Er muss ih-
nen aber helfen, dass sie so leben können, wie sie leben
wollen.
In diesem Zusammenhang stellt das Betreuungsgeld
ein Element von vielen dar. Das gilt selbstverständlich
auch für alleinerziehende Eltern. Die Vielfalt der Fami-
lienbetreuungsmodelle, die wir in Deutschland kennen,
soll auf diese Art und Weise ausgebaut werden. Natür-
lich sollen und müssen Fehlanreize vermieden werden.
Bitte schön, Herr Kollege Wunderlich.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,ich muss vorwegschicken: Ich finde es bedauerlich, dassunsere Familienministerin bei diesem wichtigen Themaheute nicht hier ist. Inzwischen ist man dieses Verhaltenvon ihr aber gewohnt.Mich interessiert, auf welcher Basis die Bundesregie-rung zu ihren Äußerungen kommt, dass Alleinerzie-hende nicht schlechter gestellt würden. Ich denke, wirmüssen nicht darüber streiten, dass für Alleinerziehendeeine Erwerbstätigkeit ohne Kindergartenplatz nicht mög-lich ist und dass viele Alleinerziehende infolge einesfehlenden Kindergartenplatzes eben nicht arbeiten gehen
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20552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Jörn Wunderlich
(C)
(B)
können, sondern zu Hause bleiben müssen. Wenn siedann mit 150 Euro als „Erziehungsleistungsanerken-nungsprämie“ abgespeist werden – wie soll das die fi-nanzielle Situation von Alleinerziehenden verbessernund das Armutsrisiko minimieren?Dr
Ich sage es noch einmal ausdrücklich:
Erstens. Es gibt einen Rechtsanspruch.
Zweitens. Es wird daran gearbeitet – hier sind in ers-
ter Linie die kommunale und die Landesebene gefordert –,
das Betreuungsangebot so auszugestalten, dass es tat-
sächlich die Möglichkeit gibt, eine solche Betreuung in
Anspruch zu nehmen.
Wir haben im Übrigen mittlerweile in einigen Län-
dern die Entwicklung, dass sehr stark auf Tagespflege
gesetzt wird; das ist offenkundig im Interesse der Eltern.
Man wird weiter zu beobachten haben, wie dies tatsäch-
lich abläuft. Damit werden auch die Erwerbsmöglichkei-
ten der Alleinerziehenden verbessert.
Ich stimme Ihnen völlig zu: Es ist absolut notwendig,
dass man eine Chance bekommt – und zwar alle, nicht
nur Alleinerziehende –, Kinder und Beruf, Familie und
Beruf miteinander zu vereinbaren. Es ist gut, wenn die
Menschen in möglichst hohem Umfange selbst für ihren
Lebensunterhalt sorgen können. Das ist auch Ausdruck
eines bestimmten Gesellschafts- und Menschenverständ-
nisses. Ich sage ausdrücklich: Deswegen sind wir für ein
Betreuungsangebot.
Gerade haben Sie gesagt: Wir beobachten das. – Vor-
hin, auf die Nachfrage von Frau Dr. Enkelmann, haben
Sie gesagt: Wir überlegen das. – Die Familienpolitik der
Bundesregierung kann doch nicht nur aus Beobachten
und Überlegen bestehen.
Schon vor Jahren ist darauf hingewiesen worden, dass
14 000 qualifizierte Erzieherinnen fehlen werden, wenn
der Rechtsanspruch in Kraft tritt.
Es ist darauf hingewiesen worden, dass diese Fachkräfte
ausgebildet werden müssen. Seitens der Regierung er-
folgte keine Reaktion.
Dr
Das ist ja nicht wahr.
Inzwischen sind es – die GEW sagt das Gleiche –
20 000 Fachkräfte, die fehlen. Sie sagen jetzt hier: Es
laufen genug herum; sie müssen im Grunde nur aktiviert
werden. Woher nehmen Sie diese Überzeugung?
Dr
Ich habe nicht gesagt: Sie laufen herum und müssen
nur aktiviert werden.
Ich habe gesagt: Es gibt ein Arbeitskräftepotenzial, das
die qualifikatorischen Voraussetzungen erfüllt, um in
diesem Bereich tätig zu werden.
Sie können sich bei der Bundesagentur für Arbeit erkun-
digen.
Dort ist mehrfach gesagt worden, dass dies der Fall ist.
Ich sage nicht, unter welchen Bedingungen sie bereit
sind, Erwerbsarbeit aufzunehmen, oder weshalb sie auf
Erwerbsarbeit verzichten.
Es ist so, dass wir regelmäßig Bund-Länder-Bespre-
chungen durchführen, in denen wir darauf hinweisen,
dass es notwendig ist, Ausbildungskapazitäten zu schaf-
fen; das ist eine Aufgabe der Länder. Wir haben ein fö-
derales System; das wollen wir auch nicht ändern. Der
Bund hat aber darauf hinzuweisen – das ist seine Auf-
gabe – und hat Rahmenbedingungen dafür zu schaffen,
dass dies möglich ist. Wir haben Qualifizierungspro-
gramme auch für Erzieherinnen auf den Weg gebracht.
Diese Programme zeigen tatsächlich Wirkung, sodass
wir zu einer qualitativen Verbesserung kommen. Daran
werden wir weiter arbeiten müssen; das ist völlig klar.
Aber ich sage ausdrücklich: Das ist nicht in erster Linie
die Aufgabe des Bundes.
Kollege Beck.
Sie haben vorhin, bei der Beantwortung der Frage desKollegen Wunderlich, eingangs gesagt, dass Sie für dieWahlfreiheit werben. Als Urliberaler bin auch ich für dieWahlfreiheit. Trotzdem verstehe ich das im Zusammen-hang mit dem Betreuungsgeld nur rudimentär. Selbstver-ständlich soll jeder sein Familienleben so organisieren,wie er mag. Die Frage ist: Wofür gibt es staatliche Un-terstützungsleistungen?
Ich verstehe nicht, was es mit Wahlfreiheit zu tun hat – ichbitte, das einfach zu erläutern –, dass jemand, der sichganz frei dagegen entscheidet, eine staatliche Leistung,nämlich die Kinderbetreuung, in Anspruch zu nehmen –wir müssen sie erst einmal flächendeckend implementie-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20553
Volker Beck
(C)
(B)
ren, weshalb wir das Geld eigentlich dafür bräuchten –,eine Kompensationsleistung erhält.Das erstaunt mich etwas und führt mich fast zu derFrage, ob das in anderen Bereichen auch angedacht ist.Zum Beispiel wird das Kulturleben in der Regel von derKommune oder vom Land bezuschusst. Kann ich ir-gendwo Geld abholen, wenn ich ein Jahr lang nicht indie Oper gehe? Kann ich irgendwo Geld abholen, wennich die Autobahnen nicht nutze, die auch vom Staat be-reitgehalten werden? Wenn Wahlfreiheit bedeutet, dassman immer dann eine Kompensation erhält, wenn manein Angebot des Staates nicht nutzt, dann müsste das inallen Bereichen, in denen sich der Bürger frei entschei-det, entsprechend gehandhabt werden. Welche Pläne lie-gen da vor, und was kostet so etwas?Dr
Herr Beck, es war vor 30, 40 oder 50 Jahren eine poli-
tische Entscheidung, zu sagen: Wir gehen davon aus
– denn die Mehrheit der Bevölkerung lebte so, zumin-
dest seinerzeit in den westlichen Ländern –, dass ein El-
ternteil über längere Zeit auf Erwerbstätigkeit verzichtet,
wenn man Kinder und Familie hat. Daraus resultieren
verschiedene sozialrechtliche Regelungen, die wir ge-
troffen haben: beitragsfreie Mitversicherung usw.
Dann haben wir mit breiter Mehrheit beschlossen,
dass wir auch ein Kinderbetreuungsangebot brauchen,
das über die Betreuung innerhalb der Familie hinaus-
geht. Wir haben gleichzeitig gesagt: Wir müssen Fami-
lien mit ausreichend Kindergeld ausstatten, vor allen
Dingen Mehrkinderfamilien. Wir reden jetzt darüber,
wie die Arbeitswelt gestaltet sein muss, sodass Familie
und Beruf miteinander vereinbar sind, und zwar für Va-
ter und Mutter bzw. Mutter und Vater – das sage ich aus-
drücklich –, und darüber, ob es eine ergänzende Leistung
für diejenigen geben soll, die sich in freier Wahl gegen
eine staatliche Kinderbetreuung entscheiden. Darum
geht es in der Diskussion. Grundlage war eine politische
Entscheidung der Koalitionsspitze. Jetzt reden wir in al-
ler Offenheit darüber, wie wir das Vorhaben konkret aus-
gestalten.
Kollegin Dittrich.
Sie haben soeben eine Lanze für die Referatsleiterin
bei der Ministerin gebrochen, die dort als alleinerzie-
hende Mutter arbeitet. Sie haben sich in diesem Zusam-
menhang auf die Alleinerziehenden bezogen, die im Ar-
beitsleben stehen. Ich möchte mich auf die arbeitenden
und armen Alleinerziehenden beziehen.
Wissen Sie eigentlich, wie viel Geld eine Alleinerzie-
hende mit drei Kindern mindestens braucht, um aus
Hartz IV herauszukommen? Nehmen wir an, sie verdient
8 Euro pro Stunde. Ein Stundenlohn von 8 Euro reicht
nicht aus; denn bei einer 40-Stunden-Woche kommt sie
auf 1 280 Euro. Rechnet man das Kindergeld für die drei
Kinder dazu, dann ergibt das einen Betrag von ungefähr
1 830 Euro. Wenn sie Arbeitslosengeld II erhält – dies
umfasst den Regelsatz für den Haushaltsvorstand; sie be-
kommt je nach Alter der Kinder unterschiedliche Regel-
sätze; je kleiner die Kinder, desto geringer sind die Re-
gelsätze –, kommt die Frau unter Berücksichtigung des
Mehrbedarfs einer Alleinerziehenden über diesen Be-
trag. Das heißt, sie müsste ungefähr 1 800 Euro netto
verdienen, damit es sich für sie überhaupt lohnt, arbeiten
zu gehen. Was für ein Bruttogehalt müsste sie dann be-
kommen? Um die 3 000 Euro. Was passiert mit dem Be-
treuungsgeld für diese aufstockende Mutter? Bekommt
sie es, oder bekommt sie es nicht?
Dr
Frau Kollegin, ich bin mir nicht ganz sicher, was Sie
mit Ihrer Frage ausdrücken wollen. Sie haben Zahlen ge-
nannt, die belegen, wie viel man in Deutschland netto
verdienen muss, um das auszugleichen, was man über
Hartz IV bekommt. Sie werden nicht der Auffassung
sein, dass die Leistungen, die man im Rahmen von
Hartz IV erhält, wenn man Kinder hat, zu hoch sind. So
habe ich Sie jedenfalls nicht verstanden.
Sie haben einen Stundenlohn von 8 Euro genannt.
Man könnte in diesem Zusammenhang wieder das
Thema Mindestlohn aufgreifen; denn vieles, was in der
Debatte genannt wird, löst das Problem, das Sie als Ar-
mut beschreiben, überhaupt nicht.
Wir sind der Auffassung, dass für alle Menschen der
Anreiz gegeben sein muss, auch dann Arbeit aufzuneh-
men, wenn man am Anfang nicht sehr viel verdient; das
hängt von der Qualifikation ab.
Das ist der entscheidende Punkt. Deswegen müssen wir
in Bezug auf das Betreuungsgeld sehr genau darauf ach-
ten, dass man eine Alleinerziehende mit drei Kindern
nicht in die Situation bringt, in der sich die Aufnahme
von Arbeit für sie überhaupt nicht rechnet, weil sie sagt:
Ich habe nicht mehr, sondern faktisch weniger, wenn ich
anfange, erwerbstätig zu werden. Diesen Aspekt wird
man bei der Regelung des Betreuungsgeldes in aller Of-
fenheit diskutieren müssen.
Kollege Rix.
Schönen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,wir sprachen gerade darüber, inwieweit es Überlegungen
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20554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Sönke Rix
(C)
(B)
dazu gibt, dass das Betreuungsgeld, wenn es denn einge-führt wird, eventuell nicht an Familien ausgezahlt wird,die Hartz IV beziehen. Das wird damit begründet, dassKinder aus Hartz-IV-Familien nicht vom Besuch einerKindertagesstätte ferngehalten werden sollen. Geben Siemir also recht, dass das Hauptargument, das SPD, Grüneund Linkspartei hier vortragen, nun fruchtet, nämlichdass man mit diesem Bonussystem Kinder von den Kin-dertagesstätten fernhält? Sehen Sie das zumindest in Be-zug auf einen Teil der Bevölkerung nun ein?Dr
Ich stelle zunächst einmal fest, dass die Haupt- oder
Nebenargumente – wie immer Sie wollen – ideologisch
wahnsinnig überfrachtet sind.
Wir werden uns sehr nüchtern mit der Situation beschäf-
tigen,
auch mit den Aspekten, die eben schon angesprochen
wurden, auch wenn sie vielleicht anders gemeint waren:
Was bedeutet das eigentlich? Wann fehlt jeglicher An-
reiz, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen? Gerade dies zu
beachten, muss eine Nebenbedingung für die Verab-
schiedung des Betreuungsgeldes sein. Ich bitte Sie aber
um Verständnis, dass ich zu Einzelheiten nichts sagen
kann; denn die politische Diskussion läuft erst jetzt an.
Später wird man sich dann zu entscheiden haben.
Es wird einen Gesetzentwurf noch vor dem Sommer
geben.
Der Gesetzentwurf wird in das Kabinett eingebracht.
Dann wird das Parlament darüber beraten. Danach wird
man sehen, wie denn die konkreten Regelungen ausse-
hen.
Frau Golze.
Vielen Dank. – Bei der Frage von Herrn Wunderlich
ging es um den Schutz Alleinerziehender vor Armut und
darum, wie dies mit dem Betreuungsgeld zu vereinbaren
ist. Ich habe noch einmal nachgeschaut: Im Bildungsbe-
richt des Bundes von 2010 steht, dass 43 Prozent der
Kinder von Alleinerziehenden ein Armutsrisiko tragen.
43 Prozent! Ich möchte Sie deshalb fragen: Arbeitet die
Bundesregierung – und gerade das Bundesfamilienmi-
nisterium – eigentlich mit derselben Vehemenz, wie Sie
sich jetzt für das Betreuungsgeld einsetzen, an der Ver-
besserung des Unterhaltsvorschusses und des Kinderzu-
schlages sowie an der Ausweitung des Elterngeldes? Das
alles sind übrigens Vorhaben, die im Koalitionsvertrag
stehen.
Dr
Sie sitzen ja schon einige Jahre im Familienaus-
schuss, Frau Golze, und Sie werden mitbekommen ha-
ben, dass das Kindergeld erheblich erhöht worden ist,
und zwar gestaffelt nach der Kinderzahl, dass der Frei-
betrag – weil wir dazu verpflichtet waren – erhöht wor-
den ist und dass wir auch beim Kinderzuschlag erhebli-
che Mittel eingesetzt haben
und die diesbezüglichen Regelungen vereinfacht haben,
um das noch einmal ausdrücklich zu betonen. Daran ar-
beiten wir weiterhin.
Die Zahl, die Sie eben genannt haben, stimmt meines
Erachtens, wenn ich es richtig im Gedächtnis habe.
Ich glaube, dass es wichtig ist, zu beschreiben, dass es
Armut gibt. Noch wichtiger ist aber, aufzuzeigen, wie
Wege aus der Armut aussehen können. Dazu trägt bei-
spielsweise das neue Konzept zum Kinderzuschlag bei.
Wir haben gesagt: Durch den Kinderzuschlag werden
Tausende aus der Armut, so wie wir sie definiert haben,
herausgeholt.
Das ist der entscheidende Punkt. Das kann beim Betreu-
ungsgeld durchaus auch der Fall sein.
Frau Ferner hat die nächste Frage.
Das Betreuungsgeld soll an diejenigen gezahlt wer-
den, die darauf verzichten, ihr Kind in eine Einrichtung
zu geben. Wie darf ich mir denn die Antragstellung vor-
stellen? Wie müssen die Antragsteller beweisen, dass sie
keine Einrichtung in Anspruch nehmen? Müssen sie zum
Beispiel von allen Einrichtungen in einem Umkreis von
50 Kilometern eine Bescheinigung bringen? Wird die
Betreuung durch eine Kinderfrau dann mit 150 Euro be-
zuschusst? Ich kann mir nicht vorstellen – vor allen Din-
gen, wenn es ein Gesetz werden soll, das im Bundesrat
nicht zustimmungspflichtig ist –, wie das praktisch funk-
tionieren soll. Bei welcher Bundesstelle soll denn dann
das Betreuungsgeld beantragt werden?
Dr
Ich bitte Sie um Verständnis, Frau Kollegin: Da derGesetzentwurf noch nicht vorliegt und daher auch nochnicht beschlossen ist, kann ich zu Einzelheiten natürlich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20555
Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues
(C)
(B)
nichts sagen. Wie sollte ich auch? Über die Regelungenim Einzelnen wird nachgedacht werden müssen.
Frau Marks.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär
Kues, Sie haben eben die Richtung angedeutet, die Sie
eventuell beim Kinderzuschlag einschlagen wollen. Da-
bei handelt es sich um eine Koalitionsvereinbarung von
Schwarz-Gelb. Ich zähle dazu auch die Koalitionsver-
einbarung bezüglich einer Weiterentwicklung beim Un-
terhaltsvorschuss.
Ich möchte Sie an dieser Stelle daran erinnern, dass
Ministerin Schröder im Familienausschuss auf Nachfra-
gen mehrfach darauf hingewiesen hat, dass diese Vorha-
ben auf Eis gelegt worden sind. Nach Gesprächen, die
mit dem Finanzminister und dem gesamten Kabinett ge-
führt wurden – dabei ging es um die Finanzierungsvor-
behalte –, würden diese Vorhaben erst einmal nicht wei-
ter verfolgt. Insofern ist es doch ein bisschen erstaunlich,
wenn Sie jetzt versuchen, den Kolleginnen und Kollegen
im Bundestag, aber auch anderen interessierten Zuhöre-
rinnen und Zuhörern etwas anderes weiszumachen.
Dr
Frau Kollegin, Sie wissen genauso gut wie ich: Zum
Unterhaltsvorschuss gibt es einen Kabinettsbeschluss
bezüglich einer Entbürokratisierung. Das ist nicht ganz
unkompliziert gewesen, weil 16 Bundesländer mit ein-
bezogen werden müssen. Es gibt ausdrücklich keine
Ausweitung in Bezug darauf – darüber wurde viele Jahre
diskutiert –, wie der Unterhaltsvorschuss gezahlt werden
soll. Er wird deswegen gezahlt, weil bestimmte Perso-
nen, die unterhaltsverpflichtet sind, ihren Verpflichtun-
gen nicht nachkommen. Das muss man ganz klar sehen;
das ist der entscheidende Punkt. Über eine beliebige
Ausweitung muss man zweimal nachdenken.
Es ist aber auch richtig, dass eine Ausweitung, die zu
finanziellen Folgen führen würde, derzeit auf Eis gelegt
worden ist. Wir haben allerdings einen Gesetzentwurf
auf den Weg gebracht, der mit allen Ländern abgestimmt
worden ist. Es gibt zwar noch Diskussionsbedarf in der
Koalition, wie damit weiter umzugehen ist; aber er ist im
Kabinett beschlossen worden und kann irgendwann im
Parlament beraten werden. Das Parlament entscheidet
natürlich, wann und wie es das macht.
Jetzt hat sich zwar der Kollege Wunderlich gemeldet,
dessen nächste schriftlich eingereichte Frage ich gerne
aufrufe, den ich aber nicht zu einer weiteren Zusatzfrage
zu seiner vorherigen schriftlich eingereichten Frage auf-
rufen kann. Deswegen verfahren wir vielleicht so, dass
ich jetzt die Frage 16 aufrufe, und wir dann schauen, ob
es dazu Zusatzfragen gibt.
Ich rufe die Frage 16 des Kollegen Wunderlich auf:
Teilt die Bundesregierung das Ergebnis der Studie des In-
stituts der deutschen Wirtschaft Köln e. V., IW, wonach ein
Angebot an Ganztagsbetreuung für die Kinder von Alleiner-
ziehenden „nicht nur bereits kurzfristig das Wohlergehen der
Kinder“ erhöhen und die „Armutsgefährdung der Familien“
senken würde, sondern „sich auch mittelfristig für die öffentli-
che Hand fiskalisch“ auszahlen wird – sogar für den Fall, dass
die Kinderbetreuung elterngebührenfrei angeboten würde –
und bis 2030 die Mehreinnahmen aus Erwerbsbeteiligung der
Alleinerziehenden und eingesparte Transferleistungen die
Ausgaben sogar so stark übersteigen werden, dass sich eine
jährliche Rendite von 4 Prozent ergeben würde?
Dr
Auch in der Frage 16 geht es dem Kollegen
Wunderlich um die Erwerbsbeteiligung von Alleinerzie-
henden. Ich sage noch einmal, dass wir die Auffassung
vertreten, dass eine gut ausgebaute, hochwertige Kinder-
betreuung für Alleinerziehende besonders wichtig ist,
dass sie und ihre Kinder dadurch unterstützt werden. Die
Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft, die
Sie ansprechen, nach der ein flächendeckendes Betreu-
ungsangebot die Wahrscheinlichkeit einer Erwerbsauf-
nahme für Alleinerziehende erhöht und die besagt, dass
Alleinerziehende dadurch eine bessere Einkommens-
position erreichen, kennen wir. Diese Untersuchung wis-
sen wir auch zu schätzen. Darum investieren wir in die
öffentliche Infrastruktur. Ich sage es noch einmal: Wir
wollen diese Bereiche nicht gegeneinander ausspielen.
Wir investieren kräftig in die öffentliche Infrastruktur.
Wie wir diese Untersuchung, die die Ministerin selbst
vorgestellt hat, im Einzelnen bewerten, können Sie der
Pressemitteilung vom 29. März 2012 entnehmen. Darin
steht, wie sich Ganztagsbetreuung auf das Wohlergehen
von Kindern auswirkt. Dem können Sie zumindest ent-
nehmen, dass unter ganz bestimmten Bedingungen eine
qualifizierte Ganztagsbetreuung absolut sinnvoll sein
kann, sinnvoll ist – für Alleinerziehende, aber auch für
deren Kinder.
Bitte.
Es ist schön, dass inzwischen auch das Ministeriumeinsieht, dass so etwas sinnvoll sein kann.Vorhin ist immer wieder der Begriff Wahlfreiheit, dervon der Regierung stark proklamiert wird, angesprochenworden. Worin sehen Sie denn die Wahlfreiheit einer Al-leinerziehenden? Hat sie nicht letztlich nur die Wahlzwischen dem Betreuungsgeld und der vagen Hoffnungauf einen Kindergartenplatz? Worin liegt da nach IhrerÜberzeugung die Wahlfreiheit? Ist das die von Ihnenproklamierte Wahlfreiheit?
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20556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
(C)
(B)
Dr
Herr Wunderlich, Sie gehen wieder von der Hypo-
these aus – dazu habe ich eben schon etwas gesagt –,
dass es ein ausreichendes Angebot nicht geben wird.
– Wir sind ja dabei, das aufzubauen. „Wir“, das sind die
Länder. – Ich gehe davon aus, dass wir 2013 ein solches
Angebot haben werden. Aufgrund der Hypothese, die
Grundlage Ihrer Frage ist, kann ich Ihre Frage nicht be-
antworten, zumindest nicht, wenn ich das ernst nehme,
was ich gerade gesagt habe. Ich gehe davon aus, dass es
ein solches Angebot geben wird.
Als wir ein solches Betreuungsangebot in der Breite
noch nicht hatten, gab es auch keine Wahlfreiheit. In die-
ser Zeit ist man davon ausgegangen, dass man sich ent-
weder um die Familie kümmert oder erwerbstätig ist.
Wir wollen die Möglichkeit der Vereinbarkeit. Ich sage
es noch einmal: Wir wollen den Menschen nicht vor-
schreiben, wie sie leben sollen, sondern wir wollen Rah-
menbedingungen schaffen, die es ihnen ermöglichen, zu
wählen. Da gibt es verschiedene Varianten; darüber kann
man diskutieren. Materielle Anreize sind notwendig; das
hat aber auch etwas mit Zeitstrukturen und mit Arbeits-
organisation zu tun. Das hat auch etwas mit Betreuung
zu tun.
Ich sage ausdrücklich – das hat diese Studie gezeigt –:
Ein gutes Betreuungsangebot kann eine sehr positive
Wirkung haben. Das ist aber keine neue Erkenntnis des
Ministeriums. Diese Studie ist ja schon vor etlichen Wo-
chen vorgelegt worden. Ich sage das, weil Sie vorhin
sagten, dass das Ministerium dies erst jetzt so sieht.
Diese Studie haben wir selbst mit in Auftrag gegeben.
Sie ist ja nicht innerhalb von wenigen Tagen entstanden.
Wir wollten das nur belegt haben.
Aber nicht immer fallen die Ergebnisse von Studien
wunschgemäß aus.
Ich habe noch eine Nachfrage. Wenn irgendetwas
Kosten verursacht, wird seitens der Bundesregierung im-
mer kolportiert: Wir wollen keine Kosten verursachen;
unsere Kinder sollen nicht auf Schuldenbergen spielen.
Wie sieht es denn mit den Kosten des Betreuungsgeldes
aus? Daniel Bahr, unser Gesundheitsminister, hat gesagt
– ich möchte ihn zitieren –, wir würden damit zukünftige
Generationen belasten:
Besser wäre es, den Ausbau der Kinderbetreuung
voranzutreiben. Das unterstützt Familien am bes-
ten.
Wie sieht es mit den Kosten und mit der Verlagerung
der Mittel innerhalb des Haushalts aus, wenn Kinder
– das wäre ein Nebeneffekt – allein aus finanziellen
Gründen nicht in den Kindergarten geschickt werden?
Erstaunlich ist ja, dass das Betreuungsgeld 2013 einge-
führt werden soll, also in dem Jahr, ab dem es einen
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gibt. Diese
miteinander konkurrierenden Säulen – so nenne ich das
einmal – habe ich schon immer bemängelt. Wie hoch
sind die dadurch entstehenden Kosten, und wie sieht es
mit der Verlagerung der Mittel innerhalb des Haushalts
aus, wenn das Betreuungsgeld auf Hartz IV angerechnet
wird? Dann würde das Familienministerium durch das
Betreuungsgeld zwar im Grunde Familien mehr fördern,
aber im Arbeitsministerium würden Mittel eingespart.
Nach außen könnte man dann damit glänzen, wie viel für
Familien getan wird. Tatsächlich käme aber nicht 1 Euro
mehr bei den Familien an.
Dr
Herr Wunderlich, Sie waren heute Vormittag im Fa-
milienausschuss. Sie wissen, dass der Etat des Familien-
ministeriums aufgrund einiger Veränderungen objektiv
anwächst. Wir haben zudem eine ausgesprochen gute
Wirtschafts- und Arbeitsmarktsituation. Es gibt mehr
Menschen, die gut verdienen. Das ist positiv. Von daher
steigt die Zahl derjenigen, die Anspruch auf das Eltern-
geld, zum Teil auch auf ein höheres Elterngeld, haben.
Auch die Inanspruchnahme der Vätermonate spielt eine
Rolle. Das alles sind positive Entwicklungen. Sie fragen
nach den Auswirkungen. Ich bitte um Verständnis, dass
ich Ihnen nach wie vor antworten muss, dass ich dazu im
Einzelnen nichts sagen kann, solange die Nebenbedin-
gungen nicht hieb- und stichfest sind.
Im Haushaltsentwurf des Bundesfinanzministers für
2013, in dem nach dem berühmten Top-down-Verfahren
aufgestellten Entwurf, sind – auch das wissen Sie –
400 Millionen Euro für das Betreuungsgeld vorgesehen.
Das ist Sachverhalt. Im Finanzplan sind, glaube ich,
1,2 Milliarden Euro für 2014 vorgesehen. Darüber wird
dann später zu entscheiden sein.
Zusatzfrage Frau Golze, danach Kollege Beck.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,auch ich frage noch einmal nach der Finanzierung. DieArgumentation, man müsse auf der einen Seite Kita-plätze schaffen und auf der anderen Seite das Betreu-ungsgeld für den Fall einführen, dass Eltern den Kita-platz nicht nutzen, damit alle Eltern etwas davon haben,würde ich verstehen, wenn die Nutzung eines Kitaplat-zes gebührenfrei wäre. Die Bundesregierung tut geradeso, als wären Kitaplätze ein Geschenk an die Eltern, dasdiese für ihre Kinder in Anspruch nehmen. Ich kann Ih-nen gerne einmal vorrechnen, wie viel ich an Kitagebüh-ren für meine beiden Kinder in den letzten Jahren ge-zahlt habe. Es ist doch eine Ungleichbehandlung derEltern, wenn die einen für die Inanspruchnahme einesKitaplatzes Geld zahlen müssen, während die anderen,die sich privat eine Kinderbetreuung organisieren, zu-sätzlich Geld bekommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20557
(C)
(B)
Dr
Die Situation in den Bundesländern und auch in den
Kommunen ist sehr unterschiedlich.
Es gibt Bundesländer und Kommunen, die sich bei der
Finanzierung von Kindergärtenplätzen und nicht nur bei
der U-3-Betreuung sehr stark engagieren. Einige Kom-
munen investieren sehr viel Geld, während andere Kom-
munen andere – auch politische – Entscheidungen tref-
fen. Man muss deutlich sagen, dass die Kommunen
unterschiedliche Schwerpunkte setzen; denn sie können
selbstständig darüber entscheiden. Zunächst einmal ist
also zu beachten, dass es unterschiedliche Situationen
gibt.
Ich sage ausdrücklich – auch Sie waren heute Vormit-
tag im Ausschuss –: Sie wollen alles Mögliche kostenlos
anbieten. Herr Wunderlich hat einen entsprechenden An-
trag vorgelesen. Dieser enthielt zehn, zwölf Punkte, an
denen sozusagen kein Preisschild war, das zeigen würde,
was die Chose kostet.
Das wurde nicht erwähnt; ich weiß das ganz genau. Sie
fordern zum Beispiel, Kinderbetreuung absolut kosten-
los anzubieten. Das alles kann man fordern, aber Sie
sollten einmal die Kosten addieren; denn dann kommen
Sie auf zweistellige Milliardenbeträge. Sie müssten auch
einmal einen Halbsatz dazu verlieren, wie Sie das finan-
zieren wollen. Ich finde, dass das zu einer redlichen Poli-
tik dazugehört.
Kollege Beck.
Herr Staatssekretär, die Ministerin hat erklärt, dass sie
sich an den Auftrag der Koalition, einen Gesetzentwurf
zu erarbeiten, gebunden fühlt, solange die Koalition an
dem Betreuungsgeld festhält. Auch wenn das nicht nach
großem Engagement klingt, kann man ja davon ausge-
hen, dass es in Ihrem Haus Vorüberlegungen zur Ausge-
staltung eines entsprechenden Gesetzentwurfs gibt. Des-
halb wollte ich hinsichtlich des Aspekts, den Kollegin
Ferner schon angesprochen hat, nachfragen.
Sie haben gesagt, dass Sie mit dem Gesetzentwurf
noch nicht fertig sind. Das ist okay. Mich interessiert:
Welche unterschiedlichen Modelle und Verfahren für
den Nachweis der Nichtinanspruchnahme von staatli-
chen Betreuungsleistungen in Kindergarteneinrichtun-
gen werden im Ministerium erwogen? Ich verstehe, dass
Sie sich noch nicht festgelegt haben, aber Sie müssen
doch schon Nachweismodelle entwickelt haben. Ich
würde gerne erfahren, um welche Modelle es sich han-
delt, damit wir uns ein Bild von den rechtlichen Verfah-
ren und dem bürokratischen Aufwand machen können,
der mit der Gewährung des Betreuungsgeldes verbunden
sein wird.
Dr
Herr Kollege Beck, einige Bundesländer haben ein
Betreuungsgeld, teilweise ein Landeserziehungsgeld,
entwickelt. Auch andere Nationen haben dies gemacht.
Das alles wird man einbeziehen müssen, wenn man sich
über die konkreten Regelungen Gedanken macht. Eine
Regelung für Deutschland ist ein ganz eigenes Thema,
weil wir ein sehr differenziertes familienpolitisches
Leistungssystem haben.
– Ja. – Natürlich beschäftigt sich ein Ministerium mit al-
len Varianten;
es wäre ja völlig unverantwortlich, das nicht zu tun. Es
gibt viele Rechenmodelle. Ich werde in dieser Frage-
stunde allerdings nur über Dinge berichten, die abge-
schlossen sind.
Ich kann Ihnen nicht berichten, welche Varianten es im
Einzelnen gibt; im Prinzip kennen Sie sie ja, wenn Sie
sich mit dieser Thematik beschäftigen. Zu gegebener
Zeit wird ein Gesetzentwurf vorgelegt, der zwischen den
Ressorts abgestimmt ist. Dann wird man darüber poli-
tisch diskutieren können.
Frau Enkelmann.
Herr Präsident, ich vermute, wir beide sind uns einig,
dass die Bundesregierung zu einem Thema, das in der
Öffentlichkeit große Resonanz findet und über das breit
diskutiert wird, wenig aussagekräftig antwortet. Der
Kollege Staatssekretär ist nicht in der Lage, auf einfache
Fragen zu antworten. Ich beantrage deswegen auf
Grundlage unserer Richtlinien für Aktuelle Stunden die
Durchführung einer Aktuellen Stunde zum Thema Be-
treuungsgeld.
Ich nehme das zur Kenntnis und fahre zunächst ein-mal mit unserer Fragestunde fort.Ich rufe die Frage 17 der Kollegin Heidrun Dittrichauf:Mit welchen Auswirkungen rechnet die Bundesregierungauf die Erwerbsbeteiligung von Müttern infolge der Einfüh-rung des Betreuungsgeldes unter der Berücksichtigung der
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20558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
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neuen Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor-schung e. V. bzw. des Instituts der deutschen Wirtschaft Kölne. V., und mit welchen Folgekosten rechnet die Bundesregie-rung insgesamt – unter Berücksichtigung der Sozialkassen,Steuereinkünfte und langfristigen Prognosen?Dr
Ich habe dazu eben etwas gesagt. Weil diese Frage ei-
ner anderen Frage, die ich schon beantwortet habe, ähn-
lich ist – Sie konnten ja nicht wissen, wer welche Frage
einreicht –, werde ich ähnlich antworten. Wir werden da-
rauf achten, dass Fehlanreize vermieden werden. Im Üb-
rigen trägt das Betreuungsgeld dazu bei, bestmögliche
Wahlfreiheit zu ermöglichen. Die konkrete Ausgestal-
tung ist noch nicht geklärt. Daran wird gearbeitet, wenn
die politischen Entscheidungen gefallen sind.
Zusatzfragen? – Bitte schön.
Ich habe zu dieser Frage eine Zusatzfrage. Kommt es
nicht einem Verbot der Erwerbstätigkeit von Müttern
gleich, wenn ihnen Betreuungsmöglichkeiten vorenthal-
ten werden? 150 Euro im Monat können das wirklich
nicht ausgleichen.
Dr
Ich habe eben eine Antwort darauf gegeben. Müttern
sollen keine Betreuungsmöglichkeiten vorenthalten wer-
den. Wir wollen, dass es ein breites Betreuungsnetz gibt.
Daran wird gearbeitet, auf Bundesebene, auf Landes-
ebene und vor allen Dingen auf kommunaler Ebene.
Weitere Zusatzfragen?
Nein.
Dann rufe ich die Frage 18 der Kollegin Heidrun
Dittrich auf:
Geht die Bundesregierung davon aus, dass Eltern auf die
Inanspruchnahme eines Betreuungsplatzes zugunsten des Be-
treuungsgeldes verzichten, und welche Konsequenzen hat dies
für die Kinder in Anbetracht dessen, dass frühkindliche Bil-
dung am besten in Betreuungseinrichtungen gewährleistet
werden kann?
Dr
Die Bundesregierung hat keine Veranlassung für eine
solche Annahme.
Bitte sehr.
Meine erste Zusatzfrage: Würde die Bundesregierung
auch dann an der Einführung des Betreuungsgeldes fest-
halten, wenn sie sicher wüsste, dass ein Kind nur wegen
des Bezugs des Betreuungsgeldes aus der Kindertages-
stätte genommen wird und ihm damit die frühkindliche
Bildung in Gemeinschaft vorenthalten wird?
Dr
Ich kann Ihnen ausdrücklich sagen, dass die Struktur
des Betreuungsgeldes überhaupt noch nicht feststeht.
Deswegen kann ich darauf keine Antwort geben. Wir
werden dafür sorgen, dass die Struktur bzw. die Kon-
struktion so sein wird, dass es keine Fehlanreize gibt.
Wir sind im Übrigen, wie in der UN-Kinderrechtskon-
vention festgehalten, der festen Überzeugung, dass die
beste Erziehung in der Familie erfolgt und dass Eltern
die wichtigsten Erziehungspersonen sind. Insofern sind
wir der Auffassung, dass man die öffentliche Betreuung
nicht glorifizieren sollte. Sie hat unter bestimmten Be-
dingungen eine wichtige Funktion. Aber es muss beides
nebeneinander geben.
Meine zweite Nachfrage: Wenn die Bundesregierung
für Kinder Geld ausgeben möchte, warum wird nicht
einfach der Betrag von 150 Euro, der für das Betreu-
ungsgeld vorgesehen ist, auf den Regelsatz für Kinder
aufgeschlagen? Dann gäbe es weniger Kinderarmut.
Dr
Zur Kinderarmut habe ich eben schon etwas gesagt.
Es ist wichtiger, sich Gedanken darüber zu machen, wie
die Eltern und damit die ganze Familie aus der Armut
herauskommen können, das heißt, es müssen Erwerbs-
möglichkeiten geschaffen werden. In den letzten Jahren
hat es für die Eltern, die aus der Erwerbslosigkeit he-
rauskommen möchten, nie eine so günstige Situation wie
gegenwärtig gegeben. Über 1 Million Langzeitarbeits-
lose – sie waren mehr als ein Jahr lang arbeitslos – haben
es geschafft, jetzt wieder am Erwerbsleben teilzuneh-
men. Das ist eine ganz wichtige sozialpolitische und
arbeitsmarktpolitische Entwicklung. Das schafft nicht
nur Arbeit für Vater und Mutter, sondern holt die Fami-
lien auch aus der Armut heraus. Das beste Mittel zur
Armutsbekämpfung ist eine gute Wirtschafts- und Ar-
beitsmarktpolitik.
Ich rufe jetzt die Frage 19 der Kollegin Caren Marksauf:Wann legt die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zurEinführung eines Betreuungsgeldes vor – bitte Datum nennen –,und stimmt sie derzeit einen Referentenentwurf zwischen denBundesressorts ab?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20559
(C)
(B)
Dr
Die Kollegin Marks fragt – das ist nicht überraschend –
auch nach dem Betreuungsgeld. Ich habe die Frage eben
schon einmal im Zusammenhang beantwortet. Bis zum
Sommer soll ein Gesetzentwurf vorgelegt werden. Dieser
Gesetzentwurf wird nach der Geschäftsordnung der Bun-
desregierung natürlich zwischen den Ressorts abge-
stimmt.
Erste Nachfrage, Frau Kollegin Caren Marks.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,
meine Frage war, ob es diesbezüglich schon einen Refe-
rentenentwurf gibt, der sich in der Abstimmung befindet.
Sie beziehen sich in Ihrer Antwort auf einen Gesetzent-
wurf. Das schließt die Option, dass ein Referentenent-
wurf schon in der Abstimmung ist, ja nicht komplett aus.
Darum frage ich noch einmal gezielt nach dem Referen-
tenentwurf nach.
Dr
Es gibt keinen Referentenentwurf, der sich in der Ab-
stimmung befindet.
Das war noch nicht die zweite Nachfrage, sondern nur
ein Zwischenruf.
Dr
Ich glaube, dann hätten Sie den Entwurf auch schon.
Wir gehen geordnet vor. – Bitte schön, Frau Caren
Marks.
Vielen Dank, Herr Präsident, für die Möglichkeit,
eine zweite Nachfrage zu stellen.
Herr Staatssekretär, können Sie mir beantworten, wie
es um die Überlegungen steht, die die Ministerin vor ei-
nigen Tagen angedeutet hat, seitens des Ministeriums
überhaupt keinen Gesetzentwurf zum Betreuungsgeld
vorzulegen, sondern die Arbeit ausschließlich in die
Hände der schwarz-gelben Regierungsfraktionen zu le-
gen, weil sie wahrscheinlich keine Lust hat, durch den
Streit sowohl innerhalb der Regierungskoalition als auch
in der Öffentlichkeit – die öffentliche Meinung hinsicht-
lich des Betreuungsgeldes ist ja mehrheitlich ganz klar
ablehnend – noch weiter negativ in der Kritik zu stehen?
Dr
Ich sage ausdrücklich: Ich kenne keine derartige Äu-
ßerung der Ministerin. Das war eine Spekulation in den
Medien. In den Medien steht vieles, aber das ist nicht
immer das, was sich tatsächlich abspielt, sondern das,
was jemand meint, beobachtet zu haben. Dies wird dann
eben geschrieben. Das ist ja auch möglich.
Ich gehe davon aus, dass sich die Koalitionsfraktio-
nen in einem geordneten Verfahren darüber verständi-
gen, wie sie das gestalten wollen. Ich sage ausdrücklich:
Sie haben sich darauf verständigt, einen Gesetzentwurf
zum Betreuungsgeld einzubringen. Deswegen gehe ich
auch davon aus, dass dies entsprechend umgesetzt wird.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Das waren die bei-
den Nachfragen.
Ich rufe jetzt die Frage 20 der Kollegin Caren Marks
auf:
Welche Annahmen liegen der Berechnung der Kosten-
und ist beim Betreuungsgeld eine finanzielle Beteiligung der
Länder vorgesehen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr
Der Koalitionsausschuss hat am 6. November 2011
beschlossen, im Jahre 2013 ein Betreuungsgeld in Höhe
von 100 Euro für das erste Lebensjahr des Kindes und ab
dem Jahre 2014 in Höhe von 150 Euro für das zweite
und dritte Lebensjahr des Kindes einzuführen. Die Bun-
desregierung will damit eine Leistung schaffen, die die
Eltern in ihrer Wahlfreiheit hinsichtlich der Kinder-
betreuung unterstützt und die Vielfalt der Gestaltungs-
möglichkeiten entsprechend stärkt.
Bei den Eckwerten des Regierungsentwurfs für 2013
ist Vorsorge getroffen worden: 0,4 Milliarden Euro in
2013 und 1,2 Milliarden Euro ab 2014. Das ist das, was
im Moment Beschlusslage ist.
Ihre erste Nachfrage. Bitte schön, Frau Caren Marks.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,meine Frage wurde leider in keiner Weise beantwortet.Ich habe nicht nach den Kosten gefragt, sondern meineFrage war, welche Annahmen der Kostenschätzung zu-
Metadaten/Kopzeile:
20560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Caren Marks
(C)
(B)
grundeliegen. Es interessiert mich, ob Sie auf meineFrage, die eigentlich ziemlich klar formuliert ist, viel-leicht eine klare Antwort geben könnten. Das würdemich außerordentlich freuen.Zum anderen überrascht mich die Kostenschätzunggrundsätzlich, da Sie in Ihren Antworten auf die vorheri-gen Fragen mehrfach angeführt haben, dass das Ressortmit Blick auf die Abstimmung innerhalb des Ressorts,erst recht mit Blick auf die Abstimmung im Kabinettnoch völlig im Unklaren darüber ist, wohin die Reisebeim Betreuungsgeld insbesondere hinsichtlich derDetails geht. Insofern ist es vielleicht ein bisschenschwierig, mit den Zahlen zu jonglieren, wie Sie das ge-rade eben getan haben.Dr
Ich kann nur die Zahlen nennen, die im Haushaltsent-
wurf enthalten sind, der demnächst ins Kabinett gehen
wird und dort nach Lage der Dinge Mitte Juni beschlos-
sen wird. Das, was ich habe, sind handfeste Zahlen. Den
Zahlen liegt die Schätzung zugrunde – ich habe jetzt
keine genaue Zahl präsent –, wer das Betreuungsgeld in
Anspruch nehmen wird. Ich kann Sie darüber aber im
Einzelnen gerne informieren.
Das ist das, was konkret vorliegt. Ich kann ansonsten
nur allgemein antworten, solange noch kein konkreter
Gesetzentwurf vorliegt.
Nachfrage.
Vielen Dank für die zweite Nachfrage. – Herr Staats-
sekretär, ich schließe also daraus, dass Sie zwar eine nur
sehr vage Vorstellung davon haben, wie das Betreuungs-
geld ausgestaltet wird, aber trotz dieser Unwägbarkeiten
sehr konkrete Vorstellungen davon haben, was es kostet.
Es ist für mich ein bisschen schwierig, das miteinander
zu kombinieren, aber mit der Weisheit Ihres Hauses wird
das sicherlich gelingen.
Meine Nachfrage bezieht sich auf den zweiten Teil
meiner Frage. Ich möchte gerne nachhaken, wie es mit
der finanziellen Beteiligung der Länder aussieht. Sie ar-
gumentieren immer damit, dass das Betreuungsgeld eine
Kompensation für diejenigen ist, die die staatlich geför-
derten Kitaplätze nicht in Anspruch nehmen. Nun ist es
so – auch das wurde hier von mehreren Kolleginnen und
Kollegen wiederholt ausgeführt –, dass am Ausbau der
Kitaplätze, insbesondere auch der U-3-Plätze, alle staat-
lichen Ebenen, Bund, Länder und insbesondere die
Kommunen, finanziell maßgeblich beteiligt sind. Inso-
fern ist es doch ein bisschen aberwitzig, wenn die finan-
zielle Ausstattung des Betreuungsgeldes, wie Sie es bei
der Kostenschätzung bisher angedeutet haben, aus-
schließlich beim Bund liegt. Ist da eine Beteiligung vor-
gesehen? Wenn nein: Wie erklären Sie das?
Dr
Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich jetzt zu Ein-
zelheiten nichts weiter sagen kann. Warten Sie doch ein
wenig ab, bis der Gesetzentwurf vorliegt. Dann können
wir mit handfesten Fakten argumentieren.
Ich glaube, das ist der Sache dienlicher.
Vielen Dank.
Wir kommen zur Frage 21 unseres Kollegen Matthias
Birkwald:
Trifft es zu, dass nach den derzeitigen Plänen der Bundes-
regierung Familien im Hartz-IV-Bezug für ihre zu Hause be-
treuten Kinder kein Betreuungsgeld erhalten sollen bzw. die-
ses vollständig auf die Leistungen angerechnet werden soll
und somit ihre Kinder am Ende ohne Frühförderung und die
Eltern ohne Anerkennung ihrer Betreuungsleistung dastehen,
und wie ist dies in Einklang zu bringen mit der Erkenntnis,
dass insbesondere Kinder aus sozial schwachen Schichten zur
Erlangung einer Chancengleichheit bestmögliche Förderung
benötigen?
Herr Staatssekretär.
Dr
Herr Kollege Birkwald, ich habe eben in einem an-
deren Zusammenhang schon einmal erläutert, dass das
Betreuungsgeld so ausgestaltet werden muss, dass es
den Bedürfnissen der Familien tatsächlich Rechnung
trägt – ich kann nicht anders, als das zu wiederholen,
weil das im Endeffekt die gleichen Fragen sind –, und
dass die konkrete Ausgestaltung des Betreuungsgeldes
geprüft wird.
Ich sage Ihnen als Arbeitsmarktpolitiker jetzt noch
einmal, dass man sehr genau hinschauen muss, wie si-
chergestellt werden kann, dass es sich für denjenigen,
der daran interessiert ist, eine Arbeit aufzunehmen – ich
gehe davon aus, dass das bei den meisten Hartz-IV-Emp-
fängern der Fall ist –, tatsächlich rechnet, dass etwas
übrig bleibt, dass er mehr im Portemonnaie behält, wenn
er eine Arbeitsstelle hat. Deswegen dürfen vom Betreu-
ungsgeld keine falschen Anreize ausgehen.
Ihre erste Nachfrage, Kollege Birkwald.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, HerrStaatssekretär. Dann will ich meine Frage anders ein-leiten. Mit dem Haushaltsbegleitgesetz 2011 hatte dieBundesregierung das Elterngeld für Hartz-IV-Betroffenebereits gestrichen: 300 Euro weniger pro Monat oder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20561
Matthias W. Birkwald
(C)
(B)
3 600 Euro im ersten Lebensjahr des Kindes. Nun sollen– jedenfalls nach allen Berichten, die wir in der Öffent-lichkeit von verschiedenen Seiten erhalten haben –Hartz-IV-Betroffene kein Betreuungsgeld erhalten. Daswären dann 150 Euro weniger pro Monat oder weitere3 600 Euro im zweiten und dritten Lebensjahr.Im Gesetzentwurf zum Kinderförderungsgesetz derFraktionen der Union und der SPD aus dem Jahr 2008,also zuzeiten der Großen Koalition, hieß es zum Betreu-ungsgeld, damit – ich zitiere – „die herausragende Leis-tung der Eltern bei der Erziehung des Kindes zu würdi-gen“. Wie rechtfertigt die Bundesregierung, dass ihr dieErziehungsarbeit während der ersten drei Lebensjahre inHartz-IV-Familien 7 200 Euro weniger wert ist als inallen anderen erdenklichen Familien, zum Beispiel in ei-ner Managerfamilie mit einer in Teilzeit erwerbstätigenEhefrau und Mutter?Dr
Sie wissen, dass wir als Begründung für die Anrech-
nung des Elterngeldes für diejenigen, die Hartz-IV-Leis-
tungen beziehen, gesagt haben: Hartz IV muss so gestal-
tet sein, dass es auskömmlich ist. Es ist auch keine
Leistung, die für Jahre vorgesehen ist, sondern eine Leis-
tung, die dann gezahlt wird, wenn jemand trotz intensi-
ver Bemühungen oder meinetwegen deswegen, weil er
bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt, keine Arbeit
bekommt. Das ist insofern eine vorübergehende Finan-
zierung. So ist das gedacht.
Der Hartz-IV-Empfänger mit seinen zwei bis drei
Kindern bekommt natürlich höhere Familienleistungen,
weil das, was im Bereich von Hartz IV an Kinderleistun-
gen gezahlt wird, höher ist als das Kindergeld. Denn
man geht etwa im Vergleich zum Geringverdiener davon
aus, dass er einen Teil seines Einkommens für seine Kin-
der einsetzt. Das ist selbstverständlich, und das tun die
Eltern in der Regel auch sehr gerne. Das ist in diesem
Fall die Begründung dafür.
Vor diesem Hintergrund wird man auch beim Betreu-
ungsgeld diskutieren müssen, dass damit keine falschen
Anreize gesetzt werden. Darüber kann man dann noch
im Einzelnen reden. Von Ihrer Seite wurde eben schon
einmal eine Frage gestellt, bei der aufgelistet worden ist,
was jemand, der nicht erwerbstätig ist, jetzt schon be-
kommt. Der eine oder andere, der sein Geld im niedrigen
Einkommensbereich verdient – Tag für Tag, Woche für
Woche, Jahr für Jahr –, wird sich gewundert haben, was
ihm, verglichen mit dem, was ein anderer netto übrig
hat, netto bleibt. Man kann das natürlich entsprechend
erhöhen, aber wir halten das für problematisch.
Ihre zweite Nachfrage, Kollege Birkwald.
Wir sind uns doch wohl einig, dass Kinder in Hartz-
IV-Familien diejenigen mit dem größten Armutsrisiko
sind und dass genau diese Familien familienpolitische
Leistungen am dringendsten bräuchten. Das gilt sowohl
für das Elterngeld als auch für das Betreuungsgeld.
Wenn jetzt die offizielle Begründung für das Betreu-
ungsgeld lautet, dass Eltern eine größere Wahlfreiheit
eingeräumt werden soll – das haben Sie auch heute
mehrfach gesagt –, frage ich Sie: Warum sollen dann be-
tuchte Eltern das Betreuungsgeld erhalten und es für eine
im privaten Haushalt angestellte Kinderfrau ausgeben
dürfen – das ist ja durchaus vorgesehen –, und warum
haben Hartz-IV-Betroffene diese Wahlfreiheit nicht?
Dr
Wir können darüber nicht diskutieren, weil es diese
Regelung noch gar nicht gibt. Es gibt noch keinen Ge-
setzentwurf. Wenn es einen solchen Gesetzentwurf gäbe,
dann könnten wir uns darüber austauschen.
Es gibt dazu unterschiedliche Meinungen. Es hängt auch
davon ab, welche Zielsetzungen man konkret verfolgt.
Davon hängt auch die Ausgestaltung des Betreuungsgel-
des ab. Dann kann über solche Zusammenhänge disku-
tiert und entschieden werden.
Wir kommen jetzt zur Frage 22 ebenfalls unseres
Kollegen Matthias Birkwald:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung e. V. über Betreuungsgeldleistungen
in den skandinavischen Ländern, wonach vor allem Mütter
mit geringem Einkommen, niedrigem Bildungsniveau und
Migrationshintergrund Betreuungsgeld beziehen und sich das
Betreuungsgeld somit negativ auf die Beschäftigungssituation
von Müttern auswirkt und Nachteile bei der frühkindlichen
Bildung zur Folge hat, und welche Schlussfolgerungen zieht
die Bundesregierung aus den Erkenntnissen dieser Studie, ins-
besondere vor dem Hintergrund, dass in Norwegen und
Schweden über eine Abschaffung des Betreuungsgeldes dis-
kutiert wird?
Herr Staatssekretär.
Dr
Zu Ihrer Frage sage ich noch einmal ausdrücklich:Das Betreuungsgeld soll so konzipiert werden, dass jun-gen Eltern im Zusammenwirken mit den übrigen Leis-tungen, die es gibt – Geld und Infrastruktur –, tatsächlicheine Wahlfreiheit eröffnet wird und dass den tatsächli-chen Bedürfnissen Rechnung getragen wird.
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20562 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues
(C)
(B)
Alle bislang vorgelegten Studien zu Modellen und Kon-zepten sind deswegen nicht übertragbar, weil das Betreu-ungsgeld der Bundesregierung differenzierter ausgestal-tet wird als bisher herangezogene Modelle. Insofernsagen diese Studien wenig aus.
Ihre erste Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Wie will denn die
Bundesregierung bei ihrer Gestaltung verhindern – wie
Sie mehrfach gesagt haben, erarbeiten Sie gerade den
Gesetzentwurf und hätten die Chance dazu –, dass sich
das Betreuungsgeld genauso wie in Finnland, Schweden
und Norwegen eindeutig geschlechtsspezifisch zulasten
von Frauen auswirkt und so wie in Finnland die Position
der Frauen in der Gesellschaft insgesamt schwächt, wie
in Norwegen die ungleiche Arbeitsteilung zwischen El-
tern stärkt oder wie in Schweden dazu führt, dass das
Einkommen von Frauen sinkt, weil sie eher als Männer
aufgrund des Betreuungsgeldes ihre Erwerbsarbeit und
damit ihr Erwerbseinkommen verringern?
Dr
Es wird die hohe Kunst sein, das Betreuungsgeld so
auszugestalten, dass die negativen Effekte, die Sie be-
schrieben haben, nicht eintreten.
Wenn wir wieder Ruhe haben, dann können Sie Ihre
zweite Frage stellen, Herr Birkwald.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Das heißt, das Be-
treuungsgeld wird kommen; das haben Sie gerade wohl
gesagt.
Werden denn Frauen, die es ohnehin schon schwerer
auf dem Arbeitsmarkt haben, wie alleinerziehende
Frauen, Frauen mit Migrationshintergrund und Frauen
mit sogenannten geringen Qualifikationen, nicht durch
das Betreuungsgeld ermutigt bzw. geradezu ökonomisch
gedrängt, ihre Arbeitsplatzsuche aufzugeben, und könnte
sich das Betreuungsgeld somit als Schweigeprämie für
ohnehin auf dem Arbeitsmarkt Benachteiligte erweisen?
Wie wollen Sie das verhindern?
Dr
Wenn Sie eben alles verfolgt haben, was ich gesagt
habe – davon gehe ich einmal aus –,
dann wissen Sie, dass ich ausdrücklich gesagt habe, dass
das nicht der Fall sein soll. Vielmehr muss das Betreu-
ungsgeld so ausgestaltet sein, dass auch für Menschen
im unteren Einkommensbereich Erwerbsanreize gege-
ben sind, dass sich Arbeiten lohnt. Das beißt sich teil-
weise mit Theorien, die eben vertreten worden sind. Ar-
beiten muss sich auf jeden Fall lohnen. Wer arbeitet,
muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Sonst
würde das Betreuungsgeld falsche Anreize setzen.
Es gibt eine Nachfrage unserer Frau Kollegin
Dr. Barbara Höll.
Danke, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär, darf ich
Ihre letzte Antwort so verstehen, dass Sie jetzt, wo Sie
Hemmnisse insbesondere für die Erwerbstätigkeit von
Frauen beseitigen wollen, die Beseitigung des Ehegat-
tensplittings in Angriff nehmen? Nachgewiesenermaßen
müssen verheiratete Frauen, die heutzutage aufgrund der
fehlenden Infrastruktur für ihre Kinder nur verkürzt,
zum Beispiel sechs Stunden, arbeiten können, zwölf
Stunden arbeiten, um aufgrund der Regelung des Ehe-
gattensplittings überhaupt einen adäquaten Lohn zu be-
kommen. Das Ehegattensplitting wirkt gerade für
Frauen, die nur wenige Stunden arbeiten, arbeits-
marktabweisend, weil es sich für die Betreffenden in
Steuerklasse V nicht lohnt.
Dr
Die Beseitigung des Ehegattensplittings ist nicht ge-
plant.
Vielen Dank. – Damit beenden wir diesen Geschäfts-bereich.Ich weise geschäftsleitend darauf hin, dass die Koali-tionsfraktionen beantragt haben, nach dem entsprechen-den zeitlichen Ablauf der Fragestunde kurz zu unterbre-chen. Ich beabsichtige daher, gegen 16 Uhr die AktuelleStunde aufzurufen.Jetzt machen wir mit dem Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Gesundheit weiter. Hier werden alleFragen schriftlich beantwortet. Es handelt sich um dieFragen 23 und 24 des Kollegen René Röspel sowie dieFrage 25 der Kollegin Kathrin Vogler.Jetzt kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.Zur Beantwortung der Fragen steht der ParlamentarischeStaatssekretär Jan Mücke zur Verfügung.Ich rufe die Frage 26 unserer Kollegin Dr. DagmarEnkelmann auf:Welchen gesetzgeberischen Handlungsbedarf sieht dieBundesregierung nach dem Entscheid des Bundesverwal-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20563
Vizepräsident Eduard Oswald
(C)
(B)
tungsgerichts Leipzig, das das Nachtflugverbot am FlughafenFrankfurt am Main von 23 bis 5 Uhr bestätigte und das Kon-tingent für die Gesamtnacht auf 133 Flüge beschränkte, sowieder Entscheidung der Landesregierung Nordrhein-Westfalen,künftig zwischen 0 und 5 Uhr Passagierflüge am FlughafenKöln/Bonn zu verbieten, um bundeseinheitliche Standards fürNachtflugregelungen zu schaffen, die einerseits eine Standort-konkurrenz nach Maßgabe gestatteter Nachtflüge verhindernund andererseits den berechtigten Erwartungen der Anwohnernach einem umfassenden Lärm- und Gesundheitsschutz nach-kommen?Herr Staatssekretär, ich bitte.J
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Dr. Enkelmann, die Antwort auf Ihre
Frage lautet: Soweit dies anhand des bisher ausschließ-
lich veröffentlichten Tenors des Urteils erkennbar ist, hat
das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung
zum Nachtflug am Flughafen Frankfurt am Main seine
bisherige Rechtsprechung zu den zu beachtenden Vorga-
ben zum Schutz der Anwohner im Rahmen der Nacht-
flugregelung an den Flughäfen Leipzig/Halle und Berlin
Brandenburg International fortgeführt. Das Urteil be-
zieht sich allerdings fallspezifisch auf die Besonderhei-
ten des Verfahrens zum Frankfurter Flughafen. Ob sich
aus der noch ausstehenden Begründung des Urteils all-
gemeingültige Aussagen ergeben, die einen gesetzgebe-
rischen Handlungsbedarf aufzeigen, bedarf einer sorgfäl-
tigen Prüfung, die aber naturgemäß erst nach der
vollständigen Veröffentlichung der Entscheidung mög-
lich ist. Grundsätzlich geht die Bundesregierung davon
aus, dass das aktuelle Regelwerk im Luftverkehrsgesetz
und im Fluglärmgesetz eine geeignete Grundlage für den
Luftverkehr in Deutschland darstellt.
Im Hinblick auf bundeseinheitliche Standards für
Nachtflugregelungen wäre zu berücksichtigen, dass die
Übertragung der Aufgaben im Zusammenhang mit der
Genehmigung und Planfeststellung von Flughäfen sowie
auch mit nachträglichen Betriebsregelungen an die Län-
der erfolgt ist, weil diese die größere Sachnähe haben
und daher lokale Besonderheiten in die entsprechenden
Entscheidungen einbeziehen können. Diese Flexibilität,
zum Beispiel besondere Siedlungssituationen im Sinne
der Anwohner bei den Betriebsregelungen berücksichti-
gen zu können, würde eine bundeseinheitliche Regelung
nicht ohne Weiteres gewährleisten können.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin Enkelmann.
Danke, Herr Präsident. – Zunächst einmal weise ich
darauf hin, dass wir heute den bundesweiten Tag gegen
den Lärm haben. Insofern passt die Frage ganz gut. Sie
haben deutlich gemacht, dass die Bundesregierung of-
fenkundig nicht vorhat, weiter darüber nachzudenken.
Das Umweltbundesamt hat allerdings andere Ansich-
ten, insbesondere was zum Beispiel die im Fluglärm-
gesetz festgelegten Grenzwerte anbetrifft. Der Chef des
Umweltbundesamtes geht davon aus, dass die Fluglärm-
grenzwerte, die heute dort festgelegt sind, zu hoch sind,
was gesundheitsschädigend ist, Auswirkungen auf das
Herz-Kreislauf-System hat und weitere gesundheitliche
Probleme verursacht, die inzwischen nachgewiesen sind.
Meine erste Frage lautet: Die Regierung sieht auch hier
keinen Handlungsbedarf?
J
Frau Kollegin, Ihre Frage bezog sich auf die Planfest-
stellungen und die Betriebsgenehmigungen der Flughä-
fen in Frankfurt und Berlin. Diese sind nicht Gegenstand
einer Regelung des Fluglärmgesetzes. Das Fluglärmge-
setz wird mit herangezogen, wenn eine solche Planfest-
stellung gemacht wird. Wir sehen aber gegenwärtig
keine Notwendigkeit, den Rechtsrahmen zu ändern. Es
gibt natürlich laufend Diskussionen und Forschungen
über Gesundheitsfolgen. Ich kann nicht ausschließen,
dass diese Forschungen irgendwann einmal dazu führen,
dass sich daraus ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf
ableitet. Ihre Frage bezog sich auf den gesetzgeberischen
Handlungsbedarf als Ergebnis des Urteils des Bundes-
verwaltungsgerichts zum Flughafen Frankfurt. Hier gibt
es keine Querverbindung zum Fluglärmgesetz.
Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin Dr. Enkelmann.
Das ist bedauerlich. Könnte möglicherweise ein
Grund dafür, dass Sie sagen, es gehe um Frankfurt am
Main, aber Berlin und Leipzig/Halle gehe Sie nichts an,
sein, dass ein Grundproblem bundesdeutscher Verkehrs-
politik ist, dass wir bisher keine nationale Luftverkehrs-
planung haben, sondern diese den Ländern überlassen
ist? Wäre es nicht allerhöchste Zeit, mit Blick auf Kapa-
zitäten im Luftverkehr über eine nationale Flugverkehrs-
planung nachzudenken?
J
Frau Dr. Enkelmann, das sehe ich anders.
Der Gesetzgeber hat das in § 31 des Luftverkehrsgeset-zes ausdrücklich anders geregelt. Wir haben insgesamtin der Verkehrspolitik mit der Auftragsverwaltung derLänder für den Bund sehr gute Erfahrungen gemacht.Nehmen Sie zum Beispiel die Auftragsverwaltung derLänder beim Straßenbau.
Die Länder bauen in unserem Auftrag die Bundesfern-straßen, also die Bundesstraßen und die Bundesautobah-nen, und das tun sie aus gutem Grund; denn sie sind sehrviel näher an den Problemen und kennen sehr viel ge-nauer die Konflikte in den einzelnen Regionen.Ähnlich verhält es sich bei den Planfeststellungsver-fahren für Flughäfen. Ich glaube, dass sich der Gesetzge-
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20564 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
ber aus gutem Grund dafür entschieden hat, dass dieLänder im Auftrag des Bundes tätig werden und Ent-scheidungen in eigener Verantwortung treffen. Mögli-cherweise trifft der Bundesgesetzgeber einmal eine an-dere Entscheidung, aber bisher hat er sie so getroffen.Deshalb kann ich Ihnen dazu keine andere Antwort ge-ben als die, die ich Ihnen gegeben habe. Ich finde, es istsachgerechter, wenn eine Behörde darüber entscheidet,die vor Ort ist und die die Konflikte vor Ort sehr genaukennt. Das haben wir gerade bei dem Flughafen BerlinBrandenburg Willy Brandt gesehen. Dort ist die Geneh-migungsbehörde das brandenburgische Ministerium fürInfrastruktur und Landwirtschaft. Ich glaube, dass esauch die bessere Behörde dafür ist, weil es sehr viel nä-her dran ist, als das beispielsweise das Luftfahrt-Bundes-amt in Braunschweig oder das Bundesverkehrsministe-rium sind.
Sie denken an die Lichterspiele.
Jetzt rufe ich die Frage 27 unserer Kollegin Bärbel
Höhn auf:
Wird der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung, Dr. Peter Ramsauer, mit Blick auf das von der Lan-
desregierung Nordrhein-Westfalen beschlossene Nachtflug-
verbot für Passagierflugzeuge am Flughafen Köln/Bonn von
seinem Genehmigungsvorbehalt nach dem Luftverkehrsge-
setz Gebrauch machen oder in sonstiger Weise eingreifen, um
das Inkrafttreten des Nachtflugverbots zu verhindern oder zu
verzögern?
Bitte schön, Herr Staatssekretär. Sie haben das Wort
zur Beantwortung.
J
Herr Präsident! Frau Kollegin Höhn, die Antwort auf
Ihre Frage lautet: Das Luftverkehrsgesetz enthält keinen
Genehmigungsvorbehalt für Maßnahmen, die die Länder
hinsichtlich der Genehmigung und des Betriebs von
Flughäfen ergreifen. Eine Einmischung in die entspre-
chende politische Ausrichtung des Landes Nordrhein-
Westfalen hinsichtlich der Betriebszeiten der dortigen
Flughäfen ist nicht beabsichtigt. Allerdings nehmen die
Länder Aufgaben im Zusammenhang mit Flughäfen im
Wege der Bundesauftragsverwaltung wahr. Vor diesem
Hintergrund hat das Bundesministerium für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung die Fach- und Rechtsaufsicht
über entsprechende Maßnahmen der Länder.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin Bärbel Höhn.
Herr Staatssekretär, stimmt es denn, dass das Bundes-
verkehrsministerium dem Land Nordrhein-Westfalen
vor der Entscheidung des Kabinetts für den Fall des Er-
lasses eines Nachtflugverbotes schriftlich ein fachauf-
sichtsrechtliches Eingreifen angedroht hat? Und was
wollen Sie mit diesem fachaufsichtsrechtlichen Eingrei-
fen erreichen? Bei der Beantwortung der Fragen der
Kollegin Enkelmann haben Sie doch gesagt, dass die
Länder die Kompetenz haben, eine solche Entscheidung
zu treffen.
J
Frau Kollegin Höhn, wir weisen gelegentlich darauf
hin, dass wir als Bund die Fach- und Rechtsaufsicht aus-
üben. Das werden wir aber erst dann tun, wenn eine ent-
sprechende Entscheidung durch das jeweilige Bundes-
land tatsächlich ergangen ist. Das ist im Fall von
Nordrhein-Westfalen nach meiner Kenntnis bisher nicht
der Fall. Wir wissen nur, dass eine Entscheidung beab-
sichtigt ist. Bisher ist aber kein förmlicher Bescheid an
den Flughafenbetreiber ergangen. Deshalb gibt es für die
Bundesregierung bisher auch weder eine Möglichkeit
noch eine Notwendigkeit, Maßnahmen im Rahmen der
Fach- und Rechtsaufsicht zu ergreifen.
Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin Höhn.
Um das noch einmal ganz klar zu machen: Bedeutet
die von Ihnen eben getroffene Feststellung, es gebe
keine Notwendigkeit, fachaufsichtsrechtlich einzugrei-
fen, dass aus Sicht des Bundesverkehrsministeriums das
Nachtflugverbot am Flughafen Köln/Bonn sofort nach
Verkündung in Kraft treten kann – ja oder nein? Bedeu-
tet das, dass es sofort nach Verkündung durch das Kabi-
nett in Kraft treten kann und keine Intervention des Bun-
des erfolgt?
J
Nein, Frau Kollegin, das habe ich ausdrücklich nichtgesagt. Ich habe mich sehr präzise ausgedrückt. Zum ei-nen habe ich ausgeführt, dass es keinen Genehmigungs-vorbehalt des Bundesverkehrsministers für eine solcheEntscheidung gibt. Der Bund kann erst dann fach- undrechtsaufsichtlich tätig werden, wenn dem Betreiber desFlughafens eine entsprechende Entscheidung zugegan-gen ist. Das ist bisher nicht der Fall. Der Kabinetts-beschluss allein ist für den Bund keine ausreichendeGrundlage, um eine Prüfung vorzunehmen. Entschei-dend ist, wie die zuständige Landesluftfahrtbehörde demFlughafenbetreiber gegenüber agiert. Von ihrer Seitemüsste dann ein entsprechender Bescheid ergehen. Dasist meines Wissens bisher nicht der Fall.Wir werden im Lichte einer solchen Entscheidung,wenn sie denn vorliegt, entscheiden, ob wir fach- undrechtsaufsichtlich tätig werden. Heute kann das aber kei-ner sagen. Das wäre pure Spekulation. Eine solche Ent-scheidung ist bisher seitens der Landesregierung undinsbesondere der Landesluftfahrtbehörde an den Flugha-fenbetreiber nicht ergangen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20565
(C)
(B)
Eine Nachfrage unseres Kollegen Volker Beck.
Als Kölner Abgeordneter interessiert mich natürlich
schon, was das, was Sie hier gerade so verklausulieren,
für die Menschen im Ergebnis heißt. Wird die Bundes-
regierung gegen eine solche Regelung – deren Inhalt
man sich ja denken kann, auch wenn man den Wortlaut
des Bescheides, der das Nachtflugverbot für die in Rede
stehende Zeit durchsetzt, im Einzelnen noch nicht kennt –
auf jeden Fall vorgehen? Oder wird sie nicht dagegen
vorgehen; es sei denn, sie beinhaltet irgendetwas juris-
tisch völlig Absurdes? Werden Sie das von der Landes-
regierung Nordrhein-Westfalen angekündigte Nachtflug-
verbot stoppen, oder werden Sie dem Land Nordrhein-
Westfalen die Möglichkeit geben, die durch die Recht-
sprechung geschaffene neue Lage zum Wohle der Bürge-
rinnen und Bürger in Flughafennähe auszugestalten?
J
Herr Kollege Beck, diese Entscheidung muss man im
Lichte des dann ergangenen Bescheides prüfen. Wir sind
hier in einem Verwaltungsverfahren; dazu gibt es Vo-
raussetzungen, die Sie kennen.
Natürlich kann diese Regierung erst dann rechts- und
fachaufsichtlich tätig werden, wenn eine solche Ent-
scheidung getroffen wurde. Bisher ist uns ein solcher
Bescheid nicht bekannt. Deshalb gibt es für uns zum ge-
genwärtigen Zeitpunkt keine Notwendigkeit – ich wie-
derhole mich –, hier fach- und rechtsaufsichtlich tätig zu
werden. Das können wir erst dann, wenn eine solche
Entscheidung der Landesluftfahrtbehörde dem Flugha-
fenbetreiber zugesagt ist.
Eine weitere Nachfrage stellt unser Kollege Oliver
Krischer.
Herr Staatssekretär, ich interpretiere Ihre Äußerungen
jetzt so, dass die Bundesregierung es sich ausdrücklich
vorbehält und auch in Erwägung zieht, ein fachrechtli-
ches Eingreifen vorzunehmen und diese Entscheidung
zu überprüfen. Mich interessiert, in welche Richtung
dieses Eingreifen stattfinden soll – den Inhalt, das, was
die Landesregierung beschlossen hat, kennen wir alle –:
Wollen Sie, dass der Zeitkorridor noch weiter einge-
schränkt wird, dass noch weniger Nachtflüge stattfinden,
oder soll der Zeitkorridor ausgeweitet werden? Soll der
Status quo beibehalten werden? Das würde mich einmal
interessieren. In welche Richtung könnte ein solches
Eingreifen gehen?
J
Verzeihen Sie, Herr Kollege: Das sind gleich zwei
Suggestivfragen auf einmal. Sie unterstellen, dass eine
bestimmte Entscheidung, zu der sich die Bundesregie-
rung im Rahmen der Fach- und Rechtsaufsicht verhalten
müsste, schon getroffen wurde. Das ist aber nicht der
Fall. Die Landesluftfahrtbehörde hat bisher keinen ent-
sprechenden Bescheid mit einer Änderung oder der
Rücknahme der Betriebsgenehmigung oder was auch
immer erlassen. Wir haben bisher keine Kenntnis von ei-
ner solchen Entscheidung. Deshalb wäre es rein spekula-
tiv, heute eine Aussage zu treffen, ob und gegebenenfalls
wie die Bundesregierung die Fach- und Rechtsaufsicht
ausüben wird. Diese Möglichkeit besteht immer. Dem-
entsprechend ist unsere Zuständigkeit. Aber ich kann Ih-
nen heute, da es keine förmliche Entscheidung der Luft-
fahrtbehörde Nordrhein-Westfalen gibt, nicht sagen, in
welcher Art und Weise und ob überhaupt die Rechts-
und Fachaufsicht ausgeübt werden muss.
Ich erteile nun das Wort zu einer weiteren Nachfrage
unserer Kollegin Ursula Heinen-Esser.
Da der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen
eine Frage als Kölner Abgeordneter gestellt hat, frage
ich ebenfalls als Kölner Abgeordnete den Staatssekretär:
Habe ich es richtig verstanden, dass das nordrhein-west-
fälische Kabinett zwar einen Beschluss gefasst hat, aber
bislang wohl noch keine Anweisung an die zuständige
Behörde ergangen ist, diesen Beschluss auch tatsächlich
umzusetzen? Ist also noch kein Bescheid an den Flugha-
fen Köln/Bonn ergangen, sich damit zu befassen? Ist das
richtig so, oder ist Ihnen vielleicht schon zu Ohren ge-
kommen, dass es einen solchen Bescheid gar nicht gibt,
weil es in die politische Landschaft in Nordrhein-West-
falen passt?
J
Geschätzte Frau Kollegin, diese Frage möchte ich sehrgern beantworten. Für die Ausübung der Fach- undRechtsaufsicht ist ein entsprechendes Tätigwerden, einVerwaltungsakt, der Landesluftfahrtbehörde erforder-lich. Die Landesluftfahrtbehörde muss an den Flughafen-betreiber, wenn sie am gegenwärtigen Genehmigungszu-stand irgendetwas ändern möchte, einen Bescheidverschicken. Nach Kenntnis des Bundesverkehrsministe-riums liegt eine solche Entscheidung der Landesluft-fahrtbehörde bisher nicht vor. Aus diesem Grund gibt esfür den Bund zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Mög-
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20566 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
lichkeit, in irgendeiner Art und Weise fach- und rechts-aufsichtlich tätig zu werden.
Die nächste Frage ist die Frage 28, ebenfalls gestellt
von unserer Kollegin Bärbel Höhn:
Trifft es zu, dass der Bundesminister für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung, Dr. Peter Ramsauer, von der Europäischen
Union Zugeständnisse im Streit um die Einbeziehung von
Auslandsflügen in das europäische Emissionshandelssystem
gefordert hat, und welche Art von Zugeständnissen meint er
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
J
Herr Präsident! Frau Kollegin Höhn, die Antwort auf
Ihre Frage lautet: Nein, es trifft nicht zu, dass Bundes-
minister Dr. Ramsauer Zugeständnisse gefordert hat.
Der Bundesminister vertritt die innerhalb der Bundesre-
gierung abgestimmte Haltung. Die EU-Richtlinie legt
fest, dass der Luftverkehr wettbewerbsneutral in den
Emissionshandel einbezogen wird. Innerhalb der Bun-
desregierung und der Europäischen Union besteht Einig-
keit, hier keine Abstriche zu machen. Wettbewerbsnach-
teile für deutsche und europäische Luftfahrtunternehmen
müssen verhindert werden. Deutschland unterstützt die
EU-Kommission in umfassender Weise dabei, Gesprä-
che mit kritischen Drittstaaten abzuwenden und zu einer
substanziellen Lösung in der Internationalen Zivilluft-
fahrt-Organisation beizutragen, aber auch die Position
der Europäischen Union klar und geschlossen zu ver-
deutlichen.
Eine Anpassung des Emissionshandelssystems wird
in Aussicht gestellt, soweit eine wirksame und verbindli-
che globale Regelung für den Luftverkehr verabschiedet
wird. Hierfür ist Verhandlungsbereitschaft auf allen Sei-
ten notwendig.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin Bärbel Höhn.
Herr Staatssekretär, das bedeutet, dass das Verkehrs-
ministerium weiterhin dafür ist, dass internationale
Flüge im Regime des Emissionshandels bleiben, und
dass Sie keinerlei Anstrengungen, keinerlei Aktivitäten
unternehmen, um internationale Flüge aus dem Emis-
sionshandel herauszunehmen. Verstehe ich das so rich-
tig, ja oder nein?
J
Frau Kollegin, die Position der Bundesregierung dazu
ist sehr eindeutig. Wir vertreten über alle Häuser hinweg
die Auffassung, dass das europäische Emissionshandels-
system geltende Rechtslage ist. Wir stehen gemeinsam
dafür ein, dass es auch in der Art und Weise umgesetzt
wird, wie es vereinbart ist.
Wir ziehen bei einem globalen Verkehrsträger aber
immer eine globale Lösung im Rahmen der ICAO vor.
Deshalb setzen wir darauf, dass durch die Debatte über
das europäische Emissionshandelssystem und mögliche
Wettbewerbsnachteile sich auch die dem europäischen
System gegenüber kritischen Staaten bereitfinden, mit
uns ein globales System zu schaffen. Das sollte unser ge-
meinsames Ziel sein. Gerade auch für Sie als Umweltpo-
litikerin ist ein Emissionshandelssystem, das weltweit
funktioniert und das alle Luftverkehrsunternehmen um-
fasst, sicher erstrebenswerter. Für uns ist die klare Vo-
raussetzung immer gewesen, dass dieses Emissionshan-
delssystem keine Wettbewerbsverzerrungen mit sich
bringt. Das wird auch weiter die Leitlinie der Bundesre-
gierung bleiben.
Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin.
Weil Sie gerade die internationale Diskussion ange-
sprochen haben, möchte ich gern einen konkreten Vor-
schlag von China erwähnen. China diskutiert, Auslands-
flüge durch zusätzliche Abgaben zu verteuern und die
Einnahmen daraus dem Klimaschutz zugutekommen zu
lassen. Wäre das aus Sicht des Verkehrsministeriums ein
möglicher Kompromiss?
J
Die Zuständigkeit für die Findung von möglichen
Ausgleichsmaßnahmen für ein Emissionshandelssystem
für die internationalen Flüge außerhalb des Gebiets der
Europäischen Union liegt bei der EU-Kommission. Wir
als Bundesregierung haben nicht die rechtliche Möglich-
keit, Vereinbarungen dazu zu treffen. Für uns ist ein glo-
bales Emissionshandelssystem für den gesamten Luft-
verkehr im Rahmen der ICAO erstrebenswerter. Das
sollten wir gemeinsam anstreben. Regelungen, die mit
einzelnen Luftfahrtnationen getroffen werden, sind dem-
gegenüber immer nur die zweite Wahl. Für uns ist ent-
scheidend, dass wir Wettbewerbsneutralität im gesamten
Luftverkehr erreichen. Das ist am besten im Rahmen der
ICAO zu erreichen.
Jetzt rufe ich den Kollegen Dr. Hermann Ott zu einer
Nachfrage auf. Bitte, Kollege Dr. Ott.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege, die Ak-tion der Europäischen Union, die Fluggesellschaften inden Emissionshandel einzubeziehen, kann als ein gutesZeichen für die positive Wirkung einer Vorreiterrolle ge-sehen werden. 15 Jahre lang hatte die Europäische Unionversucht, innerhalb der ICAO eine globale Regelung zu
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20567
Dr. Hermann E. Ott
(C)
(B)
erreichen. Erst jetzt, nachdem die Union Anstrengungenunternommen hat, bewegt sich etwas innerhalb derICAO. Sind Sie der Meinung, dass die Äußerungen vonHerrn Ramsauer, dass die Europäische Union Zugeständ-nisse machen sollte, den Prozess gefährden könnten? An-dere Staaten könnten sich dann überlegen, dass Sie esnicht so ernst meinen und Ihre Position nicht durchzie-hen.J
Herr Kollege, das sehe ich ein bisschen anders. Wenn
Sie mit den Amtskollegen von Herrn Ramsauer oder mit
meinen Amtskollegen aus den großen Luftfahrtnationen
über dieses Thema sprechen, werden Sie feststellen, dass
der Stil der EU-Kommission, die versucht, eine europäi-
sche Regelung zu globalisieren, in der Kritik steht. Da-
hinter vermutet man einen unilateralen Ansatz. Das ist
für die Außenpolitik immer ein schlechter Ansatz.
Deutschland hat ihn mit Blick auf andere Staaten stark
kritisiert. Wir wollten keinen unilateralen Ansatz, son-
dern ein gemeinsames Handeln der Völkergemeinschaft.
Deshalb ist die ICAO die richtige Organisation, in deren
Rahmen man eine solche Vereinbarung treffen sollte. Ich
gestehe zu, dass durch die Rechtsetzung innerhalb der
Europäischen Union Druck in diesen Prozess gekommen
ist. Das ist sicher hilfreich, um ein globales System auf-
zustellen. Dass es aber auch ohne diesen Druck möglich
ist, sehen Sie zum Beispiel bei der IMO. Diesen Druck
gab es bei der Schifffahrt nicht. Man ist auf einem sehr
guten Weg, hier eine Einigung zu finden, die auch global
funktioniert. Dies macht Sinn, wenn wir über Verkehrs-
träger reden, die global tätig sind. Dort sind die Zusam-
menschlüsse von Nationalstaaten die falsche organisato-
rische Ebene, um klimapolitisch und wirtschaftspolitisch
die richtige Entscheidung zu treffen.
Vielen Dank. – Die Fragen 29 und 30 des Abgeordne-
ten Dr. Anton Hofreiter, die Fragen 31 und 32 des Abge-
ordneten Gustav Herzog sowie die Frage 33 der Abgeord-
neten Daniela Wagner werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf. Zur Beantwortung steht uns Frau Staatssekretärin
Heinen-Esser zur Verfügung.
Ich rufe die Frage der Kollegin 34 Cornelia Behm
auf:
Welche Beschlüsse für die Exportquote für Glasaal hat die
Wissenschaftliche Prüfgruppe, Scientific Review Group,
SRG, für das Übereinkommen über den internationalen Han-
del mit gefährdeten Arten freilebender Tiere und Pflanzen,
CITES, für die Fangsaison 2011/2012 und gegebenenfalls für
die nachfolgenden Fangsaisons gefasst, und welche Position
hat Deutschland in diesem Gremium diesbezüglich vertreten?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Ur
Liebe Kollegin Behm, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Bei ihrem 57. Treffen im vergangenen Oktober hat
die Wissenschaftliche Prüfgruppe bezüglich des europäi-
schen Aals eine negative Stellungnahme für den Export
des Aals aus der EU abgegeben. Sie hat beschlossen,
diese Entscheidung Ende 2012 für die Fangsaison 2012/
2013 zu überprüfen. Das Protokoll dieses Treffens kön-
nen Sie im Übrigen auch im Internet abrufen. Die Ent-
scheidung ist in der Wissenschaftlichen Prüfgruppe ein-
stimmig erfolgt. Sie steht im Einklang mit den
Empfehlungen des Internationalen Rates für Meeresfor-
schung. Infolge dieser Entscheidung auf europäischer
Ebene ist eine Nullquote für den Export festgesetzt wor-
den, die das CITES-Sekretariat veröffentlicht hat.
Sie haben eine Nachfrage, Frau Kollegin Behm?
Ich bin von dieser Antwort so positiv erschüttert, dass
ich keine Nachfrage habe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es würde uns in
zeitliche Schwierigkeiten bringen, wenn ich noch wei-
tere Fragen aufrufen würde. Ich schlage also vor, dass
wir die Fragestunde jetzt beenden. Die Aktuelle Stunde,
die sich aus Frage 16 entwickelt hat, rufe ich gegen
16 Uhr auf. Bis dahin unterbreche ich die Sitzung.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir setzen unsere
Sitzung fort.
Ich rufe Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE gemäß
Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT
zu den Antworten der Bundesregierung auf
die Fragen 15 und 16 auf Drucksache 17/9351
Dabei geht es um das Betreuungsgeld.
Erste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Diana Golze.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr ge-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Es gab in den letztenWochen und Monaten zahlreiche Vorschläge, mit denendie Regierung versucht hat, das Betreuungsgeld in ihreneigenen Reihen durchzusetzen und es den eigenen Kolle-ginnen und Kollegen schmackhaft zu machen. Es wardie Rede von einer Koppelung an Vorsorgeuntersuchun-gen beim Kinderarzt und von höheren Rentenleistungenfür Eltern, deren Kinder vor 1992 geboren worden sind.
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20568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Diana Golze
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Gestern und heute haben wir erfahren, dass unsereBefürchtungen, dass das Betreuungsgeld auf Hartz IVangerechnet werden soll, anscheinend zu Recht bestan-den und dass das in die Realität umgesetzt werden soll.Das ist für mich die Fortsetzung einer Politik der kaltenHerzen und der sozialen Kälte gegenüber Menschen, dievon Hartz-IV-Leistungen leben müssen. Hier setzt sichetwas fort, das mit der Anrechnung des Kindergeldesund des Mindestelterngeldes begann. Nun soll das auchnoch beim Betreuungsgeld stattfinden. Das heißt, werschon etwas hat, bekommt mit dem Betreuungsgeld et-was obendrauf; wer nichts hat, bekommt gar nichts. Imschlimmsten Falle bekommt er auch keinen Kitaplatz;denn davon werden wir auch 2013 immer noch nicht ge-nügend haben.
Das ist ein Skandal, der sich, wie gesagt, hier fortsetzt –eine Politik der kalten Herzen, die wir hier schon des Öf-teren kritisiert haben. Dem kann doch dieser Bundestagnicht einfach so zustimmen. Man kann da doch nichteinfach so weitermachen, als wäre das das Normalste derWelt.
Auch heute wieder wurde bei der Begründung, wa-rum man es auf Hartz IV anrechnen möchte, nicht nurbürokratisch argumentiert, sondern es wurde gesagt: Esist ja die Anerkennung der Erziehungsleistung. – Daskann doch nicht Ihr Ernst sein. Sie können doch nicht sa-gen, dass Eltern, die ihre Kinder in eine öffentliche Kin-dertagesbetreuung geben, keine Erziehungsleistung er-bringen. Das können Sie doch nicht wirklich glauben.Das können Sie doch den Menschen draußen nicht erklä-ren.
So ist es auch kein Wunder, dass 60 Prozent der Bevöl-kerung dieses Betreuungsgeld ablehnen. Die Zahlen mö-gen in Bayern anders sein; das glaube ich gerne. Daskommt auch dadurch zum Ausdruck, dass heute in derAktuellen Stunde – wenn ich das richtig überschaut habe –für die Unionsfraktion nur Rednerinnen und Redner derCSU sprechen werden.
Ich weiß nicht, welche Meinung die CDU dazu vertritt.Das können Sie uns ja noch übermitteln. Aber es kanndoch nicht sein, dass Sie so tun, als wenn eine Erzie-hungsleistung nur von den Eltern erbracht wird, die ihreKinder nicht in eine öffentliche Kita bringen. Das Geldsollen ja auch Eltern bekommen, die zum Beispiel eineprivate Nanny oder die Großmutter engagieren.
„Betreuungsgeld“ heißt doch nicht, dass sie das wirklichselbst tun. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.Was ist zum Beispiel mit Aufstockern? Haben Sie,wenn Sie das anrechnen wollen, schon einmal darübernachgedacht, was mit Leuten ist, die arbeiten gehen undihre Kinder von den Großeltern betreuen lassen? Dienehmen auch keinen Kitaplatz in Anspruch. Auch sie er-bringen Erziehungsleistungen, so wie Sie sie verstehen.Trotzdem sollen sie das Betreuungsgeld nicht bekom-men, weil sie aufstockende Sozialleistungen nachHartz IV in Anspruch nehmen. Das, was Sie da machen,ist doch völlig unlogisch.
Diesbezügliche Fragen konnte der Staatssekretär in derFragestunde leider nicht beantworten.Nach meiner Auffassung ist ein solches Vorgehenauch nicht mit der Verfassung zu vereinbaren. Dort steht,dass Ehe und Familie unter dem Schutz des Staates ste-hen. Dort steht nicht: Die Einverdienerehe steht unterdem Schutz des Staates.
In den Zeitungen stand, dass die Kanzlerin hierzu einMachtwort spricht.
Ich würde mir bezogen auf andere Vorhaben, die im Ko-alitionsvertrag stehen, ein Machtwort wünschen – ichhabe auch danach in der Fragestunde gefragt, aber auchauf diese Fragen keine Antwort bekommen –: Wie stehtes denn um die Verbesserungen beim Unterhaltsvor-schussgesetz? Dieses Vorhaben liegt auf Eis. Wie stehtes um die Ausweitung des Elterngeldes? Auch das liegtauf Eis. Es gibt dazu keinen Vorschlag. Wie steht es umdie Unterstützung für Alleinerziehende, also derjenigen,die am meisten von Armut bedroht sind? 43 Prozent derKinder von Alleinerziehenden sind von Armut bedroht.Wenigstens das hat der Staatssekretär in der Befragunggewusst. Zu diesen Vorhaben würde ich mir ein Macht-wort der Kanzlerin wünschen und nicht ausgerechnet zudiesem unsinnigen Betreuungsgeld.
Zu alledem hört man von der zuständigen Ministerinleider nichts. Haben Sie in den letzten Tagen mal irgend-etwas von ihr gelesen? Haben Sie irgendwas gehört?
In der heutigen Fragestunde war nur der Staatssekretäranwesend. Frau Ministerin, ich freue mich sehr, dass Siean dieser Aktuellen Stunde teilnehmen. Zu diesemThema war von Ihnen in den vergangenen Wochennichts zu hören. Dabei ist es doch Ihr Haus, das diesenGesetzentwurf erarbeiten soll. Es ist ebenfalls Ihr Haus,das auch die anderen Vorhaben, die im Koalitionsvertragstehen – ich habe sie genannt –, umsetzen soll. Ichwünschte mir dazu wirklich einmal eine öffentliche Mei-nungsäußerung der Ministerin. Diese haben wir bishernicht gehört.
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Diana Golze
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Ich habe gerade eben, vor wenigen Minuten, den Vor-sitz der Kinderkommission des Deutschen Bundestagesübernommen.
– Danke schön. – Der erste Schwerpunkt unter meinemVorsitz wird sein, dass wir uns mit der sozialen Lage vonKindern und Jugendlichen beschäftigen.
– Herr Straubinger, hören Sie mir zu! Sie können nichtzuhören, wenn Sie gleichzeitig reden.
Dieses Betreuungsgeld wird die soziale Lage vonKindern und Jugendlichen nicht verbessern. Ich werde inder Kinderkommission mit meinen Kolleginnen undKollegen dafür sorgen, dass hier Vorschläge auf denTisch kommen, die genau das leisten, was das Betreu-ungsgeld nicht leistet.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Golze. – Nächster Redner
– er steht schon da – ist der Kollege Markus Grübel für
die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-nächst, Frau Golze: Ich bin nicht Mitglied der CSU, ob-wohl mir das eine Ehre wäre.
Ich bin kein Bayer
und daher Mitglied der CDU.Es ist gut, wenn wir in dieser aufgeheizten Stimmungund in der Diskussion zunächst einmal die Fakten sam-meln: Wir haben in § 16 Abs. 5 SGB VIII geregelt:Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kindervon ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen be-treuen lassen wollen oder können, eine monatlicheZahlung eingeführtwerden.
Das haben wir damals in der Koalition von CDU/CSUund SPD beschlossen. Damals war das nicht verfas-sungswidrig;
damals war das kein Teufelswerk.
Es war mit Sicherheit ein Kompromiss.
Wir haben damals das Fundament für das Betreuungs-geld gemeinsam gelegt.Mit der FDP gab es dann eine Vereinbarung im Koali-tionsvertrag. Im November letzten Jahres wurde im Ko-alitionsausschuss die Vereinbarung getroffen:Wir werden Familien weiter stärken und die Wahl-freiheit für unterschiedliche Lebensmodelle weiterverbessern. Die Koalition wird deshalb ab dem Jahr2013 als zusätzliche Anerkennungs- und Unterstüt-zungsleistung ein Betreuungsgeld in Höhe von zu-nächst 100 Euro für das 2. und ab 2014 in Höhe von150 Euro für das 2. und 3. Lebensjahr des Kindeseinführen.Zweck ist, dass die Würdigung der Leistung der El-tern bei der Kinderbetreuung stärker als bisher zum Aus-druck gebracht wird. Ferner verfolgen wir mit der ge-planten Einführung des Betreuungsgeldes das Ziel, denEltern faktisch mehr Wahlfreiheit hinsichtlich der Artder Kinderbetreuung zu lassen. Zur Wahlfreiheit: Wirunterstützen den Ausbau der Kinderbetreuung – auchdas haben wir gemeinsam beschlossen –, der U-3-Be-treuung bis 2013 mit 4 Milliarden Euro. Die Vorgänger-regierung hat diesbezüglich mit dem Tagesbetreuungs-ausbaugesetz auch schon etwas gemacht. Damals warendie Geldflüsse für die Kommunen aber nicht so spürbar.Wir unterstützen die Länder und Kommunen bei derSchaffung von mehr Betreuungsplätzen und ermögli-chen so mehr Wahlfreiheit. Ab 2014 fördern wir dieBetreuung von Kindern unter drei Jahren jährlich mit770 Millionen Euro; die Betriebskosten werden dannzum Teil vom Bund getragen.Wir anerkennen aber auch die größere Erziehungs-leistung der Eltern, die ihr Kind ohne Hilfe einer öffent-lichen Betreuungseinrichtung erziehen.
Warum dies so verteufelt wird, ist mir völlig schleier-haft.
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Markus Grübel
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In der Großen Koalition hat die SPD das im Grundenoch mitgetragen.
Über die vorgenannten Vereinbarungen der Koalition hi-naus ist die Ausgestaltung noch gar nicht festgelegt. Eswundert mich, dass die Opposition im Detail weiß, wel-che Passage des Gesetzentwurfs verfassungswidrig seinsoll, welche im Bundesrat zustimmungspflichtig istetc. pp.; denn es gibt noch keinen Gesetzentwurf.Uns ist es ein Anliegen – ich glaube, da haben wirweitgehend Übereinstimmung –, Fehlanreize zu vermei-den und Kinder bestmöglich zu fördern.
Das geplante Betreuungsgeld baut auf den Maßnahmen,die wir schon eingeleitet haben, auf. Ich nenne hier denAusbau der U-3-Betreuung,
die Einführung des Elterngelds und die Erhöhung desKindergelds und des Kinderfreibetrags zu Beginn dieserWahlperiode.Ich fasse zusammen: Das Betreuungsgeld ist ein wei-terer Baustein für mehr Wahlfreiheit und stellt eine bes-sere Anerkennung der Erziehungsleistung der Eltern dar.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Grübel. – Nächste Rednerin in
unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozial-
demokraten unsere Kollegin Dagmar Ziegler. Bitte
schön, Frau Kollegin Ziegler.
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Herr Grübel, zunächst ein-mal: Sie werden es nicht schaffen, die Geschichte zuverändern. Dafür sind andere Parteien zuständig. Diehistorische Wahrheit ist, dass die SPD schon immer ge-gen dieses Betreuungsgeld war.
Das war Punkt eins.Punkt zwei. Hätten wir es damals gemeinsam mit Ih-nen einführen wollen, hätten wir dies getan. Es gab einenRiesenstreit, und Frau von der Leyen ist schon damalsgegenüber der CSU eingeknickt;
denn auch sie wollte es nicht. Sie hat es als bildungspoli-tisch falsch bezeichnet, dieses Geld einzuführen. Des-halb ist es ohne rechtsverbindliche Wirkung in dasSGB VIII aufgenommen worden.
Also bitte: Bleiben Sie bei der Wahrheit! Wenn Sie dastäten, müssten wir uns heute hier nicht so streiten.Es gab damals eine Verbindung mit dem Ausbau derU-3-Betreuung. Auch das wissen Sie. Uns war der Aus-bau der Betreuung der Kinder unter drei Jahren so wich-tig, dass wir gesagt haben: Dann lassen wir das Betreu-ungsgeld als Klammerzusatz zu; denn mit uns wird esnie umgesetzt werden. Das war der Ausgangspunkt.Nun zum Inhalt unserer heutigen Debatte. Sie sagen,dass es nicht mehr um das Ob geht, sondern nur noch umdas Wie. Niemand von Ihnen – das Ministerium nicht,die Abgeordneten nicht – kann Aussagen dazu treffen,wie dieses Wie aussehen soll. Sobald es kritisch wird,sagen Sie: Es liegt ja noch nichts vor. Ich kann nur sa-gen: Sie haben keinen Plan, keine Idee. Sie haben nichtsaußer Worthülsen, die da heißen: Wir wollen die Leis-tungen der Eltern anerkennen.Gleichzeitig sagen Sie, wenn wir argumentieren, dasses eine Herdprämie ist: Nein, auch die berufstätigen El-tern bekommen dieses Geld. Herr Geis erzählt uns, diefrühkindliche Bindung zwischen Kindern und Elternsolle dadurch gestärkt werden. Nein, das stimmt nicht,denn auch Supernanny, Oma, Opa, Onkel oder sonst werbekommen dieses Geld.
Sie betreiben hier Augenwischerei. Es geht Ihnen ebennicht um die Werte und Inhalte, die Sie vor sich hertra-gen, sondern es geht Ihnen wieder lediglich um Klientel-politik, die Sie schon von Anbeginn dieser Legislaturpe-riode durchhalten.
– Nein, die Supernanny gehört nicht zur Familie. Erzäh-len Sie nicht immer solchen Unsinn! Wenn Sie von je-mandem von außen eine Leistung einkaufen, zählt diesePerson nicht zur Familie.
Die Wahlfreiheit, die Sie immer so hochhalten, ist erstdann gegeben – das hat heute sogar die Ministerin in ei-nem Interview bestätigt –, wenn es sowohl einen Kita-platz als auch die Möglichkeit, zu Hause zu bleiben,gibt. 2013 – wir wünschen uns das nicht, aber es wirdwahrscheinlich so eintreten – werden wahrscheinlichnicht ausreichend Kitaplätze zur Verfügung stehen. Esgibt also keine Wahlfreiheit der Eltern. Das ist wiedernur Augenwischerei. Sie bedienen damit die Eltern, da-mit sie ruhig sind und gar nicht erst einen Kitaplatz be-antragen. Heute sagte der Staatssekretär, dass er auf dieFrage, wie der Nachweis, dass Eltern gar nicht gewillt
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Dagmar Ziegler
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sind, einen Kitaplatz in Anspruch zu nehmen, erbrachtwerden soll und ob sie Schreiben von 50 Kitas vorlegenmüssten, in denen steht: „Wir haben leider keinen Platzfür Sie“, keine Antwort geben kann. Keiner weiß, wiedieser Nachweis überhaupt erfolgen soll. Also: Die El-tern werden einfach pauschal sagen können: „Wir wol-len keinen Kitaplatz“ und das Betreuungsgeld bekom-men, auch wenn im Ort gar kein Kitaplatz zur Verfügungstünde.
Das ist Betrug; das ist Wahlbetrug, meine sehr verehrtenDamen und Herren.
Auch Frau Schavan sagt: „Das wurde nun einmal ver-einbart; das müssen wir wohl machen“, in der Hoffnung,dass ihr Ansatz, frühkindliche Bildung gerade für Kin-der, die aus bildungsfernen Schichten kommen, zu ge-währleisten, tatsächlich wirkt. Auch sie versteckt sichhinter der Aussage: Das steht halt im Koalitionsvertrag. –Wir könnten Ihnen reihenweise Vorhaben aufzählen, diein Ihrem Koalitionsvertrag stehen, aber nicht umgesetztwerden. Aber diesen Schwachsinn machen Sie!
Was Sie sich mit den ALG-II-Beziehern erlauben, isteine Frechheit sondergleichen.
Herr Geis sagte in einer der letzten Plenardebatten: Auchdie arbeitslosen Eltern werden selbstverständlich für ihreErziehungsleistung honoriert und selbstverständlich dasBetreuungsgeld bekommen. – Davon ist ab heute offen-sichtlich nicht mehr die Rede.
Offensichtlich sind sie Eltern zweiter Klasse. Offensicht-lich sind sie Eltern, deren Erziehungsarbeit nichts wertist.
Wo leben wir eigentlich, wenn in dieser Republik nurnoch Spaltung betrieben wird, anstatt gemeinsam daranzu arbeiten, dass Kinder, egal ob sie zu Hause erzogenoder in eine Kita gegeben werden, gleiche Chancen aufBildung und Teilhabe bekommen? Wir diskriminierennicht die Eltern, die zu Hause bleiben.
– Nein, das tun wir nicht.
Wir wollen echte Wahlfreiheit und keinen Betrug. Siesind die Betrüger der Nation; das muss man deutlich sa-gen.
Frau Ministerin, ich freue mich, dass Sie der heutigenDebatte beiwohnen. Ihnen wird ja nachgesagt, Sie seienkeine Verfechterin des Betreuungsgeldes. Sie sagtenheute, wenn Sie richtig zitiert worden sind, dass Sie dieBetreuung in Kitas über das Betreuungsgeld stellen.Dann tun Sie es endlich! Tun Sie etwas, woran manmerkt, dass Sie eine Ministerin sind und nicht nur eineFrau, die zufällig auf diesem Platz sitzt! Tun Sie bittemal was!
Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der FDP unsere Kollegin Miriam Gruß.
Bitte schön, Kollegin Miriam Gruß.
Danke schön. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! In der Tat sind in denletzten Wochen und Monaten viele öffentliche Äußerun-gen zum Betreuungsgeld gefallen. An dieser Stelle willich betonen: Mir bzw. uns liegt bisher kein Entwurf vor.Das heißt, wir reden bisher eigentlich nur über heißeLuft bzw. über Vorschläge, die von einzelnen Kollegenund Kolleginnen verlautbart wurden.
Ich will zu zwei Punkten, die ganz aktuell vorgeschla-gen wurden, etwas sagen. Zunächst zur Hartz-IV-An-rechnung, um die es in dieser Aktuellen Stunde haupt-sächlich geht: Ja, beim Elterngeld ist es so gemachtworden. Das heißt aber nicht, dass es beim Betreuungs-geld zwangsläufig auch so gemacht werden muss. Aber:Auch das ist bisher noch heiße Luft. Es liegt nichts, aberauch gar nichts Konkretes vor.
Von daher brauchen wir heute nicht darüber zu diskutie-ren.
Zu den Rentenerhöhungen.
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Ja, auch wir als FDP-Bundestagsfraktion sind dafür, Er-ziehungsleistungen bei der Rente besser anzuerkennen.Allerdings muss eine generationengerechte Familien-politik auch im Blick haben, dass wir keine Schulden-berge anhäufen dürfen, die wir der nächsten Generationaufbürden. Von daher müssen wir sehr darauf achten,was es kostet. Wir sind der Meinung – heute sind die ak-tuellen Zahlen bekannt gegeben worden –, dass geradeDeutschland gut daran tut, auf die Schulden zu achten.Wir dürfen nicht das Ziel aus den Augen verlieren, dieSchulden abzubauen. Hier sollten wir europaweit Vor-bild sein. Alle anderen Staaten um uns herum – dasmerkt man ja – fallen um. Deutschland muss Vorbildsein. Schuldenabbau ist ganz klar unser erklärtes Ziel.
Meine Damen und Herren, Sie alle wissen: Das Be-treuungsgeld war nie der Wunsch der FDP-Fraktion.Herr Brüderle hat für die FDP-Fraktion auch in letzterZeit des Öfteren öffentlich erklärt, dass wir uns ver-tragstreu verhalten werden. Allerdings nehmen auch wirwahr, dass es innerhalb der Union noch Diskussionsbe-darf gibt. Es muss ein Gesetzentwurf vorgelegt werden.
Dann können wir gerne wieder über dieses Thema disku-tieren, auch hier im Plenum.Vielen Dank.
Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen: unsere Kollegin Katja Dörner. Bitte schön, Frau
Kollegin Dörner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Das Betreuungsgeld ist eine unsinnigeund absurde Maßnahme. Ich möchte erst gar nicht in dieSituation kommen, dass ich mich über die Spitzen derAbsurditäten unterhalten muss, wie wir das jetzt offen-sichtlich aber doch tun müssen, weil die Familien, die esin diesem Land am schwersten haben, nämlich die, dieim ALG-II-Bezug leben, vom Bezug des Betreuungsgel-des ausgeschlossen werden sollen. Das ist für uns über-haupt nicht akzeptabel. Ich möchte mich darüber unter-halten, wie wir dieses unsinnige Betreuungsgeld ausdem Gesetz wieder gestrichen bekommen.
Wir müssen erleben, dass die Bundesregierung ihreunsoziale Politik auf dem Rücken und zulasten der Fa-milien weiter fortsetzt: Erst wird die Erhöhung des El-terngeldes auf Hartz IV angerechnet, dann wird der So-ckelbetrag beim Bezug des Elterngeldes gestrichen, undjetzt steht im Raum, dass auch das Betreuungsgeld nichtan Familien im ALG-II-Bezug ausgezahlt werden soll.Diese Politik zulasten der Familien muss ein Ende ha-ben.
Wer dieses unsinnige Betreuungsgeld immer damitbegründet, es solle Wahlfreiheit geben und man wolledie Erziehungsleistung der Eltern anerkennen,
der sagt mit dem heute vorliegenden Vorschlag, dass El-tern im ALG-II-Bezug kein Recht darauf haben,
dass ihre Erziehungsleistung gewürdigt wird. Ich findees ungeheuerlich, dass ein derartiger Vorschlag über-haupt zur Diskussion gestellt wird.
Damit stellt sich die Bundesregierung ein absolutes Ar-mutszeugnis aus, und sie begibt sich damit – davon binich überzeugt – rein rechtlich und juristisch auf ganzdünnes Eis.
Vor einem Monat haben zehn Kolleginnen und Kolle-gen der Koalitionsfraktionen hier in namentlicher Ab-stimmung ein ganz klares Zeichen dafür gesetzt, dass sievom Betreuungsgeld nichts halten. Kurz darauf haben23 Unionsabgeordnete klargemacht, dass sie der Kanzle-rin beim Betreuungsgeld die Gefolgschaft verweigernwerden. Das Betreuungsgeld hat in diesem Parlamentkeine Mehrheit, und dabei muss es bleiben!
Wir erleben aktuell aber einen unwürdigen Kuhhan-del. Im Gegenzug zur Zustimmung zum Betreuungsgeldsoll es eine Rentenerhöhung für Mütter geben, derenKinder vor 1992 geboren wurden. Es stimmt: Bei derStichtagsregelung gibt es ein Gerechtigkeitsproblem.Aber wer, wie Herr Kauder, einen derartigen Vorschlagin den Raum stellt, der muss auch sagen, wer es bezah-len soll.
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Katja Dörner
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Und vor allem: Das Betreuungsgeld als solches wird da-mit keinen Deut besser.Für uns ist ganz klar: Es darf keinen billigen Kuhhan-del zulasten der Familien in diesem Land geben. Das Be-treuungsgeld darf erst gar nicht Realität werden.
Wir Grüne werden alles dafür tun, damit das Betreu-ungsgeld nicht kommt – bis hin zu einer Verfassungs-klage. Ich freue mich, dass wir die SPD hier an unsererSeite haben.An dieser Stelle will ich aber auch sagen: Es wärenoch schöner gewesen, wenn die SPD ihre weitreichen-den Bedenken, die sie jetzt hat, schon 2007 klar geäußertund dieses Betreuungsgeld erst gar nicht ins Gesetz ge-schrieben hätte.
– Nein.
Wenn man es erst gar nicht ins Gesetz geschrieben hätte,dann wäre uns allen hier eventuell sehr viel Aufregungerspart geblieben
und dann müssten wir in unserem Land nicht über eineMaßnahme diskutieren, über die Frau Ministerin von derLeyen völlig zu Recht gesagt hat, dass sie eine bildungs-und gleichstellungspolitische Katastrophe wäre.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU
Kollegin Daniela Ludwig. Bitte schön, Frau Kollegin
Ludwig.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ichzitiere für jeden zum Mitschreiben noch einmal§ 16 Abs. 5 SGB VIII.
Es wird geregelt – Zitat –:Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kindervon ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen be-treuen lassen wollen oder können, eine monatlicheZahlung eingeführtwerden.
Das wurde 2008 in der Großen Koalition mit Ihnen be-schlossen.Ich darf noch jemanden zitieren. Sie dürfen raten,wen ich zitiere, liebe Frau Ziegler. Er hat gesagt:Ich freue mich, dass wir gemeinsam diesen ver-nünftigen Kompromiss gefunden haben.Das sagte Herr Steinbrück.
Glückwunsch! – Wissen Sie, Frau Ziegler, wenn Sie sichheute hier hinstellen und versuchen, sich nach demMotto vom Acker zu machen: „Wir haben etwas in derHoffnung beschlossen, dass es nicht kommt“, dann mussich Ihnen sagen: Mehr Peinlichkeit geht fast nicht!
– Das ist immer bitter. Das ist nicht nur peinlich, sonderndas offenbart – das möchte ich schon sagen – ein interes-santes parlamentarisches Verständnis.
Es ist halt so: Wenn in einer Großen Koalition einvernünftiger Kompromiss gefunden wird, dann mussman sich daran halten und sich daran messen lassen. Dasist bitter. Die meisten von Ihnen, die damals die Handgehoben haben, sind auch heute noch dabei. Ich weiß,dass Ihnen das extrem wehtut. Da müssen Sie jetztdurch, auch wenn Ihnen das schlaflose Nächte bereitet.So ist das halt.
Nun das Ganze von Anfang an. Sie haben gesagt: Wirmüssen uns jetzt über das Betreuungsgeld unterhalten.
Diese Aktuelle Stunde hat die Linke beantragt. – Ichsehe, Frau Golze ist jetzt weggegangen.
– Okay, zur Kinderkommission. Das ist halt ihre Art derPrioritätensetzung.
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Daniela Ludwig
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– Ich habe zwei Kinder. Diese haben für mich denhöchsten Rang. – Ihr schlechter Stil, über Familienpoli-tik zu debattieren, trägt unter anderem dazu bei, dasssich immer mehr Familien, die sich dafür entscheiden,ihre Kleinstkinder bei sich zu Hause zu betreuen, sorichtig veräppelt vorkommen. Das möchte ich an dieserStelle einmal ganz deutlich sagen.
Noch etwas. Das Betreuungsgeld bekommt nicht ir-gendwer, sondern zunächst einmal die Familien, im Üb-rigen – hallo! – genauso wie das Kindergeld. Wenn jetztwieder einer kommt und aus Misstrauen gegen be-stimmte Familien sagt: „Das wollen wir so nicht“, dannsage ich: Die große Mehrheit der Familien macht sichständig Gedanken darüber, wie sie ihre Kinder am bestenbetreuen lässt, sei es in der Krippe, sei es durch eine Ta-gesmutter, sei es durch die Großeltern oder sei es viel-leicht sogar durch die Eltern selber. Wahnsinn! Wer hättesich vorstellen können, dass unter dreijährige Kinderauch von der Mutter oder vom Vater betreut werden?Scheren Sie diese Familien bitte nicht ständig mit denje-nigen ganz wenigen Familien über einen Kamm, bei de-nen es einfach nicht so gut klappt. Um die kümmern wiruns. Liebe Frau Ministerin, vielen Dank für das Kinder-schutzgesetz. Ein erster Schritt in die richtige Richtung!Da haben wir bewiesen, dass wir Familienpolitik kön-nen!
Deswegen stehen wir selbstverständlich – auch wir ha-ben diesen „vernünftigen Kompromiss“, Zitat Steinbrück,und die entsprechenden Regelungen im Sozialgesetzbuchgerne mitgetragen – zum Ausbau der Krippenbetreuung.Darüber gibt es nirgends eine Debatte. Wir sagen aberauch: Wo ist das Problem? Wenn Kindererziehung aus gu-ten Gründen in irgendeiner Familie anders organisiertwird, sei es durch eine zeitweise Aufgabe der Erwerbstä-tigkeit, sei es dadurch, dass ich eine andere Person, die fürmich die Lieblingsperson ist und von der ich gerne meinKind betreut haben möchte, damit beauftrage, währendich meiner Arbeit nachgehe: Wo ist da Ihr Problem?Ein Wort zu den sogenannten Migrationsfamilien undden einkommensschwachen und bildungsfernen Fami-lien, die Sie immer anführen.
Wissen Sie was? Die Fähigkeit, einem unter dreijährigenKind Liebe und Zuwendung zu geben, hängt nicht davonab, ob ich einen Hochschulabschluss habe, hängt auchnicht davon ab, woher ich komme, hängt auch nicht da-von ab, ob ich viel Geld oder eher weniger Geld habe.
Das kann jeder, wenn er will.
Hören Sie einfach auf, hier ständig Klischees zu be-dienen! Wir stehen für Wahlfreiheit. Deswegen wird dasBetreuungsgeld kommen.Vielen Dank.
Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau
Caren Marks. Bitte schön, Frau Kollegin Marks.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu-erst einmal ist auffällig, dass von den Rednerinnen undRednern der Unionsfraktion ausschließlich die mit ei-nem sehr konservativen Familienbild sprechen. Politike-rinnen und Politiker der Union mit einer modernen undzeitgemäßen Familienpolitik kommen bei Ihnen in die-sen Debatten nicht zu Wort.
Modernität hat nichts mit Jahren zu tun, wie man ebenbei Frau Ludwig in ihrem unterirdischen Auftreten hörenund auch sehen konnte.
Ich frage mich, Frau Ludwig, ob Ihre Rede, die mich inder Performance ein bisschen an Miss Rumpelstilzchenerinnert hat, insbesondere an die vehementen Kritikerin-nen und Kritiker in Ihren eigenen Reihen gerichtet war.Ich würde gern die Diskussion zwischen Ihnen und FrauPawelski, zwischen Ihnen und Frau von der Leyen oderzwischen Ihnen und beispielsweise Herrn Schlarmann,dem Chef der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung hören.Wir können ganz aktuell bei Spiegel Online lesen, dassHerr Schlarmann trotz eines Machtwortes von KanzlerinMerkel das Betreuungsgeld in der Bild-Zeitung – SpiegelOnline bezieht sich darauf – klar und deutlich als „völligfalschen Ansatz“ bezeichnet. Deutschland brauche, so IhrCDU/CSU-Mittelstandschef Herr Schlarmann, „ein breitangelegtes Betreuungsangebot, damit jede Frau entschei-den kann, ob sie ihr Kind selbst betreut oder in die Kitagibt“. Recht hat er, Ihr Parteikollege.
Zugleich möchte ich, weil es sehr deutlich macht,welches Chaos in Ihren eigenen Reihen herrscht, weiterHerrn Schlarmann zitieren. Er wies nämlich auch denVorschlag von Unionsfraktionschef Kauder zurück, Müt-tern von Kindern, die vor 1992 geboren wurden, höhereRentenansprüche einzuräumen, indem er sagte:
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20575
Caren Marks
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Ein politisches Problem dadurch zu lösen, dass manauf eine umstrittene Sozialleistung eine weiteredraufsattelt, ist schon aus haushaltspolitischenGründen nicht zu verantworten.Eine unsinnige Leistung wird nicht dadurch besser, dassman eine Leistung, die jedenfalls nicht gegenfinanziertist, oben draufsattelt.
Ich denke, das wird an dieser Stelle ganz klar.Völlig zu Recht titelte gestern die nicht gerade links-lastige Financial Times Deutschland zum Betreuungs-geld: „Kauderwelsch“. Alle Oppositionsfraktionen hät-ten, glaube ich, den Artikel in der Financial TimesDeutschland sofort unterschrieben.Sie haben sich mit dem Betreuungsgeld mehr alsverrannt, meine Damen und Herren von der Regierungs-koalition. Die Ausgestaltung ist unklar. Die Verfassungs-fragen sind nicht geklärt. Die Finanzierung ist völlig ne-bulös und unsolide. Das wurde auch vorhin bei denFragen an Herrn Staatssekretär Kues deutlich.Es zeichnet sich ab: Es ist einzig und allein die CSU,die das Betreuungsgeld als eine Gegenleistung für denKitaausbau weiter erpresst.
Nichts anderes war es auch damals in der Großen Koali-tion. Leider ist Frau von der Leyen der CSU auf denLeim gegangen.Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer will das Betreu-ungsgeld als Wahlkampfgeschenk für Bayern umsetzen.Es geht ihm um nichts anderes.
Ich denke, das ist auch mehrfach in öffentlichen Äuße-rungen von Herrn Seehofer sehr deutlich geworden.
Jeden Tag gibt es bei Ihnen einen neuen Konfliktbeim Betreuungsgeld. Jeden Tag treiben Sie, so sagt manbei uns in Niedersachsen, eine neue Sau durchs Dorf. Esgibt neue Konflikte. Die Fragen, die alle anderen, selbstin den eigenen Reihen, stellen, bleiben unbeantwortet.Finanzielle Verantwortung liegt Ihnen fern.Jetzt komme ich zu dem Punkt, der heute schon ange-sprochen wurde, nämlich dass es kein Betreuungsgeldfür Familien mit Hartz-IV-Bezug geben soll.
Ich möchte Sie gerne auf ein Schreiben aufmerksam ma-chen, das am 17. Dezember 2010 vom Ministerium fürArbeit und Soziales an das Thüringer Sozialministeriumging. In diesem Schreiben des Bundesarbeitsministeri-ums an das thüringische Sozialministerium heißt es, dasBetreuungsgeld könne nicht auf Hartz-IV-Leistungenangerechnet werden. Auch das ist heute in mehrerenPresseberichten nachzulesen. Da Sie immer sagen, dieAusgestaltung soll sich am thüringischen Landesbetreu-ungsgeld orientieren, frage ich mich, wie Sie jetzt zu die-sem Sinneswandel kommen.Fakt ist: Das Betreuungsgeld ist und bleibt widersin-nig. Absurd ist schon alleine, Bürgerinnen und Bürgernfür eine staatliche Leistung, die nicht in Anspruch ge-nommen wird, Geld zu geben.
Denn Sie könnten auch sagen: Es gibt eine Kompensa-tion für die Menschen – hier könnte man ebenfalls dasArgument der Wahlfreiheit anführen –, die keine Büche-rei nutzen und nicht ins Theater gehen, weil sie sichBücher kaufen und – genauso wie Sie täglich in derUnion – selbst Theater machen. Ich sage Ihnen: LegenSie Ihren Streit bei! Es lohnt sich nicht, um dieses unsin-nige Betreuungsgeld zu streiten. Kinder und Familienwarten auf den Kitaausbau. Nur wenn wir eine ausrei-chende Zahl an Kitaplätze haben, haben wir Wahlfreiheitin unserem Land. Dann können auch Sie zu Recht vonWahlfreiheit reden, meine Damen und Herren von derRegierungskoalition.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist für die Fraktion der FDP unsere
Kollegin Sibylle Laurischk. Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist schon eine reichlich absurde Debatte, dievon der Fraktion der Linken angestoßen wurde. AlsErste verabschiedet sich aus dem Kreis der Kollegen dieHauptrednerin der Linken.
Also scheint das Ganze doch nicht so wichtig zu sein.Man muss richtig planen und wissen, was man tut. Dasweiß die Linke offensichtlich nicht.
Das zeigt, worüber wir reden, nämlich über ungelegteEier, nichts anderes.
Es gibt keinen Gesetzentwurf, sondern lediglich eineversuchte Inszenierung der Opposition.
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20576 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Sibylle Laurischk
(C)
(B)
Diese ist gründlich danebengegangen.
Die SPD hat zu Zeiten der Großen Koalition das Betreu-ungsgeld offensichtlich mitgetragen.
Dass sie jetzt versucht, mit dem Hinweis auf Hartz IVdavon abzulenken, zeigt doch, wie absurd diese Debatteist.
Ich kann dazu nur sagen: Große Koalitionen neigen of-fensichtlich zum Ausgeben von Geld, das ihnen noch garnicht zur Verfügung steht. So muss ich das heutige Auf-treten der SPD wohl verstehen.
Die Position der FDP ist wohlüberlegt. Wir weisenimmer darauf hin, dass wir vertragstreu sind
und dass die Ausgestaltung und die gesetzliche Realisie-rung des Betreuungsgeldes, dessen Einführung im Ko-alitionsvertrag steht, davon abhängen, ob die Finanzie-rung gesichert ist.
Die Finanzierung ist nach meinem Kenntnisstand bishernoch nicht geklärt. Die FDP ist in diesen Dingen genau.Wir wollen einen klaren, sauber aufgestellten Haushalt.Wir wollen keinen unsinnigen und völlig überzogenenVerschuldungshaushalt auf den Weg bringen. Wir habenin der Vergangenheit gezeigt, dass wir Haushaltsfragensehr ernst nehmen. Das ist meiner Ansicht nach ein we-sentlicher Punkt.Ich habe im Übrigen vor wenigen Tagen in einerDebatte über das Betreuungsgeld gesagt, dass ich per-sönlich es für verfassungsrechtlich problematisch halte.Es sind weiterhin Fragen zu klären.
Wir sollten daher nicht wie die Linke und die SPD ver-suchen, über ungelegte Eier zu sprechen, sondern unsdem Tagesgeschäft und den Fragen, die wir eigentlich zuklären haben, widmen.Ich danke.
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion Die Linke unser Kollege Matthias
Birkwald. Bitte schön, Herr Kollege.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Kollegin Laurischk, Ihr Einstieg in dieDebatte war unterirdisch.
Frau Golze ist die Vorsitzende der Kinderkommission;diese tagt jetzt. Wenn der Staatssekretär Kues vorhin an-ständig geantwortet hätte, dann gäbe es diese AktuelleStunde jetzt nicht. So sieht es aus.
Ihre Rede hat deutlich gemacht, dass Ihre Wertschätzungfür Kinder und die Belange der Kinderkommissiongleich null ist. Das spricht doch für sich.
Die Linke will, dass Lebensleistung anerkannt wird.Dazu gehört – darüber sind wir uns alle hier im Hausewohl einig – auch Arbeit in der Familie, also die Erzie-hung von Kindern und die Pflege von Angehörigen. Wirwollen aber auch, dass die Menschen ihren Lebenswegso weit wie möglich selbst gestalten können. Politik solldabei helfen. Sie soll ermöglichen und nicht verhindern.Sie soll Raum für freie Entscheidungen schaffen, stattdiese Räume immer weiter einzuschränken.
Beides ist wichtig: freie Lebenswege eröffnen undLebensleistung anerkennen. Deswegen halten wir dasBetreuungsgeld für falsch.
Das Betreuungsgeld ist so, wie es jetzt gedacht ist, eineBildungsfernhalteprämie für die Kinder und für vieleFrauen eine Herdprämie, nichts anderes. Das lehnen wirab.
Weil wir wollen, dass die Lebensleistung anerkanntwird, wollen wir auch, dass die Erziehungsleistung vonEltern, deren Kinder vor 1992 geboren worden sind, inder Rente genauso belohnt wird wie die der Eltern, derenKinder nach 1992 auf die Welt gekommen sind.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20577
Matthias W. Birkwald
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So ist es bisher: Die Rentenpunkte erhalten grund-sätzlich alle, die Kinder erzogen oder Angehörige ge-pflegt haben. Niemand wird einfach so, willkürlich aus-geschlossen. Hier wird so einfach wie gerecht Leistunganerkannt. Wenn nun endlich die unterschiedliche Be-wertung der Erziehungsarbeit beendet würde und alle El-tern unabhängig vom Geburtsjahr ihrer Kinder drei Ren-tenpunkte in den ersten drei Kinderjahren erhielten, dannwäre alles in Ordnung. Nebenbei bemerkt: Das fordertdie Linke schon seit 2007, und die PDS hat es vorherauch schon gefordert.
Leider haben einige Unionskollegen eine verquereLogik. In der taz war vorgestern unter der Überschrift„Mehr Rente für ein Ja zur Herdprämie“ zu lesen, dassHerr Kauder, immerhin der Fraktionsvorsitzende derUnion, mit seinem Vorschlag nicht im Traum an eineGleichbehandlung aller Eltern denkt. Die Rentenpunktefür vor 1992 geborene Kinder sollen – so war zu lesen,und es wurde nirgends dementiert – nur jene Eltern er-halten, die während der ersten drei Lebensjahre des Kin-des auf eine Erwerbstätigkeit verzichtet haben. Wer alsobeides versucht und geschafft hat, wer seine Kinder er-zogen hat und gleichzeitig ins Büro, in die Fabrik, aufsFeld oder in die Praxis arbeiten gegangen ist, soll leerausgehen. Das ist doch eine Arbeitsmarktfernhalte-prämie. Wenn das stimmt, wäre das ungeheuerlich undein immenser gesellschaftlicher Rückschritt.
Ein solcher Vorschlag tritt die Lebensleistung dieserEltern mit Füßen und bestraft nachträglich die Entschei-dung, Familie und Beruf vereinbart zu haben. Ein sol-cher Vorschlag trifft vor allem Frauen, die die doppelteLast, ja die doppelte Leistung von Familien- und Berufs-arbeit vollbracht haben. Das heißt doch nichts anderes,als dass dieser Vorschlag nicht nur leistungs-, sondernauch krass frauenfeindlich ist.
Soll etwa wieder gelten: Papi Vollzeit ins Büro undMami heim an den Herd? Es fehlt nur noch, dass HerrKauder die anderen Frauen als Rabenmütter beschimpft;denn nichts anderes ist sein Vorschlag: eine finstere,längst überholte und vergessen geglaubte Rabenmütter-klausel. Für diese reaktionäre Rolle rückwärts in die50er-Jahre sollte er sich schämen.
Noch etwas: Der Vorschlag diskriminiert vor allemostdeutsche Frauen; denn in der großen Mehrheit sindsie es, die diese doppelte Leistung, also Kindererziehungund Berufstätigkeit, erbracht haben. Das wäre ganztypisch für die schwarz-gelbe Rentenpolitik; denn Sieweigern sich auch noch nach 20 Jahren deutscherEinheit, den Ostdeutschen für die gleiche Leistung imErwerbsleben die gleiche Rente wie den Westdeutschenzu zahlen.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, gleiche Rente für glei-che Lebensleistung. Sie haben das in den Koalitions-vertrag geschrieben, aber Ihr Versprechen gebrochen.Sie machen es nicht. Das ist die Lage.
Es gibt eine Umfrage von Forsa im Auftrag von RTLund Emnid.
Danach lehnen 60 Prozent der Bevölkerung Ihr Betreu-ungsgeld ab; 36 Prozent sind dafür. Das sind immer nochviel zu viel. Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie dieFinger vom Betreuungsgeld! Geben Sie den Frauen undMännern, die vor 1992 Kinder erzogen haben, die 49 bis55 Euro mehr Rente! Sorgen Sie endlich dafür, dassEltern Beruf und Familie gut miteinander vereinbarenkönnen, um ausreichend Rentenanwartschaften erwer-ben zu können! Das wäre die richtige Politik, die wirjetzt brauchen, aber nicht das unsinnige Betreuungsgeld.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Max Straubinger.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! DieLinke in diesem Haus versucht wieder, hier einenPopanz gegen das Betreuungsgeld, aber vor allen Din-gen auch gegen die Familien in unserem Land aufzu-bauen.
CDU/CSU und FDP werden gemeinsam ein Betreu-ungsgeld durchsetzen, weil es die jungen Familien stütztund ihnen vor allen Dingen auch die Wahlfreiheit er-möglicht, sich zu entscheiden, ob sie sehr schnell wiederin das Berufsleben einsteigen wollen oder sich eventuelletwas länger der Kindererziehung zu Hause widmenmöchten – was sehr viele junge Frauen wollen. Umfra-gen zeigen klar – der Kollege Kues hat es gerade darge-stellt –: 51 Prozent der jungen Eltern wollen länger dieMöglichkeit, ihre Kinder selber zu betreuen. Deshalb istdas Betreuungsgeld goldrichtig, verehrte Damen undHerren.
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20578 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Max Straubinger
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Es ist schon bemerkenswert – da möchte ich an FrauKollegin Laurischk anschließen –, wenn die FraktionDie Linke hier eine Aktuelle Stunde vom Zaun brichtund deren Rednerin den Saal sofort wieder verlässt, weilsie einen anderen Termin hat.
– Da hilft auch keine Entschuldigung, lieber HerrBirkwald. Als Zeichen des Anstands ist es notwendig,dass man hier bleibt.
Dann muss man von Ihrer Fraktion hier eine andere Red-nerin ins Parlament schicken. Man darf doch nicht ein-fach das Feld verlassen.
Anscheinend ist sie – so wie sie heute hier gegen Kinderargumentiert hat – auch als Vorsitzende der Kinderkom-mission eine glatte Fehlbesetzung.
Außerdem ist es erstens pure Heuchelei, was SPD,Grüne und Linke heute hier verzapfen; denn in erster Li-nie die SPD hat mit beschlossen, dass wir ein Betreu-ungsgeld einführen. Dafür stehen wir in der Kontinuitätder Politik.Zweitens – und das ist sehr bemerkenswert – habenwir vier Länder, in denen es ein Landeserziehungsgeldgibt.
Alle diese Länder rühmen sich, dass das eine großartigeLeistung ist. Wir in Bayern haben es sowieso; das istvöllig klar. Dieses Landeserziehungsgeld gibt es aberzum Beispiel als Betreuungsgeld auch in Thüringen.Dort ist die SPD mit an der Regierung. Wieso wäre et-was, was in Thüringen richtig ist, auf Bundesebene dannfalsch?
Noch toller wird es in Baden-Württemberg. Dort ha-ben Sie auch ein Landeserziehungsgeld. Die grün-roteRegierung steht dafür. Was in Baden-Württemberg rich-tig ist, kann doch auf Bundesebene nicht falsch sein, ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen.
Deshalb verstehe ich Ihre Entrüstung überhaupt nicht.Sie hätten doch in Baden-Württemberg die Möglichkeit,es abzuschaffen. Das tun Sie aber nicht, weil Sie für die-ses Landeserziehungsgeld stehen.
Das zeigt sehr deutlich: Es ist richtig, junge Familienzu unterstützen.
Das haben Sie in diesen Ländern erkannt. Wir werdendies auf Bundesebene zur Durchsetzung bringen. Das istmeines Erachtens auch der richtige Weg.Ich halte auch nichts davon, wenn es immer heißt, dassei eine Fernhalteprämie
bzw. eine bildungspolitische Fernhalteprämie, wie es derHerr Kollege Birkwald dargestellt hat.
So hat man mit diesem Betreuungsgeld die Wahlmög-lichkeit, damit auch besondere Unterstützung für dasKind zu gewähren – sei es, dass man damit dann mögli-cherweise auch eine Logopädin in Einzelbetreuung be-zahlen kann.
Hier liegt es in der Entscheidungsgewalt der Eltern, dasbewusste Fördern der Kinder voranzubringen.
Diese Leistung, die mit dem Betreuungsgeld bewerkstel-ligt wird, kann in einer Kinderkrippe in keinster Weisebewerkstelligt werden, weil dort eine Erzieherin für fünf,sechs oder sieben Kinder die Verantwortung trägt undnicht jedem Kind gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit wid-men kann.Ein Letztes noch: Es wird immer behauptet, das Be-treuungsgeld sei eine Prämie zum Fernhalten vom Ar-beitsplatz. Das stimmt in keinster Weise.
In Bayern ist die Frauenerwerbstätigkeit am höchstenund in Thüringen am zweithöchsten in Deutschland. Daszeigt sehr deutlich: Der Bezug von Landeserziehungs-geld – dieses Geld ist einem Betreuungsgeld gleichzuset-zen – heißt nicht, dass man vom Erwerbsleben ausge-schlossen ist.
Im Gegenteil: Die Wahlmöglichkeit fördert den Zugangzum Erwerbsleben. Auch deshalb habe ich für die Vor-würfe von der Arbeitgeberseite, vom BDA-Präsidentenbzw. von Herrn Schlarmann, kein Verständnis.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20579
Max Straubinger
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Wir fördern die Familien. Das ist ein Kernelement un-serer gesellschaftspolitischen Auffassungen.
Darüber lässt sich weiterhin streiten. Ihre Einstellungbringt zum Ausdruck, dass Sie gegen die Familien sind.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem
nächsten Redner das Wort gebe, will ich noch darauf
hinweisen, dass es in dieser Debatte – bei aller Leiden-
schaft; sie ist auch notwendig – um unsere Kinder und
deren besten Weg in die Zukunft geht. Deshalb sollten
wir diese Debatte – das gilt für alle – in der entsprechen-
den Würde führen.
Nächster Redner ist für die Fraktion der Sozialdemo-
kraten unser Kollege Sönke Rix. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Zunächst einmal zu den anderen Ländern:In Norwegen wird das Betreuungsgeld gerade wieder ab-geschafft. In Schweden wird darüber sehr viel diskutiert. –Passen Sie mit Begrifflichkeiten wie Erziehungsgeld,Betreuungsgeld und Elterngeld – Sie haben da allerhanddurcheinandergeworfen – auf:
In Baden-Württemberg ist es nicht so, dass Menscheneine entsprechende Leistung bekommen, wenn sie ihrKind nicht in eine Krippe schicken. Deshalb ist es nichtmit dem zu vergleichen, was hier gerade debattiert wird.
Auf die Frage, ob man nicht lieber länger zu Hausebleiben möchte, nachdem man ein Kind in die Welt ge-setzt hat, ist das Betreuungsgeld keine Antwort. Viel-mehr geht es darum, über Elternzeit und Elterngeld zureden, anstatt ein Betreuungsgeld einzuführen. Wennjunge Menschen mit kleinen Kindern länger zu Hausebleiben wollen, dann müssen wir uns mit Änderungenbei der Elternzeit auseinandersetzen. Das Elterngeld istkeine Fernhalteprämie.
Ich will etwas dazu sagen, wie der Beschluss, das Be-treuungsgeld einzuführen, eigentlich zustande gekom-men ist. Ich will uns, genauer: die Große Koalition, lo-ben, und zwar für die historische Leistung, denKrippenplatzausbau vorangebracht zu haben.
Das war eine historische Leistung; diese Leistung habenwir gemeinsam erbracht. Wahrscheinlich hätten Sie dasallein nicht zustande gebracht und brauchten ein biss-chen Unterstützung von uns.
Diese Unterstützung haben wir sehr gerne gegeben. Dasdürfen wir an dieser Stelle auch nicht kleinreden. Wirhaben damit einen großen Schritt hin zur wirklichenWahlfreiheit gemacht.
– Ich höre natürlich nicht auf, lieber Kollege Grübel.Bei den Verhandlungen der Großen Koalition vonCDU, CSU und SPD mit den Ländern ging es um dieFrage, ob ein Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz einge-führt werden soll. An dieser Stelle hat die CSU das Be-treuungsgeld gefordert. Für uns Sozialdemokraten warda die Frage, ob eine windelweiche Formulierung in ei-ner Klammer, „zum Beispiel Betreuungsgeld“, die keineRechtsverbindlichkeit hat, in den Gesetzestext aufge-nommen oder ob dieser Rechtsanspruch fallen gelassenwerden soll. Wir haben uns für den Rechtsanspruch aus-gesprochen, und das ist auch gut so.
Was bisher aufgeschrieben worden ist, hat keineRechtsverbindlichkeit. Die Kollegin der FDP und anderehier im Hause, auch die Kollegen der Union, können indieser Debatte jetzt nicht so tun, als ob sie gar nichts da-für können, dass im Koalitionsvertrag steht, dass Sie dasBetreuungsgeld einführen wollen. Wir hätten uns nichtbeschwert, wenn Sie es nicht vereinbart hätten – keineAngst, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Dadurch, dass Sie sich heute wegducken und nichtpositionieren, glauben Sie, erreichen zu können, dassdieses Gesetz nicht kommen wird. Wenn Sie es wirklichnicht wollen, dann stellen Sie sich doch heute hier hinund sagen Sie: In der Koalitionsvereinbarung haben wirMist aufgeschrieben. Wir haben noch viel mehr Mistaufgeschrieben, den wir nicht umsetzen, und an dieserStelle setzen wir den Mist mit dem Betreuungsgeldebenfalls einfach nicht um, weil wir den Kritikern – Ver-tretern der Arbeitgeberseite und der Gewerkschaften, derArbeitsministerin, Politikern aus unseren eigenen Rei-hen – folgen und sagen: Nein, wir wollen diesen bil-dungspolitischen Unsinn nicht umsetzen. – Sie haben dieGelegenheit dazu. Machen Sie es auch!
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20580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012
Sönke Rix
(C)
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Nun noch etwas zur Frage der Finanzierbarkeit.
Im Moment werden für das Betreuungsgeld 2 MilliardenEuro kalkuliert. Gleichzeitig ist es leider eine Tatsache,dass der Krippenplatzausbau ins Stocken geraten ist. An-gesichts dessen müssen Sie jetzt begründen, warum Sie2 Milliarden Euro nicht lieber in den Krippenplatz-ausbau stecken. Dass eine Wahlfreiheit gar nicht erstzustande kommen kann, weil es nicht genügend Krip-penplätze gibt, das müssen Sie begründen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.
Noch ein Argument ist, glaube ich, an dieser Stellesehr wichtig. Sie tun bei dem Argument der Wahlfreiheitso, als ob diejenigen, die sich dafür entscheiden, ihrKind in die Krippe, in den Kindergarten zu geben, dafürnichts bezahlen müssten. In der Regel ist es aber so, dasssie etwas dafür bezahlen müssen. Also bestrafen Sie die-jenigen, die ihre Kinder in die Krippe geben, doppelt,weil sie einerseits nicht das Betreuungsgeld bekommensollen und weil sie andererseits für das, für das sie sichbei der angeblichen Wahlfreiheit entschieden haben,auch noch eine Gebühr bezahlen müssen. Sie benachtei-ligen diejenigen, die ihre Kinder in die Krippe gebenwollen, und das ist der Skandal an der Stelle, liebe Kol-leginnen und Kollegen.
Wie gesagt, Sie haben die Gelegenheit, das, was imKoalitionsvertrag steht, so wie auch einiges andere, wasim Koalitionsvertrag steht, einfach nicht umzusetzen.Unsere Unterstützung haben Sie dabei. Ich hoffe da einbisschen auf die Vernünftigen in der Union, die sich häu-fig lautstark äußern,
und auch auf die in der FDP. Ich würde mich freuen,wenn es denn irgendwann einmal zu einer gemeinsamenLinie Ihrer Koalition käme, und würde mich noch mehrfreuen, wenn die hieße: Kein Betreuungsgeld.Danke schön.
Nächster Redner und auch letzter Redner in unserer
Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU Kol-
lege Norbert Geis. Bitte schön, Kollege Geis.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist ein nicht enden wollendes Thema. Wirwerden uns auch weiterhin streiten müssen. Wenn es we-nigstens nur um den Weg ginge! Aber Ihnen geht es jadarum, dass das Betreuungsgeld überhaupt nicht kommt.
Da sehe ich einen Widerspruch zu Ihrem Verhalten inder Zeit, als Sie noch in der Großen Koalition waren; da-ran kommen Sie nicht vorbei. Sie haben damals mit da-für gestimmt, dass das Betreuungsgeld parallel zurKrippe kommt.
Es geht hier auch nicht um die Kindergartenkinder, alsonicht um die Kinder ab dem dritten Lebensjahr, sondernes geht um die Krippenkinder, um die Kinder, die vomersten bis zum dritten Lebensjahr in die Krippe kommen.Das wird häufig auch draußen verwechselt. Das wollteich noch einmal klarstellen.Sie haben damals in der Großen Koalition mit dafürgestimmt; daran kommen Sie nicht vorbei.Das Betreuungsgeld hatte einen Vorläufer. Das wardas Erziehungsgeld. Dagegen haben Sie überhauptnichts unternommen.
– Nein. Ich will es Ihnen genau sagen: Zunächst war dasErziehungsgeld, das jede Mutter bekam, 300 Euro, fürdas erste und das zweite Jahr. Das wurde vom Bund ge-zahlt. Dann haben sich Länder angeschlossen, darunterBayern, Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen,und haben gesagt: Für das dritte Jahr zahlen wir einkom-mensabhängig – das will ich dazusagen – das Landes-erziehungsgeld. – Es gibt also einen Vorläufer für dasBetreuungsgeld.Dann kam das Elterngeld. Wir haben darauf gedrängt,dass für die Frauen, die kein Elterngeld bekommen kön-nen, weil sie vorher nicht erwerbstätig waren, Erzie-hungsgeld gezahlt wird.
Das Erziehungsgeld wird so wie das Elterngeld im Au-genblick nur für das erste Lebensjahr gezahlt.
Wir wollen die Fortsetzung dieser Zahlung für daszweite und für das dritte Jahr – genauso wie vorher beimErziehungsgeld. Es geht beim Betreuungsgeld lediglichdarum, dass wir für das zweite Jahr Betreuungsgeld zah-len und keine Lücke lassen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 174. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. April 2012 20581
Norbert Geis
(C)
(B)
Wir sind der Auffassung, dass das Erziehungsgeld da-mals eine richtige Entscheidung war. Sie alle haben siemitgetragen. Die SPD hat sie mitgetragen.
Die Grünen haben sie mitgetragen.
Niemand kam auf die Idee, das Erziehungsgeld abzu-schaffen. Niemand! Das wäre auch verfassungswidriggewesen. Es gibt eine ganz klare verfassungsgerichtlicheEntscheidung, nach der es notwendig ist, der Frau, diedaheimbleibt, um ihre Kinder zu erziehen, einen entspre-chenden Ausgleich zu geben. Darum geht es.
– Es gibt jetzt kein Erziehungsgeld. Das war der Vorläu-fer vom Betreuungsgeld.
– Nein! Sie unterscheiden nicht! Ich wiederhole nocheinmal, damit es klar ist: Wir hatten zunächst das Erzie-hungsgeld.
Dann kam das Elterngeld. Daneben zahlen wir nur nochfür das erste Jahr Erziehungsgeld, das jetzt „Elterngeld II“heißt.
– Nein! Wenn Sie Ihre eigenen gesetzlichen Grundlagennicht kennen, dann tut es mir leid.
Ich verstehe nicht, weshalb Sie gegen die Fortsetzungdieses Erziehungsgeldes in der Form des Betreuungsgel-des sind. Das verstehe ich nicht. Das ist auch nicht nach-vollziehbar.Meine sehr verehrten Damen und Herren, warum sindSie so sehr gegen das Betreuungsgeld? Es gibt in ganzSchweden Betreuungsgeld. Die Schweden zahlen Be-treuungsgeld. Die Norweger zahlen über 400 Euro Be-treuungsgeld. Die Dänen zahlen Betreuungsgeld. Islandzahlt Betreuungsgeld. Finnland zahlt Betreuungsgeld. InFrankreich wird Betreuungsgeld gezahlt. In Österreichwird Betreuungsgeld gezahlt. Es kann doch nicht sein,dass dort nur die ganz Konservativen sitzen. Es ist einevernünftige Entscheidung dieser Länder. Wir wollenjetzt nachziehen.Ich will ein Weiteres dazu sagen.
Das Wort hat immer noch der Kollege Norbert Geis.
Sie behaupten, die Eltern, die ihre Kinder nicht in die
Kita, nicht in die Krippe geben, hätten ein veraltetes Fa-
milienbild.
Wir haben eine Million Eltern, die ihr Kind im Augen-
blick nicht deshalb in die Krippe geben, weil sie keinen
Platz finden, sondern weil sie es nicht wollen. Das wird
es auch in Zukunft geben. Wir werden in Zukunft Eltern
haben, die ihr Kind nicht in die Kindertagesstätte geben.
Wir zahlen von Staats wegen für die Kindertagesstätte
– es ist richtig, dass die Eltern einen Teil dazubezahlen –
zwischen 700 und 900 Euro im Monat. Es ist nicht ge-
recht, wenn wir den Eltern, die ihr Kind nicht in die Kita
geben, dafür keinen Ausgleich geben. Wir wollen einen
Minimalausgleich in Höhe von 150 Euro geben. Davon
kann man nicht behaupten, das sei eine Fernhalteprämie.
Was ist das für eine Vorstellung von den Menschen, die
nicht bereit sind, ihr Kind in die Kita zu geben? Diese
Entscheidung haben wir zu achten. Es ist eine freie Ent-
scheidung.
Deswegen glaube ich, dass Sie falsch liegen. Heute sind
die neuesten Umfragen von RTL und Stern heraus-
gekommen. Diese Umfragen zeigen, dass die 18- bis
29-Jährigen mit absoluter Mehrheit das Betreuungsgeld
haben wollen.
Sie werden sehen: Wenn das Betreuungsgeld eingeführt
ist, dann wollen es 90 Prozent haben. Dann werden wir
Sie an Ihre heutige Argumentation erinnern, die völlig
falsch ist.
Danke schön.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Aktuelle
Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, 26. April 2012, 9 Uhr,
ein. Ich freue mich, Sie dann alle hier begrüßen zu dür-
fen.
Die Sitzung ist geschlossen.