Protokoll:
17172

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 172

  • date_rangeDatum: 29. März 2012

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:40 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/172 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 172. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 I n h a l t : Wahl der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert, Dr. h. c. Wolfgang Thierse und Hans-Joachim Otto als ordentliche Mitglie- der und der Abgeordneten Dorothee Bär, Wolfgang Börnsen (Bönstrup) und Siegmund Ehrmann als stellvertretende Mit- glieder des Stiftungsrates der Kulturstif- tung des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 33 und 36 e Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Begrüßung der Präsidentin der Abgeordneten- kammer der Republik Rumänien, Frau Roberta Anastase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koor- dinierung und Steuerung in der Wirt- schafts- und Währungsunion (Drucksache 17/9046) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanis- mus (Drucksache 17/9045) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabili- tätsmechanismus (ESM-Finanzierungs- gesetz – ESMFinG) (Drucksache 17/9048) . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesschuldenwesengesetzes (Drucksache 17/9049) . . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Eu- ropäischen Union hinsichtlich eines Sta- bilitätsmechanismus für die Mitglied- staaten, deren Währung der Euro ist (Drucksache 17/9047) . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Europäischen Stabilitätsmechanismus ablehnen, europäisches Investitionspro- gramm auflegen (Drucksache 17/9146) . . . . . . . . . . . . . . . g) Antrag der Abgeordneten Alexander Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ratifizierung des Fiskal- vertrags ablehnen – Ursachenorien- tierte Politik zur Krisenbewältigung einleiten (Drucksache 17/9147) . . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Andrej Hunko, Thomas Nord, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE 20207 A 20207 B 20208 B 20208 B 20231 A 20208 D 20209 A 20209 A 20209 B 20209 B 20209 B 20209 C Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 LINKE: Grundlegende Reformen der EU-Verträge umsetzen – Änderungen von Artikel 136 des Vertrags zur Ar- beitsweise der Europäischen Union ver- hindern (Drucksache 17/9148) . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung des Stabilisierungsme- chanismusgesetzes (Drucksache 17/9145) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Sören Bartol, Florian Pronold, Hans-Joachim Hacker, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für einen neuen Infrastrukturkonsens: Gemeinsam Zukunft planen – Infrastruk- tur bürgerfreundlich voranbringen (Drucksache 17/9156) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Schnieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 36: a) Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Zusatzprotokoll der UN-Kinderrechtskonvention zur Indivi- dualbeschwerde schnellstmöglich ratifi- zieren (Drucksache 17/8917) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Koopera- tionen von Hochschulen und Unterneh- men transparent gestalten (Drucksache 17/9168) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, Sabine Leidig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wirksame Anreize für kli- mafreundlichere Firmenwagen (Drucksache 17/9149) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Maria Klein- Schmeink, Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einführung eines pauschalierenden psychiatrischen Entgeltsystems zur qualitativen Weiterentwicklung der Versorgung nutzen (Drucksache 17/9169) . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kennzeichnungspflicht auf verarbei- tete Eier ausweiten (Drucksache 17/9170) . . . . . . . . . . . . . . . 20209 C 20209 D 20210 A 20213 D 20217 B 20219 A 20222 A 20223 C 20225 C 20227 A 20228 B 20229 B 20231 A 20232 B 20233 D 20235 A 20235 A 20237 A 20239 B 20240 D 20241 D 20243 A 20244 D 20247 B 20248 C 20249 C 20251 A 20251 B 20251 D 20252 D 20253 D 20255 B 20259 D 20259 D 20260 A 20260 A 20260 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 III Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Daniela Wagner, Lisa Paus, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Städtebauliche Qualität des Re- gierungsviertels verbessern (Drucksache 17/9171) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 37: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. Oktober 2011 zwischen der Bundes- republik Deutschland und der Republik Indien über Soziale Sicherheit (Drucksachen 17/8727, 17/9094) . . . . . . . b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 25. November 2011 über die Errichtung des Sekreta- riats der Partnerschaft für öffentliche Gesundheit und soziales Wohlergehen im Rahmen der Nördlichen Dimension (NDPHS) (Drucksachen 17/8981, 17/9200) . . . . . . . c)–g) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 412, 413, 414, 415 und 416 zu Petitionen (Drucksachen 17/9050, 17/9051, 17/9052, 17/9053, 17/9054) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: a)–h) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 417, 418, 419, 420, 421, 422 423 und 424 zu Peti- tionen (Drucksachen 17/9177, 17/9178, 17/9179, 17/9180, 17/9181, 17/9182, 17/9183, 17/9184) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau der kalten Progression (Drucksachen 17/8683, 17/9201) . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/9202) . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Eva Bulling- Schröter, Dorothée Menzner, Caren Lay, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unberechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie abschaffen – Kein Sponsoring der Konzerne durch Stromkunden (Drucksache 17/8608) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Rechtsrahmens für Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren Änderungen im Recht der er- neuerbaren Energien (Drucksachen 17/8877, 17/9152) . . . . . . . 20260 B 20260 C 20260 D 20261 A 20261 C 20262 B 20262 B 20262 C 20264 A 20265 D 20267 C 20269 C 20271 C 20273 A 20274 A 20275 A 20276 A 20277 A 20278 D 20277 B 20277 C 20281 A 20282 D 20284 B 20285 A 20285 C 20286 B 20287 C 20288 C 20290 A 20291 B 20292 C 20294 A 20294 C IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- geordneten Ralph Lenkert, Jan Korte, Dorothée Menzner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mut zum Aufbruch ins solare Zeitalter (Drucksachen 17/8892, 17/9152) . . . . . . . Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . Matthias Machnig, Minister (Thüringen) . . . . Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Sven-Christian Kindler, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kein Be- treuungsgeld einführen – Kinder und Familie durch den Ausbau der Kinder- tagesbetreuung fördern (Drucksache 17/9165) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch – Auf- hebung der Ankündigung eines Betreu- ungsgeldes (Drucksachen 17/1579, 17/8201) . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeord- neten Caren Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Auf die Einführung des Betreuungsgeldes verzichten (Drucksachen 17/6088, 17/8201) . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Klaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- neten Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Europäische Finanzaufsicht stärken und effizient ausge- stalten (Drucksache 17/9151) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Edelgard Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 20294 C 20294 D 20296 B 20298 B 20298 D 20299 D 20301 B 20302 B 20302 C 20303 B 20304 B 20307 A 20308 B 20309 A 20309 D 20311 A 20312 C 20314 D 20313 A 20313 A 20313 B 20313 C 20317 A 20318 C 20319 A 20320 B 20320 D 20321 D 20323 A 20323 C 20324 C 20325 D 20326 C 20328 C 20326 D 20327 A 20330 B 20332 C 20333 C 20334 B 20335 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 V der SPD: Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) weiterent- wickeln und mitgestalten (Drucksachen 17/7360, 17/8507) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Andrej Hunko, Dr. Diether Dehm, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gemeinsame Außen- und Si- cherheitspolitik und Gemeinsame Si- cherheits- und Verteidigungspolitik der EU wirksam kontrollieren (Drucksachen 17/5387, 17/8807) . . . . . . . Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozessrecht (PrStG) (Drucksachen 17/3355, 17/9199) . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tabea Rößner, Kai Gehring, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz von Journalisten und der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozessrecht (Drucksachen 17/3989, 17/9199) . . . . b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Stärkung der Pressefreiheit (Drucksache 17/9144) . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für einen Hoch- schulpakt Plus – Zusätzliche Studi- enplätze schaffen und Masterange- bot ausbauen – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Hochschulpakt 2020: Für mehr Studienplätze und gute Arbeitsbedingungen – Hoch- schulen sozial öffnen – zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den Hochschulpakt weiterentwi- ckeln: Mehr Studienplätze, bessere Studienbedingungen und höhere Lehrqualität schaffen (Drucksachen 17/7340, 17/7341, 17/6918, 17/9141) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Krista Sager, Priska Hinz (Herborn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Gute Lehre an allen Hoch- schulen garantieren – Eine dritte Säule im Hochschulpakt verankern und einen Wettbewerb für herausra- gende Lehre auflegen – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Qualitätsoffen- sive für die Lehre starten – Einheit von Forschung und Lehre sichern (Drucksachen 17/4588, 17/1737, 17/9142) Tagesordnungspunkt 13: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- 20336 D 20337 A 20337 B 20338 A 20339 D 20341 B 20342 B 20342 D 20343 D 20344 D 20344 D 20345 A 20345 A 20346 A 20347 C 20348 D 20349 C 20350 B 20351 C 20351 D 20352 A VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 wurfs eines Gesetzes zu der Siebten Ände- rung des Übereinkommens über den Inter- nationalen Währungsfonds (IWF) (Drucksachen 17/8839, 17/9083) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: a) Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Demokratie durch Transparenz stärken – Deklassifizierung von Ver- schlusssachen gesetzlich regeln (Drucksache 17/6128) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Aktenein- sichtsrechte Dritter in Verfahrensakten des Bundesverfassungsgerichtes stär- ken (Drucksache 17/4037) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 30. September 2011 des Übereinkom- mens vom 29. Mai 1990 zur Errichtung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Drucksachen 17/8840, 17/9176) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Das Bildungs- und Teilhabepaket – Leistungen für Kinder und Jugendliche unbürokratisch, zielgenau und bedarfsge- recht erbringen (Drucksachen 17/8149, 17/8831) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 30. November 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutsch- land – Körperschaft des öffentlichen Rechts – zur Änderung des Vertrages vom 27. Januar 2003 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und dem Zen- tralrat der Juden in Deutschland – Kör- perschaft des öffentlichen Rechts – zuletzt geändert durch den Vertrag vom 3. März 2008 (Drucksachen 17/8842, 17/9081) . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/9082) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Helmut Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Wasser und Ernährung si- chern (Drucksache 17/9153) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Heiderich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Kerstin Griese, Dr. Eva Högl, Michael Roth (Heringen), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Nationales Reformprogramm 2012 muss soziale Ziele der Strategie „Europa 2020“ berücksichtigen (Drucksache 17/9154) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. Sep- tember 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (Drucksachen 17/8841, 17/9140) . . . . . . . . . . Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . Holger Krestel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20353 A 20353 B 20353 B 20353 C 20353 D 20354 A 20354 A 20354 C 20354 C 20356 B 20357 C 20358 B 20359 B 20360 A 20360 C 20360 C 20361 C 20363 D 20364 B 20365 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 VII Tagesordnungspunkt 21: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Josip Juratovic, Anette Kramme, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für eine soziale Revision der Entsenderichtlinie (Drucksachen 17/1770, 17/4755) . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie: zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Eu- ropäischen Parlaments und des Rates über die Konzessionsvergabe KOM(2011) 897 endg.; Ratsdok. 18960/11 (Drucksachen 17/8515 Nr. A.36, 17/9069) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Manfred Nink (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Jens Petermann, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Berichts- und Zustimmungspflicht für Amtshilfe und Unterstützungsleistungen der Bundeswehr im Inneren (Drucksache 17/4884) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Fritz Rudolf Körper (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Instrumente zur Förderung der Medienvielfalt auf solide Datenbasis stellen (Drucksache 17/9155) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . . Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Ab- geordneten René Röspel, Dr. Carola Reimann, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Gesund- heitsforschung an den Bedarfen der Pa- tientinnen und Patienten ausrichten – Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung überarbeiten (Drucksachen 17/5364, 17/9143) . . . . . . . . . . Eberhard Gienger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Gerd Bollmann, Marco Bülow, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Rücknahme- pflicht der Händler für Alt-Energiespar- lampen durchsetzen (Drucksache 17/9058) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gerd Bollmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20365 D 20365 D 20366 D 20367 B 20368 C 20369 B 20370 A 20370 D 20370 D 20372 D 20374 A 20374 C 20375 B 20375 D 20375 D 20377 A 20377 D 20378 D 20379 C 20380 C 20381 B 20381 C 20382 C 20383 D 20385 A 20385 D 20386 D 20387 D 20387 D 20388 D 20389 D 20390 C 20391 C 20392 D 20392 D 20394 B 20395 A 20396 A 20396 C VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 Tagesordnungspunkt 27: Zweite und dritte Beratung des von den Abge- ordneten Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion DIE LINKE einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Siche- rung bezahlbarer Mieten und zur Begrenzung von Energieverbrauch und Energiekosten (Drucksachen 17/6371, 17/8953) . . . . . . . . . . Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Hans-Joachim Hacker, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Sicherheit auf Kreuzfahrt- schiffen verbessern (Drucksache 17/9158) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unverzügliche Ratifizierung des Seearbeitsübereinkommens der Internatio- nalen Arbeitsorganisation (Drucksache 17/9066) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Ulla Lötzer, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Schle- cker-Verkäuferinnen unterstützen – Ar- beitsplätze und Tarifverträge erhalten – Einfluss der Beschäftigten stärken (Drucksachen 17/8880, 17/9131) . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Halina Wawzyniak, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ausverkauf staatlichen Eigentums stoppen – Keine Privatisierung der TLG- Wohnungen (Drucksache 17/9150) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren Änderungen im Recht der erneuer- baren Energien (Tagesordnungspunkt 7 a) Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Erklärung nach § 3 GO der Abgeordneten Manfred Grund, Dr. Thomas Feist, Dr. Michael Luther, Michael Stübgen und Arnold Vaatz (alle CDU/CSU) zur namentli- 20397 A 20397 B 20398 B 20399 A 20399 D 20400 C 20401 B 20402 A 20402 A 20403 C 20404 C 20405 B 20405 D 20406 B 20407 A 20407 B 20408 B 20409 A 20410 A 20410 C 20411 B 20412 A 20412 A 20413 A 20414 D 20415 B 20416 B 20416 D 20417 C 20417 D 20419 A 20419 D 20420 B 20420 D 20421 A 20421 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 IX chen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren Änderungen im Recht der erneu- erbaren Energien (Tagesordnungspunkt 7 a) . . Anlage 4 Erklärung nach § 3 GO der Abgeordneten Dr. Peter Danckert. Iris Gleicke, Wolfgang Gunkel, Hans-Joachim Hacker, Dr. Eva Högl, Daniela Kolbe (Leipzig), Angelika Krüger- Leißner, Steffen-Claudio Lemme, Burkhard Lischka, Mechthild Rawert, Silvia Schmidt (Eisleben), Swen Schulz (Spandau), Rolf Schwanitz, Sonja Steffen, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Wolfgang Tiefensee, Dr. Marlies Volkmer, Waltraud Wolff (Wolmirstedt) und Dagmar Ziegler (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren Änderungen im Recht der erneuer- baren Energien (Tagesordnungspunkt 7 a) . . . Anlage 5 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch – Aufhebung der Ankündi- gung eines Betreuungsgeldes (Tagesord- nungspunkt 8 b) Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden – zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Für einen Hochschulpakt Plus – Zu- sätzliche Studienplätze schaffen und Masterangebot ausbauen – Hochschulpakt 2020: Für mehr Stu- dienplätze und gute Arbeitsbedingun- gen – Hochschulen sozial öffnen – Den Hochschulpakt weiterentwickeln: Mehr Studienplätze, bessere Studien- bedingungen und höhere Lehrqualität schaffen – zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Gute Lehre an allen Hochschulen ga- rantieren – Eine dritte Säule im Hoch- schulpakt verankern und einen Wettbe- werb für herausragende Lehre auflegen – Qualitätsoffensive für die Lehre star- ten – Einheit von Forschung und Lehre sichern (Tagesordnungspunkt 12 a und b) Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu der Siebten Änderung des Übereinkommens über den In- ternationalen Währungsfonds (IWF) (Tages- ordnungspunkt 13) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Holger Krestel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Demokratie durch Transparenz stärken – Deklassifizierung von Verschlusssachen gesetzlich regeln – Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfah- rensakten des Bundesverfassungsgerichtes stärken (Tagesordnungspunkt 14 a und b) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . . . Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20421 C 20421 D 20422 B 20422 B 20422 D 20423 C 20424 C 20425 B 20426 A 20428 B 20429 A 20429 D 20430 C 20431 C 20432 B 20433 A 20433 C 20434 A 20435 B 20436 B 20437 A 20437 C 20438 D 20439 C X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderun- gen vom 30. September 2011 des Überein- kommens vom 29. Mai 1990 zur Errichtung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Tagesordnungspunkt 15) Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Holger Krestel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Das Bildungs- und Teilhabepa- ket – Leistungen für Kinder und Jugendliche unbürokratisch, zielgenau und bedarfsgerecht erbringen (Tagesordnungspunkt 16) Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. November 2011 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland – Körperschaft des öffentlichen Rechts – zur Änderung des Ver- trages vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zen- tralrat der Juden in Deutschland – Körper- schaft des öffentlichen Rechts – zuletzt geän- dert durch den Vertrag vom 3. März 2008 (Tagesordnungspunkt 17) Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Nationales Reformprogramm 2012 muss soziale Ziele der Strategie „Europa 2020“ berücksichtigen (Tagesordnungspunkt 19) Lena Strothmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dieter Jasper (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Ausverkauf staatlichen Eigen- tums stoppen – Keine Privatisierung der TLG-Wohnungen (Zusatztagesordnungs- punkt 5) Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . Sebastian Körber (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20441 B 20442 C 20443 B 20444 A 20444 C 20445 C 20446 B 20447 B 20448 C 20449 C 20450 B 20451 A 20452 D 20454 C 20455 B 20456 C 20456 D 20457 B 20458 C 20459 C 20461 A 20461 D 20462 D 20463 B 20464 B 20465 A 20466 A 20467 B 20468 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20207 (A) (C) (D)(B) 172. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 Beginn: 9.00 Uhr
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    1) Anlage 13 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20419 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Ent- wurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechts- rahmens für Strom aus solarer Strahlungs- energie und zu weiteren Änderungen im Recht der erneuerbaren Energien (Tagesordnungs- punkt 7 a) Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ich werde das oben genannte Gesetz ablehnen und mit Nein stimmen. Zwar sind nach den Formulierungshilfen zum Ent- wurf des Gesetzes, den zahlreichen Berichterstatter- Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bär, Dorothee CDU/CSU 29.03.2012 Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.03.2012 Brinkmann (Hildesheim), Bernhard SPD 29.03.2012 Buschmann, Marco FDP 29.03.2012 Claus, Roland DIE LINKE 29.03.2012 Ehrmann, Siegmund SPD 29.03.2012 Freitag, Dagmar SPD 29.03.2012 Dr. Friedrich (Hof), Hans-Peter CDU/CSU 29.03.2012 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 29.03.2012 Groth, Annette DIE LINKE 29.03.2012* Günther (Plauen), Joachim FDP 29.03.2012 Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 29.03.2012 Keul, Katja BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.03.2012 Kramme, Anette SPD 29.03.2012 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.03.2012 Kunert, Katrin DIE LINKE 29.03.2012 Dr. Lauterbach, Karl SPD 29.03.2012 Möhring, Cornelia DIE LINKE 29.03.2012 Möller, Kornelia DIE LINKE 29.03.2012 Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.03.2012 Dr. Neumann (Lausitz), Martin FDP 29.03.2012 Nietan, Dietmar SPD 29.03.2012 Nink, Manfred SPD 29.03.2012 Nord, Thomas DIE LINKE 29.03.2012 Dr. Pfeiffer, Joachim CDU/CSU 29.03.2012 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.03.2012 Rupprecht (Tuchenbach), Marlene SPD 29.03.2012* Schäfer (Saalstadt), Anita CDU/CSU 29.03.2012 Schlecht, Michael DIE LINKE 29.03.2012 Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 29.03.2012 Simmling, Werner FDP 29.03.2012 Ulrich, Alexander DIE LINKE 29.03.2012 Wicklein, Andrea SPD 29.03.2012 Wieczorek-Zeul, Heidemarie SPD 29.03.2012 Dr. Wilms, Valerie BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.03.2012 Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.03.2012 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 20420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) gesprächen und den in der Fraktionssitzung am 27. März 2012 vorgestellten Änderungen Schritte in die richtige Richtung erkennbar, aber für meine Zustimmung zum Gesetz sind diese nicht ausreichend. Verbraucher, Photovoltaikindustrie und Wirtschaft erwarten von der Politik Planungssicherheit und Verläss- lichkeit. Das jetzt vorgelegte Gesetz erfüllt diese Anfor- derungen nur teilweise. Der Solarbranche, die – unter anderem – bei Solar- world mit über 1 500 Arbeitsplätzen sowie zahlreichen Ausbildungs- und Studienplätzen, Innovations- und Logistikzentren in meinem Wahlkreis ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist, muss gegenüber der weltweiten Wettbewerbsverzerrung durch chinesische Subventio- nierung von Solarprodukten geholfen werden, ihren Technologievorsprung auszubauen. Da es die Bundes- regierung versäumt hat, entsprechend mit Richtlinien und Verordnungen – zum Beispiel Elektronikschrottver- ordnung – eine Art Schutzwall für den europäischen Markt vor einer besonderen Art einer feindlichen Über- nahme des Marktes durch chinesische Wettbewerbsver- zerrung einzuziehen, müsste Deutschland nunmehr mit einer Local-Content-Regelung – zum Beispiel einem zehnprozentigen Vergütungsaufschlag auf deutsche Pro- dukte – nachsteuern. Auf vergleichbare Regelungen in anderen Branchen in Italien, Frankreich, der Türkei oder beispielsweise die Quotenregelung für chinesische Tex- tilien oder amerikanische Strafzölle wird verwiesen. Des Weiteren ist im Gesetz eine angemessene Vergü- tung für eine Anlage in der Größenklasse von 10 bis 50 oder 100 Kilowatt nicht vorgesehen. Anlagen von 1 Megawatt bis 10 Megawatt hingegen erhalten die volle Vergütung aus dem EEG. Das ist eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung kleiner und mittlerer Anlagen, auf deren Modulbauteilproduktion sich deutsche Hersteller spezialisiert haben. Sie wirkt im Hinblick auf die Ziel- setzungen der Energiewende oder einer dezentralen Stromeigenproduktion absolut kontraproduktiv. Es ist bekannt, dass sich Anlagen in der Größenordnung von 1 bis 10 Megawatt vornehmlich in Bayern und Baden- Württemberg befinden bzw. dort geplant sind. Schließlich entfällt mit dem Wegfall des Eigenver- brauchsbonus jeglicher Anreiz zum Einsatz von Energie- speichern, ob von Batterien oder anderweitigen Spei- chersystemen. Der Eigenstrombonus sollte in der Form beibehalten werden, die ihn an den Einsatz von Spei- chern koppelt. Im Übrigen hoffe ich, dass insbesondere die ostdeut- schen Bundesländer unter Führung von Sachsen und Sachsen-Anhalt im Vermittlungsausschuss durch die bereits vorgelegte Bundesratsinitiative insbesondere in vorgenannten Positionen Verhandlungsfortschritte erzie- len, damit ich bei erneuter Beschlussfassung zustimmen kann. Josef Göppel (CDU/CSU): Ich kann dem Gesetz- entwurf zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom aus solarer Strahlungsenergie – Drucksache 17/8877 – nicht zustimmen. Die aktuelle Novellierung des EEG besteht aus Einschnitten und Kürzungen, die nicht mit einer konzeptionellen Weiterentwicklung der solaren Strom- erzeugung verbunden sind. Erstens. Die vorgesehene Kürzung der vergüteten Strommenge wird dem Anspruch der Marktintegration nicht gerecht. Es fehlen Mechanismen zum Markt- zugang für alle Anlagen, die zu groß oder nicht geeignet für den Eigenverbrauch und zu klein für den Börsen- zugang sind. Zweitens. Der Gesetzentwurf gibt keine Antwort auf einen Systemfehler der Strompreisfindung. Große Men- gen erneuerbaren Stroms senken den Großhandelspreis an der Börse. Darauf haben die mit der steigenden EEG- Umlage belasteten Kleinverbraucher jedoch keinen Zu- griff. Großverbraucher hingegen werden auch noch von der Umlage befreit, auf die ihr eigener Preisvorteil zu- rückzuführen ist. Drittens. Es fehlt ein Speicheranreiz, der die Rege- lung zum Eigenverbrauch mit der Anschaffung netzge- steuerter Speichereinheiten koppelt. Gerade die man- gelnde Speicherfähigkeit erneuerbaren Stroms wird von Kritikern der Energiewende ständig beklagt. Gleich- zeitig wurden jedoch wirksame Schritte zur Lösung die- ses Problems verhindert. Dieser Gesetzentwurf liefert keinen Beitrag zur weiteren Umstellung der Stromversorgung auf erneuer- bare Energien. Trotz intensiver Bemühungen gelang es während der Gesetzesberatung nicht, über die Zubaube- grenzung hinaus positive Elemente zur Systemtrans- formation des Stromsektors zu verankern. Stattdessen fielen immer wieder Bemerkungen wie „Solarabzocker“ oder „Das Fallbeil muss fallen“. Die kleinteilige Strom- erzeugung wird von Teilen der Koalition als System- gefahr betrachtet, der Eigenverbrauch als „Schädigung der Solidargemeinschaft“. Diese Haltung konserviert technologisch überlebte Strukturen. Sie bremst die Ver- lagerung der Wertschöpfung auf breite Bevölkerungs- schichten und nimmt unseren Bekenntnissen zur Ener- giewende die Glaubwürdigkeit. Ich werde den Gesetzentwurf deshalb ablehnen. Frank Heinrich (CDU/CSU): Ich stimme dem Gesetzentwurf zu, obwohl ich noch einige Bedenken habe. Ich bin ein großer Befürworter der erneuerbaren Energien. Bei der Abstimmung über die Verlängerung von AKW-Laufzeiten habe ich mich meiner Partei nicht angeschlossen und habe gegen die Verlängerung gestimmt. Die in dem Gesetzentwurf getroffene Neuregelung übt noch nicht den notwendigen Druck auf die Betreiber und Anbieter von Photovoltaikanlagen aus, Strom dann zur Verfügung zu stellen, wenn er tatsächlich benötigt wird. Aber ich bin der Auffassung, dass Planungssicher- heit und Verlässlichkeit sowohl für die Photovoltaikin- dustrie als auch für die Wirtschaft wichtig sind. Ich denke, dass die massive Kürzung der Solarförderung mit einer kurzen Ankündigungsfrist aufgrund bestehender Verordnungen des Baurechts nicht realistisch ist. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20421 (A) (C) (D)(B) Deshalb sollten angemessene Übergangsfristen ver- einbart werden, damit bereits im Bau befindliche Anla- gen noch nach den momentan geltenden Vergütungssät- zen abgerechnet werden. Außerdem fehlt meines Erachtens nach ein Speicher- anreiz, der die Regelung zum Eigenverbrauch mit der Abschaffung netzgesteuerter Speichereinheiten koppelt. Die Kritiker beklagen gerade die mangelnde Speicherfä- higkeit erneuerbaren Stroms. Weiterhin wird kein Beitrag durch diesen Gesetzent- wurf zur weiteren Umstellung der Stromversorgung auf erneuerbare Energien geliefert. Ich unterstütze dennoch die in diesem Gesetz getroffenen Neuregelungen und hoffe sehr, dass damit eine Verbesserung gegenüber dem gegenwärtigen Stand erreicht wird. Die Belastung der Stromkunden durch Garantiezusagen hinsichtlich der Einspeisevergütung für in Photovoltaikanlagen erzeug- tem Strom wird so gegenüber dem Status quo stärker begrenzt. Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Ich enthalte mich bei der Abstimmung zu diesem Gesetzentwurf, weil ich die darin enthaltene Förderung der Energiegewinnung in Photovoltaikanlagen über eine Einspeisevergütung, die unabhängig davon gezahlt wird, ob der erzeugte Strom bei Energieverbrauchern absetzbar ist, ablehne. Damit kann das auch von mir unterstützte Ziel, eine Alternative zur Nutzung der endlichen fossilen Energieträger zu ent- wickeln, nicht erreicht werden. Auch die in dem Gesetz- entwurf getroffene Neuregelung übt nicht den notwendi- gen Druck auf die Betreiber und Anbieter von Photovoltaikanlagen aus, Strom dann zur Verfügung zu stellen, wenn er tatsächlich benötigt wird. Eine Stromer- zeugung unabhängig vom Bedarf ist aber keine Alterna- tive zur Nutzung fossiler Energieträger, da so ein Indus- trieland nicht zuverlässig und kostengünstig mit Strom zu versorgen ist. Ich unterstütze die in diesem Gesetz ge- troffenen Neuregelungen nicht, da mit ihnen keine aus- reichende Verbesserung gegenüber dem gegenwärtigen Stand erreicht wird. Die Belastung der Stromkunden durch Garantiezusagen hinsichtlich der Einspeisevergü- tung für in Photovoltaikanlagen erzeugten Strom wird so gegenüber dem Status quo nicht begrenzt. Im Jahr 2011 wurden circa 7 500 Megawatt Photovol- taikleistung in Deutschland installiert, die Fertigungska- pazitäten für Photovoltaikmodule in Deutschland betra- gen jedoch circa 3 200 Megawatt. Dieser Widerspruch wird vom Gesetzentwurf nicht ausreichend gewürdigt. Die gegenwärtige, schwierige Lage der deutschen Pho- tovoltaikbranche besteht unabhängig vom Fördermecha- nismus im EEG. Ebenso lehne ich die im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf stehende Lösung des „50,2-Hertz-Pro- blems“ als nicht marktwirtschaftlich ab. Die Übernahme der Kosten für die notwendige Nachrüstung der betroffe- nen Photovoltaikanlage soll gemäß einem Verordnungs- entwurf von den Verbrauchern getragen werden. Dies ist eine Abkehr vom Verursacherprinzip und schafft einen gefährlichen Präzedenzfall für künftigen Nachrüstbe- darf. Maria Michalk (CDU/CSU): Ich stimme dem Ge- setzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren Änderungen im Recht der erneuerbaren Energien zu, weil es am Grundsatz des Ausbaus erneuer- barer Energie festhält und zeitgleich auf die Überschrei- tung des geplanten Ausbaukorridors beim Zubau von Photovoltaikanlagen von 3 500 Megawatt mit 7 500 Me- gawatt im Jahr 2011 reagiert. Die Vergütungssätze sind im Vergleich zu den gesunkenen Systempreisen zu hoch. Das belastet sowohl die Bürgerschaft als auch die Wirt- schaft im Industrie- und Dienstleistungsbereich. Deshalb ist die Korrektur des Ausbaupfades der Photovoltaikan- lagen geboten und gerechtfertigt. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Manfred Grund, Dr. Thomas Feist, Dr. Michael Luther, Michael Stübgen und Arnold Vaatz (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren Änderungen im Recht der erneuerbaren Ener- gien (Tagesordnungspunkt 7 a) Ich stimme dem Gesetzentwurf zu, obwohl ich die da- rin enthaltene Förderung der Energiegewinnung in Pho- tovoltaikanlagen über eine Einspeisevergütung, die un- abhängig davon gezahlt wird, ob der erzeugte Strom bei Energieverbrauchern absetzbar ist, ablehne. Damit kann das auch von mir unterstützte Ziel, eine Alternative zur Nutzung der endlichen fossilen Energieträger zu entwi- ckeln, nicht erreicht werden. Auch die in dem Gesetzent- wurf getroffene Neuregelung übt nicht den notwendigen Druck auf die Betreiber und Anbieter von Photovoltaik- anlagen aus, Strom dann zur Verfügung zu stellen, wenn er tatsächlich benötigt wird. Eine Stromerzeugung unab- hängig vom Bedarf ist aber keine Alternative zur Nut- zung fossiler Energieträger, da so ein Industrieland nicht zuverlässig und kostengünstig mit Strom zu versorgen ist. Ich unterstütze dennoch die in diesem Gesetz getrof- fenen Neuregelungen, da mit ihnen eine Verbesserung gegenüber dem gegenwärtigen Stand erreicht wird. Die Belastung der Stromkunden durch Garantiezusagen hin- sichtlich der Einspeisevergütung für in Photovoltaikan- lagen erzeugten Strom wird so gegenüber dem Status quo stärker begrenzt. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten der Abgeordneten Dr. Peter Danckert, Iris Gleicke, Wolfgang Gunkel, Hans-Joachim Hacker, Dr. Eva Högl, Daniela Kolbe (Leipzig), Angelika Krüger-Leißner, Steffen-Claudio Lemme, Burkhard Lischka, Mechthild Rawert, Silvia Schmidt (Eisleben), Swen Schulz (Spandau), Rolf Schwanitz, Sonja Steffen, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Wolfgang 20422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) Tiefensee, Dr. Marlies Volkmer, Waltraud Wolff (Wolmirstedt) und Dagmar Ziegler (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren Änderungen im Recht der erneuerbaren Energien (Tagesordnungspunkt 7 a) Wir – die Unterzeichner dieser Erklärung – lehnen die von CDU, CSU und FDP zur Abstimmung gestellten drastischen Sonderkürzungen bei der Solarförderung so- wie die weiteren Instrumente zur Zubaubegrenzung ab. Dies tun wir auch, weil diese konzeptlose Kurz- schlussreaktion der Bundesregierung und der sie tragen- den Koalitionsfraktionen ein wirtschaftlich vertretbares Maß vermissen lassen. Die Kürzungen sind ein Angriff auf die Verlässlichkeit, Planbarkeit und Investitionssi- cherheit der Solarförderung. Durch die wiederholt ab- rupten Sonderkürzungen werden einerseits Zubau-Ral- lyes mit der damit verbundenen Marktüberhitzung ausgelöst. Auf der anderen Seite wird der Solarbranche gerade auch in Ostdeutschland der Boden für eine nach- haltige wirtschaftliche Entwicklung entzogen. Wir wol- len hingegen alles dafür tun, um die Zukunftsfähigkeit der ostdeutschen Solarcluster zu erhalten und dabei die Forschungs- und Entwicklungsstrukturen sowie die Viel- zahl der vorhandenen Arbeitsplätze zu sichern und aus- zubauen. Dies kann einerseits nur vor einer verlässlichen und planbaren Förderkulisse gelingen. Andererseits ist es un- erlässlich, dem unfairen Wettbewerb und Preisdumping, insbesondere der chinesischen Konkurrenz, den Kampf anzusagen. Daher müssen wir gegen diese Wettbewerbs- nachteile im europäischen Interesse vorgehen und bis dahin durch eine Local-Content-Lösung die Wettbe- werbsfähigkeit der deutschen Solarbranche stärken. Bedauerlicherweise ist festzustellen, dass CDU, CSU und FDP sowie die Bundesregierung nichts zur Stärkung der hochinnovativen deutschen Solarindustrie und der geschaffenen Arbeitsplätze unternehmen, sondern sich auf einseitige Förderkürzungen beschränken, die vor al- lem den Standort (Ost-)Deutschland zusätzlich gefähr- den. Anlage 5 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Ent- wurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch – Aufhebung der Ankündigung eines Betreuungsgeldes (Ta- gesordnungspunkt 8 b) Sylvia Canel (FDP): Als Berichterstatterin für früh- kindliche Bildung weiß ich, wie wichtig der Besuch von Kindereinrichtungen für Kinder ist. Die Einführung ei- nes Betreuungsgeldes schafft ein falsches Anreizsystem. Miriam Gruß (FDP): Aus meiner Sicht sprechen un- ter anderem starke bildungs-, gleichstellungs- und haus- haltspolitische Gründe gegen die Einführung eines Be- treuungsgeldes. Aus bildungspolitischer Sicht habe ich Sorge, ob die Einführung des Betreuungsgeldes im Interesse der Kin- der ist. Denn unter Umständen würde ein Betreuungs- geld eher als Anreiz gesehen, Kinder nicht in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen zu geben. Dabei profitie- ren Kinder nachweislich von frühkindlicher Bildung in diesen Einrichtungen. Unter gleichstellungspolitischen Gesichtspunkten ist das Betreuungsgeld ebenfalls kritisch zu sehen. Es ver- festigt das tradierte Rollenbild, indem es einen Anreiz dafür bietet, den beruflichen Wiedereinstieg von Frauen nach der Geburt eines Kindes hinauszuzögern. Auch vor dem Hintergrund des wachsenden Fachkräftemangels ist das ein weiterer Fehlanreiz. Die aktuellen Haushaltszahlen sprechen zudem eine deutliche Sprache: Deutschland gibt rund 185 Milliarden Euro jährlich für ehe- und familienpolitische Leistungen aus – und trotzdem verzeichnen wir eine der geringsten Geburtenraten in Europa. Die Evaluation der ehe- und familienpolitischen Leistungen wird für 2013 erwartet. Im Vorfeld dessen eine neue milliardenschwere famili- enpolitische Leistung einzuführen, halte ich im Sinne ei- ner nachhaltigen, zukunfts- und generationengerechten Haushaltspolitik für unverantwortlich. Außerdem ist derzeit nicht in Sicht, dass bis August 2013, wenn der Rechtsanspruch auf einen Betreuungs- platz U3 greift, die für den Anspruch erforderlichen Be- treuungsplätze vorhanden sein werden. Die Einführung des Betreuungsgeldes könnte als Anreiz verstanden wer- den, diesen Ausbau nicht mit dem nötigen Hochdruck von kommunaler und landespolitischer Seite zu beglei- ten. Die konkrete und vor allem verfassungsgemäße Aus- gestaltung des Betreuungsgeldes ist obendrein derzeit absolut unklar. Aus all diesen Gründen werde ich mich bei der Abstimmung zum Tagesordnungspunkt 8 a, b und c enthalten. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Einfüh- rung eines Betreuungsgeldes für diejenigen Eltern, die ihre Kinder im Alter zwischen einem und drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen, wird in der Öffentlichkeit unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert. Die Freiheit der Eltern, ihre Kinder selbst zu betreuen oder qualifiziert betreuen zu lassen, muss erhalten blei- ben. Eltern, die ihre Kinder selbst betreuen wollen, haben das Recht, dies zu tun. Es ist jedoch eine grund- sätzlich andere Frage, ob dies auch vom Staat zu finan- zieren ist. Gute frühkindliche Betreuung hat einen sehr hohen Stellenwert für die Entwicklung von Kindern. Mit der Finanzierung eines Betreuungsgeldes setzt der Staat einen Anreiz für Eltern, auf die Annahme frühkindlicher Betreuungsangebote zu verzichten. Gleichzeitig werden damit finanzielle Ressourcen gebunden, die für den Auf- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20423 (A) (C) (D)(B) bau von Kinderbetreuung für Eltern, die beide ihren Beruf ausüben wollen, nicht zur Verfügung stehen. In der Studie „Emanzipation oder Kindergeld?“ aus dem Jahr 2008, die von der Robert-Bosch-Stiftung ge- fördert wurde, wird aufgezeigt, dass in den Ländern Europas, in denen mehr Frauen berufstätig sind, mehr Kinder geboren werden. Dazu tragen auch gute Betreu- ungseinrichtungen bei sowie ein hoher Anteil an Frauen mit guten Bildungsabschlüssen. In Deutschland ist der Anteil von Frauen in Führungspositionen sehr gering. Eine Ursache dafür ist ebenfalls die geringe Verfügbar- keit von Einrichtungen zur Kinderbetreuung. Mit dem Betreuungsgeld wird diese Situation nicht verbessert. Deutschland gibt rund 185 Milliarden Euro jährlich für familienpolitische Leistungen aus. In 2013 soll eine Evaluation dieser Leistungen erfolgen. Es ist nicht ver- antwortbar, vor dem Vorliegen der Evaluation eine neue familienpolitische Leistung einzuführen. Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder unter drei Jahren gilt ab August 2013. Die Ein- führung eines Betreuungsgeldes könnte dazu führen, dass die Einrichtung von Betreuungsplätzen nicht im erforderlichen Maß vorangetrieben wird. Eine verfassungsgemäße Ausgestaltung des Betreu- ungsgeldes ist zurzeit offen. Die Anträge der Opposition zielen auf die Vereinba- rungen im Koalitionsvertrag und die Kritik, die Frauen aus den Koalitionsfraktionen daran geübt haben. Dies ist mir bewusst. Ich werde daher die Anträge ablehnen. Ich erwarte aber, dass in der Frage der Wertschätzung frühkindlicher Bildung, der Förderung der faktischen Gleichstellung von Frauen, der verfassungsgemäßen Ausgestaltung familienpolitischer Leistungen und unter Berücksichtigung der Evaluation dieser bisherigen Leis- tungen über weitere familienpolitische Maßnahmen ent- schieden wird. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Für einen Hochschulpakt Plus – Zusätzliche Studienplätze schaffen und Masterangebot ausbauen – Hochschulpakt 2020: Für mehr Studien- plätze und gute Arbeitsbedingungen – Hoch- schulen sozial öffnen – Den Hochschulpakt weiterentwickeln: Mehr Studienplätze, bessere Studienbedingungen und höhere Lehrqualität schaffen zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Gute Lehre an allen Hochschulen garantie- ren – Eine dritte Säule im Hochschulpakt verankern und einen Wettbewerb für he- rausragende Lehre auflegen – Qualitätsoffensive für die Lehre starten – Einheit von Forschung und Lehre sichern (Tagesordnungspunkt 12 a und b) Monika Grütters (CDU/CSU): Die Opposition hat sich darauf verständigt, ihren Debattenplatz im Plenum mit aufgewärmter Ware, mit alten Anträgen zu füllen. Das ist so wenig originell wie überraschend. Wenn Ihnen gar nichts mehr einfällt, wiederholen Sie sich halt. Be- reits vor sechs Monaten haben wir die nun erneut zur Debatte stehenden Anträge der Opposition zum Hoch- schulpakt hier im Plenum und auch im Ausschuss disku- tiert. Alle drei alten Anträge der Opposition aus dem Ok- tober 2011 bestehen im Wesentlichen aus einer Liste von Wunschvorstellungen, deren Finanzierung nicht einmal im Ansatz dargestellt wird. Das ist das klassische Ritual der Opposition: Jeder Wählergruppe wird das Maximum versprochen. Man steht ja nicht in der Pflicht, diese Wohltaten auch finanzieren zu müssen. Mich würde aber schon interessieren, ob zumindest die Damen und Her- ren von der SPD ihre Vorstöße wenigstens mit ihren Mi- nisterpräsidenten abgesprochen haben. Denn Bildung ist und bleibt trotz allem die Kernaufgabe der Bundeslän- der. Eben deshalb haben wir mit dem Hochschulpakt ein System geschaffen, in dem Bund und Länder gemeinsam die Finanzierung neuer Studienplätze sicherstellen. Jede Veränderung des Paktes hätte damit auch unmittelbare Auswirkungen auf die Haushalte aller Bundesländer. Dieser Idee liegt auch das von Bund und Ländern ge- meinsam vereinbarte System zur Finanzierung des Hochschulpaktes zugrunde. Dieser wird nach zwei Jah- ren nachlaufend finanziert, weil dann die Immatrikula- tionszahlen feststehen und Mittel nicht aufgrund von Schätzungen verteilt werden müssen. Der Hochschulpakt I hat seinen Lackmustest im Übri- gen eindrucksvoll bestanden. 90 000 Studienplätze wa- ren geplant, mehr als das Doppelte, 82 000, wurden fi- nanziert. Wir haben mit diesem flexiblen und atmenden System einen Weg gefunden, mit den Unwägbarkeiten bei der Finanzierung neuer Studierendenzahlen umzuge- hen. Derzeit ist noch gar nicht abzusehen, dass die 335 000 zusätzlichen Studienplätze vor 2014 überschrit- ten werden. Aufgrund bisheriger Berechnungen der KMK ist zwischen Bund und Ländern ein Gesamtdeckel vereinbart worden. Sollte dieser erreicht werden, müss- ten beide Seiten neu verhandeln. Vorher aber müssen alle Länder nachweisen, dass sie die Hochschulpaktmit- tel auch tatsächlich für neue Studienplätze eingesetzt ha- ben. Ich darf Sie daran erinnern, dass diese Regierung den Etat des BMBF um satte 54 Prozent gesteigert hat. Wir unterstützen die Studierenden in Deutschland bei der Fi- nanzierung ihres Studiums in diesem Jahr mit mehr als 1,7 Milliarden Euro. Damit haben wir die Förderung in diesem Bereich im Vergleich zu Rot-Grün im Jahr 2005 um mehr als 53 Prozent ausgebaut. Wir arbeiten am Er- reichen des 10-Prozent-Ziels und an der Weiterentwick- 20424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) lung Deutschlands zu einer Bildungsrepublik, die jeder bzw. jedem gerecht wird. Die Ergebnisse können sich sehen lassen: nicht nur mit Rekorden bei den Studienanfängerzahlen und bei der Studierquote, sondern auch und gerade bei jungen Men- schen aus bildungsfernen Schichten. Die letzte Studie des HIS hat gezeigt, dass die Studierquote in dieser Gruppe um 6 Prozent überproportional angestiegen ist, während die Studierquote bei Kindern aus bildungsna- hen Schichten „nur“ um 3 Prozent stieg. Nun hat gerade die SPD sich in der vergangenen Zeit mit wenig kreativen Versuchen hervorgetan, den SPD- Finanzministern in den Bundesländern neue Einnahme- quellen zu verschaffen. Ich darf Ihnen zwei Beispiele nennen. Im Antrag 17/4187 hat die SPD verlangt, dass der Bund von geschätzten 20 Milliarden Euro zur Errei- chung des 10-Prozent-Zieles ab 2015 zugunsten der Kommunen und Länder mindestens 10 Milliarden zu- sätzlich übernimmt. Das alles aber „unbeschadet der fö- deralen Zuständigkeiten“. Mit dieser Initiative ist die SPD natürlich prompt gescheitert. An ihrem wirklich durchsichtigen Manöver, die Bildungspolitik als Vehikel für einen neuen Finanzausgleich zu nutzen, hat sich aber nichts geändert. Dafür hat sich ja sogar ihr Fraktionsvor- sitzender hergegeben. Die SPD bewegt offenbar nur eine Frage: „Wie bekommen wir mehr Geld vom Bund in die Länder?“, und nicht etwa „Wie schaffen wir ein ver- gleichbares, leistungsstarkes und gerechtes Bildungssys- tem in Deutschland?“ Lieber basteln Sie an einem neuen Art. 104 c, anstatt die Probleme und Ungerechtigkeiten in der Bildungspolitik zu beseitigen. Mit einem solchen Artikel wird jedenfalls kein Impuls gesetzt, die Länder dazu zu bringen, endlich für gemeinsame Standards, mehr Mobilität und mehr Vergleichbarkeit, letztlich also für mehr Gerechtigkeit in der Bildungspolitik zu sorgen. Und nur Bundesgelder in SPD-geführte Länder zu flu- ten, die mit ihrer Unfähigkeit aufgefallen sind, einen ver- fassungsgemäßen Haushalt vorzulegen, das ist bildungs- politisch dann doch ein bisschen wenig. Kollege Schultz, der Vertreter des Landes Schleswig- Holsteins, hat im Fachgespräch zur Bund-Länder-Ko- operation auf die Bedeutung von Bildungsmindeststan- dards hingewiesen, und auch Professor Prenzel hat es in der Anhörung deutlich gesagt: „Die durchschnittlichen Abstände zwischen den Ländern in Deutschland haben sich seit 2000 nicht verringert. Dies gilt auch für Länder- vergleiche der an den Gymnasien erzielten Leistungen. Im Extremfall erreichen die Abstände eine Größenord- nung von durchschnittlich ein bis eineinhalb Schuljah- ren.“ Er hat auch auf die extreme Bedeutung von Stan- dards und Vergleichbarkeit hingewiesen, wenn es um die Verbesserung des Bildungssystems geht: „Vielmehr fin- den sich Hinweise darauf, dass die deutlich früher erfolgte Einführung von Maßnahmen zur Qualitätssiche- rung, zum Beispiel Bildungsstandards, Vergleichsarbei- ten, Schulevaluationen, das Qualitätsbewusstsein an Schulen geschärft und Aufmerksamkeit auf die Förde- rung schwächerer Schülerinnen und Schüler gerichtet hat.“ Aber die SPD ignoriert diese Probleme und glaubt, mit der trivialen Forderung nach mehr Geld für die Län- der dieses Defizit an bildungspolitischem Durchblick einfach zuschütten zu können. Wir wollen unsere Bildungspolitik verantwortungs- voll und nachhaltig gestalten und uns nicht in ideologi- schen Debatten und dem Auftun neuer Geldquellen für marode Landeshaushalte erschöpfen. Noch nie gab es so viele junge studierende Menschen in Deutschland. Noch nie wurden so viele vom Bund und von den Ländern ge- fördert, und das ist auch gut so. Florian Hahn (CDU/CSU): Gerne und unermüdlich beziehen wir nun zum wiederholten Male Stellung zu den Anträgen der Opposition zum Thema Hochschul- pakt Plus. Die Schaffung von mehr Studienplätzen liegt nicht nur der SPD am Herzen, sondern auch der CDU/CSU. Dass die Regierung so viel wie noch keine andere Regierung zuvor für die Bildung in unserem Land getan hat, liegt auf der Hand. Noch nie gab es so viele junge studierende Menschen in Deutschland. Und noch nie wurden so viele gemeinsam von Bund und Ländern gefördert. Für Bayern bedeutet dies konkret, dass die Zahl von 49 000 Studien- berechtigten im Jahr 2007 auf 83 000 Studienberechtigte im Jahr 2011 gestiegen ist. Wir haben einen Rekordetat für den Bildungsbereich möglich gemacht: Wir sind auf dem besten Weg, das 10-Prozent-Ziel zu erreichen. Wir haben dem Qualitäts- pakt für die Lehre zusätzliche 2 Milliarden Euro an Bun- desgeldern zugeführt. Mit all diesen Punkten verbessern wir auch die Situa- tion der Studierenden und der Universitäten nachhaltig. Und vor allem etablieren wir unser Land als Bildungsre- publik. Mit dem Hochschulpakt wurden in der ersten Pro- grammphase von 2007 bis 2010 182 000 neue Studien- möglichkeiten geschaffen – das sind doppelt so viele wie ursprünglich geplant. Dieser Erfolg – das belegen die Daten des Statisti- schen Bundesamts – setzt sich in der zweiten Programm- phase fort. Denn auch im Studienjahr 2011 konnte dank des Hochschulpakts ein Einschreiberekord an deutschen Hochschulen verzeichnet werden. Insgesamt nahmen rund 516 000 junge Menschen ein Studium auf. Die Bundesregierung hat gezeigt, dass sie flexibel und handlungsfähig ist und auch auf Herausforderungen, die gebündelt auftreten, wie die doppelten Abiturjahr- gänge und die Aussetzung der Wehrpflicht, reagieren kann. Auch für die zweite Programmphase haben Bund und Länder vereinbart, ein bedarfsgerechtes Studienangebot zu schaffen. Auf der Basis der Zahlen von der KMK wurden bis zu 335 000 zusätzliche Studienplätze bis zum Jahr 2015 zugesichert. Dabei stehen für jeden Stu- dienplatz sogar 4 000 Euro mehr zur Verfügung als in der ersten Programmphase. Mit dieser Erhöhung leistet der Bund erneut einen wichtigen Beitrag zur Verbesse- rung der Qualität der Lehre. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20425 (A) (C) (D)(B) Die Forderung der SPD, die Deckelung des aktuellen Hochschulpakts aufzuheben und einen Hochschulpakt Plus einzuführen, halte ich deshalb nicht für sinnvoll und schon gar nicht für durchführbar. Ich möchte noch einmal wiederholen, dass wir in der ersten Programmphase doppelt so viele Studienplätze geschaffen haben, als geplant waren. Die Regierung hat somit eindrucksvoll bewiesen, dass sie in kürzester Zeit ein Vielfaches an neuen Plätzen zur Verfügung stellen kann. Genau so, wie wir das in der ersten Phase gemeistert haben, werden wir das auch in der zweiten Phase lösen. Wir haben immer gesagt: Wenn es mehr Studienplätze bedarf, finanzieren wir diese auch. Dies ist aber noch nicht der Fall. Ich bitte Sie deshalb, nicht im Vorfeld die Pferde scheu zu machen und Lösungen für Probleme zu suchen, die so noch gar nicht existent sind. Außerdem: Selbst wenn wir uns über verfassungs- rechtliche Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern hinwegsetzten und einen „Hochschulpakt Plus“ verab- schiedeten, vermute ich, dass vor allem die hoffnungslos verschuldeten Landesregierungen der SPD überfordert wären. Diese müssten ja schließlich die Studienplätze zur Hälfte mitfinanzieren. Die Forderungen der SPD werden nur noch von den Grünen getoppt, die einen äußerst bunten Strauß an politischen Wünschen in ihrem Antrag zusammenge- schrieben haben. Diese reichen vom Ausbau der Master- studiengänge bis zur didaktischen Weiterbildung des wissenschaftlichen Lehrpersonals, natürlich alles von- seiten des Bundes. Sinnvolle Finanzierungsvorschläge oder auch nur die Beachtung des föderalen Systems un- seres Landes habe ich in dem Antrag vergeblich gesucht. Ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal an die Beschlüsse von Bologna erinnern: Wie Sie alle wissen, betont die Bologna-Reform ausdrücklich, dass in einem System gestufter Studiengänge der Bachelorabschluss als erster berufsqualifizierender Abschluss den Regelab- schluss darstellt und somit für die Mehrzahl der Studie- renden direkt in die Arbeitswelt führen soll. Der Master- abschluss muss als zusätzlicher, jedoch nicht als regulärer Abschluss betrachtet werden. Abgesehen davon haben die Länder, laut BMBF, durch Erhebungen festgestellt, dass rechnerisch für je- den interessierten Bachelor heute ein Masterstudienplatz zur Verfügung steht. Den Anträgen der Opposition kann ich daher nicht zustimmen. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Wir Sozialdemokra- tinnen und Sozialdemokraten haben bereits im Oktober des letzten Jahres ein Konzept für einen Hochschulpakt Plus vorgelegt. Wir wollen den bestehenden Hochschul- pakt ausbauen und fortentwickeln. Denn es ist offen- sichtlich, dass der Hochschulpakt, den wir vor einigen Jahren gemeinsam mit der Union verabschiedet haben, gewissermaßen von seinem eigenen Erfolg überrollt wird. Es gibt viel mehr Studieninteressierte, viel mehr Nachfrage nach Studienplätzen, als die Länder an Ange- bot finanzieren können. Darum schlagen wir in unserem Konzept vor, dass kurzfristig mindestens 50 000 zusätz- liche Studienplätze finanziert werden müssen. Zudem wollen wir, dass bereits jetzt die nächste Phase des Hochschulpaktes ab 2016 zwischen Bund und Ländern vereinbart wird, damit die Hochschulen und die wissenschaftlich Beschäftigten Planungssicherheit erhal- ten. Denn Studienplätze, die dafür nötigen Investitionen und Personalkapazitäten lassen sich nicht von heute auf morgen schaffen. Für diese nächste Phase wollen wir auch einige Struk- turänderungen in den Pakt einbauen. Das ist das Plus, das wir zur Diskussion stellen. Die zwei wichtigsten Punkte will ich hier benennen. Wir sehen, dass es immer größere Schwierigkeiten nicht nur beim Angebot für Studienanfänger, sondern auch bei Masterstudienplätzen gibt – und künftig noch mehr geben wird. Wir wollen aber nicht eine Verengung auf wenige Elite-Master, sondern allen Bachelorabsol- venten muss der Weg zum Master offenstehen. Und wir wollen einen Anreiz für gute Lehre geben. Bislang finanzieren wir ja lediglich die neuen Studieren- den. Was dann nach dem Studienantritt passiert, ob sie schnell scheitern oder erfolgreich zum Abschluss geführt werden – das liegt außerhalb des Paktes. Das wollen wir ändern. Es muss auch in finanzieller Hinsicht einen Unterschied machen, ob die Studierenden gut betreut werden, ob sich die Hochschulen um gute Lehre bemü- hen oder nicht. Darum wollen wir einen Abschlussbonus einführen, den alle Hochschulen für jeden erfolgreichen Abschluss erhalten. Das setzt dann auch zusätzliche Mittel frei, mit denen die Lehre weiter verbessert werden kann. Was hat nun die Koalition aus CDU/CSU und FDP mit unserem Antrag gemacht? Ich habe ja nun nicht er- wartet, dass die Koalition mit Begeisterung zustimmt. Aber wenigstens als Denkanstoß hätte sie unser Konzept behandeln sollen. Stattdessen heißt es immer wieder be- schwichtigend, dass doch alles in Ordnung sei und man nichts tun müsse. Das war schon der Umgang mit unse- rem Antrag zur Reaktion auf die Aussetzung der Wehr- pflicht, und das ist jetzt wieder der Fall. Die tatsächliche Entwicklung jedoch gibt uns recht – und zwingt die Bundesregierung dann doch, auf die Schnelle Maßnahmen zu ergreifen. Auch das war bei der Frage Wehrpflicht so, und das ist auch hier der Fall. Inzwischen nämlich liegt eine neue Studienanfänger- prognose der Kultusministerkonferenz vor, die unsere Grundaussage, dass der Hochschulpakt ausgeweitet wer- den muss, bestätigt. Die Koalition lehnt unseren Antrag ab. Aber die Bundesregierung wird sich gleichwohl dem Gedanken neuer Verhandlungen mit den Ländern nähern müssen. Ein ums andere Mal muss man Frau Schavan zum Jagen tragen! Das Problem dabei ist, dass die eingetretene Verspä- tung erhebliche Verunsicherung der Hochschulen, des wissenschaftlichen Personals und der Studieninteressier- ten schafft. Kurzfristige Finanzierungen sind nicht 20426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) immer optimal; besser zur Zielerreichung ist die ange- sprochene Planungssicherheit. Zudem verhindert die Realitätsverweigerung mit an- schließender Hektik des Nachbesserns natürlich, dass auch über Strukturprobleme in Ruhe und zielgerichtet gesprochen werden kann. Die Aktivitäten der Bundes- regierung bleiben Stückwerk. Aber es gibt noch ein weiteres, ein fundamentales Problem: Frau Schavan hat einfach nicht genügend Geld. Finanzminister Schäuble stellt es nicht zur Verfü- gung. Die mittelfristige Finanzplanung kann gerade so die gröbsten Löcher beim Hochschulpakt stopfen. Doch sie sieht keine Vorsorge für eine ordentliche Ausweitung des Hochschulpaktes vor. Nach dem Wahljahr 2013 soll gar nichts mehr dazukommen. Das Problem kippt sie dann denen, die danach regieren, vor die Füße. Gleich- zeitig hat die Koalition übrigens just heute eine Steuer- entlastung vornehmlich für Spitzenverdiener in Höhe von 6 Milliarden Euro beschlossen! Wir haben nicht nur das Konzept für einen Hoch- schulpakt Plus, sondern auch für die Finanzierung von zusätzlichen Investitionen in Bildung, alleine vom Bund im Umfang von 10 Milliarden Euro. Mithilfe dieses Konzeptes können und werden wir dann gemeinsam mit den Ländern einen ausgeweiteten und verbesserten Hochschulpakt verwirklichen. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Um noch ein- mal daran zu erinnern: Der Bund finanziert die Bildung in Deutschland zu 16 Prozent, die Kommunen zu 20 Pro- zent und die Länder zu 64 Prozent. Ebendiesen beiden Hauptfinanziers von Bildung, den Ländern und den Kommunen, wollen Sie mit ihrem Steuerentlastungs- gesetz einmal mehr die Milliarden Euro entziehen, die wir in der Debatte um mehr Bildung, gleiche Bildungs- chancen und gleiche Bildungszugänge in Deutschland so dringend brauchen. Ihr Steuerentlastungsgesetz entzieht den Ländern glatte 2,5 Milliarden Euro. Kein Wunder, dass die Länder hier gegenhalten, wenn sie doch gleich- zeitig die Verantwortung für die Studienbedingungen ge- nauso wie auch für die Schulbedingungen ernstnehmen sollen und wollen, wie wir es uns alle hier wünschen. Weil man es nicht häufig genug sagen kann, will ich es hier noch einmal wiederholen: 50 000 zusätzliche Studienanfängerplätze erfordern 1,3 Milliarden Euro durch Bund und Länder. Auch deshalb ist es gut, wenn sich die Länder dagegen wehren, jetzt eine Steuersen- kung auf Pump zu finanzieren, wo sie die Mittel, die damit zusätzlich für die Zinsen ausgegeben werden müssen, jetzt doch so dringlich für die Studienanfänger- plätze und die bessere Ausstattung der Hochschulen brauchen könnten. Das ist Politik paradox, was Sie hier veranstalten. Dieses Verhalten von CDU/CSU und FDP ist auch deshalb umso unverantwortlicher, weil wir doch gemein- sam feststellen müssen, dass sich die staatlichen Stellen wie die Kultusministerkonferenz oder auch der Wissen- schaftsrat in Bezug auf den Bedarf an Studienanfänger- plätzen gewaltig verschätzt haben. Nicht, dass wir dieses beklagen wollten; denn es ist gut, wenn wir in Deutsch- land keine Stimmen mehr hören, die von einer Studie- rendenschwemme sprechen, sondern im Gegenteil alle verantwortlichen Politiker, die übrigen Kräfte in Wirt- schaft, bei Gewerkschaften und an den Hochschulen froh darüber sind, dass sich so viele junge Menschen für ein Studium entscheiden. Aber die Kultusministerkonfe- renz und die Wissenschaft haben sich in ihren Prognosen so massiv zusammen mit dem Bund verschätzt, dass da- raus jetzt auch Konsequenzen zu ziehen sind. Ganz konkret, so wie wir es in unserem Antrag gefor- dert haben: Bund und Länder müssen die Finanzierung der Studienplätze neu kalkulieren. Nach den neuesten Prognosen werden bis 2025 weit mehr als 400 000 Stu- dienanfänger zu versorgen sein. Das ist auch deshalb ein fundamentaler Unterschied, weil bis dahin die verant- wortlichen Stellen davon ausgegangen waren, dass der Studierendenandrang lediglich bis 2015, also bis zur zweiten Phase des Hochschulpaktes, anhalten werde und danach ein rapider Rückgang die Hochschulen entlasten könnte. Dieses wird nicht geschehen. Ganz im Gegenteil: Es zeichnen sich neue Rekord- zahlen ab. 2011 wurden rund 515 000 Studienanfänger gezählt. 2013 sollen es rund 490 000 sein. 2016 wird mit rund 470 000 gerechnet. Bis 2019 soll danach das Ni- veau lediglich auf 450 000 absinken. Mit einem Absin- ken auf die Zahl, die im Jahr 2010 angenommen wurde, nämlich rund 440 000, sei dagegen frühestens 2020 zu rechnen. Damit kommt aber nicht nur auf die Länder und den Bund in gemeinsamer Verantwortung, sondern auch auf die Hochschulen eine gewaltige Dauerleistung zu. An dieser Stelle ist seitens der SPD-Bundestagsfrak- tion den Hochschulen, allen Hochschullehrerinnen und -lehrern und den übrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbei- tern ausdrücklich eine hohe Anerkennung auszuspre- chen, denn es ist nicht zuletzt ihre Leistung, die wach- senden Studierendenzahlen dennoch unter sehr schwierigen Bedingungen so gut es eben geht zu bewäl- tigen und gleichzeitig auch möglichst vielen Studieren- den einen guten Studienverlauf, eine gute Qualität, einen Studienabschluss und insgesamt eine befriedigende Stu- dienzeit zu ermöglichen. Nur, umso mehr sind wir jetzt seitens der politisch Verantwortlichen verpflichtet, uns auf diese neuen Bedingungen an den Hochschulen mit einzustellen und das Notwendige zu veranlassen. Diese Notwendigkeiten will ich gerne in den folgen- den Punkten präzisieren, ganz in der Linie des von uns bereits im Oktober 2011 eingebrachten Antrages „Für ei- nen Hochschulpakt Plus“. Erstens. Der Bund muss alles tun, damit die Länder auskömmlich finanziert bleiben und ihren Beitrag zum Hochschulpakt und der 50-prozentigen Finanzierung der 26 000 Euro pro Studienanfängerplatz mit leisten und auch zusätzliche Kapazitätsverbesserungen im Personal wie in den Bedingungen bis hin zur Ausstattung und zu den Baulichkeiten vornehmen können. Ohne starke Län- derfinanzen gibt es auch keine starken und guten Hoch- schulen. Dabei ist es nur vernünftig, wenn die Studien- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20427 (A) (C) (D)(B) anfängerzahlen entsprechend wachsen. Hier sollte man von der ursprünglichen Platzkalkulation abgehen und die Mittel aus dem Hochschulpakt so vorziehen, dass diese Studienanfängerplätze zeitnah entstehen können. Zweitens. Niemand sollte sich allerdings vormachen, dass es zu einem schnellen Rückgang von Studienanfän- gerbedarfen kommen kann. Deshalb muss bei den jetzt beginnenden Verhandlungen zum Hochschulpakt III ein hohes Studierendenanfängerpotenzial auch bis zum Jahre 2020 objektiv eingerechnet werden. Die Verhandlungen zu diesem Hochschulpakt III haben im Übrigen unverzüglich zu beginnen, weil alle wissen, dass solche Pakte ihre Vorläufe brauchen und die Verhandlungen in der Gesamtgemengelage sehr schwie- rig werden können. Gleichzeitig brauchen die Studieren- den, ihre Familien wie die Hochschulen Vertrauen, was nach dem Abschluss der zweiten Phase geschieht. Denn nur mit Vertrauen auf Stabilität und mehr Unterstützung für die Hochschulen lässt sich die absehbare Höchstleis- tung, die von den Hochschulen insgesamt erwartet wird, auch erbringen. Drittens. Wenn das Kriterium der Studienanfänger- plätze in der beginnenden Expansion der Studienan- fängerzahlen das Richtige war, so kommt in der nächsten Phase des Hochschulpaktes entscheidend dazu, auch den wachsenden Bedarf an Masterstudienplätzen abzubilden und insgesamt den ganzen Studienverlauf in die Förde- rung einzubeziehen. Die SPD kann nur noch einmal nachdrücklich fordern, dass die Hochschulen und die Landesregierungen sich einen sehr genauen, sehr objek- tiven Überblick verschaffen, wie der Übergang in den Masterstudiengang tatsächlich genutzt wird und was alles getan werden muss, um hier den Rechtsanspruch auf einen Zugang zu einem Masterstudienplatz bei jedem interessierten Studierenden auch zu ermöglichen. Damit ist ganz klar gesagt: Es soll einen Rechtsanspruch auf eine Fortsetzung des Studiums aus dem Bachelor in den Master hinein geben, nicht aber einen Rechtsan- spruch, einen ganz bestimmten Studiengang an jeder beliebigen Hochschule der eigenen Wahl fortsetzen zu können. Viertens. 26 000 Euro sind ein guter Durchschnitts- wert, der ganz verschiedene Studienanfängerplätze in sich einschließt. Wir erwarten für die Verhandlungen zum Hochschulpakt III, dass die Bedarfssätze hierbei auch Differenzierungen mit zulassen, damit Hochschu- len davon abgehalten werden, aufwendigere Studien- gänge, zum Beispiel im Bereich der Medizin oder auch der Ingenieurwissenschaften, bei denen hohen Labor- kosten anfallen können, zurückzustellen. Denn gerade in diesen beiden Fachgebieten würde sonst ein Fachkräfte- mangel in der Zukunft besonders dramatisch eintreten. Fünftens. Mehr Studienanfänger und mehr Studie- rende heißt auch ein höherer Bedarf an Hochschulbau- ten – die offene Frage aus der Föderalismusreform 2006, in welchem Umfang die Hochschulbauten weiter geför- dert werden, kann im Interesse der Studierenden nur so beantwortet werden, dass die Mittel für den Hochschul- bau keinesfalls kurzfristig unter das aktuelle Niveau von 695 Millionen Euro sinken dürfen, wenn wir uns die Phase bis 2020 ansehen, zunächst einmal aus Kapazitäts- gründen und dann auch aus Qualitätsgründen. Die Bundesregierung ist hier nachdrücklich aufgefordert, ge- genüber den Ländern nicht zu mauern, sondern dafür Sorge zu tragen, dass es ein hohes weiteres Finanzie- rungsniveau für den Hochschulbau gibt und Mittel, die an die Länder gehen, in diesen auch vorrangig für den Hochschulbau mit eingesetzt werden. Sechstens. Bei der Einbringung des SPD-Antrages wurde in der Debatte speziell vonseiten der konservati- ven Abgeordneten mit großer Skepsis aufgenommen, dass die SPD auch die Förderung von Abschlüssen als eine Berechnungsgröße in den neu zu verhandelnden Hochschulpakt mit einbeziehen wollte. Wir haben mitt- lerweise feststellen können, dass dieser Vorschlag durch- aus auch aus den Hochschulen und der Wissenschaft selbst Unterstützung erfährt. Nicht als alleiniges Krite- rium, sondern als ein Mischkriterium, so wie es wichtig ist, dass möglichst viele junge Leute studieren können, aber auch von diesen möglichst viele zu einem erfolgrei- chen Abschluss gebracht werden. Wir können die Bun- desregierung nur noch einmal ausdrücklich auffordern, diese komplexere Steuerungsgröße auch in die Verhand- lungen für einen Hochschulpakt III mit einzubringen. Denn es ist doch im Interesse aller, wenn die Abbruch- quote von rund 25 Prozent über eine solche Steuerungs- größe, aber auch über eine Verbesserung der Lehre und auch eine verbesserte Beratung und solide Begleitung der Studierenden energisch in Angriff genommen wird. Siebtens. Mehr Studierende heißt auch mehr soziale Bedarfe, angefangen vom BAföG über den Ausbau von Studierendenwohnungen bis hin zur Studienberatung. Die SPD hat hierzu schon an anderer Stelle Anträge ein- gebracht und kann nur die steten Hinweise des Deut- schen Studentenwerkes, aber auch der Studierendenver- einigungen und der Asten nachdrücklich unterstreichen, die einen Hochschulpakt Plus, einen wirklichen Pakt für die Studierenden, durch eine soziale Absicherung und eine soziale Unterstützung begleitet sehen wollen. Wer hier spart und sein Profil alleine in dem Aufbau eines minimalen Deutschlandstipendiums sucht, wie es leider bei CDU, CSU und FDP der Fall ist, hat nicht begriffen, was Studium heißt und welche Sorgen auch zunehmend die Studierenden aus diesen sozialen und persönlichen Gründen haben. Das Fazit also ist: Wir haben in Deutschland in den Ländern und beim Bund mit der Sicherung der Hoch- schulen in ihrer Fähigkeit, der wachsenden Zahl von Studierenden ein gutes Studium zu ermöglichen, für die nächsten zehn Jahre eine wirkliche Herkulesaufgabe vor uns. Diese sollte sich dann allerdings auch in den Finanzplanungen der Bundesregierung widerspiegeln. Hier ist jedoch lauter Alarm angesagt. Wenn Sie sich die bekannt gewordenen Eckwerte für den Haushaltsplan 2013 und vor allem für die Haushaltspläne 2014, 2015 und 2016 in der mittelfristigen Finanzplanung ansehen, dann muss Ihnen allen klar sein: So wie die Bundesre- gierung aktuell vorgeht, werden die Hochschulen und die Bildung insgesamt in der Zukunft vollkommen al- leingelassen. Zwar soll der Haushalt im Jahr 2013 noch 20428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) einmal wachsen, um dann aber in den Jahren 2014, 2015 und 2016 bei Bildung und Forschung deutlich zu sinken, nämlich um rund 150 Millionen im Jahr. Wie dieses mit den zusätzlichen Anforderungen durch wachsende Studierendenzahlen, durch einen auskömm- lich finanzierten Hochschulpakt und durch eine nachhal- tige Qualitätsverbesserung an den Hochschulen zusam- menpassen kann, das wird sich keinem ernsthaften Betrachter erschließen. CDU/CSU und FDP wollen in der nächsten Legislaturperiode offensichtlich Bildung und Forschung rasieren und damit einen Abbau von Bil- dung und Forschung vorantreiben. Im Gegenteil: Wenn man weiß, wie viele Mittel zum Beispiel durch die große Position im Haushalt wie die Exzellenzinitiative bis zum Jahr 2017, den Pakt für Forschung und hier die Leistungen an die großen For- schungsorganisationen mit jährlichen Steigerungsraten von 5 Prozent auf deren Gesamtvolumen von aktuell 4,2 Milliarden Euro und eben auch die steigenden Mittel für den Hochschulpakt und das BAföG gebunden sind, der kann nur voller Sorge sagen: Mehr Aufgaben und mehr unabdingbare Anforderungen bei geringeren Mit- teln, das fährt die Bildungspolitik des Bundes und hier insbesondere die Hochschulpolitik vollkommen gegen die Wand. Wir können Sie nur warnen: Halten Sie inne bei dieser Politik von geplantem Bildungsabbau. Wir von der SPD haben nicht umsonst ein zusätzliches Volu- men von 20 Milliarden Euro bei Bund und Ländern für Bildung und 3 Milliarden Euro für Forschung und Infra- struktur eingeplant. Oder kündigen CDU/CSU und FDP hier schon Eingriffe in das BAföG, Einschränkungen in der Pro- grammförderung und eine Reduzierung der Mittel für die notwendigen Studienanfängerplätze und die notwen- digen Hochschulbauten an? Die Finanzplanung dieser Bundesregierung jedenfalls zeigt auf, dass sich diese Re- gierung nur noch bis zum Wahltag hinwegretten will, aber den vielen Hunderttausend Studierenden und ihren Familien und auch den Hochschulen keine sichere lang- fristige Antwort mehr geben kann und geben will. Dr. Peter Röhlinger (FDP): Bildung und Forschung sind für unser Land Zukunftsthemen. Wir müssen in Köpfe investieren; das ist unser wesentlicher Rohstoff. Wir brauchen Fachkräfte. Im Unterschied zu SPD und Grünen belässt es die Koalition nicht bei warmen Wor- ten, sondern sie handelt. Wir haben Jahr für Jahr unsere Ausgaben für Bildung und Forschung gesteigert. Der Etat des Einzelplans 30 ist von 2009 auf 2010 um 701 Millionen Euro aufgewachsen, von 2010 auf 2011 um 783 Millionen Euro und nun für das Jahr 2012 erneut um 454 Millionen Euro. Wir hatten uns vorgenommen, in dieser Legislaturperiode 12 Milliarden Euro mehr in Bildung und Forschung zu investieren. Dieses Ziel wer- den wir nicht nur erreichen, sondern wir werden es deut- lich überschreiten. Wenn man sich im Vergleich dazu die Kennzahlen der Regierung Schröder vor Augen hält, kann man sich nur wundern. Sie haben Grund, sich zu schämen. In den Ländern sieht es nicht besser aus. Schaut man nach NRW, so stellt man fest, dass Frau Krafts Schul- denberg keineswegs aufgrund zusätzlicher Investitionen in den Hochschulbereich anwächst. Im Gegenteil: Rot- Grün lässt die Hochschulen zwischen Aachen und Biele- feld regelrecht ausbluten. Weniger Seminare, weniger Tutorien, eingeschränkte Bibliotheksöffnungszeiten sind Handschrift und Markenzeichen der Wissenschafts- ministerin. Ähnliches erleben wir zwischen Konstanz und Mannheim. Grün-Rot will ein neues Bildungssys- tem, aber zu sehen ist ein Debakel. Hü und Hott beim neunjährigen Gymnasium, sang- und klanglose Abwick- lung der beruflichen Gymnasien, floppende Einheits- schulexperimente, Demontage der Werkrealschulen, gra- vierende Einnahmeausfälle an den Hochschulen wegen unzureichender Kompensationsmittel. Dafür dürfen Ba- den-Württembergs Studierende demnächst mit Zwangs- beiträgen eine eigene verfasste Studierendenschaft fi- nanzieren. Damit kann sich das Land, dessen Einwohner alles können außer Hochdeutsch, demnächst zwischen den Bildungsleuchten Berlin und Bremen einreihen. Doch gerade heute ist Handeln notwendig. Der Druck auf die Hochschulen wächst. Die Zahl der Studierenden steigt stetig. Der demografisch bedingte Rückgang der Zahl der Schulabgänger wird in den nächsten Jahren an den Hochschulen kaum Entlastung bringen, weil die Hochschulzugangsquote kontinuierlich steigt. Noch nie war ein Hochschulstudium so attraktiv wie heute. Im Er- gebnis ist das ausgesprochen erfreulich. Doch dieser Umstand erfordert umsichtiges Handeln. Wir sehen die Notwendigkeit, die Länder beim Ausbau der Hochschu- len und bei der Verbesserung der Hochschullehre zu un- terstützen. Die Bundesregierung übernimmt Verantwor- tung. Mit dem Hochschulpakt und dem Qualitätspakt Lehre fließen seit Jahren Milliardenbeträge in den tertiä- ren Bildungssektor. Das ist richtig und notwendig. Wenn Bund und Länder die Finanzierung der Hochschulen ge- meinsam bewältigen, wenn sie gemeinsam Kapazitäten schaffen und die Betreuung verbessern, so ist dies kon- sequent und richtig. Denn am Ende profitieren Länder und Bund gleichermaßen von dieser Kraftanstrengung. Allerdings regt sich Empörung, wenn Länder wie NRW und Baden-Württemberg zuerst den Hochschulen die Einnahmen zusammenstreichen und dann mit dem Finger auf Berlin zeigen, um noch mehr Geld zu fordern. Mit ihren Anträgen haben Rot und Grün ihre Wunschlis- ten überreicht: mehr Geld, mehr Studienplätze, keine Zulassungsbeschränkungen für Studierwillige, keine Studiengebühren, bessere Studienbedingungen, mehr Masterstudienplätze, mehr Personal an den Hochschulen für Lehre und Betreuung und so weiter und so fort. Aber die Rechnung sollen andere begleichen. Das geht so nicht. Die Bundesregierung hat zugesagt, die benötigten Studienplätze für das inzwischen beendete WS 2011/ 2012 und darüber hinaus mitzufinanzieren. Wir brau- chen Fachkräfte, und wir wollen sie ausbilden. Aber auch die Länder müssen ihren Teil dieser Aufgabe erle- digen. Das gilt sowohl im Hinblick auf den Ausbau von Studienplatzkapazitäten als auch im Hinblick auf Ver- besserungen bei der Personalausstattung für Lehre und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20429 (A) (C) (D)(B) für die Betreuung der Studierenden. Mit dem Hoch- schulpakt und mit dem Qualitätspakt Lehre sind wir auf einem sehr gutem Weg. Den bunten Strauß an Forderun- gen der versammelten Opposition unterstützen wir nicht. Nicole Gohlke (DIE LINKE): Ein paar Häuser- blöcke entfernt sitzt die Studierendenvertretung der Humboldt-Universität, der sogenannte ReferentInnen- Rat, und heute wie jeden Donnerstag beraten dort zwi- schen 12 und 15 Uhr Studierende Bewerberinnen und Bewerber, die keinen Studienplatz erhalten haben. Im letzten Sommer haben sich 29 000 Menschen an der HU beworben. Studienplätze gibt es gerade einmal 3 316. Der Studienplatzmangel ist in Berlin besonders drän- gend, aber er ist kein Berliner Phänomen. Bundesweit stehen Jahr für Jahr Zehntausende vor den verschlosse- nen Türen der Hochschulen. Die Beraterinnen und Berater in der Humboldt-Uni empfehlen den erfolglosen Bewerbern eine Studienplatz- klage. Das funktioniert häufig auch, denn ein Studium aufzunehmen, ist ein Grundrecht, das man eigentlich nicht so einfach einschränken darf. Eigentlich. In der Realität sind die Zulassungsverfahren längst nicht mehr nur dafür da, mit einer lokalen Übernachfrage klarzu- kommen oder statistische Ausreißer zu bewältigen. Im Gegenteil: Die Hochschulen sind chronisch unterfinan- ziert, es gibt einen strukturellen Studienplatzmangel, und den gibt es bundesweit. Nach heftigen Protesten von Schülerinnen und Schü- lern und Studierenden hat sich dann auch die Bundesre- gierung mit dem Hochschulpakt ein Stückchen bewegt. Aber auf halber Strecke sind Sie stehen geblieben. 275 000 Studienplätze – oder 334 000 inklusive Ausset- zung der Wehrpflicht – wollen Sie bis 2015 schaffen. Dass das nicht reicht, hat im Januar sogar die KMK bemerkt. Nun haben Sie letzte Woche im Kabinett noch einmal auf circa 300 000 nach oben korrigiert. Aber wir alle wissen doch, dass an den Hochschulen de facto über 500 000 Studienplätze fehlen. Sie müssten also in den nächsten acht Kabinettssitzungen noch einmal die glei- chen Beschlüsse fassen, dann würde es am Ende reichen. Wir fordern in unserem Antrag: Lassen Sie die jetzi- gen Schulabgängerjahrgänge nicht im Regen stehen, und stocken Sie den Hochschulpakt sofort auf mindestens 500 000 neue Studienplätze auf! Fangen Sie endlich an, realistisch zu rechnen! Sie alle fordern in Sonntagsreden bessere Studien- bedingungen. Aber wo soll die Qualität in der Lehre herkommen unter Bedingungen von jahrelanger Unter- finanzierung? In den vergangenen 15 Jahren wurden rund 1 500 Professuren abgewickelt. Der Betreuungs- schlüssel zwischen Hochschullehrerinnen und Hoch- schullehrern und Studierenden liegt bei 1 zu 60. Qualifi- zierte Stellen werden mehr und mehr abgebaut und durch schlechtbezahlte und befristete Lehrbeauftragten- stellen ersetzt. Unter diesen Bedingungen kann keine gute Lehre stattfinden. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen dringend raus aus den prekären Beschäftigungsverhältnissen; ihnen muss die Möglich- keit gegeben werden, ihr Leben planen zu können und nicht von einem Vertrag zum nächsten bangen zu müs- sen. Wir brauchen dringend mehr Geld für die Grund- finanzierung der Hochschulen. Bringen Sie also endlich mehr Geld ins System und nicht nur schöne Worte in Ihre Sonntagsreden! Und hören Sie auf, die Verantwortung an die Länder abzuschieben! Die Länder alleine werden das nicht schaffen; das wissen Sie ganz genau. Der Ausbau der Hochschulen ist nur zu bewältigen, wenn Bund und Län- der an einem Strang ziehen. Heben Sie endlich das Kooperationsverbot in der Bildung auf, und machen Sie den rechtlichen Weg frei für eine dauerhafte Förderung der Hochschulen, indem Sie Ihre unselige Föderalismus- reform von 2006 wieder zurückdrehen! Die Grundgesetzänderung, die Sie sich im Koalitions- ausschuss überlegt haben, bringt an dieser Stelle über- haupt nichts. Sie wollen nur Einrichtungen an Hoch- schulen fördern, nicht die Hochschulen selbst. Damit verstetigen Sie die Exzellenzinitiative und das Auseinan- derdriften der Hochschullandschaft in wenige Elite- leuchttürme und den unterfinanzierten Rest – die Stu- dierenden haben rein gar nichts davon. Einer solchen Änderung wird die Linke auf keinen Fall zustimmen. Sie sind als Bundesregierung noch an einem zweiten Punkt am Zug. Denn die Hochschulzulassung selbst liegt in der Hand des Bundes. Das Zulassungschaos ist Pro- dukt Ihrer Untätigkeit, weil die Regierung sich weigert, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Raffen Sie sich endlich einmal aus Ihrer Untätigkeit auf! Hier geht es nicht um irgendetwas, hier geht es um die Perspektiven der jungen Generation! Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die heutige Debatte ist notwendig, weil die Hochschulen in der vermeintlichen Bildungsrepublik Deutschland drin- gend stärker als bisher ausgebaut werden müssen. Die neue Studienanfängerinnen- und Studienanfän- gerprognose der Kultusministerkonferenz, KMK, vom 24. Januar dieses Jahres ist hochschulpolitisch erfreulich und alarmierend zugleich: Allein in den kommenden drei Jahren – also innerhalb der aktuellen Laufzeit des Hochschulpakts bis 2015 – erwartet die Kultusminister- konferenz 357 000 Studienanfänger mehr als bisher angenommen. Diese 357 000 Lebens-, Zukunfts- und Bildungschancen sind in den Hochschulpaktplanungen weder vorgesehen noch ausfinanziert. Dabei ist mehr als eine Verdopplung der bisherigen Zahlen notwendig – sowohl bei den Studienanfängerinnen und Studienanfän- gern als auch beim Volumen des Hochschulpaktes. Die KMK hat zudem klargemacht: Aus dem oft be- schriebenen kurzzeitigen „Studierendenberg“ entwi- ckelt sich ein dauerhaftes „Studierendenhochplateau“. Der zwischen Bund und Ländern vereinbarte Hochschul- pakt ist dafür nicht ausgerüstet, sondern benötigt eine kräftige Aufstockung. Diese Herausforderung muss die Bundesregierung zügig angehen und endlich Vorsorge fürs Hochplateau treffen. Andernfalls droht der Hoch- schulpakt zum Mangelverwaltungspakt zu verkommen. 20430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) Dynamisierung nach oben statt Deckelung auf zu niedri- gem Niveau – das ist das Gebot der Stunde, um derzeiti- gen und kommenden Studienberechtigtengenerationen einen Studienplatz bereitzustellen. Darüber hinaus ist es unser Ziel und gehen wir davon aus, dass aus Studienanfängerinnen und Studienanfän- gern keine Studienabbrecherinnen und Abbrecher, son- dern Bachelorabsolventinnen und -absolventen und mehrheitlich Masterstudierende werden. Daher braucht der Hochschulpakt endlich eine Langfristperspektive. Dies bedeutet einerseits, den Pakt um eine Masterkom- ponente zu ergänzen, und andererseits, eine Verlässlich- keit und finanzielle Planungssicherheit über 2015 hinaus herzustellen. Beides fehlt bisher und macht noch offen- sichtlicher, dass der bisher verabredete Hochschulpakt hinten und vorne nicht ausreicht, er zu kurz springt und massiv unterfinanziert ist. Doch was tut die Bundesregierung, um den Hoch- schulpakt gemeinsam mit den Ländern so auszurichten, dass alle Studienberechtigten einen Studienplatz bekom- men? Traurige Antwort: nichts. Diese schwarz-gelbe Verweigerungshaltung muss die junge Generation aus- baden. Damit führt die Bundesregierung die Ziele des Hoch- schulpakts ad absurdum, gefährdet Studienchancen, blockiert die Ausbildung des wissenschaftlichen Nach- wuchses und schadet unserer Innovationskraft. Schwarz- gelbe Verweigerungshaltung verfestigt Studienplatzman- gel – das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Bundesbildungsministerin Schavan hat den Hoch- schulpakt als „atmendes System“ bezeichnet, welches sich an den Bedarf anpasst. Nur gibt es keine Anzeichen, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung zu ihrem Wort steht. Der jetzt vorliegende Eckwertebeschluss des Haushalts 2013 verdeutlicht das. Für den Hochschulpakt sollen demnach keine zusätzlichen Mittel bereitgestellt werden. Die Bundesregierung scheint zwar einen Mehrbedarf anzuerkennen, verschiebt aber nur Mittel aus den Jahren 2015 und 2016 ins Jahr 2013. Das ist nicht mehr als ein Taschenspielertrick. Dass dieses Geld 2015 und 2016 fehlen wird, nimmt Schwarz-Gelb gerne in Kauf. Dann hat man für die Jahre auch gleich eine Oppositionsstrate- gie im Ärmel. Ab dem nächsten Jahr werden die Hochschulpakt- mittel erschöpft sein. Dann stehen die Länder alleine vor der Aufgabe, das Studierendenhochplateau zu finanzie- ren. Die Länder sind aber kaum in der Lage, mehr als doppelt so viele Studienplätze wie geplant aufzubauen, zumal sie sich nicht sicher sein können, dass der Bund zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Nachfinanzierung bereit ist. Die Strategie der schwarz-gelben Bundesregie- rung ist klar: Sie will den Hochschulpakt nicht zum Atmen bringen. Im Gegenteil: Sie will das Studierenden- hochplateau im Keim ersticken. Seien Sie sich sicher: Die Studierenden, Hochschulen und die Opposition in diesem Hause werden weiter für einen Ausbau kämpfen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu der Siebten Änderung des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds (IWF) (Tagesordnungspunkt 13) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Mit der heutigen abschließenden Plenarbefassung und Abstimmung zum Gesetz zur Siebten Änderung des IWF-Übereinkom- mens beschäftigen wir uns vom Umfang her mit einem relativ kurzen Gesetz. Es besteht lediglich aus zwei Arti- keln. Diese beinhalten zum einen, dass Deutschland der Siebten Änderung des IWF-Übereinkommens zustimmt, und zum anderen, dass die Änderungen mit einer amt- lichen deutschen Übersetzung veröffentlicht werden. Bei der Änderung des IWF-Übereinkommens handelt es sich um die Änderung eines völkerrechtlichen Vertrages. Daher ist es auch folgerichtig, dass der Deutsche Bun- destag zustimmen muss – das ist im Übrigen im Grund- gesetz so geregelt. Das Gesetz selbst ist also grundsätz- lich unstrittig. Was genau verbirgt sich nun hinter den eigentlichen Änderungen des Übereinkommens? Konkret geht es um die Zusammensetzung des Exe- kutivdirektoriums des IWF. Das Exekutivdirektorium besteht aus 24 Exekutivdirektoren, die für die laufende Geschäftsführung des Fonds verantwortlich sind. Die Direktoren wurden bislang von den einzelnen 187 Mit- gliedsländern, die dem IWF angehören, ernannt bzw. wurden durch einzelne oder in Stimmrechtsgruppen zusammengeschlossene Mitgliedsländer gewählt. Dabei war es so, dass die fünf größten Anteilseigner des Fonds – bis dato die USA, Japan, Deutschland, Frankreich und Großbritannien – ihren Exekutivdirektor ernennen konn- ten und alle anderen Exekutivdirektoren gewählt wur- den. Zukünftig soll diese Regelung für die fünf größten Anteilseigner aufgehoben werden, sodass dann alle Exe- kutivdirektoren des IWF-Direktoriums gewählt werden müssen. Diese Änderung ist aus Gründen der Gleich- behandlung der Mitgliedstaaten gerechtfertigt, auch wenn Deutschland dadurch sein direktes Benennungs- recht verliert. Gleichwohl gehe ich davon aus, dass Deutschland aufgrund seines Stimmgewichtes auch wei- terhin dauerhaft im Exekutivdirektorium vertreten sein wird. Des Weiteren werden zwei bisher von Europäern besetzte Stellen im Exekutivdirektorium in Zukunft von aufstrebenden Schwellenländern besetzt werden. Europa wird dann mit 7 von 24 Mitgliedern im Exekutivdirekto- rium vertreten sein. Dieser Verlust mag schmerzhaft sein. Er ist aber eine zwangsläufige Folge der wirtschaft- lichen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten. Die wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse haben sich in den letzten 60 Jahren stark verschoben. Die beschlossenen Veränderungen im Exekutivdirektorium bedeuten daher auch eine notwendige Stärkung der Legitimität und Glaubwürdigkeit des IWF. Die Änderung bei der Zusammensetzung des IWF- Exekutivdirektoriums ist zudem Voraussetzung für das Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20431 (A) (C) (D)(B) Inkrafttreten der ebenfalls vom IWF-Gouverneursrat beschlossenen deutlichen Erhöhung und Umverteilung der sogenannten Quoten. Alle IWF-Mitgliedstaaten zah- len bei Beitritt zum IWF eine bestimmte Geldsumme als eine Art kreditgenossenschaftliche Einlage – die soge- nannte Quote – und halten somit Anteile am Fondskapi- tal. Diese Quoten bedingen nicht nur die Einzahlungs- verpflichtungen und möglichen finanziellen Hilfen, die Mitgliedstaaten vom Fonds in Krisenzeiten erhalten kön- nen, sondern auch die Stimmrechte der einzelnen Län- der. Gestützt auf die relative Größe jedes Mitgliedslan- des setzt der IWF anhand einer Untersuchung des Wohlstands und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit die Quote eines jeden Landes fest. Die Quoten werden in regelmäßigen Abständen überprüft und gegebenenfalls geändert. Denn auch die wirtschaftlichen Leistungs- fähigkeiten der einzelnen Länder ändern sich im Laufe der Zeit. Die Erhöhung und Umverteilung der Quoten ist Folge einer von den G 20 im Herbst 2010 beschlossenen Reform des IWF. Ziel war insbesondere, dass sich die Bedeutung der boomenden und aufstrebenden Schwel- len- und Entwicklungsländer stärker in der Führungs- struktur des IWF widerspiegelt, als das bisher der Fall gewesen ist. Wie bereits eingangs erwähnt, sind aktuell die größten Anteilseigner immer noch die USA, Japan, Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Dabei sind die dynamischen Schwellenländer wie Indien oder China noch nicht entsprechend berücksichtigt. Mit der Reform erfolgt nun eine allgemeine Stärkung der regulären Finanzmittel des IWF. Vor allen Dingen findet aber auch eine Umverteilung der relativen Kapitalanteile und somit der Mitspracherechte von den Ländern, die angesichts ihrer aktuellen weltweiten Wirtschaftskraft im Fonds überrepräsentiert sind, zugunsten der bisher unterreprä- sentierten Länder wie China statt. China wird demnach Deutschland künftig als drittgrößter Anteilseigner ab- lösen. Die G-20-Reformen wurden vom IWF-Gouver- neursrat durch Resolutionen beschlossen und sind nun bis Ende 2012 durch die Mitgliedsländer umzusetzen. Dazu gehört auch die geänderte Zusammensetzung des IWF-Exekutivdirektoriums, worüber wir hier heute befinden. Lassen Sie mich abschließend noch einige Worte zur Rolle des IWF allgemein sagen. Traditionell vergibt der IWF unter bestimmten Bedingungen, wie zum Beispiel unter Auflage von Strukturanpassungsprogrammen, befristete Kredite an Länder, die wirtschaftliche Pro- bleme haben. Solche Programme können beispielsweise die Kürzung von Staatsausgaben, die Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen oder Ähnliches vorsehen. Die Kreditvergabe und Entwicklungszusammenarbeit sind an Bedingungen der sogenannten Good Gover- nance, also etwa Korruptionsbekämpfung, und der Libe- ralisierung gebunden. In der Vergangenheit waren häufig Entwicklungsländer Empfänger dieser Kredite. Mittler- weile hat sich das Blatt enorm gewendet. Der IWF ist sehr stark in die aktuelle Staatsschuldenkrise eingebun- den und leistet einen großen Beitrag zur Unterstützung von in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratenen Län- dern. Die derzeit größten Schuldner sind daher nicht mehr afrikanische oder südamerikanische Staaten, son- dern Portugal, Griechenland und Irland. Neben dem fi- nanziellen Beitrag ist die Bedeutung des IWF als unab- hängiger Berater und Beobachter nicht zu unterschätzen. Der IWF hat sich gerade jetzt in diesen Zeiten der Fi- nanz- und Staatsschuldenkrise als unverzichtbar und als stabilisierender Faktor erwiesen. Es ist gut und wichtig, dass der IWF diese Rolle eingenommen hat. Daher gilt es auch, den IWF weiterhin in seiner Arbeit zu unterstüt- zen. Alles in allem denke ich, dass wir hier einen relativ unstrittigen Gesetzentwurf vorliegen haben. Auch die anderen Fraktionen – mit Ausnahme der Linken, die sich enthalten wollen – haben signalisiert, dass sie dem Gesetzentwurf zustimmen möchten. Peter Aumer (CDU/CSU): Der Internationale Wäh- rungsfonds spielt bereits seit vielen Jahren eine wichtige Rolle. Seit seiner Gründung im Jahr 1944 ist er um die Sicherung des globalen Finanzsystems, die Förderung und Überwachung der internationalen Geldpolitik und die Ausweitung des Welthandels bemüht. Mittlerweile sind ihm 187 Staaten beigetreten. In den vergangen Jah- ren gewann er durch sein Engagement im Rahmen der internationalen Finanzkrise und der europäischen Staats- schuldenkrise gerade für uns in Europa und Deutschland stark an Bedeutung. Durch seine umfangreiche Beteili- gung an den bisherigen Rettungsprogrammen trug er ei- nen wichtigen Teil zur Beruhigung der Finanzmärkte und Stabilisierung der Finanzierungssituation in den Krisenländern bei. Der IWF ist heute eine international angesehene Or- ganisation, die auch für Entwicklungs- und Schwellen- länder eine große Bedeutung spielt. Letztere gewannen vor allem in der vergangenen Dekade an wirtschaftlicher und politischer Bedeutung auf dem internationalen Par- kett. So stieg der Anteil dieser Länder an der Weltwirt- schaft in den letzten Jahren stark an. Auch Deutschland profitiert von diesem Aufstieg in hohem Maße; denn die Schwellenländer sind mittlerweile unverzichtbare Han- delspartner für unsere Exportwirtschaft geworden. Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln erhöhte sich der Anteil der Schwellenländer am deutschen Exportwachstum in den letzten Jahren dras- tisch. Ging im Zeitraum von 1995 bis 2000 nur etwa ein Fünftel des Wachstums auf diese Länder zurück, ging bereits im Zeitraum von 2000 bis 2007 mehr als ein Drit- tel auf das Konto der Schwellenländer. Auch während der Finanz- und Weltwirtschaftskrise ist der Anteil dieser Märkte am deutschen Export weiter gewachsen. Deutschland profitiert von diesem Wandel der Weltwirt- schaft als Exportnation von Investitionsgütern im inter- nationalen Vergleich besonders stark von dem hohen Wachstum der Schwellenländer. Experten gehen davon aus, dass dieser Trend auch in den nächsten Jahren anhalten wird. Die Schwellenländer haben in Deutschland und in der ganzen Welt in den letzen Jahren stark an wirtschaft- lichem und politischem Ansehen hinzugewonnen. Nun gilt es, dieser wachsenden Bedeutung auch in internatio- nalen Gremien und Organisationen gerecht zu werden. Im Herbst 2010 beschlossen daher die Finanzminister 20432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) und Notenbankchefs der führenden 20 Industrie- und Schwellenländer eine umfassende Reform des IWF. Die- ser wurde am 15. Dezember durch den Gouverneursrat des IWF bestätigt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Zusam- menarbeit des Exekutivdirektoriums des IWF zur Stär- kung der Legitimation, Gleichbehandlung und Anpas- sungsfähigkeit des Direktoriums reformiert werden. Nach den Vereinbarungen, die auf G-20-Ebene ge- troffen wurden, sollen künftig alle Exekutivdirektoren gewählt werden. Damit wird das bislang geltende Recht der fünf größten Anteilseigner des IWF verändert, da- runter auch die Bundesrepublik, ihren Exekutivdirektor zu ernennen, während die restlichen Exekutivdirektoren durch einzelne oder in Stimmrechtsgruppen zusammen- geschlossene Mitgliedsländer gewählt werden. Dem IWF wird es nun ermöglicht, sich an die verändernden weltwirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Damit ist die Basis geschaffen, eine Erhöhung der regulären Finanzmittel des IWF durch Verdoppelung der Quoten- einzahlung seiner Mitgliedschaft zu erreichen. Die Quoten der Länder, die die Hauptquelle der verfügbaren Finanzmittel des IWF darstellen, bestimmen sich dabei im Allgemeinen aus ökonomischen Größen wie zum Beispiel dem Bruttoinlandsprodukt und dem Anteil am Welthandel. Durch diese Reform stärken wir vor allem die Posi- tion von Schwellenländern wie Brasilien, China und Indien, die in den vergangenen Jahren deutlich an Be- deutung auf den globalen Handels- und Finanzmärkten gewannen. Die Änderung ist für diese Länder nun ein bedeutender Schritt hin zu einer angemesseneren Inte- gration in die internationale Gemeinschaft. So gehen die Quotenerhöhungen mit einer Anpassung der relativen Positionen der einzelnen Mitgliedsländer an ihre jewei- lige ökonomische Bedeutung einher. Gerade die dynami- schen Schwellenländer werden damit künftig einen weit- aus größeren Kapitalanteil am IWF bereitstellen und erhalten demgegenüber mehr Mitspracherecht im Direk- torium. Damit spiegelt sich nun ihre wachsende welt- wirtschaftliche Bedeutung auch in der Führungsstruktur des IWF wider. Die Quotenerhöhung an sich bedarf jedoch keiner nationalen Umsetzung. Ihr Inkrafttreten ist aber an das Inkrafttreten der siebten Änderung des IWF-Übereinkommens zur Reform des Exekutivdirekto- riums gebunden. Mit diesem Gesetz setzen wir eine der größten Refor- men des IWF seit jeher um. Wir werden damit der wach- senden Bedeutung der Schwellenländer, die für uns zu unverzichtbaren Handelspartnern geworden sind, ge- recht. Ich bitte Sie daher, dem Gesetzentwurf zuzustim- men. Vielleicht sind heute auch die Kollegen der Linken überzeugt und stimmen dem Entwurf zu. Manfred Zöllmer (SPD): Es geht in dem vorliegen- den Gesetzentwurf um eine internationale Organisation, den IWF und seine Struktur. Der Internationale Wäh- rungsfonds wurde 1944 auf der Konferenz in Bretton Woods gegründet. Seine Ziele sind die Förderung der in- ternationalen Zusammenarbeit in der Währungspolitik, die Ausweitung des Welthandels und die Stabilisierung von Wechselkursen. Zurzeit hat der IWF 187 Mitglied- staaten; die Stimmrechte orientieren sich am Kapital- anteil. Der IWF ist damit eine international und global agierende Institution im Rahmen des Systems der Ver- einten Nationen. Seine Geschichte ist indes mehr als wechselvoll. Er diente zuerst als institutioneller Rahmen für ein System fester Wechselkurse. Dieses System brach 1973 zusam- men. Danach wurde der Fonds eine Einrichtung zur Ver- meidung und Bewältigung von Finanzkrisen der Mit- gliedstaaten. Er berät einzelne Staaten und leistet im Bedarfsfall Hilfe. Diese Hilfe kann sehr unterschiedlich ausgestaltet sein. In der Regel werden Kredite vergeben. Diese Kreditvergabe ist an Konditionen, also Auflagen, geknüpft. Es hat viel Kritik am IWF und seinem Handeln gege- ben. Die beiden zentralen Kritikpunkte sind: Es muss eine wirksamere Armutsbekämpfung durch die Aktivitä- ten des Fonds geben und eine stärkere Demokratisierung der Institution. Bei unserer heutigen Debatte geht es um den zweiten Teil. Das Stimmrecht der einzelnen Länder ist abhängig von ihrem Kapitalanteil. So verfügen zum Beispiel die USA über 16,7 Prozent Anteil. Beschlüsse des IWF müssen allerdings mit einer Mehrheit von 85 Prozent getroffen werden. Die USA haben damit real eine Vetoposition – eine Sperrminorität. Deutschland hat einen Anteil von knapp 6 Prozent. Die Stimmrechtsanteile repräsentierten lange Zeit die Nachkriegsordnung. Aufstrebende wirtschaftsstarke Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien spiel- ten lange Zeit keine Rolle. Erst im Jahr 2010 änderte sich dies. Der damalige Chef des IWF, Dominique Strauss-Kahn, setzte eine Reform durch, die den Schwel- lenländern mehr Einfluss verschaffte. Jetzt soll sich auch etwas im Bereich der Organisation des IWF ändern, noch nicht an der Spitze. Informell ist der Direktor des IWF immer ein Europäer, der erste stellvertretende Direktor immer ein Amerikaner. Man kann sich un- schwer vorstellen, dass es eine Reihe von Ländern gibt, die darüber not amused sind, völlig zu Recht. Dies be- sonders auch vor dem Hintergrund des hohen finanziel- len Engagements des IWF im Rahmen der Euro-Krise. Wir Sozialdemokraten haben die angesprochenen Or- ganisationsstrukturen des IWF schon seit längerem kriti- siert. Die Liste der „globalen öffentlichen Güter“ wird im- mer länger. Eine institutionelle Modernisierung der multilateralen UN-Institutionen ist insoweit dringend erforderlich. Diese Institutionen benötigen mehr Wirk- samkeit, mehr Effizienz, mehr Transparenz. Dies ist eine wichtige Zukunftsaufgabe globaler Politik. Wir begrüßen deshalb, dass nun eine kleine, aber feine Reform dies fest- schreibt, nämlich dass zukünftig alle Exekutivdirektoren – sozusagen die zweite Führungsebene – von allen ge- wählt werden. Das bisher geltende Recht der fünf größten Anteilseigner, ihren Exekutivdirektor zu ernennen, entfällt damit. Man sollte diesen Schritt nicht zu gering achten. Er beschneidet deutlich den Einfluss der großen Anteilseig- ner, also der traditionellen Industrieländer, und sorgt da- mit für mehr demokratische Partizipation kleinerer Län- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20433 (A) (C) (D)(B) der. Es spiegelt stärker die multilaterale Struktur unser globalisierten Welt. Dies ist ein scheinbar kleiner, aber im Grunde bedeutender und richtiger Schritt. Ihm werden noch viele andere folgen müssen. Holger Krestel (FDP): Im Rahmen des hier vorlie- genden Entwurfs wird die Berufung von Exekutivdirek- toren, welche einzelne Länder oder Ländergruppen re- präsentieren, in die Führung des Internationalen Währungsfonds überarbeitet. Anstatt dass die fünf größ- ten Kapitalgeber, bestehend aus den USA, Japan, Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten König- reich, diese wie bisher einfach benennen, sollen diese von nun an entsprechend der vom gegebenen Kapital ab- hängigen Stimmanteile der Mitgliedsländer gewählt werden. Diese Änderung ist neben weiteren technischen Details gerade im Zusammenhang mit der Euro-Krise ein wichtiger Schritt zur Einbindung aller Mitgliedstaa- ten in die Entscheidungsprozesse und die gleichzeitigen Aktivitäten zur Problemlösung. Damit wird eine stärkere Legitimation geschaffen, was unabdingbar ist, da schon mit 15 Prozent der Stimmen Entscheidungen blockiert werden können, eine funktionierende Zusammenarbeit aber die Wurzel für eine erfolgreiche Bewältigung der aktuellen Situation ist. Die Troika aus IWF, Weltbank und EZB bildet ein auf drei Säulen ruhendes Fundament der Stabilität und ermöglicht einen festen Rückhalt, um die Krise gemeinsam überwinden zu können. Schon ein teilweiser Rückzug des IWF würde für so viel Unruhe und Verunsicherung weiterer Gläubiger sorgen, dass eine schrittweise und stabile Aufarbeitung der strukturellen Probleme deutlich erschwert werden würde. Es kann da- her unmöglich auf die volle Unterstützung des IWF ver- zichtet werden, wenn wir eine geregelte Lösung der Tur- bulenzen in den Euro-Staaten, die in Schieflage geraten sind, anstreben. Es ist nachvollziehbar, dass viele aufstrebende Staa- ten und Schwellenländer, die Mitglied im IWF sind, kein Verständnis dafür haben, wenn eine kleine Gruppe über ihre Köpfe hinweg Personalentscheidungen trifft, sie da- raufhin aber zur Stabilisierung von Staaten herangezo- gen werden, die lange Zeit über ihre Verhältnisse und zum Teil auf einem höheren Standard als viele Geberlän- der gelebt haben. Dieser Perspektivwechsel verdeutlicht um so mehr, warum es auch eine Frage der Gerechtigkeit und Gleichbehandlung ist, den Findungsprozess der Exekutivdirektoren zu demokratisieren. Die Strategie, sich rasant entwickelnde Nationen wie Indien oder Bra- silien, die in der Zukunft großen Einfluss auf die Finanz- märkte der Welt haben werden, so lange an der kurzen Leine zu halten, bis sie sich mit neuer und vor allem selbstgewonnener Stärke befreien, ist keine gute Basis für eine funktionierende globale Finanzpolitik der Zu- kunft. Durch ihren hohen Kapitalanteil und ihre politische Rolle in Europa und der Welt wird die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor ein hohes Gewicht in den Ent- scheidungen des Währungsfonds haben. Aber gerade bei der Personalentscheidung über die Exekutivdirektoren, welche speziell die Mitgliedsländer repräsentieren, nur eine kleine Gruppe entscheiden zu lassen und nicht die zu vertretenden Staaten, entbehrt einer angemessenen Legitimation, die für den vollen Rückhalt innerhalb der Gemeinschaft sehr wichtig ist. Dieser Rückhalt ist im Kontext der heutigen finanzpolitischen Weltlage und ge- rade für Europa ein Gut, das nicht aufs Spiel gesetzt wer- den sollte. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Das vorliegende Gesetz soll die unübersehbare Schieflage in der Zusam- mensetzung des IWF-Führungsgremiums korrigieren. Gemessen am Demokratiedefizit des IWF ist es jedoch unzureichend. Der IWF hat sich in vergangenen Finanz- krisen, insbesondere der Asienkrise, mit fatalen Struk- turanpassungsprogrammen einen verheerenden Ruf erworben. Zahlreiche Staaten, besonders die Schwellen- länder, haben sich danach von der Institution abgewandt. Von seiner Legitimitätskrise hat sich der IWF nach wie vor nicht erholt. Grund für das Scheitern war nicht nur die neoliberale Dogmatik, sondern auch die Dienst- barkeit gegenüber den tonangebenden Industriestaaten. Eine Reform der Quoten und Führungsstrukturen war daher unumgänglich. Die Bundesregierung fordert eine höhere Kapitalaus- stattung des IWF. Deswegen wird ihr auch in der Zukunft nichts anderes übrig bleiben, als den kapital- gebenden Schwellenländern weitere Zugeständnisse zu machen. Die nun zu beschließenden Änderungen reflek- tieren jedoch lediglich die veränderten Machtverhält- nisse. Sie sind nicht von der Einsicht geprägt, wirklich etwas an den überkommenen Strukturen des weltweiten Finanzsystems verändern zu wollen. Zum Gesetz. Die Europäer stellen bisher ein Drittel der Sitze im IWF-Exekutivdirektorium. Dies ist sowohl von der Bevölkerungszahl als auch von der Wirtschafts- kraft Europas her nicht zu rechtfertigen. Europa wird im Zuge der Governance-Reform also zwei Sitze abgeben. Weiterhin konnten die Staaten mit den fünf höchsten Quoten bisher direkt eine Stelle im Exekutivdirektorium besetzen. Diese nationalen Erbhöfe entfallen in Zukunft. Was bedeutet das? Europa bleibt dennoch überrepräsen- tiert. Deutschland verliert den direkten Zugriff auf einen Sitz, wird aber weiterhin ein starkes Mitspracherecht haben. Allerdings spiegelt die Sitzverteilung nur die halbe Wahrheit wider: Die wahren Machtverhältnisse hängen von den mit den Sitzen verbundenen Stimmrech- ten ab. Diese hängen wiederum im Wesentlichen von wirtschaftlichen Faktoren ab. Die jüngste Quotenreform ist aber nur ein Reförmchen. Die europäischen Exekutiv- direktoren haben weiterhin zusammen eine klare Veto- macht, ebenso der einzelne Direktor der USA. Ein riesi- ges Land wie Indien wird auch nach Inkrafttreten der Stimmrechtsreform weniger Stimmen haben als die Be- neluxstaaten. Deutschland allein wird eine Stimmkraft haben wie ganz Afrika. Industriestaaten haben darüber hinaus einen ver- gleichsweise einfachen Zugriff auf die Mittel des IWF. Entwicklungsländer haben nicht nur wenig Einfluss auf die IWF-Geschäftsführung, sondern auch einen relativ geringen sowie kostspieligen Zugang zu den Mitteln des Fonds. Der IWF hat sich in der Vergangenheit weniger 20434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) als Krisenbewältigungsinstanz bewiesen, sondern als Sachwalter der Gläubiger. Die laufenden Reformen sind weit davon entfernt, die nötigen strukturellen und politi- schen Konsequenzen zu ziehen. Zum Schluss eine kurze Bemerkung zur aktuellen Lage. Die Einbeziehung des IWF in die Euro-Krise war finanziell nicht notwendig. Es ist aber schon bezeich- nend, wenn der IWF, der sich durch krisenverschärfende neoliberale Sparprogramme den Ruf verdorben hat, nun in der Euro-Krise gegenüber Kommission und EZB als vergleichsweise mäßigende Kraft auftritt. Ein schwin- dender europäischer Einfluss auf den IWF ist wegen der ideologischen Denkblockaden der europäischen Eliten derzeit nicht nur im Interesse der Weltbevölkerung, son- dern auch im Interesse Europas. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist unter uns weitgehend unstrittig, dass das Exekutivdi- rektorium des Internationalen Währungsfonds, IWF, reformiert werden muss und dass es ein begrüßenswer- ter Schritt in die richtige Richtung ist, dass künftig alle – wirklich alle – Exekutivdirektoren gewählt werden sol- len. Es ist gut, dass die ehemals fünf größten Anteilseig- ner – die USA, Japan, Deutschland, Großbritannien und Frankreich – bereit sind, auf das Privileg zu verzichten, jeweils einen Exekutivdirektor selbst zu ernennen, Ver- zicht auf Privilegien im Sinne von mehr Gleichbehand- lung und Partizipation – eine Einsicht, die ich mir auch von den Vetomächten im Weltsicherheitsrat wünschen würde; aber zunächst geht es jetzt mal um den IWF. Die Reform des Exekutivdirektoriums, der wir heute mit der breiten Zustimmung zum von der Bundesregie- rung vorgelegten Gesetzentwurf den Weg ebnen, ist die logische Konsequenz aus der Umverteilung von 6,4 Pro- zent der Anteile des Fonds und der damit einhergehen- den Stimmrechtsverschiebung zugunsten von China, Indien und Brasilien. Der Aufstieg dieser Schwellenlän- der geht mit einer Machtverschiebung einher, die sich jetzt nach und nach überall bemerkbar macht. Die G 20 haben in ihrer Bedeutung die G 8 abgelöst – und im IWF und bald auch in der Weltbank verschieben sich die Gewichte. Die Dominanz der westlichen Industrienatio- nen wird geringer und aus einer globalen Perspektive heraus gesehen ist dies auch zu begrüßen. Was dies nun konkret für den IWF bedeuten wird, ist noch unklar. Einerseits hat der IWF in Bezug auf Grie- chenland für relativ milde und relativ ausgewogene Kon- ditionen plädiert – nicht zu vergleichen mit den brutalen Strukturanpassungsmaßnahmen, die der IWF in den 80er- und 90er-Jahren verschuldeten Entwicklungslän- dern aufgezwungen hat – und auch ein deutlich weiche- rer Kurs als in der Argentinien- und der Asienkrise. Aber genau das sehen nun manche Entwicklungs- und Schwellenländer mit Argwohn und werfen dem IWF vor, mit zweierlei Maß zu messen. Und deshalb werden die nun innerhalb des IWF aufgewerteten Schwellenlän- der sehr zurückhaltend sein, was die Kreditvergabe an europäische Länder angeht. „Die Europäer sollen sich erst einmal selber helfen“, argumentieren Vertreter aus China, Indien und Brasilien mit Blick auf die Wirt- schaftskraft Deutschlands. Und völlig aus der Luft gegriffen ist dieses Argument ja nicht. Wie gesagt, die Reform des Exekutivdirektoriums des IWF ist ein Schritt in die richtige Richtung. Doch er allein reicht längst nicht aus, um zu einer besseren Glo- bal Governance zu kommen. Dazu wäre eigentlich ein großer Wurf nötig, der das Kernproblem angeht: die nicht vorhandene Kohärenz in der Global Governance. IWF und Weltbank gelten zwar als Sonderorganisatio- nen der Vereinten Nationen, führen aber praktisch ein Eigenleben ohne direkte Verbindungslinien zum VN-Sys- tem. Die WTO, zurzeit ohnehin in der Sackgasse, hat mit den Vereinten Nationen überhaupt nichts tun. Und dann gibt es noch die sogenannte Club-Governance in den exklusiven informellen Formaten G 8 und G 20, Parallelstrukturen, die viele Widersprüche produzieren und verhindern, dass die internationale Gemeinschaft in der Lage wäre, auf die globalen Herausforderungen mit einer abgestimmten und in sich stimmigen Strategie zu antworten. In den letzten Jahren hat es immer wieder Versuche gegeben, zu mehr Kohärenz in der Global Governance zu kommen und dabei die Rolle der Vereinten Nationen zu stärken. Sowohl VN-Generalsekretär Kofi Annan als auch sein Nachfolger Ban Ki-moon haben hochrangige Expertenkommissionen damit beauftragt, Reformvor- schläge auf den Tisch zu legen – und das haben diese Kommissionen auch getan. Fast allen Vorschlägen gemeinsam ist die Forderung nach einem demokratisch legitimierten Organ, das über allen VN-Agenturen, -Pro- grammen und -Sonderorganisationen sowie der WTO steht und Leitlinien für eine menschenrechtsbasierte glo- bale nachhaltige Entwicklung entwirft – Leitlinien, an denen sich dann auch IWF und Weltbank orientieren müssten. Die Gründungsväter und -mütter der Vereinten Natio- nen hatten dem VN-Weltwirtschafts- und Sozialrat, ECOSOC, eigentlich diese Rolle zugedacht, die dieser aber bisher nie ausfüllen konnte, weil wichtige Industrie- nationen den ECOSOC bewusst kleingehalten haben. Im Vorfeld der Rio+20-Konferenz wird nun die Bildung ei- nes VN-Rates für nachhaltige Entwicklung diskutiert, der allerdings keine überwölbende Stellung haben soll – der also für IWF und Weltbank nicht gefährlich werden kann. Auch wenn ein solcher Rat vielleicht ein kleiner Fortschritt sein kann, zielführender wäre es meiner Mei- nung nach, endlich den ECOSOC zu reformieren, mit der Nachhaltigkeitsagenda zu beauftragen und kräftig aufzuwerten. Und schließlich gilt es für die internationale Gemein- schaft, noch unerledigte Hausaufgaben anzupacken. Auf einer hochrangigen VN-Sondergeneralversammlung 2009 wurde von den vielen Vorschlägen der sogenannten Stiglitz-Kommission nur ein einziger aufgegriffen – aber immerhin. Man sprach sich einstimmig dafür aus, auf der VN-Ebene wohlwollend die Einrichtung eines Panels on Systemic Risks zu prüfen – eines interdiszipli- nären Wissenschaftlergremiums, das die Weltwirt- schaftslage analysieren, sich mit verschiedenen Zukunftsszenarien beschäftigen und als Frühwarnsystem Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20435 (A) (C) (D)(B) fungieren soll. Man wollte damit eine Lehre ziehen aus der angeblich so plötzlich hereingebrochenen Finanzkrise, die viele nicht auf dem Schirm gehabt hatten – auch der IWF nicht –, zwar nur ein internationales Wissenschaft- lergremium, ein Think Tank, ein Frühwarnsystem – aber mit dem ausdrücklichen Auftrag, die Weltwirtschafts- lage ganzheitlich zu betrachten, also auch unter Men- schenrechts- und Nachhaltigkeitsgesichtspunkten, und Vorschläge für ein kohärentes Vorgehen auszuarbeiten, mit denen sich IWF und Weltbank zumindest beschäfti- gen müssten. Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz verband und verbindet mit diesem Vorschlag die Hoff- nung, dass ein solches Panel on Systemic Risks bei guter Zusammensetzung und guter Arbeit eine ähnliche Auf- merksamkeit und Wirkung erzielen könnte wie der Welt- klimarat IPCC für die Klimaschutzdebatte. Wir erwarten von einer Bundesregierung, deren Kanzlerin vor ein paar Jahren vollmundig eine UN- Charta für nachhaltiges Wirtschaften und eine starke Wirtschafts-UNO gefordert hat, dass sie sich zumindest für dieses Panel on Systemic Risks einsetzt. Denn nur wenn VN-Mitgliedstaaten auf den VN-Beschluss von 2009 positiv reagieren und konkrete Anträge für die Ein- richtung und Mandatierung dieses Panels ausarbeiten und einbringen, kann es in dieser Frage Fortschritte geben. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Demokratie durch Transparenz stärken – Deklassifizierung von Verschlusssachen ge- setzlich regeln – Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfahrens- akten des Bundesverfassungsgerichtes stär- ken (Tagesordnungspunkt 14 a und b) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): VS – dieser Stempel findet sich auf so manchem Dokument wieder, das wir als Bundestagsabgeordnete aus den Ministerien oder aus Bundesbehörden zugeschickt be- kommen. VS heißt Verschlusssache – etwas, das unter Verschluss bleibt, der Öffentlichkeit nicht zugänglich ge- macht wird. Dies geschieht im öffentlichen Interesse und dient der Gefahrenabwehr. Gerade weil Deutschland bei- spielsweise beliebtes Spionageziel ist, brauchen wir die Verschlusssachenklassifizierung. Wir wollen damit aber auch verhindern, dass extremistische und kriminelle Or- ganisationen zu viel über die Bekämpfungsstrategien un- serer Sicherheitsorgane erfahren. Vertraulichkeit ist in manchen Lebenssituationen unerlässlich, so eben auch im staatlichen Handeln manchmal notwendig. Klar muss aber auch sein, dass nur die Vorgänge den Stempel VS erhalten, bei denen dies wirklich sinnvoll ist. Unsere De- mokratie und Rechtsstaatlichkeit lebt von so viel wie möglich Transparenz und so wenig wie nötig Kontrolle; anders kann sie nicht funktionieren. Dies wird im höchs- ten Maße umgesetzt: Wir haben sehr transparente Strukturen und nur ein unumgängliches Mindestmaß an Vertraulichkeit. Dafür steht das Parlamentarische Kon- trollgremium. Im Untersuchungsausschuss zu den NSU-Morden ha- ben wir bereits darüber diskutiert, wie ein guter Mittel- weg zwischen Transparenz und Vertraulichkeit erzielt werden kann. Wir wollen dort aufklären, warum die Zwi- ckauer Gruppe jahrelang unbescholten ihr Unwesen trei- ben konnte. Es besteht ein berechtigtes Interesse der Öf- fentlichkeit, dass Ermittlungsfehler genauso aufgedeckt werden wie Pannen im Informationsfluss oder fehlende Kooperationsbereitschaft der verschiedenen Ermittlungs- behörden. Gleichzeitig laufen aber die Ermittlungen noch – und die Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass möglichst viele Mittäter und Unterstützer gefasst werden. Der Untersuchungsausschuss als solcher soll ja Transpa- renz herstellen, letztendlich ist dies sein Zweck! Es will aber auch keiner, dass dadurch laufende Ermittlungen ge- fährdet werden. Das ist ein schwieriger Balanceakt, und ich bin sehr froh darüber, dass die Mitglieder des Unter- suchungsausschusses sich ihrer Verantwortung in Bezug auf Verschlusssachen bewusst sind. Gerade auch vor die- sem Hintergrund irritiert es mich, dass Sie in Ihrem An- trag gleich zu Beginn das Aktengeheimnis in Bausch und Bogen verdammen. Ein bisschen differenzierter darf es schon sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Lin- ken. Neben dem demokratischen Ansinnen nach Transpa- renz und Kontrolle gibt es auch ein zeitgeschichtliches Interesse an Verschlusssachen. Das Interesse von Wis- senschaftlerinnen und Wissenschaftlern an Dokumenten aus der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland ist berechtigt. Nicht veröffentlichte Akten verbergen so manche überraschende Erkenntnis zur Zeitgeschichte; das ist schon oft bewiesen worden. Übrigens, sehr ge- ehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken, nicht alle Projekte haben die Aufarbeitung der NS-Vergangen- heit zum Forschungsgegenstand. Spannend finde ich beispielsweise Fragen rund um die Westanbindung der noch jungen Bundesrepublik, um ihre Rolle im Kalten Krieg, ihr Verhältnis zur DDR. Auch dazu gibt und gab es Forschungsprojekte, und auch diese Forscher wollen Bundesakten einsehen. Wissenschaftlerinnen und Wis- senschaftler, die sich die Mühe machen, die alten Akten zu sichten und zu interpretieren, verdienen großen Re- spekt. Der berühmte Aktenberg im verstaubten Keller ist zwar ein reichlich oft bemühtes Bild, aber gerade deswe- gen nicht weniger wahr. In gut funktionierenden Behör- den entstehen zahllose Dokumente. Sie dokumentieren die Arbeit der Verwaltung, und sind deshalb notwendig für einen funktionierenden Rechtsstaat. So etwas zu sichten, macht eine Menge Arbeit. Im vorliegenden Antrag beklagen die Linken, dass das Bundesministerium des Innern eine Verwaltungsvor- schrift über Verschlusssachen so verändert habe, dass keine automatische Freigabe mehr erfolge. Diese Aus- sage kann ich so nicht stehen lassen. Im Jahr 2009 hat das Bundeskabinett Eckpunkte beschlossen, nach denen Verschlusssachen innerhalb festgelegter Zeiträume hin- sichtlich einer Offenlegung zu prüfen sind. Die Rege- 20436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) lung sieht vor, dass bis zum Januar 2013 die Geheimak- ten aus den Jahren 1949 bis 1959 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Dokumente aus der Zeit bis 1994 sollen dann schrittweise bis 2025 freigege- ben werden. Der Beschluss sieht vor, dass jährlich drei weitere Jahrgänge eingesehen werden können. Für die Akten, die ab 1995 verfasst wurden, gilt eine Sperrfrist von 30 Jahren. Das ist aus meiner Sicht ein guter und gangbarer Weg, den widerstreitenden Interessen von Vertraulichkeit und Transparenz gerecht zu werden. Sie schlagen hingegen eine automatische Deklassifizierung von Verschlusssachen nach nur 20 Jahren vor. 20 Jahre, das ist ein sehr kurzer Zeitraum, gerade in der nachrich- tendienstlichen oder polizeilichen Arbeit. Nehmen Sie das Beispiel Bad Kleinen: Auch heute ließen sich aus den Unterlagen zum GSG-9-Einsatz, der fast 20 Jahre zurückliegt, noch Rückschlüsse auf die Arbeit von Er- mittlern und Einsatzkräften ziehen. Das ist auch noch nach 19 Jahren interessant für Terroristen. Insofern ist die von Ihnen beantragte automatische Deklassifizierung sicherheitsfachlich nicht nachvollziehbar und einfach auch weltfremd. Ich habe in den zweieinhalb Jahren, die ich nun Bun- destagsabgeordneter bin, schon viele Debatten erlebt. Da bleibt es nicht aus, dass einem einmal die eine oder an- dere Stunde hier überflüssig erscheint. Dieser Fall ist ein Musterbeispiel dafür: Ihr Antrag zur gesetzlichen Rege- lung der Deklassifizierung von Verschlusssachen ist nicht nur ohne fachliche Substanz, er ist auch noch über- holt. Daher meine Bitte an Sie: Ziehen Sie den Antrag zurück! Er ist unnötig und bindet Zeit und Arbeitskraft dieses Parlaments. Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Der Gegen- stand der heutigen Debatte sind zwei Anträge der Linken zum Thema Transparenz. Zum ersten Antrag mit dem schönen Titel „Demokratie durch Transparenz stärken – Deklassifizierung von Verschlusssachen gesetzlich re- geln“ hat der Kollege Schuster schon das Notwendige gesagt. Bevor ich auf den zweiten Antrag mit dem Thema „Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfahrensakten des Bundesverfassungsgerichtes stärken“ näher eingehe, möchte ich Ihnen schon sagen, dass es nicht einer gewis- sen Komik entbehrt, dass ausgerechnet die Erben von SED und Stasi, die Meister der Konspiration waren, ver- suchen, sich nunmehr als die großen Verfechter der Transparenz auszugeben – eine interessante Kehrt- wende. Nun aber zu Ihrem Antrag. Er stammt aus dem Jahr 2010 und ist erkennbar nicht mehr taufrisch. Das sieht man schon daran, dass die Antragsteller sich auf angebli- che Pläne des Plenums des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 beziehen. Dem Bundesverfassungs- gericht wird unterstellt, in seiner Geschäftsordnung eine einheitliche Sperrfrist für die Gewährung von Aktenein- sichts- und -auskunftsersuchen Dritter einzuführen und diese auf 90 Jahre festzusetzen. Bereits diese Behauptung ist blanker Unsinn. Wir schreiben mittlerweile das Jahr 2012, und bislang ist nichts Derartiges passiert. Sie hätten das auch wissen können, weil Sie eine Kleine Anfrage zu dem Thema an die Bundesregierung gerichtet hatten. In der Antwort der Bundesregierung heißt es kurz und knapp: „Das Bundes- verfassungsgericht hat mitgeteilt, dass solche Pläne nicht bestehen.“ Was soll Ihr Antrag also? Es liegt die Vermutung nahe, dass Sie sich den reißerischen Aufhänger offenbar nicht durch die Wirklichkeit kaputtmachen lassen woll- ten. Die letzte Änderung der Geschäftsordnung des BVerfG stammt aus dem Jahr 2002. Maßgeblich sind dort im Wesentlichen zwei Regelungen, nämlich die §§ 34 und 36. In § 36 ist geregelt, dass die Verfahrensakten des Ge- richts zu Senatsentscheidungen samt Voten frühestens nach 10 Jahren an das Bundesarchiv abgegeben werden können und frühestens 30 Jahre nach Verkündung der Entscheidung verwertet werden dürfen. In § 34 ist geregelt, dass Voten, Entscheidungsent- würfe, Änderungs- oder Formulierungsvorschläge sowie Notizen nicht Bestandteil der Verfahrensakten sind und nicht der Akteneinsicht unterliegen. Damit liegen im Prinzip bereits sachgerechte Rege- lungen vor, und es bedarf Ihrer Vorschläge nicht. Gleich- wohl ist es dem Vernehmen nach zutreffend, dass man sich beim Bundesverfassungsgericht mit der Problema- tik beschäftigt. Wie zu hören ist, gehen diese Überlegun- gen aber in die Richtung einer größeren Öffnung der Ak- ten des Gerichts und nicht in diejenige einer weiteren Beschränkung. Gefordert sind jedenfalls differenzierte Regelungen, die der besonderen Stellung des Bundesver- fassungsgerichts als eigenständiges oberstes Verfas- sungsorgan gerecht werden. Gänzlich verfehlt sind deshalb die mit Ihrem Antrag verbundenen Forderungen. Die Forderung nach Unterordnung der Verfassungs- gerichtsakten in das allgemeine Bundesarchivwesen ver- kennt die besondere Stellung des Bundesverfassungsge- richts als eigenständiges oberstes Verfassungsorgan. Der Grundsatz des Respektes vor anderen Verfassungsorga- nen verlangt Zurückhaltung bei der Bewertung von orga- nisatorischen Maßnahmen und Entscheidungen. Nach geltendem Recht entscheidet das Bundesverfassungsge- richt deshalb selbst darüber, ob es Verfahrensakten noch zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigt. Solange dies der Fall ist, muss es diese dem Bundesarchiv nicht zur Über- nahme anbieten. Zudem dient die vertrauliche Behand- lung von Voten oder Ähnlichem dem Schutz des Bera- tungsgeheimnisses. Schon gar nicht angezeigt ist die Forderung nach Ver- kürzung der allgemeinen Sperrfristen im Bundesarchiv- gesetz um 20 Jahre. Die nach geltendem Recht vorgese- hene Dauer von 30 Jahren – „Generationsspanne“ – ist seit langem bewährt und trägt der Sensibilität von Daten Rechnung, die Bestandteil dieser Akten sein können. Insgesamt fragt man sich, wieso die Antragsteller aus- gerechnet jetzt mit einem derart abseitigen Thema auf- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20437 (A) (C) (D)(B) schlagen. Worum es den Antragstellern in Wirklichkeit geht, ergibt sich aus ihrer Kleinen Anfrage. Dort wird in den Fragen 9 und 10 unvermittelt nach den Akten zum KPD- und zum SRP-Verbot gefragt. Zusammen mit den in dem von den Antragstellern erwähnten Presseartikel enthaltenen Spekulationen über das Verhalten oder Vor- leben einzelner Richter dieser Verfahren scheint es ihnen darum zu gehen, weitere Legenden über die Entschei- dungen des BVerfG in den frühen Jahren der Bundesre- publik zu stricken. Dazu ist das Archivrecht nicht das geeignete Mittel. Kirsten Lühmann (SPD): Wir beraten heute in ers- ter Lesung über zwei Anträge der Fraktion der Linken, in denen die Antragstellerin besondere Aspekte bei der Akteneinsicht in behördliche und gerichtliche Entschei- dungen und Verfahrensprozesse regeln möchte. Die An- träge fallen somit in den weiteren Anwendungsbereich des IFG. Für die SPD ist schon lange klar: Behördliche Ent- scheidungen und staatliches Handeln müssen für die Bürgerinnen und Bürger transparent und nachvollzieh- bar sein. Deshalb waren es auch die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die damals das Informa- tionsfreiheitsgesetz in den Bundestag einbrachten, das schließlich mit Wirkung zum 1. Januar 2006 in Kraft trat. Dies geschah im Übrigen gegen den erheblichen Widerstand der Fraktion der CDU/CSU. In diesem Zusammenhang möchte ich an dieser Stelle daran erinnern, dass auch im Jahre 2008 auf Initiative des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer eine Gesetzesänderung durch den Bundesrat angestrebt wurde, die die allgemeine Einsichtnahme in Akten der Bankenaufsicht vom Recht auf Informationszugang aus- nehmen sollte, ein, wie ich finde, gerade unter den Aspekten der aktuellen Entwicklungen besonderer Vor- gang, der wieder einmal aufzeigt, welche Denkweise hinter dem Handeln der Kollegen und Kolleginnen von der CDU und der CSU steht. Bürger und Bürgerinnen sollen mit ihren Steuergel- dern für den sogenannten Rettungsschirm geradestehen, gleichzeitig aber vom Informationsfluss der Entscheidun- gen hierzu abgeschnitten werden. Auch das durch die Bundesregierung eingesetzte sogenannte Neunergre- mium, das in seiner ursprünglich geplanten Form vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde, hätte zur Folge gehabt, dass wichtige Entschei- dungen völlig intransparent abgelaufen wären, denn hier wäre sogar der Bundestag von den Entscheidungsprozes- sen weitestgehend abgeschottet worden. In beiden Fällen haben jedoch Sozialdemokraten der CDU/CSU die Grenzen aufgezeigt und damit klarge- stellt, dass eine intransparente und für die Bürger und Bürgerinnen nicht nachvollziehbare Hinterzimmerpoli- tik mit der SPD nicht zu machen ist. Lassen Sie mich auf das IFG zurückkommen. Das IFG befindet sich nunmehr im siebten Jahr seiner An- wendung. Wir wollen das Gesetz auch weiterhin opti- mieren und insbesondere auf die Probleme, aber auch Bedürfnisse, die sich aus der praktischen Anwendung er- geben haben, eingehen. Auch auf Drängen der SPD- Bundestagsfraktion hin unterläuft das IFG daher einen Evaluationsprozess durch das Deutsche Forschungsinsti- tut für Öffentliche Verwaltung Speyer, dessen Ergeb- nisse uns in Kürze vorliegen werden. Die Zeit, uns die Empfehlungen anzuhören und sie anschließend zu disku- tieren, sollten wir uns nehmen. Danach werden wir die notwendigen Änderungen vornehmen und dafür Sorge tragen, dass eine optimale Transparenz weiterhin bestehen bleibt und dass dort, wo noch Nachbesserungsbedarf besteht, auch entsprechend nachgebessert wird. Liebe Kollegen und Kolleginnen von der Fraktion der Linken, das Gleiche trifft auch auf Ihren zweiten Antrag zu. Wenngleich der Freigabe von Unterlagen und Doku- menten aus der NS-Unrechtszeit eine überaus wichtige Bedeutung zukommt, wäre es ein Fehler, sie zum jetzi- gen Zeitpunkt isoliert zu betrachten. Lassen Sie uns den Evaluationsprozess und dessen Ergebnis abwarten und dann gemeinsam nachbessern. So können wir dann eine optimale Anwendung des IFG sicherstellen. Dr. Stefan Ruppert (FDP): Das Bundesverfassungs- gericht genießt in der Bevölkerung höchste Anerken- nung, und das aus gutem Grund. Wie wenige andere In- stitutionen steht das Gericht für einen transparenten und am Individuum ausgerichteten Rechtsstaat. Für die Fes- tigung unserer Demokratie hat das Gericht deshalb einen herausragenden Beitrag geleistet. Diese Leistung auch zu historisieren, ist nach mehr als 60 Jahren des Beste- hens eine wichtige Aufgabe, und dazu bedarf es eines besseren Aktenzugangs. Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes besagt, dass Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre frei sind. Für den einzelnen Forscher und für den Wissenschaftsbe- trieb als Ganzes ist diese verfassungsrechtlich geschützte Freiheit das höchste Gut. Der Gesetzgeber garantiert dem Wissenschaftler damit unter anderem die freie Wahl über die Gestaltung seiner Forschungsprojekte und den Umgang mit deren Ergebnissen. Gleichwohl können Eingriffe in diese Freiheit aus verschiedenen Gründen gerechtfertigt sein, beispielsweise wenn die Persönlich- keitsrechte Dritter betroffen sind oder besondere Geheimhaltungsinteressen bestehen. Vor diesem Hintergrund müssen die Regelungen zur Akteneinsicht beim Bundesverfassungsgericht im Span- nungsfeld kollidierender Interessen betrachtet werden. Das Interesse der Öffentlichkeit und der Wissenschaft ist in Einklang zu bringen mit dem Schutz der Belange der beteiligten Richter und anderen legitimen Geheimhal- tungsinteressen. Die Frage des Aktenzugangs gewinnt besondere Bedeutung im Zusammenhang mit rechtshis- torischen Forschungsprojekten, für deren Ausgestaltung nicht nur die veröffentlichte Entscheidung, sondern der Prozess der Entscheidungsfindung der einzelnen Verfas- sungsrichter von Interesse ist. So plädierte der Rechts- historiker Michael Stolleis bei einer öffentlichen Anhö- rung des Kulturausschusses im Februar 2012 für besseren Aktenzugang und eine Historisierung. Er kon- 20438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) statierte, dass besonders auf dem Gebiet der „dissenting votes“, der abweichenden Voten einzelner Richter bei historisch wichtigen Entscheidungen des Bundesverfas- sungsgerichts, großes Forschungsinteresse besteht. Claudia Baumann hat auf Zeitgeschichte-online einen interessanten Artikel zu dieser Problematik veröffent- licht. Allgemein müssen nach dem Bundesarchivgesetz Gerichte, Behörden, Verfassungsorgane und andere öffentliche Stellen Unterlagen an das Bundesarchiv oder ein Landesarchiv abgeben, wenn sie nicht mehr benötigt werden. In der Regel erhalten alle Bundesbürger nach Ablauf einer Sperrfrist von 30 oder höchstens 60 Jahren Zugriff auf das Archivgut. Eine der wichtigsten Ausnah- men dieses Grundsatzes bildet Archivgut, das Persön- lichkeitsrechte berührt. Hier beginnt die Frist von 30 Jahren mit dem Tod der Person. Weitere Ausnahmen bestehen überwiegend aus Schutzinteressen der Bundes- republik oder einem ihrer Länder, von Dritten oder Geheimhaltungspflichten nach dem Strafgesetzbuch. Es ist zu bedauern, dass gerade die Unterlagen des Bundesverfassungsgerichts eine Ausnahme vom Grund- satz des Bundesarchivgesetzes darstellen. Zwar werden sie überwiegend vom Bundesarchiv aufbewahrt, gelten aber nicht als Archivgut. Über Anträge auf Aktenein- sicht entscheidet das Bundesverfassungsgericht selbst. Die Voten – oder Entscheidungsvorschläge – werden als „Nebenakten“ bezeichnet. Ob Wissenschaftlern der Zugang zu bestimmten Akten gewährt wird oder nicht, entscheidet das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall. Weder gibt es gegen diese Entscheidungen Einspruchs- rechte noch basieren die Entscheidungen auf klar de- finierten, transparenten rechtlichen Grundlagen. Eine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit oder des Gleich- behandlungsgrundsatzes bei der Ablehnung von Anträ- gen auf Akteneinsicht kann dem Gericht keinesfalls unterstellt werden, wie dies im Antrag der Linken geschieht. Eine klarere gesetzliche Regelung würde die- sen Verdacht aber endgültig ausräumen. Mit dieser Problematik beschäftigte sich der 38. Deut- sche Rechtshistorikertag im Jahr 2010, nachdem das Thema in mehreren Artikeln in der FAZ thematisiert worden war. In der FAZ vom 28. August 2010 war behauptet worden, dass das Plenum des Bundesverfas- sungsgerichts eine einheitliche Sperrfrist von 90 Jahren in die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts aufnehmen wollte. Dies wurde auf Auskunft der Bun- desregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke (Bundestagsdrucksache 17/4073) vom Bundesverfassungsgericht dementiert. Der heute verhandelte Antrag der Fraktion Die Linke zu den Akteneinsichtsrechten beim Bundesverfassungsgericht (Bundestagsdrucksache 17/4037) basiert auf dieser Annahme, die in der Zwischenzeit widerlegt wurde. In dieser Richtung ist seit 2010 keine Initiative des Ple- nums des Bundesverfassungsgerichts bekannt. In Reaktion auf die Debatte zu den Sperrfristen stellte der Ständige Ausschuss des 38. Rechtshistorikertages die Forderung nach einer verbindlichen Regel auf, die Verlässlichkeit im Umgang mit der Entscheidung auf Akteneinsicht und somit mehr Planungssicherheit für die Forschung bringen sollte. Die Regel sollte sich an den Sperrfristen von 30 und höchstens 60 Jahren orientieren, die sich mit dem Bundesarchivgesetz bewährt haben. So gerechtfertigt in gewissen Fällen die Ablehnung von Akteneinsicht aus Gründen des Beratungsgeheim- nisses oder des Schutzes von Persönlichkeitsrechten sein mögen, so lässt sich durchaus in Zweifel ziehen, ob sol- che Begründungen noch heute für Verfassungsgerichts- entscheide aus den 1950er-Jahren stichhaltig sind. Ver- einzelt wurde von Rechtshistorikern auf die spezielle Verfahrenspraxis des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die Nebenakten hingewiesen, so zum Beispiel von Thomas Henne und Arne Riedlinger in ihrem Band über das Lüth-Urteil. Es wird zu prüfen sein, inwiefern der Gesetzgeber aufgefordert ist, klare Regelungen für den Umgang mit den Unterlagen des Bundesverfassungsgerichts zu schaf- fen, wie sie für andere Bundeseinrichtungen mit dem Bundesarchivgesetz gelten. Die öffentliche Anhörung im Februar dieses Jahres hat klar ergeben, dass sowohl Rechtshistoriker als auch der Leiter des Bundesarchivs Michael Hollmann Handlungsbedarf sehen. Es ist wich- tig, auch die relativ kleine Klientel der Wissenschaftler zu hören, für deren Forschung die Einsicht in diese Unterlagen essenziell ist. Die Anträge der Fraktion Die Linke bieten keine ver- nünftige Lösung an, sind veraltet und daher abzulehnen. Jan Korte (DIE LINKE): Wir reden heute über zwei Anträge der Fraktion Die Linke, die beide im Kern die Demokratisierung und Nachvollziehbarkeit von politi- schem Handeln fordern. Wir leben in einer Informations- und Wissensgesellschaft, in der Informationen durch den Einsatz von elektronischer Kommunikation und Medien immer mehr zurückgehen. Die politische Entwicklung hinkt dieser gesellschaftlichen Realität weit hinterher. Das Informationsfreiheitsgesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung. In der Praxis jedoch sind die Informa- tionsrechte und -pflichten nicht weitgehend genug, oder es wird ihnen von behördlicher Seite nicht nachgekom- men. Zudem verhindert eine Vielzahl gesetzlicher Ge- heimhaltungsvorschriften bisher eine effektive Anwen- dung des Informationsfreiheitsgesetzes und des Bundesarchivgesetzes. Diese Lage zu verbessern, ist unser Anliegen. Uns geht es dabei aber nicht nur um die demokratische Kon- trolle behördlicher Vorgänge. Der freie Zugang zu histo- risch und politisch relevanten Informationen ist eine Vo- raussetzung für eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, für eine kritische Wissenschaft und für das demokratische Selbstverständnis der Bun- desrepublik. Statt diese konstruktive Auseinanderset- zung mit unserer Geschichte zu fördern, wehren sich Be- hörden – bis hin zum Bundesverfassungsgericht – mit Händen und Füßen gegen die Veröffentlichung von Ak- ten, die teilweise ein halbes Jahrhundert alt sind. In unserem Antrag „Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfahrensakten des Bundesverfassungsgerichtes stär- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20439 (A) (C) (D)(B) ken“ fordern wir eine klare Regelung zur Aktenfreigabe. Das Bundesverfassungsgericht ist in den letzten Jahr- zehnten zu einem politischen Machtfaktor geworden. Der Kurs der letzten Bundesregierungen, mit der Gesetz- gebung regelmäßig und bewusst immer weiter an die Grenzen unserer Verfassung zu stoßen und sie teilweise zu überschreiten, macht das Gericht zum Raum politi- scher Auseinandersetzungen. Gerade deshalb gibt es kei- nen Grund, die Beweggründe des Verfassungsgerichts im Geheimen zu halten, weder bei aktuellen Auseinan- dersetzungen noch bei lange vergangenen Entscheidun- gen. Die Kenntnis über vergangene Beratungsabläufe wird die Unabhängigkeit zukünftiger Entscheidungen nicht beeinflussen, erst recht nicht, wenn sie über fünfzig Jahre zurückliegen. 1956 entschied das Bundesverfas- sungsgericht, die KPD zu verbieten. Die Folge war nicht nur die Illegalisierung einer politischen Kraft, sondern auch ein hartes Vorgehen des Staates gegen Kommunis- ten, Sympathisanten oder andere, die man dafür hielt. Bis heute sind die Verfahrensakten in ihrer Gesamtheit der Öffentlichkeit nicht zugänglich, weder für Journalis- ten noch für Wissenschaftler, geschweige denn für inte- ressierte Bürgerinnen und Bürger. Das kann man beim besten Willen niemandem erklären. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts las- sen sich nicht alleine am Ergebnis, sondern vor allem in Kenntnis des Entscheidungsfindungsprozesses aufarbei- ten. Trotz der umfassenden Kompetenzen des Gerichts und der politischen Konsequenzen von Urteilen, die ein Höchstmaß an Transparenz bei der Entscheidungsfin- dung erwarten lassen, stoßen Wissenschaft und Presse nicht nur bei politisch besonders brisanten Entscheidun- gen regelmäßig auf erhebliche und kaum überwindbare Widerstände, wenn sie Akten teilweise oder vollständig einsehen wollen. Deshalb fordern wir – da schließen wir uns den Forderungen in der Resolution des Deutschen Rechtshistorikertages in Münster an –, die Aktenein- sicht- und Auskunftsrechte Dritter im Bundesverfas- sungsgerichtsgesetz nach Vorbild des Bundesarchivge- setzes zu konkretisieren und außerdem die Sperrfristen im Bundesarchivgesetz um 20 Jahre zu verkürzen. Es ist überfällig, dass wir uns im Bundestag mit diesem Thema befassen, und ich hoffe, dass die substanziellen Vor- schläge in unserem Antrag Grundlage für einen kon- struktiv geführten interfraktionellen Dialog sein können. Zum zweiten Antrag „Demokratie durch Transparenz stärken – Deklassifizierung von Verschlusssachen ge- setzlich regeln“. Ende letzten Jahres ging durch die Presse, dass beim Bundesnachrichtendienst 1996 und 2007 offenbar 253 Personalakten aus der Nachkriegszeit vernichtet worden sind, Akten von BND-Mitarbeitern, die einst Mitglied der SS oder der Gestapo gewesen sind, zu denen weder Geschichtswissenschaftler noch Journa- listen bisher Zugang hatten, weil sie jahrzehntelang als Verschlusssachen eingestuft waren und die auch der His- torikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Geheimdienstes nun fehlen. Ich glaube, dass es nicht sein kann, dass mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit noch immer an als Verschlusssache qualifizierten Unterlagen scheitert. Wir fordern daher, die sofortige Deklassifizierung und Offenlegung aller Akten und Unterlagen nach dem Vorbild des Nazi War Crimes Disclosure Act des US-amerikanischen Kongres- ses gesetzlich zu regeln. Dafür ist es allerhöchste Zeit. Die Geheimhaltung von Akten betrifft nicht nur den BND. Allein 6 Millionen Dokumente von Ministerien und Behörden sind als Verschlusssache eingestuft, selbst wenn sie schon Jahrzehnte alt sind. Diese Praxis stammt aus vergangenen, vordemokratischen Zeiten, in denen der Besitz und die Geheimhaltung von Informationen klassisches Mittel des Machterhalts Einzelner waren. Staatliches Handeln in einer Demokratie hat sich am Ge- meinwohl zu orientieren und muss demokratisch legiti- miert sein. Diese Legitimation ist nicht gegeben, wenn es unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgt und Akten zu Vorgängen in Behörden und Ministerien für etliche Jahrzehnte unzugänglich sind. Wir fordern daher die au- tomatische Deklassifizierung von Verschlusssachen nach spätestens 20 Jahren ohne die Möglichkeit der Verlänge- rung. Für eine Demokratie – darin sollten wir uns alle einig sein – stellt Wissen keine Gefahr dar. Im Gegenteil: Transparenz und Offenheit stärken die Demokratie und verhindern Lobbyismus, Korruption und Desinforma- tion. In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung zu unse- ren Vorschlägen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wir befinden uns mitten in einem historisch bedeutsamen Paradigmenwechsel von der Amtsver- schwiegenheit bzw. dem Prinzip der Geheimhaltung hin zum Prinzip der Öffentlichkeit der Verwaltung. Es ist ein zumindest in Teilen mühsamer Prozess. Es ist von Widerständen in manchen Amtsstuben geprägt und auch im Parlament trotz einer umfänglichen EU-Gesetzge- bung sowie Informationsfreiheitsgesetzen in Bund und Ländern – nach wie vor ein junger Prozess. Beredtes Zeugnis über diesen Widerstreit legen insbesondere die regelmäßig erscheinenden Tätigkeitsberichte des Bun- des- sowie der Landesbeauftragten für Informationsfrei- heit ab. Es lohnt, sich zunächst die Hintergründe des notwen- digen Wechsels zum Grundsatz der Öffentlichkeit der Verwaltung zu vergegenwärtigen. Dieser bedeutet die Konsequenz aus einem nahezu vollständig gewandelten Verständnis von öffentlicher Verwaltung. „Bürokratische Verwaltung ist ihrer Tendenz nach stets Verwaltung mit Ausschluss der Öffentlichkeit“, hieß es noch bei Max Weber. Für ihn musste das Wissen der Exekutive sich im Kampf mit der Legislative zum Geheimnis verdichten, um Machtinteressen und Kontrolle zu erhalten und Kri- tik einzudämmen. Weitaus nüchterner gewendet könnte auch argumentiert werden, dass eine bürokratische und auf Recht und Gesetz fußende Verwaltung keinerlei Öffentlichkeit braucht, weil sie effizienter ohne arbeitet: Dahinter steht die Vorstellung eindeutig determinierter, rechtlich festgelegter Entscheidungsprozesse. Diese Vorstellung von Verwaltung passt heute – wenn überhaupt je – nicht mehr. Die moderne Verwaltungspra- xis hat sich unter dem Eindruck tiefgreifender gesell- 20440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) schaftlicher Veränderungen wie zum Beispiel dem Wan- del zum Präventionsstaat grundlegend verändert. Die Ablösung des rein hierarchischen und in einer durch- gehenden demokratischen Legitimationskette stehenden Gesetzesvollzuges durch weite, flexiblere Einschät- zungs- und Entscheidungsspielräume bis hin zur Verwal- tung als kooperierender Vertragspartner prägen heute das Bild. Ohne eine grundlegende eigene demokratische Absicherung lässt sich dieser Wandel nicht rechtfertigen. Die Rückkopplung an den Volkswillen geschieht durch Öffentlichkeit. Das Transparenzprinzip ist damit Grund- voraussetzung der Legitimation moderner Verwaltung. Ganz konkret führt dies auch zu einem individuellen und voraussetzungslosen Auskunftsanspruch der Bürgerin- nen und Bürger gegenüber öffentlichen Stellen. Es ist ihr gutes Recht. Der Antrag „Demokratie durch Transparenz stärken – Deklassifizierung von Verschlusssachen gesetzlich re- geln“ (Bundestagsdrucksache 17/6128) greift ein drän- gendes Problem bei der Realisierung dieses Transpa- renzprinzips in der Praxis auf. Er ist deshalb in seiner Grundtendenz zu begrüßen. Denn die Aktenöffentlich- keit als Teilausprägung des Transparenzprinzips schei- tert in der Praxis durch eine Kombination von Faktoren: Rein rechtlich betrachtet wurden zwar umfängliche Rechtsgrundlagen für den Informationszugang geschaf- fen. Diese werden jedoch in vielen Fällen durch ebenso umfängliche Einschränkungen wieder zurückgenom- men bzw. erheblich relativiert. Eine dieser Einschränkungen liegt in § 3 Nr. 4 des Bundesinformationsfreiheitsgesetzes. Werden Informa- tionen auf der Grundlage behördeninterner Verwaltungs- vorschriften als Verschlusssachen eingestuft, entfällt der Informationsanspruch der Öffentlichkeit bzw. der Bürge- rinnen und Bürger. Die dementsprechend maßgebliche VS-Anweisung, VSA, des Bundes legt die Entscheidung für eine Einstufung auf der Grundlage sehr abstrakter und ausschließlich an Geheimhaltung orientierter Begrifflichkeiten weitgehend in die Hände der Behör- denmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Hier kommt der zweite begrenzende Faktor für mehr Transparenz voll zum Tragen, nämlich die nach wie vor sehr verbreitete Grundeinstellung in den Köpfen, dass die Öffentlichkeit außen vor zu bleiben habe. Die etablierte Arkankultur der öffentlichen Verwaltung, wie sie vielfach von den Informationsbeauftragten beschrieben und kritisiert wird, steht einer weiteren Öffnung immer noch entge- gen. Im Falle der Verschlusssachen besteht eine beson- ders weitgehende Möglichkeit, das Wissen der Verwal- tung insbesondere über sehr lange Zeiträume der Wahrnehmung der Öffentlichkeit zu entziehen. Über- greifend sind davon auch nach den Archivgesetzen erfasste Bestände betroffen, die damit der historischen Forschung, aber auch besonderen journalistischen Inte- ressen grundsätzlich nicht offenstehen. Skandalös erscheint dies vor dem Hintergrund der besonderen geschichtlichen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland ganz besonders im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Deshalb ist die Forderung des Antrags der Linksfrak- tion nach einer Vergesetzlichung der VS-Anweisung dann zutreffend, wenn auf diese Weise tatsächlich eine am Ziel des Transparenzprinzips ausgerichtete Neufas- sung bewirkt werden kann. Hinsichtlich der Einzelheiten einer solchen Regelung ist es sicher sinnvoll, eine ein- gehende parlamentarische Anhörung durchzuführen. Fragen etwa wirft der Vorschlag des Antrags auf, eine automatische Deklassifizierung nach 20 Jahren herbei- zuführen. Angesichts der zum Teil sehr unterschiedlich gelagerten, legitimen Einschränkungen des Transparenz- prinzips wie zum Beispiel den Persönlichkeitsrechten, aber auch besonderen Geheimhaltungspflichten, etwa beim Informantenschutz, muss hier sehr genau hinge- schaut werden. Wir sollten deshalb die nach der jetzigen Rechtslage zum Teil sehr undifferenzierten Bereichsaus- nahmen zum Nachteil des Transparenzprinzips nicht mit gleichermaßen pauschalen Vorgaben zugunsten dieses Prinzips beantworten. Sachgerechte Verbesserungen der Transparenz sind hier anzustreben. Insgesamt greift auch eine allein auf die Frage der Verschlusssachen angelegte Reform deutlich zu kurz. Zahlreiche weitere Baustellen im Bereich des Informationsfreiheitsgesetzes verpflich- ten vielmehr zu einer umfassenderen Modernisierung zugunsten von mehr Transparenz für die Bürgerinnen und Bürger. Klar ist ferner auch, dass eine Änderung der normati- ven Grundlagen allein keine wirkliche Veränderung bewirken kann. Eine verkürzte, allein juridische Sicht- weise der Hindernisse auf dem Weg zu mehr Transpa- renz würde verkennen, das auch das Selbstverständnis und die Arkankultur in den Behörden selbst mit in den Blick genommen und mit zusätzlichen Maßnahmen Ver- änderungen angestoßen werden sollten. Die von der Linksfraktion heute vorgenommene Ver- bindung der Thematik der Verschlusssachen mit der Frage der Zugänglichmachung von Akten des Bundes- verfassungsgerichts ist dagegen keineswegs zwingend. Denn als Teil der Judikative unterliegt das höchste deut- sche Gericht durchaus anderen Transparenzmaßstäben als die unter einem besonderen demokratischen Legiti- mationsdruck stehende Verwaltung. Das ergibt sich nicht zuletzt aus der besonderen verfassungsrechtlichen Stel- lung, insbesondere der den Richtern gewährten richterli- chen Unabhängigkeit und der zum Schutz dieser Unab- hängigkeit bestehenden Regelungen, aber auch weil der rechtliche Rahmen der Arbeit des Gerichts keine ver- gleichbar grundlegenden Veränderungen erfahren hat wie die Verwaltung. Gleichwohl gilt auch hier, dass sich der gesellschaftli- che Kontext, in dem das Gericht heute seine Entschei- dung trifft, verändert und dementsprechend auch die an das Gericht herangetragenen Prozesse. Kaum von der Hand zu weisen ist insbesondere die gewachsene politi- sche Bedeutung seiner Entscheidungen angesichts zu- nehmender Entscheidungsdelegation durch die Politik. Es ist deshalb naheliegend, dass heute ein weitaus umfänglicheres, legitimes öffentliches Interesse der his- torischen Forschung, zum Beispiel zur Entstehung der besonders herausragenden und gesellschaftspolitisch relevanten Entscheidungen des Gerichts, besteht. Dabei können beispielsweise auch die bislang von Auskunfts- ansprüchen nicht miterfassten Voten der Richter von Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20441 (A) (C) (D)(B) Interesse sein. Insgesamt macht es deshalb, im Aus- tausch auch mit dem Bundesverfassungsgericht selbst, Sinn, darüber nachzudenken, auf welche Weise Verbes- serungen der Auskunftsrechte herbeigeführt werden können, ohne das richterliche Beratungsgeheimnis unverhältnismäßig einzuschränken. Nach unseren Informationen ist es allerdings unzu- treffend, dass das Gericht eine pauschale Sperrfrist von 90 Jahren für alle „Verfahrensakten“ anstrebt. Hier kön- nen wir deshalb schon den Feststellungen des Antrags nicht folgen. Hinsichtlich des Forderungsteils gilt: Es bestehen derzeit differenzierende Regelungen, die nach veröffentlichten und unveröffentlichten Entscheidungen unterscheiden und die unseres Wissens nicht grundle- gend verändert werden sollen. Die Akten unveröffent- lichter Entscheidungen etwa können nach 30 Jahren ver- nichtet werden, über ihre mögliche Umwidmung als Archivgut – mit der dann entsprechenden Anwendbar- keit des Bundesarchivgesetzes – entscheidet das Gericht im Einvernehmen mit dem Bundesarchiv. Es gibt dem- nach keine – uneingeschränkte – Angebots- und Überga- bepflicht, wie im Antrag der Linken dargestellt. Die pau- schale Forderung aber, die Sperrfristen im Archivgesetz pauschal um 20 Jahre zu verkürzen, geht weit über den im Antrag zugrunde gelegten Fall hinaus, und es fehlt damit schon an einer hinlänglichen Begründung. Die vielfältigen und bei der gesetzlichen Regelung zu berücksichtigenden gegenläufigen Interessen erfordern eine differenzierte Bewertung, die hier nicht einmal im Ansatz erkennbar ist. So dürfte eine pauschale Verkür- zung um 20 Jahre deutliche Veränderungen bei der Betroffenheit von Persönlichkeitsrechten nach sich zie- hen, die nicht einfach ignoriert werden dürfen. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 30. September 2011 des Übereinkommens vom 29. Mai 1990 zur Errich- tung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Tagesordnungspunkt 15) Norbert Schindler (CDU/CSU): Wir beschließen heute in zweiter und dritter Beratung den Gesetzentwurf zur Änderung der Aufgaben der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, EBWE, in London. Mit der Zustimmung zu diesem Gesetz soll der Beschluss des Gouverneursrats der Bank, den Einsatzbereich der EBWE auf die Länder des südlichen und östlichen Mittelmeerraumes auszuweiten, auch von Deutschland unterstützt werden. Deutschland ist Gründungsmitglied der 1991 errichte- ten multilateralen EBWE; insgesamt gibt es 65 nationale und supranationale Anteilseigner, von denen Deutsch- land mit einem Kapitalanteil von 8,5 Prozent neben Frankreich, Italien, Großbritannien und Japan eines der größten Mitglieder ist. Lediglich die USA halten mehr, nämlich 10 Prozent des Kapitals. Die Errichtung der EBWE war eine Reaktion auf die historischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa nach dem Fall der Berliner Mauer. Der politische Auf- trag der Bank war die Förderung von Demokratie und Marktwirtschaft in ihren 30 Einsatzländern in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, der Kaukasusregion, Zentral- asien, Russland, Mongolei und der Türkei. Sie finanziert dabei mittels Darlehen und Kapitalbeteiligungen Investi- tionsprojekte insbesondere im privaten, aber auch im öffentlichen Sektor. Hauptaugenmerk ist dabei die öko- nomische Tragfähigkeit der Projekte und das Voranbrin- gen der wirtschaftlichen Entwicklung der Länder. Das Geschäftsvolumen der EBWE belief sich im Jahr 2011 auf circa 9 Milliarden Euro, das Gesamtportfolio, Kredite und Beteiligungen, auf rund 35 Milliarden Euro. Daneben unterhält die EBWE ein umfangreiches, von Gebern gespeistes Fondsprogramm zur Bereitstellung von fachlicher Beratung und Unterstützung von Investi- tionen in den Einsatzländern. In den letzten 20 Jahren verwaltete die Bank dafür über 200 bilateral und multi- lateral gespeiste Fonds für technische Zusammenarbeit im Gesamtvolumen von 1,7 Milliarden Euro. Prominen- tes Beispiel sind sechs Nuklearsicherheits- und Still- legungsfonds. Der größte davon ist für die Überführung des zerstörten Reaktors in Tschernobyl in einen umwelt- sicheren Zustand bestimmt. Die Verwaltung der Fonds durch die Bank erfolgt mit der gleichen Sorgfalt wie das normale Bankgeschäft. Die Kontrolle über die Verwen- dung der Fondsmittel erfolgt grundsätzlich in regelmäßi- gen Geberversammlungen. Voraussetzung für ein Tätigwerden der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung war und ist, dass in den Ländern demokratische Grundsätze einge- halten werden. Dies wird auch vom Gouverneursrat, dem höchsten Beschlussorgan der Bank, dem Bundes- finanzminister Dr. Wolfgang Schäuble als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland angehört, überprüft. Ebenso werden dort grundsätzliche Entscheidungen für die Aufgaben der 1 600 Mitarbeiter der Zentrale und der Regionalbüros getroffen. So hat der Gouverneursrat am 30. September 2011 durch Resolution die Ausdehnung des Mandats der EBWE auf die Staaten des südlichen und östlichen Mittelmeerraums beschlossen. Voran- gegangen war eine Initiative der G-8-Staaten zur Unter- stützung des Demokratisierungsprozesses in diesen Staaten, die auch eine finanzielle Hilfe durch internatio- nale Finanzinstitutionen vorsieht. Diese Ausweitung soll durch klare geografische Eingrenzung auf die unmittel- bare Nachbarschaft den europäischen Charakter der Bank bewahren, auch ohne die grundsätzliche Ausrich- tung der EBWE zu verändern. Bei der räumlichen Ausweitung des Mandats der EBWE handelt es sich lediglich um eine Option, die Finanzierungstätigkeit auch auf die Länder des südlichen und östlichen Mittelmeerraus auszuweiten. Damit könn- ten die Länder Ägypten, Algerien, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, Syrien, Tunesien sowie die palästi- nensischen Gebiete, die zum Teil bereits Mitglied der EBWE sind, unter der Voraussetzung, dass sie sich Mehrparteiendemokratie und Pluralismus verpflichten, gefördert werden. In einem ersten Schritt hat die EBWE 20442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) Maßnahmen der technischen Hilfe und ähnliche Aktivi- täten mit sogenannten Kooperationsfonds gestartet, die durch Gewinnzuweisungen sowie durch externe Geber finanziert werden. Kredite und Beteiligungen können daraus jedoch nicht finanziert werden. Dies ist der Hauptgrund, warum ich die Mandatser- weiterung nicht so kritisch betrachte wie einige Kolle- ginnen und Kollegen der Opposition. Mir liegt am Her- zen, dass neben der politischen Unterstützung des arabischen Frühlings dieser auch mit finanziellen Mit- teln im privaten und öffentlichen Sektor flankiert wird. Denn der politische Umbruch in den arabischen Staaten des Mittelmeerraums wird nur erfolgreich sein, wenn damit ein wirtschaftlicher Erfolg einhergeht. Auf die Risiken eines mangelnden wirtschaftlichen Erfolgs muss ich hier wohl nicht näher eingehen. Die mögliche Unterstützung durch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung mit konkreten Maßnahmen ist richtig und wichtig, denn auch hier ste- hen wir vor einem ähnlichen Transformationsprozess wie zu dem Zeitpunkt, als die Bank gegründet wurde. Große politische Risiken, die durch Terrorismus, Migra- tionsbewegungen und andere Aspekte immense Kosten für die Europäische Union mit sich bringen würden, können mit den geplanten Maßnahmen der EBWE zu- mindest geschmälert werden. Die von der Opposition angeführte zu wenig an den Zielen des EU-Vertrags ausgerichtete Geschäftstätigkeit kann ich nicht erkennen. Auch steht die EBWE nicht in Konkurrenz mit bereits in der Region tätigen Institutio- nen, sondern ergänzt diese. Da die Koordinierung der internationalen Finanzinstitutionen, zum Beispiel Euro- päische Investitionsbank, Afrikanische Entwicklungs- bank, im Mittelmeerraum durch die G-8-Länder inner- halb der sogenannten Deauville-Partnerschaft erfolgt, ist eine Überschneidung der Aufgaben und der Tätigkeiten auch nicht zu erwarten. Der Forderung der Mitglieder des Finanzausschusses nach einer Gesamtübersicht des Aufgabenspektrums der international tätigen Entwicklungsbanken, an denen die Bundesrepublik Deutschland beteiligt ist, schließe ich mich ausdrücklich an. Auch sollte die Frage nach einer besseren parlamentarischen Kontrolle dieser Banken noch einmal debattiert werden. Abschließend sei noch einmal betont: Das geplante finanzielle Engagement der EBWE in den potenziellen Empfängerländern, zunächst über einen Sonderfonds, ist richtig und deckt sich mit den politischen Zielen der Bundesrepublik Deutschland und der EU. Die Möglich- keiten hierfür müssen sehr schnell geschaffen werden, deshalb gilt es, die Voraussetzungen für die Ratifizie- rung der Änderungen des Übereinkommens zur Errich- tung der EBWE hier und heute im Parlament zu beschließen. Damit dokumentieren wir unsere Unterstüt- zung für die Staaten des Mittelmeerraums, die sich der Mehrparteiendemokratie und dem Pluralismus verpflich- tet haben, auch in multilateraler finanzieller Art und Weise. Manfred Zöllmer (SPD): Wir haben Ende der 80er- und zu Beginn der 90er-Jahre mit den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa eine der größten politischen Zäsu- ren des 20. Jahrhunderts erlebt. Diese Umbrüche in der Auflösung politischer Systeme und des kommunisti- schen Blocks haben Europa nachhaltig verändert. Im vergangenen Jahr haben wir in zuvor kaum vorstellbarer Weise den sogenannten arabischen Frühling erlebt, in dem sich die Menschen in verschiedenen arabischen Ländern gegen ihre Diktatoren erhoben und für neue de- mokratische Strukturen auf die Straße gingen, um sich aus den autokratischen Fesseln zu befreien. Diese Trans- formationsprozesse sind schwierig, bieten aber eine große Chance, in zuvor autokratischen Ländern eine De- mokratisierung und einen freien Wettbewerb und eine freie Wirtschaft zu etablieren. Derartige Umbrüche ha- ben auch einschneidende Folgen für die internationalen Beziehungen und machen ein Umdenken in internationa- len oder supranationalen Organisationen nötig. Diese Prozesse brauchen unsere Hilfe und Unterstützung. Die Errichtung der Europäischen Bank für Wieder- aufbau und Entwicklung war eine Reaktion auf die histo- rischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa Ende der 80er-Jahre und eine sehr gute Initiative des damali- gen französischen Präsidenten Mitterrand. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Mauerfalls wurde Deutschland Gründungsmitglied der 1991 in London errichteten mul- tilateralen europäischen Bank. Sie hat insgesamt 63 na- tionale und supranationale Anteilseigner. Mit einem Ka- pitalanteil von 8,5 Prozent ist Deutschland einer der größten EBWE-Mitglieder. Die Bank fördert mit ihren Projekten die demokrati- sche Entwicklung und die Marktwirtschaft in 30 Einsatz- ländern in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, der Kauka- susregion, Zentralasien, Russland und der Türkei. Im Detail finanziert die EBWE ausgewählte Investitions- projekte sowohl im privaten wie im öffentlichen Sektor, die ökonomisch tragfähig sein müssen, um die wirt- schaftliche Entwicklung der jeweiligen Länder voranzu- bringen. Dies geschieht in erster Linie durch Darlehen, Garantien und Kapitalbeteiligungen. Dabei finanziert und investiert die EBWE nur gemeinsam mit anderen In- vestoren und Finanziers, sodass wir über ein stattliches Gesamtvolumen von 179 Milliarden Euro sprechen kön- nen. Der Wert der EBWE-Projekte mit Beteiligung deut- scher Unternehmen belief sich im Januar 2011 auf 16,8 Milliarden Euro. Die meisten Projekte mit deutscher Be- teiligung erfolgten in Russland, Polen und Ungarn. Die EBWE stellt Projektfinanzierungen für Banken, Indus- trieunternehmen und Firmen bereit. Dies betrifft sowohl Neugründungen als auch Investitionen in laufende Un- ternehmen. Die Projekte werden den Bedürfnissen der Kunden und der besonderen Lage des Landes, der Re- gion oder des Sektors angepasst. Die Direktinvestitionen der EBWE liegen in der Regel zwischen 5 und 230 Mil- lionen Euro. Inzwischen hat die EBWE 2 500 Projekte initiiert. Um dies einmal anschaulich zu machen, will ich exem- plarisch drei größere Projekte der letzten Zeit nennen: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20443 (A) (C) (D)(B) Im Januar dieses Jahres wurde die Ada-Brücke in Bel- grad eröffnet, die die bisher relativ isolierten Teile der serbischen Hauptstadt verbindet. Die neue Brücke dient nicht nur der Verbindung oder als touristische Attrak- tion, sondern verbessert als Verkehrsweg auch den natio- nalen und internationalen Handel über den Fluss Sava. Die Ada-Brücke wurde mit 130 Millionen Euro Kredit der EBWE mitfinanziert. Um kleine und mittelständische Unternehmen in Ar- menien hin zu einer nachhaltigen Produktion zu fördern, hat die EBWE nicht nur mit Finanzierungsmitteln, son- dern auch bei der Verbesserung der Transparenz und Corporate Governance geholfen. Dem Unternehmen Saranist, einem der führenden Glas- und Flaschenherstel- ler in Armenien, wurden Umwelt- und soziale Auswir- kungsanalysen finanziert, damit Arbeits- und Umwelt- standards etabliert werden konnten. Dies wurde mit einem Darlehen in Höhe von knapp 6 Millionen Euro fi- nanziert. In Rumänien strebt die Regierung eine 20-prozentige Energieeinsparung bis zum Jahr 2020 an. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die EBWE Energieeinsparprogramme im öffentlichen Sektor in Rumänien unterstützt. Im Juli 2011 gewährte die EBWE einen Unternehmenskredit in Höhe von 10 Millionen Euro dem landesweit größten Elektrotechnikunternehmen für neue Netzverbindun- gen. Mit dieser zehnjährigen Anleihe wird die Energie- effizienz nachhaltig verbessert. Diese Beispiele belegen sehr gut die Vielfältigkeit der Projekte. Aber sie belegen auch, dass wir nicht in jedes Projektdetail der EBWE eintauchen können, weil wir sonst damit parlamentarische Kontrollrechte überstrapa- zieren würden. Hierzu haben wir uns gestern im Finanz- ausschuss bereits ausgetauscht. Aufgrund der genannten neuen politischen und ge- sellschaftlichen Umbrüche in den Ländern des südlichen und östlichen Mittelmeerraums besteht zwischen den 63 Anteilseignern der Bank nunmehr Einvernehmen da- rüber, das Mandat der Bank auszuweiten. Vorgesehen ist eine Ausweitung der Finanzierungstätigkeit der Bank auf Ägypten, Algerien, Jordanien, den Libanon, Libyen, Marokko, Syrien, Tunesien sowie die palästinensischen Gebiete. Dies ist richtig und findet unsere volle Unter- stützung. Die Menschen erwarten als Ergebnis ihrer re- volutionären Aktionen möglichst bald eine deutliche Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation. Dies ist nachvollziehbar, doch solche Entwicklungen brauchen Zeit und Unterstützung. Die Europäische Bank für Wie- deraufbau und Entwicklung kann zukünftig eine solche Unterstützung leisten. Die Finanzierung soll über Son- derfonds erfolgen. Wir begrüßen und unterstützen diesen Prozess und wünschen diesen Ländern eine gute Zu- kunft. Holger Krestel (FDP): Die ursprünglich zur Förde- rung demokratischer und marktwirtschaftlicher Struktu- ren in den ehemaligen GUS-Staaten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gegründete Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, EBWE, hat ihr Tätig- keitsfeld inzwischen signifikant erweitert. Die Anteils- eigner, unter denen sich auch die Bundesrepublik Deutschland befindet, haben sich im September letzten Jahres einstimmig darauf geeinigt, ihre Finanzierungstä- tigkeiten auf den südlichen und östlichen Mittelmeer- raum auszuweiten, um den Ländern, welche im Rahmen des sogenannten arabischen Frühlings große Fortschritte in der Demokratisierung erreicht haben, oder erreichen können, in diesem Prozess behilflich zu sein. Als Ände- rung eines völkerrechtlichen Vertrags bedarf dieser Be- schluss nunmehr der Ratifikation durch dieses Haus. Nun ist es legitim, einzuwenden, warum eine europäi- sche Förderbank Projekte in Nordafrika unterstützen sollte. Dies genau geschieht im europäischen Interesse, und die Förderung demokratischer und markwirtschaftli- cher Entwicklungen ist als Ziel in den Statuten der EBWE fest verankert. Durch die geografische Nähe der neuen Mandatsgebiete bleibt der europäische Charakter der Bank bewahrt. Eine gezielte Auswahl von Projekten er- möglicht es der Bank, dort umweltverträgliche, energie- effiziente und nachhaltige Technologien zu etablieren. Volkswirtschaften mit solchen Zielen unterstützt die EBWE in besonderer Weise. Das liegt nicht nur im Inte- resse der Europäischen Union, sondern der ganzen Welt- gemeinschaft. Dies sind nicht die ersten Tätigkeiten der EBWE au- ßerhalb der europäischen Union. Es befinden sich bereits zahlreiche Projekte in der Türkei, Kasachstan oder Aser- baidschan zur Förderung des Transformationsprozesses hin zu demokratischen und marktwirtschaftlichen Struk- turen in der Durchführung. Wichtig hierbei ist, dass mit undemokratischen Regierungen wie in Weißrussland oder Usbekistan keine Zusammenarbeit stattfindet. Statt- dessen werden privatwirtschaftliche Anstrengungen un- terstützt, welche direkt den Menschen im Lande zugute- kommen. Hierbei handelt es sich jedoch ausdrücklich nicht um Almosen. Basis bleibt die Vergabe von Kredi- ten an private Initiativen und Unternehmen, welche ne- ben einem Mehrwert für die Gemeinschaft auch Ge- winne erzielen und stets eine Rückzahlung der Kredite anstreben. Diese Hilfe zur Selbsthilfe ist die effektivste Art für selbstbestimmten Fortschritt ohne langfristige Abhängigkeit vom Geldgeber. Dass von einer Entwick- lung, die allen Seiten hilft, auch deutsche Unternehmen profitieren können, ist eine Selbstverständlichkeit. Freilich darf man nicht der Illusion erliegen, dass die- ser Prozess ein Selbstläufer wäre. Es gilt zahlreiche Schwierigkeiten zu bewältigen. Aber gerade weil die EBWE mit ihrer Betreuung der Transformationsprozesse von den ursprünglich staatlich gelenkten Volkswirtschaf- ten in Osteuropa und Zentralasien umfassendes Know- how angesammelt hat, ist sie für ihre neuen Aufgaben besonders prädestiniert und auf viele Komplikationen bereits vorbereitet. So herrschen vor Ort ganz andere Be- dingungen, was Infrastruktur, Kultur und Organisations- grad angeht, als es in den entwickelten Volkswirtschaf- ten Europas der Fall ist. Diese Unterschiede müssen bereits im Voraus antizi- piert werden. Dies gilt auch so für die unabdingbare Koordination mit anderen Förderbanken und Entwick- 20444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) lungshilfeorganisationen, um Überschneidungen zu ver- hindern. Wichtig an diesem Gesetz ist vor allem, dass es schnell Handlungsfreiheit schafft. Durch die Änderung des Art. 18 des Übereinkommens wird es möglich, be- reits mit Zustimmung von 75 Prozent der Anteilseigner und 80 Prozent des Kapitals Sonderfonds zu schaffen, bis die restlichen Mitglieder ebenfalls ihre Ratifizierung abgeschlossen haben. Allerdings ist damit nicht vor dem Jahr 2013 zu rechnen. Damit schnell vor Ort gehandelt werden kann, bitte ich Sie daher, diesem Entwurf zuzu- stimmen. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Es steht außer Frage, dass die Menschen in den im Gesetz genannten Regio- nen zusätzlicher Hilfe für eine weitere Entwicklung und einen Wiederaufbau bedürfen. Gerade die Aufstände gegen die Despoten des südlichen und östlichen Mittel- meerraums wurden getragen von der Generation der unter 30-Jährigen, die in den damals herrschenden Ver- hältnissen keine Perspektive mehr hatte. Es wird höchste Zeit, allen Bewohnerinnen und Bewohnern dieser Staa- ten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Dazu gehören ohne Zweifel die Wahrung der Menschenrechte und eine pluralistische Mehrparteiendemokratie. Doch ohne die Sicherstellung der Grundbedürfnisse der Men- schen – ausreichende Versorgung mit Nahrung, saube- rem Trinkwasser, medizinischer Versorgung und Bil- dung − wird jede weitere Entwicklung in diese Richtung weiter erschwert oder verhindert. Gerade an dieser Stelle sehen wir in dem von der Bun- desregierung vorgelegten Gesetz ein großes Problem. Denn die Europäische Bank für Wiederaufbau und Ent- wicklung hat mit ihren Projekten in Osteuropa einen nur sehr überschaubaren Erfolg erzielen können. Die Kon- zentration auf die Entwicklung der osteuropäischen Staa- ten zu offenen Marktwirtschaften hat häufig zu krassen Fehlentwicklungen geführt. Bei der Ausbeutung fossiler Rohstoffquellen für den Export in Industriestaaten ist es zu massiven Umweltzerstörungen gekommen. Das Bin- den der Förderung öffentlicher Projekte an Bedingungen wie der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen hat lediglich zu einer stärkeren Umverteilung zugunsten der neuen Eigentümer geführt. Eine Verbesserung der Quali- tät und des Zugangs zu diesen ehemals öffentlichen Dienstleistungen ist nicht messbar. Das Dogma, Märkte seien grundsätzlich besser als staatliches Handeln, ist keine Basis für eine Politik, die auf Wiederaufbau und Entwicklung von Staaten abzielt. Nur durch eine starke Fokussierung auf die sozialen und ökologischen Auswir- kungen der zu fördernden Projekte kann eine nachhaltige Entwicklungspolitik Erfolg haben. Zudem ist bisher viel zu gering gewürdigt worden, dass wir es bei der betroffenen Gruppe von Staaten nur bedingt mit Demokratien zu tun haben. Selbst in den Staaten, deren Diktatoren durch Aufstände entmachtet wurden, sind die dahinterstehenden autoritären Regime noch nicht vollständig beseitigt. Die zukünftige Ent- wicklung dieser Staaten ist derzeit noch nicht absehbar. In Staaten wie Marokko oder Algerien kann von Demo- kratie gar keine Rede sein. Den Einfluss der dortigen Machthaber durch die Aktivitäten der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung zu stärken, ist unverantwortlich, insbesondere weil in einigen dieser Staaten derzeit noch militärische Konflikte existieren, im Gegensatz zur Situation der osteuropäischen Staaten nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Das Instru- mentarium der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ist für derartige Situationen ungeeig- net. Aus diesen Gründen werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf ablehnen, weil eine Erweiterung der geo- grafischen Geschäftstätigkeit der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ohne eine grundsätz- liche Reform ihrer Ziele und Instrumente in der jetzigen Situation nur kontraproduktive Effekte haben wird. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir Bündnisgrünen begrüßen den Aufbruch in vielen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens, wie wir sie seit dem Frühjahr 2011 beobachten. Die Demokratisie- rungswelle war und ist von großen Hoffnungen beglei- tet. Ihr Erfolg wird auch davon abhängen, welche wirt- schaftlichen Perspektiven es für die Menschen in den jeweiligen Ländern gibt. Politischen Initiativen wie der vorliegenden, die diesen Reformprozess ökonomisch begleiten und stützen möchten, stehen wir daher im Grundsatz aufgeschlossen gegenüber. Für mich als Finanzpolitiker, der sich intensiv mit Finanzmärkten und Banken, aber weniger stark mit Außenpolitik beschäftigt, wirft der vorliegende Gesetz- entwurf allerdings einige Fragen bezüglich des Wie die- ser Unterstützung auf, die in unseren Beratungen im Ausschuss in der Kürze der Zeit nicht umfassend geklärt werden konnten. Eine dieser Fragen lautet: Wer tut eigentlich was? Sie stellt sich, weil es mit der Europäischen Bank für Wie- deraufbau und Entwicklung, der Europäischen Investi- tionsbank und der Entwicklungsbank des Europarates gleich drei Entwicklungsbanken mit Bezug zu Europa bzw. seinen Nachbarn gibt. Zugegeben: Im Detail haben diese drei Banken unterschiedliche Mandate, Einsatz- gebiete und Anteilseigner. Es gibt aber unzweifelhaft auch viele Überschneidungen. Das zeigt sich auch beim vorliegenden Gesetzesvorhaben, das ja im Kern das künftige Einsatzgebiet der EBRD auf Länder des soge- nannten arabischen Frühlings ausweiten will. So ist die Europäische Investitionsbank bereits seit zehn Jahren mit dem Programm FEMIP in Ländern des östlichen und südlichen Mittelmeerraumes unterwegs – also genau dort, wo künftig mittels des vorliegenden Ge- setzentwurfs die EBRD tätig werden soll. Auch bei den bereits von der EIB dort genutzten Förderinstrumenten – Darlehen, Beteiligungskapital und Technische Hilfe – und den Förderzielen sowie den Begünstigten – Unter- stützung des Privatsektors durch Kredite – bestehen große Schnittmengen zu dem, was die EBRD in dieser Region vorhat. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20445 (A) (C) (D)(B) Warum also nicht vorhandene Förderkapazitäten in der Region genutzt, sondern neue aufgebaut und somit Doppelstrukturen produziert werden, erschließt sich mir hier nicht. Ich kann auch derzeit nicht recht nachvollzie- hen, warum die Wahl auf die EBRD, nicht aber auf die Weltbank gefallen ist: Nach welchen Kriterien werden hier eigentlich Entscheidungen getroffen? Und stehen wirklich – wie es nach meinem Dafürhalten sein muss – die Bedürfnisse der Menschen und die Beseitigung von Entwicklungshemmnissen vor Ort im Zentrum der Ent- scheidung, welche Bank aktiv wird? Spielen Erfolgskon- trollen und Konzepte bei der Auswahl der richtigen Förderbank eine Rolle? Vor diesem Hintergrund erscheint es mir jedenfalls richtig und wichtig, dass sich der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages einmal grundsätzlich mit der Frage beschäftigt, ob die heutige Abgrenzung und Arbeitsteilung der drei europäischen Förderbanken noch überzeugt oder ob nicht eigentlich vieles dafür spricht, hier mittelfristig Strukturen zusammenzulegen und die so eingesparten Mittel für Förderzwecke einzusetzen. Auch unter dem Blickwinkel einer kohärenten, aufeinan- der abgestimmten Förderpolitik scheinen mir derlei Fusionsgedanken zumindest diskussionswürdig. Bei die- ser Gelegenheit sollten wir auch Überschneidungen mit anderen multilateralen Entwicklungsbanken wie der Weltbank in den Blick nehmen. Im Gespräch der Berichterstatter des Finanzausschus- ses haben wir eine solche Grundsatzdebatte über die Förderstrukturen auf Europaebene ja auch bereits verab- redet. Wichtig wäre mir, dass wir in eine solche Diskus- sion auch Vertreter der Zivilgesellschaft einbeziehen. Denn Nichtregierungsorganisationen wie Bankwatch oder urgewald haben in Verbindung mit diesem Geset- zesvorhaben durchaus – wie ich finde – substanzielle Kritik vorgetragen. So messe die EBRD ihre Entwick- lungserfolge nur unzureichend, setze in ihren Projekten zu stark und einseitig auf den Export von Rohstoffen, habe zu gravierenden Umweltbelastungen beigetragen und vielerorts ungleiche Einkommensverteilungen eher verstärkt als geglättet. Auch bestehe mit Blick auf die jüngere Förderpraxis der Bank die Gefahr, dass die Mit- tel der EBRD eher bestimmte Machtstrukturen in der neuen Zielregion stützten, als dort den demokratischen Wandel zu befördern. Der Einbezug zivilgesellschaftli- cher Akteure scheint mir vor dem Hintergrund dieser Kritiken sehr wichtig, um ein ausgewogenes Bild der Lage zu erhalten. Eine weitere Frage, die sich mir stellt, betrifft das be- absichtigte Fördervolumen: Bisher wissen wir nicht, über welchen finanziellen Einsatz wir hier eigentlich sprechen – für mich eine unbefriedigende Entschei- dungsgrundlage. Auch habe ich bisher nicht im Detail nachvollziehen können, worin die konkreten Vorteile und Hintergründe für den recht häufigen Einsatz von derzeit 24, bald 25 Sonderfonds im Portfolio der EBRD bestehen. Vor dem Hintergrund dieser Vielzahl an noch offenen Fragen wird sich meine Fraktion enthalten. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Das Bildungs- und Teilhabepaket – Leistungen für Kinder und Jugendliche unbürokratisch, zielgenau und bedarfsgerecht erbringen (Tagesordnungs- punkt 16) Heike Brehmer (CDU/CSU): Mitmachen möglich machen, dieses Motto setzt das Bildungs- und Teilhabe- pakt seit nunmehr einem Jahr in die Tat um. Seit einem Jahr bietet es Kindern und Jugendlichen aus Geringver- dienerfamilien eine Chance, an gesellschaftlichen Akti- vitäten und Bildungsangeboten in ihrem Umfeld teilzu- nehmen. Rückwirkend zum 1. Januar 2011 konnten Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Fami- lien im Bereich Sport, Musik oder Kultur dabei sein. Sie können an Schulausflügen und am gemeinsamen Mittag- essen in der Schule, im Hort oder in der Kita teilnehmen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der – nach ihren Wor- ten – „eine echte soziokulturelle Existenzsicherung von allen Kindern und Jugendlichen ermöglicht“. Gern ver- weise ich Sie auf die Antwort der Bundesregierung (Drucksache 17/8732). Haben Sie diese schon gelesen? Darin heißt es – und das bringt es auf den Punkt –, das Bildungs- und Teilhabepaket „dient der Deckung der Bildungs- und Teilhabebedarfe von Kindern und Jugend- lichen und sichert somit deren spezifisches soziokultu- relles Existenzminimum“. Meine Damen und Herren von den Grünen, ich habe es Ihnen bereits in meiner Rede zum Bildungspaket im Dezember letzten Jahres gesagt. Aber ich rufe es Ihnen gern noch einmal in Erinnerung: Anders als ihre Kolle- ginnen und Kollegen von der SPD haben Sie sich aus der Verantwortung gestohlen, als es im Frühjahr 2011 darum ging, wie das Bildungspaket bzw. das Urteil des Bundes- verfassungsgerichts umgesetzt werden kann. Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket haben erstmals seit Ein- führung der Hartz-IV-Gesetze bedürftige Kinder und Jugendliche die Chance, an Bildung und Freizeitangebo- ten teilzunehmen. Ich berichte Ihnen gern von den Erfahrungen aus mei- nem Heimatbundesland Sachsen-Anhalt und aus mei- nem Wahlkreis Harz. Die Mitteldeutsche Zeitung berich- tete am 12. März 2012, Zitat: „Das vor einem Jahr ins Leben gerufene Bildungs- und Teilhabepaket für bedürf- tige Kinder wird in Sachsen-Anhalt gut angenommen.“ Laut einer Umfrage seien landesweit für 110 550 an- spruchsberechtigte Kinder und Jugendliche bis Ende 2011 fast 135 300 Anträge gestellt worden, heißt es wei- ter. Pro Kind können mehrere Anträge eingereicht wer- den. Der Landkreis Harz nimmt im Landesvergleich sogar einen Spitzenplatz ein, wenn es um die Nutzung des Bildungs- und Teilhabepakets geht. Im Jahr 2011 wurden im Harzkreis 9 766 Anträge gestellt und davon 95,5 Prozent bewilligt. Die Nachfrage nach der Unter- 20446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) stützung bei Vereinsmitgliedschaften ist groß und nimmt nach dem Bereich der Mittagsversorgung den zweiten Platz ein. Gemeinsam mit dem Parlamentarischen Staatssekretär, Herrn Dr. Ralf Brauksiepe, war ich in meinem Wahlkreis unterwegs, und wir haben uns über die Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets infor- miert. Die kommunale Beschäftigungsagentur, KoBa, setzt auf eine enge Zusammenarbeit mit den regionalen Akteuren wie dem Kreis-, Kinder- und Jugendring und dem Kreissportbund. Ich habe mir vor Ort viele gute Beispiele für ein ideenreiches Miteinander ansehen kön- nen und habe mich über deren Umsetzung informiert. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, die Akteure vor Ort sind sich Ihrer Verantwortung durch- aus bewusst. Dabei sind Kommunikation und Öffent- lichkeitsarbeit zwei entscheidende Stichworte. Die Bundesregierung hat hierzu eine umfassende Informa- tionskampagne gestartet, die sich an eine breite Öffent- lichkeit richtet. Neben allgemeinen Informationen sollen insbesondere zwei Zielgruppen angesprochen werden. Das sind zum einen die leistungsberechtigten Familien selbst. Zum anderen sind das die sogenannten Multipli- katoren, das heißt diejenigen Menschen, die im nahen Umfeld der Familie beschäftigt sind, wie zum Beispiel Engagierte in Schulen, Kindertageseinrichtungen, Ver- bänden, Vereinen etc. Die Ergebnisse der von unserer Ministerin Frau Dr. von der Leyen ins Leben gerufenen Runden Tische, zuletzt im November 2011, haben eine positive Tendenz bei der Nutzung des Bildungs- und Teilhabepakets auf- gezeigt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat mit Vertretern von Bund, Ländern und Kommunen die Umsetzung des Teilhabepakets beraten. An dieser Umsetzung sind viele Akteure beteiligt. Das Bundes- ministerium für Arbeit und Soziales, die Kreise und die kreisfreien Städte sowie die Jobcenter und ihre Partner vor Ort sorgen alle dafür, dass das Bildungspaket bei den Kindern ankommt. Denn da soll es auch hin. Ich habe es eingangs bereits erwähnt: Das Bildungs- paket folgt der großen Leitidee „Mitmachen möglich machen“. Ich denke, darauf haben die Kinder ein Anrecht. Die CDU/CSU will das Mitmachen möglich machen. Und es lohnt sich, dass wir alle gemeinsam unsere Kraft und unsere Politik für die Kinder und ihre Lebensperspektiven einsetzen. Die CDU/CSU wird daher dem Antrag der Grünen nicht zustimmen. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Wir kümmern uns da- rum, dass Kinder nicht ausgeschlossen werden, und ha- ben deshalb im Januar des letzten Jahres das Bildungs- und Teilhabepaket auf den Weg gebracht. Sie, meine Da- men und Herren von SPD und Grünen, haben nämlich bei Einführung der Hartz-IV-Regelungen gerade die Menschen vergessen, die die Zukunft unseres Landes gestalten werden. Wir haben nun das Urteil des Bundes- verfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 umgesetzt und müssen uns nun bewusst machen, dass die neu einge- führte Regelung eben Zeit braucht, um sich zu etablie- ren. Hätten Sie die Teilhabe von Kindern gleich inte- griert, könnten wir bereits jetzt die Erfolge in einem zufriedenstellenden Maße beobachten. Die Kritik am Bildungs- und Teilhabepaket, die Sie in Ihrem Antrag vorbringen, spiegelt in keiner Weise die Realität wider. Sie missdeuten die unumgänglichen Anlaufschwierig- keiten als Mängel in der Ausgestaltung der einzelnen Leistungen. Wir sehen, dass für alle Kinder in unserem Land ein Umfeld geschaffen werden muss, das es jedem einzelnen erlaubt, seine Talente zu entdecken und sein Potenzial zu entfalten. Der richtige Ansatz ist, dass jedes Kind aus dem Paket genau die Einzelförderung erhält, die es braucht. Wir setzten auf maßgeschneiderte Förderungen unserer Kinder – wir wollen, dass jedes einzelne seine ei- genen, ganz individuellen Talente entfalten kann. Wir set- zen – auch in Anbetracht des drohenden Fachkräfteman- gels – auf die Potenziale, die in unserem Land liegen – und dazu gehört ganz entscheidend die Bildung und Teil- habe unserer Kinder. Wir haben uns daher aus gutem Grunde für das Sach- leistungsprinzip entschlossen. Da Sie dieses leider noch immer nicht verstanden haben, werde ich es noch mal er- klären. Durch das Sachleistungsprinzip stellen wir si- cher, dass die Leistungen bei den Kindern ankommen. Zudem ist eine maßgeschneiderte Förderung möglich. Wir verteilen nicht nach dem Gießkannenprinzip Gelder. Das lässt weder unser zu konsolidierender Staatshaushalt zu, noch ist dies in irgendeiner Weise zielführend. Wir wollen, dass jedes Kind, das eine Lernschwäche hat, ge- fördert wird. Des Weiteren möchte ich an dieser Stelle betonen, dass die christlich-liberale Koalition nichts von einer Be- vormundung der Eltern hält. Eltern sind verantwortlich, dafür zu sorgen, dass ihr Kind seine Potenziale aus- schöpft. Wir schaffen in diesem Hohen Hause die Mög- lichkeiten, kommunizieren diese durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit, etliche Kampagnen und über zahl- reiche Einrichtungen, und wir unterstützen die Kommu- nen, die mit der Umsetzung beauftragt sind, darin, büro- kratische Hürden abzubauen. Mit der oben genannten Einschränkung, dass es selbstverständlich Zeit braucht, bis das neue Paket die nötige Aufmerksamkeit erhält, vertrauen wir darauf, dass Eltern imstande sind, Leistun- gen für ihr Kind zu beantragen. Wir erkennen die wich- tige und auch verantwortungsvolle Position der Eltern an. Und diese fördern wir auch in anderen Bundespro- grammen. So hat beispielsweise das BMFSFJ im Fe- bruar dieses Jahres das Bundesprogramm „Elternchance ist Kinderchance“ zur Weiterqualifizierung zur Elternbe- gleitung ins Leben gerufen – dieses wird bereits erfolg- reich angenommen. Die ersten 500 Elternbegleiter er- hielten bereits Ende Februar ihr Zertifikat, das sie durch einen dreiwöchigen Kurs, in dem pädagogische und be- raterische Kompetenzen vermittelt werden, erworben haben. Es ist wichtig, lange vor dem ersten Schultag El- tern frühzeitig für die Bildungsförderung ihrer Kinder zu interessieren und sie kompetent zu beraten. Elternbeglei- ter stehen deshalb an vielen Orten der Familienbildung als kompetente Vertrauenspersonen an ihrer Seite. Faire Chancen für Kinder sind eng mit der frühen Förderung und Verantwortung durch die Eltern verknüpft, und da- rauf bauen wir. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20447 (A) (C) (D)(B) Wir stellen darüber hinaus fest, dass sehr viele Kom- munen das Programm auch sehr gut umsetzen. So hat beispielsweise das Jobcenter Würzburg Land in meinem Wahlkreis eine sehr übersichtliche Broschüre herausge- geben, die den Eltern zeigt, welche Förderungen mög- lich sind und wo diese beantragt werden können. Wir ge- ben den Kommunen Hilfestellungen bei der Umsetzung. Es ist jedoch nicht möglich, liebe Kolleginnen und Kol- legen der Grünen, wie Sie in Ihrem Antrag fordern, in kommunale Strukturen einzugreifen. Nichtsdestotrotz haben wir selbstverständlich er- kannt, dass das Bildungs- und Teilhabepaket noch mehr Kindern zugutekommen muss. Die Antragsquote von 45 Prozent, die die kommunalen Spitzenverbände im November 2011 veröffentlichten, ist nicht ausreichend. Am kommenden Freitag steht ein weiterer Erhebungsbe- richt zum Stand 1. März 2012 an, den wir abwarten und entsprechend bewerten müssen. Darüber hinaus müssen die Länder gemäß § 46 Abs. 8 Satz 4 SGB II an das BMAS die Gesamtausgaben für Bildungs- und Teilhabeleistungen der Kommunen nach SGB II und BKGG, Bundeskindergeldgesetz, melden. Auch diese Zahlen müssen abgewartet und entsprechend bewertet werden. Wir haben Interesse daran, dort nachzujustieren, wo Änderungen nötig und zielführend sind. Deshalb hat das BMAS auch eine Studie beim Institut für Sozialfor- schung und Gesellschaftspolitik in Auftrag gegeben, de- ren Ergebnisse im Mai dieses Jahres bekannt gegeben werden. Des Weiteren ist Ihnen sicherlich auch bekannt, dass es den Runden Tisch zum Bildungspaket mit den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden gibt, der in regelmäßigen Abständen tagt, das Programm begleitet und bewertet und damit schnell auf Beschwerden und Anlaufschwierigkeiten eingehen kann. Ihr Antrag jedoch verfehlt dieses Ziel und ist deshalb abzulehnen. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Wir sprechen heute über den Grünen-Antrag zum Bildungs- und Teilhabepa- ket. Und wir wollen heute darüber abstimmen. Wir wer- den dem Antrag nicht zustimmen, sondern uns enthalten. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha- ben das Bildungspaket im letzten Jahr gemeinsam mit der CDU/CSU auf den Weg gebracht. Es soll arme und einkommensschwache Familien unterstützen, damit ihre Kinder bessere Bildungschancen erhalten. Bisher ist es in Deutschland leider so, dass vor allem der Geldbeutel entscheidet, was aus unseren Kindern einmal wird. Das ist ungerecht. Deshalb haben wir uns für das Bil- dungs- und Teilhabepaket im Bundestag starkgemacht. Es geht schließlich um 2,5 Millionen Kinder und deren Eltern. Die Grünen beklagen in ihrem Antrag, dass das Bildungs- und Teilhabepaket viel zu bürokratisch ist, und damit haben sie recht. Folgende Geschichte zum Bildungspaket war Mitte letzten Jahres in der Zeitung zu lesen: Eine Mutter wollte Leistungen für ihren Sohn beantragen. Er brauchte drin- gend Nachhilfe, damit er den Schulabschluss schaffen konnte. Sie meldete ihren Sohn sofort zur Nachhilfe an, um keine Zeit zu verlieren. Sie streckte das Geld von dem wenigen, was sie hat, vor und stellte dann den An- trag beim Jobcenter. Und nun begann eine wahre Odys- see. Sie musste mehrfach zum Jobcenter und zur Schule fahren. Denn entweder war ihr Antrag noch nicht bear- beitet, oder es wurden weitere Unterlagen angefordert, Unterlagen, die es zum Teil gar nicht gab. Es war sehr aufwendig und anstrengend, bis sie das Geld für die Nachhilfe endlich erhielt. Und das gelang auch nur, weil sich ein Bundestagskollege eingeschaltet hatte. So kann es nicht gehen. Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn viele Eltern vorher aufgeben und auf das Geld für ihre Kinder verzichten. Man schätzt, dass nur etwa 45 Prozent der Kinder tatsächlich Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten. Das bedeu- tet: 55 Prozent – also jedes zweite bedürftige Kind – ge- hen leer aus. Sie sehen, wir sind noch sehr weit von Bil- dungs- und Chancengerechtigkeit entfernt. Wie viele Kinder es ganz genau sind, weiß niemand. Die Bundes- regierung konnte dazu in der Antwort auf unsere An- frage keine Angaben machen. Das ist ein Armutszeug- nis. Wie miserabel die Informationspolitik aus dem Haus von Ministerin von der Leyen ist, zeigt auch folgendes Beispiel: Es gibt vom Ministerium ein Infotelefon, über das man sich über die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets informieren kann. Das ist eigentlich eine gute Idee. Leider handelt es sich dabei um eine kosten- pflichtige Servicenummer. Eine Minute kostet zwischen 14 und 42 Cent – das können sich viele arme Familien nicht leisten. Ja, in vielen Punkten ähnelt das Bildungs- und Teilha- bepaket einem bürokratischen Monster. Vieles ist nicht zufriedenstellend gelöst und muss nachgebessert wer- den. Aber es ist ein Anfang hin zu mehr Bildungsgerech- tigkeit gemacht worden. Und das hat die SPD im letzten Jahr trotz ihrer Minderheit hier im Bundestag durchge- setzt. Wir haben uns über die Bundesländer eingemischt, die beim Bildungspaket ein Wort mitzusprechen hatten. Wir, die SPD, haben seit unserem Wahlerfolg in Nord- rhein-Westfahlen im Mai 2010 zum Glück die schwarz- gelbe Bundesratsmehrheit gebrochen und konnten des- halb auf die Verhandlungen Einfluss nehmen. Es ist schade, dass sich die Grünen vorzeitig aus diesen wichti- gen Verhandlungen zurückgezogen hatten. Jetzt, nach- dem das Verfahren abgeschlossen ist und seit einem Jahr ein Gesetz auf dem Tisch liegt, schlagen Sie vor, wie man alles besser machen könnte. Schade, dass Sie dies so spät tun. Denn nun gibt es für Ihre Vorschläge keine Möglichkeit mehr sie durchzusetzen. Ihr Antrag wird von Schwarz-Gelb heute abgelehnt werden. Wir möchten, dass möglichst alle Kinder aus armen und einkommensschwachen Familien die Leistungen, die sie brauchen, auch bekommen. Wie erreichen wir das? Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü- nen, machen einige Vorschläge. Sie fordern, dass Bund und Länder bei der Bildung wieder zusammenarbeiten dürfen. Das wollen wir auch. Also: Weg mit dem Koope- rationsverbot! Nur gemeinsam wird es gelingen, Ganz- tagsschulen in Deutschland auszubauen und die Schulen 20448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) besser auszustatten – Bund und Land Hand in Hand. Am einfachsten wäre es, die Schulen könnten Leistungen aus dem Bildungspaket selbst anbieten. Nachhilfe, Sport- und Freizeitangebote gehören an die Schulen. Und auch für das Mittagessen an Schulen und Kitas müssen einfa- chere Lösungen gefunden werden. Dafür brauchen Schulen und Kitas das nötige Geld. Und das muss vom Bund und von den Ländern gemeinsam kommen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha- ben durchgesetzt, dass nicht nur Kinder aus Hartz-IV-Fa- milien an Klassenfahrten, Nachhilfe und Schulessen teil- nehmen können und Lernmaterial erhalten. Auch einkommensschwache Familien können das Bildungs- und Teilhabepaket in Anspruch nehmen. Das betrifft rund 500 000 Kinder zusätzlich. Leider klafft trotzdem noch eine Lücke. Wir haben es bis heute nicht geschafft, dass auch die ärmsten Kinder in Deutschland diese wich- tigen Leistungen beanspruchen können. Ich spreche von 40 000 Flüchtlingskindern. Sie sind auf die Großzügig- keit der Städte und Gemeinden angewiesen, in denen sie bei uns leben. Einen Rechtsanspruch haben sie nicht. Wir wollten diese Gerechtigkeitslücke schließen und hatten deshalb unsere Forderungen in einem Antrag auf- geschrieben. Leider wurden sie von CDU/CSU und FDP mit deren Mehrheit abgelehnt. Es hat sehr weh getan, in der Minderheit zu sein und den Kindern nicht helfen zu können. Gerade sie brauchen unsere Unterstützung. Sie sind mit ihren Eltern aus ihrer Heimat und gewohnten Umgebung in ein für sie fremdes Land geflüchtet. Es wird erwartet, dass sie sich unseren Lebensgewohnhei- ten anpassen und unsere Sprache sprechen. Es wird aber versäumt, die Grundlagen dafür zu schaffen. Das ist ein schwerer Fehler, den die schwarz-gelbe Bundesregie- rung und Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, zu verantworten haben! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, das Bil- dungspaket ist ein richtiger Schritt in die richtige Rich- tung. Es sind aber noch Verbesserungen nötig. Da stim- men wir mit Ihnen überein. Wir wollen, dass die Leistungen bei den Kindern ankommen, und wir wollen bessere Wege, wie dies ohne viel Bürokratie umgesetzt werden kann. Dies muss gemeinsam mit den Bundeslän- dern und mit den Städten und Gemeinden passieren. Diese lassen Sie in Ihrem Antrag jedoch außen vor. So- mit fehlt ein schlüssiges Gesamtkonzept. Das brauchen wir aber, und deshalb werden wir uns enthalten. Ganz wichtig ist: Das Bildungspaket muss schnells- tens ausgewertet werden. Wie viele Kinder nehmen es in Anspruch? Welche Leistungen werden abgefragt? Das zu wissen, ist notwendig, um bei Fehlentwicklungen rechtzeitig gegensteuern zu können. Es geht um gerechte Chancen für Kinder. Und wie verhält sich die Bundes- kanzlerin in dieser Angelegenheit? Sie hat angekündigt, das Bildungspaket frühestens in zwei Jahres auf den Prüfstand zu stellen. Das ist eindeutig zu spät. So lange dürfen unseren Kindern Bildungschancen nicht vorent- halten werden. Aber das passiert, solange nur jedes zweite Kind die Leistungen, die ihm zustehen, auch tat- sächlich bekommt. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Mitte Dezember haben wir den Antrag der Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen zum ersten Mal beraten. Zu diesem Zeitpunkt existierten die gesetzlichen Regelungen zur Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets für Kinder und Jugendliche gerade neun Monate, und es war gut, zum Jahresende schon einmal einen Blick zurückzuwerfen. Der Antrag, der sich eingehend mit der Einführung und der Umsetzung des Bildungspakets befasst, bot dazu Ge- legenheit. Heute können wir nun auf ein Jahr zurückbli- cken, und wir müssen leider eine nüchterne Bilanz zie- hen: Ein Jahr Bildungs- und Teilhabepaket heißt, ein Jahr ungenügende Aufklärung und Information über die neuen Leistungen für bedürftige Kinder und eine unbe- friedigende Umsetzung in der Praxis. Ich habe mich diesbezüglich nicht nur bei den Land- kreisen in meinem Wahlkreis erkundigt, sondern auch bei etlichen anderen. Eines ist dabei sehr deutlich gewor- den: Die Umsetzung des Bildungspakets erfolgt – ein Jahr nach seinem Start – immer noch äußerst schlep- pend, und das hat seine Ursachen. Bürokratische Hürden bei der Antragstellung schrecken viele Leistungsberech- tigte ab. Sie verzichten also auf Leistungen, die sie bean- spruchen könnten. Die Leidtragenden sind dabei die Kinder und Jugendlichen. Der Verwaltungsaufwand bei der Abwicklung steht in keinem Verhältnis zu den mög- lichen Leistungen. Er ist viel zu hoch. Die Leistungen hingegen sind zu gering. Das schlechte Kosten-Nutzen- Verhältnis ist alarmierend. Das dürfen die Sozialministe- rin und die sie tragenden Regierungsfraktionen von CDU/CSU und FDP nicht ignorieren. Wenn ich an die von Ministerin von der Leyen gebets- mühlenartig vorgetragene Zielsetzung denke, sie wolle dafür sorgen, dass die Leistungen des Bildungspakets auch wirklich bei den Kindern ankommen, kann ich nur sagen: Ziel eindeutig verfehlt. Denn das ist leider die bittere Wahrheit: Von den 2,5 Millionen Kindern und Ju- gendlichen, die einen Anspruch auf Leistungen haben, kommt aktuell nicht einmal jedes zweite Kind in deren Genuss. Das ist blamabel. Ein solches Ergebnis kann uns nach einem Jahr nicht zufriedenstellen. Zum Jahrestag der Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets hat jetzt der DGB neue Zahlen veröffent- licht. Sie bestätigen leider unsere Befürchtungen. Nach den Berechnungen des DGB sind von den im SGB-II- Bereich eingeplanten 626 Millionen Euro gerade einmal rund 130 Millionen im Jahr 2011 ausgegeben worden. Das ist lediglich ein Fünftel. Auch wenn diese Zahlen noch unvollständig sind, weil weder die Ausgaben der Optionskommunen noch die Auszahlungen für Kinder, deren Eltern Wohngeld oder Kinderzuschlag beziehen, eingerechnet werden konnten, so sind sie doch ein ein- deutiges Warnsignal, dass hier etwas falsch läuft. Vieles ist in den letzten Wochen schon dazu gesagt worden, dass die 10 Euro für die Teilhabe zum Beispiel am Musikunterricht oder an Sportvereinsaktivitäten viel zu gering sind. In meiner Rede im Dezember hatte ich schon darauf hingewiesen, dass echte Teilhabe nur er- reicht wird, wenn auch die Kosten für die notwendige Ausstattung der jeweiligen Angebote berücksichtigt werden. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Wen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20449 (A) (C) (D)(B) wundert es also, dass diese Leistungen des Pakets kaum in Anspruch genommen werden? Der Ausgabenanteil hierfür liegt bei nicht einmal 5 Prozent. Ich möchte auf eines ganz besonders hinweisen: Das Bildungspaket wird seinem Namen nicht gerecht, wenn ausgerechnet der Weg zur Nachhilfe bzw. Lernförderung derartig erschwert wird, wie es mit dem schulischen Nachweis der Versetzungsgefährdung der Fall ist. Hier tun sich die Schulen schwer, die Eltern ebenfalls. Denn ein solches Versagersiegel – wie es eine Zeitung zutref- fend ausgedrückt hat – kann dem Kind lange anhängen. Häufig lässt sich außerdem zu dem Zeitpunkt, in dem die Nachhilfe sinnvollerweise einsetzen sollte, noch gar keine Versetzungsgefährdung bestimmen. Die Zurück- haltung der Lehrer erstaunt mich deshalb nicht. Ist die Versetzung tatsächlich in Gefahr und kann bescheinigt werden, ist es in der Regel für Nachhilfeunterricht schon zu spät. Dass der Anteil der Ausgaben für die Lernförderung beim Bildungspaket 2011 lediglich bei 2 Prozent liegt, empfinde ich als Skandal. Hier muss die Regierung drin- gend nachjustieren; sonst geht der Teil des Bildungs- pakets komplett ins Leere. Auch die inzwischen vorliegenden Antworten der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zur Umset- zung des Bildungs- und Teilhabepakets haben gezeigt, dass Schwarz-Gelb über keine konkreten Erkenntnisse verfügt, ob und wie das Paket wirkt. Und was noch schlimmer ist: Es scheint die Bundesregierung auch gar nicht weiter zu kümmern. Nicht anders verstehe ich ihren wiederholten Verweis auf die Länder und Kommu- nen bei den Antworten auf unsere 111 Fragen. Dabei finde ich die Ahnungslosigkeit der Bundesregierung wirklich erschreckend. Denn es geht doch um die Ver- wendung von Bundesmitteln – immerhin 1,3 Milliarden Euro. Wir fordern die Bundesregierung auf, schnellstmög- lich für eine umfassende Evaluation des Bildungs- und Teilhabepakets zu sorgen. Es muss endlich eine Auswer- tung und Kontrolle darüber erfolgen, welche Leistungen in welchem Umfang abgerufen werden. Richtig ist, dass wir uns dafür eingesetzt haben, dass die Umsetzung des Pakets über die Städte und Kommunen erfolgt. Das war ein Ergebnis des Vermittlungsverfahrens, und dazu ste- hen wir auch noch heute. Deshalb enthalten wir uns auch zum vorliegenden Antrag. Aber – und das ist für mich ein ganz entscheidender Punkt – das darf doch nicht zur Folge haben, dass man die Städte und Kommunen im Regen stehen lässt und sie nicht bei der Umsetzung be- gleitet. Meine Fraktion und ich haben erwartet, dass die Bundesregierung hier die Rahmenbedingungen schafft, um ein effizientes, unbürokratisches Verfahren sicherzu- stellen. Das ist das Mindeste, wenn die Bildungs- und Teilhabeleistungen zu 100 Prozent durch den Bund fi- nanziert werden. Hier fehlt es aber an sachgerechten Vorgaben der Bundesregierung, und das Ergebnis sehen wir nun: Es gibt keine einheitliche Verwaltungspraxis. Trotz vieler Bemühungen in den Städten und Kommu- nen kommen die Leistungen bundesweit bei einem Großteil der bedürftigen Kinder nicht an. Ich lobe ausdrücklich, dass es vereinzelt zur Entbüro- kratisierung bereits Bestrebungen gegeben hat, durch Globalanträge das Antragsverfahren zu vereinfachen und damit eine schnellere Bearbeitung zu gewährleisten. Das sind erste richtige Schritte, damit das Paket ange- nommen wird. Aber diese Initiative ist nicht von der So- zialministerin gestartet worden, sondern von einigen Kreisen. An einer bundesweit einheitlichen Verbesserung fehlt es unverändert, und das ist es, was zu Recht die Kolle- ginnen und Kollegen von den Grünen und auch wir kriti- sieren. Hier muss die Bundesregierung endlich das Zep- ter in die Hand nehmen und sich nicht nur bei Runden Tischen inspirieren lassen. Frau von der Leyen, Sie lassen die Kommunen im Stich. Das ist unverantwortlich. Wir werden das spätes- tens 2013 ändern. Pascal Kober (FDP): Am morgigen Freitag ist das Bildungs- und Teilhabepaket ein Jahr in Kraft. Aus die- sem Anlass wird es am morgigen Freitag ein Treffen von Bundesarbeitsministerin von der Leyen mit den kommu- nalen Spitzenverbänden geben. Dabei werden auch die aktuellen Zahlen der Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets veröffentlicht. Ich kenne die ge- nauen Zahlen noch nicht, aber ich bin mir sehr sicher, dass wir einen weiteren deutlichen Zuwachs bei der In- anspruchnahme werden verzeichnen können. Von Juni 2011 bis November 2011 war die Inanspruchnahme durchschnittlich schon von 26 auf 45 Prozent gestiegen. Wir können daran erkennen, dass die Tendenz in die richtige Richtung geht. Ich möchte noch einmal daran erinnern, wie wir zu der jetzigen Rechtslage gekommen sind. Bei der Einfüh- rung des Systems des Arbeitslosengeldes II unter der rot- grünen Regierung Schröder wurden die Regelsätze der Kinder von ALG-II-Bezugsberechtigten als pauschaler Abschlag der Regelsätze für Erwachsene bestimmt. Daher fehlten in den Regelsätzen für Kinder und Jugend- liche spezifische Posten wie zum Beispiel alle Leistun- gen zur Bildung und Teilhabe. Diese rot-grüne Gesetz- gebung wurde vom Bundesverfassungsgericht am 9. Februar als verfassungswidrig beurteilt. Daraufhin hat die christlich-liberale Koalition unter Federführung von Frau Ministerin von der Leyen einen Vorschlag erarbei- tet, wie die Bildungs- und Teilhabeleistungen für Kinder und Jugendlich erbracht werden sollen. Wir hatten uns, mit Zustimmung der Sozialverbände, darauf festgelegt, dass mit Ausnahme des Schulstarterpakets, womit es gute Erfahrungen gab, die übrigen Leistungen als Sach- leistungen und nicht als Geldleistungen erbracht werden. Zudem hatte diese Koalition vor dem Vermittlungsver- fahren beschlossen, dass die Leistungen für Bildung und Teilhabe einheitlich über die Jobcenter administriert werden sollen. Nachdem der Bundesrat unserem Gesetz nicht zugestimmt hatte, haben SPD und Grüne im Ver- mittlungsverfahren darauf gedrungen, dass diese Leis- tungen von den Kommunen erbracht werden sollen. Es hätte ihnen schon damals klar sein müssen, dass dies zu einer sehr unterschiedlichen Umsetzung des Bil- 20450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) dungspakets vor Ort führt. Die Kommunen waren unter- schiedlich gut auf diese neue Aufgabe vorbereitet, auch wenn die Kommunen sie selbst wollten. So kam es man- cherorts zu Anlaufschwierigkeiten. Und auch heute wird das Bildungs- und Teilhabepaket von jeder einzelnen Kommune unterschiedlich administriert. Manchmal machen es die Jobcenter alleine, manchmal die Jobcen- ter zusammen mit den Sozialämtern oder den Jugend- ämtern. Das war ihr Wunsch, dem wir im Vermittlungs- verfahren nachgekommen sind. Sie müssen jetzt aber auch zu den Konsequenzen stehen und dürfen nicht die Vaterschaft für diese Idee verweigern. Ich hatte sie Ihnen ja schon bei der ersten Lesung zitiert, möchte Ihnen aber die Passage gerne noch einmal in Erinnerung rufen. Sie stammt aus einem einstimmigen Beschluss des Parteirats von Bündnis 90/ Die Grünen vom 21. Februar 2011: „Gleichwohl haben wir in den langen Verhandlungen bis zum gestrigen Abend wichtige Änderungen erreicht: Das Bildungs- und Teilhabepaket wird von den Kommunen organisiert und nicht von den Jobcentern, wie sich dies die Arbeits- ministerin vorstellte. Hier haben wir überbordende Bürokratie verhindert. … Und die Kommunen haben eine hohe Gestaltungsmöglichkeit bei der konkreten Umsetzung der Leistungen vor Ort.“ Hier bekennen Sie sich doch klar zur Vaterschaft. Sie haben das zu verant- worten, was sie hier kritisieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, es gehört zur Ehrlichkeit dazu, dass Sie, wenn Sie hier das Bildungs- und Teilhabepaket schlechtmachen und statt- dessen den Ausbau von Ganztagesbetreuung und Ganz- tagesschulen fordern, zu sagen, dass dies nicht der Auf- trag des Bundesverfassungsgerichts war. Sie benennen hier die falsche Alternative. Sie heißt nicht Bildungs- paket oder Ganztagesbetreuung. Die Alternative zum Bildungspaket wäre die pauschale Auszahlung des Geldbetrags an die Eltern der Kinder und Jugendlichen. Nur so könnte man den Auftrag des Bundesverfassungs- gerichts in anderer Weise erfüllen. Wenn Sie das wollen, dann sollten Sie sich aber auch dazu bekennen und dies sagen. Wir verschließen die Augen nicht vor den anfäng- lichen Schwierigkeiten des Bildungs- und Teilhabe- pakets und unterstützen die Länder und Kommunen durch Beratung und Moderation an unserem Runden Tisch, diese Schwierigkeiten abzustellen. Ich bin mir sicher, dass das Bildungspaket mit zunehmender Zeit immer erfolgreicher wird, und in einigen Jahren werden die Grünen dann verkünden, dass sie es ja waren, die es genauso haben wollten. Diana Golze (DIE LINKE): Uneingeschränkter Zu- gang zu Bildung und gleichberechtigter Teilhabe an Bil- dungsangeboten, aber auch an kulturellem und gesell- schaftlichem Leben sind grundlegende Rechte eines jeden Kindes. Sie gehören zu dem, was ein Kind für eine bestmögliche Entwicklung, ein bestmögliches Aufwach- sen braucht. Das Bundesverfassungsgericht hat dies eindeutig festgestellt und der Bundesregierung die Zu- ständigkeit für den Zugang zu Bildungsangeboten zuge- wiesen. Statt diesen Auftrag eins zu eins umzusetzen, schuf die zuständige Ministerin Ursula von der Leyen den unerträglichen Mythos von den Eltern im Hartz-IV- Bezug, die ihr Geld für alles Mögliche und Unmögliche ausgeben – nur eben nicht für ihre Kinder. Der Satz „Das Geld muss auch bei den Kindern ankommen“ wurde zum Leitsatz für das, was wir heute als Bildungs- und Teilhabepaket kennen. Ein Jahr nach Einführung dieses Paketes kann man nur versuchen, eine Bilanz zu ziehen. Die Erhebung bun- deseinheitlicher Daten ist nur schwer möglich, weil eine solche nicht im Bundesgesetz geregelt wurde. Und dies ist nur einer der vielen Mängel. Das Bildungs- und Teil- habepaket entpuppt sich vor allem als Bürokratiemons- ter, das sich durch viel zu hohe Verwaltungskosten und ein Zerfasern von Leistungsangeboten auszeichnet. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Nur bei rund der Hälfte der Anspruchsberechtigten kommt zumindest eine Leistung an aus dem sogenannten Paket. Grund für die geringe Antragsquote sind vor allem viel zu geringe Informationen über das Paket, die hohen bürokratischen Hürden und ein unübersichtliches Antragsverfahren, das zudem mit dem Lebensalltag der Familien wenig zu tun hat, vor allem aber weil es nicht dem entspricht, was ein Kind wirklich braucht. Allein in meinem Heimatland- kreis, dem Havelland, sind von 103 Anträgen auf Lern- förderung 63 Prozent abgelehnt worden, weil das Errei- chen des festgelegten wesentlichen Schulziels nicht gefährdet war. Es ist aus unserer Sicht purer Zynismus, wenn Kindern in einem Jobcenter gesagt wird, dass es erst dann Anspruch auf Lernförderung hat, wenn es das Klassenziel mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erreicht. Es geht bei der Leistung eben nur um die Verhinderung des Wiederholens, nicht aber um die Chance auf eine bessere Durchschnittsnote. Anträge für den Bereich soziales und kulturelles Le- ben wurden abgelehnt, weil Leistungen angegeben wur- den, die das Bildungs- und Teilhabepaket nicht vorsieht. Frau von der Leyen hat sich in der Presse hoch und run- ter zitieren lassen, dass ihr Paket Kindern die Teilhabe an Freizeit- und Kulturangeboten bieten soll. Was in die- sen Interviews nicht gesagt wurde, ist, dass sie den Kin- dern und ihren Familien in einem Katalog vorgibt, was abrechenbare Freizeit- und Kulturangebote sind. Die Entscheidung von Kindern und Eltern über die Gestal- tung von Teilhabe an Bildung und gesellschaftlichem Leben derart zu reglementieren, ist nicht nur aus unserer Sicht verfassungsrechtlich fragwürdig. So urteilt zum Beispiel Professor Johannes Münder: „Wenn die 10 Euro Teilhabepauschale mit verhaltensregulierenden Bedin- gungen verknüpft werden, so liegt hier mit einer Regulie- rung der ,Lebensführungsweise‘ ein Eingriff in das Per- sönlichkeitsrecht nach Art. 2 GG vor.“ Mit dieser Bevormundung von Betroffenen muss endlich Schluss sein. Was das Paket also nicht erreicht hat, ist sein originä- res Ziel: die Behebung überdeutlich gewordener Defizite bei Bildung und sozialer Teilhabe von Kindern. Wie auch? Wenn die Sicherung von Teilhabe an Bildung zwar endlich als Teil der Existenzsicherung angesehen wird, dies aber natürlich keine weiteren Kosten verur- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20451 (A) (C) (D)(B) sachen darf, kann nur das herauskommen, was die zu- ständigen Politikerinnen und Politiker bereit waren hineinzupacken. Bestehende Leistungen wie das Schul- bedarfspaket oder die Gewährung von Zuschüssen für Klassenfahrten bekamen ein neues Etikett, ohne dass sich an den Leistungen selbst viel geändert hat. Darum sagt die Linke: Nur ein Nachbessern macht das Bil- dungs- und Teilhabepaket nicht besser. Im Kampf gegen Kinderarmut braucht es Konzepte, die wirksam gegen Ausgrenzung und Benachteiligung wirken. Der DGB bescheinigt Frau von der Leyen zumindest noch, dass das Bildungs- und Teilhabepaket sicher gut gemeint ist. Gut gemeint reicht aber nicht, um ein Bun- desverfassungsgerichtsurteil umzusetzen. Wir brauchen endlich einen Kinderregelsatz, der die Bedarfe von Kin- dern widerspiegelt und in jeder Hinsicht existenzsi- chernd ist. Mittelfristig sollten die Kinder komplett raus aus dem SGB II, denn sie sind keine kleinen Langzeiter- werbslosen. Eine bedarfsgerechte Kindergrundsicherung für alle Kinder und Jugendlichen wäre eine mögliche Al- ternative. Solange Bildung und Teilhabe nicht für alle Kinder gesichert sind, gilt ein Satz von Kurt Tucholsky: „Das Gegenteil von Gut ist nicht Böse, sondern gut ge- meint.“ Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein Jahr nach Inkrafttreten des Bildungs- und Teilhabepakets ist klar: Diese Leistungen sind an Bürokratie kaum zu überbieten, und der verfassungsrechtlich garantierte Zugang zu Bildung und Teilhabe bleibt vielerorts auf der Strecke. Dies widerspricht den Vorgaben des Bundesver- fassungsgerichts, 1 BvL 1/09. Eine Umfrage des Deut- schen Städtetages bei den kreisfreien Städten, Stand 15. Oktober 2011, ergab, wie gering die Inanspruchnahme der BuT-Leistungen ist. So nehmen nur 27,4 Prozent aller SGB-II-anspruchsberechtigten Kinder Zuschüsse zum Mittagessen wahr, nur 19,4 Prozent Kosten für Schulaus- flüge und Klassenfahrten, 16 Prozent die Teilhabepau- schale, 8 Prozent die Schülerbeförderung und nur 5,3 Prozent Kosten für die Lernförderung. Ministerin von der Leyen spricht öffentlich von einer Inanspruch- nahme des BuT von über 40 Prozent der Kinder im SGB II. Eine Stichprobenumfrage der Deutschen Presse- Agentur bei Städten und Landkreisen soll den Eindruck erwecken, die Nachfrage nach dem Bildungspaket komme langsam in Schwung. So hätten mittlerweile deutlich mehr als 50 Prozent der antragsberechtigten Eltern ihre Kinder für die Angebote angemeldet. Magde- burg und der Landkreis Vorpommern-Rügen hätten gar eine Anmeldungsquote von etwa 85 und 80 Prozent. Ministerin von der Leyen wird auf ihre offizielle Bilan- zierung am morgigen Freitag mit Sicherheit weitere ver- meintliche Erfolgszahlen vorstellen. Es geht bei dieser Betrachtung unter, dass die so errechnete Antragsquote nur besagt, wie hoch die Zahl derer ist, die wenigstens einen Antrag auf eine einzige Leistung gestellt haben. Wenn beispielsweise alle anspruchsberechtigten Kinder Leistungen fürs Mittagessen beantragen würden, läge die Anspruchsquote bei 100 Prozent, auch wenn alle anderen Leistungen des Pakets überhaupt nicht in Anspruch genommen würden. In Berlin etwa bedeutet eine Anspruchsquote von über 60 Prozent, dass von den rund 200 000 anspruchs- berechtigten Kindern ganze 80 000 Kinder seit über einem Jahr nicht eine einzige Leistung des Bildungs- und Teilhabepakets in Anspruch genommen haben. Wie gering die bisherige Inanspruchnahme der Leistungen für Bildung und Teilhabe ist, zeigen Zahlen aus dem Ruhrgebiet. So wurden etwa für den gesamten Regional- verband Ruhr mit so großen Städten wie Essen, Dort- mund und Duisburg von den über 56 Millionen Euro zur Verfügung stehenden Mitteln nur 24 Prozent für Bil- dungs- und Teilhabeleistungen ausgegeben. Ganze 43 Millionen Euro sind noch übrig und werden nun vo- raussichtlich für das Stopfen kommunaler Haushalts- löcher verwandt. Auch in anderen Regionen des Bundes- gebietes zeichnet sich ein solches Bild, wie der Deutsche Gewerkschaftsbund für 80 Prozent der Jobcenter unter Berücksichtigung von Daten der Bundesagentur für Arbeit berechnet hat. Die geringe Inanspruchnahme ist insbesondere auf ein aufwendiges Antragsverfahren mit einer Fülle von Arbeitshilfen, Anträgen, Zusatzfragebögen, Nachwei- sen, Verträgen und Bescheiden zurückzuführen. Dies führt zu einem enormen Missverhältnis zwischen Auf- wand und Ertrag. Allein die Verwaltung des Bildungs- und Teilhabepakets verschlingt rund 30 Prozent der ein- gesetzten Mittel. Wohl keine andere Sozialleistung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist so büro- kratisch. Etliche Widersprüche und Verfahren aufgrund unbestimmter Rechtsbegriffe belasten außerdem die Sozialgerichte und frustrieren Antragsteller, Schulen, Vereine sowie Behördenmitarbeiter gleichermaßen. Leistungen wie das Mittagessen oder die Teilhabepau- schale werden sogar nur dann gewährt, wenn ein ent- sprechendes Angebot vor Ort vorhanden ist. Auch die drei Runden Tische, die mittlerweile stattge- funden haben, konnten an der Problematik nichts ändern. Bei solchen Zahlen muss man sich grundsätzliche Fra- gen stellen und schauen, wie Bildung und Teilhabe wirk- lich bei den Kindern ankommen können. Wir von Bündnis 90/Die Grünen haben Ihnen einen Antrag vorgelegt, in dem wir konkrete Vorschläge machen. Um den individuellen Rechtsanspruch zu gewährleisten, müssen die einzelnen Leistungen des sogenannten Bildungs- und Teilhabepakets realitätsge- recht ermittelt und finanziell bedarfsdeckend ausgestat- tet werden. Ein Teil der Leistungen wie die Lernförde- rung, das Mittagessen oder teilweise auch die kulturelle Teilhabe lassen sich am effektivsten in den Bildungs- und Teilhabeeinrichtungen verwirklichen. Solange jedoch die bundesweite Infrastruktur fehlt, gilt es, zumindest die Leistungen der Schülerbeförderung, des Schulbasispakets und der sogenannten Teilhabepau- schale in den monatlichen Regelsatz für Kinder zu über- führen. Die Kinderregelleistungen müssen darüber hinaus den Vorgaben des Bundesverfasssungsgerichts entsprechend ermittelt werden. 20452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) Das sind konkrete Vorschläge, die es umzusetzen gilt. Dass es hier grundlegender Veränderungen bedarf, haben auch die Gewerkschaften und Wohlfahrtsver- bände erkannt. So kritisiert etwa der DGB das schlechte Kosten-Nutzen-Verhältnis des Bildungs- und Teilhabe- pakets und fordert, die Angst der Bundesregierung vor höheren Regelsätzen nicht gegen Bildungsleistungen auszuspielen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband sieht das Paket zu Recht von Anfang an als gescheitert an. Die Diakonie hat in einer Umfrage von über 70 diakonischen Beratungsstellen herausgefunden, dass die Umsetzung des Rechts auf die Gewährleistung des Existenzmini- mums nicht gut gelingt, und schlägt vor, die Leistungen auf Antrag weigehend mit dem Regelsatz auszubezah- len. Lassen Sie mich noch auf einen Punkt kommen, den Herr Pascal Kober, FDP, in der ersten Lesung unseres Antrages im Dezember 2011 ansprach. Dort behauptete er, Erfolg und Misserfolg des BuT würden letztlich von der Umsetzung vor Ort abhängen. Als Beispiel nannte er seinen Wahlkreis Reutlingen, in dem „eine bisherige Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets von sage und schreibe 85,8 Prozent“ zu verzeichnen sei. Weiter sagte Kober: „Außerordentlich gut gearbeitet, kann ich die Menschen vor Ort, bei uns in Reutlingen, nur beglückwünschen. Von diesen Best-Practice-Bei- spielen müssen andere Kommunen – Sie haben einige angeführt, Herr Kurth, die anscheinend in Ihrem Umfeld sind – lernen. Ich lade Sie, aber auch Ihre Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen gerne einmal nach Reutlingen ein. Sie können dann mit den Verantwortlichen vor Ort sprechen und von diesen guten Beispielen lernen.“ Meine Kollegin Frau Beate Müller-Gemmeke veran- staltete am Montag, den 30. Januar 2012, eine Veranstal- tung zur Umsetzung des BuT im Landkreis Reutlingen. Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Lob gab es für das Reutlinger Gutscheinheft sowie für die nach Anlaufschwierigkeiten doch wohl gelungene Umsetzung vor Ort. Kritisiert wurde, dass viele Sportvereine die Gutscheine noch nicht akzeptierten, dass die Leistungen bei vielen Migrantinnen und Migranten noch nicht ankä- men sowie die Ausbaufähigkeit der Lernförderung. Die Liga der freien Wohlfahrtspflege forderte zudem verläss- liche Ansprechpartner und eine zentrale Stelle. Der Auf- wand für die Lernförderung sei groß, bei einigen Gym- nasiasten führe das BuT zu Mobbing. Unsere Hauptkritikpunkte wurden indes nur teilweise aufgegrif- fen: Das BuT ist mit einem immens hohen Verwaltungs- aufwand verbunden, viele Kinder und Jugendliche kön- nen aus strukturellen Gründen gar nicht in den Genuss der Leistung kommen. So gibt etwa der Kreissozial- dezernent Andreas Bauer zu bedenken, dass von allen 4 000 Kindern und Jugendlichen im SGB II im Land- kreis Reutlingen nur die Hälfte in Kindergärten und Schulen gehe. Die andere Hälfte habe – abgesehen von der Teilhabepauschale – überhaupt keine Möglichkeit, diese Leistungen in Anspruch zu nehmen! Auch das ist ein wichtiger Punkt, denkt man an das grundgesetzliche Recht auf Bildung und Teilhabe aller Kinder und Ju- gendlicher, unabhängig davon, ob sie in der Schule oder in der Kita sind. Die von Pascal Kober genannten 85,5 Prozent sind of- fensichtlich der Presse entnommen und beziehen sich auf die Zahl der Anträge im Verhältnis zu den Antrags- berechtigten. Sie als Beleg für eine hohe Inanspruch- nahme zu verwenden, ist aber grundfalsch. Denn für jedes antragsberechtigte Kind können bis zu sechs Anträge gestellt werden. Die Zahlen, Stand 10. Januar 2012, ergeben eine Inanspruchnahme in Reutlingen von 54,4 Prozent, die zwar immer noch über, aber nicht dop- pelt so hoch ist wie der Bundesdurchschnitt von 40 Pro- zent. Es ist allerdings nochmals darauf hinzuweisen, dass die 54,4 Prozent nur besagen, wie viele der nach SGB II bzw. SGB XII und dem Asylbewerberleistungs- gesetz kinderzuschlags- und wohngeldberechtigten Kin- der wenigstens einen Antrag auf eine der sechs Leistun- gen des BuT gestellt haben. Im Landkreis Reutlingen gibt es insgesamt 6 122 anspruchsberechtigte Kinder und Jugendliche, SGB II/SGB XII, Kinderzuschlag, Wohn- geld und AsylbLG. All diese Kinder haben theoretisch Anspruch auf alle sechs Leistungen des BuT. Das heißt, es könnten theoretisch 36 732 Anträge gestellt werden. Von diesen 36 732 theoretisch möglichen Anträgen wur- den im Landkreis Reutlingen exakt 6 174 Anträge zu allen sechs möglichen Leistungen gestellt. Die wahre Inanspruchnahme des BuT liegt somit bei 16,8 Prozent. Für die einzelnen Leistungen ergeben sich folgende Inanspruchnahmen im Landkreis: Ausflüge/Klassenfahr- ten – 10,1 Prozent, Schulbedarf – 44,3 Prozent, Schüler- beförderung – 2,5 Prozent, Lernförderung – 2,3 Prozent, Mittagessen – 20,5 Prozent, Teilhabeleistungen – 21,1 Prozent. Es ist also eben nicht so, wie Pascal Kober behauptete. Eine Kommune kann das BuT noch so gut umsetzen, das Bildungs- und Teilhabepaket schließt viele Kinder und Jugendliche strukturell aus und verhin- dert einen grundgesetzlich garantierten Anspruch auf Bildung und Teilhabe. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. November 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zen- tralrat der Juden in Deutschland – Körper- schaft des öffentlichen Rechts – zur Änderung des Vertrages vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zen- tralrat der Juden in Deutschland – Körper- schaft des öffentlichen Rechts – zuletzt geändert durch den Vertrag vom 3. März 2008 (Tages- ordnungspunkt 17) Beatrix Philipp (CDU/CSU): Charlotte Knobloch, damals noch Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, schrieb 2007 in einem Leitartikel in politik und kultur, der Zeitung des Deutschen Kulturrates – ich zitiere – : „Judentum – das ist ein Balanceakt zwischen Kultur und Religion, Geschichte und Tradition des jüdi- schen Volkes, das – bis auf in Israel – in der Diaspora als Minderheit rund um den Globus lebt.“ Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20453 (A) (C) (D)(B) Ich stelle dieses Zitat bewusst an den Anfang meiner Rede, weil jüdisches Leben in Deutschland von der Be- deutung her mehr ist als die exakte Anzahl der Gemein- demitglieder der tatsächlich in Deutschland lebenden Ju- den. Es ist die Verankerung des jüdischen Lebens im öffentlichen Alltag, es ist dessen Wahrnehmung in der gesamten Bevölkerung, und das geschieht in den unter- schiedlichen Regionen mit unterschiedlicher Intensität. Bis heute überschattet der Holocaust das jüdische Le- ben in Deutschland, und kaum jemand, schon gar nicht die jüngere Generation, weiß, wie prägend jüdisches Le- ben bis 1933 war, prägend für die kulturelle, wissen- schaftliche, politische und auch wirtschaftliche Vielfalt des Lebens in Deutschland. So waren unter anderem jü- dische Gottesdienste fester Bestandteil von nationalen Feiertagen im deutschen Reich. Der dann 1933 – zwangsweise – gegründeten Reichsvertretung der Deut- schen Juden gehörten über 500 000 deutsche Juden an. Zum Zeitpunkt der Konstituierung des Zentralrats der Juden in Deutschland am 19. Juli 1950 – also nur 17 Jahre später, aber was für Jahre, in Frankfurt am Main lebten 15 000 Juden in Deutschland. Ein Anknüpfen an die religiöse Vielfalt der Vorkriegszeit war angesichts dieser geringen Zahl der Mitglieder kaum mehr möglich. Und doch entwickelte es sich wieder. Der Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereini- gung 1990 haben die Anziehungskraft Deutschlands auch und besonders bei den bisher in Osteuropa leben- den Juden mehr als deutlich werden lassen. Und somit bildete die Zuwanderung von Juden gerade aus der ehe- maligen Sowjetunion, den sogenannten GUS-Staaten, ei- nen neuen Aufschwung und eine erhebliche Stärkung der jüdischen Gemeinden. Seit 1990 hat sich daher die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder in Deutschland mehr als verdreifacht. Damit einher ging eine deutliche Belebung der Gemeinden, der religiösen Aktivitäten und nicht zuletzt auch unseres Alltages. Heute leben fast 110 000 Juden in über 100 stetig wachsenden Gemeinden. 70 Jahre nach dem mörde- rischen Beschluss der Wannsee-Konferenz ist das jüdi- sche Leben wieder Teil des deutschen Alltags – ein wichtiger Teil deutscher Kultur, und das sollte uns posi- tiv stimmen. Aber der rasante Anstieg der Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft brachte auch neue Herausforderungen mit sich und zweifellos auch Probleme. Wer in den Kommu- nen Kontakte zur jüdischen Gemeinde pflegt, weiß, wie groß die Anforderungen an Integrationsleistungen sind, wie viel Hilfe bei der Arbeits- und Wohnungssuche not- wendig ist, welche besonderen Probleme bei den Betag- ten zu lösen sind und wie Vermittlung, Praktizierung und Kenntnis religiösen Wissens große Anforderungen an alle Beteiligten stellen. Wie gesagt, in den Jahren des Wiederaufbaus des Ge- meindelebens ist das jüdische Leben in Deutschland wieder bunt und vielschichtig geworden. Dieses Wachs- tum und diese kulturelle Vielfalt fordern die Bürgerinnen und Bürger der jüdischen Gemeinden täglich neu heraus. Und wer sich damit befasst – oder befasst ist – spürt, dass Judentum mehr ist als reine Religionszugehörigkeit; Judentum ist Philosophie und Kultur, und diese Kultur begleitet die jüdischen Menschen von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod. Sie ist Zusammenspiel von Sprache, Bil- dung, Musik und Religion. Bei seiner Gründung in den 50er-Jahren lag der Schwerpunkt der Arbeit des Zentralrats als Dachorgani- sation der jüdischen Gemeinden und Landesvertretungen in Deutschland auf der Beobachtung der Gesetzgebung zur Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Un- rechts. Erst mit der Zeit wandelten sich seine Aufgaben. Der Kampf gegen den Antisemitismus, die Unterstüt- zung der Annäherung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staate Israel sowie die Förderung der Arbeit der Mitgliedsgemeinden und Landesverbände wurden zu wichtigen Aufgaben des Zentralrats. Aber der aktuelle Bericht der Bundesregierung von August 2011 zum Antisemitismus in Deutschland belegt, dass die ursprüngliche Hauptaufgabe des Zentralrats im Kampf gegen Antisemitismus noch längst nicht getan ist. Gemäß dem oben genannten Bericht ist der Antisemitis- mus in Deutschland zum Teil wieder deutlich spürbar. Antisemitische und antiisraelische Organisationen ver- suchen, Einfluss auf das öffentliche Meinungsbild zu nehmen und zu emotionalisieren. Wir müssen uns leider in diesem Hause mit unvorstellbaren Vorgängen – in ver- schiedensten Teilen der Welt, nicht nur in Frankreich und Syrien als Beispiel, aber eben auch bei uns – befas- sen. Nicht zuletzt mit den neuen Herausforderungen an die Integration der zugewanderten jüdischen Mitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion nahm der Zentralrat auch die satzungsgemäße Aufgabe – nämlich die Förderung und Pflege religiöser, kultureller und sozialer Aufgaben der jüdischen Gemeinde – wahr, zum einen durch die Schaffung eines Angebotes an Sprachkursen in den Ge- meinden, zum anderen durch die Heranführung der Menschen an ihre jüdischen Wurzeln und ihren jüdi- schen Glauben, den sie in ihren Heimatländern jahrzehn- telang nicht leben konnten bzw. durften. Mithilfe von ge- schultem Personal und Rabbinern wurden wieder jüdische Riten und Gebräuche sowie jüdisches Wissen vermittelt. So konnten neue jüdische Gemeinden entste- hen, jüdische Gotteshäuser wieder ihre Türen öffnen und junge Rabbiner ihre Arbeit in den Gemeinden aufneh- men. Über Kunst, Kultur und Sprache wird Identität ge- schaffen, auch wenn das immer noch von manchen be- stritten wird. Kunst, Kultur und Sprache werden zu ei- nem kulturellen und geistigen Brückenschlag beitragen können. Kulturelle Vielfalt erfordert zuerst aber die Aus- einandersetzung mit der eigenen Kultur. Viele Probleme mit anderen haben ihren Grund in mangelnder Kenntnis bzw. unzureichendem Verständnis füreinander. Deshalb hat die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen zur Voraussetzung, die eigene, aber auch die fremde Kultur zu kennen oder zumindest auf beide gleichermaßen neu- gierig zu sein. Mit der Aufgabe, den Weg in die jüdische Gemeinschaft zu ebnen, Vorbehalte abzubauen und die sprichwörtliche Gastfreundschaft zu pflegen, sind die Gemeinden mehr denn je gefordert. 20454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) Wie fassungslos machen uns vor diesem Hintergrund die jüngsten Morde in Frankreich, wie beschämend sind in meiner Heimatstadt Düsseldorf die sich als notwendig erweisenden Sicherheitsvorkehrungen im Bereich der Synagoge; fast jeder kennt solche Beispiele aus seiner Umgebung. Die in der vergangenen Zeit errichteten jüdisch-theo- logischen Fakultäten, wie zum Beispiel das Abraham- Geiger-Kolleg in Potsdam, unterstützen den Ausbau des jüdischen Lebens in der heutigen Gesellschaft. Begleitet von aktuellen gesellschaftlichen Ereignissen stellte aber auch dies den Zentralrat der Juden in Deutschland vor neue Aufgaben. Umso bedeutender war die Unterzeich- nung des Staatsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutsch- land am 27. Januar 2003. Erstmalig existierte damit ein Dokument, in dem sich der deutsche Staat hinter die in Deutschland lebenden Juden stellte und seine Unterstüt- zung auf sozialem, kulturellem sowie integrationspoli- tischem Gebiet zusagte. Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU befürwortete bereits damals die Absicht der Bundesregierung, finan- ziell zur Erfüllung der überregionalen Aufgaben des Zentralrats der Juden verstärkt beizutragen. Dies galt insbesondere für dessen Erhalt und Pflege des deutsch- jüdischen Kulturerbes sowie den weiteren Ausbau der jüdischen Gemeinschaft, wie zum Beispiel in der weite- ren Unterstützung des Abraham-Geiger-Kollegs, der ers- ten jüdisch-theologischen Fakultät; ich erwähnte es bereits. Es muss uns ein besonderes Anliegen sein, die Ausbildung von Rabbinern und Kantoren zu unterstüt- zen und zu fördern. Auch hier zeigt sich die besondere historische Verantwortung für die Förderung des Wie- deraufbaus jüdischen Lebens in Deutschland sowie für die Festigung und Vertiefung der freundschaftlichen Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft. Und aus der historisch-gesellschaftlichen Verpflichtung der Bundes- republik Deutschland gegenüber ihren jüdischen Gemeinden hat sie dem Wandel und den vermehrten Anforderungen auch finanziell Rechnung zu tragen. Die Bundesrepublik Deutschland und der Zentralrat der Juden in Deutschland haben daher am 30. November 2011 eine Leistungsanpassung von bisher 5 Millionen Euro auf 10 Millionen Euro jährlich ab dem Haushalts- jahr 2012 vereinbart. Dieses Mehr an Unterstützung dient auch dem weiteren Ausbau, der Etablierung und Förderung der bereits erwähnten Fakultäten vonseiten der Bundesregierung; wir erachten die Erhöhung der jährlichen finanziellen Mittel daher für erforderlich, auch um vor Ort den gewachsenen Aufgaben entspre- chen zu können. Mit dem vorliegenden Gesetz wird dem Erfordernis der Zustimmung des Deutschen Bundestages bei einer Anpassung der Staatsleistungen nach Art. 7 des Vertra- ges Rechnung getragen. Mit der Zustimmung zur Ände- rung des Gesetzes wird die gesetzliche Grundlage für die Leistungsanpassung im Vertrag zwischen der Bundesre- publik Deutschland und dem Zentralrat der Juden ge- schaffen. Die Fülle der zusätzlichen Aufgaben des Zen- tralrats der Juden erfordert diese Leistungsanpassung. Wir bitten Sie daher heute um Zustimmung und hoffen auf eine breite, fraktionsübergreifende Mehrheit. Gabriele Fograscher (SPD): Die Bundesrepublik Deutschland hat eine besondere Verantwortung für das jüdische Leben in Deutschland angesichts des Leids, das die jüdische Bevölkerung in den Jahren 1933 bis 1945 erdulden musste. Aus diesem Grunde haben die Bundes- republik Deutschland und der Zentralrat der Juden in Deutschland in einem Vertrag 2003 eine kontinuierliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit vereinbart. In dem Vertrag wurde festgeschrieben: „Die Bundes- regierung wird zu Erhaltung und Pflege des deutsch- jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft und zu den integrationspolitischen und sozialen Aufgaben des Zentralrats in Deutschland beitra- gen. Dazu wird sie den Zentralrat der Juden in Deutsch- land bei der Erfüllung seiner überregionalen Aufgaben sowie den Kosten seiner Verwaltung finanziell unterstüt- zen.“ Zu diesen Zwecken zahlte die Bundesrepublik Deutschland jährlich einen Betrag von 3 Millionen Euro an den Zentralrat der Juden. Dieser Vertag vom 27. Januar 2003 wurde 2008 ergänzt. Der Zentralrat der Juden erhielt ab dem Haus- haltsjahr 2008 jährlich eine Zuwendung von 5 Millionen Euro. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die jähr- liche Unterstützungsleistung der Bundesrepublik Deutschland an den Zentralrat der Juden auf 10 Millio- nen Euro ab dem Jahr 2012 erhöht werden. In der Begründung zu dem Gesetzentwurf heißt es: „Vor dem Hintergrund neuer, vielfältiger Anforderungen an die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, die zu einem wesentlichen Anstieg der Aufgaben des Zentralrats, ins- besondere im Bildungsbereich, geführt haben, haben sich die Vertragsparteien nach Art. 7 Satz 2 des Vertra- ges auf eine Anpassung der Staatsleistung verständigt.“ Zu den Aufgaben des Zentralrates der Juden zählen die Förderung und Pflege religiöser und kultureller Auf- gaben der jüdischen Gemeinden und die Vertretung der gemeinsamen politischen Interessen der jüdischen Gemeinschaft sowie der Aufbau neuer jüdischer Gemeinden vor allem in Ostdeutschland. Dabei konzen- triert sich der Zentralrat auf die Betreuung durch Berufs- bildungs- und Ausbildungsseminare, bietet Sprachkurse, politische Bildungsseminare, Religionsunterricht und integrationsfördernde Maßnahmen an. Bei der Rabbinerausbildung spielt das Abraham- Geiger-Kolleg in Potsdam eine entscheidende Rolle. Es ist die erste Ausbildungsstätte für liberale und konserva- tive Rabbiner in Europa seit der Schoah. Gegründet wurde das Abraham-Geiger-Kolleg 1999 und ist an die Universität Potsdam angegliedert. Unter der Mitträger- schaft des Zentralrates der Juden in Deutschland werden hier seit 2011 Rabbiner ausgebildet. Das Abraham- Geiger-Kolleg verdient weiterhin Unterstützung. Jüdisches Leben bereichert unsere Gesellschaft, und es gibt Grund zu großer Freude, dass es wieder so viele aktive jüdische Gemeinden in Deutschland gibt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20455 (A) (C) (D)(B) Im November 2008 hat der Deutsche Bundestag den Antrag „Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken, jüdisches Leben in Deutschland weiter fördern“ über Fraktionsgrenzen hinweg mit großer Mehrheit verab- schiedet. Eine Forderung dieses Antrags war die Ein- richtung eines Expertengremiums aus Wissenschaftlern und Praktikern, das in regelmäßigen Abständen einen Bericht zum Antisemitismus in Deutschland erstellen und Empfehlungen zur Entwicklung sowie Weiterent- wicklung von Programmen zur Antisemitismusbekämp- fung formulieren soll. Inzwischen liegt der erste Bericht vor. Das Experten- gremium führt darin aus, dass Antisemitismus ein bedeutendes Bindeglied in der Ideologie des Rechtsex- tremismus ist. Auch vom Islamismus geht ein erheb- licher Antisemitismus aus. Beunruhigend hoch bleibt der Anteil von Vorurteilen und Ressentiments in der deutschen Bevölkerung. Dazu heißt es in dem Bericht des Expertengremiums: „Was die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Bevöl- kerung anbelangt, so geben die durch den Expertenkreis ausgewerteten demoskopischen Untersuchungen über- einstimmend eine Größenordnung von etwa 20 Prozent latentem Antisemitismus an.“ Diese tiefe Verwurzelung von Negativklischees über Juden und antisemitische Einstellungen in der deutschen Kultur und Gesellschaft müssen wir langfristig und mit nachhaltigen Maßnahmen ändern. Deshalb brauchen wir eine umfassende Abwehrstrategie, die Wissenschaft, Pädagogik und zivilgesellschaftliche Initiativen mit ein- bezieht. Wir benötigen eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema, die in enger Zusammenarbeit zwischen staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organi- sationen erfolgen muss. Nur dann werden wir erreichen, dass jüdische Einrichtungen nicht mehr gefährdet sind und wie Hochsicherheitseinrichtungen bewacht werden müssen. Antisemitismus stellt nicht nur eine Gefahr für unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger dar, sondern auch für die Werte unserer Demokratie. Deshalb sind wir alle gefordert, hier aktiv zu werden, Aufklärung zu betreiben und Vorurteile abzubauen. Dem vorliegenden Gesetzentwurf stimmt die SPD- Bundestagsfraktion zu. Dr. Stefan Ruppert (FDP): Welch ein Glück ist es, dass es nur wenige Jahrzehnte nach dem Holocaust wie- der jüdisches Leben in diesem Land gibt! Eine Ausstel- lung im Jüdischen Museum Frankfurt im Jahr 2010 hieß: „Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwan- derung in die Bundesrepublik“. Die Veranstalter fingen etwas provokativ bei dieser legitimen Frage an: Wie war es bloß möglich, „ausgerechnet nach Deutschland als Jude/Jüdin“ zu kommen? Als Bilanz der Ausstellung stand die Frage, ob tatsächlich so etwas wie – zugespitzt gesagt – ein neues deutsches Judentum als Ergebnis der Einwanderung entstanden sei. Ich bin überzeugt, dass es unsere Verantwortung ist, jüdisches Leben in Deutsch- land zu fördern. Es ist bisher viel gemacht worden: Der am 27. Januar 2003, dem Gedenktag der Opfer des Na- tionalsozialismus, auf Initiative des Zentralrates geschlossene Vertrag, den wir heute zum zweiten Mal anpassen werden, ist ein Meilenstein dieser erfreulichen Entwicklung. Die finanzielle Zuwendung, die sogenannte Staats- leistung an den Zentralrat der Juden, resultiert nicht nur aus einer historischen Verantwortung. Vielmehr trägt sie dem Verantwortungsbewusstsein des deutschen Gesetz- gebers für jüdisches Leben in Deutschland Rechnung. In Deutschland bedeutet die Trennung von Religion und Staat keine Trennung von Religion und Gesellschaft. Der Staat, als eine Heimstatt all seiner Bürger, versteht seine weltanschauliche Neutralität nicht als eine laizisti- sche Verdrängung der Religion aus der Öffentlichkeit ins rein Private. Er will sich den einzelnen Religionen gegenüber kooperativ verhalten und begreift sie als wichtige Partner und Träger einer mündigen Bürgerge- sellschaft. Gleichsam unterstützt er im Rahmen des für die Politik Möglichen den interreligiösen Dialog, den Austausch zwischen Kulturen. Im Rahmen der Reli- gionsförderung des deutschen Staates spielt die Unter- stützung des Judentums eine besondere Rolle. Diese Debatte bietet uns Bundestagsabgeordneten einen selte- nen Anlass, uns in diesem Plenarsaal mit den Belangen des Judentums in unserem Land auseinanderzusetzen. Das Bestreben nach einem deutschen Judentum steht in der Tradition vieler liberaler Juden. Diese Tradition reicht vom jüdischen liberalen Rechtsanwalt Gabriel Risser aus Hamburg, der an der Seite der Partei der Libe- ralen im 19. Jahrhundert für die Emanzipation kämpfte, bis Ignatz Bubis, der ein überzeugter Liberaler war und sich bewusst einen „deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens“ nannte. Identität kann man nicht verordnen. Sie entsteht. In einer offenen Gesellschaft ist die Summe und Vielfalt „deutscher Identitäten“ ein Gewinn. Sollte ein „neues deutsches Judentum“ das zentrale, zukunfts- gewandte Anliegen des Zentralrats sein, so gibt es hier eine Reihe von Herausforderungen, die rechtfertigen und begründen, warum eine Erhöhung der Staatsleistung not- wendig ist. So hat Herr Dr. Graumann, Vorsitzender des Zentral- rats der Juden, mehrmals hervorgehoben, eine Vielfalt sei in einer Welt der Einheitsgemeinden sehr willkom- men, aber eine ausgesprochen jüdische Vielfalt. Ein Plu- ralismus religiöser Ausrichtungen des Judentums kristal- lisiert sich zurzeit heraus. Ich empfinde das als gut. Dieser Prozess ist nicht unproblematisch, doch ist er von großer Tragweite für die Zukunft des Judentums in Deutschland. Die Unterstützung dieser Prozesse, unter anderem durch die Ausbildung des jeweiligen religiösen Personals – Rabbiner und Kantoren – ist eine regelrechte Herausforderung. Sowohl orthodoxes als auch liberales und konservatives Judentum müssen Platz unter dem Dach der Einheitsgemeinden finden. Auch der allge- meine, für westliche Wohlstandsgesellschaften typische Säkularisierungstrend als Folge von Modernisierung, Urbanisierung, Technisierung spielt eine Rolle. So sind die Identitätsbezüge vieler Jüdinnen und Juden – ge- nauso wie im christlichen Bereich – eindeutig kulturell 20456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) und weniger religiös geprägt. Ein kulturelles Angebot in den Gemeinden ist mit Sicherheit ein Zweck der Finan- zierung. Durch Einwanderung aus der ehemaligen UdSSR 1990 bis 2005 ist ein wesentlicher demografischer Zuwachs erreicht worden von knapp 30 000 Ende der 1980er-Jahre bis etwa 105 000 Gemeindemitglieder heute. Zu mehr als 90 Prozent bestehen die Gemeinden in der Regel aus den russischsprachigen Einwanderern. Auch 20 Jahre nach dem Beginn der jüdischen Immigra- tion in Deutschland ist die Integrationsfrage nach wie vor präsent. Unter den vielen möglichen Integrations- maßnahmen sind einige besonders wichtig: Die Sozial- abteilungen der Gemeinden müssen dringend unterstützt werden bei der Kommunikation mit jeweiligen Ämtern. Denn mehr als 70 Prozent der – zugewanderten – Juden sind Akademiker; weit mehr als 50 Prozent sind arbeits- los. Das ist eine Situation, bei der Gemeinden sicherlich mithelfen könnten und dafür Unterstützung benötigen. Die staatliche Politik der Verteilung der sogenannten Kontingentflüchtlinge führte dazu, dass zahlreiche Gemeinden auch in den Kleinstädten entstanden sind, viele zumal nach dem Holocaust. Wir haben es also mit einer Veränderung der Topografie der Gemeinden zu tun. Wenn auch unfreiwillig, ist dieser Wandel der reli- giös-jüdischen Gemeindelandschaft ein Glück für unser Land. Doch die kleinen Gemeinden brauchen dringend eine zusätzliche finanzielle Unterstützung – für sie ist es überlebenswichtig. Das leitende Personal der Gemeinden – das zeigt die Erfahrung der letzten Jahre – braucht durchaus Hilfestel- lungen bei Verwaltung, Jurisprudenz, geschäftlicher Kommunikation. Anders ist das auf politischer und Ver- waltungsebene, besonders in den kleineren und mittleren Gemeinden, nicht zu bewältigen. Die Jugendarbeit ist ebenfalls ein zentraler Punkt. Das Alter ist neben Herkunft und kulturellen Differenzen ein wesentlicher Integrationsfaktor. Hier ist eine Jewish Education in einer Gemeindewelt sowie in einem deut- schen Schulsystem von großer Bedeutung: Erziehungs- projekte, Gemeindeschulen, Treffen, etwa von der ZWST, der Zentralen Wohlfahrtstelle, organisiert. All das muss unterstützt werden! Ganz wichtig ist die Unter- stützung bei der Ausbildung des theologischen Nach- wuchses. Beispielhaft sei in diesem Kontext die Tätig- keit des Ihnen allen sicherlich bekannten Abraham- Geiger-Kollegs erwähnt. Auch Institutionen, wie die Hochschule in Heidelberg, brauchen Unterstützung. Gerade die Herausforderungen im Rahmen der Errich- tung der ersten jüdisch-theologischen Fakultät zeigen den Bedarf einer Anpassung der finanziellen Zuwen- dung. Die Erhöhung, über die wir heute zu beschließen haben, ist also mehr als gerechtfertigt. Und nicht zuletzt: Die Lage der Holocaust-Überle- benden und der jüdischen Veteranen des Zweiten Welt- kriegs in den Gemeinden erfordert auch besondere Auf- merksamkeit. Diese Menschen brauchen Unterstützung vor Ort. Es geht um ein geordnetes System der jüdischen Altersheime, Sozialdienste usw. Abschließend möchte ich betonen, dass das Ziel die- ses Vertrages, nämlich die Entfaltung des jüdischen Lebens und seine Akzeptanz in der Bevölkerung, nach wie vor eine Frage der Zivilgesellschaft bleibt, eine Frage des guten Willens und des mutigen Auftrittes aller gegen Vorurteile, alte Klischees und Unwissenheit. Sicherlich werden das Vertragswerk und diese Debatte ein positiver Impuls in dieser Richtung. Petra Pau (DIE LINKE): Die Linke bejaht den Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Juden. Mit dem vorliegenden Gesetz wird der Staatsvertrag der Bundesrepublik Deutschland mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland erneuert. Es geht um die Förde- rung jüdischer Kultur und jüdischen Lebens in Deutsch- land. Dem stimmt die Linke selbstverständlich zu. Die damit verbundene Unterstützung gilt der gesamten Breite jüdischen Lebens, also nicht nur den Einrichtun- gen unter dem Dach des Zentralrats der Juden. Die Förderung jüdischer Vielfalt schließt unabhängig von diesem Staatsvertrag natürlich den kontinuierlichen Kampf gegen jedweden Antisemitismus ein, so wie es der Bundestag am 4. November 2008 fraktionsübergrei- fend beschlossen hat: Antisemitismus bekämpfen, jüdi- sches Leben fördern. Ein Punkt aus dem damaligen Beschluss liegt seit Ende 2011 vor: ein erster Expertenbericht über Antise- mitismus in Deutschland. Ich gehe davon aus, dass wir ihn und die enthaltenen Anregungen demnächst im Ple- num sachlich und ohne parteipolitische Kalküle diskutie- ren werden. Sechs weitere Aufgaben, die der Bundestag damals der Bundesregierung gestellt hatte, harren noch eines Berichtes. Wir erwarten ihn demnächst. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir begrüßen den vorgelegten Gesetzentwurf der Bun- desregierung zur Änderung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland. Durch die Änderung des Vertra- ges wird die Summe von bisher 5 Millionen Euro auf 10 Millionen Euro jährlich steigen. Bereits am 27. Ja- nuar 2003 hat Rot-Grün den Vertrag zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland abgeschlossen, der sich als tragfähige Grundlage für eine kontinuierliche und partnerschaft- liche Zusammenarbeit herausstellte. Damals haben wir die finanzielle Unterstützung in Form einer jährlichen Staatsleistung festgeschrieben. Mit Änderung des Vertra- ges vom 3. März 2008 wurde die jährliche Staatsleistung von 3 Millionen Euro auf 5 Millionen Euro angehoben. Insbesondere vor dem Hintergrund neuer, vielfältiger Anforderungen an die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, die zu einem wesentlichen Anstieg der Aufgaben des Zentralrats, insbesondere im Bildungs- bereich, geführt haben, war diese Erhöhung notwendig. Wir gehen davon aus, dass der Zentralrat der Juden auch in Zukunft nach fairen Regeln für die gerechte und sinnvolle Verteilung der Gelder innerhalb der jüdischen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20457 (A) (C) (D)(B) Gemeinschaft sorgen wird, auch jener jüdischen Ver- bände, die nicht unter dem Dach des Zentralrats organi- siert sind. Seit über 60 Jahren vertritt nun schon der Zentralrat der Juden 23 Landesverbände mit insgesamt 107 jüdi- schen Gemeinden. 60 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland, das ist nach dem Zivilisationsbruch Ausch- witz für mich weder Selbstverständlichkeit noch Wun- der. Es ist das große Verdienst von Persönlichkeiten wie Heinz Galinski und Paul Spiegel, die unermüdlich für die Verständigung zwischen jüdischen und nichtjüdi- schen Deutschen eintraten. An deren Wirken möchte ich an dieser Stelle besonders erinnern. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wuchs bei den jüdischen Sowjetbürgern die Angst vor Antisemitis- mus, weshalb viele von ihnen nach Deutschland migrier- ten. Als sogenannte Kontingentflüchtlinge sind nach An- gaben des Zentralrats insgesamt 220 000 Menschen seither nach Deutschland gekommen. In der Folge ver- vierfachte sich die Zahl der Mitglieder in jüdischen Gemeinden auf heute rund 120 000 Mitglieder. Insbe- sondere in den neuen Bundesländern wurden Gemeinden gegründet und neue Synagogen gebaut. Daneben wurde die Integrationsarbeit des Zentralrats so zu einer zentra- len Aufgabe. Diese Integrationsleistungen der jüdischen Gemein- schaft sind mit großem Respekt zu sehen, auch wenn diese nicht immer ohne Konflikte bewältigt werden konnten. Diese Aufgaben verlangen vor dem Hinter- grund der historischen Verantwortung für die Verbrechen im Nationalsozialismus und dem Mord an 6 Millionen europäischen Juden auch künftig unsere materielle und immaterielle Unterstützung. Denn im Persönlichen sind wir alle gefordert, wenn es darum geht, jeder Form von Antisemitismus entgegenzutreten. Wir begrüßen deshalb den vorgelegten Gesetzentwurf und wünschen dem Zentralrat der Juden auch weiterhin viel Erfolg in seiner bemerkenswerten Arbeit. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Nationales Reform- programm 2012 muss soziale Ziele der Strategie „Europa 2020“ berücksichtigen (Tagesord- nungspunkt 19) Lena Strothmann (CDU/CSU): Wir alle wollen ein starkes und sicheres Europa und setzen uns daher auch vehement für die gemeinsame Währung ein. Wir wollen nicht weniger Europa, sondern mehr Europa. Europa ist ein großer Wirtschaftsraum. Wir stehen in Konkurrenz zu anderen Wirtschaftsräumen: USA, Japan, die BRIC- Staaten. Es war auch schon Ziel der Lissabon-Strategie im Jahr 2000, Europa – die EU der 15 – zum „wettbewerbs- fähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirt- schaftsraum der Welt zu machen“. Es wurden leider nicht alle Lissabon-Ziele erreicht. Die Mitgliedstaaten haben nicht immer an einem Strang zogen. Es gab durchaus unterschiedliche Interessen. Leistungsstarke Mitgliedstaaten drängten auf Reformen. In anderen Staa- ten gab es erhebliche Umsetzungsrückstände. Hinzu ka- men neue Herausforderungen: die Finanzkrise von 2008, die Wirtschaftskrise, die Schuldenkrise. Die Krisen wa- ren ein Weckruf für Europa. Das Jahr 2010 musste daher für einen entschlossenen Neuanfang stehen. Die Lissabon-Strategie wurde abge- löst durch die Strategie „Europa 2020“. Sie beschreibt die aktuelle Strategie für Wachstum in Europa. Drei Prioritäten werden gesetzt: Intelligentes Wachstum, nachhaltiges Wachstum, integratives Wachstum. Alle drei verstärken die Vision der europäischen sozialen Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts. Deshalb gab es auch strategische Änderungen. Bislang wurden Maßnah- men immer erst im Nachhinein auf ihre Wirksamkeit überprüft. Im Rahmen des Europäischen Semesters ver- pflichten sich alle Mitgliedstaaten bis April des laufen- den Jahres, ihre Beiträge zur Wachstumsstrategie 2020 zu liefern. Es findet ein Dialog statt. Das ist ein positives und konstruktives Element. Europa zieht damit die Kon- sequenzen aus mangelnder Haushaltsdisziplin und hoher Verschuldung einzelner Staaten. Die finanzpolitischen Prozesse des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und die wirtschaftspolitischen Prozesse um die EU-2020-Strate- gie werden zeitlich angeglichen und zusammengeführt. Das Semester ist quasi ein Instrument der vorbeugenden Überwachung. Es läuft alles nach einem festen Zeitplan ab und be- ginnt mit der Vorlage des Europäischen Jahreswachs- tumsberichtes zu Jahresbeginn. Im Frühjahr werden die nationalen Ziele und Reformpläne der einzelnen Mit- gliedstaaten der Kommission vorgelegt. Sie werden von der Kommission analysiert und bewertet. Daraus folgen die sogenannten Empfehlungen des Rates. Hier sind im Gegensatz zu den Maastricht-Kriterien keine Sanktionen vorgesehen. Bei den nationalen Reformprogrammen gilt das Prinzip der Freiwilligkeit – mit allen Vor- und Nach- teilen. Aber die Mitgliedstaaten wissen um ihre gemein- same Verantwortung. Am Beispiel des Euro-Plus-Paktes ist erkennbar, wie flexibel auch bei aktuellen Ereignissen reagiert werden kann. Das deutsche Aktionsprogramm zum Euro-Plus- Pakt haben wir in unser Reformprogramm integriert. Vor allem ist die Haushaltskonsolidierung in den europäi- schen Staaten als Hauptaufgabe erkannt. Unsere deut- schen Regierungsvorhaben sind im aktuellen Nationalen Reformprogramm zusammengestellt. Die Bewertung des ersten Programms von 2011 war überaus positiv. Auch das vorgelegte Programm 2012 überzeugt. Die Bundesländer, Verbände und Sozialpartner waren betei- ligt. Die Antworten auf die Herausforderungen können sich wirklich sehen lassen. Alles in allem bietet es eine ziemlich komplette Übersicht über die Maßnahmen der christlich-liberalen Koalition. Schauen Sie sich doch auch den Anhang an. Hieran wird die Vernetzung unse- rer Politik mit den europäischen Zielen und der EU-2020-Strategie deutlich. Viele Bereiche, von Be- kämpfung der Arbeitslosigkeit bis hin zu Bildung und 20458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) Ausbildung, Haushaltskonsolidierung und Forschung und Entwicklung, sind aufgeführt. Wir leisten hier Bei- träge für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland und Europa. Der SPD-Antrag hierzu ist daher überflüssig. Er sug- geriert, die sozialen Ziele seien unterrepräsentiert. Das trifft jedoch eindeutig nicht zu. Denn die Analyse der fünf Kernbereiche der 2020-Strategie zeigt: Die von der EU bis 2020 angestrebte Beschäftigungsquote von 75 Prozent haben wir auf nationaler Ebene bereits 2010 fast erreicht. Wir sind zuversichtlich, dass wir unser hochgestecktes Ziel von 77 Prozent erreichen werden. Die EU strebt bis 2020 im Bereich der Innovation die Quote von 3 Prozent auf Basis des BIP an. Auch das ha- ben wir in Deutschland fast erreicht. 2010 betrug unsere Quote bereits 2,82 Prozent. Unser nationales Ziel heißt 10 Prozent bis 2015. Beim Klimaschutz sind wir Vorrei- ter in Europa. Das von der EU gesetzte Ziel von 20 Pro- zent Emissionseinsparung haben wir auf 40 Prozent er- höht, bis 2050 sogar auf 80 Prozent. Eine große Herausforderung liegt im Bereich Bildung: Die Schulabbrecherquote soll bis 2020 unter 10 Prozent liegen, 40 Prozent der Abgänger sollen einen Hochschul- abschluss erreichen. In Deutschland lag 2010 die Schul- abbrecherquote bei 11,9 Prozent. Wir werden unser natio- nales Ziel in jedem Fall erreichen. Einer Hochschulquote stehe ich grundsätzlich skeptisch gegenüber. Ich betone immer die hohe Bedeutung der dualen Ausbildung, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Schließlich brauchen wir im gewerblich-technischen Bereich auch Arbeits- und Führungskräfte. Im Bereich Armut/soziale Eingliederung gibt es un- terschiedliche Ansichten über die zu treffende Defini- tion. Unser Indikator Langzeitarbeitslosigkeit ist geeig- net; das steht fest. Die Verringerung um 20 Prozent bis 2020 ist unser nationales Ziel. Unsere Ausgangslage in Deutschland ist somit sehr gut. Die Gesamtkonjunktur zeigt gute Wachstumsquo- ten. Das ist eine Erfolgsbilanz, die sich sehen lassen kann. Die Erwartung für 2012 beschreibt ein Plus von 0,7 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt. Nach Überwin- dung der angekündigten Delle im Winter wird für 2013 mit einem Plus von 1,6 Prozent gerechnet. Hinzufügen möchte ich, dass das Handwerk bereits im laufenden Jahr 1,5 bis 2 Prozent erwartet. Das freut mich ganz be- sonders. Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland wird auch in 2012 auf ein neues Rekordhoch zusteuern. 41,3 Millionen Menschen werden dann erwerbstätig sein, und das überwiegend in sozialversicherungspflich- tigen Beschäftigungen. Die Zahl der Arbeitslosen wird mit größter Wahrscheinlichkeit unter 3 Millionen liegen. Aufschlussreich ist auch die Betrachtung der Jugend- arbeitslosigkeit. Deutschland hat wegen seines dualen Ausbildungssystems eine deutlich geringere Jugendar- beitslosigkeit als die anderen europäischen Staaten. Zu- rückzuführen ist unser Rückgang in Deutschland auch auf die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen bei Jugendlichen, seit dem letzten Ausbildungspakt auch be- sonders bei jungen Menschen ohne Schulabschluss. Die Zukunft der Jugend wird auch von unserer heuti- gen Politik bestimmt. Vor allem die Schuldenbremse wird wirken. Wir sollten alles daran setzen, den Zeit- punkt, an dem wir ohne Neuverschuldung auskommen, möglichst früh zu erreichen. Es ist nicht mehr nachvollziehbar, wie die rot-grüne Minderheitsregierung in NRW die Neuverschuldung munter hochgetrieben hat. Die Bürger werden ihr dafür die Quittung ausstellen. Wer die Schuldenbremse ab- lehnt und stattdessen Steuererhöhungen plant, wird bei Wachstum, Beschäftigung und sozialer Gerechtigkeit keine Erfolge erzielen, weder in Europa noch in Deutschland. Dass es auch anders und erfolgreich geht, zeigt die christlich-liberale Koalition. Wir hoffen sehr, dass Deutschland als Motor und auch als Vorbild für andere Länder gilt. Denn nur wenn alle mitmachen, kann die Strategie Europa 2020 insgesamt erfolgreich sein. Dieter Jasper (CDU/CSU): Der Europäische Rat hat im Juni 2010 die Strategie „Europa 2020“ verabschiedet. Der Kurzfristigkeit politischer Entscheidungen sollen mittel- und längerfristige Strukturreformen gegenüber- gestellt werden. Weniger Krisenmanagement und mehr vorausschauende Planung heißt die Devise. Diese europäische Strategie wird durch ein jährlich vorzulegendes Nationales Reformprogramm, NRF, um- gesetzt. Auch Deutschland muss regelmäßig erläutern, wie die Verpflichtungen aus der europäischen Ebene in nationale Politik umgesetzt werden. Das jetzt vom Bundeskabinett verabschiedete NRF 2012 belegt, dass Deutschland einen erheblichen Beitrag für mehr Stabilität, Wachstum und Beschäftigung in Europa leistet. Folgende Zahlen belegen das sehr an- schaulich: Die Zahl der Beschäftigten ist so hoch wie nie zuvor. Bereits im Jahr 2010 gingen fast 75 Prozent der deutschen Bevölkerung einer Beschäftigung nach. Die Zahl der Langezeitarbeitslosen sank im Bundesdurch- schnitt im Vergleich zum Jahr 2008 um 15 Prozent. Investitionen in Forschung und Bildung steigen kontinu- ierlich. Die Energiewende stellt eine in dieser Form nir- gendwo auf der Welt zu findende Neuorientierung hin zu einer umwelt- und klimafreundlichen Energieversorgung dar. Dies ist gerade für Deutschland als eine der führen- den Industrienationen eine besondere Herausforderung. Der Anteil der Deutschen mit Hochschulabschluss – oder vergleichbarer Ausbildung – liegt über der EU-Zielvorgabe. Die vereinbarten Kernziele – erstens Förderung der Beschäftigung, zweitens Verbesserung der Bedingungen für Innovation sowie für Forschung und Entwicklung, drittens Reduktion der Emissionen, Ausbau der erneuer- baren Energien und Verbesserung der Energieeffizienz, viertens Verbesserung des Bildungsniveaus, fünftens Verringerung von Armut und Ausbau sozialer Eingliede- rungsmöglichkeiten – werden also nicht nur erreicht, sondern die Zielmarken werden sogar überschritten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20459 (A) (C) (D)(B) Ein wichtiges Ziel dieses Paktes ist die Sicherung und die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der europäi- schen Staaten. Nur so können Wachstum und Beschäfti- gung generiert werden. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Sicherung der öffentlichen Finanzen. Die deutsche Schuldenregel bzw. Schuldenbremse verpflichtet die Bundesregierung zum Sparen und stellt zunächst auf den Abbau der Neu- verschuldung bis spätestens zum Jahr 2016 ab. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass wir unser eigentliches Ziel erreichen können, nämlich die bereits bestehende Ver- schuldung abzubauen. Diese beeindruckenden Zahlen und die erheblichen Anstrengungen von Bürgern, Wirtschaft und Politik bei der Erfüllung der nationalen und europäischen Zielvor- gaben lassen die Vertreter der SPD dennoch nicht ruhen. Statt sich über das Erreichte zu freuen und mit an einer weiteren Stärkung des Standorts Deutschland zu arbei- ten, wird mit dem Antrag „Nationales Reformprogramm 2012 muss soziale Ziele der Strategie ‚Europa 2020‘ be- rücksichtigen“ suggeriert, dass angeblich soziale As- pekte bei diesem Reformprogramm nicht berücksichtigt werden. Dies ist schon im Grundsatz falsch. Die beste Sozialpolitik ist die, wenn wir aufhören, auf Kosten un- serer Kinder zu leben. Der Abbau der immensen Staats- verschuldung, die wir nicht zuletzt mit der Aufnahme der Schuldenregel in die Verfassung nachhaltig angehen, ist meines Erachtens einer der wichtigsten Schritte hin zu einem sozial gerechten Staat. Die SPD kritisiert, dass sich die Bundesregierung auf die Reduzierung der Neuverschuldung konzentriert, und fordert stattdessen einen weiteren Ausbau der Sozial- systeme. Abgesehen davon, dass man die Bereiche „Soziale Sicherung“ und „Öffentliche Finanzen“ nicht gegeneinander ausspielen kann, ist die Finanzierung die- ser Sicherungssysteme schon heute nur unter größten Mühen und nur mit staatlicher (Teil-)Finanzierung mög- lich. Ein weiterer Ausbau würde nicht nur die Beitrags- zahler belasten, sondern auch die staatliche Verschul- dung in neue Höhen treiben, da schon heute die Sozialkassen nur durch erhebliche Mittel aus dem Steu- eraufkommen überlebensfähig sind. Die deutsche Wirtschaftspolitik mit ihrem Fokus auf solide Staats- finanzen hat sich als äußerst wirkungsvoll erwiesen, wie die ökonomischen Kennzahlen unseres Landes ein- drucksvoll belegen. Auch das Thema Mindestlohn wird angesprochen. Dieser soll die angebliche „soziale Spaltung“ in Deutschland beenden und für sozialen Frieden sorgen. Die Union lehnt einen gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn für unser Land weiterhin ab. In erster Linie befürchten wir den Verlust zahlreicher Arbeitsplätze, wenn Lohnfestsetzung politisch motiviert durchgeführt und nicht nach ökonomischen Kriterien festgelegt wird. Wir vertrauen weiterhin auf die seit vielen Jahren be- währte Tarifautonomie. Die zwischen den Tarifpartnern verhandelte Lohnfindung ist in den vergangenen Jahren Grundlage und Voraussetzung für sozialen Frieden und nachhaltigen Wohlstand gewesen. In tariffreien Berei- chen ist eine Lohnuntergrenze denkbar, die dann aber auch von den Tarifpartnern ausgehandelt und gefunden werden muss. Unser Land ist in den letzten Jahren gut mit einer der- artigen Lohnfindung gefahren. Die Arbeitslosigkeit sinkt beständig und liegt zwischenzeitlich unter 3 Millionen Menschen. Im Gegenzug steigt der Anteil der erwerbstä- tigen Bevölkerung und liegt jetzt über 40 Millionen Menschen. Da von „Zunahme der sozialen Spaltung in Deutschland“ zu sprechen, ist schon ungeheuerlich. Im Weiteren werden die bekannten ideologisch moti- vierten Lösungsansätze und Instrumente der SPD aufge- führt, die schon in der Vergangenheit in Deutschland keine oder nur eine schlechte Wirkung gezeigt haben. Im Sinne der von uns befürworteten sozialen Markt- wirtschaft werden von uns nur die Rahmenbedingungen gesetzt. Direkte und dirigistische Eingriffe in den Markt sollten nur im Ausnahmefall erfolgen und nicht die Regel sein. Alles in allem bleibt festzuhalten: Deutschland erfüllt seine nationalen und europäischen Verpflichtungen. Dies gilt insbesondere für die Umsetzung der Kernziele der EU. Die von der SPD aufgestellten Forderungen sind ir- reführend und überflüssig. Wir sollten weiter auf dem er- folgreichen Weg der unionsgeführten Bundesregierung gehen. Kerstin Griese (SPD): Die Bundesregierung hat eine Chance vertan. Die Idee der Strategie „Europa 2020“ beinhaltet, dass die Zivilgesellschaft intensiv und umfassend an der Verwirklichung der Ziele von „Europa 2020“ beteiligt wird. Dazu gehört, dass die Ideen der Verbände und Sozialpartner bei der Formulierung des Nationalen Reformprogramms berücksichtigt werden. Die Bundesregierung aber war unfähig, den Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2012 so frühzeitig zur Kenntnis zu geben, dass sich diese Partner ausführlich mit dem Programm hätten beschäftigen können. Statt- dessen hatten die Verbände der freien Wohlfahrtspflege und der Kommunen lediglich wenige Tage Zeit, um sich zu dem 90-seitigen Nationalen Reformprogramm 2012 zu äußern. Diese kurzfristige Beteiligung wurde von den kommunalen Spitzenverbänden wortwörtlich als „äu- ßerst ärgerlich“ bezeichnet. Fest steht, dass die Zivil- gesellschaft nicht angemessen an der Formulierung des Nationalen Reformprogramms beteiligt wurde. Das ist angesichts der Bedeutung der Strategie „Europa 2020“ für die Zukunft Deutschlands und Europas ein eklatantes Versäumnis. Die Beteiligung der Partner wäre deshalb so wichtig gewesen, weil dadurch eine Rückkopplung zwi- schen der Ebene der Europäischen Union und der Zivil- gesellschaft der Menschen in Deutschland geschaffen worden wäre. Das Nationale Reformprogramm ist aus dem Grunde so wichtig, weil es die Ziele der Strategie „Europa 2020“ umsetzen soll. Mit der Strategie „Europa 2020“ hat sich die Bundesregierung im Jahr 2010 verpflichtet, jedes Jahr bis April in ihrem Nationalen Reformprogramm darzulegen, mit welchen Maßnahmen sie die Ziele der Strategie „Europa 2020“ erreichen will. 20460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) Das strategische Ziel von „Europa 2020“ ist es, „intel- ligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ in der Europäischen Union zu generieren. Um dieses überge- ordnete Ziel zu erreichen, hat sich die Europäische Union auf fünf Kernziele geeinigt, die sie bis 2020 ver- wirklichen möchte. Europa soll umweltfreundlicher wer- den, indem die Treibhausemissionen gesenkt, die erneu- erbaren Energien gestärkt und die Energieeffizienz in der Europäischen Union gesteigert werden. Außerdem haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet, im Jahr 2020 mindestens 3 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Innovation, Forschung und Entwicklung aufzuwenden. Die soziale Dimension der Europäischen Union soll gestärkt werden, indem die Beschäftigungsquote in den Mitgliedstaaten gestärkt wird, sodass im Jahr 2020 min- destens 75 Prozent der Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren einen Arbeitsplatz haben. Gleichzeitig sollen die Schulabbrecherquote auf unter 10 Prozent gesenkt und der Anteil der 30- bis 34-Jährigen mit abgeschlosse- ner Hochschulbildung auf mindestens 40 Prozent eines Jahrgangs angehoben werden, um das Bildungsniveau zu verbessern. Schließlich hat sich die Bundesregierung ebenso wie alle anderen Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union dazu verpflichtet, die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen bis zum Jahr 2020 um mindestens 20 Millionen zu sen- ken. Die Bundesregierung hat aber das Nationale Reform- programm 2012 – wie bereits im vergangenen Jahr – al- lein dazu genutzt, ihre Politik zu rühmen. Deutschland habe die Ziele der Strategie „Europa 2020“ nahezu erreicht. Deshalb bedürfe es keiner weiteren Anstren- gungen; das ist der Grundtenor der Bundesregierung. Entsprechend dürftig ist der Inhalt des Nationalen Reformprogramms. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich in ihrem Antrag besonders auf die sozialpolitischen Ziele konzentriert. Denn Europa ist mehr als ein Wirtschaftsraum. Das so- ziale Europa ist uns Sozialdemokratinnen und Sozialde- mokraten sehr wichtig. Deshalb will ich hier besonders das Ziel der Armutsreduktion nennen, um zu zeigen, dass die Bundesregierung weit davon entfernt ist, die Ziele der Strategie bereits erreicht zu haben. Zur Erinne- rung: Die Anzahl der durch Armut und soziale Ausgren- zung gefährdeten Menschen in der Europäischen Union soll bis zum Jahr 2020 um mindestens 20 Millionen ver- ringert werden. Die Bundesregierung hat sich dazu ent- schlossen, einen Beitrag zu diesem Ziel zu leisten, indem sie sich allein auf die Anzahl der Langzeitarbeitslosen in Deutschland konzentriert, die sie bis zum Jahr 2020 um 320 000 Menschen verringern will. Heute – im Jahr 2012 – gibt es in Deutschland über 1 Million Menschen, die mindestens zwölf Monate ohne Unterbrechung arbeitslos waren und damit als langzeitarbeitslos gelten. Eine Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit um 320 000 Personen bis zum Jahr 2020 hieße also erstens, dass im Jahr 2020 immer noch rund 700 000 Menschen länger als ein Jahr arbeitslos wären. Die Bundesregie- rung gibt sich also damit zufrieden, die Langzeitarbeits- losigkeit um lediglich ein Drittel zu verringern. Sie fin- det sich damit ab, dass 700 000 Menschen auch im Jahr 2020 noch von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen wären. Schon daran zeigt sich, dass die Bundesregierung weit davon entfernt ist, die Ziele der Armutsbekämpfung zu erreichen. Wir müssen in Deutschland mehr tun, um Armut zu vermeiden und um Menschen aus Arbeitslosigkeit und Armut zu befreien. Das zeigt sich nicht nur an der Anzahl der Langzeitarbeitslosen, sondern auch an den Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat. Eurostat hat ermittelt, dass in Deutschland fast 16 Mil- lionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind. Das Statistische Bundesamt sprach jüngst von 13 Millionen Menschen in Deutschland, die weniger als 60 Prozent des Durchschnitts zum Lebensunterhalt zur Verfügung haben. Laut Eurostat lebten im Jahr 2010 in unserem Land rund 3,7 Millionen Menschen, die unter erheblicher materieller Deprivation litten, also ihre Grundbedürfnisse nicht aus eigener Kraft befriedigen konnten. Die Bundesregierung hat in dieser Woche ein- geräumt, dass Millionen Frauen Armut im Alter drohe, da sie heute nur geringfügig beschäftigt seien. 4,65 Mil- lionen Frauen arbeiten derzeit in Minijobs, sodass sie nur geringe Rentenanwartschaften erwerben. Angesichts dieser Zahlen sind die im Nationalen Reformprogramm 2012 genannten Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung der Armut in Deutschland völlig unzurei- chend. Es ist dringend erforderlich, dass die Bundesre- gierung neben dem Indikator der Langzeitarbeitslosig- keit auch die anderen Armutsindikatoren der Europäischen Union berücksichtigt. Nur dann würde die Bundesregierung dem Ausmaß der Armut und sozialen Ausgrenzung in Deutschland gerecht. Nur dann wäre der Beitrag Deutschlands zur Verringerung der Armut in der Europäischen Union angemessen. Leider ignoriert die Bundesregierung den Handlungs- bedarf im Bereich der Armutsbekämpfung seit langem. Schon das Nationale Reformprogramm des vergangenen Jahres beschränkte sich auf den Indikator Langzeitar- beitslosigkeit. Die Bundesregierung hat unsere damalige Aufforderung, mehr gegen Armut zu tun, ignoriert. Wenn schon der stärkste Mitgliedstaat der Europäischen Union der Verringerung der Armut einen solch geringen Stellenwert beimisst, ist zu fragen, warum andere Mit- gliedstaaten, in denen die Armut und soziale Ausgren- zung ein weit höheres Ausmaß haben, mehr tun sollten. Die Bundesregierung geht hier mit schlechtem Beispiel voran. Der Spiegel bezeichnete die Bundesregierung in die- ser Woche als „Tunix-Regierung“. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Im Kampf gegen Armut sind Bundeskanz- lerin Merkel und ihr Kabinett ebenso untätig wie in den anderen Bereichen der Strategie „Europa 2020“. Bei der Beschäftigungsquote mag das quantitative Ziel, dass mindestens 75 Prozent der Männer und Frauen zwischen 20 und 64 Jahren einen Arbeitsplatz haben, statistisch fast erreicht sein. Es reicht aber nicht aus, auf das quanti- tative Ziel zu schauen. Zu fragen ist auch, wie die Beschäftigungsverhältnisse qualitativ aussehen. Diese Frage stellt sich die Bundesregierung jedoch nicht. Ihr geht es allein darum, statistisch gut auszusehen. Ob die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20461 (A) (C) (D)(B) Menschen von ihrer Arbeit leben können, interessiert offenbar weder Frau Merkel noch Frau von der Leyen. Anderenfalls hätten sie längst einen gesetzlichen Min- destlohn eingeführt und die Leiharbeit anständig regu- liert. Meine Kritik am Nationalen Reformprogramm 2012 der Bundesregierung ließe sich fortsetzen. Trotz meiner Enttäuschung über die Reformprogramme der vergange- nen beiden Jahre möchte ich meine Hoffnung äußern, dass die Bundesregierung die zu erwartende Kritik der Europäischen Kommission aufnehmen und ihr Nationa- les Reformprogramm verbessern wird. Unser Ziel ist, dass Europa auch ein soziales Gesicht hat und dass trotz der Wirtschafts- und Finanzkrise sozialpolitische Stan- dards und Ziele stärker berücksichtigt werden. Ich will sogar deutlich sagen: Gerade wegen der Krise dürfen wir uns nicht allein aufs Sparen verlassen, sondern müssen Wachstum unter sozialen Bedingungen gestalten. Andrej Hunko (DIE LINKE): Spätestens seit den so- genannten Sozialreformen in Deutschland unter Gerhard Schröder, der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen, hat der früher einmal positiv besetzte Begriff Reform für viele Menschen in Deutschland einen bitteren Bei- geschmack. Den Antrag der SPD-Fraktion „Nationales Reformprogramm 2012 muss soziale Ziele der ,Strategie Europa 2020‘ berücksichtigen“ kann ich nur einen typisch sozialdemokratischen Antrag nennen, der leider nicht dazu beiträgt, die vorgeblich verfolgten sozialen Ziele zu erreichen. Das beginnt bereits bei dem grundle- genden Bezug zur Strategie „Europa 2020“, die meine Fraktion im Unterschied zur SPD abgelehnt hat. Denn diese Strategie setzt die offensichtlich gescheiterte Lissabon-Strategie nicht nur fort, sondern radikalisiert ihren neoliberalen Charakter auch noch. Aber mit den umzusetzenden Mitteln der Marktöffnung, des Sozial- abbaus und der Deregulierung werden die auf geduldi- gem Papier geschriebenen wünschenswerten sozialen Ziele wieder nicht erreicht werden. Zur Umsetzung fo- kussiert „Europa 2020“ ausschließlich auf Wachstum durch Wettbewerb und marktbasierte Instrumente. Der ungebrochene Fokus auf Beschäftigungsförde- rung durch beispielsweise größere Mobilität und Flexi- bilisierung der Beschäftigten ist kaum vereinbar mit dem Ziel der Armutsverringerung. Ihr Antrag spiegelt zwar die aktuelle Entwicklung in der Krisen-EU wieder, in der die „Schere zwischen Arm und Reich“ weiter auseinan- dergeht. Aber Sie vermeiden es, zu sagen, dass es die eu- ropäischen Austeritätspakete sind, die ganze Bevölke- rungsteile in die Armut stoßen. Stattdessen reden Sie von der sozialen Dimension der EU als zentralem Teil des europäischen Gesellschaftsmodell, die in der Strate- gie „Europa 2020“ enthalten sei. Dabei wird das euro- päische Sozialstaatsmodell gegenwärtig durch den Fis- kalpakt völlig infrage gestellt. Der EZB-Chef Draghi spricht gar davon, dieses Modell habe ausgedient. Liebe Kollegen von der SPD, Sie sind offensichtlich noch heute stolz darauf, dass in Deutschland ein vorher kaum vorhandener Niedriglohnsektor massiv eingeführt wurde und die meisten Jobs in Deutschland heute pre- käre Jobs sind. So heißt es in Ihrem Antrag: „Aufgrund der von der SPD verantworteten Reformmaßnahmen der vergangenen Jahre ist Deutschland heute im europäi- schen Vergleich wirtschaftlich erfolgreich.“ Haben Sie noch nicht mitbekommen, dass der deutsche Niedrig- lohnsektor, das deutsche Lohndumping eine der Haupt- ursachen der Krise innerhalb der Euro-Zone ist, dadurch, dass in Deutschland als einzigem europäischen Land die Reallöhne gesunken sind und so die Wettbewerbsfähig- keit auf Kosten der Beschäftigten und auf Kosten schwä- cherer Volkswirtschaften in der Euro-Zone erhöht wurde? Die Einführung des Niedriglohnsektors in Deutschland durch Agenda 2010 und Hartz IV hat die Axt an die wirtschaftliche Integration Europas gelegt. Die Forderungen, die Sie im Forderungsteil aufstel- len, gehen für sich genommen zweifellos in die richtige Richtung. Aber Sie bleiben die Antwort auf die Frage schuldig, wie diese Forderungen unter den Bedingungen des Fiskalpaktes und auf Grundlage der EU-2020-Strate- gie verwirklicht werden sollen. Wie bei der Agenda 2010 werden auch die Mittel der Europa-2020-Strategie gnadenlos angewandt, nur um am Ende zu merken, dass die Ziele so nicht zu erreichen sind. Daher irren Sie auch, wenn Sie schreiben, dass die Bundesregierung der Strategie „Europa 2020“ offenkundig einen niedrigen Stellenwert beimisst. Vielmehr ist die europäische Wirt- schaftspolitik der Regierungskoalition eine Weiterfüh- rung der neoliberalen Strategie der verkürzten Fokussie- rung auf Wettbewerbsfähigkeit und blindes Wachstum. Die Paradigmen in der EU müssen völlig anders ge- stellt werden. Der betriebswirtschaftliche Begriff der Wettbewerbsfähigkeit, der seit der Lissabon-Strategie aus dem Jahre 2000 zur Kernideologie europäischer Wirtschaftspolitik avanciert ist, eignet sich nicht als Ziel einer Volkswirtschaft. Europa muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Die neoliberalen Dogmen müssen durch soziale und ökologische Kriterien ersetzt werden. Ich fürchte, dass die schönen Forderungen in Ihrem An- trag am Ende Papier bleiben, wenn sich die strategischen Grundlagen der EU nicht ändern. Europa wird sozial sein, oder es wird nicht sein. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kauder sprach davon, dass Deutschland dank überdurch- schnittlicher Wirtschaftsentwicklung vorangehen sollte. An Ihrem eigenen Maßstab gemessen, ist Ihr Nationales Reformprogramm ein Armutszeugnis. Mit der EU-2020- Strategie haben wir uns zum Ziel gesetzt: 20 Millionen Menschen weniger sollen von Armut und Ausgrenzung bedroht sein. 16 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bür- ger sind deutsch. 16 Prozent von 20 Millionen sind 3,25 Millionen. Aber Herr Kauder sagt: Wir wollen vo- rangehen. Setzt sich die Bundesregierung also mehr als 3,25 Millionen als Ziel? Nein! 640 000 ist die kümmer- liche Zahl, die diese Bundesregierung sich gerade noch zutraut. Auch bei der Sozialpolitik geht diese Regierung nicht voran. Sie machen Deutschland zum Schlusslicht in Europa. Die Bundesregierung macht das Nationale Reform- programm an dieser Stelle zum notorischen Rechtferti- 20462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) gungsprogramm. Sie rechnen vor, wie sie Langzeitar- beitslosigkeit reduzieren wollen. Landzeitarbeitslose sind auch leider oft arm. Die EU-Kommission hat dieses Ablenkungsmanöver aber schon letztes Jahr kritisiert; denn Langzeitarbeitslose sind nur ein kleiner Teil der über 16 Millionen von Armut bedrohten Menschen in Deutschland. 15 von 16 Millionen kommen dann aber bei Ihrer Zielsetzung schon nicht mehr vor. Das ist ein Skandal. Hier gehört dringend nachgebessert. Dieser Fehler im Grundansatz Ihres Programms hat leider sogar System. Arbeit verhindert Armut, so lautet Ihr Rezept. Leider stimmt das immer öfter nicht. Ich zitiere aus dem Arbeitspapier der EU-Kommission zu Ihrem sehr ähnlichen Papier von letztem Jahr: „Obwohl immer mehr Menschen trotz Erwerbstätigkeit von Armut betroffen sind, wird dieses Thema nicht als Herausforde- rung eingestuft.“ Armut trotz Arbeit, das Problem igno- rieren Sie einfach, sagt die mehrheitlich von Konservati- ven besetzte EU-Kommission. Kein Wunder, denn selbst unter konservativen Regierungen fällt Deutschland negativ auf. Sie verweigern sich Mindestlöhnen, die in Europa die Regel sind. Lassen Sie sich von Europa in- spirieren. Statt Armut oder Lohnuntergrenzen brauchen wir Mindestlöhne überall in Europa. Armut trotz Arbeit, das ist leider auch für viele Leih- arbeiterinnen und Leiharbeiter harte Realität. Herr Kauder hat aufgefordert, wir sollten zu rot-grünen Erfol- gen stehen. Keine Angst, das tun wir. Vor allem sind wir aber auch bereit, aus Fehlern zu lernen. Mehr Leiharbeit hat teils zu mehr Beschäftigung geführt, teils aber auch feste Stellen ersetzt und Löhne gedrückt. Im Interesse der Beschäftigten und auch im Interesse Europas muss das beendet werden. Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter verdienen den gleichen Lohn wie die Stammbelegschaft. Wir fordern: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am glei- chen Ort. So geht soziales Europa. Neben dem Ziel der Armutsbekämpfung verpflichtet uns die EU-2020-Strategie auf 75 Prozent Beschäfti- gungsquote. Sie sagen: Wir erreichen fast 77 Prozent. Da würde ich gerne wissen: Warum so bescheiden? Wer in Europa vorangehen will, sollte sein Ziel nicht danach aussuchen, was sich gut darstellen lässt, sondern mindes- tens danach, was bei ordentlicher Anstrengung möglich ist. Außerdem hält der Scheinerfolg keiner harten Über- prüfung stand. Mehr Beschäftigung ist vor allem mehr atypische Beschäftigung, die eben nicht vor Armut schützt. Ihr Programm spart an der falschen Stelle. Sie wollen nicht investieren, um den harten Kern der Arbeitslosig- keit anzugehen. Gleichzeitig schlägt die EU-Kommis- sion bei den EU-Strukturfonds ganz im Rahmen der EU- 2020-Strategie vor: Mindestens die Hälfte der Mittel soll für sozialpolitische Ziele ausgegeben werden. Ihre fal- schen Schwerpunkte stärken dabei meine Befürchtung. Sie wollen Mittel der EU verwenden, um ihre frischen Einschnitte bei der Arbeitsmarktpolitik ein bisschen zu ersetzen. Das wäre gegen die richtigen und nachhaltigen Ziele der EU-Förderung. So geht soziales Europa nicht. Seien sie europäischer als das! Nur ein Beispiel, welche ihrer Kürzungen ich beson- ders falsch finde. Der Gründungszuschuss war eine Hilfe für Menschen, die sich aufmachen, selbstständig zu sein statt arbeitslos. Alle Analysen loben dieses Instrument. Gegen den vereinten Rat aller Expertinnen und Experten haben Sie den Gründungszuschuss als Anspruch gestri- chen. Jetzt wird er nur noch halb so oft beantragt, wie er vorher genehmigt wurde. Das zeigt: Diese Bundesregie- rung kann erfolgreich gegen Arbeitslosigkeit sein, schon indem Sie ihre eigene Politik rückgängig macht. Sträflich vernachlässigt wird im Beitrag dieser Regie- rung zum europäischen Semester die europäische Dimension. Mindestlöhne und bessere Sozialpolitik hier helfen nicht nur Menschen in Deutschland. Mehr Kauf- kraft auf dem deutschen Binnenmarkt könnte auch die riesigen Leistungsbilanzungleichgewichte zwischen den EU-Krisenländern und Deutschland verringern. Eine Regierung, in der teils bis heute der Austritt Griechen- lands aus dem Euro gefordert wird, könnte endlich soli- darisch handeln. So würden Menschen in Deutschland und Menschen in Griechenland, Spanien und Portugal gleichermaßen profitieren. So ginge soziales Europa. Geben Sie Europa endlich wieder eine Chance! Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der SPD für den Antrag, der diese Kritik aufgreift. Es ist schade, dass die Bundesregierung für solche Kritik kaum offen ist. Herr Rösler behauptet: „Das Programm ruht auf breiten Schultern. Verbände, Sozialpartner und auch die Länder waren beteiligt.“ In derselben Debatte musste er einräu- men, die Frist sei „vergleichsweise kurz“ gewesen. Drei Arbeitstage lang hatte das Ministerium zugestanden. Das ist ein interessantes Zeichen dafür, wie wichtig der Regierung die Zusammenarbeit mit Verbänden und Gewerkschaften ist. Zum Glück haben Sie nach der Debatte und der zu erwartenden Kritik der EU-Kommission mehr als drei Tage Zeit, ein Programm mit ernsthaften Zielen zu for- mulieren. Nutzen Sie diese Zeit! 16 Millionen allein in Deutschland von Armut bedrohte Menschen haben eine bessere Politik dringend verdient. Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Wirtschaft und Technologie: Die Bun- desregierung hat am 21. März das Nationale Reformpro- gramm 2012 verabschiedet. Das Dokument ist deutlicher Beleg für unsere erfolgreiche Regierungsarbeit. Mit die- ser Erfolgsbilanz können wir uns in Brüssel wirklich se- hen lassen. Die Europäische Kommission hatte uns für das Programm ambitionierte Vorgaben und einen engen Zeitplan gesetzt. Wir haben die Länder intensiv an der Erarbeitung beteiligt. Mit den Verbänden und Sozialpart- nern haben wir Gespräche geführt und ihre Stellungnah- men berücksichtigt. Im Ergebnis ist festzuhalten: Deutschland hat seine Verpflichtungen eingehalten und einen wichtigen Beitrag für Stabilität, Wachstum und Beschäftigung in Europa geleistet. Wir haben bei der Umsetzung der Europa-2020-Strate- gie konkrete, sichtbare Fortschritte gemacht. Das gilt für alle EU-2020-Ziele und ist ausgesprochen erfreulich. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20463 (A) (C) (D)(B) Mit ihrem Antrag, das Nationale Reformprogramm stärker auf soziale Ziele zu fokussieren, hinkt die SPD wieder einmal der Realität hinterher. In dieser Woche hat das Statistische Bundesamt Zahlen zum europäischen Vergleich bei der Armutsgefährdung und der Einkom- mensungleichheit veröffentlicht. Fakt ist: Deutschland liegt in Sachen Armutsgefährdung unter dem europäi- schen Durchschnitt und unter dem Durchschnitt der Euro-Länder. Bereits jetzt haben wir die von der EU für 2020 angestrebte Beschäftigungsquote von 75 Prozent praktisch erreicht. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist im Vergleich zum Jahr 2008 um rund 15 Prozent gesun- ken. Der Anteil der Menschen mit Hochschul- oder ver- gleichbarem Bildungsabschluss übersteigt das EU-Ziel deutlich. Wir investieren massiv in Bildung und For- schung. Bildung und Beschäftigung zu sichern ist für uns auch in Zukunft das beste Mittel, um Armut zu be- kämpfen. Flexibilität und Effizienz des deutschen Ar- beitsmarktes sind auch weiterhin entscheidend, um mehr Beschäftigung und Wachstum in Deutschland zu errei- chen. Mit dem Gesetz zur Verbesserung der Eingliede- rungschancen am Arbeitsmarkt sind wir dabei einen we- sentlichen Schritt weitergekommen. Wir setzen gezielte Schwerpunkte – weg von der Versorgung mit Maßnah- men der öffentlich geförderten Beschäftigung, hin zu ei- ner wirkungsvollen Aktivierungs- und Integrations- strategie mit mehr Entscheidungskompetenzen der Vermittler vor Ort. Damit ergänzen wir die Arbeits- marktreformen, die auch von der SPD Mitte des vergan- genen Jahrzehnts eingeleitet wurden. Die Koalition hat diese Reformen weiterentwickelt und zum Erfolg ge- führt. Aber die SPD vollzieht jetzt leider mit ihrem An- trag eine völlige Kehrtwende. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wollen den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Das gefährdet die in Deutsch- land bewährte Tarifautonomie und kostet Arbeitsplätze. Sie wollen die Öffnung der Zeitarbeit rückgängig ma- chen. Und dabei vergessen Sie, dass für viele Arbeitslose gerade dies der Weg in eine dauerhafte Beschäftigung ist. Ihr Antrag ist rückwärtsgewandt. Das, was Sie selbst mit eingeleitet haben und was sich jetzt am Arbeitsmarkt auszahlt, stellen Sie infrage. Deshalb lehnen wir den An- trag ab. Die Bereitschaft der Unternehmen, auch in Zu- kunft weiter einzustellen, hängt wesentlich davon ab, dass der Arbeitsmarkt flexibel bleibt. Genau hierfür steht diese Bundesregierung. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Ausverkauf staatli- chen Eigentums stoppen – Keine Privatisierung der TLG-Wohnungen (Zusatztagesordnungs- punkt 5) Karl Holmeier (CDU/CSU): Ein bekannter deutscher Politiker, der nicht der CSU angehört, hat einmal gesagt: „Opposition ist Mist“. Damit hatte er durchaus recht, denn Gestalten kann man nur in Regierungsverantwor- tung. Opposition hat aber auch etwas für sich, wie man am vorliegenden Antrag der Linken sieht. Denn in der Opposition zu sein, eröffnet offenbar die bequeme Mög- lichkeit, ohne Rücksicht auf jede Sach- und Rechtslage Forderungen zu erheben, die fernab der Realität sind und nichts mit dem zu tun haben, was man unter verantwor- tungsvoller Politik versteht. Ich möchte daher die Gelegenheit nutzen, hier einiges klarzustellen: Erstens. Für alle jene, die die TLG IMMOBILIEN GmbH und die TLG WOHNEN GmbH nicht kennen: TLG steht für Treuhand Liegenschaftsgesellschaft. Das Unternehmen ist 1991 aus der Treuhandanstalt hervorge- gangen. Nachdem diese ihre Tätigkeit Ende 1994 been- dete, wurde die Verantwortung für die Erfüllung ihrer verbliebenen Aufgaben 1995 auf einzelne Gesellschaf- ten des Bundes übertragen. Die noch nicht privatisierten Liegenschaften der Treuhand wurden fortan von der TLG verwaltet. Zweitens. Seit dem Jahr 2000 wurde dann schließlich die Privatisierung der TLG vorbereitet, da ihr Zweck, der Treuhandauftrag, weggefallen ist. Diese Privatisie- rung ist mit dem Wegfall des Treuhandauftrages sogar nach der Bundeshaushaltsordnung zwingend vorge- schrieben, da damit kein wichtiges Interesse des Bundes mehr besteht. Mit ihrer Forderung operiert die Linke in- sofern nahe an der Rechtswidrigkeit. Drittens. Ein solches wichtiges Bundesinteresse lässt sich auch nicht aus der unbestrittenen Verantwortung des Staates herleiten, für bedarfsgerechten und bezahlbaren Wohnraum in Deutschland zu sorgen. Ich will auch gern begründen, warum. Schauen Sie sich doch einfach ein- mal das Portfolio der TLG an. Die Wohnungen der TLG befinden sich im Wesentlichen überhaupt nicht an den Orten, wo Wohnungsengpässe bestehen und wo eventu- ell der Staat zur Stabilisierung des Mietwohnungsmark- tes gefragt wäre. Die Wohnungen der TLG befinden sich vielmehr im Wesentlichen dort, wo es einen ausgewoge- nen Wohnungsmarkt gibt und wo zum Teil sogar Leer- stand herrscht. Die Bundesregierung hat sich hierzu auch bereits in einer Antwort auf eine Anfrage der Grünen im Novem- ber 2011 unter Drucksache 17/7594 geäußert und mitge- teilt, dass „die Steuerungswirkung des TLG-Wohnungs- bestandes auf die ostdeutschen Mietwohnungsmärkte … als gering eingeschätzt“ wird. Vielleicht hätten sich die Kollegen von der Linken diese Antwort zunächst einmal angeschaut. Vor diesem Hintergrund kann ich nicht er- kennen, warum der Staat hier in den Wettbewerb mit pri- vaten Unternehmen treten und ins Immobiliengeschäft einsteigen sollte. Darüber hinaus ist mit Blick auf die Forderung, die TLG-Wohnungen an die Kommunen zu übergeben, zu beachten, dass der Bund aufgrund des EU-Beihilferechts daran gehindert ist, die TLG IMMOBILIEN GmbH und die TLG WOHNEN freihändig zu verkaufen. Der Ver- kauf muss im Rahmen eines europaweit auszuschreiben- den Bieterverfahrens erfolgen. Der Bund hat damit kei- 20464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) nen Einfluss darauf, wer Kaufgebote abgibt. Auch dies kann man in der bereits genannten Antwort der Bundes- regierung vom November nachlesen. Viertens. Im Übrigen möchte ich betonen, dass die christlich-liberale Koalition und die von ihr getragene Bundesregierung die Unterstützung sozial schwacher Haushalte bei der Wohnraumversorgung durchaus ernst nimmt. Denn letztlich ist dies die Aufgabe eines Sozial- staates. Wesentliche Ansatzpunkte hierfür sind die Ge- währung von Wohngeld zur Stärkung der Mietzahlungs- fähigkeit und die soziale Wohnraumförderung. Im Rahmen der sozialen Wohnraumförderung kümmert sich der Staat um die Bereitstellung preiswerter Mietwohnun- gen für sozial schwache Haushalte und die Unterstüt- zung bei der Bildung selbst genutzten Wohneigentums vor allem für Haushalte mit Kindern. Auch die Schaf- fung von behindertengerechtem Wohnraum wird von zahlreichen Ländern und Kommunen gefördert. In diesem Zusammenhang ist aber darauf hinzuwei- sen, dass die Zuständigkeit für die soziale Wohnraumför- derung im Zuge der Föderalismusreform mit Wirkung vom 1. September 2006 vom Bund auf die Länder über- tragen wurde. Für die Wahrnehmung dieser Aufgaben erhalten die Länder zunächst bis einschließlich 2013 vom Bund jährlich 518,2 Millionen Euro. Darüber hi- naus setzt sich der Bund auch direkt im Zusammenhang mit der Privatisierung der TLG dafür ein, dass sozial- schwache Mieter und Menschen mit Behinderung ge- schützt werden. Im Rahmen einer Sozialcharta zum Schutz der Mieter soll verhindert werden, dass nach der Privatisierung aus den Wohnungen der TLG Luxusob- jekte entstehen und sozial schwache Mieter benachteiligt werden. Ich will an dieser Stelle keine plumpe Linken-Schelte betreiben, aber mir zwängt sich vor dem erläuterten Hin- tergrund der Verdacht auf, dass sich die Linke von der Vorstellung volkseigener Betriebe immer noch nicht ganz verabschiedet hat. Aus den Fehlern der Vergangen- heit scheint sie jedenfalls auch fast 22 Jahre nach der Deutschen Einheit in diesem Zusammenhang nichts ge- lernt zu haben. Aber wenn man in der Opposition ist, ist eben doch nicht alles Mist. Denn man kann fordern, was man möchte, sogar die Wiedereinführung volkseigener Betriebe. Hans-Joachim Hacker (SPD): Auch 22 Jahre nach der Gründung der Treuhandanstalt in der DDR hält der Bund immer noch Vermögenswerte aus diesem Bestand. Dazu zählen auch die von der TLG IMMOBILIEN ge- kauften nicht betriebsnotwendigen Immobilien der Treu- handanstalt. Die TLG IMMOBILIEN hat eine erfolgrei- che Sanierungspolitik betrieben und hält in den neuen Ländern Eigentum im Verkehrswert von circa 1,7 Mil- liarden Euro. Dieses verteilt sich auf die Segmente Bü- ros, Einzelhandel, Gewerbe und Wohnen. In der Gesamt- summe der Verkehrswerte stecken 544 Millionen Euro bei Wohnimmobilien. Die Bundesregierung hat die ursprüngliche TLG IMMOBILIEN zu Beginn dieses Jahres in zwei Gesellschaften zerlegt, die TLG IMMO- BILIEN GmbH einschließlich ihrer Tochterunternehmen und die TLG WOHNEN GmbH, die über rund 11 500 Wohnungseinheiten verfügt. Die Bundesregie- rung hat beschlossen, beide Gesellschaften zu veräußern, und zwar im Rahmen eines marktüblichen Bieterverfah- rens, das im Amtsblatt der EU bekannt gegeben ist. Der Bundesfinanzminister plant nach dem gescheiterten ers- ten Privatisierungsversuch im Herbst 2008 aufgrund der damaligen Finanzkrise den Abschluss der Privatisierung der beiden Gesellschaften bis Ende 2012. Eine milliar- denschwere Euro-Einnahme soll dem Bundeshaushalt Kraft verleihen. Dies ist der Hintergrund für den Antrag der Fraktion Die Linke, über den wir beraten. Den Feststellungen, dass Wohnen ein elementares Grundbedürfnis der Men- schen ist, kann sich die SPD-Bundestagsfraktion an- schließen, und die soziale Komponente von öffentlichem Wohneigentum ist unbestritten. Sie ist für uns ein hohes Gut. In Zeiten, in denen zu wenige Wohnungen gebaut werden und die Preise auf dem Mietmarkt steigen, ist ein reiner auf Erlös ausgerichteter Verkauf von bundeseige- nen Wohnungsbeständen im Bieterverfahren auf dem freien Markt das absolut falsche Signal. Wir müssen hier auf allen Ebenen gegensteuern. Dieser Verantwortung kann sich auch der Bund nicht entziehen. Bei künftigen Überlegungen zur Veräußerung von Bundeswohneigen- tum müssen vorrangig Überlegungen angestellt werden, den Einfluss der öffentlichen Hand zu sichern oder ge- nossenschaftliche Erwerbsmodelle zu entwickeln. Nicht die Euro-Zeichen in den Augen des Finanzministers sind der Maßstab, sondern die Aufrechterhaltung eines regu- lierenden Einflusses auf dem angespannten Wohnungs- markt in Deutschland – soweit dies möglich ist. Für die Aufrechterhaltung des Einflusses der öffentlichen Hand stehen die Kommunen. Der Weg muss also in Richtung der Länder beschritten werden, es gibt hierfür Beispiele. Ich erinnere an die Verhandlungen zwischen Bund und den Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Branden- burg über den Verkauf bundeseigener Seengewässer. Die SPD-Bundestagsfraktion hatte in ihrem damaligen An- trag genau diesen Weg beschrieben. Leider ging die Ein- sicht der Koalitionsfraktionen nicht so weit. Nun haben aber Verhandlungen stattgefunden und sind erste Ergeb- nisse erreicht worden. Die SPD-Bundestagsfraktion ist allerdings nicht der Meinung, wie es sich aus dem Antrag der Fraktion Die Linke ergibt, dass die TLG IMMOBILIEN GmbH, die in den Segmenten Büros, Einzelhandel, Gewerbe und Dienstleistungen Immobilien hält, dauerhaft im Eigen- tum behalten soll. Die Übernahme des ursprünglichen Gesamtbestandes resultierte aus der notwendigen Tren- nung von nicht betriebsnotwendigen Immobilien von den Unternehmen der Treuhandanstalt. Die TLG IMMOBI- LIEN war für diesen Bereich von vornherein eine zeitlich befristete Einrichtung. In dem Moment, wo sich Möglich- keiten einer günstigen Veräußerung für den Bund erge- ben, sind diese ernsthaft zu prüfen. Es gibt hier im Gegensatz zum Wohnungsbestand auch nicht die Not- wendigkeit von Kooperationsmodellen mit den Ländern bzw. Kommunen, da nach allgemeiner Kenntnis beide staatlichen Ebenen kein Interesse am Eigentumserwerb derartiger Objekte haben. Auf diese gravierenden Unter- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20465 (A) (C) (D)(B) schiede zwischen den beiden Immobiliengruppen und somit den beiden Gesellschaften des Bundes will ich deutlich hinweisen. Sollte der Bund wie geplant das Bieterverfahren für die TLG IMMOBILIEN – ich meine ausdrücklich nicht die TLG WOHNEN – bis zum 31. De- zember 2005 weiterverfolgen, erwartet die SPD-Bundes- tagsfraktion, dass hierbei die Interessen der Beschäftigten und übergreifende gesellschaftliche Interessen Berück- sichtigung finden. Ich meine hier insbesondere, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen geben darf, dass die Objekte wie bislang im Fortbestand gesichert werden und in die Stadtentwicklung einbezogen bleiben. Für den Verkauf der TLG WOHNEN sieht die SPD- Bundestagsfraktion, wie oben dargestellt, keine Grund- lage. Im Gegenteil: Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen nicht durchzuführen. Wegen der undifferenzierten Antragstellung der Frak- tion Die Linke, die nicht zwischen den Immobilienbe- ständen der TLG IMMOBILIEN GmbH, Gewerbe, und der TLG WOHNEN GmbH, Wohnbestände, unterschei- det, wird sich die SPD-Bundestagsfraktion bei diesem Antrag der Stimme enthalten. Sebastian Körber (FDP): Die SED-Erben der Linksfraktion und das Eigentum – das ist immer wieder ein Kapitel für sich; jetzt bereichern Sie uns mit einer weiteren Kostprobe. Sie wollen – wenig überraschend – keine Privatisierungen der TLG-Wohnungen, weil es Ih- nen natürlich um Ideologie geht. Für mich und meine Fraktion ist Privatisierung aber keine Frage der Ideolo- gie; denn es stellt sich die spannende Frage, was zu den Aufgaben des Staates gehört und was nicht. In der Be- antwortung dieser Frage unterscheiden wir uns als Libe- rale fundamental: Die Linke meint, der Staat könne alles besser, die Gesellschaft wisse am besten, was für den Einzelnen gut ist. Sie haben aus der Geschichte wahrlich nichts gelernt oder sie bewusst verdrängt. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat sich in ihrer Koalitionsvereinbarung zu Recht zu einer grundsätzli- chen Überprüfung staatlichen Beteiligungsbesitzes ver- pflichtet. Konkrete Maßstäbe für diese Überprüfungen sind dabei die Wirtschaftlichkeit der Aufgabenerfüllung sowie ein eindeutiges Nein auf die Frage, ob für eine Be- teiligung an Unternehmen ein „wichtiges Bundesinte- resse“ besteht. Nicht betriebsnotwendiges Vermögen wirtschaftlich zu veräußern – das ist also sowohl das Recht als auch die Pflicht des Bundes. Das gilt auch im Fall der TLG IMMOBILIEN GmbH; wir als FDP begrü- ßen den Verkauf. Der Bund wollte bei seinem ersten Anlauf zur Privati- sierung 2008 die TLG IMMOBILIEN GmbH noch als Ganzes verkaufen. Dies hatte seinerzeit zur Folge, dass vor allem Finanzinvestoren am Erwerb der TLG interes- siert waren. Für strategische Investoren war die TLG zu breit aufgestellt. Der Finanzminister hat daher richtig entschieden, sämtliche Wohnimmobilien in eine separate Gesellschaft – die TLG WOHNEN – zu übertragen, um auf diese Weise einen getrennten Verkauf der Wohnim- mobilien und der Gewerbeimmobilien zu ermöglichen. Hierdurch können die Chancen des Erwerbs durch lang- fristig orientierte Investoren sowie die Chancen auf ei- nen dauerhaften Fortbestand der Unternehmen erhöht werden. Der Verkauf der TLG IMMOBILIEN GmbH und der TLG WOHNEN erfolgt aktuell im Einklang mit dem EU-Beihilferecht im Rahmen eines europaweit aus- zuschreibenden Bieterverfahrens. Es ist schon sehr durchsichtig, in welcher Art und Weise von der Linksfraktion hier mit Ängsten und Ver- unsicherung gearbeitet wird, um daraus politisches Ka- pital zu schlagen. Es wird ja suggeriert, dass Mieter aller ihrer Rechte beraubt werden, wenn der Staat sich von überflüssigen Beteiligungen bei Immobiliengesellschaf- ten trennt. Sie müssen sich doch darüber im Klaren sein, dass die Mieter schon aufgrund des geltenden Mieter- rechts bei einem Kauf geschützt sind. Die Linke behaup- ten in ihrem Antrag, Wohnungsprivatisierungen führten zur Verschlechterung des Mieterschutzes. Richtig ist hingegen, dass wir ein sehr starkes Mietrecht zum Schutz der Mieter in Deutschland haben, eines der stärksten der Welt; das verschweigen Sie bei Ihren An- trägen natürlich immer geflissentlich. Das deutsche Mietrecht lässt Mieterhöhungen nur in engen Grenzen zu und bietet hierzu hinreichend Schutz. Das Mieterhöhungsverlangen des Vermieters darf nicht über die ortsübliche Vergleichsmiete hinausgehen. Wei- tergehende Mieterhöhungen sind nur möglich, wenn durch Modernisierungsmaßnahmen der Gebrauchswert der Wohnung erhöht wird. Zusätzlich kommen in beiden Fällen Kappungsgrenzen zur Anwendung. Die Wohnim- mobilien der TLG befinden sich zu über 90 Prozent in einem qualitativ hochwertigen Zustand, sodass „Luxus- sanierungen“ unwahrscheinlich sind. Der Bund als Verkäufer ist sich darüber hinaus der sozialen Verantwortung gegenüber den Mietern der Wohnimmobilien der TLG bewusst und wird dieser Ver- antwortung gerecht werden, soweit dies zum Schutz der Mieter erforderlich und angemessen ist. Er beabsichtigt daher, mit den Bietern für die TLG WOHNEN Ver- handlungen über den Abschluss einer Sozialcharta zum Schutz der Mieter zu führen. Wie der Verkauf von deut- schen Wohnimmobiliengesellschaften in den vergan- genen Jahren gezeigt hat, ist der Abschluss einer Sozialcharta zum Schutz der Mieter inzwischen bran- chenüblich. Die Linke tischt uns heute wieder allerhand tristen programmatischen Plattenbau auf. Wie das in der Reali- tät ausgesehen hat, wissen wir alle: düstere Trabanten- und verfallene Innenstädte in der DDR und anderen so- zialistischen Staaten, die das Wohnen nicht gerade le- benswert machten. Der TLG-Verkauf ist für mich hingegen ein gutes Beispiel dafür, dass der Staat nicht alles machen kann, sondern dass man es demjenigen überlassen sollte, der es am besten kann. Wir stehen als FDP für den schlanken Staat und eine moderne zukunftsfähige Wohnungspolitik jenseits von Ideologie und linker Symbolpolitik und zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Diesen Kurs wollen wir zum Wohle unseres Landes kon- sequent fortsetzen. 20466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Dass die Linke kon- sequent und stetig gegen den Privatisierungsrausch der Bundesregierung ankämpft, ist Ihnen nicht neu. Das hat mit unserem Verständnis von Sozialstaat und politischer Verantwortung für soziale Gerechtigkeit zu tun. Dass wir aber nun einen Antrag einbringen, der vor allem den Schutz der TLG WOHNEN GmbH vor der Privatisierung zum Inhalt hat, werden manche hier im Haus zumindest merkwürdig finden: Ausgerechnet die Linke setzt sich scheinbar für eine Nachfolgegesellschaft der Treuhandanstalt, der vormaligen Treuhand Liegen- schaftsgesellschaft und jetzigen TLG IMMOBILIEN GmbH, ein. Bemerkenswert ist daran aber vor allem, dass wir au- genscheinlich die einzige Partei sind, die diesen beab- sichtigten Verkauf der TLG GmbH grundsätzlich hinter- fragt. Es geht hier immerhin um eine Bilanzsumme von fast 1,9 Milliarden Euro, wovon allein rund 1,7 Milliar- den Immobilienvermögen sind. Verkauft werden sollen aber nicht schlechthin 11 500 Wohnungen und diverse Gewerbeimmobilien, sondern die TLG IMMOBILIEN GmbH insgesamt, die extra wegen der vermeintlich bes- seren Verkaufsaussichten zum Jahresbeginn 2012 in zwei Gesellschaften aufgespalten worden ist. Angeboten werden auch keine Tranchen von Wohnungsbeständen in den betroffenen Städten Berlin, Dresden, Rostock, Mer- seburg, Stralsund und Halle, sodass sich die Kommunen, kommunale oder regionale Wohnungsgesellschaften an dem – sehr eiligen – „strukturierten Bieterverfahren“ be- teiligen könnten. Ich frage mich, wie zwei Parteien, die angeblich den Mittelstand so sehr ins Herz geschlossen haben und stän- dig von liberaler Chancengleichheit schwafeln, so etwas betreiben können. Das Verfahren läuft vom 8. März bis zum 16. April dieses Jahres. Der Verkauf insgesamt soll in diesem Jahr über die Bühne gehen. Das Bundesministerium der Finanzen sieht ausdrück- lich nur den Verkauf sämtlicher Gesellschaftsanteile an einen oder höchstens zwei Erwerber vor. Zu Beginn zwei Fragen: Erstens. Wer kann das wohl sein? Zwei- tens. Wird mit diesem Verkaufsmodell möglicherweise die Grunderwerbsteuer umschifft? Wohlgemerkt: Das sind keine Schrottimmobilien, die man lieber heute als morgen loswerden müsste, sondern das sind gut vermietete und verwaltete Wohnungen und Gewerbeobjekte, die Jahr für Jahr satte Gewinne abwer- fen. Es ist, als würde man das Huhn, das goldene Eier legt, für einen schnellen Happen zwischendurch schlach- ten. Mit nachhaltiger Haushaltskonsolidierung hat das nicht das Geringste zu tun. Das ist lediglich der untaugli- che Versuch, neu klaffende Haushaltslöcher kurzfristig zu kaschieren. Nicht einmal von „solide stopfen“ könnte hier die Rede sein. Aber dieser wirtschaftliche Unfug ist nur die eine Seite der Medaille. Viel gravierender sind aus meiner Sicht drei charakteristische Denk- und Verhaltensmuster dieser Koalition, die hier wieder einmal deutlich sichtbar werden: Erstens. Mit dem Verkauf öffentlicher Wohnungsbe- stände bedient man nicht nur die privaten Profitinteres- sen von großen Anlegern und internationalen Finanzin- vestoren, für die der deutsche Immobilienmarkt höchst lukrativ ist, sondern man entledigt sich zugleich eines weiteren Stücks politischer Verantwortung für das so- ziale Funktionieren der Gesellschaft. Um den erhofften Verkaufsgewinn nicht zu schmälern, werden die Eig- nungskriterien für die Interessenten möglichst tief ge- hängt. Eine „kurze Begründung der mit dem Erwerb ver- folgten Ziele“ und „Angaben bzw. Nachweise zur finanziellen Leistungsfähigkeit“ sollen nach dem Be- kanntmachungstext des BMF für eine Zuschlagsertei- lung ausreichen. Noch einmal: Hier werden keine leblosen Wohn- und Gewerbeimmobilien verscherbelt, sondern Gesellschaf- ten mit dem jahrzehntelangen Wissens- und Erfahrungs- schatz ihrer Mitarbeiter und – was uns am meisten em- pört – mit allen Mieterinnen und Mietern, die seit vielen Jahren in ihren Wohnungen, in ihren Nachbarschaften, in guten, gewachsenen Wohnlagen leben und dort auch weiter unbehelligt und sicher bleiben wollen. Aber nicht einmal eine Nachbesserung der Mietverträge zum Schutz der Mieter ist bisher vorgesehen. Das ist eiskaltes Kalkül ohne jede soziale Regung oder Rücksichtnahme auf die betroffenen Menschen. Das geht so nicht! Zweitens. Man geht weiter den Irrweg, mit kurzfristi- gen Einmalerlösen strukturelle Defizite kompensieren zu wollen, ohne zu bedenken, dass daraus dauerhafte Mehr- ausgaben an anderer Stelle entstehen. Drittens. Man vertut vor allem die Chance, mit dem Potenzial, das in solchen Vermögenswerten steckt, nach neuen, dauerhaft tragenden Modellen zu suchen. Wenn schon die Bundesregierung kein „wichtiges Bundesinteresse“ mehr am Halten der Wohnungsbe- stände sieht, sollte sie doch zumindest bedenken, dass sehr wohl ein starkes öffentliches Interesse am Erhalt dieser Wohnungen im öffentlichen Eigentum besteht. Schon die verheerenden Erfahrungen, die so manche Kommune mit dem Verkauf ihrer Wohnungsgesellschaf- ten an Finanzinvestoren gemacht hat, sollten dieses Inte- resse eindrucksvoll illustrieren. Unbestreitbar – und inzwischen auch für den letzten Ignoranten unübersehbar – ist, dass wir in Deutschland – speziell in den Großstädten – wieder ein massives Wohnungsproblem haben. Eine Facette dieses Problems ist das Fehlen von bezahlbarem, mietpreisgebundenem Wohnraum in vielen Städten und Regionen der Bundes- republik. Natürlich wissen wir, dass mit 11 500 Wohnun- gen nicht alle Probleme gelöst werden können; aber man kann damit in den Städten, wo sie konzentriert sind, ei- nen Anfang machen. Wenn man politischen Gestaltungs- willen besäße und bereit wäre, Neues zu probieren, könnte man damit Modelle entwickeln, die auch auf an- dere Städte und Regionen übertragbar wären und zur dauerhaften Lösung der Wohnungsprobleme beitragen könnten. Dazu muss aber – und das ist unsere Kernforderung – das laufende Bieterverfahren sofort ausgesetzt, der beab- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20467 (A) (C) (D)(B) sichtigte Verkauf zumindest der Wohnungen sofort un- terbunden werden. Dann: Kleinere Pakete schnüren und mehr Zeit und Gründlichkeit vorsehen, damit sich kom- munale und regionale Wohnungsgesellschaften oder Ge- nossenschaften und die Mieterinnen und Mieter beteili- gen können. Wir stellen uns folgende Schritte vor: Erstens. Zunächst sollte geprüft werden, ob in den be- treffenden Kommunen wirtschaftlich ausreichend starke Wohnungsgesellschaften existieren, die die TLG-Woh- nungen in ihren Bestand übernehmen können. Der Kauf- preis sollte dabei – auch wenn es entgegenstehende ge- setzliche Regelungen gibt – eher symbolisch sein. Schließlich hat die TLG ja nichts für diese Immobilien bezahlt. Sie sind ihr – freundlich ausgedrückt – in den Schoß gefallen. Zweitens. Wenn Kommunen oder kommunale Gesell- schaften die Wohnungsbestände nicht erwerben können oder wollen, sollten Modelle entwickelt werden, bei de- nen die bundeseigenen Wohnungen in Genossenschaften oder Stiftungen übertragen werden. Auch ein Verkauf von Wohnungen an deren Bewohner sollte geprüft wer- den. Drittens. Wo all dies nicht oder noch nicht möglich ist, könnte die TLG IMMOBILIEN GmbH unter klaren Sozialvorgaben die Verwaltung weiter betreiben oder eine Aufgabenübertragung zum Beispiel an die BImA erfolgen, bis ein passfähiges Gesellschaftsmodell für die jeweiligen kommunalen Verhältnisse gefunden ist. Grundsätzlich geht es darum, solidere Grundlagen für kommunale Wohnungspolitik zu schaffen oder sie zu er- weitern und einen Grundstock an Wohnungseigentum in öffentlicher Hand zu sichern. Damit kann ermöglicht werden, sozialen Bedürfnissen zu entsprechen und dabei den gesellschaftlich notwendigen Umbau der Woh- nungsbestände zu Barrierefreiheit und Klimaschutz vo- ranzubringen. Der geplante Verkauf – speziell der TLG WOHNEN GmbH – leistet dazu nichts, und er ist überhaupt kein Beitrag zur Haushaltskonsolidierung oder zum Schul- denabbau. Er verbaut aber Chancen auf neue Denk- und Lösungsansätze, die in der Wohnungswirtschaft drin- gend gebraucht und von dort auch eingefordert werden. Also, Herr Finanzminister, geben Sie diesen untaugli- chen Plan auf, und leisten Sie einmal einen bescheidenen Beitrag, um den dringend notwendigen sozialökologi- schen Umbau der Gesellschaft einen kleinen Schritt vo- ranzubringen! Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zunächst möchte ich der antragstellenden Fraktion für den Antrag zur Privatisierung der TLG recht herzlich danken; denn es bringt ein wichtiges Thema auf die poli- tische Agenda: den Verkauf öffentlichen Immobilien- eigentums. Der Antrag enthält wichtige Passagen wie die Feststellung, dass Wohnen als elementares Grund- bedürfnis Teil der Würde aller Menschen ist und daher staatlichen Schutzes bedarf. Dies deckt sich mit Art. 25 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung …“, sowie mit Art. 13 des Grundgesetzes, in dem die Unverletzlich- keit der Wohnung geregelt ist. Klar ist auch, dass der Bund angehalten ist, ausrei- chende materielle Voraussetzungen zur Wohnraumver- sorgung zur Verfügung zu stellen. Dieser Anforderung kommt der Bund über die Städtebauförderung und so- ziale Wohnraumförderung nach, wobei festgestellt wer- den muss, dass die Städtebauförderung dringend auf 610 Millionen Euro zu erhöhen ist. Mit der Föderalismusreform I wurde den Bundeslän- dern vom Bund die ausschließliche Gesetzgebungsbe- fugnis für das Recht der Wohnraumförderung und der Wohnungsbindung übertragen. Hierfür erhalten sie zur Kompensation bis 2013 jährlich 518,2 Millionen Euro, bis 2019 gibt es noch eine Übergangsfrist. Diese Mittel fließen unter anderem in den Rückkauf von Belegungs- bindungen, was an sich nicht falsch ist. Allerdings wird dadurch nicht der Kern des Problems gelöst. Denn es werden in Deutschland zu wenige Mietwohnungen in den Segmenten niedriger und moderater Preise gebaut. Der geringe Wohnungsneubau in Deutschland konzen- triert sich auf den Bau von Wohneigentum und Miet- wohnungen im Luxussegment. Nach den Erhebungen der Fachkommission Woh- nungsbau/SUBVE Bremen gab es in Deutschland Ende 2008 circa 1,85 Millionen Wohnungen mit einer sozialen Belegungsbindung. Das sind nur knapp 5 Prozent der knapp 40 Millionen Wohnungen in Deutschland. Im Ver- gleich: 2006 waren es noch etwas mehr 2 Millionen Wohnungen mit Belegungsbindung. Es fallen also jähr- lich rund 100 000 Wohnungen aus der Bindung. Hinzu kommt, dass der Bestand zwischen den einzelnen Bun- desländern ungleich verteilt ist. Die Mietpreisbindung zur Sicherung von Wohnraum für einkommensschwache Haushalte ist ein wichtiges Instrument in der Wohnungspolitik. Besonders für die Kommunen bieten der Rückkauf und Erhalt von Bele- gungsbindungen gerade in beliebten zentrumsnahen Stadtquartieren eine Möglichkeit der Einflussnahme auf den Wohnungsmarkt. Angesichts der kommunalen Fi- nanzlage müssen sie hierfür finanzielle Unterstützung aus Wohnraumförderprogrammen erhalten. Leider lässt sich der Erwerb von Belegrechten im Bestand in der Pra- xis nur selten bei einzelnen Vermietern realisieren. Da- rüber hinaus entziehen sich zunehmend die großen Woh- nungsunternehmen diesem Handlungsansatz. Es bleibt festzuhalten, dass eine Mietpreisbindung ein sinnvolles Instrument der Wohnungspolitik ist. Wir haben hierzu in unserem Antrag „Wohnraum in Deutschland zukunfts- fähig machen“, im Gegensatz zum vorliegenden Antrag, konkrete Vorschläge hinsichtlich Mietobergrenzen ge- macht. Bevor ich zur Privatisierung der TLG komme, möchte ich Grundsätzliches zur Privatisierung öffentlichen Woh- nungsbestandes in Deutschland ausführen. Es befinden sich noch knapp 10 Prozent des Wohnungsbestands in 20468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 (A) (C) (D)(B) der Hand von öffentlichen Wohnungsunternehmen, diese sind hauptsächlich im Besitz von Ländern und Kommu- nen. Nach zahlreichen Privatisierungen ist die öffent- liche Wohnungswirtschaft bereits deutlich geschrumpft, obwohl sie bei der Vermeidung von Verdrängungspro- zessen eine wesentliche Rolle spielen kann und soll. So kann sie bezahlbaren Wohnraum für einkommensschwa- che Mieter bereitstellen. In den Bereichen energetische Modernisierung und Barrierefreiheit kann sie eine ent- scheidende Vorbildfunktion erfüllen. Die öffentliche Wohnungswirtschaft muss daher auf allen Ebenen, Län- der und Kommunen, wieder unter anderem durch gezielte Ankäufe oder Wohnungsneubau in verschiede- nen städtischen Lagen – gerade auch in den beliebten innerstädtischen – gestärkt werden. Einen weiteren Verkauf öffentlicher Wohnungen an spekulative Finanz- investoren darf es nicht mehr geben. Müssen öffentliche Wohnungen aufgrund finanzieller Zwänge dennoch ver- kauft werden, sind nachhaltig wirtschaftende Wohnungs- gesellschaften, Genossenschaften oder – bei geeigneten Objekten – auch Mieterprivatisierungen zu bevorzugen. Dennoch: Eine Privatisierung öffentlichen Wohn- eigentums auf den Ebenen der Bundesländer und Kom- munen ist nicht per se abzulehnen und ist im Einzelfall zu prüfen. Es kann aber auch durchaus richtig sein, öffentliches Wohneigentum nicht zu veräußern wie im Fall der Nassauischen Heimstätte in Hessen; hier hat sich die grüne Landtagsfraktion deutlich gegen einen Verkauf ausgesprochen. Nun zur Kernforderung des Antrags „Privatisierung der TLG stoppen“. Einen grundsätzlichen Verkaufs- stopp, wie im vorliegenden Antrag formuliert, lehnen wir Grüne ab. Wir würden den Verkauf an eine sozial und ökologisch nachhaltig wirtschaftende Wohnungs- gesellschaft oder Genossenschaft mit langfristiger Unternehmensplanung sehr begrüßen. Da die TLG WOHNEN en bloc verkauft werden soll, kommt leider eine Mieterprivatisierung nicht in Betracht. Die TLG in eine bundeseigene Wohnungsgesellschaft umzuwandeln, macht angesichts der Größe – 1 151 Ob- jekte, 15 864 Mieteinheiten gesamt, 11 917 Mieteinhei- ten/Wohnen, verteilt über 212 Kommunen – und lokalen Konzentration des Unternehmens auf die neuen Bundes- länder keinen Sinn. Denn aufgrund dieser vorliegenden Rahmendaten ist die TLG als wohnungspolitisches Steue- rungsinstrument des Bundes schlicht nicht geeignet. Selbst wenn man die Wohneinheiten der TLG mit den 40 000 Wohnungen der BImA fusionieren würde, wäre dieses Unternehmen kleiner und hätte eine breitere Streuung ihres Portfolios als die landeseigene Nassaui- sche Heimstätte mit 60 000 Wohnungen in Hessen. Ein wirksames bundesweites Steuerungsinstrument wäre dies weder für die Wohnungsmärkte der neuen Bundes- länder im Besonderen noch für den deutschen Woh- nungsmarkt an sich. Die Einführung von dauerhaft verbindlichen sozialen Kriterien in Form einer Sozialcharta, die verbindlich im Kaufvertrag festgehalten oder direkt in die bestehenden Wohnungsmietverträge integriert wird, begrüßen wir ausdrücklich. Eine für den Käufer verpflichtende barrie- refreie und energetische Sanierung sehen wir, wenn nicht das Kopplungsprinzip beachtet und eine Warmmie- tenneutralität wenigstens angestrebt wird, sehr kritisch, besonders wenn die demografische Entwicklung und die damit verbundenen sinkenden Einwohnerzahlen berück- sichtigt worden. Auch hier bleibt der Antrag sehr unkon- kret bis inhaltsleer. Die Investitionsentscheidung in ei- nem solchen Marktumfeld sollte dem Käufer überlassen werden. Wenn eine Entscheidung hinsichtlich einer In- vestition positiv ausgefallen ist, greifen je nach Umfang der Maßnahmen sowieso die Anforderungen, die in der EnEV formuliert sind. Der Antrag enthält viele wichtige Facetten der real existierenden Probleme auf den Wohnungsmärkten, aber man sollte der Versuchung widerstehen, der Wohnungs- wirtschaft die Rolle einer eierlegenden Wollmilchsau zuweisen zu wollen; das wird sie nicht leisten. Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Finanzen: Die von der Bundesregierung beabsichtigte Privatisierung der TLG IMMOBILIEN GmbH und der TLG WOHNEN GmbH hat rechtliche, haushaltspolitische und wettbewerbspolitische Gründe. Bereits im Jahr 2000 wurde die TLG IMMOBILIEN in ein normales Wirtschaftsunternehmen umgewandelt, mit dem Ziel, sie mittelfristig zu privatisieren. Das Unter- nehmen hat seitdem ein attraktives Immobilienportfolio aufgebaut. Der TLG WOHNEN GmbH wurden mit wirtschaftli- cher Wirkung zum 1. Januar 2012 sämtliche Wohnimmo- bilien der TLG IMMOBILIEN GmbH übertragen. Die TLG WOHNEN GmbH verfolgt keinen öffentlichen Zweck. Die Gründung und die Übertragung der Wohnbe- stände dienten ausschließlich dem Zweck, die Privatisie- rung zu erleichtern. Es ist nicht Aufgabe des Bundes, über eigene Unternehmen Bürgern Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Es gibt keine Legitimation – insbesondere keinen öffentlichen Auftrag – für eine Beteiligung des Bundes an „normalen“ Immobiliengesellschaften wie der TLG IMMOBILIEN GmbH und der TLG WOHNEN GmbH, die im Wettbewerb mit anderen Immobilienunternehmen stehen. Der Bund hat der TLG IMMOBILIEN GmbH seit ih- rer Gründung im Jahre 1991 in erheblichem Umfang Ei- genkapital zur Verfügung gestellt. Die Privatisierung dient daher auch dem Ziel, nach Erfüllung des öffentli- chen Auftrags durch die TLG den Rückfluss der in die TLG investierten Steuermittel in den Bundeshaushalt si- cherzustellen. Der Bund ist auch aus rechtlichen Gründen gehalten, die TLG IMMOBILIEN GmbH und die TLG WOHNEN GmbH zeitnah zu verkaufen: § 65 Abs. 1 der Bundes- haushaltsordnung verpflichtet den Bund, sich von Betei- ligungen an Unternehmen zu trennen, wenn kein wichti- ges Interesse an der Beteiligung des Bundes mehr vorliegt. Bei der TLG IMMOBILIEN GmbH ist das wichtige Bundesinteresse mit dem Wegfall des ehemals öffentlichen Zwecks ihrer Tätigkeit entfallen. Aufgabe Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20469 (A) (C) (D)(B) der TLG IMMOBILIEN in den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts war es, die über 100 000 Immobilien ehe- mals „volkseigener Betriebe“, die ihr von der Treuhand- anstalt übertragen worden waren, an Investoren zu ver- kaufen bzw. in geringerem Umfang zu kommunalisieren oder Alteigentümern zurückzugeben. Diese Aufgabe hat die TLG inzwischen erfolgreich abgearbeitet. Aus den genannten Gründen ist die Bundesregierung dazu verpflichtet, die TLG IMMOBILIEN GmbH und die TLG WOHNEN GmbH zu privatisieren. Ein Stopp der Privatisierung – wie von der Fraktion Die Linke ge- fordert – ist daher nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Aus denselben Gründen ist es auch rechtlich nicht zuläs- sig, deren Wohnungsbestände dauerhaft von einer bun- deseigenen Wohnungsgesellschaft bewirtschaften zu las- sen. Ich will an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass die Bundesregierung schon in der letzten Legislaturpe- riode diese Auffassung vertreten hat. Die damals einge- leitete Privatisierung konnte aber wegen der Krise an den Finanzmärkten nicht realisiert werden. Gegen den Antrag der Fraktion Die Linke, den Woh- nungsbestand in kommunales Eigentum zu überführen, sprechen mehrere Gründe. So ist der Wohnungsbestand der TLG WOHNEN GmbH großflächig auf alle neuen Bundesländer und Berlin verteilt. Kommunen dürfen nur Wohnbestände in der jeweiligen Kommune bewirtschaf- ten. Auch kommunale Wohnungsunternehmen bzw. Wohnungsbaugenossenschaften sind in der Regel nur regional tätig. Die Forderung der Fraktion Die Linke liefe daher darauf hinaus, die TLG-Gruppe bzw. das Unternehmen TLG WOHNEN GmbH zu zerschlagen, um gegebenenfalls einzelne Wohnimmobilienportfolien an Kommunen oder kommunale Wohnungsunternehmen bzw. Wohnungsbaugenossenschaften zu verkaufen. Dies hätte einen Abbau von Arbeitsplätzen und eine Vernich- tung von Werten zur Folge, weil der Wert der TLG WOHNEN GmbH höher ist als der reine Wert ihrer Wohnimmobilien. Im Übrigen ist der Bundesregierung nicht bekannt, dass Kommunen oder kommunale Woh- nungsunternehmen bzw. Wohnungsbaugenossenschaften willens und finanziell in der Lage sind, derartige Woh- nimmobilienportfolien zu erwerben. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung nach euro- päischem Beihilferecht verpflichtet ist, die Privatisie- rung europaweit auszuschreiben. Die Bundesregierung ist daher schon aus Rechtsgründen daran gehindert, mit Kommunen und kommunalen Wohnungsunternehmen bzw. Wohnungsbaugenossenschaften außerhalb eines offenen Bieterverfahrens in exklusive Verkaufsverhand- lungen zu treten. Sie kann lediglich Verkaufsverhandlun- gen mit solchen Interessenten führen, die im Rahmen des nunmehr gestarteten Bieterverfahrens ein Kaufange- bot abgeben. Die Bundesregierung ist sich ihrer sozialen Verant- wortung für die Mieter der Wohnimmobilien der TLG WOHNEN GmbH bewusst und wird ihr gerecht werden. Die Bundesregierung hat bereits am 2. November 2011 als Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Ausdruck gebracht, dass sie beabsichtigt, mit den Bietern eine Sozialcharta zum Schutz der Wohnungsmieter abzuschließen. Dies möchte ich heute noch einmal bekräftigen. Die Bundesregierung legt bereits im Vorfeld der Transaktionsplanung großen Wert darauf, die Interessen und Schutzbedürfnisse der Mieter im Prozessverlauf durchgängig zu berücksichti- gen und zu wahren. Sie wertet zu diesem Zweck unter anderem Wohnungsprivatisierungen der vergangenen Jahre systematisch darauf aus, welche Gestaltungsmerk- male in Transaktionen sich zugunsten einer nachhaltigen Gewährleistung des Mieterschutzes ausgewirkt haben, aber andererseits auch, welche Fehler und Versäumnisse zu sehen waren und zu vermeiden sind. Es ist erklärtes Ziel der Bundesregierung, den Mieter- schutz als wichtiges Strukturmerkmal des Privatisierungs- prozesses für das TLG-Portfolio fest im Transaktionspro- zess zu verankern, soweit dies unter beihilferechtlichen Aspekten zulässig ist. Das Bundesfinanzministerium steht hierzu bereits im Dialog mit Mietervertretern. Die Bundesregierung wird sich insbesondere dafür starkmachen, ältere und behinderte Mieter vor Nachtei- len zu schützen. 172. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3, ZP 2 Europäischer Stabilitätsmechanismus undFiskalpakt TOP 4 Bürgerfreundliche Infrastruktur TOP 36, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 37, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache TOP 5 Abbau der kalten Progression TOP 6 Privilegien der energieintensiven Industrie TOP 7 Änderungen im Recht der erneuerbaren Energien TOP 8 Betreuungsgeld TOP 9 Stärkung der europäischen Finanzaufsicht TOP 10 Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik TOP 11 Pressefreiheit im Straf- und Strafprozessrecht TOP 12 Hochschulpakt TOP 13 Internationaler Währungsfonds TOP 14 Akteneinsichtsrechte TOP 15 Europäische Bank für Wiederaufbau undEntwicklung TOP 16 Bildungs- und Teilhabepaket TOP 17 Gesetz zum Vertrag mit dem Zentralrat der Juden TOP 18 Sicherung von Wasser und Ernährung TOP 19 Soziale Ziele imNationalen Reformprogramm2012 TOP 20 Steuerabkommen mit der Türkei TOP 21 Soziale Revision der Entsenderichtlinie TOP 22 EU-Richtlinie über die Konzessionsvergabe TOP 23 Amtshilfe der Bundeswehr im Inland TOP 24 Instrumente der Förderung der Medienvielfalt TOP 25 Rahmenprogramm Gesundheitsforschung TOP 26 Rücknahmepflicht für Alt-Energiesparlampen TOP 27 Sicherung bezahlbarer Mieten TOP 28 Sicherheit auf Kreuzfahrtschiffen TOP 29 Seearbeitsübereinkommen TOP 30 Erhalt der Schlecker-Arbeitsplätze ZP 5 Privatisierung der TLG-Wohnungen Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717200000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir
noch einige vom Deutschen Bundestag zu entsendende
Mitglieder bzw. stellvertretende Mitglieder des Stif-
tungsrates der Kulturstiftung des Bundes zu wählen.

Die Fraktion der CDU/CSU schlägt für die neue Pe-
riode dieses Stiftungsrates wiederum erstaunlicherweise
den Bundestagspräsidenten als ordentliches Mitglied
sowie die Kollegin Dorothee Bär und den Kollegen
Wolfgang Börnsen als stellvertretende Mitglieder vor.

Für die SPD-Fraktion sollen Vizepräsident
Dr. h. c. Wolfgang Thierse als ordentliches Mitglied
und der Kollege Siegmund Ehrmann als stellvertreten-
des Mitglied bestellt werden.

Die Fraktion der FDP benennt als ordentliches Mit-
glied den Kollegen Hans-Joachim Otto.

Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? –


(Otto Fricke [FDP]: Gerade wegen des Letzten!)


– Auch die Zwischenrufe werden wie immer sorgfältig
registriert, Herr Kollege Fricke. – Im Ergebnis ist das der
Fall. Dann sind die Kollegin Bär und die genannten Kol-
legen in den Stiftungsrat der Kulturstiftung des Bundes
gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Wettbewerbsnachteile für deutsche Unterneh-
men wegen Nichterfüllung der Frauenquote
bei den Führungskräften

(siehe 171. Sitzung)


ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Stabilisierungsmechanismusge-
setzes

– Drucksache 17/9145 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 36

Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Daniela Wagner, Lisa Paus, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Städtebauliche Qualität des Regierungsviertels
verbessern

– Drucksache 17/9171 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 37

a) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 417 zu Petitionen

– Drucksache 17/9177 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 418 zu Petitionen

– Drucksache 17/9178 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


c) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 419 zu Petitionen

– Drucksache 17/9179 –

d) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 420 zu Petitionen

– Drucksache 17/9180 –

e) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 421 zu Petitionen

– Drucksache 17/9181 –

f) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 422 zu Petitionen

– Drucksache 17/9182 –

g) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 423 zu Petitionen

– Drucksache 17/9183 –

h) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 424 zu Petitionen

– Drucksache 17/9184 –

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Steffen Bockhahn, Halina Wawzyniak,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Ausverkauf staatlichen Eigentums stoppen –
Keine Privatisierung der TLG-Wohnungen

– Drucksache 17/9150 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 33 und 36 e werden ab-
gesetzt.

Schließlich mache ich noch auf drei nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkt-
liste aufmerksam:

Der am 22. März 2012 in der 168. Sitzung überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(13. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden:


Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Transplantationsgesetzes

– Drucksache 17/7376 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Der am 22. März 2012 in der 168. Sitzung überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(13. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden:


Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Kauder, Dr. Frank-Walter Steinmeier, Gerda
Hasselfeldt, Rainer Brüderle, Dr. Gregor Gysi,
Renate Künast, Jürgen Trittin sowie weiteren Ab-
geordneten eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Regelung der Entscheidungslösung im
Transplantationsgesetz

– Drucksache 17/9030 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Der am 8. März 2012 in der 165. Sitzung überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechts-
ausschuss (6. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen
werden:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, Wolfgang
Wieland, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Beobachtung und Überwachung von Mitglie-
dern des Deutschen Bundestages durch deut-
sche Geheimdienste

– Drucksache 17/8797 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann kön-
nen wir so verfahren.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a bis h sowie den
Zusatzpunkt 2 auf:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über
Stabilität, Koordinierung und Steuerung in
der Wirtschafts- und Währungsunion

– Drucksache 17/9046 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012
zur Einrichtung des Europäischen Stabilitäts-
mechanismus

– Drucksache 17/9045 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am

(ESMFinanzierungsgesetz – ESMFinG)


– Drucksache 17/9048 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Bundesschulden-
wesengesetzes

– Drucksache 17/9049 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

e) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zu dem Beschluss des Europäischen
Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des
Artikels 136 des Vertrags über die Arbeits-
weise der Europäischen Union hinsichtlich ei-
nes Stabilitätsmechanismus für die Mitglied-
staaten, deren Währung der Euro ist

– Drucksache 17/9047 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Kirsten Tackmann,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Europäischen Stabilitätsmechanismus ableh-
nen, europäisches Investitionsprogramm auf-
legen
– Drucksache 17/9146 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Ratifizierung des Fiskalvertrags ablehnen –
Ursachenorientierte Politik zur Krisenbewälti-
gung einleiten
– Drucksache 17/9147 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Andrej Hunko, Thomas Nord,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Grundlegende Reformen der EU-Verträge
umsetzen – Änderungen von Artikel 136 des
Vertrags zur Arbeitsweise der Europäischen
Union verhindern
– Drucksache 17/9148 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Stabilisierungsmechanismusge-
setzes
– Drucksache 17/9145 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Ich mache darauf aufmerksam: Hier geht es insbeson-
dere um den Aspekt der Parlamentsbeteiligung bei sol-
chen europäischen Mechanismen. Da sich dazu eine
verständliche, aber im Kern glücklicherweise unnötige
Besorgnis artikuliert hat, mache ich darauf aufmerksam,





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


dass wir entsprechende ähnliche Texte auch für die übri-
gen heute auf der Tagesordnung stehenden Vertrags-
werke in den Fraktionen bereits nicht nur verfügbar ha-
ben, sondern sich auch da ein ähnlich breiter Konsens
abzeichnet, wie er diesem gerade zuletzt genannten Ge-
setzentwurf zur Änderung des Stabilisierungsmechanis-
musgesetzes zugrunde liegt.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Auch hierzu
sehe ich keine Änderungswünsche. Dann ist so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Bundesminister der Finanzen Dr. Wolfgang
Schäuble.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit den
Gesetzentwürfen zur Schaffung einer Fiskalunion und
eines dauerhaften Stabilitätsmechanismus schaffen wir
einen weiteren wichtigen Baustein zur Überwindung der
Vertrauenskrise in den Finanzmärkten, um die Lage der
Wirtschaft und des Arbeitsmarktes in Europa nachhaltig
zu verbessern.

Man muss daran erinnern, dass als Folge der Finanz-
und Bankenkrise in den Jahren 2007 und 2008 die wach-
sende Staatsverschuldung in fast allen Industrieländern
von den Finanzmärkten zunehmend – und eigentlich
zum ersten Mal – als ein Risiko empfunden worden ist
und zu einer entsprechenden Verunsicherung auf den
Finanzmärkten geführt hat. Aus der wachsenden Staats-
verschuldung einer Reihe von Mitgliedsländern in der
Euro-Zone haben sich Gefahren für nachhaltiges Wachs-
tum ergeben, und das hat zu einer allgemeinen und sich
verstärkenden Verunsicherung geführt.

Damals bestand in Europa und weltweit Einigkeit da-
rüber, dass die Ursachen die zu hohen Defizite in den öf-
fentlichen Haushalten fast aller Industriestaaten sind und
dass zugleich eine zu geringe Wettbewerbsfähigkeit in
einer Reihe von Mitgliedstaaten der Europäischen Union
zusätzlich zu Spannungen in dieser gemeinsamen euro-
päischen Währung führt.

Es bestand Einigkeit darüber, dass diese Probleme nur
dadurch gelöst werden können, dass die Ursachen der
Krise in den betroffenen Ländern angegangen werden.
Deswegen führt kein Weg daran vorbei, dass wir die
Krise in den betroffenen Ländern bekämpfen, indem wir
die Defizite reduzieren und die Wachstumsperspektiven
und die Wettbewerbsfähigkeit durch entsprechende
Strukturreformen verbessern bzw. stärken. Es war inter-
national völlig einvernehmlich, dass wir dazu eine ba-
lancierte Politik aus wachstumsfördernden Maßnahmen
und gleichzeitiger Reduzierung der zu hohen Defizite
und zu hohen Staatsverschuldungen brauchen, also eine
wachstumsfreundliche Defizitreduzierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das entspricht exakt der Finanz- und Wirtschaftspoli-
tik der Bundesregierung, die wir seit Beginn dieser Le-
gislaturperiode betreiben und für die wir in der vergan-
genen Woche im Bundeskabinett Eckwerte für den
Haushalt 2013 und für die mittelfristige Finanzplanung
vorgelegt haben.

Es ist gelegentlich diskutiert worden, ob wir den rich-
tigen Pfad eingeschlagen haben. Ich glaube, die bisher
erzielten Erfolge bei der Reduzierung auch unserer als
Folge der Finanzkrise zu hohen Neuverschuldung sowie
die Überwindung der Wachstumsdelle belegen, dass
diese Politik einer wachstumsfreundlichen Defizitredu-
zierung in Deutschland erfolgreich betrieben wird und
dass sie in Europa notwendig ist. Genau diese Politik
müssen wir konsequent fortsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir waren uns in Europa in der zu Beginn des Jahres
2010 eingetretenen Euro-Krise bzw. sogenannten Ver-
trauenskrise im Euro-Raum von Anfang an einig, dass
wir eine solche Politik in allen Mitgliedsländern betrei-
ben müssen. Deswegen war es nicht ein Mangel an Soli-
darität, sondern richtig verstandene finanz- und wirt-
schaftspolitische Verantwortung, dass wir gesagt haben:
Wir dürfen nicht Maßnahmen ergreifen, die dazu führen,
dass die Länder nicht selber die notwendigen Korrektur-
maßnahmen durchsetzen. – Deswegen wäre alles, was
dazu geführt hätte, dass diese Reformen in den betroffe-
nen Ländern nicht ergriffen worden wären, falsch ver-
standene Solidarität gewesen. Das gilt beispielsweise für
die Debatte um Euro-Bonds.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will daran erinnern: Jede Vergemeinschaftung von
Haftung bei gleichzeitigem Fehlen einer entsprechenden
Finanzstruktur und damit verbunden die Ausschaltung
des Marktmechanismus, also des Zinsrisikos, hätten
dazu geführt, den Reformdruck nicht zu verstärken, son-
dern zu verringern. Es wären Fehlanreize gesetzt wor-
den, und genau deswegen haben wir es nicht gemacht.
Vielmehr haben wir gesagt: Wir leisten Hilfe zur Selbst-
hilfe. Wer auch immer Hilfe braucht, um seine Schwie-
rigkeiten bei der Refinanzierung auf den Finanzmärkten
zeitweilig zu überbrücken, bekommt diese Hilfe bei Ver-
einbarung entsprechender Anpassungsprogramme.

Das war der erste Baustein, um die Krise in Europa
Schritt für Schritt zu bekämpfen, und wir sind auf die-
sem Weg erfolgreich. Die Programme funktionieren in
Portugal und in Irland. Andere Länder wie Spanien oder
Italien haben in den letzten Monaten wichtige Maßnah-
men ergriffen, um Fehlentwicklungen nicht fortzusetzen,
um Defizite zu reduzieren und die Wachstumsfähigkeit
durch Strukturreformen zu verbessern.

Selbst in Griechenland, wo wir eine Zeit lang Schwie-
rigkeiten hatten, die getroffene Vereinbarung umzuset-
zen, haben wir jetzt deutliche Fortschritte gemacht. Ich
füge hinzu: Mit dem Schuldenschnitt unter Beteiligung
des Privatsektors, der Anlagegläubiger, in Höhe von
53,5 Prozent hat Griechenland eine Chance, im Laufe
der Jahre zu einer tragfähigen Entwicklung zu kommen.





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will bei dieser Gelegenheit auch sagen: All denje-
nigen, die gesagt haben – es waren viele Interessenver-
treter des Finanzsektors, die sich so geäußert haben –,
das sei gefährlich – was ist nicht alles gesagt worden! –,
dieser Schuldenschnitt könne nicht funktionieren und
werde nicht funktionieren – es ist darauf hingewiesen
worden, was er anrichten könne –, halte ich entgegen:
Wie man sieht, hat es funktioniert. Wir haben mit den
Vereinbarungen, die wir erreicht und durchgesetzt ha-
ben, eine Grundlage geschaffen, dass Griechenland zu
einer Schuldentragfähigkeit kommen kann. Die profes-
sionellen Interessenvertreter und Angstmacher haben
nicht immer recht. Wir haben die richtigen Entscheidun-
gen getroffen. Wir sind auf einem guten Weg, und wir
werden diesen Weg konsequent und entschlossen fortset-
zen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der zweite Baustein ist nun die Schaffung einer dau-
erhaften Stabilitätsunion. Das, was zu Beginn der Euro-
Zone politisch noch nicht erreichbar war, müssen wir
– das ist die richtige Lehre aus der Krise – jetzt schaffen.
Das, meine Damen und Herren, haben wir mit dem Ent-
wurf dieses Fiskalvertrages erreicht. Alle Länder der
Euro-Zone und acht weitere Länder der Europäischen
Union verpflichten sich – das hätte vor einem Jahr noch
niemand in Europa für denkbar gehalten –, in ihre natio-
nalen Verfassungs- und Rechtsordnungen Schulden-
bremsen einzuführen, die der Schuldenbremse des deut-
schen Grundgesetzes vergleichbar sind.


(Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Das zeigt, Herr Kollege Trittin: Es gibt einen grundsätz-
lichen Einstellungswandel in Europa, was die Nachhal-
tigkeit von tragfähigen Haushalten anbetrifft. Das ist der
entscheidende Erfolg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese Schuldenbremsen werden eingeführt. Es wird
überprüft, dass sie dem entsprechen, was im Fiskalver-
trag vereinbart worden ist. Man kann gegebenenfalls den
Europäischen Gerichtshof anrufen. Es muss durchge-
setzt werden. Auch dies ist ein entscheidender Schritt.

Im Übrigen muss man den Fiskalvertrag natürlich im
Zusammenhang mit den verstärkten Überwachungsmög-
lichkeiten in Bezug auf die Haushalts- und Wirtschafts-
politik aller Mitgliedstaaten der Euro-Zone sehen, die
wir im sogenannten Sixpack Ende 2011 in Kraft gesetzt
haben. Mit diesen Maßnahmen – Fiskalvertrag plus Six-
pack – erhält der Stabilitäts- und Wachstumspakt zum
ersten Mal Zähne. Jetzt kann er durchgesetzt werden.
Jetzt können sich die Fehler der Vergangenheit nicht
mehr wiederholen. Der italienische Ministerpräsident
hat dieser Tage daran erinnert – Herr Kollege Gabriel,
Sie waren gerade in Paris; es ist ganz wichtig, Monti ge-
nau zuzuhören –: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt
war im Prinzip richtig. Falsch war nur, dass er durch

Deutschland unter der rot-grünen Regierung und durch
Frankreich


(Rainer Brüderle [FDP]: So ist es!)


massiv gebrochen und damit zerstört worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen müssen wir aus den Fehlern der Vergan-
genheit lernen.


(Zurufe von der SPD und der LINKEN)


– Sie hören es nicht gern. Ich bin sehr dafür, dass wir im
Zuge der europäischen Entwicklung im Rahmen der
politischen Familien miteinander Wahlkampf machen;
ich bin aber auch dafür, dass wir die Fehler, die wir in
europäischer Solidarität miteinander schon wieder an-
kündigen, rechtzeitig als solche erkennen. Wenn Sie
glauben, Sie könnten nachhaltiges Wachstum in Europa
dadurch fördern, dass Sie die zu hohe Staatsverschul-
dung weiter erhöhen, machen Sie genau die Fehler, die
uns in die Krise geführt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das dürfen wir in Frankreich nicht machen, und das dür-
fen wir in Deutschland nicht machen. Das wäre genau
der falsche Weg. Das wäre die falsche Lehre aus dem,
was eingetreten ist.

Deswegen ist es richtig, dass wir die Mechanismen
des Stabilitäts- und Wachstumspakts verschärfen. Wir
haben jetzt quasi automatische Sanktionen. Wir haben
vor allen Dingen viel stärkere Möglichkeiten zur Ver-
meidung von Fehlentwicklungen. Wir haben die Mög-
lichkeit, durch Haushaltsüberwachung präventiv tätig zu
werden, bei Ungleichgewichten der wirtschaftlichen
Entwicklung in den Mitgliedstaaten früher einzugreifen,
Wirtschaftspartnerschaftsprogramme rechtzeitig durch-
zusetzen. Das alles sind neue Instrumente, die uns in die
Lage versetzen, eine wirkliche Stabilitäts- und Wachs-
tumsunion zustande zu bringen.

Das fügt sich auch in den Zusammenhang ein; denn
natürlich geschieht das alles nicht nur, um Defizite zu re-
duzieren, sondern auch, um nachhaltiges Wachstum si-
cherzustellen. Das ist die Aufgabe und der Sinn unserer
Politik. So wie sich die Finanz- und Wirtschaftspolitik
der Bundesregierung auf dem Arbeitsmarkt in Deutsch-
land konkret für die Menschen auswirkt, so wird es über-
all in Europa sein. Dazu tragen auch der Euro-Plus-Pakt,
den die Bundeskanzlerin im vergangenen Jahr durchge-
setzt hat, und die vielen Initiativen bei, die zusammen
mit dem französischen Staatspräsidenten in den letzten
Monaten ergriffen worden sind, um Wachstumsimpulse
in Europa zu verstärken.

Auf dem Sondergipfel des Europäischen Rats im Ja-
nuar beispielsweise ist eine Reihe von weitreichenden
Beschlüssen gefasst worden, um die Arbeitsmarktlage
etwa in Ländern wie Spanien mit einer Jugendarbeits-
losigkeit, die nahe bei 50 Prozent liegt, dauerhaft zu
verbessern und vieles andere mehr. Auch für den Früh-
jahrsgipfel hat die Bundeskanzlerin eine Reihe von Vor-
schlägen zur Stärkung von Schlüsseltechnologien, zu
strukturellen Reformen – wo nötig, auch am Arbeits-





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)


markt – eingebracht, um die Weichen für dauerhaftes
Wachstum zu stellen. Mit diesen Maßnahmen und einer
Politik solider Finanzen sowie einer Begrenzung der
Haushaltsdefizite und der Gesamtverschuldung werden
wir die Weichen für nachhaltiges Wachstum in Europa
stellen. Meine Damen und Herren, das ist der Sinn dieser
Vertragswerke, die wir heute hier einbringen.

Aber noch einmal: Es muss klar sein, dass wir Wachs-
tum nicht einfach durch höhere Defizite erreichen; das
war übrigens weltweit Konsens. Alle internationalen
Analysen – von G 20, vom IWF, selbst von der OECD,
obwohl wir nicht alle Erklärungen des Generalsekretärs
in diesen Tagen immer nur mit Freude zur Kenntnis ge-
nommen haben – haben immer dasselbe festgestellt: Die
Ursache der Krise war die zu hohe Staatsverschuldung.
Wer dauerhaftes Wachstum will, braucht als eine Vo-
raussetzung solide, tragfähige Haushalte. Der Stabilitäts-
und Wachstumspakt, der Fiskalvertrag – all dies dient
diesem Ziel.

Der nächste Schritt ist übrigens – um auch das zu er-
wähnen, weil gelegentlich gesagt wird, wir würden von
einer Maßnahme zur nächsten gehen; aber das alles hat
Konzept und Sinn –, neben der Bekämpfung der Ursa-
chen in den Mitgliedstaaten, neben der Schaffung einer
dauerhaften Stabilitätsunion, eine zentrale Maßnahme
zur Bekämpfung von Ansteckungsgefahren. Wir haben
für die systemrelevanten Banken in Europa sicherge-
stellt, dass sie alle über genügend Kapital verfügen, da-
mit uns das nicht wieder passiert, was uns 2008/2009
passiert ist. Deswegen haben wir den Bankenstresstest
durchgeführt, der sicherstellt, dass alle systemrelevanten
Banken in der Euro-Zone mit dem nötigen Kapital aus-
gestattet sind. Das ist ebenfalls ein Beitrag im Rahmen
unserer Gesamtstrategie, um die Stabilität unserer ge-
meinsamen europäischen Währung dauerhaft sicherzu-
stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, natürlich gehört als letzter
Baustein – neben der Bekämpfung der Ursachen der
Krise, neben einer dauerhaften Stabilitätsunion und soli-
den Strukturen im europäischen Währungssystem, neben
einer ausreichenden Kapitalausstattung der Banken –
dazu, dass wir für den Fall, dass einzelne Mitgliedslän-
der der Euro-Zone vorübergehend Schwierigkeiten ha-
ben, sich an den Finanzmärkten zu refinanzieren, genü-
gend Mittel zur Verfügung haben, um ihnen Zeit für die
Lösung ihrer Probleme zu kaufen. Das ist die Funktion
des Rettungsschirms oder der Firewall – die Bekämp-
fung von Ansteckungsgefahren im Euro-System als
Ganzem. Wir haben ja gesehen, dass es geradezu blitz-
artig zu einer solchen Ansteckung kommen kann. Des-
wegen ist es gut, dass wir die vorläufige Finanzierungs-
fazilität 2010 kurzfristig und schnell geschaffen haben.

Aber wir haben im Übrigen schon damals gesagt – da
werden uns, völlig wahrheitswidrig, aus dem Zusam-
menhang gerissene Zitate vorgehalten –, dass diese Kon-
struktion eine vorübergehende Maßnahme ist. Was wir
anstreben, ist eine dauerhafte, stabile Konstruktion. Die
legen wir heute mit den Gesetzentwürfen zum Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus vor. Es ist vorgesehen,

durch einen völkerrechtlichen Vertrag eine internationale
Finanzinstitution mit einem Ausleihvolumen von insge-
samt 500 Milliarden Euro zu gründen. Davon sollen
80 Milliarden Euro von den Mitgliedstaaten als Kapital
eingezahlt werden. Der Rest steht als abrufbares, nach-
schusspflichtiges Kapital zur Verfügung. Damit hat die-
ser Europäische Stabilitätsmechanismus eine dauerhaft
stabile Struktur. Die Bedingungen, unter denen er Hilfe
leistet, sind ähnlich wie bei der EFSF. Es wird immer nur
Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden. Voraussetzungen
hierfür sind Anpassungsprogramme, die mit Ländern,
die entsprechende Hilfe benötigen, vereinbart werden
müssen. Daran wird sich nichts ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone ha-
ben auf ihrem Gipfeltreffen im Dezember verabredet
– es wird dauernd gesagt, wir würden immer etwas ande-
res vorlegen; das ist einfach nicht wahr; man kann das
nur sagen, wenn man die Erklärungen nicht zur Kenntnis
genommen oder schon wieder vergessen hat –, dass die
endgültige Größenordnung des Stabilitätsmechanismus
im März noch einmal überprüft werden soll. Sie haben
bei ihrem Treffen Anfang März die Finanzminister be-
auftragt, diese Überprüfung durchzuführen und die not-
wendigen Schlussfolgerungen daraus Ende des Monats
zu treffen. Das werden wir morgen und übermorgen in
Kopenhagen tun. Ich werde mit dem Vorschlag in diese
Beratungen gehen – den haben wir in dieser Woche sehr
intensiv miteinander besprochen –, dass wir entgegen
dem, was im Vertragsentwurf steht, das Ausleihvolumen
des ESM in Höhe von 500 Milliarden Euro nicht da-
durch reduzieren, dass wir die in den bisherigen Pro-
grammen für Irland, Portugal und Griechenland verein-
barten Hilfszahlungen von den 500 Milliarden Euro
abziehen oder – wie es in der Sprache des Vertrages
heißt – konsolidieren, sondern dass wir die 500 Milliar-
den Euro als zusätzliches Volumen zur Verfügung haben,
um die notwendige Solidarität gewährleisten und um die
Ansteckungsgefahr bekämpfen zu können.


(Zuruf von der SPD: Wo ist denn Schluss? Wo ist denn Ihre rote Linie?)


– Das ist exakt die rote Linie in der internationalen De-
batte. In der internationalen Debatte hat sich seit gerau-
mer Zeit die Erwartung gefestigt – Sie können eine so
hohe Firewall errichten, wie Sie wollen; das nützt gar
nichts –, dass die notwendigen strukturellen Maßnahmen
in Europa ergriffen und die Ursachen der Krise bekämpft
werden müssen. Deswegen habe ich diesen Zusammen-
hang hier vorgetragen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Bekämpfung der Ursachen in den Mitgliedstaaten
ist notwendig. Jeder kehre vor seiner Tür; wir machen es
mit unserer Politik, andere machen es mit ihrer Politik.
Wenn wir eine Struktur für die Stabilitätsunion errei-
chen, die wir in den 90er-Jahren nicht zustande gebracht
haben, dann muss die Firewall nicht mehr so hoch sein.
Wenn wir zusätzlich zu den schon vereinbarten Pro-
grammen ein Ausleihvolumen in Höhe von 500 Milliar-
den Euro in einer stabilen internationalen Finanzinstitu-





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)


tion haben, dann ist das überzeugend, es sei denn, es
fangen wieder alle möglichen Leute an, darüber zu re-
den, dass 3 Milliarden Euro mehr sind als 1 Milliarde
Euro. Das ist wahr, löst aber unser Problem nicht. Wir
brauchen eine glaubwürdige, in sich schlüssige Politik.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja ein hoher Anspruch! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Oh!)


Wir brauchen die drei Programme für Irland, Portugal
und Griechenland. Ich bin ganz sicher, dass die interna-
tionale Gemeinschaft im Internationalen Währungsfonds
den solidarischen Beitrag der Europäer zur Vermeidung
der Ansteckungsgefahr im Euro-System anerkennt und
ihren Beitrag für die globale Weltwirtschaft nicht ver-
weigern wird. Wir treffen unsere Entscheidung in
Europa, so wie es alle von uns erwarten. Mit diesen Ent-
scheidungen werden wir die Verunsicherung auf den
Märkten dauerhaft beseitigen können, es sei denn, es
würde wieder bewusst Verunsicherung geschürt.

Ich will noch ein Wort zum Thema Finanztransaktion-
steuer sagen. Wir brauchen für den Fiskalpakt, wie wir
alle wissen, eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und
im Bundesrat, weil wir uns verpflichten, die Regelungen
unseres Grundgesetzes nicht zu verändern. Das hat ver-
fassungsrechtliche Qualität. Sie haben gesagt, Sie möch-
ten ein glaubwürdiges Bemühen der Bundesregierung
für die Einführung einer Besteuerung des Finanzsektors.
Die Bundesregierung hat sich seit zwei Jahren mit gro-
ßem Nachdruck dafür eingesetzt, dass wir eine Finanz-
transaktionsteuer in den 27 Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union zustande bringen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heiterkeit bei der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einhellig!)


– Einhellig, die ganze Bundesregierung. Entschuldi-
gung, Sie können das alles überprüfen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Legen Sie es nicht darauf an, Herr Schäuble!)


– Es werden wahrheitswidrige Behauptungen durch
Wiederholungen nicht besser. Es ist nicht die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese Bundesregierung hat in ihrer Finanzplanung im
Juni 2010 die notwendigen Entscheidungen getroffen.
Jeder kann es überprüfen, dort stehen sie geschrieben.
Wahr ist aber auch: In den europäischen Verträgen steht,
dass Sie eine europäische Steuer in der Europäischen
Union nur zustande bringen, wenn Sie eine einstimmige
Entscheidung erzielen. So steht es in den Verträgen.
Europa ist eine Gemeinschaft des Rechts; entgegen den
Verträgen kann man nicht handeln.

Ich muss Ihnen wahrheitsgemäß sagen: Die Chancen
sind nicht sehr groß, dass wir einen einstimmigen
Beschluss zustande bringen. Es ist übrigens auch die
Wahrheit, dass die Kommission erst nach einjährigem
Drängen der Bundesregierung und des deutschen

Finanzministers überhaupt einen Vorschlag für eine
Finanztransaktionsteuer entwickelt hat. Zuvor hatte sie
keine Präferenz für diese Lösung.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Das war das Europäische Parlament!)


– Nein, es war die Bundesregierung.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Das ist nicht die Wahrheit, was Sie hier sagen!)


– Herr Gabriel, das ist nicht wahr.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Das ist ein Beschluss des Europäischen Parlaments!)


– Es war das Drängen der Bundesregierung und der fran-
zösischen Regierung. Die Wahrheit ändert sich nicht.
Deswegen sage ich: Wir werden alles Menschenmögli-
che tun, um eine Einigung zustande zu bringen. Wir wer-
den Sie darüber in aller Offenheit informieren. Es fehlt
überhaupt nicht am Drängen der Bundesregierung; wir
suchen gemeinsam nach Lösungen. Es gibt keinen
Grund, daran die Stabilisierung unserer gemeinsamen
Währung scheitern zu lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist der falsche Zusammenhang.

Wir wissen, dass alle diese Diskussionen, Verunsiche-
rungen und Entscheidungen unsere Bevölkerung mit
großer Sorge erfüllen. Deswegen ist es wichtig, dass wir
klar und verlässlich erklären, warum wir welche Ent-
scheidungen treffen. Mit den Entscheidungen, für die
wir heute die Gesetzgebungsverfahren eröffnen, gehen
wir einen entscheidenden weiteren Schritt, um unsere
europäische Währung dauerhaft stabil zu machen, das
Vertrauen der Finanzmärkte zurückzugewinnen und da-
mit eine Voraussetzung zu schaffen, dass wir auch wei-
terhin solides Wirtschaftswachstum als Grundlage von
sozialer Sicherheit haben. Dazu bitte ich Sie um Ihre Un-
terstützung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717200100

Nächster Redner ist der Kollege Frank-Walter

Steinmeier für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1717200200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Verehrter Herr Schäuble, in weiten Teilen war das eine
Rede für Ihre eigenen Regierungsfraktionen, wenn ich
das richtig verstanden habe. Die Ankündigungen, die Sie
hier gemacht haben, werden dort gerne gehört werden.
Nur – auch wenn ich es nicht vorhabe –: Mit Ihren An-
kündigungen und falschen Versprechungen könnte ich
hier meine ganze Redezeit ausfüllen.


(Otto Fricke [FDP]: Das glauben wir Ihnen!)


Davon gab es reichlich von dieser Bundesregierung in
der Vergangenheit.





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])


– Herr Kauder: Kein Cent für Griechenland – wir erin-
nern uns gut. Kein permanenter Rettungsschirm – wir er-
innern uns gut. Auf keinen Fall Hebelungen – haben Sie
auch hier am Podium gesagt. Und ganz sicher waren Sie
sich: Keine Aufstockung des ESM. Keine dieser Zusa-
gen hat länger als drei Monate Bestand gehabt. Aus Ih-
ren roten Linien sind im Verlaufe der Diskussion in
Wahrheit Wanderdünen geworden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das geht doch weiter. Wenn Herr Seehofer, wie ich
gestern gelesen habe, jetzt öffentlich versichert, es bleibe
bei Deutschlands Risiko in der Gesamtgrößenordnung
von 211 Milliarden Euro, dann ist das doch die nächste
Täuschung, die vorbereitet wird. Das dürfen wir nicht
durchgehen lassen.


(Beifall bei der SPD)


Ich habe es öffentlich und auch hier von diesem Pult
aus gesagt: Sie werden mit dem geplanten Volumen für
den ESM nicht hinkommen; nicht, weil andere europäi-
sche Staaten drängen, sondern weil das Vorhaben ökono-
misch nicht aufgeht. Über Monate haben Sie sich mit der
Geste der Empörung dagegengestellt, die Aufstockung
zurückgewiesen, und jetzt stocken Sie doch auf.

Deshalb sage ich: Hören Sie endlich auf, den Men-
schen Sand in die Augen zu streuen. Sagen Sie offen und
ehrlich, was auf unser Land zukommt. Machen Sie
Schluss mit Halbwahrheiten und verschwurbelten Kurs-
korrekturen. Eine solche hat heute hier stattgefunden.


(Beifall bei der SPD)


Stattdessen verfallen Sie wieder in den alten Fehler:
Sie reden die Lage schön. Sie hoffen, dass nach der klei-
nen Beruhigung der Märkte über Weihnachten hinweg
dieser ganze Europa-Griechenland-Rettungsschirm-Alb-
traum endlich vorbei ist: Jetzt noch schnell ein bisschen
Fiskalpakt, dann deutsche Haushaltsdisziplin in ganz
Europa, und dann können wir uns endlich wieder dem
Regierungsalltag zuwenden.

Dieser Alltag besteht aus Klein-Klein und einem
Kleinkrieg im ganzen Kabinett, jeder gegen jeden. All
das können die Leute nicht mehr hören. Das schädigt
nicht nur das Vertrauen in Ihre Politik, sondern auch das
Vertrauen in die ganze deutsche Politik. Wenn es so wei-
tergeht, meine Damen und Herren, dass heute nicht mehr
das gilt, was gestern galt, und morgen nicht mehr das
gilt, was heute gilt, dann – ich sage es Ihnen – werden
wir die Menschen in Deutschland auf dem Weg nach
Europa verlieren. Das darf nicht sein; das dürfen wir
nicht zulassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für mich ist jedenfalls klar: Auch im vierten Jahr
nach der Lehman-Pleite ist diese Krise keineswegs zu
Ende. Herr Schäuble, ich würde gern dieselbe Hoffnung,

denselben Optimismus haben wie Sie. Aber schauen wir
ein bisschen auf die Wachstumszahlen: Da sind eben
nicht nur Griechenland, Portugal und Spanien; da fällt
doch auch Ihnen auf, dass ein gesundes Land wie die
Niederlande plötzlich ins Minuswachstum gerät, sich
Rezession andeutet. Es ist ja wahr: Noch leben wir hier
in Deutschland auf einer Insel der Seligen. Aber jeder,
der ein bisschen ökonomischen Sachverstand hat, der
weiß, dass die roten Zahlen der anderen von heute un-
sere Probleme von morgen sind. Ich wünschte es mir
auch anders. Aber es kann doch nicht sein, dass es allen
um uns herum in Europa schlecht geht und es uns auf
Dauer gut geht; dieser Zusammenhang kann leider so
nicht bestehen. Daran, Herr Schäuble, kann man sich
nicht vorbeiträumen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Großkrisen wie diese haben wir in den letzten Jahr-
zehnten Gott sei Dank nicht allzu häufig gehabt. Aber ei-
nes wissen wir alle miteinander: Erstens sind sie nicht in
wenigen Jahren überwunden. Zweitens erledigt sich
durch Abwarten gar nichts, erst recht nicht von selbst. In
solchen Situationen kommt es auf die Politik an, auf
Mut, Klugheit und Weitsicht in der Politik. Deshalb
brauchen wir jetzt miteinander eine wirklich ernsthafte
Diskussion über die nächste Wegstrecke, die vor uns
liegt. Fiskalpakt und ESM, über die wir heute und in den
nächsten Wochen diskutieren, sind eben nicht der
Schlussstein in einem abgeschlossenen europäischen
Rettungswerk; das sind Zwischenstationen, das sind
Wegmarken.

Vor allen Dingen müssen wir jetzt in dieser Diskus-
sion sagen, wohin denn die Reise insgesamt gehen soll:
Welchen Weg wollen wir in Europa gehen? Wie sieht
unser Langfristkonzept zur Überwindung der Krise aus?
Wie sollen wir in Europa neues Wachstum und neue Be-
schäftigung entstehen lassen? Wie gelingt es uns vor al-
len Dingen, auch die Finanzmärkte an der finanziellen
Bewältigung der Krise zu beteiligen? – Das sind aus
meiner Sicht die drängenden Fragen, die über das Wohl
und Weh in Europa in den nächsten Jahren entscheiden
werden, und zwar mehr noch als der Fiskalpakt, der zu
90 Prozent bereits europäisches Recht ist. Das dürfen
nicht nur unsere Fragen sein, meine Damen und Herren
aus den Regierungsfraktionen; das müssen auch Ihre
Fragen sein. Dass Sie sie nicht stellen, werfe ich Ihnen
vor.


(Beifall bei der SPD)


Sie haben es doch in den letzten Wochen gemerkt:
Eine Zweidrittelmehrheit, wie sie jetzt notwendig ist, ist
in einem Parlament keine Selbstverständlichkeit, auch
nicht im Deutschen Bundestag. Da muss Überzeugungs-
arbeit geleistet werden. Da muss die Bundesregierung
endlich einmal die eigenen internen Konflikte entschei-
den. Das ist Ihre Bringschuld, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Das müssen gerade Dr. Frank-Walter Steinmeier Sie sagen! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind doch in einem Konflikt!)





(A) (C)


(D)(B)


– Herr Kauder, gehen Sie nicht davon aus, dass Ihnen die
Zustimmung zum Fiskalpakt und zum ESM einfach so in
den Schoß fällt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Der Gabriel macht Ihnen schon Ärger!)


Ich sage Ihnen: Gerade weil uns Europa eine Herzensan-
gelegenheit ist, gerade weil wir in der Vergangenheit
eine Opposition waren, die mit Verantwortung umzuge-
hen wusste,


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Stimmen Sie zu?)


werden wir uns die Sache nicht leicht machen.

Wir wollen ein Europa, das neues Wachstum schafft.
Wir wollen ein Europa, das Werte schöpft und nicht nur
Wurmfortsatz der Finanzmärkte ist. Ich sage Ihnen ganz
klar: Was wir nicht hinnehmen werden, ist ein Europa, in
dem jeder zweite Jugendliche arbeitslos ist. Das geht
nicht, und das ertragen wir miteinander nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/ CSU]: Dann holen wir sie halt her zu uns!)


Auf diese Fragen ist bisher keine Antwort gegeben
worden – dröhnendes Schweigen statt neuer Ideen, erho-
bener Zeigefinger statt ausgestreckter Hand. So geht das
in Europa nicht, und so sichern wir auf Dauer auch nicht
die notwendige Stabilität für Deutschland.

Lieber Herr Brüderle und lieber Herr Westerwelle
– Sie sind diejenigen, deren Äußerungen dazu ich gele-
sen habe –: Wenn Sie sich hinstellen und öffentlich
sagen, die SPD werde am Ende sowieso zustimmen
müssen, dann sage ich Ihnen: Das ist genau die Unernst-
haftigkeit, mit der Sie Politik machen


(Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD])


und wegen der Sie im Augenblick reihenweise von den
Wählern in die Bedeutungslosigkeit geschickt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1,2 Prozent!)


Ich habe in den letzten Wochen viel mit unseren euro-
päischen Partnern in Frankreich, Italien oder Finnland
gesprochen. Herr Schäuble, ich habe in Italien viel Auf-
bruch gesehen, auch die wirklich ernsthafte Bereitschaft,
neue Wege zu gehen. Aber ich sage Ihnen auch: Keiner
von meinen Gesprächspartnern war der Meinung, dass
der Fiskalpakt allein ausreicht, um Europa wieder auf
den Wachstumspfad zu bringen. Haushaltsdisziplin ist
notwendig; wem sagen Sie das? Dafür haben wir in der
Großen Koalition gesorgt und nicht Sie!


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben dafür gesorgt, dass die Schuldenbremse in
diesem Land gilt.


(Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/ CSU]: Bald wird sie!)


Ich sage auch: Selbstverständlich muss das, was bei
uns gilt, auch andernorts in Europa gelten; keinen Zwei-
fel darüber.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Und in Nordrhein-Westfalen!)


– Ich weiß gar nicht, was Sie haben. Arbeiten Sie sich an
denen ab, die es angeht, nicht an mir.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Das macht schon der Gabriel! Der arbeitet sich schon an Ihnen ab!)


Fiskalpakt, Haushaltsdisziplin, Einsparung, Schulden
vermeiden, Reduzierung der Neuverschuldung – das ist
alles notwendig. Darüber herrscht gar kein Streit. Aber
Ihnen muss klar sein: Das allein ist noch keine Zukunfts-
sicherung. Sie können nicht daran vorbeigehen: Wenn
27 Staaten in Europa gleichzeitig nichts anderes tun, als
fantasielos zu sparen, dann kann daraus kein Wachstum
entstehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist keine rote Linie, das ist eine ökonomische Bin-
senweisheit, und die kann man doch nicht beiseiteschie-
ben.

Sie müssen sagen, wie in Europa das Wachstum von
morgen entsteht. Dazu gehören Strukturreformen auf der
Ebene der Nationalstaaten, ganz zweifellos.


(Otto Fricke [FDP]: Zum Beispiel?)


– Wer war das mit dem Zwischenruf? Herr Fricke,
glaube ich.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Unverschämt! Der ruft einfach dazwischen!)


Ich weiß gar nicht, was Sie haben. Herr Fricke, ich sage
zu Herrn Schäuble, dass er recht hat: Viele Staaten haben
ein Problem mit ihrer Wettbewerbsfähigkeit.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Aber jetzt frage ich Sie: Was haben Sie getan?


(Otto Fricke [FDP]: Nein, sagen Sie doch mal was!)


Als wir in Deutschland 5 Millionen Arbeitslose hatten,
als unser Land unter der hohen Arbeitslosigkeit ächzte,


(Unruhe bei der CDU/CSU)


als wir hier in Deutschland nationale Strukturreformen
in Gang gesetzt haben, da haben Sie sich zurückgelehnt


(Otto Fricke [FDP]: Wir haben Ihnen doch erst die Mehrheiten im Bundesrat verschafft!)


und Zeitungsseiten gefüllt mit Sätzen wie: Alles zu we-
nig, alles zu kleine Schritte, so kann das nichts werden. –





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)


Heute ruhen Sie sich auf dem aus, was andere geleistet
haben.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ CSU und der FDP – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Das ist der Witz des Tages!)


– Wo ist eine einzige nationale Strukturreform, die Sie
sich zuschreiben können? Keine einzige!


(Beifall bei der SPD)


Als Sie gemeinsam 1998 aus der Regierung gegangen
sind, Herr Fricke,


(Otto Fricke [FDP]: Jetzt sind wir schon bei 98, okay!)


hatten wir ein Rentenrecht, das uns auf einen Beitrags-
satz von 26 Prozent katapultiert hätte. Ohne uns säßen
Sie heute tief im Dreck. Seien Sie also ruhig, was die
Wettbewerbsfähigkeit angeht!


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Die FDP hat ein Problem mit dem Wettbewerb!)


Meine Damen und Herren, ich glaube im Ernst:


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Genau, jetzt machen wir wieder Ernst!)


Wir müssen den Menschen sagen, wo in Zukunft neues
Wachstum entstehen kann. Dazu brauchen wir nationale
Strukturreformen. Ich persönlich glaube: Es wird nicht
gehen ohne Wachstumsimpulse auch von der europäi-
schen Ebene aus. Deshalb sage ich: Wir müssen die vor-
handenen europäischen Strukturfonds voll ausschöpfen.
Beim Reden über Verwendungszweck und Kofinanzie-
rungsregeln darf es keine Tabus geben. Wir müssen die
Ausleihkapazität der Europäischen Investitionsbank er-
höhen. Wir müssen auch ernsthaft über Projektbonds re-
den, und wir brauchen Sofortmaßnahmen zur Bekämp-
fung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Wenn Sie der
Meinung sind, das alles brauchten wir nicht, dann wer-
den Sie die Menschen verlieren; das garantiere ich Ih-
nen.


(Beifall bei der SPD)


Herr Schäuble, die Schaffung von finanziellen Res-
sourcen ist nicht einfach; das weiß ich. Wir gehören ja zu
denjenigen, die schon ein bisschen länger für die Besteu-
erung der Finanzmärkte eintreten. Aber ich würde, an-
ders als Sie, sagen: Die Zahl der Unterstützer für eine
Besteuerung der Finanzmärkte hat nach meiner Wahr-
nehmung in den letzten zwei Jahren eher zugenommen,
international und auch national. Auf nationaler Ebene
sehe ich mit Freude, dass Sie zu den Unterstützern gehö-
ren. Ich sehe aber auch, dass die FDP nach wie vor ab-
seitssteht, sich bei der Besteuerung der Finanzmärkte
ziert, dafür aber halbgare Vorschläge macht wie zum
Beispiel die Übernahme der britischen Stempelsteuer.
Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was Sie da vorschlagen.
Das ist nämlich ein Modell, das vor allen Dingen Klein-
anleger trifft, das aber gerade Derivate und andere ge-
fährliche Finanzmarktprodukte außerhalb der Besteue-

rung lässt. Wer solche Vorschläge macht, der kann nicht
erwarten, dass er in Übereinstimmung mit den Erwartun-
gen der Menschen in diesem Land handelt. Das ist meine
schlichte Analyse.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden uns jedenfalls mit der Haltung in der Re-
gierung „Schäuble dafür und Rösler dagegen“ nicht noch
einmal abspeisen lassen. Wir kommen nur weiter, wenn
die Regierung ihre Selbstblockade bei der Besteuerung
der Finanzmärkte aufhebt. Die Finanzmarktbesteuerung
muss aus meiner Sicht kommen. Es ist jetzt an der Zeit,
sie mit konkreten Schritten vorzubereiten.

Herr Schäuble, wenn dies an Großbritannien schei-
tert, dann werden wir auf der EU-27-Ebene nicht han-
deln können. Wenn die Niederlande innerhalb der Euro-
Zone ein Veto einlegen, dann wird es kurzfristig inner-
halb der Euro-Zone nicht gehen. Ich sage nur: Es gibt
andere Wege, um politische Ziele durchzusetzen, näm-
lich den Weg der verstärkten Zusammenarbeit. Das ist
jetzt gefragt, wenn Sie es wirklich ernst meinen. So viel
dazu.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Des Weiteren möchte ich Ihnen sagen: Jenseits der
Fragen von Wachstum und der Reichweite der Regelun-
gen des Fiskalpakts und des ESM gibt es zumindest aus
unserer Sicht einen rechtlichen Klärungsbedarf, der
nicht von Pappe ist. Das zeigt schon die Notwendigkeit
einer Zweidrittelmehrheit. Hier geht es um Entscheidun-
gen, die wir zu treffen haben, die durchaus tief in die
Verfassungsordnung dieses Landes, vielleicht auch in
die Rechte des Parlaments eingreifen.

Daraus ergeben sich zentrale Fragen, auf die hoffent-
lich nicht nur wir eine klare Antwort brauchen: Wie ver-
hält sich die Schuldenbremse im Fiskalpakt zur nationa-
len Schuldenbremse? Gibt es für Bund und Länder eine
Verschärfung der Regelungen? Wer definiert die konkre-
ten Anforderungen für Konsolidierungspfade? Welche
zusätzlichen Verpflichtungen ergeben sich für die
Länder? Gibt es Konsequenzen für die innerstaatliche
Finanzordnung und auch für das Haushaltsrecht? Und
am Ende die Frage: Wer ist in Zukunft für eventuelle
Verstöße verantwortlich? Sie können doch nicht einfach
eine Unterstützung aus den Reihen des Bundestages er-
warten, wenn diese Fragen nicht beantwortet sind. Des-
halb fordere ich Sie auf – das ist mein Appell –, Antwor-
ten zu geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Machen Sie es sich bitte nicht zu einfach! Ich glaube, da
kann man sich nicht mit drei Sätzen aus den Ministerien
durchwursteln.

Auch Ihre Fraktionen wissen, Herr Schäuble: Bei ei-
ner Reihe von Fragen betreten wir schwieriges verfas-
sungsrechtliches Neuland. Wir wissen, dass das Verfas-
sungsgericht genau hinschaut, dass es die Diskussionen,
die wir hier führen, besonders intensiv verfolgt. Nichts





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)


wäre doch peinlicher – darüber sind wir uns hoffentlich
einig –, als wenn eine Entscheidung, die wir hier mit
großer Mehrheit, vielleicht mit Zweidrittelmehrheit, fäl-
len, anschließend vom Bundesverfassungsgericht kas-
siert würde. Daran kann niemand ein Interesse haben.
Deshalb erwarten wir begründete Antworten auf diese
Fragen.


(Beifall bei der SPD)


All das macht klar: Was wir hier vor uns haben, ist
keine europapolitische Routineentscheidung. Es geht
nicht nur um viel Geld. Darum geht es auch, aber vor al-
len Dingen geht es um den künftigen Weg in Europa.
Die Frage ist, ob Politik mit den Entscheidungen, die wir
jetzt vor uns haben, wirklich Handlungsfähigkeit in
Europa zurückgewinnt oder ob wir weiter mit ängstli-
chem Blick auf die täglichen Ratings und mit ängstli-
chem Blick auf die Märkte gefesselt bleiben.

Wir werden uns unsere Entscheidung nicht leicht ma-
chen. Ich finde, auch Sie dürfen sie sich nicht leicht ma-
chen. Klarheit und Wahrheit sind jetzt gefordert. Nur
dann kann der Deutsche Bundestag in seiner Gesamtheit
verantwortlich entscheiden. Wie genau, das liegt auch in
Ihrer Hand.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717200300

Rainer Brüderle ist der nächste Redner für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1717200400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Präsi-

dent der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, hat
letzte Woche eine positive, ermutigende Einschätzung
der Lage im Euro-Raum abgegeben. Die Währungs-
union ist aus der unmittelbaren Gefahrenzone heraus.
Die Ansteckungsgefahren haben sich merklich verrin-
gert. Das hat einiges mit der Europapolitik der christlich-
liberalen Koalition zu tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und der LINKEN – Thomas Oppermann [SPD]: Was? Das glauben Sie doch selber nicht!)


Wir haben Stein auf Stein gesetzt, Brandmauern
hochgezogen und so die Voraussetzungen für mehr Wett-
bewerbsfähigkeit geschaffen. Diese Brandmauern schüt-
zen den Euro. Ohne die stabilitätspolitische Haltung der
deutschen Regierung wären viele Dämme gebrochen.
Ich sage nur: Euro-Bonds, diese neue Spielart von Zins-
sozialismus;


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Banklizenz für Rettungsschirme; Notenpresse bei den
Rettungsschirmen. Das sind genau die falschen Ansätze.
Herr Draghi sagt auch: Es darf keine Transferunion ge-
ben. Recht hat er.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Europa braucht eine stabilitätsorientierte Politik. Zu
hohe Schulden sind kein Fundament für eine gute wirt-
schaftliche Entwicklung. Ohne stabiles Geld ist ökono-
misch Vernünftiges nicht erreichbar. Stabiles Geld ist die
Geschäftsgrundlage unserer Demokratie. Am Beginn
und Ende der unseligsten Zeit der deutschen Geschichte
standen Geldentwertung, Inflation. Das sollten wir im
Hinterkopf behalten.


(Beifall bei der FDP)


Inflation bedeutet Umverteilung von unten nach oben.
Geldwertstabilität ist stille Sozialpolitik. Diese stabili-
tätsorientierte Politik wird bei uns umgesetzt. Auch in
Europa greift sie. Der Süden Europas macht sich auf den
Weg, ähnlich vorzugehen. Unsere Vorstellungen werden
umgesetzt. Wichtige Reformen werden umgesetzt,
Haushalte konsolidiert, Märkte geöffnet und Beschäfti-
gungshürden abgebaut. Auch Irland berappelt sich. Ich
warte nur noch darauf, dass linke Spruchbeutel wie
Cohn-Bendit sagen, dass neoliberale Talibane am Werk
sind, die das bewerkstelligen.

Wachstum ohne Reformen gibt es nicht. Deshalb neh-
men sich die Vernünftigen in Europa Deutschland als Vor-
bild. Nur Herr Gabriel macht das anders. Er trifft sich mit
François Hollande. Dieser will 75 Prozent Spitzensteuer-
satz, und er will den Fiskalpakt schleifen. Das hat selbst in
der SPD Kopfschütteln ausgelöst. Herr Steinbrück spricht
von einer naiven Vorstellung Hollandes. Herr Gabriel ju-
belt das hoch. Das zeigt: Sie ticken falsch mit Ihrer Poli-
tik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist Gabriel abgeblieben?)


Kollege Steinmeier muss sich fast täglich selbst ver-
leugnen. Steinmeier hat die Zeitarbeit flexibilisiert, er
hat den Spitzensteuersatz gesenkt, er hat die Rente mit
67 unterstützt, er hat die Hartz-Reformen entworfen und
umgesetzt. Herr Gabriel kassiert alle diese Themen wie-
der ein, Herr Steinmeier muss permanent eine Kröte von
Gabriel nach der anderen schlucken. Er muss durch all
die Kröten von Gabriel Halsschmerzen haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Herr Brüderle, mit Fröschen kennen Sie sich ja aus!)


Mit der SPD würde Deutschland wieder in eine Re-
zession hineinsteuern. Schuldenumverteilung, Steuer-
erhöhungen, so sieht Ihr Programm aus. Sie schlingern,
wenn es um Sachfragen geht. Zuerst haben Sie die Grie-
chenland-Hilfe abgelehnt, dann sind Sie eingeschwenkt,
dann drohen Sie mit einem Nein zum Fiskalpakt. Jetzt
wollen Sie Kopplungsgeschäfte machen. Der Europäi-
sche Stabilitätspakt eignet sich nicht zum Basar. Staats-
politische Verantwortung ist gefordert und nicht der bil-
lige Jakob.





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Herrn Steinmeier will ich nicht absprechen, dass er
sich um staatspolitische Verantwortung bemüht. Aber
Herr Gabriel hintertreibt dies. Die Süddeutsche Zeitung
hat gestern offenbart, dass mit SMS-Anweisungen und
Wortgefechten der Kurs von Herrn Steinmeier hintertrie-
ben wird. Mit Textmitteilungen gegen den Fiskalpakt
werden Sie keine zukunftsorientierte Politik betreiben
können. Dass Sie kräftig Schuldenpolitik betreiben, kann
man ja in Nordrhein-Westfalen sehen. Der Haushalt dort
ist verfassungswidrig. Dort machen Sie Schulden, dass
es kracht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Darüber stimmen wir noch ab! Das wird sehr lustig!)


Herr Gabriel will noch die Schulden der Kommunen
vergemeinschaften. Es fehlt nur noch, dass Herr Gabriel
in Dortmund und Essen die Akropolis originalgetreu
nachbauen will.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt noch einen Schoppen Wein und eine Weinkönigin zum Küssen! Dann sind wir auf Ihrem Niveau! Tiefer geht es gar nicht mehr!)


Herr Thierse weiß, wie man das finanziert: Mit einem
Ruhr-Soli will er diese Schulden finanzieren. Es bestä-
tigt sich der alte Satz: Fällt den Sozis etwas ein, muss es
eine neue Steuer sein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Oh! Das ist ein Kalauer!)


Ähnlich verhält es sich mit der Finanztransaktion-
steuer. Es geht Ihnen doch gar nicht darum, Spekulatio-
nen einzudämmen. Sie wollen nur mehr Geld für neue
Konjunkturprogramme kassieren. „Rasen für die Rente“
kennen wir schon. Jetzt wollen Sie „Spekulieren für
mehr Seifenblasenprogramme in Griechenland“. Das ist
die neue Strategie.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind nur zu übertreffen durch Westerwelle, wenn er sagt: Wir sind das letzte Bollwerk der Freiheit! Das gibt es doch gar nicht! Nehmen Sie doch einmal das Land ernst! Immer dieser Klamauk!)


Wir brauchen gangbare Lösungen und keinen Sozial-
populismus. Es gibt zwei Hauptfaktoren dafür, dass wir
keinen optimalen Währungsraum haben. Erstens ist die
Arbeitskräftemobilität zu schwach ausgeprägt, und
zweitens fehlt eine politische Union. In der Tat gibt es
eine erschreckend hohe Jugendarbeitslosigkeit in Spa-
nien und anderen Ländern, aber da können wir ein Stück
helfen, indem wir die Mobilität erhöhen. In Deutschland
haben wir einen Mangel an Auszubildenden, und wir

brauchen Fachkräfte, um die Voraussetzungen für die
Zukunft zu schaffen. Wenn wir Europa ernst meinen,
müssen wir auf dem Arbeitsmarkt entsprechende Mobi-
lität ermöglichen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die politische Union ist die größere Herausforderung.
Wir haben damals mit dem Stabilitätspakt Hilfskonstruk-
tionen geschaffen; diesen hat Grün-Rot zerrissen. Herr
Monti hat gestern zu Recht herausgestellt, dass Grün-
Rot und Frankreich dies zerrissen haben. Er sagte wört-
lich:

Wenn der Vater und die Mutter der Euro-Zone die
Regeln verletzen, kann man natürlich nicht erwar-
ten, dass sich Griechenland daran hält.

So Monti. Er weiß, wovon er redet. Er hatte als Kommis-
sar mit dem Monti-Plan ein Konzept vorgelegt, in dem
dargelegt wird, wie man Wachstum generieren kann.
Dies macht man, indem man den Binnenmarkt reguliert,
und nicht, indem man schuldenfinanzierte neue Kon-
junkturprogramme, Strohfeuerprogramme auflegt. Wir
müssen die Wettbewerbsfähigkeit stärken; so stärken wir
aus der Substanz heraus Europa. Das ist der zielführende
Weg. Das muss umgesetzt werden und nicht das, was Sie
und Hollande sich vorstellen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir müssen jetzt einen Stabilitätspakt II schaffen. Da-
rum geht es heute. Der ESM ist dabei ein zentrales Ele-
ment. Er wird aber erst in Jahren seine volle Schlagkraft
entfalten. Die Mittel werden in Raten eingezahlt. Es ist
ein eigenkapitalunterlegtes Konzept. Diese Verzögerung
der vollen Wirkung können wir nur verhindern, indem
wir bereits belegte Mittel der EFSF bestehen lassen. Wir
erleichtern damit den Übergang zwischen den beiden
Rettungsschirmen. Die EFSF wird sich sozusagen über
die Zeit auswachsen und dann voll in die Wirkungs-
mechanismen des ESM hineinstrahlen. Das ist ein star-
kes Signal an die Märkte und an den IWF, dass er sich
auch weiter hälftig an dem Konzept beteiligt.


(Joachim Poß [SPD]: Hälftig?)


– Ja, er übernimmt die Hälfte. Sie wollen das wohl nicht
verstehen, Herr Poß. Das macht aber nichts. Es ist trotz-
dem richtig.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie so nuscheln! Das versteht man schon akustisch nicht!)


Ich zitiere:

Um die bürgerliche Gesellschaft zu zerstören, muss
man ihr Geldwesen verwüsten.

Das, Herr Gysi, hat der Genosse Lenin erklärt.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


Insofern ist wichtig, dass die bürgerliche Koalition aus
CDU/CSU und FDP nicht zulässt, dass unser Geld in-
stabil wird. Wir stehen für Stabilität, soziale Markt-





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


wirtschaft und ein starkes Europa. Schulden, Arbeits-
losigkeit und Inflation sind rot-grün und dunkelrot.
Wachstum, Stabilität und Beschäftigung sind schwarz
und gelb. Deshalb ist unser Kurs richtig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717200500

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717200600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Brüderle, ich staune, dass Sie Lenin intensiver gelesen
haben als ich.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Jetzt aber mal nicht kokettieren!)


Der EU-Gipfel am 30. Januar 2012 hat den Fiskalver-
trag für 17 Euro-Staaten und acht weitere Staaten mit
Ausnahme Großbritanniens und Tschechiens beschlos-
sen. Der Vertrag soll bis zum 1. Januar 2013 ratifiziert
werden. Aber er ist kein gewöhnlicher Vertrag der Euro-
päischen Union, sondern er befindet sich außerhalb des
EU-Rechts. Es geht um verbindliche Regelungen für die
Staaten zum Schuldenabbau, um die sogenannte Schul-
denbremse in den Staaten, um Sanktionen gegen Staaten,
die gegen Regelungen verstoßen. Mithin geht es um
deutliche Einschränkungen der Budgethoheit der Staaten
und ihrer frei gewählten Parlamente. Dieser Vertrag wird
die Situation in den EU-Staaten grundlegend verändern,
auch und in besonderer Weise in Deutschland.

Zunächst zur Frage des Grundgesetzes. Im Vertrag ist
keine Kündigungsmöglichkeit vorgesehen. Dann ist eine
Kündigung nur nach Völkervertragsrecht, das heißt nach
der Wiener Vertragsrechtskonvention zulässig. Die dort
geregelten Voraussetzungen wie die Unmöglichkeit der
von Deutschland geforderten Leistung oder die grundle-
gende Änderung sämtlicher Umstände werden mit an Si-
cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemals eintre-
ten. Damit bliebe nur die Möglichkeit, dass sich alle
Unterzeichnerstaaten auf eine Aufhebung verständigten –
eine Variante, über die wir ebenso wenig nachzudenken
brauchen.

Die Unkündbarkeit des Vertrages bedeutet, dass die
Artikel, die bei uns die sogenannte Schuldenbremse re-
geln, die uns an EU-Recht und Sanktionen binden – die
Art. 109, 115 und 143 d des Grundgesetzes –, niemals
mehr verändert werden dürfen; ansonsten würde der Fis-
kalpakt verletzt werden. Das Grundgesetz regelt aber in
Art. 79 Abs. 1 und 2 die Zulässigkeit und die Bedingun-
gen für die Änderung des Grundgesetzes. Eine Aus-
nahme bildet das Verbot von bestimmten Änderungen
des Grundgesetzes nach Art. 79 Abs. 3; dazu später.

Die Art. 109, 115 und 143 d des Grundgesetzes zur
Schuldenbremse und zu den anderen genannten Fragen
fallen nicht unter die Voraussetzungen des Art. 79 Abs. 3
Grundgesetz. Ihre Änderung ist also nach Art. 79 Abs. 1

und 2 des Grundgesetzes zulässig. Wenn das Grundge-
setz aber die Zulässigkeit der Änderung dieser Artikel
ausdrücklich zulässt und ein zu ratifizierender Vertrag
diese Möglichkeit dann tatsächlich ausschließt, ist der
Vertrag grundgesetzwidrig.


(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt einen weiteren, vielleicht noch wichtigeren

Punkt. Jeder Staat darf nach dem Vertrag nur Schulden
in Höhe von 60 Prozent seiner Wirtschaftsleistung ha-
ben. Wir aber haben Schulden von 83 Prozent unserer
Wirtschaftsleistung, nämlich über 2 000 Milliarden Euro.
Wir werden durch den Vertrag verpflichtet, den über-
schießenden Betrag von etwa 500 Milliarden Euro jähr-
lich um 5 Prozent abzubauen. Das heißt, der Bundestag
wird völkerrechtlich gezwungen, 20 Jahre lang jeweils
25 Milliarden Euro an Schulden abzubauen. Trotzdem
dürfen wir noch eine Neuverschuldung von zunächst
0,5 Prozent und dann nur noch von 0,35 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes beschließen. Es handelte sich
um 12 bzw. knapp 9 Milliarden Euro.

Die Regelung einer Neuverschuldung von 1 Prozent
des Bruttoinlandsproduktes gilt nur für gering verschul-
dete Staaten, also nicht für Deutschland.

Kommt es zu der berechneten Neuverschuldung, dann
ist ja auch dieser Betrag eine überschüssige Schuld und
erhöht die abzubauenden 5 Prozent, sodass es dann um
mehr als um 25 Milliarden Euro Schuldenabbau pro Jahr
geht. Das alles greift tief in die Budgethoheit des Bun-
destages ein.

Zusätzlich hat dann ja noch die EU-Kommission zu
prüfen, ob die Kriterien des Vertrages eingehalten wur-
den und kann Korrekturen und, wie auch Herr Schäuble
gesagt hat, verbindlich geregelte Strafen festlegen. Der
Europäische Rat, der aus den Regierungschefs besteht,
kann nur mit qualifizierter Mehrheit solche Festlegungen
wieder aufheben. Für Griechenland wird es diese qualifi-
zierte Mehrheit nie geben, für Deutschland vielleicht
gerade noch.

Hier wird nicht nur europäisch in die Haushaltshoheit
der Staaten eingegriffen, sondern die Regierungschefs
werden auch noch über die Parlamente gestellt, was
unser Grundgesetz ebenfalls ausschließt.


(Beifall bei der LINKEN)

Die Kernfrage im Verhältnis zum Grundgesetz ist

folgende: Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz regelt, dass
bestimmte Teile des Grundgesetzes nie verändert werden
dürfen. Dazu gehören die Grundsätze des Art. 20 Grund-
gesetz. Aus ihnen ergibt sich, dass die Staatsgewalt von
unserem Volk ausgeht und dass nur die im Grundgesetz
geregelten Organe für Gesetzgebung zuständig sind. Es
ist eine bestimmte demokratische Ordnung festgelegt.
Das schließt nach allen Kommentaren die Budgethoheit
des Bundestages ein. Im Lissabon-Urteil vom 30. Juni
2009 bestimmte das Bundesverfassungsgericht diese
Verfassungsidentität wörtlich wie folgt:

Zu wesentlichen Bereichen demokratischer Gestal-
tung gehören … Einnahmen und Ausgaben ein-
schließlich der Kreditaufnahme …

des Bundes.





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


Herr Präsident, Frau Bundeskanzlerin, meine Damen
und Herren von Union, SPD, FDP und Grünen, mit die-
sem Vertrag beginnen Sie die Gründung einer europäi-
schen Föderation, der Vereinigten Staaten von Europa,
und zwar über eine Fiskalunion. Das aber lässt das
Grundgesetz so nicht zu, wie man im Lissabon-Urteil
des Bundesverfassungsgerichts nachlesen kann.


(Beifall bei der LINKEN)


Dafür gäbe es nur einen Weg, nämlich den, endlich
Art. 146 Grundgesetz zu erfüllen, also das Grundgesetz
durch eine durch Volksentscheid angenommene Verfas-
sung zu ersetzen. Dann müssten wir einen neuen Verfas-
sungsentwurf erarbeiten, in den natürlich wichtige
Bestandteile des Grundgesetzes übernommen werden
müssten, und ihn dem Volk zur Entscheidung vorlegen.

Undemokratisch haben Sie, Herr Schäuble, zu einem
Gespräch über den Fiskalvertrag nur Union, SPD, FDP
und Grüne eingeladen. Die waren mit unserer Ausgren-
zung wie immer einverstanden. Vielleicht lohnte es sich
auch für Sie, über diese Verfassungsfragen ernsthaft
nachzudenken.


(Beifall bei der LINKEN)


Höchstwahrscheinlich werden Sie meine diesbezüg-
lichen Ausführungen ignorieren, aber es könnte sein,
dass wir das eines Tages, dann aber alle zusammen, sehr
teuer bezahlen müssen.

Über föderative europäische Strukturen darf man
selbstverständlich nachdenken, aber dann muss es sich
um ein soziales, ein freiheitliches, ein demokratisches
und ein ökologisches Europa der Bevölkerungen han-
deln.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie aber zerstören in Europa den Sozialstaat. Sie zerstö-
ren wichtige demokratische Grundsätze, einschließlich
der Rechte des Europaparlaments. Sie bauen ein Europa
für die Banken und Hedgefonds und nicht für die Bevöl-
kerungen.


(Beifall bei der LINKEN)


Alle anderen Fraktionen sprechen absichtsvoll und
falsch von einer Staatsschuldenkrise. Hier findet aber
eine Verwechslung der Ursachen mit den Folgen statt.
Die Ursache ist ganz eindeutig die Bankenkrise. Hier in
Deutschland mussten wir einen Rettungsschirm von
480 Milliarden Euro aufstellen.

Der EU-Wettbewerbskommissar Almunia – falls Sie
mir nicht glauben – stellte jetzt fest: Allein von 2008 bis
2010 haben die EU-Staaten mehr als 1 600 Milliarden
Euro bzw. 13 Prozent ihrer gesamten Wirtschaftsleis-
tung, also der Wirtschaftsleistung der 27 EU-Staaten, für
die Rettung von Banken ausgegeben. Aber Sie sprechen
von einer Staatsschuldenkrise, damit die Leute glauben,
sie hätten zu viel verbraucht oder, wie Frau Merkel sagt,
über ihre Verhältnisse gelebt. Sie wollen die Banken,
Hedgefonds und Spekulanten aus dem öffentlichen Blick
verdrängen. Das können wir nicht zulassen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn man an diese Summen denkt, die für Banken
zur Verfügung gestellt bzw. einfach so verschenkt wur-
den, und jetzt dieses Affentheater wegen einer Bürg-
schaft von 70 Millionen Euro für 11 000 und mehr
Beschäftigte des Schlecker-Unternehmens erlebt, damit
diese in eine Auffanggesellschaft überführt werden kön-
nen, dann ist das wirklich unerträglich und nicht hin-
nehmbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Was entscheiden Sie weiter? Sie wollen jetzt die euro-
päischen Rettungsschirme zusammenlegen, was Sie frü-
her immer abgelehnt haben. Dann handelt es sich um
einen Betrag von 700 Milliarden Euro. Die deutschen
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haften dann für bis
zu 400 Milliarden Euro.

Jetzt kommt aber die OECD und sagt: 700 Milliarden
Euro reichen nicht aus. Der Betrag muss aufgestockt
werden auf 1 Billion Euro. – Dann hafteten wir übrigens
schon für fast 600 Milliarden Euro; das möchte ich nur
nebenbei einmal sagen. Dann tun Sie so, als ob der Haf-
tungsfall nicht eintritt. Aber ich sage Ihnen: Dieser
kommt schneller und unerwarteter, als Sie das jetzt glau-
ben. Die ganze Entwicklung spricht dafür.

Dann frage ich Sie: Wie wollen Sie das eigentlich
bezahlen? Wovon eigentlich? Wollen Sie einen ganzen
Bundeshaushalt ausfallen lassen? Wollen Sie alle Ein-
richtungen schließen? Merken Sie eigentlich noch, wel-
che irrealen Absurditäten Sie festlegen und unterschrei-
ben? Es ist doch überhaupt nicht verantwortbar, was auf
dieser Schiene passiert.


(Beifall bei der LINKEN)


Wissen Sie, was mich am meisten stört? Dass die
Banken und Hedgefonds aufgrund Ihrer Politik nicht das
geringste Risiko eingehen. Wenn die Deutsche Bank und
andere riesige Profite machen, verteilen sie die an ihre
Großaktionäre und in Form von Boni an ihre leitenden
Angestellten. Aber wenn sie Verluste machen? Na und!
Das bezahlen alles die deutschen Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler. Die Banken haben nichts damit zu tun. Sie
haften noch nicht einmal für ihre schlechte Politik. Ich
finde das nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Erklären Sie das einmal den Bürgerinnen und Bür-
gern, den Handwerkerinnen und Handwerkern sowie
sämtlichen Wirtschaftsunternehmen, die für alle Verluste
haften müssen, nur die Banken und die Hedgefonds
nicht. Dafür haben wir immer die deutschen Steuerzah-
lerinnen und Steuerzahler, die alles übernehmen.

Nein, das ist nicht länger hinnehmbar. Wirklich wahr,
Sie haben sich erpressbar gemacht durch die Banken.
Deshalb sage ich: Sie müssen verkleinert werden. Wir
müssen uns endlich auch eine Insolvenz einer Bank leis-
ten können. Das Sparguthaben der Bürgerinnen und Bür-
ger können wir trotzdem retten. Aber wir müssen die
Banken nicht mehr retten.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Lehman Brothers lässt grüßen!)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


Dann müssen wir die Banken öffentlich-rechtlich gestal-
ten, und dann hätten wir die Sache im Griff, Herr
Kauder, aber nicht mit Ihrer Politik.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Landesbanken!)


Erklären Sie mir doch einmal, warum die Europäische
Zentralbank – übrigens auch wieder durch Steuergelder
finanziert – den großen privaten Banken 1 Billion Euro
für drei Jahre zu 1 Prozent Zinsen zur Verfügung gestellt
hat. Dann hätten Sie das Geld den Banken auch gleich
schenken können. Es ist doch geradezu absurd, was dort
getrieben wird. Wenn die jetzt Kredite an Italien, Spa-
nien, Portugal oder Griechenland vergeben, verlangen
sie mindestens 4 Prozent Zinsen, meistens mehr. Durch
eine Überweisung machen die einen Riesengewinn.

Wieso eigentlich? Warum können wir nicht in solchen
Situationen sagen: „Dann machen wir das doch lieber
direkt mit einer öffentlich-rechtlichen Bank und geben
Staaten in Notsituationen zinsgünstig Kredite“? So
würde man nicht noch für einen Verdienst von Banken
und Hedgefonds sorgen, wie Sie das organisieren.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Inflationspolitik, was Sie hier machen!)


Wir müssen die Finanzmärkte endlich regulieren. Wir
brauchen weder Leihverkäufe noch Hedgefonds; das
alles brauchen wir nicht. Banken müssen reine Dienst-
leister für die Wirtschaft sowie die Bürgerinnen und Bür-
ger werden. Davon sind sie heute meilenweit entfernt.


(Beifall bei der LINKEN)


Da Sie immer von der Schuldenbremse reden, schlage
ich Ihnen eine Millionärsteuer als Schuldenbremse vor.
Was haben Sie eigentlich dagegen? Weshalb müssen die
Handwerker, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die Rentnerinnen und Rentner und selbst die Hartz-IV-
Empfänger das Ganze bezahlen, aber die Vermögenden
bleiben mit ihrem Vermögen vollständig verschont? Sie
müssen davon nicht einen Euro abgeben.

Zwei Beispiele. 2 000 griechischen Familien gehören
80 Prozent des gesamten Vermögens Griechenlands.
Davon müssen sie nicht einen einzigen Euro für die
ganze Krise zahlen. Das erklären Sie einmal den Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den Rentnerin-
nen und Rentnern in Griechenland.


(Beifall bei der LINKEN)


Schauen wir nach Deutschland. Die reichsten 10 Pro-
zent der Bevölkerung besitzen ein Vermögen von 3 Bil-
lionen Euro. Die gesamten Staatsschulden von Bund,
Ländern und Kommunen liegen bei 2 Billionen Euro.
Dann sagen Sie aber diesen 10 Prozent: Um Gottes Wil-
len, von euch wollen wir keinen halben Cent! Wir strei-
chen lieber das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger,
bevor wir von euch auch nur einen Euro nehmen.

Herr Steinmeier, Sie haben sich hier hingestellt und
gesagt, die FDP stecke heute deshalb nicht im Dreck,
weil Sie mit der Agenda 2010 eine unsoziale Politik

gemacht haben. Seien Sie doch als SPD nicht auch noch
stolz darauf! Sie haben damit übrigens auch noch die
Binnenwirtschaft geschwächt.


(Beifall bei der LINKEN)


Abgesehen davon ist Ihre Aussage falsch; denn die FDP
steckt ja nun besonders im Dreck.

Kommen wir zu Griechenland. Griechenland ist der
Vorreiter für eine verheerende, sozial zerstörerische
europäische Politik. Kein Rettungsschirm hat bisher
einer Griechin oder einem Griechen etwas genutzt, nur
den Banken und Hedgefonds. Dazu nur ganz wenige
Zahlen: Seit drei Jahren gibt es bei den Investitionen
einen Rückgang von 50 Prozent. Die Arbeitslosigkeit
liegt jetzt bei 21 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit in
Griechenland liegt jetzt bei 50 Prozent. Es gibt weniger
Steuereinnahmen. Es gibt ein Minuswachstum. Es ist ein
Schuldenanstieg von 50 Milliarden Euro zu verzeichnen.
Die Schulden Griechenlands machen nicht mehr 130,
sondern jetzt 170 Prozent der Wirtschaftsleistung aus.

Was soll das? Wo bleibt denn endlich ein Marshall-
plan zum Aufbau des Landes? Die Gelder aus dem Ret-
tungsfonds gibt es jetzt nur, wenn der Mindestlohn von
751 auf 586 Euro pro Monat reduziert wird, wenn die
Löhne um 22 Prozent gesenkt werden, wenn in diesem
Jahr 15 000 Leute aus dem öffentlichen Dienst und bis
2014 150 000 Leute entlassen werden. In den nächsten
drei Jahren werden die Renten um 14 Milliarden Euro
gekürzt. – Nein, das, was dort passiert, ist nicht mehr
nachvollziehbar. Wollen Sie, dass das Land verelendet?
Woher sollen denn Steuereinnahmen kommen, mit
denen die Kredite zurückgezahlt werden? Das ganze
Geld ist doch in den Sand gesetzt.

Ich glaube, dass Sie Griechenland zahlungsunfähig
machen und aus dem Euro drängen wollen; Bundes-
minister Friedrich hat das schon gesagt. Ich kann Ihnen
nur sagen: Wenn die amerikanischen Ratingagenturen,
die den Euro nicht mögen, weil Saudi-Arabien und
China anfangen wollten, in den Euro und nicht mehr in
den Dollar zu investieren, feststellen, dass es Ihnen
gelungen ist, Griechenland aus dem Euro zu drängen,
dann greifen sie sich Portugal. Dann ist der Euro zer-
stört. Die deutsche Wirtschaft verkauft am meisten in die
Euro-Länder. Stellen Sie sich einmal vor, was geschehen
würde, wenn die europäischen Länder wieder nationale
Währungen hätten und diese abwerten würden, sodass
wir immer weniger verkaufen könnten: Dann bricht doch
unsere Wirtschaft zusammen. Was richten Sie hier
eigentlich an? Das ist wirklich nicht nachvollziehbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Darf ich nur daran erinnern, dass Griechenland der
Erfinder der Demokratie ist, dass wir Griechenland die
größten Philosophen der Antike verdanken, von denen
wir alle noch heute zehren?


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717200700

Herr Kollege, Sie wissen, dass Sie diese nicht einzeln

mit ihren wichtigsten Werken vorstellen können.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717200800

Das verstehe ich. Ich höre auf. Ich fange nicht noch

an, die Philosophen zu zitieren. Das würde die meisten
hier überfordern. Das lasse ich weg.


(Zurufe von der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Arroganter Kerl!)


– Ich danke für Ihre Bestätigung.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Zeit ist um!)


Ich sage Ihnen: Hören Sie auf, uns auszugrenzen. Es
lohnt sich, über all das, was ich gesagt habe, zu diskutie-
ren und nachzudenken. Wenn Sie schon früher auf
unsere Argumente gehört hätten, wären wir jetzt nicht in
einer so verdammt schwierigen, fast schon elenden
Situation.

Danke.


(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717200900

Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717201000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Gregor Gysi, vielleicht würden Ihnen mehr zuhören,
wenn Sie diejenigen, von denen Sie Aufmerksamkeit er-
warten, nicht einfach pauschal für blöd erklärten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Und das von Ihnen!)


Ich will mit einem Zitat anfangen:

„Der ESM bleibt bei 500 Milliarden Euro, also
keine dauerhafte und unkalkulierbare Erhöhung der
Fonds“, sagte Merkel am Freitag nach dem Spitzen-
gespräch mit der deutschen Wirtschaft in München.

Sie fügte hinzu:

„Ich finde das auch ausgesprochen wichtig.“

Das ist eine dpa-Meldung vom 16. März 2012.

Am 14. Dezember 2011 haben Sie hier im Hause eine
Regierungserklärung abgegeben. Da haben Sie erklärt
– ich zitiere –:

Die konsolidierte Obergrenze von EFSF plus ESM
wird bei 500 Milliarden Euro liegen.

Meine Damen und Herren, wir wissen: Das war nicht
die Wahrheit; die Schutzmauer wird größer werden. Ich
könnte nun sagen: Sie agieren erneut nach dem Motto
„Was schert mich mein Geschwätz von gestern?“.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Konrad Adenauer!)


Ich könnte mich lustig darüber machen, dass Alexander
Dobrindt erklärt hat, über solche Aufstockungen würde
er nicht einmal reden. Aber die schlimme Nachricht für
Sie, Frau Bundeskanzlerin, ist: Ich habe Ihnen das schon
damals nicht geglaubt. Ich halte Sie für intelligent, und
ich halte Sie für zu intelligent, Ihre eigene Propaganda
zu glauben. War es eigentlich wirklich klug, den Bürge-
rinnen und Bürgern diese Wahrheit vorzuenthalten? Ist
es klug, nach wie vor die Folgen dieser Wahrheit den
Bürgerinnen und Bürgern gegenüber zu leugnen?

Selbstverständlich ist: Wenn Sie die „Brandmauer“,
wie Herr Brüderle es genannt hat, erhöhen, wenn Sie
dieses Aufblähen fortsetzen, wächst das Haftungsvolu-
men, das wir, die Bundesrepublik Deutschland, einzuge-
hen haben; es wächst auf rund 400 Milliarden Euro. Es
schaffen wohl nur ein Herr Seehofer oder ein Herr
Kauder, uns weiszumachen, dass 400 genauso viel wie
211 seien.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber Sie glauben ja auch, dass es in Europa noch
keine Vergemeinschaftung von Schulden gibt, ungeach-
tet von 213 Milliarden Euro maroder Staatsanleihen, die
mittlerweile bei der Europäischen Zentralbank liegen.
Wissen Sie, was Ihren Umgang mit Zahlen und der
Wahrheit angeht, kann ich nur sagen: Sie leiden an poli-
tischer Dyskalkulie, an einer chronischen Rechenschwä-
che.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dabei ist das gar nicht nötig gewesen. Es ist doch gut,
dass die Wahrheit jetzt auf dem Tisch liegt. Ja, es ist bit-
ter, dass wir einen Rettungsschirm aufspannen müssen;
aber es ist richtig. Wenn die Hose nicht nass werden soll,
dann muss der Schirm auch groß genug sein. Das, was
Sie gemacht haben, ist aber etwas anderes. Sie wollen
heute mit der ersten Lesung sowohl des Gesetzentwurfs
zum ESM wie zum Fiskalpakt ein Junktim aufbauen.
Wir sagen Ihnen: Wir werden diesen Europäischen Sta-
bilitätsmechanismus brauchen, weil wir quasi einen eu-
ropäischen Währungsfonds brauchen, damit die Speku-
lation gegen unsere gemeinsame Währung abgewehrt
wird. Sie sollten dazu stehen. Aber Sie können nicht
dazu stehen, weil sowohl die CSU wie die FDP nicht zu
Europa stehen. Das ist der Grund, warum dieses perma-
nente Geeiere mit den neuen Zahlen und Ähnlichem an
dieser Stelle passiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben versucht, selbst den ESM als geheime Kom-
mandosache am Bundestag vorbei zu organisieren. Das
wird Ihnen das Bundesverfassungsgericht weghauen.

Nun machen Sie etwas anderes. Nun bauen Sie, weil
Sie mit der Solidarität in Europa Spielchen spielen, ein
neues Junktim auf. Ich sage Ihnen: Es ist ein dummes
Junktim.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])






Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)


Wir bekommen mit dem Fiskalpakt, dessen Vorgabe
der Schuldenbremse übrigens nicht einmal mehrheitlich
in den Verfassungen der anderen Staaten verankert wer-
den wird, ein symbolisches Versprechen, dass man die
Neuaufnahme von Schulden begrenzen will. Aber das,
was Sie uns als „Stabilitätspakt mit Zähnen“ verkündet
haben, ist und bleibt mehr oder weniger symbolisch; es
erinnert eher an ein Kukident-Gebiss.

Aber was für einen Sinn macht es eigentlich, heute zu
sagen: „Wir können den ESM und den Fiskalpakt nur
zusammen ratifizieren“? Wenn es richtig ist, dass
Deutschland bei einem Scheitern des Euro der Hauptver-
lierer wäre, dann führt an dem ESM kein Weg vorbei. Es
ist völlig gleichgültig, ob und wann wir an dieser Stelle
den Fiskalpakt ratifizieren. Wir müssen heute den Euro-
päischen Stabilitätsmechanismus auf den Weg bringen.
Wenn es gutgeht, dann gelingt es uns auch, eine Verabre-
dung über eine Schuldenbegrenzung zu erreichen.

Damit Sie mich nicht missverstehen: Eine verantwor-
tungsvolle gemeinsame Haushaltspolitik bzw. eine ge-
meinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa ist
mehr als überfällig. Aber Sie benutzen diese Verabre-
dung als weiße Salbe, als Placebo, als Vademecum für
diejenigen in Ihren eigenen Reihen, die Schwierigkeiten
haben, zu den Notwendigkeiten des Europäischen Stabi-
litätsmechanismus zu stehen.

Was wir heute tun müssen, ist, aus dieser Verabredung
zur Begrenzung von neuen Schulden eine auch ökono-
misch und politisch runde Sache zu machen. Wir müssen
auch und gerade die Defizite des Fiskalpaktes korrigie-
ren.

Die erste Frage dabei ist: Macht ein Fiskalpakt ohne
Frankreich eigentlich Sinn? Frankreich hat erklärt, dass
dieser Fiskalpakt, egal wer regiert, erst im Herbst ratifi-
ziert wird; zu welchen Bedingungen, ist vor den Wahlen
völlig unklar. Wollen wir als Deutscher Bundestag dafür
einfach einen Blankoscheck ausstellen? Ich halte das
nicht für klug.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Peter Altmaier [CDU/CSU]: Wir wollen ein Signal geben!)


Wir sollten neben der Verabredung zu Stabilität einen
Anstoß für Wachstum und Investitionen geben. Denn nur
mit Sparen kommt Europa nicht aus der Krise. 50 Pro-
zent Jugendarbeitslosigkeit: Das ist keine europäische
Stabilität, meine Damen und Herren. Europäische Stabi-
lität beruht auch und gerade auf Gerechtigkeit und Nach-
haltigkeit. Dauerhafte Massenarbeitslosigkeit wird die-
ses Europa zerstören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nein, wir brauchen die Besteuerung von Finanztrans-
aktionen. Eine Stempelsteuer, die Aktien besteuert, Deri-
vate aber nicht, ist ein schlechter Witz, lieber Herr
Brüderle.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das hat er ja gar nicht gesagt!)


Wir brauchen mehr Investitionen in Europa. Deswegen
müssen die Eigenmittel der Europäischen Investitions-
bank aufgestockt werden. Wir brauchen eine Investitions-
offensive für nachhaltige Infrastruktur und zukunftsfä-
hige Jobs.

Wir müssen auch endlich anfangen, nicht nur neue
Schulden zu begrenzen, sondern alte Schulden abzu-
bauen. Was ist mit dem Vorschlag Ihres eigenen Sach-
verständigenrates zu einem Schuldentilgungspakt?

Mit diesen Maßnahmen wird aus dem Fiskalpakt et-
was Vernünftiges und Rundes. Europa muss raus aus der
Schuldenfalle. Wir müssen neue Schulden begrenzen.
Wir müssen alte Schulden abbauen. Wir müssen Speku-
lationen begrenzen, und wir müssen in nachhaltiges
Wachstum investieren.

Das müssen wir jetzt auf den Weg bringen. Dafür ha-
ben wir bis zum Jahresende Zeit, aber vorher müssen wir
den ESM ratifizieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717201100

Das Wort erhält nun der Kollege Volker Kauder für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1717201200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Ja, wir erleben heute einen ganz besonderen Tag im
deutschen Parlament: Wir sollten uns bewusst sein, dass
heute zwei Gesetzespakete in die parlamentarische Bera-
tung eingebracht werden, die für die Stabilität des Euro,
für die Stabilität Europas und für die Zukunft Europas
von entscheidender Bedeutung sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es handelt sich nicht um eine rein nationale, politisch
umstrittene Frage, sondern es geht hier – ich akzeptiere
sehr wohl, dass dies auch von der Opposition so gesehen
wird – um mehr als um eine innenpolitische Diskussion.
Auch deswegen ist es völlig klar, dass die Verantwor-
tung, die jede Fraktion für diese Aufgabe hat, nicht ir-
gendwelchem politischen Kalkül untergeordnet werden
kann. Deshalb, sehr geehrter Herr Kollege Steinmeier,
hätten Sie allen Grund, hier nicht nur zu erklären, wo aus
Ihrer Sicht angeblich Probleme bestehen. Ich hätte schon
erwartet, dass Sie nicht nur Hinweise darauf geben, dass
es innerhalb der Regierung an dem einen oder anderen
Punkt unterschiedliche Auffassungen gibt. Diese gibt es
eigentlich nicht; darauf werde ich gleich noch zu spre-
chen kommen.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Ich glaube, gerade Sie haben keinen Grund, zu lachen.
Der Kollege Gabriel ist schon gar nicht mehr da. Sie ha-
ben ein riesengroßes Problem, zwischen staatspolitischer
Verantwortung und SPD-parteipolitischem Kalkül zu
entscheiden. Das ist Ihr Thema.





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Insofern kann ich nur hoffen, dass sich die Vernunft und
das Verantwortungsbewusstsein, das ich in der Rede von
Frank-Walter Steinmeier gespürt habe, durchsetzen kön-
nen und nicht das, was der Parteitaktiker Gabriel macht.


(Zurufe von der SPD: Oh! – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Der hat doch gar nicht geredet!)


– Da brauchen Sie gar nicht so zu stöhnen. Ich kann
nichts dafür, dass heute auf Seite 1 der Frankfurter All-
gemeinen Zeitung steht, dass Sie sich offen darüber strei-
ten. Es ist kein gutes Signal, wenn man einen solchen
Streit öffentlich austrägt, obwohl man Verantwortung für
die Stabilität in Europa trägt. Das muss man auch einmal
klar und deutlich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen kann ich nur hoffen – das hat auch der Kol-
lege Trittin gesagt –, dass gesehen wird, dass es hier um
eine gemeinsame Position für unser Europa geht.

Ein weiteres Thema. Wir haben uns in dieser Woche
darüber unterhalten, wie wir diese beiden Gesetzespakete
miteinander diskutieren und beraten. Die Vorstellung der
Koalition war, dass wir Ende Mai mit den Beratungen
zum Abschluss kommen können. In der Opposition be-
stand der Wunsch, dass vielleicht noch etwas mehr Zeit
zur Verfügung gestellt wird, dass die Entscheidungen bis
Mitte Juni getroffen werden. Kaum hatten wir das ge-
meinsame Beratungszimmer verlassen, habe ich gelesen,
dass gefordert wird, die Entscheidungen vielleicht doch
erst Ende des Jahres zu treffen. Dazu will ich sagen: Wenn
wir als Koalition auf die Opposition zugehen und gemein-
sam etwas verabreden, dann sollte das länger halten als
bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Fuß das Beratungszim-
mer verlässt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen uns schon an das gemeinsam Vereinbarte
halten.

Herr Kollege Trittin, eine widersprüchliche Aussage
kann nicht zum Programm gemacht werden. Sie haben
gesagt, man könne die beiden Pakete auch voneinander
trennen, und gefragt: „Warum muss der Fiskalpakt zu-
sammen mit dem ESM beraten werden?“


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gute Frage!)


Kaum hatten Sie diesen Satz ausgesprochen, redeten Sie
davon, dass Deutschland seine Führungsrolle ernst neh-
men soll. Deswegen muss von dieser Entscheidung in
Deutschland ein Signal ausgehen. Wir stehen zu den
Dingen, und die anderen werden uns folgen. Unsicher-
heit darf allerdings nicht instrumentalisiert werden. Da-
her müssen die beiden Pakete zusammen behandelt wer-
den, und dafür werbe ich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir waren uns in dem Gespräch auch darin einig,
dass wir die Finanzmärkte beteiligen wollen. Wolfgang

Schäuble hat ausführlich erklärt, was alles von ihm und
von der Bundeskanzlerin bereits gemacht worden ist, um
eine Finanztransaktionsteuer voranzubringen. Jetzt muss
ich auch Ihnen einen Satz sagen, den ich meiner Fraktion
immer wieder sage – sie kann es zum Teil gar nicht mehr
hören, aber es ist wahr –: Politik beginnt mit dem Be-
trachten der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist, dass wir
auf europäischer Ebene die Transaktionsteuer nicht hin-
bekommen und dass wir auch in der Euro-Zone erhebli-
che Probleme haben, die Einstimmigkeit herbeizuführen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Teil des Problems sitzt da drüben!)


Da kann man sich doch nicht an dieses Rednerpult stel-
len und so tun, als ob es das nicht gäbe. Eine solche
Form der Realitätsverweigerung ist in der Politik nicht
hilfreich, Herr Trittin. Das hilft uns überhaupt nicht wei-
ter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie hätten allen Grund, sich aufzuregen, wenn wir ge-
sagt hätten, damit sei die Veranstaltung beendet. Das ha-
ben wir aber gar nicht gesagt, sondern Wolfgang
Schäuble hat hier heute und auch im Gespräch mit Ihnen
ausdrücklich erklärt, dass wir alles daransetzen,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Sie haben gar kein Modell dafür!)


dieses Instrument voranzubringen, dass wir aber für den
Fall, dass das nicht gelingt – das zeichnet sich ab –, eine
Lösung suchen, die nahe – so hat Wolfgang Schäuble
formuliert – daran herankommt.

Da haben Rainer Brüderle und ich vorgeschlagen,
dass wir eine Lösung im Umfeld dessen suchen, was die
Engländer als Stempelsteuer bezeichnen.


(Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Wir haben ausdrücklich gesagt – das will ich hier wieder-
holen, damit Sie das noch einmal hören, Herr Trittin –,
dass wir uns nur eine Lösung vorstellen können, die De-
rivate mit einbezieht.


(Rainer Brüderle [FDP]: Genau so!)


Nichts anderes! Das haben wir beide erklärt, und dabei
bleibt es auch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Selbstverständlich muss darüber hinaus noch etwas
überlegt werden. Es gibt einen weiteren Punkt, und da
sind wir auch gar nicht auseinander. Wir wollen den
schnellen Computerhandel etwas verlangsamen. Wenn
dies auf dem Wege über die Transaktionsteuer, die die-
sen Handel erfassen würde, nicht geht, weil wir in
Europa eine einstimmige Lösung nicht hinbekommen,
dann müssen wir uns überlegen, ob wir nicht eine Mi-
schung aus Besteuerung und Regulierung auf den Weg
bringen. Wir werden aber – das verspreche ich Ihnen –
eine Lösung finden, dass diejenigen, die die Probleme





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


mit verursacht haben, nicht einfach so davonkommen.
Das ist die Zusage. Daran werden wir uns auch halten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


In den Zeitungen lese ich immer wieder, es müsse
eine Wachstumsstrategie entwickelt werden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ist es!)


Ja, völlig richtig! Bei dieser Wachstumsstrategie braucht
man aber gar nicht so geheimnisvoll zu tun. Man braucht
nicht so zu tun, als ob man erst eine große Expertenkom-
mission einsetzen müsse. Wir haben in Deutschland eine
Wachstumsstrategie. Gerade kommt die Meldung, dass
wir im Vergleich zum Vorjahr 182 000 weniger Arbeits-
lose haben; die Jugendarbeitslosigkeit ist erheblich zu-
rückgegangen. Bei uns gibt es Perspektive. Wir haben
also aus Deutschland an Vorschlägen einiges einzubrin-
gen, um die Wachstumsstrategie in Europa voranzubrin-
gen. Das wollen wir auch machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Weil gefragt wird: „Was ist denn da getan worden?“,
will ich noch einmal sagen – normalerweise brauche ich
keinen Zettel, aber jetzt schon –: Im August 2011 gab es
einen gemeinsamen Brief der Bundeskanzlerin und des

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717201300
Die
Struktur- und Kohäsionsfonds sollen stärker als bisher
auf Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet
werden. Im Januar 2012: Sonderrat zum Thema Wachs-
tum auf Initiative der Bundeskanzlerin. Auf dem Früh-
jahrsgipfel 2012 wurden weitere Vorschläge gemacht.
Da kann ich nur fragen: Sind Sie eigentlich blind, oder
lesen Sie nur selektiv? Es ist von dieser Bundesregie-
rung, von der Bundeskanzlerin eine ganze Menge ge-
macht worden, um Wachstumskonzepte in Europa um-
zusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist umgesetzt?)


Jetzt will ich Ihnen einmal etwas sagen – das weiß der
Kollege Steinmeier aus eigener Erfahrung –: Wenn man
entsprechende Reformmaßnahmen auf den Weg bringt,
dann zeigt sich der Erfolg nicht von heute auf morgen.
Wir haben nie bestritten, dass ein Teil von dem, was die
rot-grüne Regierung auch unter Verantwortung von
Frank Steinmeier gemacht hat – nicht alles! –, Deutsch-
land vorangebracht hat. Das Schlimme ist nicht, dass wir
das sagen, sondern das Schlimme ist, dass Sie es nicht
mehr wahrhaben wollen. Das ist das Thema hier.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


So kann man Wachstumspfade natürlich nicht erreichen.
Lieber Herr Kollege Steinmeier, bekennen Sie sich we-
nigstens zu dem, was gut war in der rot-grünen Koali-
tion! Dann kommen wir auf dem Weg auch voran.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das haben wir gerade gehört!)


Ich habe eine herzliche Bitte. Wir alle sollten um die
Verantwortung wissen, die wir jetzt haben, und sollten

uns gemeinsam darauf festlegen, dass wir aus dem Deut-
schen Bundestag heraus für Europa ein starkes Signal
geben wollen. Wir kommen jetzt mit den beiden Paketen
aus einem Krisenmanagement heraus und in eine Stabili-
tätsunion hinein. Wir schaffen jetzt Voraussetzungen,
dass die Märkte nicht jeden Tag fragen müssen: „Wie ist
denn das eigentlich; einigen sie sich bei dem Thema?“
und dass nicht eine Krisennachtsitzung die andere jagen
muss, sondern dass es klare und verlässliche Strukturen
gibt. Da sollten wir nicht wackeln, sondern sagen: Die
beiden Instrumente, die Stabilität in Europa und für den
Euro bedeuten, gehören zusammen. Die bringen wir jetzt
auf den Weg – ein starkes Signal für ein starkes Europa.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717201400

Carsten Schneider erhält nun das Wort für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1717201500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Kauder, die SPD ist sich sehr wohl der
Verantwortung bewusst, die wir für Europa, also auch
für die Stabilität unserer Wirtschaft und Währung, ha-
ben.


(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Dann nehmen Sie sie auch wahr!)


Deswegen haben wir auch nie geleugnet, dass wir
Schutzmauern brauchen, um den Absurditäten der
Finanzmärkte etwas entgegenzusetzen. Wer das geleug-
net hat, waren Sie!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kollege Trittin hat die Zitate gebracht: Der erste
Fonds sei nur für den Übergang, der werde nicht dauer-
haft da sein. – Die 500 Milliarden Euro, die jetzt dauer-
haft da sind, hat die Bundeskanzlerin nach dem Europäi-
schen Rat noch als sakrosankt erklärt.


(Joachim Poß [SPD]: Ja!)


Das ist drei Monate her. Jetzt sind wir bei einer Summe
– zumindest im Übergang bis zum 30. Juni 2013 – von
940 Milliarden Euro, für die die Europäische Gemein-
schaft und auch Deutschland haften – Deutschland mit
400 Milliarden Euro.

Herr Minister Schäuble, Sie haben Ihre Rede heute
nicht an das deutsche Volk oder an den Bundestag gehal-
ten, sondern an Ihre eigene Truppe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie sich die Umfragen in der Bevölkerung an-
schauen, dann stellen Sie fest, dass die Zustimmung zu
den Maßnahmen – vorsichtig formuliert – sehr zurück-
haltend ist. Ich glaube, dass Sie, die Bundesregierung,
aber auch die Koalition, eine große Verantwortung dafür
tragen. Sie sagen nicht klar, warum es notwendig ist,





Carsten Schneider (Erfurt)



(A) (C)



(D)(B)


dass wir anderen Staaten helfen, wenn sie von den
Finanzmärkten erpresst und ausgetrocknet werden. Das
ist der Vorwurf, den wir Ihnen machen. Es ist zu kurz-
fristig; es ist wieder nicht überzeugend. Und insbeson-
dere auf die Frage, wie wir da eigentlich wieder raus-
kommen – Thema Wachstum –, dass die Politik am
Gängelband der Märkte durch die Manege getrieben
wird und dass Staats- und Regierungschefs morgens erst
auf den Ticker schauen, wie die Kurse von Anleihen ste-
hen, bevor sie politische Entscheidungen treffen, geben
Sie keine Antwort. Das ist uns zu wenig!


(Beifall bei der SPD)


Herr Kauder sagte gerade, wir kommen jetzt aus der
Phase der Risiken und Krisenmechanismen in eine dau-
erhafte, stabile Situation. Ich hoffe das sehr – allein mir
fehlt der Glaube. Ich glaube, wir haben es derzeit mit ei-
ner Scheinruhe zu tun, einer Scheinsicherheit, die vor al-
lem daher rührt, dass die Europäische Zentralbank die
politischen Fehler des Nichthandelns, die Sie gemacht
haben, korrigiert, indem sie die Märkte mit Geld flutet:
mit 1 Billion Euro.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ohne Konditionierung!)


– Und das ohne politische Konditionierung.


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Richtig!)


Was ist jetzt passiert? Erstens gibt es eine lauernde In-
flationsgefahr; zweitens verdienen sich die Banken, die
Sie quasi als Mittler nutzen, dumm und dämlich. 1 Pro-
zent zahlen sie bei der Europäischen Zentralbank, 4 Pro-
zent bekommen sie von den Staaten. Wer da kein gutes
Geschäft macht, ist selber schuld. Diese nutzen also ganz
gezielt diesen Marktmechanismus, und Sie nehmen das
in Kauf.

Was ich dann aber erwarte, Herr Minister Schäuble,
ist, dass Sie dafür sorgen, dass die Banken einen Teil der
Verantwortung tragen.


(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Das bedeutet, dass sie die Gewinne, die sie jetzt machen,
eben nicht an ihre Aktionäre ausschütten. Es muss ein
Dividendenausschüttungsverbot geben, damit das Eigen-
kapital gestärkt wird


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Richtig!)


und die Manager am Ende des Jahres nicht dastehen und
sagen: „Wir haben super Geschäfte gemacht, jetzt regnet
es wieder Boni vom Himmel!“ – Das müssen Sie ändern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])


Neben dem Europäischen Stabilitätsmechanismus soll
es jetzt also auch den Fiskalpakt geben. Der wird uns als
Bundestag sehr binden. Ich glaube auch, das ist zwin-
gend notwendig, wenn man – und dafür stehe ich – die
Europäische Union und die europäische Währung erhal-
ten will. Da muss der Grundfehler, eine Währung, aber
ganz unterschiedliche Haushalts- und Finanzpolitiken zu
haben, beseitigt werden. Das bedeutet dann natürlich

auch zwingend die teilweise Abgabe des Budgetrechts,
das wir hier als Königsrecht verstehen. Das bedeutet auf
lange Sicht – das hat Frank-Walter Steinmeier deutlich
gemacht – eine neue Europäische Union.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ist das mit dem Grundgesetz in Übereinstimmung?)


Das bedeutet aber auch eine neue Verfasstheit der Bun-
desrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen
Union. Ich finde, wir müssen darüber sprechen, wie wir
diese ausgestalten, damit sie nicht nur den Märkten
dient, sondern vor allen Dingen auch den Menschen in
Europa.


(Beifall bei der SPD)


Der Fiskalpakt, den Sie jetzt vorgelegt haben, geht bei
weitem nicht weit genug. 90 Prozent dessen, was darin
steht, ist schon europäisches Recht. Sie hätten im Okto-
ber, als das „Sixpack“ der Europäischen Kommission im
Europäischen Parlament verhandelt wurde – hier geht es
darum, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu verändern –,
die automatischen Sanktionen verankern können. Aber
es waren Frau Merkel und Herr Sarkozy, die das bei ih-
rem Strandspaziergang in Deauville weggewischt haben.
Wir diskutieren hier über ein Phantomthema. Man hätte
es schon längst auch mit den Briten innerhalb des euro-
päischen Rahmens regeln können. Dies wäre bedeutend
besser gewesen als das, was Sie hier parallel vorlegen.


(Beifall bei der SPD)


Dazu, dass sich Deutschland – das betrifft Sie, Herr
Minister Schäuble; Sie sind als Euro-Gruppenchef im
Gespräch – als Stabilitätsanker darstellt, kann ich nur sa-
gen: Sie sind mit Ihrer Politik, insbesondere mit Ihrer
Haushaltspolitik, ein schlechtes Vorbild. Wer 2011
17 Milliarden Euro Schulden aufnimmt und mit dem
Nachtragshaushalt 2012, den wir hier beraten werden,
34 Milliarden Euro Schulden aufnimmt – das ist eine
Verdoppelung der Schulden, obwohl aufgrund der guten
Konjunktur die Steuereinnahmen steigen –, der sollte an-
deren keine Vorschriften machen und den Eindruck er-
wecken, als wäre das alles normal.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])


Im Gegenteil: Sie taugen nicht als Vorbild. Deswegen
meine ich, Sie müssen dies korrigieren, um auch in
Europa glaubhaft zu sein, und insbesondere die Vor-
schläge von Frank-Walter Steinmeier berücksichtigen,
Gespräche zu mehr Wachstum aufzunehmen, damit wir
unser Geld wiederbekommen und es keine dauerhaften
Transfers werden. Das ist ein zwingender Punkt neben
der Besteuerung der Finanzmärkte.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717201600

Das Wort erhält nun für die Bundesregierung der

Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Gudio
Westerwelle.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in dieser
Debatte nur wenige Punkte anfügen. Zunächst einmal
glaube ich, dass wir uns trotz der Kontroverse zwischen
den Parteien in diesem Hause in einem ganz überwie-
gend einig sind: Wir sind uns bewusst, dass das, was wir
heute beraten, ein Meilenstein auf dem Weg der weiteren
europäischen Integration ist. Wenn ich die Debatte, die
ich aufmerksam verfolgt habe, zusammenfasse, dann
halte ich fest: Bis auf eine Fraktion sind alle Fraktionen
der Überzeugung, dass mit mehr Europa auf diese Krise
geantwortet werden muss. Mehr Europa wird und soll
heute auch hier diskutiert werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das sehen wir auch so!)


Ich will ein paar Dinge aus der Debatte aufgreifen.
Zur Verhandlungsstrategie: Es ist in Ordnung, dass es
zwischen der Opposition und der Regierung unterschied-
liche Auffassungen über die Verhandlungsstrategie gibt.
Ich will unsere Strategie noch einmal wiedergeben. Es
ist aber nicht in Ordnung, wenn mit Zitaten gearbeitet
und dadurch rein aus innenpolitischen Gründen der Ein-
druck erweckt wird, die Bundesregierung habe nicht mit
einer Kontinuität in Europa verhandelt.


(Lachen des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Herr Kollege Trittin, Sie zitieren aus der Rede der Bun-
deskanzlerin in München den Satz:

Deshalb ist es auch so, dass wir bei einer Ober-
grenze des ESM von 500 Milliarden Euro den Ver-
trag als gegeben sehen.

Sie sagen, dies sei der Beleg für Ihre These, dass das,
was wir jetzt vorschlagen und diskutieren, ausgeschlos-
sen gewesen sei. Das ist kein korrektes Zitieren.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was heißt denn „rote Linie“?)


Sie hätten auch den nächsten Satz zitieren müssen. Im
nächsten Satz hat die Bundeskanzlerin dies genau erläu-
tert:

Wir werden dann weiter darüber diskutieren – da-
rüber haben die Finanzminister der Eurozone ge-
sprochen –, inwieweit wir schauen können, ob es
Kombinationsmöglichkeiten von EFSF und ESM
gibt.

Wenn Sie zitieren, müssen Sie anständigerweise kom-
plett zitieren. Dann entsteht ein völlig anderes Bild.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Regierungserklärung hat sie nicht die Wahrheit gesagt! Deshalb habe ich bewusst die Regierungserklärung auch zitiert, Herr Kollege!)


Was ist der Unterschied in der Debatte, und was ist
der Unterschied vor allen Dingen in der Verhandlungs-
strategie? Wir sind der Überzeugung, dass es richtig war,
in Europa mit Geben und mit Nehmen zu verhandeln.
Das heißt, wir waren bereit, Solidarität zu geben,


(Joachim Poß [SPD]: 180 Prozent!)


wir sahen uns aber auch veranlasst, im Interesse der Bür-
gerinnen und Bürger Deutschlands und ganz Europas da-
für zu sorgen, dass die Hausaufgaben in den einzelnen
Mitgliedsländern auch gemacht werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Kollege Trittin, Sie haben gesagt: Wenn die
Hose nicht nass werden soll, dann muss der Schirm groß
genug sein.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ihnen steht das Wasser doch schon bis zum Hals!)


Nur, Herr Trittin, wenn die Hose von innen nass wird,
dann kann der Schirm so groß sein, wie er will.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Deshalb muss man gegen die Schuldenpolitik angehen.
Genau das machen wir.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da ist wieder der alte Guido! Das ist der unwürdige Außenminister Guido Westerwelle!)


Wie Sie sich mit der Regierung auseinandersetzen,
geschieht aus unserer Sicht in einer Art und Weise, die
mit der Sache nichts zu tun hat. Sie sagen, diese Bundes-
regierung sei der Überzeugung, es gebe nur Schuldenab-
bau und Haushaltsdisziplin, das Wachstum jedoch wür-
den wir ignorieren. Das ist kompletter Humbug. Seitdem
uns Griechenland die Schuldenkrise auf die Tagesord-
nung gesetzt hat, arbeitet die Bundesregierung an beiden
Säulen zur Bekämpfung der Schuldenpolitik.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo denn? Wo denn?)


Wir wollen Haushaltsdisziplin, und gleichzeitig wollen
wir das Wachstum voranbringen. Wir sind der Überzeu-
gung: Wachstum kann man nicht mit Schulden kaufen,
Wachstum gibt es nur durch Strukturreformen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Das muss in einem anderen Land sein! In Deutschland jedenfalls nicht!)


Es reicht aber nicht, wenn nur wir das tun; das müssen
auch die anderen tun. Das versteht jeder, sei es in Italien
oder in Griechenland. Dort wird das Ganze mit riesigen
Mehrheiten in den Parlamenten beschlossen – nur Sie
machen hier parteipolitisches Klein-Klein. In meinen
Augen nehmen Sie Ihre Verantwortung an dieser Stelle
nicht wahr.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: „Parteipolitisches KleinKlein“? – Weitere Zurufe von der SPD)






Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)


Schließlich will ich noch etwas dazu sagen, wie es
weitergeht. Eine kurze Bemerkung:


(Joachim Poß [SPD]: Er meint, er wäre in einem anderen Land!)


Ich habe nie gesagt – Herr Steinmeier musste leider ge-
hen, sodass er es nicht mehr hört –, dass ich der Meinung
sei, dass die SPD selbstverständlich zustimme. Das ist
überhaupt nicht meine Aufgabe, und das ist auch nicht
meine Meinung. Ich habe jedoch eine Erwartung. Ich
habe die Erwartung, dass in einer historischen Stunde für
Europa jeder seiner staatspolitischen Verantwortung
nachkommt.


(Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das sagen Sie!)


Ich habe die Erwartung, dass in einer solch histori-
schen Stunde – in der es nicht nur darum geht, die Schul-
denkrise zu bekämpfen, sondern auch darum, dass sich
Europa in der Welt behauptet –,


(Joachim Poß [SPD]: Unsere Positionen machen wir nicht von Ihren Erwartungen abhängig!)


jeder seine Wahlkampfmanöver zurückstellt und an
Deutschland und Europa insgesamt denkt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das sagt die FPD!)


Denken Sie nicht an den Wahltermin in NRW, denken
Sie an Europa und an Deutschland! Darum geht es an
diesem heutigen Tage. Wir wollen Sie einladen, hierbei
entsprechend mitzuwirken. Diese Regierungskoalition
ist der Überzeugung: Mehr Europa ist die Antwort. Wir
müssen die Fehler beseitigen, die seinerzeit gemacht
worden sind.


(Zurufe von der SPD)

Ich werfe Ihnen vor, dass Sie von Rot-Grün damals

den Stabilitätspakt aufgeweicht haben. Aber das ist Ver-
gangenheit. Wenn Sie heute jedoch erneut mit neuen
Schulden und weicheren Stabilitätsregeln auf die Schul-
denkrise antworten wollen,


(Joachim Poß [SPD]: Das musste noch einmal erklärt werden!)


dann machen Sie in meinen Augen den historischen Feh-
ler zum zweiten Mal. Wir werden das nicht tun, weil wir
Europa stärken wollen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ökonomisch ahnungslos!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717201700

Die Kollegin Priska Hinz erhält nun das Wort für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nett,
wenn sich auch einmal der Außenminister zur Europa-
politik äußert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Allerdings hat das weder zur Erhellung hinsichtlich der
Regierungspolitik beigetragen noch macht es die europa-
feindlichen Wahlkämpfe der FDP vergessen, weder hier
noch in der Öffentlichkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Seltsame Abstimmungen!)


Es ist nur dem zerrütteten Zustand der Koalition zu
verdanken, dass wir heute, obwohl wir über die Gesetze
beraten, noch nicht wissen, wie groß der Rettungsschirm
am Ende tatsächlich sein wird. Sie gehen am Wochen-
ende in Verhandlungen – das wurde uns gestern im
Haushaltsausschuss mitgeteilt –, und hier erzählen Sie
uns, dass EFSF mit den belegten circa 200 Milliarden
Euro und ESM nebeneinander laufen sollen. Auf euro-
päischer Ebene erzählen Sie, dass natürlich die 240 Mil-
liarden Euro aus der EFSF auch noch dazukommen. Das
verschweigen Sie hier tunlichst. Deswegen ist es unred-
lich, dass der Finanzminister hier Nebelkerzen wirft und
sagt: Wir haben alles im Griff, alles wird gut; die Paral-
lelführung ist das, was wir schon immer wollten. – Nein,
das ist nicht das, was Sie wollten. Sie wollten keine Auf-
stockung des Rettungsschirmes. Wie Sie sich auch dre-
hen und wenden: Vor allen Dingen haben wir im Bun-
destag beschlossen, dass es mit der EFSF eine
Gewährleistung im Umfang von 211 Milliarden Euro ge-
ben wird. Was uns jetzt vorliegt, bedeutet weitere Ge-
währleistungen von rund 190 Milliarden Euro. Das
macht in der Summe etwa 400 Milliarden Euro. Vor dem
Sichbekennen zu dieser Zahl wollen Sie sich in der De-
batte drücken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, die Parallelführung der
EFSF ist auch noch die ökonomisch schlechtere Alterna-
tive als die richtige Aufstockung beim ESM, weil der
dauerhafte Rettungsschirm aufgrund der Bareinlage eine
viel bessere und stabilere Bonität hat; das ist das Wesent-
liche an der Konstruktion des ständigen Rettungs-
schirms. Weil Sie aber befürchten, dass Sie wieder einen
Wortbruch begehen müssten, oder Sie Ihren teilweise be-
gangenen Wortbruch verschleiern möchten, entscheiden
Sie sich für eine Parallelführung. Ich sage Ihnen: Das ist
der ökonomisch schlechte Weg, weil er der teurere Weg
ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da kostet uns Europa wieder unnötig Geld, das wir für
andere Zwecke ausgeben könnten.

Schwarz-Gelb hat in der Euro-Krise bislang immer
nur die Kraft zum unbedingt Notwendigen gehabt. Wir
Grünen haben einen Kompass; das habe ich Ihnen von
dieser Stelle aus schon einmal gesagt. Wir haben bislang
die richtigen Entscheidungen für Europa getroffen. Sie
müssen hier immer um die Kanzlermehrheit bangen.





Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


An uns liegt es nicht, wenn es darauf ankommt, Europa
aus der Krise zu führen.

Sie treffen immer erst dann, wenn es fast zu spät ist,
die richtige Entscheidung. Deswegen möchte ich Sie im
Sinne des lebenslangen Lernens bitten: Stocken Sie den
Rettungsschirm am Wochenende richtig auf! Denn wir
brauchen einen großen Rettungsschirm,


(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Wie viel darf es denn sein, Frau Hinz?)


nicht weil wir das so toll finden, sondern weil wir Spe-
kulationen entgegentreten müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Gefahr ist doch nicht, dass jetzt andauernd Länder
kommen und unter den Rettungsschirm wollen. Wir se-
hen doch an Italien, dass das gar nicht der Fall ist.


(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Wie viel darf’s denn sein?)


Das Problem dreht sich doch darum, dass wir wollen,
dass die Staatsanleihen zu adäquaten Zinssätzen ausge-
geben werden können. Dafür brauchen wir einen großen
Rettungsschirm. Ich bitte Sie, jetzt endlich einmal vorher
über Ihre rote Linie zu gehen, nicht wieder erst hinterher,
wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, im Rahmen der Krisen-
politik ist der Fiskalpakt mit der Einführung von Schul-
denbremsen ein Baustein einer mittelfristigen soliden
Staatsfinanzierung, aber mehr auch nicht. Es ist bislang
völlig unklar, wann die anderen Mitgliedstaaten den Fis-
kalpakt ratifizieren wollen. Mindestens zwölf Staaten sa-
gen: in der Zeit vom Sommer bis zum Winter. Weil wir
Grüne der Meinung sind, dass zu diesem Baustein wei-
tere Mosaiksteine dazugehören, etwa die Finanztransak-
tionsteuer, der Schuldentilgungsfonds und vor allen Din-
gen wirtschaftliche Impulse, und weil wir wissen wollen,
wie sich eigentlich die Schuldenbremse gemäß Fiskal-
pakt auf unsere Schuldenregel auswirkt – in der letzten
Sitzungswoche konnte die Frage, ob wir nicht eine wei-
tere Grundgesetzänderung vornehmen wollen, noch
nicht beantwortet werden –, müssen wir uns diese Zeit
nehmen. Wir haben diese Zeit für die Beratung. Bislang
sind wir alle für eine ausgiebige Parlamentsbeteiligung.
Das sollten wir auch in diesem Falle so halten. Wir soll-
ten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717201800

Gerda Hasselfeldt ist die nächste Rednerin für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1717201900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach allem, was wir heute feststellen können, waren un-
sere bisherigen Entscheidungen richtig. Die Finanz-
märkte haben sich beruhigt, die Risikoaufschläge auf
Anleihen aus Krisenländern sind gesunken, die wirt-
schaftliche Entwicklung hat sich in vielen Ländern stabi-
lisiert – bei uns hat sie sich sogar noch verbessert –, die
Aktienindizes sind auf einem hohen Niveau stabilisiert
und die Umtauschaktion von Griechenland-Anleihen ist
ohne größere Probleme vonstattengegangen. All das be-
stätigt: Unsere Strategie der schrittweisen Bewältigung
der Staatsschuldenkrise zeigt Wirkung und ist richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nun wäre es aber leichtsinnig, zu glauben, damit
seien alle Probleme gelöst und damit sei die Gefahr eines
weiteren Aufflackerns einer Finanzkrise beiseite ge-
räumt. Deshalb ist es richtig, darüber nachzudenken:
Wie gestalten wir den dauerhaften Mechanismus? Es ist
völlig richtig, was vorhin gesagt wurde: Die Schwelle,
auf der wir jetzt stehen, ist eine ganz entscheidende, weil
wir von einer vorläufigen Rettungsaktion übergehen zu
einem dauerhaften Rettungsschirm und zu einer echten
Stabilitätsunion in Europa. Mit dem zu verabschieden-
den Gesetzespaket stellen wir die entscheidenden Wei-
chen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Caren Marks [SPD]: Mal konkret!)


Es ist richtig, den dauerhaften Rettungsschirm ESM
ein Jahr vorher in Kraft treten zu lassen, als es ursprüng-
lich geplant war. Es ist auch richtig, ihn von Anfang an
mit einem größeren als zunächst geplanten Volumen an
Bareinzahlungen zu speisen. Wir müssen alle darauf
achten – ich finde, da haben wir alle in Europa eine
große Verantwortung –, dass der Rettungsschirm von
Anfang an funktionsfähig und schlagkräftig ist, dass das
Vertrauen in den Rettungsschirm vonseiten der Finanz-
märkte und der internationalen Partner gegeben ist. Mei-
nes Erachtens ist es deshalb richtig, dass die Finanz-
minister auf der Basis, die der Finanzminister heute hier
geschildert hat, in den nächsten Tagen in die Verhand-
lungen auf europäischer Ebene einsteigen.

Natürlich gibt es Diskussionen über die Größenord-
nung des Ausleihvolumens. Man muss ganz genau darauf
achten, dass die Größenordnung des Ausleihvolumens
ausreichend ist, um das Vertrauen in den Rettungsschirm
und seine Handlungsfähigkeit zu stärken. Die Risiken
sinken mit einem stabilen, glaubwürdigen und hand-
lungsfähigen Rettungsschirm. Aber er darf nicht zu groß
sein, weil er damit den einzelnen Krisenländern jeden
Anreiz nimmt, sich zu bemühen, sich anzustrengen, zu
sparen und Strukturreformen auf den Weg zu bringen. Es
gilt nun, die Verhandlungen mit Blick auf genau diese Ba-
lance zu führen. Ich glaube, dass die zeitweise Parallelität
von EFSF und ESM, so wie sie jetzt angedacht ist, die
richtige Antwort auf die momentan anstehende Frage ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heute geht es auch um das Auf-den-Weg-Bringen des
Fiskalvertrages. Ich gebe zu, dass mir diese Bezeichnung





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)


nicht allzu sehr gefällt, aber wir alle wissen, was damit
gemeint ist. Es ist gemeint, dass sich 25 europäische
Länder – nicht nur die Euro-Länder, sondern auch 8 der
10 übrigen Mitgliedstaaten der Europäische Union – ver-
pflichten, das, was wir verfassungsrechtlich verankert
haben, nämlich die nationale Schuldenbremse, auch in
ihren Verfassungen nicht nur ein bisschen zu beherzigen,
sondern fest zu verankern. Wenn wir ehrlich sind: Wer
hätte vor einem Jahr gedacht, dass uns das möglich
wäre?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das bedeutet, dass das Einhalten der Schuldenbremse
beim Europäischen Gerichtshof auch eingeklagt werden
kann und dass bei einem Verfehlen quasi automatische
Sanktionen verankert sind.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das hätte man auch schon früher haben können!)


Das ist ein Meilenstein – so wurde es vorhin genannt –
auf dem Weg zu einer echten Stabilitätsunion in Europa.

Eines ist auch klar: Wenn wir das gemacht hätten, was
uns die Opposition in den letzten Monaten immer wieder
vorgeschlagen hat, nämlich eine Vergemeinschaftung
von Schulden mittels Euro-Bonds, dann wären wir heute
nicht so weit, dann hätten wir heute keine Diskussion
über die Fiskalunion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: So, wie Sie das sagen, ist das doch nicht richtig!)


Ich will Ihnen dies erklären, Herr Poß: Wir hätten die
Diskussion nicht, weil es dann nämlich in den entspre-
chenden Krisenländern überhaupt kein Bewusstsein
gegeben hätte, sich im Bereich der Haushaltskonsolidie-
rung und der Umsetzung der Strukturreformen anstrengen
zu müssen. Das alles hätten wir nicht, wenn wir in den
letzten Monaten nicht so konsequent unseren Kurs voll-
zogen hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Von wegen, Sie hätten einen anderen Kurs! Frau Merkel ist umgefallen! Sie sind umgefallen! Die CDU diskutiert über die „rote Linie“ von Herrn Seehofer! – Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Die rote Linie ist überschritten!)


Manche sagen, dieser Fiskalvertrag habe noch nicht
den richtigen Biss und er müsse noch etwas stärker sein.
Wenn ich diesen Vorwurf gerade von denjenigen höre,
die uns das Ganze eingebrockt haben, dann muss ich
sagen, dass dadurch die Verlogenheit erst richtig deutlich
zum Ausdruck kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Was?)


Wenn diejenigen, die damals – ich glaube, das war im
Jahr 2002 – unter rot-grüner Verantwortung den Stabili-
tätspakt quasi abgeschafft


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: So ein Quatsch!)


und die anderen Länder auch noch dazu eingeladen
haben, sich in ihrem Haushaltsverhalten auch ein biss-
chen schlampig zu gebaren,


(Joachim Poß [SPD]: Es ist sogar wissenschaftlich untersucht, dass das, was Sie sagen, Quatsch ist!)


heute sagen, das, was nun völkerrechtlich vereinbart
wird, habe nicht den nötigen Biss, dann ist das alles
andere als glaubwürdig und konsequent.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Es ist wissenschaftlich belegt, dass Sie hier verleumden! Ich kann Ihnen die Stelle aus einem interessanten Werk geben!)


Jetzt wollen Sie das Ganze mit der Forderung verbin-
den, dass die Wachstumsstrategie noch vertieft werden
müsse. Sie tun so, als wäre da nichts geschehen. Volker
Kauder hat deutlich darauf hingewiesen, was auf euro-
päischer Ebene alles geschehen ist. Wenn man genau
hingehört hat, dann hat man gemerkt, dass dies alles auf
deutsche Initiative hin geschehen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb, liebe Frau Bundeskanzlerin und Herr Finanz-
minister, möchte ich Ihnen ganz herzlich dafür danken,
dass dies von Deutschland aus immer wieder auf euro-
päischer Ebene eingebracht worden ist und dass wir jetzt
bei den Kohäsionsfonds, bei der Verwendung der euro-
päischen Mittel auf einem guten Weg sind. Wir dürfen
da auch nicht nachlassen; denn eines ist klar: Die Haus-
haltskonsolidierung ist die eine Seite der Medaille. Die
andere, die genauso wichtige Seite der Medaille muss
die Stärkung der Wettbewerbsstrukturen in den einzel-
nen Ländern, muss größeres Wachstum in ganz Europa
sein. Da haben wir noch einiges zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das, was zu tun ist, können wir aber nicht mit einer
zusätzlichen Verschuldung machen. Wachstum durch
eine höhere Verschuldung zu erreichen, ist genau der fal-
sche Weg. Das ist der Weg, den Sie uns immer wieder
vorschlagen. Wir wissen aber aus unserer eigenen Erfah-
rung, dass Haushaltskonsolidierung die notwendige Vo-
raussetzung für Wachstum ist. Deshalb gehört beides
zusammen, und das eine darf nicht für das andere ver-
nachlässigt werden.

Wir alle stehen vor wichtigen Entscheidungen, die
sich nicht für Pokerspiele und nicht für parteipolitische
Strategien und Taktiken eignen.


(Joachim Poß [SPD]: Das müssen gerade Sie sagen! Was machen Sie denn die ganze Zeit?)


Vielmehr ist von uns allen eine hohe staats- und europa-
politische Verantwortung gefragt. Wir sind dazu bereit.
Ich bitte auch Sie, dazu zu stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717202000

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,

möchte ich die Gelegenheit nutzen, die Präsidentin der
Abgeordnetenkammer der Republik Rumänien, Frau
Roberta Anastase, und ihre Delegation im Namen des
ganzen Hauses sehr herzlich hier zu begrüßen.


(Beifall)


Frau Präsidentin Anastase, wir wünschen Ihnen einen
gelungenen Aufenthalt in Deutschland und hier im Deut-
schen Bundestag. Für Ihr weiteres parlamentarisches
Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche.

Jetzt hat als nächster Redner Michael Roth von der
SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1717202100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Sie können noch so viel dementieren: Frau
Merkel, die Bundesregierung und die schwarz-gelbe
Koalition haben sich heillos in den zahllosen roten
Linien verheddert. Auch Sie, verehrte Frau Hasselfeldt,
können dieses Knäuel nicht entwirren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich bin gespannt – ich habe eigentlich erwartet, dass
Sie das hier vorbringen –, wann der CSU-Sonderpartei-
tag einberufen wird.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Herr Seehofer hat ja angekündigt: Wenn diese „rote
Linie“ überschritten wird, dann muss die Basis, dann
müssen die Delegierten der Christlich-Sozialen Union
entscheiden. Wann findet der Sonderparteitag statt?
Unter Wahrnehmung europapolitischer Verantwortung
versteht Ihre Partei, die CSU, Europa abzulehnen und
Europa schlechtzumachen. Insofern sind Sie ein denkbar
schlechter Ratgeber.


(Beifall bei der SPD – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: So ein Quatsch! Das ist unter Ihrem Niveau!)


Ich verstehe überhaupt nicht, dass Sie Ihre ganze Lei-
denschaft darauf verwenden, uns anzupampen. Ich dachte,
Sie wollten noch etwas von uns, mit uns reden, mit uns
verhandeln. Von ernsthaftem Bemühen habe ich in die-
ser ansonsten ziemlich mediokren Debatte wirklich we-
nig gespürt.


(Beifall bei der SPD – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Leider wahr!)


Nun könnte man ja sagen, dass wir uns darüber freuen
können, dass das Vertrauen in die Kraft der Bundesregie-
rung am Boden liegt. Das Schlimme an dem permanen-
ten Hü und Hott von Frau Merkel ist aber, dass das Ver-
trauen in die Politik in Europa allgemein nachgelassen
hat. Wir sitzen doch alle in einem Boot. Insofern sage
ich: Sie haben sich an Europa versündigt, Frau Bundes-
kanzlerin. Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU
und FDP, haben sich versündigt.

Selbstverständlich wissen wir, die wir uns aus den
Klauen der Finanzmärkte befreien wollen, dass wir das
nur schaffen, wenn wir Schulden abbauen und die Neu-
verschuldung reduzieren. Deshalb sollten Sie mit Ihren
34 Milliarden Euro Neuverschuldung in diesem Jahr
ganz ruhig und demütig sein, meine Damen und Herren
der Koalitionsfraktionen.


(Beifall bei der SPD)


Wenn die Finanzmärkte nicht reguliert werden,


(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Sie haben sie doch dereguliert! Es war doch die SPD, die dereguliert hat!)


wenn sie nicht unter strenge Aufsicht gestellt werden,
dann sind die Finanzmärkte eher etwas für die geschlos-
sene Psychiatrie. Insofern haben wir eine ganze Menge
zu verrichten.

Eines ist aber auch klar: Dieser Fiskalpakt, der uns
auf den Tisch gelegt wurde, löst kurzfristig nicht die
Krise. Nur Luxemburg und einige wenige skandinavi-
sche Partnerländer wären derzeit in der Lage, eine
Schuldenbremse nach Vorbild des Fiskalpakts einzuhal-
ten. Deutschland hätte allein im Haushaltsjahr 2011
20 Milliarden Euro zusätzlich einsparen müssen. Daran
sehen wir doch, was für eine Riesenaufgabe vor uns
liegt. Deshalb ist es gut, dass wir uns dafür hier im Bun-
destag sehr viel Zeit nehmen. Die Qualität des Fiskal-
pakts kann doch nicht ernsthaft daran bemessen werden,
ob wir im Juni, im September oder im Oktober entschei-
den. Qualität geht vor Schnelligkeit.


(Beifall bei der SPD)


Wir brauchen einen echten Fiskalpakt. Es fehlt nicht
an Konzepten, sondern es fehlt der Mut, diese Aufgabe
anzupacken. Über Wachstum und Beschäftigung ist
heute abstrakt gesprochen worden – auch von Rednern
aus Ihren Reihen –, wir brauchen sie aber endlich kon-
kret. Wenn Sie endlich aufhören würden, gegenüber der
Opposition die Backen so aufzublasen, sondern endlich
begreifen würden, dass der größte Skandal in Europa die
Tatsache ist, dass die Hälfte der Jugendlichen in Grie-
chenland und Spanien ohne Perspektive, ohne Job, ohne
Qualifizierung ist! Darüber müssten wir uns gemeinsam
empören. Dafür brauchen wir nicht 2014 eine konkrete
Lösung, wir brauchen noch in diesem Jahr ein konkretes
Angebot für diese Jugendlichen. Sie müssen mit Europa
wieder Hoffnung und Zuversicht verbinden und nicht
nur Abbau und Verluste.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir brauchen in Europa – das hat nicht zuletzt die
berühmt-berüchtigte Lissabon-Strategie gezeigt – Ver-
bindlichkeit. Wir brauchen Zielkorridore. Wir brauchen
Mindeststandards für die Bereiche Steuern, Sozialabga-
ben, Beschäftigung, Bildung und Forschung. Es kann
doch nicht angehen, dass einige Länder eine Flat Tax für
die Unternehmen haben und gleichzeitig üppige Mittel
aus den Kohäsions- und Strukturfonds erhalten. Das
passt nicht zusammen. Wir brauchen mehr Fairness,
auch bei der Steuerpolitik in der Europäischen Union.


(Beifall bei der SPD)






Michael Roth (Heringen)



(A) (C)



(D)(B)


Selbstverständlich stehen auch wir in der Verantwor-
tung. Wir haben in den letzten Monaten sehr oft den
Zeigefinger in Richtung der Länder, die ein Leistungs-
bilanzdefizit haben, erhoben. Aber auch wir als
Überschussland stehen in der Verantwortung. Derzeit
laufen in Deutschland Tarifverhandlungen. Tun wir doch
etwas zum Abbau der Leistungsbilanzen! Wir wollen
nicht die Exporte in Deutschland drosseln, aber wenn die
Krankenschwester in Deutschland wieder mehr verdient
und wenn endlich flächendeckend in allen Branchen
Mindestlöhne durchgesetzt werden, dann bauen wir auch
die unfairen Vorteile ab, mit denen wir uns zulasten
unserer Partnerländer in der Europäischen Union einen
schlanken Fuß in Europa gemacht haben.


(Beifall bei der SPD)


Frau Merkel hat aus der Europäischen Union ein
Europa der Regierungen gemacht. Wir, die Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten, streiten für ein Europa
der Parlamente. Wir müssen, wenn es um die Abgabe
nationaler Souveränität geht, neue Wege gehen, vor
allem auch in der Zusammenarbeit zwischen dem Euro-
päischen Parlament und den nationalen Parlamenten.
Wir brauchen eine ordentliche Parlamentsbeteiligung,
wir brauchen aber keine Obstruktionspolitik. Wir als
Deutscher Bundestag müssen darüber nachdenken, wie
wir mehr Verantwortung in diesen schwierigen Berei-
chen übernehmen können.

Schlussendlich: Wir sollten – Kollege Carsten
Schneider hat es schon angedeutet – genauso leiden-
schaftlich, wie wir über ökonomische Parameter streiten,
endlich auch einmal darüber streiten, wie viel Europa
uns wirklich wert ist. Europa steht für Freiheit. Europa
steht für Frieden. Europa steht für Solidarität. Die
Münze, mit der Sie Europa zu bezahlen trachten, ist
ziemlich klein; Sie sind da verzagt. Das passt nicht. So
wird Europa nicht zukunftsfähig. Deswegen wäre es gut,
wenn Sie, liebe Damen und Herren der Bundesregie-
rung, der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion, möglichst
schnell aus der Verantwortung herausgehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717202200

Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege

Otto Fricke.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1717202300

Geschätzter Vizepräsident! Meine lieben Kolleginnen

und Kollegen! Es handelt sich um ein historisches Pro-
jekt. Ich finde, das sollten wir noch einmal festhalten.
Wir alle wollen dieses Europa. Wir brauchen dieses
Europa. Deutschland braucht dieses Europa. Nur dann,
wenn wir es schaffen, andere davon zu überzeugen, dass
das, was wir unter deutschen Bilanzregeln, unter deut-
scher Haushaltspolitik verstehen, sinnvoll ist, wird
Europa auf Dauer stabil sein. Das muss die Nachricht
sein, die von diesem Bundestag zur Jahreshälfte ausgeht.

Ich will Ihnen eines deutlich sagen: In dieser Debatte
wurde den Bürgern vonseiten der Opposition nicht
erklärt, warum Europa wichtig ist. Sie arbeiten sich an
roten Linien ab. Das hat ja auch Herr Steinmeier getan;
er ist jetzt nicht mehr da.


(Zuruf von der SPD)


– Oh, Herr Steinmeier ist wieder da. Das finde ich gut.
Danke für den Hinweis. Auch Herr Steinbrück ist da; das
hat einen Effekt. – Auch Herr Schneider und Herr Roth
haben das getan. Herr Steinmeier, Sie haben eben von
roten Linien gesprochen. Ich habe dann geschaut, wo
Ihre roten Linien sind. Wir erleben hier seitens der
Opposition etwas Interessantes. Es ist Ihr Recht als
Opposition, eine gut arbeitende Regierung zu kritisieren;
etwas anderes bleibt Ihnen auch nicht übrig. Aber sagen
Sie doch einmal, wo Ihre roten Linien sind. Sind Ihre
roten Linien bei den vorgesehenen 500 Milliarden Euro?


(Zuruf der Abg. Bettina Hagedorn [SPD])


Sind Ihre roten Linien bei 750 Milliarden Euro, sind sie
bei 1 Billion Euro? Das Interessante ist: Die Opposition
hat gar keine roten Linien. Die Opposition hat einen
roten Teppich für Schuldenländer. Das ist der Unter-
schied zwischen Ihrer und unserer Politik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für den Bürger ist eines wichtig. Wir als Bundesrepu-
blik Deutschland profitieren von einem stabilen Europa
nicht nur deswegen, weil wir mit unseren Exporten
unsere Wirtschaft stabilisieren, sondern wir profitieren
auch deswegen, weil Stabilität in Europa für unser Land
immer bedeutet, dass wir uns weiterentwickeln können,
dass wir modernisierende Schritte nach vorne machen
können. Reformen können wir nur durchführen, wenn
Europa stabil ist. Ist es nicht mehr stabil, kann der
Stärkste in Europa nicht für Fortschritt sorgen. Da – das
ist ein Hinweis an die Opposition – tragen Sie Verant-
wortung.

Herr Steinmeier, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, Sie
hätten Reformen gemacht. Stimmt, das haben Sie. Daher
müssten wir uns doch einig sein, dass all die Reformen,
die in Deutschland durchgeführt worden sind, die Deutsch-
land nach vorne gebracht haben, auch in den anderen
europäischen Ländern auf die eine oder andere Weise
gemacht werden müssen. Das heißt, ich erwarte von der
Sozialdemokratie,


(Joachim Poß [SPD]: Sie haben überhaupt nichts zu erwarten!)


dass sie international, auch bei Besuchen in Frankreich
sagt: Die Rente mit 67 müssen nicht nur wir in Deutsch-
land einführen, sondern auch ihr in Frankreich. Interes-
sant ist, was Herr Gabriel macht.


(Joachim Poß [SPD]: Was haben Sie zu erwarten?)


– Wieder einmal getroffen! – Was macht Herr Gabriel?
Herr Gabriel sagt: Liebe Franzosen, macht bloß nicht all
die Reformen, die wir in Deutschland gemacht haben.


(Joachim Poß [SPD]: Unwahr!)






Otto Fricke


(A) (C)



(D)(B)


Da liegt der Fehler: Sie sagen, dass Reformen wichtig
sind, aber dass nur wir in Deutschland Reformen
machen sollen und die anderen bitte schön nicht. Sie ver-
stecken sich vor Ihrer Verantwortung.


(Burkhard Lischka [SPD]: Sie sind schon lange ins Loch gefallen!)


Meine Damen und Herren, es wurde hier viel über
Quantität und Qualität geredet. Es wird oft gesagt – auch
der Kollege Roth hat das gerade getan –, man müsse den
Fiskalpakt noch einmal verhandeln, und man solle sich
dabei Zeit lassen.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Nein! Kein Wort zu Neuverhandlungen! Das ist einfach nicht wahr!)


Ich finde es unverantwortlich, zu sagen, dass man neue
Verhandlungen über den Fiskalpakt will. Sie wissen
doch ganz genau: Er ist ausverhandelt. Die Ergebnisse
stehen fest.


(Joachim Poß [SPD]: Wir haben immer von einer Ergänzung gesprochen! Wir haben nie von Neuverhandlungen gesprochen!)


Welches Signal sendet eigentlich eine Opposition in die
Welt hinein, die sagt: Den Fiskalpakt, der für die Stabili-
tät in Europa wichtig ist, kann man ruhig verschieben?


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verschieben nicht! Im Rahmen des Vertrages ratifizieren, Herr Kollege Fricke!)


Welches Signal wollen Sie eigentlich senden? Wollen
Sie weiter Verschuldung betreiben, oder wollen Sie ei-
nen Fiskalpakt?

Zum Schluss. SPD und Grüne bzw. die Oppositions-
parteien insgesamt haben aufgrund unserer Verfassung
Verantwortung bekommen, als es um den Fiskalpakt
ging, eine Verantwortung, die Sie ja sehr gerne überneh-
men wollten. Daran arbeiten Sie ja und sagen, das sei
wichtig und unbedingt notwendig.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Aber dafür brauchen wir von Ihnen keine Belehrungen!)


Aber was machen Sie? Sie sagen nicht, was Sie wollen.
Sie sagen nur, was Sie nicht wollen. Sie sind nicht bereit,
Verantwortung zu übernehmen. Sie sind ängstlich. Hö-
ren Sie doch auf den Bundespräsidenten,


(Bettina Hagedorn [SPD]: Er ist unser Bundespräsident!)


der so schön gesagt hat: Mut ist das, was wir zum jetzi-
gen Zeitpunkt brauchen. – Wo bleibt Ihr Mut, Verant-
wortung zu übernehmen? Wiederholen Sie bitte nicht die
historischen Fehler, die Sie gemacht haben.

Ihr erster historischer Fehler, der ewig an Ihnen haf-
ten bleiben wird, war, Griechenland in die Euro-Zone
aufzunehmen.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Aha! Was haben die Liberalen denn damals dazu gesagt? – Bettina Hagedorn [SPD]: Wie wäre es denn, wenn du mal zum Thema redest?)


Ihr zweiter historischer Fehler war, dass Sie den Stabili-
tätspakt gebrochen haben. Herr Monti hat recht, dass
Deutschland und Frankreich mit ihrer Verschuldung An-
fang des letzten Jahrzehnts für den Ursprung der Euro-
Krise gesorgt haben; auch das war ein historischer Feh-
ler.


(Joachim Poß [SPD]: Warum haben Sie das denn nicht korrigiert?)


Machen Sie bitte nicht Ihren dritten historischen Fehler,
indem Sie die Stabilität Europas zerstören, die wir als
Koalition mit ESM und Fiskalpakt gerade wieder auf-
bauen. Ich bitte Sie: Gehen Sie in sich, haben Sie Mut,
und seien Sie mehr als nur Kritiker! Seien Sie wahre De-
mokraten!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Ach, Otto! Das ist doch nur Pfeifen im Wald!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717202400

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

nun der Kollege Norbert Barthle von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Was ist denn mit Krichbaum?)



Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1717202500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Mehrere meiner Vorredner, vor allem die der Koali-
tion, haben bereits darauf hingewiesen, dass dies eine
historische Stunde ist. Wir beraten heute im Bundestag
in erster Lesung ein Gesetzespaket, das im Grunde aus
dem Europäischen Stabilitätsmechanismus und dem Fis-
kalpakt besteht. Das sind zwei grundlegende Tragpfeiler
einer neuen Stabilitätsarchitektur in Europa. Diese bei-
den grundlegenden Pfeiler dieser Architektur dürfen
nicht beschädigt werden.

Ich muss feststellen, dass wir heute eine eigenartige
Erfahrung machen dürfen. Denn ein Teil der Opposition,
insbesondere die Grünen, sagt: Wir möchten den ESM
zwar noch etwas ausweiten, aber grundsätzlich sind wir
dafür. Wir bräuchten allerdings noch mehr Zeit zur Bera-
tung. – Die SPD sagt: Wir sind grundsätzlich für den Fis-
kalpakt. Wir sind auch für den ESM. Aber wir wollen
noch Verbindungen herstellen und Bedingungen an den
Fiskalpakt knüpfen.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Wir wollen ihn erfolgreich machen!)


Das ist schon ein eigenartiges Erlebnis.

Ich komme zum ersten Punkt: zum Zeitplan. Nach un-
serem Zeitplan könnten wir den Fiskalpakt und den ESM
bis zur Sommerpause ratifizieren. Das hat übrigens auch
Portugal vor, das hat Spanien vor, und das hat Griechen-





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)


land vor. Meine Damen und Herren, wir sollten nicht
hinter diese Länder zurückfallen.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das hat Österreich nicht vor! Das hat Frankreich nicht vor! Das haben die Niederlande nicht vor!)


Zweitens. Wer so tut, als würden wir dieses Thema
hier und heute zum ersten Mal beraten, der war in den
vergangenen Monaten irgendwo anders. Zumindest im
Haushaltsausschuss haben wir uns tage- und wochenlang
mit dem Zustandekommen des Fiskalvertrages und des
ESM-Vertrages beschäftigt. Wir haben die Vertragsent-
würfe bekommen. Wir haben verfolgt, welche Verände-
rungen eingearbeitet worden sind. Auch im Plenum des
Deutschen Bundestages haben wir über diese beiden
Themen schon hinlänglich diskutiert. Wer also so tut, als
würden wir uns das erste Mal damit beschäftigen, der
muss irgendwo anders gelebt haben. Das kann ich mir
nicht erklären.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Es gibt noch eine andere Welt außer der des Haushaltsausschusses!)


– Aber wir haben auch hier schon darüber diskutiert;


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Aber ohne Vorlage!)


das muss klar sein. Wir haben schon vor langer Zeit hin-
länglich und ausführlich über die Kautelen, die Inhalte
und alle Details des Fiskalvertrages diskutiert. Das ge-
schieht heute nicht zum ersten Mal.

Dritter Punkt. Die SPD – es kam ja schon ein entspre-
chender Zwischenruf – knüpft Bedingungen an den Fis-
kalpakt und sagt: „Wir stimmen dem Fiskalvertrag nur
zu, wenn …“ Nun sagen die einen: wenn eine Finanz-
transaktionsteuer kommt. – Die anderen sagen: wenn es
Wachstumsprogramme gibt. – Was jetzt eigentlich?
Wenn Sie ein Pfand in der Faust haben, dann sollten Sie
uns einmal erklären, wie dieses Pfand eigentlich aus-
sieht. Ich weiß das nämlich immer noch nicht.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


In Bezug auf Wachstumsprogramme darf ich Sie da-
ran erinnern, dass wir insbesondere bei den Programm-
ländern, die schon jetzt unter dem Rettungsschirm sind,
immer Bedingungen an Hilfen knüpfen. Die Vierteljah-
resberichte der Troika geben Auskunft darüber, wie dort
Programme für mehr Wachstum und für mehr Wettbe-
werbsfähigkeit, also nicht nur zum Abbau der Staatsver-
schuldung, umgesetzt werden müssen.

Man muss sich die Programme nur einmal anschauen.
Das tun Sie aber wahrscheinlich nicht so gerne; denn da-
rin steht, dass für mehr Wettbewerbsfähigkeit und für
mehr Wachstum zum Beispiel die Mindestlöhne abge-
senkt oder ganz abgeschafft werden müssen, dass es zu
Arbeitsmarktderegulierungen kommen muss und dass
der Kündigungsschutz ausgesetzt werden muss. Dage-
gen protestieren die Menschen in Spanien momentan.
Das alles steht dort drin – zur Verbesserung von Wachs-

tum und Wettbewerbsfähigkeit. Das hören Sie nicht so
gerne.

Schauen Sie sich also die Berichte der Troika an und
machen Sie sich die Mühe, da nachzulesen. Dann be-
kommen Sie eine Blaupause dafür, was in diesen Län-
dern geschehen muss, um mehr Wachstum und Wettbe-
werbsfähigkeit herzustellen.

Was will ich damit sagen?


(Caren Marks [SPD]: Das fragen wir uns auch!)


Ist Ihnen von der Opposition eigentlich klar, dass Sie
dann, wenn Sie zu diesem Fiskalvertrag zwar Zustim-
mung signalisieren, aber nur unter Bedingungen, das Si-
gnal nach draußen aussenden, dass Sie zwar eigentlich
dafür sind, aber so richtig doch nicht; denn wenn man
sich innerlich distanziert und die Zustimmung an Bedin-
gungen knüpft, dann distanziert man sich von den Inhal-
ten. Das müsste Ihnen zu denken geben.

Ich glaube, Europa und die gesamte Welt brauchen
ein klares und deutliches Signal, dass wir in allen Euro-
Staaten festen Willens sind, einerseits die Staatsver-
schuldung zurückzuführen und eine Politik für eine
wachstumsfördernde Konsolidierung zu betreiben und
andererseits solidarisch dafür einzutreten, dass auf kei-
nen Fall ein Euro-Mitgliedsland in die Insolvenz getrie-
ben wird.

Es geht letztendlich um Europa, das haben wir gehört,
aber es geht schlicht und einfach auch um unsere Wäh-
rung. Es geht um den Euro, den jeder von uns in der Ta-
sche hat. Vorne sieht man das Euro-Zeichen und hinten
– zumindest auf meinem – den deutschen Bundesadler.
Es geht auch um unsere Verantwortung, zur Stabilität
unserer Währung beizutragen. Es darf nie wieder ge-
schehen, dass sich ein deutscher Handwerker fragen
muss: Kann ich noch investieren und dem Euro noch
trauen? Es darf nie wieder geschehen, dass internatio-
nale Investoren die Frage stellen müssen: Hat der Euro
eine Zukunft? Wir bauen dem entsprechend vor, indem
wir einerseits einen Pakt für Solidarität und andererseits
einen Pakt für Stabilität verabschieden.

Das sind die beiden Seiten ein und desselben Euro-
Geldscheines bzw. -Geldstückes, die wir bei unserer
Politik beachten müssen. Unser bisheriger Weg war er-
folgreich und hat zu guten Ergebnissen geführt, und wir
setzen diesen Weg auch erfolgreich fort.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717202600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9046, 17/9045, 17/9048, 17/9049,
17/9047, 17/9146, 17/9147, 17/9148 und 17/9145 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sören
Bartol, Florian Pronold, Hans-Joachim Hacker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Für einen neuen Infrastrukturkonsens: Ge-
meinsam Zukunft planen – Infrastruktur bür-
gerfreundlich voranbringen

– Drucksache 17/9156 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Florian Pronold von der SPD-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1717202700

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein
Haus, zünd’ andere an: Das ist das Sankt-Florians-Prin-
zip, das unter missbräuchlicher Verwendung meines Vor-
namens zurzeit an vielen Orten in der Republik Anwen-
dung findet.


(Oliver Luksic [FDP]: Heiliger Sankt Pronold!)


Wenn es um neue Straßen geht, wenn es um die Verla-
gerung des Güterverkehrs auf die Schiene oder wenn es
darum geht, dass immer mehr Menschen den Flieger be-
nutzen, dann ist die Bereitschaft, die damit verbundene
Infrastruktur auszuhalten, unterausgeprägt.

Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder
erfahren, dass die Umsetzung gesellschaftlich akzeptier-
ter Ziele – ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte ist
die Energiewende, der Ausstieg aus der Atomkraft und
damit verbunden der Ausbau neuer Energietrassen – zu
Widerstand vor Ort führt.

Deshalb brauchen wir einen neuen Infrastrukturkon-
sens. Zukünftig können wir große Projekte nur noch
dann realisieren, wenn es gelingt, die Bürgerinnen und
Bürger auf Augenhöhe einzubeziehen, statt in ein Ge-
geneinander zwischen übergeordneten Interessen und
den konkreten Sorgen und Befürchtungen der Menschen
vor Ort zu verfallen.

Deswegen hat die SPD-Bundestagsfraktion das „Pro-
jekt Zukunft“ aufgelegt. Wir haben uns mit vielen Verei-
nen, Verbänden und Betroffenen vor Ort über die Frage
unterhalten, wie wir einen neuen Infrastrukturkonsens
herstellen können. Infrastruktur ist eine wichtige Le-
bensader für Wohlstand, für Lebensqualität und für Ar-
beitsplätze. Ich bin froh, dass wir als Bundesrepublik
Deutschland nie den Weg anderer Länder gegangen sind,

die zum Beispiel ihre industriellen Kerne aufgegeben
und auf Finanzmärkte gesetzt haben, wie es in Großbri-
tannien der Fall war.

Wer will, dass wir auch in Zukunft ein moderner In-
dustrie- und Dienstleistungsstandort sind, der muss auch
dafür Sorge tragen, dass die richtige und wichtige Infra-
struktur schnell geschaffen und ausgebaut wird. Das
geht nur, wenn man das nicht gegen die Bürgerinnen und
Bürger macht, sondern wenn man sie tatsächlich in die
Frage des Ob und die Frage des Wie einbezieht.


(Beifall bei der SPD)


Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleunigung sind
keine Gegensätze. Wir sind der felsenfesten Auffassung,
dass eine bessere und frühere Beteiligung der Bürgerin-
nen und Bürger auch zu einer Beschleunigung der Ver-
fahren führen kann. Die Erfahrung, die viele Bürgerin-
nen und Bürger machen, ist aber, dass eine nachträgliche
Akzeptanz hergestellt werden soll. Sie haben das Gefühl,
dass sie hinter die Fichte geführt werden.

Deswegen verfolgen wir mit dem heute vorliegenden
Antrag den Ansatz, mehr Transparenz bei der Planung
zu erreichen und die Planung nicht mehr hinter ver-
schlossenen Türen zu machen. Vielmehr müssen alle
Schritte für Betroffene einsehbar sein, und sie müssen
sich beteiligen können. Wir wollen eine Demokratisie-
rung des Planungsverfahrens. Außerdem wollen wir,
was ganz wichtig ist, einen Dialog auf Augenhöhe. Wir
schlagen dazu ganz konkrete Mittel vor.

Die Bundesregierung unter der Federführung des In-
nenministeriums plant zurzeit einen Gesetzentwurf, der
darauf abzielt, Planungen zu beschleunigen und Bürge-
rinnen und Bürger besser und mehr einzubeziehen.

Wer heute dazu Die Welt liest, stellt fest, dass Heiner
Geißler, also derjenige, der von der CDU ausgesucht
worden ist, weil er sich mit Bürgerbeteiligung und
Mediation am besten auskennt, dieses Vorhaben aufs
Schärfste kritisiert. Er sagt, bei diesen Vorschlägen der
Bundesregierung gehe es allenfalls darum, eine verbes-
serte Anhörung zu erreichen. Es fehle allerdings, dass
mit den Bürgerinnen und Bürgern auf Augenhöhe gere-
det wird. Das ist aber doch die Voraussetzung dafür, dass
man Akzeptanz herstellt und einen Infrastrukturkonsens
erreicht.


(Beifall bei der SPD)


Was macht der Bundesverkehrsminister? Er legt uns
in dieser Woche ein Handbuch vor. Nachdem wir Sozial-
demokratinnen und Sozialdemokraten eine ganze Menge
aufgeschrieben haben, was man tun kann, erstellt der
Bundesverkehrsminister ein Handbuch. Das ist schön.
Manchmal ist Sprache aber verräterisch. Im Internet
nachlesbar heißt es unter Frage 8:

Welche Konsequenzen hat die Teilnahme an Bür-
gerbeteiligungsgesprächen für die Rechte Betroffe-
ner im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren?
Welche Verbindlichkeit haben Ergebnisse von Me-
diationsverfahren, Runden Tischen oder ähnli-
chem?





Florian Pronold


(A) (C)



(D)(B)


Als Antwort ist dort zu lesen:

Gleichzeitig ist es wichtig, dass es eine gewisse
Verlässlichkeit im Hinblick auf die zur Konfliktlö-
sung gefundenen Kompromisse gibt und sich die
Beteiligten an die Ergebnisse gebunden fühlen.

Auch sollten möglichst

– möglichst! –

alle entscheidungserheblichen Fakten auf den Tisch
kommen.

Sprache ist verräterisch; das zeigt sich in dieser Ein-
schränkung.

Wir erleben gerade in Frankfurt eine Nachtflugde-
batte. Es hat unter Hans Eichel eine wirklich hervorra-
gende Mediation stattgefunden. Diese führte zu einem
Ergebnis. Auf dieses Ergebnis haben sich die Menschen
verlassen, dass es nämlich dort keine Nachtflüge geben
wird. Dann ist unter Roland Koch dieses Ergebnis igno-
riert worden, sodass der Fall jetzt beim Bundesverwal-
tungsgericht liegt und sich die Menschen von Ihnen zu
Recht hinter die Fichte geführt vorkommen.


(Patrick Döring [FDP]: Beschluss des Gerichtes! Unabhängige Justiz! Schon einmal davon gehört?)


In Frankfurt haben Sie für diese Haltung die Quittung
bekommen. Was wollen Sie denn?


(Patrick Döring [FDP]: Beschluss des Gerichtes!)


– Brüllen Sie nicht dazwischen, Herr Döring. Wenn Sie
eine Frage haben, stellen Sie sie doch. Darüber würde
ich mich freuen.


(Beifall bei der SPD – Zurufe von der FDP)


– Es hilft nichts, wenn Sie noch so laut schreien. – Das,
was wir wollen, ist: Wir wollen, dass Bürgerinnen und
Bürger mitentscheiden, welche Infrastruktur unser Land
braucht. Dazu wollen wir auch auf Bundesebene die
Möglichkeit von Volksentscheiden und Referenden
schaffen. Nur wenn es tatsächlich eine Entscheidung
über das Ob und Wie gibt, kann diese nachher vor Ort
akzeptiert werden.

Natürlich werden die vor Ort Betroffenen nie immer
komplett für eine belastende Infrastruktur sein. Aber
wenn es einen gesellschaftlichen Konsens gibt, dann ist
natürlich die Bereitschaft, auch eine belastende Infra-
struktur zu ertragen, größer, nämlich dann, wenn man
vorher beim Ob und beim Wie wirklich beteiligt worden
ist.

Wir wollen, dass Bürgerinnen und Bürger einen Bür-
geranwalt von der Verwaltung gestellt bekommen. Es
kann doch nicht sein, dass jeder Bürger im Laufe eines
Planungsverfahrens selber zum Verwaltungsfachjuristen
werden und sich all diese Kenntnisse selber aneignen
muss.

Wir wollen, dass bei großen Vorhaben Bürgerinnen
und Bürger, die nicht die Zeit und die Lust haben, sich
mit der Frage intensiv zu beschäftigen, trotzdem die

Möglichkeit haben, einen schnellen und guten Einblick
zu bekommen.

Was spricht denn heute auch bei Großprojekten gegen
eine Computersimulation – das ist ähnlich wie ein Com-
puterspiel –, bei der die Menschen sehen: Was passiert,
wenn die Trasse an der einen oder an einer anderen
Stelle verläuft? Was kostet das an Ausgleichsmaßnah-
men? Was bedeutet das für den Steuerzahler und die
Steuerzahlerin? Wer ist betroffen? Wie viele sind betrof-
fen? Das kann man heute alles in einer vernünftigen
Computersimulation machen. Das fördert vielleicht das
Verständnis für die Problemlagen: Wenn an der einen
Stelle etwas gemacht oder unterlassen wird, sind dafür
andere an anderer Stelle betroffen. Dieses Vorhaben
kann man doch schnell umsetzen.

Wir wollen, dass es verbindliche Qualitätsstandards
gibt. Das, was wir immer wieder erleben, ist, dass eine
Mediation von dem größten Befürworter, zum Beispiel
dem Landrat eines Landkreises beim Bau einer Auto-
bahn – sagen wir einmal: die A 8 –, geleitet wird. Er
wird nicht als neutraler Mediator wahrgenommen. Die
Anregungen der Bürgerinnen und Bürger werden dann
nicht aufgenommen. Das führt natürlich zu Widerstand.
Deswegen wollen wir verbindliche Standards dafür, wie
eine Mediation ausschauen, was in dem Verfahren pas-
sieren und dass das Verfahren insgesamt transparent und
offen verlaufen soll.

Wir sind im Gegenzug dafür, Planungen zu beschleu-
nigen. Es kann doch nicht wie in Stuttgart sein, dass
17 Jahre nach Abschluss des Planfeststellungsverfahrens
erst mit dem Bau begonnen wird. So etwas hat mit dem
Ernstnehmen von Bürgerinnen und Bürgern nichts zu
tun.

Wir wollen eine Vermeidung von Doppelprüfungen.
Wir regen an, dass man noch einmal an das herangeht,
woran die schwarz-gelbe Bundesregierung gescheitert
ist, nämlich Raumordnungsverfahren und Planfeststel-
lungsverfahren zusammenzuführen – zumindest zu ei-
nem Teil –, um Doppelprüfungen zu vermeiden.

Wir wollen, dass Bürgerinnen und Bürger schon sehr
früh eingebunden sind, auch in einem Vorverfahren. Wir
wollen, dass der Planungsträger verpflichtet ist, schon
am Anfang zu informieren und die Akzeptanz zu prüfen,
damit er auch für sich selber schon sehen kann: Wo gibt
es Widerstände? Wie geht man damit um?

Wir wollen ferner, dass überprüft wird, wie die Erfah-
rungen mit der erstinstanzlichen Zuständigkeit des Bun-
desverwaltungsgerichtes sind, dass man überlegt, bei
welchen Maßnahmen man dies auch in Zukunft unter
Umständen so halten kann. Was zum Beispiel die Flug-
routen angeht, wollen wir, dass Teil des Planfeststel-
lungsverfahrens wird, dass zukünftig die Betroffenen
– auch alle potenziell Betroffenen – rechtzeitig und um-
fassend in den gesamten Dialog einbezogen werden.

Wenn wir wollen, dass der Industrie- und Dienstleis-
tungsstandort Deutschland leistungsfähig erhalten bleibt,
dann müssen wir für einen Infrastrukturkonsens sorgen.
Das geht nur mit Transparenz und wenn die Bürgerinnen





Florian Pronold


(A) (C)



(D)(B)


und Bürger auf Augenhöhe beteiligt werden und tatsäch-
lich mitbestimmen können.


(Beifall bei der SPD)


Dafür müssen Sie sorgen und nicht für eine Verbesse-
rung des Anhörungsverfahrens. Es geht nicht darum, ir-
gendwelche Handbücher aufzulegen, sondern um wirkli-
che Änderungen im Sinne des Ernstnehmens der Bürger
und der Schaffung eines Infrastrukturkonsenses.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717202800

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der

Kollege Dirk Fischer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1717202900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass die SPD die Not-
wendigkeit einer leistungsfähigen Infrastruktur erneut
bestätigt.


(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist ja mal ein Grundsatz!)


Der Konsens, den wir in dieser Frage haben, ist wichtig.
Aber die Regierungskoalition von CDU, CSU und FDP
ist schon ein ganzes Stück weiter.


(Sören Bartol [SPD]: Wo denn?)


Es gibt im Deutschen Bundestag den Konsens: Mobilität
und Infrastruktur schaffen die Voraussetzungen für Be-
schäftigung, Wohlstand und die Nutzung persönlicher
Freiheit.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Nicht mit uns!)


Leistungsfähige und optimal vernetzte Verkehrswege ha-
ben somit für unser Land eine zentrale Bedeutung. Wir
verfügen heute in Deutschland schon über ein gut ausge-
bautes Verkehrsnetz.

Wir wissen, dass das für unser Land einer der wich-
tigsten Standortfaktoren ist; denn unsere arbeitsteilige
Volkswirtschaft verdient ihr Geld auch mithilfe einer
hervorragenden Verkehrsinfrastruktur. Durch die Infra-
struktur können Arbeitsplätze in allen Teilen des Landes
geschaffen und gesichert werden, auch in peripheren
Räumen. Das entspricht der Verpflichtung des Grundge-
setzes, die wir ernst nehmen. Aufgrund unserer zentralen
Lage in Europa stehen wir zusätzlich in der Verantwor-
tung, insbesondere auch für das gerade jetzt so wichtige
wirtschaftliche Zusammenwachsen Europas zu sorgen.
Wir müssen also im Ergebnis alles dafür tun, unsere Ver-
kehrswege durch Investitionen leistungsfähig zu erhalten
und zukunftsfähig auszubauen.

Aber Geld ist nicht alles. Auch die Planung und Um-
setzung der Bauvorhaben müssen in einem überschauba-
ren Zeitraum möglich sein. Jahrzehntelange, viel zu
lange Planungs- und Bauprozesse binden in unverant-

wortlicher Weise Kraft, Zeit und Geld und verhindern
notwendige volkswirtschaftliche Effekte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die zentrale Frage an uns alle ist: Kann man daran etwas
ändern?

Nicht ändern kann man nach meiner Auffassung die
Tatsache, dass von jedem Infrastrukturvorhaben Ein-
schränkungen und Belastungen für unmittelbar betrof-
fene Anlieger ausgehen, und dies gerade in einem sehr
dicht besiedelten Land. Diese Konflikte sind im Grund-
satz unvermeidlich. Das erzeugt immer wieder Konflikt-
potenziale. Die Konsequenz für Infrastrukturvorhaben,
die in aller Regel als Bedarf vom Gesetzgeber festgesetzt
worden sind, kann doch nicht sein, völlig darauf zu ver-
zichten, um jedem Konflikt auszuweichen, sondern wir
müssen uns anstrengen, eine größtmögliche Minimie-
rung der schädlichen Auswirkungen auf die Anlieger
und die Umwelt zu erreichen.

Dazu brauchen wir im Diskussionsprozess mehr Ak-
zeptanz für die Projekte in der Gesamtbevölkerung.
Dazu sind noch mehr Transparenz und Bürgerbeteili-
gung schon in frühen Planungsphasen notwendig. Wir
müssen die Leute informieren und ihnen das Pro und
Kontra darstellen und sie in einem solchen Prozess im
positiven Sinne mitnehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will sagen, Herr Pronold: Diese Herausforderung
nimmt die Bundesregierung nachweislich sehr ernst.


(Sören Bartol [SPD]: Wo denn?)


Dazu bedarf es keines Antrages der SPD-Fraktion,


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


bei dem man den Eindruck hat, dass Sie offensichtlich
von dem einen Extrem in das andere verfallen wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Sören Bartol [SPD]: Gut lesen! Lesen bildet!)


Nach dem SPD-Konzept hätten wir in der Zukunft
zwar mehr Kommunikation, aber es würde wohl kaum
noch ein Projekt in vernünftigen Zeitabläufen realisiert
werden können, und das auf allen Ebenen: zu Lande, zu
Wasser und in der Luft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Bei meiner Vorbereitung kam mir die Idee, man sollte
das, was Sie aufgeschrieben haben, vielleicht einmal in
einem SPD-geführten Bundesland als Pilotprojekt
durchführen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Jubel in den anderen Bundesländern über frei wer-
dende Mittel für ihre Infrastrukturvorhaben wäre wahr-
scheinlich relativ groß.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)






Dirk Fischer (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)


Das zu der Verkehrsinfrastruktur Gesagte gilt auch für
den Ausbau der Energienetze in Deutschland. So ent-
schieden wir gemeinsam aus der Kernenergie raus
wollen, so entschieden müssen wir aber auch in die Er-
zeugung, Verteilung und Speicherung von Strom aus er-
neuerbaren Energiequellen rein wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Bettina Hagedorn [SPD]: Na, dann man los! – Sören Bartol [SPD]: Applaus!)


Gegen beides zu sein, Herr Kollege Hofreiter – das kön-
nen Sie landauf, landab beobachten –, nämlich gegen die
Kernenergie, gegen die Verspargelung der Landschaft,
den Ausbau der Energienetze und die Pumpspeicher-
werke, kann nur ein völliges Desaster für unser Land in
der Energiepolitik zur Folge haben. Davor kann man nur
dringend warnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das bei der CDU/CSU! Das ist das Problem!)


Wir brauchen schnellstmöglich den Ausbau der Über-
tragungs- und Verteilungsnetze sowie der Speicherkapa-
zitäten für Strom aus erneuerbaren Energien. Dabei müs-
sen sich alle glaubwürdig anstrengen, dies in der
Bevölkerung verständlich zu machen und durchzuset-
zen.

Wir müssen auch durch mehr Information und eine
frühzeitige Bürgerbeteiligung die Akzeptanz erhöhen.
Die Bundesregierung verfolgt dieses Ziel mit Nach-
druck. Denn am Ende zählt nur die Tat bzw. das Ergeb-
nis.

Vor kurzem ist der Gesetzentwurf zur Verbesserung
der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung
von Planfeststellungsverfahren von der Bundesregierung
auf den Weg gebracht worden. Das begrüßen wir aus-
drücklich. Mit diesem Gesetz wollen wir neue Möglich-
keiten für eine verbesserte Teilhabe unserer Bürgerinnen
und Bürger schaffen.

Eine Öffentlichkeitsbeteiligung kann künftig bereits
vor dem eigentlichen Verwaltungsverfahren stattfinden
und einem möglichst großen Personenkreis offenstehen.
Dieses Instrument der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung
soll das Planfeststellungs- oder Genehmigungsverfahren
bei Großvorhaben besser vorbereiten und helfen, Kon-
flikte frühzeitig beizulegen oder sogar zu vermeiden.

Das wird dazu führen, dass wichtige Infrastrukturpro-
jekte am Ende sogar schneller umgesetzt werden, und
das trotz oder gerade wegen mehr Öffentlichkeitsbeteili-
gung. Das ist das Ziel, das wir anstreben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das geplante E-Government-Gesetz wird zudem da-
für sorgen, dass alle Planungsunterlagen künftig im In-
ternet bekannt gegeben werden. Das bedeutet deutlich
mehr Öffentlichkeit für alle Menschen, die sich damit in-
tensiv befassen wollen.

Wir beglückwünschen im Unterschied zu Ihnen, Herr
Pronold, unseren Verkehrsminister Peter Ramsauer zum
gestern vorgestellten Entwurf eines Handbuches, das
sämtliche Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung beinhal-
tet. Wir freuen uns darüber, dass der Entwurf auf dem
Tisch liegt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Florian Pronold [SPD]: Das ist ein bunter Katalog!)


– Sie werden es auch lesen müssen, damit Sie Ihren Er-
fahrungsschatz ein bisschen erweitern können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn darin wird konkret aufgezeigt, welche gesetzlichen
Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung bereits heute exis-
tieren, wie diese besser und intensiver genutzt werden
können und welche weiteren Maßnahmen gegebenen-
falls ergriffen werden können. Damit erreichen wir eine
bessere und frühzeitigere Bürgerbeteiligung. Dazu wird
auch noch ein Werkzeugkasten mit Vorschlägen für eine
durchgängige Bürgerbeteiligung auf allen Verfahrens-
ebenen erarbeitet, aus dem die im Einzelfall sinnvoll er-
scheinenden Maßnahmen ausgewählt werden können.

Das Handbuch richtet sich an Vorhabenträger, Behör-
den und Bürger und soll einen Diskussionsprozess ansto-
ßen. Interessierte Bürger, Institutionen, Verbände und
sonstige Einrichtungen können bis Mai Anmerkungen
und Vorschläge einreichen, die dann ausgewertet werden
und bei der Endfassung des Handbuches berücksichtigt
werden können. Das Handbuch hat also nicht nur eine
bessere Bürgerbeteiligung zum Inhalt, sondern kommt
selbst mit mehr Bürgerbeteiligung zustande.

Am Ende will ich die SPD ausdrücklich ermuntern,
sich doch noch einmal kritisch mit ihren eigenen Vor-
schlägen auseinanderzusetzen. Ein ehemaliger Chef des
Bundeskanzleramtes, also ein richtiger Macher, ein
pragmatischer Macher, der selbst Erstunterzeichner Ihres
Antrages ist, weiß doch ganz genau, dass der Aspekt der
zügigen Projektrealisierung nicht aus den Augen verlo-
ren gehen darf.

Wir als Koalition aus Union und FDP sind optimis-
tisch, dass der Gesetzentwurf unserer Bundesregierung
beiden Herausforderungen gerecht wird: einem besseren
Verständnis zwischen Bürger und Staat – uns darum zu
sorgen und zu bemühen, mahnt uns ja auch der neue
Bundespräsident –, aber auch dem dringend notwendi-
gen und zügigen Ausbau unserer Verkehrswege und
Energienetze.

In diesem Sinne sollten wir positiv rangehen, und ich
glaube, dann werden wir auch für unsere Projekte in der
Durchsetzung einen guten Beitrag leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717203000

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leidig von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717203100

Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kolle-

gen! Tatsächlich ist es die Protestbewegung gegen Stutt-
gart 21 gewesen, die die demokratische Erneuerung im
21. Jahrhundert auf die Tagesordnung gesetzt hat.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Glauben Sie eigentlich selbst, was Sie da erzählen?)


– Ja, ich glaube fest daran. Vorher haben Sie überhaupt
nicht darüber gesprochen; jetzt reden wir darüber – und
auch in der vorausgegangenen Debatte über Europa.

Es steht die Frage im Raum, wie Bürgerinnen und
Bürger bei der handfesten Weichenstellung für die Zu-
kunft nicht nur mitreden, sondern auch entscheiden kön-
nen. Jetzt reden wir über Infrastruktur, und viele der Pro-
jekte, um die es geht, sind mit der Frage verbunden: Wie
wollen wir künftig leben, und wie sollen unsere Enkel
leben können?


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wir wollen im Stau stehen!)


Die Milliarden Euro, die heute in einen unterirdischen
Bahnhof gesteckt werden, stehen künftig nicht zur Ver-
fügung, um viele kleine Bahnhöfe attraktiv und barriere-
frei zu gestalten. Das steht gegeneinander. Es geht um
die langfristigen Perspektiven,


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ja!)


um die Perspektiven, die von den Bestimmern heute in
Beton gegossen werden.

Eine Autobahnbrücke, die jetzt in diesem Parlament
beschlossen wird, ist fertig, wenn viele der Abgeordne-
ten schon gar nicht mehr verantwortlich sind.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hallo! Warum deprimieren Sie so? Ich sitze noch in 20 Jahren hier! Seien Sie doch etwas optimistischer!)


Aber die Menschen im Tal, über deren Häuser und Wein-
berge die Lkw-Kolonnen dröhnen, können nicht fort.


(Beifall bei der LINKEN)


Und wo sind die Stararchitekten, Projektleiter und
Ministerpräsidenten, die Stuttgart 21 mit Feuer und
Flamme, mit Lug und Trug durchgesetzt haben? Weg,
noch bevor der eigentliche Bau beginnt.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hallo! Selbst in Stuttgart war das Volk dafür! Nehmen Sie das mal zur Kenntnis! Sie erzählen hier Märchen! Sie sind hier im Parlament! Da sind Sie der Wahrheit verpflichtet!)


Mittlerweile liegen gute Vorschläge für eine wirk-
same Bürgerbeteiligung auf dem Tisch. Wir haben als
Linksfraktion eine Studie in Auftrag gegeben und im
Oktober veröffentlicht. Der Bund für Umwelt und Na-
turschutz hat im letzten Monat ein Sechs-Punkte-Pro-
gramm vorgestellt, und, Herr Ramsauer, es wäre super
gewesen, wenn Sie dieses Programm zur Grundlage Ih-
rer Arbeit gemacht hätten.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn in diesem Programm sind sehr präzise die Hinder-
nisse und Probleme geschildert, die Bürgerinnen und
Bürger davon abhalten, in der Praxis wirklich mitzube-
stimmen. Gleichzeitig werden die passenden Lösungen
dargestellt.

Die SPD-Fraktion hat jetzt einen Antrag eingebracht.
Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken,


(Oliver Luksic [FDP]: Das würde mir zu denken geben!)


auch wenn wir da noch einigen Diskussionsbedarf ha-
ben.

Aus unserer Sicht gibt es ein paar wesentliche Bedin-
gungen für den Fortschritt der Demokratie an dieser
Stelle. Dazu gehört, dass die Möglichkeiten der Beteilig-
ten und ihrer Verbände denen der Projektbetreiber eben-
bürtig sind. Das gilt zum Beispiel für den Zugang zu Un-
terlagen. Das gilt aber auch für den Zugang zu Recht und
Gesetz. Heute können Projektträger beispielsweise alle
Einwände der Bürgerinnen und Bürger auf ihre Recht-
mäßigkeit hin überprüfen lassen. Umgekehrt ist dies
aber nicht möglich, und auch dies will ich am Beispiel
Stuttgart 21 deutlich machen.

Sie alle erinnern sich daran, dass der sogenannte
Stresstest am Ende der sogenannten Faktenschlichtung
der Knackpunkt war. Schafft es der milliardenteure Tun-
nelbahnhof, wenigstens 30 Prozent mehr Züge abzuwi-
ckeln als der bestehende Kopfbahnhof? Das hat die
Deutsche Bahn AG behauptet und mit einem langwieri-
gen Simulationsverfahren nachgewiesen. Alle Zweifel
daran wurden weggewischt.

Inzwischen wissen wir, dass der Stresstest manipuliert
war.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Was erzählen Sie eigentlich heute? – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: So ein Quatsch!)


Wir wissen, dass das Ergebnis „49 Züge in der Spitzen-
stunde“ falsch ist.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das Volk hat mit großer Mehrheit für den Bahnhof gestimmt! Dann können Sie sich nicht hier hinstellen und solchen Scheiß erzählen! Das ist unglaublich!)


Ich habe vorhin einen alternativen Geschäftsbericht zur
Bahnbilanz in die Hände bekommen. Darin ist doku-
mentiert, dass die Bahn selber im Jahr 2002 einen Kapa-
zitätsnachweis an das Eisenbahn-Bundesamt geliefert
hat, in dem steht, was auch die Gegner des Projekts vor-
getragen und nachgewiesen haben:


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wenn die Bürger nicht so abstimmen, wie Sie wollen, wird das Volk beleidigt, oder was ist los?)


Der neue Bahnhof schafft nicht mehr als der alte; im Ge-
genteil: maximal 32 Züge in der Spitzenstunde.


(Oliver Luksic [FDP]: Haben die das zu Hause im Hobbykeller ausgezählt oder was? Sind das Hobbyeisenbahner?)






Sabine Leidig


(A) (C)



(D)(B)


Was geschieht jetzt? Wer macht die Verantwortlichen
haftbar? Wer überprüft die Richtigkeit dieser vorgebli-
chen Stresstestgeschichte?

Das muss sich ändern. Diejenigen, die die Öffentlich-
keit täuschen, die falsche Unterlagen vorlegen, müssen
mit Konsequenzen rechnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Nur so kann das Ungleichgewicht der Kräfte etwas ver-
ringert werden, das ansonsten die Bürgerbewegungen er-
schlägt.

Vor allem aber – darüber wurde schon gesprochen –
müssen die Bürgerinnen und Bürger über die Weichen-
stellungen entscheiden können. Nicht nur die konkret
projektierte Autobahn, nicht nur die konkrete Landebahn
oder der versenkte Bahnhof sollen jeweils zur Debatte
stehen; entscheidend ist, dass auch die sogenannte Null-
variante möglich ist: gar kein Ausbau von Autobahnen,
gar kein Ausbau von Flughäfen, stattdessen vielleicht
lieber Ausbau von Eisenbahnverbindungen.


(Beifall bei der LINKEN)


Es müssen von Anfang an echte Alternativen zur De-
batte stehen. Wir brauchen ergebnisoffene Grundsatz-
anhörungen


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jawohl!)


am Beginn der Maßnahme.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jawohl!)


Die Ergebnisse dieser Anhörungen müssen dann auch
verbindlich sein.

Heute findet die Bürgerbeteiligung erst statt, wenn die
Entscheidung eigentlich längst gefallen ist, wenn schon
Hunderttausende Euro für Planungskosten investiert
worden sind, wenn die Politik sich schon festgelegt hat.
Die Einwände und Änderungswünsche werden dann als
Störung empfunden, und es geht vor allen Dingen da-
rum, die Konflikte zu befrieden, damit die Sache umge-
setzt werden kann.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie machen doch Unfrieden! Wir machen überhaupt nur Frieden!)


Herr Fischer, was Sie hier vorgetragen haben, ist ge-
nau diese Geschichte. Sie sagen: Wir wollen die Bürge-
rinnen und Bürger mitnehmen. – Sie wollen sie aber mit-
nehmen auf eine Reise, deren Ziel Sie längst bestimmt
haben. Es geht aber darum, dass auch die Ziele der Bür-
gerinnen und Bürger eine Rolle spielen, dass sie bestim-
men können, wohin die Reise geht.

Nun zum Handbuch, das Sie, Herr Ramsauer, dieser
Tage vorgelegt haben.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: „Herr Bundesminister Ramsauer“ heißt das! So viel Zeit muss sein!)


– Herr Bundesminister Ramsauer.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: So ist das!)


Das Handbuch für Bürgerbeteiligung ist das Gegenteil
von dem, was wir wollen. Es gehört eigentlich gleich bei
seinem Erscheinen auf den Müllhaufen der Geschichte.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Bommarius hat das heute in der Frankfurter
Rundschau sehr treffend kommentiert. Er schreibt: Die
Frage, die in diesem Handbuch behandelt wird, ist ei-
gentlich nur die, ob die Bürokratien das Placebo am An-
fang des Prozesses oder am Ende des Prozesses verabrei-
chen sollen. Hauptsache Placebo.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717203200

Kommen Sie bitte zum Schluss.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717203300

Hinter dieser Haltung versteckt sich eine Angst vor

dem Souverän, die wir nicht teilen. Wir meinen, dass es
Zeit ist in Deutschland für mehr Demokratie,


(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Aber für weniger Infrastruktur! Das ist Ihr Problem!)


dass mehr Volksbegehren, Volksentscheide auf allen
Ebenen möglich und notwendig sind. Die Bürgerinnen
und Bürger sind nicht zu dumm, sich mit den komplexen
Fragen zu beschäftigen. Wenn sie es täten, wäre das das
Ende einer Infrastrukturpolitik, die sich als Dienstleis-
tung für die Wirtschaft versteht.

Besten Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717203400

Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege

Oliver Luksic.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Oliver Luksic (FDP):
Rede ID: ID1717203500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je-

der von uns kennt wohl aus seinem Wahlkreis oder Bun-
desland den Fall, dass Infrastrukturplanungen aus dem
Ruder laufen oder Bürger demonstrieren. Auch bei mir
in Saarbrücken ist das der Fall bei der Übertunnelung der
Saar bei dem Städtebauprojekt „Stadtmitte am Fluss“.
Dieser Schwierigkeiten in der Republik nimmt sich jetzt
diese Koalition an. Bundesminister Ramsauer hat das
Handbuch für Bürgerbeteiligung vorgestellt. Wir disku-
tieren im Plenum auch bald das Gesetz zur Planungsver-
einfachung. Das ist gut. Das ist wichtig. Da musste et-
was getan werden. Auch wenn Ihnen das nicht passt:
Diese Koalition macht das, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Eines ist uns bei diesem Thema besonders wichtig:
Wir dürfen nicht so tun, als wenn diejenigen, die am lau-
testen schreien, die die meisten Sitzblockaden veranstal-
ten, die am meisten in Internetforen schreiben, immer





Oliver Luksic


(A) (C)



(D)(B)


automatisch die Mehrheit der Bevölkerung repräsentie-
ren.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Am lautesten schreien die Unternehmerverbände! Die haben am meisten Geld!)


Liebe Frau Leidig, genau das hat die Bürgerbefragung
beim viel zitierten Stuttgart 21 deutlich gemacht. Ihre
Rede hat klar gezeigt, dass Sie das Urteil des Volkes
nicht akzeptieren. Das sollte Ihnen zu denken geben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie und das Volk – das passt zusammen!)


Die Bürgerbefragung ging nämlich anders aus, weil
es – wie so oft – auch so etwas wie eine schweigende
Mehrheit gab. Es gibt nämlich auch Menschen, die nicht
immer Zeit haben, zu protestieren. Wir wollen Bürgerbe-
teiligungen, aber am Anfang und nicht am Ende von
Projekten und mit sinnvollen Instrumenten. Dann sind
die Menschen auch mit den geplanten Infrastrukturpro-
jekten zufrieden. Das ist das Ziel unserer Koalition. Wir
wollen nicht nachträglich, wie Sie es eben getan haben,
mit falschen Fakten Unfrieden stiften. Sie haben eben
falsche Behauptungen zu Stuttgart 21 aufgestellt.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Die falsche Behauptung hat die Bahn aufgestellt! Das lässt sich auch nachweisen!)


Akzeptieren Sie endlich die Entscheidung der Bevölke-
rung in Stuttgart!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, in unserem Land sind die Pla-
nungskosten oft fast schon höher als die Baukosten. Das
zeigt: Hier läuft etwas falsch. Deswegen sind Bürgerbe-
teiligung und Planungsbeschleunigung für die FDP-Bun-
destagsfraktion wichtige Themen. Wir haben dazu schon
in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf
vorgestellt und uns mit diesen Themen befasst. Wir ha-
ben schon früh gesagt: Wir wollen auch die lokale
Ebene, die lokalen Räte und Parlamente, stärken. Wir
wollen die Bedeutung von Bürgerentscheiden erhöhen.
Wir glauben, dass wir einen Paradigmenwechsel brau-
chen: Wir brauchen eine Bringschuld von Behörden und
keine Holschuld von Bürgern. Wir wollen planungsbe-
gleitende Mediationsverfahren und keine Doppelung der
Umweltverträglichkeitsprüfung im Raumordnungs- und
im Planfeststellungsverfahren. Die SPD hat dazu in ih-
rem Antrag einen richtigen und wichtigen Punkt aufge-
griffen. Dies sind schon lange Forderungen von uns, die
jetzt nach und nach von dieser Koalition umgesetzt wer-
den.

Liebe Kollegen der SPD, Sie haben in Ihren Antrag in
der Tat viele richtige Punkte aufgenommen – vieles kön-
nen wir mittragen –:


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Dann können Sie zustimmen!)


Planfeststellungsverfahren beschleunigen, Doppelungen
vermeiden, mehr lokale Bürgerbeteiligung.

Aber es gibt einen großen Unterschied: Wir sind diese
Themen schon angegangen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wo denn?)


Und wenn es darauf ankam, liebe Kollegen der SPD
– beispielsweise beim NABEG, bei der Beschleunigung
des Netzausbaus, den wir in dieser Koalition angestoßen
haben, weil wir die Energiewende nicht aufgrund eines
verzögerten Netzausbaus hinauszögern wollen –, haben
Sie dagegen gestimmt. Deswegen ist Ihr Antrag auch
nicht glaubwürdig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir wollen jetzt das E-Government-Gesetz einbrin-
gen, um die Chancen des Internets bei der Bürgerbeteili-
gung zu nutzen. Wir bringen auch die Novelle des Pla-
nungsvereinfachungsgesetzes auf den Weg. Auch damit
stärken wir die Bürgerbeteiligung. So bringen wir das
Land voran, und nicht mit Ihren Vorstößen hier im Parla-
ment. Wir werden genau schauen, wie Sie sich im Bun-
desrat verhalten. Sie tun so, als würde sich diese Koali-
tion um nichts kümmern, aber genau das Gegenteil ist
der Fall. Erinnern Sie sich an Ihre eigene Regierungszeit
– Sie waren elf Jahre lang an der Regierung –: Weder un-
ter Herrn Tiefensee noch unter Herrn Stolpe gab es Vor-
schläge, wie man schneller baut, wie man Bürger besser
beteiligt, wie man für bessere Infrastruktur sorgt. Nach
elf Jahren Stillstand bei SPD-geführten Häusern geht
diese Regierung dieses Thema nun an. Das ist gut und
richtig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Warten Sie ab, bis die entsprechenden Gesetze hier
eingebracht werden! Dann können wir darüber diskutie-
ren. Blockieren Sie das nicht im Bundesrat, verwässern
Sie es nicht! Ich glaube, es gibt in der Tat einen großen
Infrastrukturkonsens, zumindest zwischen den Regie-
rungsfraktionen und der SPD. Die Linken und Grünen
dagegen sind nicht nur bei Flughäfen, Straßen, Brücken
und Energienetzen, sondern auch bei Bahnhöfen kri-
tisch. Es ist wichtig, dass wir dieses Thema gemeinsam
nach vorne bringen. Wir brauchen einen großen Konsens
und keine Schaufensteranträge. Diese Regierung geht
das Thema an – das ist gut und richtig –; und bei diesem
Weg bleiben wir.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717203600

Für die Grünen hat jetzt das Wort der Kollege

Dr. Anton Hofreiter.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer selbst aufseiten der Bürger an solchen
Verfahren beteiligt war, der weiß, wie das letztendlich
abläuft. Wie läuft es im Kern ab? Die Behörden haben





Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)


zum Teil schon viele Jahre geplant; dann wird das Plan-
feststellungsverfahren eingeleitet. Im Planfeststellungs-
verfahren ist alles festgelegt: Jeder Böschungswinkel ist
festgelegt; durch den Grünordnungsplan weiß man meis-
tens schon, wo jeder einzelne Baum neu gepflanzt wer-
den soll; man kennt exakt die Fahrbahnbreite. Alles liegt
letztendlich fest. Dann kommt der Anhörungstermin,
wenn er denn stattfindet. Was erlebt man dort? Dort ar-
gumentieren zum Teil hochfachkundige Menschen ge-
gen die Planungen der Behörden – und selbstverständ-
lich wird alles abgeschmettert. Woran liegt das? Das
liegt daran, dass im Erörterungstermin eigentlich ein
Konsens gefunden werden sollte, das Verfahren aber de
facto zeitlich so strukturiert ist, dass es auf Konfronta-
tion ausgelegt ist.

Man kann die Behörden ja verstehen. Wenn jemand
ein Straßen- oder Schienenprojekt zwei, drei oder vier
Jahre aufwendig geplant hat, dann hält er es natürlich
nicht für falsch, sondern für richtig. Erst danach beginnt
der Dialog mit den betroffenen Bürgern. Die Behörden
verteidigen das Projekt selbstverständlich bis aufs Mes-
ser. Das würde jeder von uns genauso machen. Wenn
man zwei oder drei Jahre an etwas gearbeitet hat, dann
will man sich nicht sagen lassen, dass das alles falsch
war. Deshalb ist der Zeitpunkt der Bürgerbeteiligung
von entscheidender Bedeutung. Die Bürger müssen in
dem Moment beteiligt werden, in dem noch nicht alles
feststeht und das Ergebnis noch offen ist. Dann hat man
die Chance auf eine vernünftige Bürgerbeteiligung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es war schon die Rede davon, dass die Sprache verrä-
terisch ist. Es wird versucht, mit einer Bürgerbeteiligung
Akzeptanz für ein Verfahren zu schaffen. Genau das
bringt die Leute auf die Palme. Es wird nach dem Motto
gehandelt: Unser Projekt ist richtig, wir haben nur ein
Kommunikationsproblem. – Jemand, der glaubt, bei sei-
ner Politik ein Kommunikationsproblem zu haben, hat
meistens ein Inhaltsproblem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Es ist nicht entscheidend für ein Verfahren, Akzeptanz
zu schaffen. Entscheidend ist, dass man mit den Leuten
in einen ehrlichen Dialog darüber eintritt, ob das Projekt
sinnvoll ist oder nicht. Wenn man dann gemeinsam fest-
stellt, dass das Projekt sinnvoll ist, gibt es eine höhere
Akzeptanz. Wenn man aber mit der Haltung in die Ver-
handlung geht, dass das Projekt gut ist und dass man es
nur ein bisschen pseudotransparent machen muss, um es
den Leuten besser verkaufen zu können, dann ist ein
Scheitern unvermeidlich. Das heißt: Dialog auf Augen-
höhe und kein Schaffen falscher Akzeptanz, die am
Ende scheitert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nun zu der Befürchtung, dass sich durch ein solches
Verfahren die Projekte unendlich verzögern. Wir, die wir

im Verkehrsausschuss sitzen, wissen, dass das nicht an
den Planungszeiten liegt. Wir haben eine Unmenge plan-
festgestellter Projekte, für die kein Geld vorhanden ist.
Dass sich die Projekte im Bereich Verkehrsinfrastruktur
in die Länge ziehen, liegt daran, dass wir eine giganti-
sche Wünsch-dir-was-Liste haben, die in keinem Ver-
hältnis zu den real vorhandenen Finanzen steht, egal wer
regiert. Das sollten wir alle miteinander ehrlich eingeste-
hen. In vielen Fällen ist der Träger des Vorhabens – die
DB AG ist ein schönes Beispiel dafür – froh über Bür-
gerproteste, weil man dann sagen kann: Die bösen Bür-
ger sind schuld. – Man sollte aber ehrlich sein und sa-
gen, dass man dafür kein Geld hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Nehmen wir zum Beispiel die Eisenbahnstrecke
Nürnberg–Erfurt. Das Vorhaben wurde 1992 beschlos-
sen. Baubeginn war 1996. Der erste Bauabschnitt ist
2017 fertig. Die ersten Brücken müssen grundsaniert
werden, bevor der erste Zug darüberfährt. Wir hatten
dann eine Bauzeit von 21 Jahren. Das ist doch keine
sinnvolle Planung. Das liegt aber nicht daran, dass sich
die Bürger so heftig gegen das Projekt gewehrt haben,
sondern schlichtweg daran, dass jeder Ministerpräsident
sein Wunschprojekt im Rahmen des Bundesverkehrswe-
geplans hat. Es liegt auch daran, dass wir uns nicht
trauen, Prioritäten zu setzen. Warum trauen wir uns das
nicht? In der Theorie spricht sich jeder für eine Prioritä-
tensetzung aus. In der Praxis aber bedeutet das, festzule-
gen: Du kriegst dein Projekt, alle anderen bekommen ihr
Projekt erst einmal nicht. – Das bedeutet Prioritätenset-
zung. Es bedeutet nämlich nicht nur, dafür zu sorgen,
dass einige Leute ihr Projekt schneller bekommen, son-
dern auch, dass andere ihr Projekt später bekommen.
Deshalb traut man sich letztendlich nicht, Prioritäten zu
setzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Alle haben davon gesprochen, dass die Bürger früher
beteiligt werden sollen, wenn auch mit unterschiedli-
chem Zungenschlag, auf Augenhöhe oder auch nur der
Akzeptanz wegen. Aber was passiert? Ein Handbuch
wird herausgegeben.


(Oliver Luksic [FDP]: Das ist nicht alles! Es kommt noch mehr!)


Es ist ja schön, wenn ein Handbuch herausgegeben wird.
Aber Hauptaufgabe einer Regierung ist es nicht, Hand-
bücher herauszugeben, die lediglich zur Beratung die-
nen, sondern die Hauptaufgabe besteht darin, Gesetze zu
verändern.


(Oliver Luksic [FDP]: Was hat Rot-Grün zu dem Thema gemacht?)


Wenn man in das Gesetz schaut, dann liest man Worte
wie „der Vorhabenträger kann …“; aber so funktioniert
das nicht. Wenn man die Bürger auf Augenhöhe beteili-
gen will, dann muss das Gesetz so ausgelegt sein, dass
die Bürgerbeteiligung am Anfang festgeschrieben wird.
Das mag kompliziert sein und ist gesetzgeberisch sicher
nicht einfach zu lösen, aber genau dieser Aufgabe muss





Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)


man sich stellen. Es reicht nicht, schöne Handbücher he-
rauszugeben, die von der Presse zu Recht als Placebo be-
schrieben werden. Machen Sie lieber vernünftige Ge-
setze! Dann bekommen Sie auch von uns Applaus.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717203700

Jetzt hat der Bundesminister Peter Ramsauer das

Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich wollte meine Rede eigentlich ganz anders
beginnen; aber der Kollege Hofreiter kommt mir heute
aus mehreren Gründen gerade recht.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Erster Grund. Was die Regierung zu tun und zu lassen
hat, das wissen wir selber am besten.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Eben nicht! Das ist ja das Problem!)


Deswegen sind wir ja an der Regierung.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Macht auf Zeit!)


Wenn Sie sagen, die Regierung solle Gesetze ändern,
dann antworte ich Ihnen als jemand, der diesem Parla-
ment bereits 21 Jahre angehört: Gesetzesänderungen
sind Sache des Parlaments, bei uns des Deutschen Bun-
destags.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sache der Regierung ist es, ordentlich und gut zu regie-
ren, und zwar gesetzeskonform.


(Lachen bei der SPD – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können auch Initiativen ergreifen!)


Auch das ist mit dieser Regierung in guter Weise ge-
währleistet.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist nicht verboten, Gesetzesinitiativen zu ergreifen!)


Manche Dinge muss man einfach richtigstellen. Sonst
heißt es, der Ramsauer habe das im Raum stehen lassen
und identifiziere sich vielleicht damit. Lassen wir also
die Kirche im Dorf!

Zweiter Grund. Es ist eigenartig, Herr Kollege
Hofreiter: Sie beschweren sich über gute Planungen. Das
war auch bei einigen anderen Oppositionsrednern der
Fall. Als Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung will ich hier einmal eine Lanze brechen für die

hervorragenden Planer und Planungsingenieure in all un-
seren Planungsbehörden, angefangen von den Gemein-
den über die Länder, die Bezirksregierungen bis hin zum
Bund. Wir haben überall hervorragende Planer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Sören Bartol [SPD])


– Danke, Herr Bartol. Klatschen Sie ruhig, trauen Sie
sich!


(Sören Bartol [SPD]: Habe ich doch!)


Ich lobe diese Leute.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wir auch!)


Warum planen sie so intensiv? Weil sie vorschriftsge-
mäß planen. Was würden Sie sagen, lieber Herr Kollege
Hofreiter, wenn wir mit lückenhaften Planungsunterla-
gen ins Planfeststellungsverfahren gingen? Dann wären
Sie doch der Erste, der das anprangern würde. Zu dieser
intensiven Planung gehört schlicht und einfach die Tat-
sache, dass Dinge bis in die kleinsten Details hinein be-
rücksichtigt werden müssen. Sie sind gelernter Biologe,
Sie haben über die biologische Artenvielfalt in den
Anden promoviert. Sie sollten wissen, dass in solchen
Planfeststellungsunterlagen auch berücksichtigt werden
muss, in welcher Vegetationsperiode, in welcher Kalen-
derwoche im Jahr der letzte Wiesenbrüter von A nach B
transferiert werden kann, weil sonst nicht weitergebaut
werden darf. Das sind die Realitäten in unserem Lande,
über die in vielen anderen Ländern der Welt – auch in
Südamerika, wo Sie Ihre Forschungen gemacht haben –
nur noch gelacht wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber wir halten uns natürlich daran, weil wir auf die
Einhaltung der Vorschriften achten.

Sie kommen mir aus einem dritten Grund gerade
recht. Sie haben mir vorgehalten, eine Wünsch-dir-was-
Bundesverkehrswegeplanung zu betreiben. Vielleicht
können Sie sich noch erinnern; im Jahr 2002 waren Sie
ja schon im Bundestag, das haben Sie mir letztens ge-
sagt. Wir haben übrigens neulich ein sehr gutes Ge-
spräch geführt; das möchte ich einmal verraten, wir sind
ja unter uns.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie können sich sicherlich daran erinnern, lieber Herr
Kollege Hofreiter, dass dieser von Ihnen als solcher be-
zeichnete Wünsch-dir-was-Katalog eine Erbschaft aus
rot-grüner Regierungszeit ist. Der letzte Investitionsrah-
menplan, den wir jetzt abgelöst haben, hatte ein Volu-
men von 57 Milliarden Euro. Wir haben das Ganze
wieder auf eine realistische Grundlage gestellt. Der In-
vestitionsrahmenplan, den ich vor wenigen Wochen nach
langen Konsultationen in Kraft gesetzt habe, hat ein Vo-
lumen von nur noch gut 41 Milliarden Euro.


(Stephan Kühn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind mit 9 Milliarden Euro unterfinanziert!)


Damit ist der Plan wesentlich realistischer geworden.





Bundesminister Dr. Peter Ramsauer


(A) (C)



(D)(B)



(Sören Bartol [SPD]: War das jetzt der IRP oder der Bundesverkehrswegeplan?)


Jetzt aber zum eigentlichen Thema des heutigen Ta-
ges. Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei diesem
Thema rennen alle bei mir, dem zuständigen Minister,
offene Türen ein. Insofern begrüße ich ganz ausdrück-
lich diese Debatte. Wir alle wissen, dass wir zwar schon
heute umfassende gesetzliche Beteiligungsverfahren ha-
ben, aber man sich mehr wünscht. Deshalb habe ich ges-
tern das Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung in
der Bundespressekonferenz vorgestellt. Ich möchte dazu
gerne einiges sagen. Das, was in diesem Handbuch steht,
geht Hand in Hand mit dem, was der Kollege Dr. Hans-
Peter Friedrich als Bundesinnenminister in derselben
Pressekonferenz erläutert hat, dem Planungsvereinheitli-
chungsgesetz. Das Planungsvereinheitlichungsgesetz
liefert sozusagen den gesetzgeberischen Rahmen für die
praktische Substanz; im Handbuch machen wir die ent-
sprechenden praktischen Vorschläge.

Ich möchte in dieser Debatte drei Kernbotschaften
hervorheben, die mit dem Handbuch für eine gute Bür-
gerbeteiligung in Verbindung stehen. Die erste Kernbot-
schaft lautet: Wir müssen in Deutschland Großprojekte
und Verkehrsinfrastrukturprojekte aller Art weiter er-
möglichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das mag für manche wie ein Angriff klingen,


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ja!)


für diejenigen, die überhaupt nichts verändern wollen.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Die alles verändern wollen!)


Gott sei Dank ist die Mehrheit dafür und sagt: Das ist ja
wohl eine Selbstverständlichkeit. – Über den Begriff des
Großprojekts kann in der Tat gestritten werden: Wann ist
etwas ein Großprojekt? Wenn man in Länder wie Brasi-
lien, Indien, Japan, China oder Russland reist, dann
merkt man: Die lachen über das, wofür wir schon den
Begriff Großprojekt verwenden.

Es geht hier aber nicht nur um Großprojekte – nach
unserer Terminologie –, sondern auch um stinknormale
Bundesfernstraßenausbauten oder um Schienenbauten.
Es muss weiter möglich sein, von einem Gleis auf zwei
Gleise auszubauen; das darf nicht sofort verteufelt wer-
den. Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen, vor
allen Dingen im Hinblick auf das Wachstum im Güter-
verkehr. Jawohl, der Güterverkehr soll von der Straße
auf die Schiene;


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Schön wär’s!)


aber wenn das geschehen soll, dann muss man Schienen-
bauten ermöglichen. Dazu bekenne ich mich in aller
Form.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die zweite Kernbotschaft lautet: Schneller bauen bei
mehr Bürgerbeteiligung. Ich weiß, dass viele dies für
eine Quadratur des Kreises halten. Aber wir müssen uns

dieser Anstrengung stellen, damit wir solche Infrastruk-
turprojekte weiterhin durchführen können, damit wir
weiter große Infrastrukturprojekte durchsetzen können.
Wenn man die Beiträge heute Vormittag zusammen-
nimmt, wird deutlich: Wir stimmen darin überein, dass
dies nur mit einer besseren, frühzeitigeren Bürgerbeteili-
gung möglich ist, und zwar im Rahmen der bestehenden
Regelungen, die in diesem Handbuch expressis verbis
aufgeführt sind. Die Bürgerbeteiligung muss dem Ver-
fahren gemäß den bestehenden gesetzlichen Regelungen
vorgeschaltet werden.

Ich möchte noch einmal unterstreichen – auch da be-
finde ich mich im Einklang mit den Rednern der Opposi-
tion –, dass diese Beteiligung nicht erst dann stattfinden
soll, wenn viele Dinge weitgehend festgeklopft sind,
sondern schon sehr frühzeitig, wenn wir noch Spiel-
räume haben, wenn die Pläne noch nicht fix und fertig
sind.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717203800

Entschuldigung, Herr Minister. Erlauben Sie eine

Zwischenfrage der Kollegin Hagedorn?

Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:

Gerne. Das gibt mir die Möglichkeit, meine Redezeit
x-beliebig zu verlängern.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717203900

Nein, x-beliebig nicht. Frage und Antwort sollten

kurz und präzise sein.

Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:

Ja, aber dennoch erschöpfend.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717204000

Bitte, Frau Hagedorn.


Bettina Hagedorn (SPD):
Rede ID: ID1717204100

Herr Ramsauer, ich konnte der Presse entnehmen,

dass Sie im Zusammenhang mit Ihrem Handbuch für
eine gute Bürgerbeteiligung das Dialogforum, das in
Schleswig-Holstein zur Hinterlandanbindung durch die
feste Fehmarnbelt-Querung implantiert ist, als Beispiel
lobend hervorgehoben haben. Dazu habe ich eine Frage.

Wir beschäftigen uns hier mit einem Antrag der SPD-
Fraktion, –

Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:

Darauf komme ich gleich noch zu sprechen.


Bettina Hagedorn (SPD):
Rede ID: ID1717204200

– der explizit einen Dialog auf Augenhöhe vorsieht;

das ist hier von vielen angesprochen worden.





Bettina Hagedorn


(A) (C)



(D)(B)



(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Ist die Fragezeit auch x-beliebig?)


In Schleswig-Holstein steht dahinter aber ein dickes Fra-
gezeichen; denn es wird nur über das Wie und nicht über
das Ob dieses Großprojekts gesprochen. Das wäre aber
nach Heiner Geißler Voraussetzung, um die Ernsthaftig-
keit eines Dialogs zu dokumentieren.

Jüngst haben zwei sehr engagierte Vertreter der dorti-
gen Bürgerinitiative unter berechtigtem Protest das
Dialogforum verlassen, weil alle anderen Teilnehmer,
insbesondere die Befürworter dieses Projektes, mit Un-
terlagen ausgestattet wurden, die den Gegnern nicht zur
Verfügung gestellt worden sind. Würden Sie unter den
Aspekten, die ich gerade geschildert habe, immer noch
daran festhalten, dass das Dialogforum eine Vorbild-
funktion für die von Ihnen gewünschte Bürgerbeteili-
gung hat?

Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:

Vielen Dank für die Frage, liebe Frau Kollegin
Hagedorn. Ich möchte die Frage nicht nur mit einem kla-
ren Ja in Bezug auf die Vorbildfunktion beantworten,
sondern eine ausführliche Antwort geben. Herr Präsi-
dent, ich merke an, wenn ich die Beantwortung beendet
habe.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Frau Hagedorn, Sie kommen mir mit Ihrem Beispiel
gerade recht. Ich wäre sogar noch darauf zu sprechen ge-
kommen. Die Frage hat im Grunde genommen zwei
Aspekte: zum einen den, wie das mit dem Ob ist – die
Ob-Philosophie –, zum anderen den, wie das konkret mit
dem Planungsdialog in diesem Bereich ist.

Ich habe mich am 25. Juni letzten Jahres – das war ein
Samstag –, ausführlich mit dieser Thematik auseinander-
gesetzt. Sie wissen das, ich hatte Sie persönlich eingela-
den.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ich war nicht eingeladen!)


Das Infozentrum, das wir in Burg auf Fehmarn errichtet
haben, lässt wirklich keine Frage offen; es ist vorbild-
lich. Ich habe an diesem Samstag alle Bürgermeister auf
der Strecke von Lübeck bis Puttgarden auf eine Zugfahrt
eingeladen. Wir sind in Lübeck gestartet und sind dann
von Gemeinde zu Gemeinde gefahren. Ich war im Füh-
rerhaus und habe mir die Bürgermeister einzeln von Ge-
meindegebiet zu Gemeindegebiet ins Cockpit des Zuges
geholt.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Aber danach hatte ich nicht gefragt, Herr Ramsauer!)


– Ich antworte gerade auf Ihre Frage. – Ich habe den Prä-
sidenten des Bauernverbands für diese Belange dabeige-
habt und habe mir von Bahnübergang zu Bahnübergang,
von Gemeindegrenze zu Gemeindegrenze,


(Bettina Hagedorn [SPD]: Das habe ich nicht gefragt!)


von Schrebergartenkolonie zu Badestrand, von Bade-
strand zu Gewerbegebiet im Einzelnen erklären lassen,
wo welche Probleme liegen.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist keine Beantwortung meiner Frage!)


Damit beginnt zum Beispiel der Planungsdialog, der
Bürgerdialog.


(Abg. Bettina Hagedorn [SPD] nimmt wieder Platz)


– Bitte bleiben Sie stehen, solange ich antworte.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ich stehe wieder auf, wenn Sie meine Frage beantworten!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717204300

Herr Minister, in der Geschäftsordnung steht, dass

Fragen und Bemerkungen genauso wie die Antworten
kurz und präzise sein sollen. Ich bitte Sie, präzise zu ant-
worten.

Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:

Okay, dann mache ich es kürzer; ich respektiere das.
Aber die Frage gibt viel her. Lob für die Kollegin
Hagedorn!


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717204400

Dann müssen Sie das in Ihre Rede einbauen, nicht in

die Antwort.

Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:

Ich werde dann in einer anderen Rede mehr über
meine Erlebnisse bei dieser Zugfahrt reden.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Jetzt zu der Frage des Ob, Frau Kollegin Hagedorn.
Wollen Sie in Bezug auf den Grundkonsens „von der
Straße auf die Schiene“ ewig lang über das Ob diskutie-
ren, darüber, ob wir bei der Fehmarnbelt-Querung nur
eine Straße für den Güterverkehr haben wollen oder ob
wir auch eine Anbindung durch einen zweigleisigen Ei-
senbahnausbau bewerkstelligen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich sage Ja zu einem Eisenbahnausbau.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Es ist doch kein faires Verfahren, wenn nur ein Teil die Unterlagen bekommt!)


Bei der A 1 muss noch ein kleines Stück verlängert wer-
den. Ich bin demnächst wieder dort.

Jetzt bin ich mit der Antwort leider Gottes zu einem
vorzeitigen Ende gekommen.


(Heiterkeit)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717204500

Vielen Dank, Herr Minister.

Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:

Die dritte Kernbotschaft – eine alte Regel auch aus mei-
ner kommunalpolitischen Erfahrung vor Jahrzehnten – ist:
Wir müssen alle Betroffenen zu Beteiligten machen. Der
Grundsatz des Beteiligens Betroffener wurde in der Ver-
gangenheit eigentlich immer so verstanden, dass nur die-
jenigen zu Wort kommen, die als Betroffene gegen etwas
sind. Ich möchte erreichen – das ist in dem Handbuch, in
diesen Empfehlungen ausgeführt –, dass sich von den
Betroffenen auch diejenigen zu Wort melden und ermun-
tert werden, sich als Betroffene und Staatsbürger einzu-
mischen, die für etwas sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Lautesten in unserem Land sind zwar laut; aber sie
repräsentieren in der Regel nicht die Mehrheit der Be-
völkerung. Deswegen müssen sich diejenigen, die dafür
sind – das ist in der Regel die Mehrheit –, einmal trauen.
Sie dürfen sich nicht darauf verlassen, wie es in unserer
politischen Kultur leider Gottes eingerissen ist, dass die
Politik es schon richten wird. Wir haben viele Aufgaben
wahrzunehmen und den Kopf hinzuhalten. Aber wir
können dies umso besser tun, je mehr auch positiv Be-
troffene und diejenigen, die für etwas sind, mit viel Zi-
vilcourage etwas sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Eines muss allerdings auch klar sein: Die passge-
rechte Form eines solchen Bürgerdialogs kann man
nicht, wie die SPD dies in ihrem Antrag tut, für alle
möglichen Anwendungsfälle gesetzlich normieren und
in ein Zwangskorsett gießen; man muss das je nach Ein-
zelfall passgenau machen. Was beim Brenner-Zulauf im
Süden unserer Republik auf diese oder jene Art geeignet
ist, muss für den Zulauf zur Fehmarnbelt-Querung, im
Rheintal oder beim Bau einer neuen Lande- bzw. Start-
bahn nicht unbedingt passen. Das Ganze ist quasi ein
Werkzeugkasten, aus dem sich Betroffene, Beteiligte,
Projektprüfer und Vorhabenträger bedienen können; aber
im Einzelfall muss individuell entschieden werden.

Ziel ist, dass wir die Bürger, und zwar alle, besser er-
reichen. Warum sage ich „alle besser erreichen“? Weil
wir aus Stuttgart 21 gelernt haben. Es sind zwar zig
Wahlen darüber hinweggegangen – mehrere Kommunal-
wahlen, Landtagswahlen, Bundestagswahlen, Wahlen,
bei denen immer das Projekt Stuttgart 21 durchgekaut
worden ist; es gab formale Beteiligungsprozesse –, aber
als es dann losging, wollte niemand mehr etwas gewusst
haben, so als sei dies ein Meisterstück der Zusammen-
arbeit mit dem deutschen Geheimdienst gewesen. Von
ihm erfahren wir oft mehr. Deswegen haben wir gelernt:
Die kognitive Barriere muss überwunden werden, sodass
alle Bürger mit den entsprechenden Informationen er-
reicht werden. Gott sei Dank können wir dies mit den heu-
tigen Kommunikationsmöglichkeiten wesentlich besser
tun. Die Pläne können effektiver ausgelegt werden und
vieles mehr.

Ich möchte aber auch auf die Grenzen des Machbaren
hinweisen. Ein solcher Bürgerdialog darf nicht die Illu-
sion wecken, dass alle Erwartungen umgesetzt werden
können; denn wir müssen natürlich die Mechanismen,
die wir haben, die heutigen formalen Bewilligungspro-
zesse durchlaufen. Warum? Weil diese Verfahren den
Bürgern umgekehrt wieder Rechte, nämlich Prozess-
und Klagerechte, verleihen, und die will ich nicht ein-
schränken. Sie verlängern das Ganze zwar; aber ich
möchte solche Rechte nicht einschränken. Wir haben
zum Teil nur noch eine Instanz und eine Berufung bei
Nichtzulassung. Diese Rechte können durch noch so viel
Bürgerbeteiligung nicht verwässert werden; aber wir
können solche Genehmigungsprozesse deutlich konflikt-
ärmer, wenn auch nicht ganz konfliktfrei gestalten.

Ferner muss klar sein: Wenn man am Ende zu Ergeb-
nissen gekommen ist, dann müssen diese Ergebnisse
auch verbindlich sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Was ich soeben gesagt habe, Frau Kollegin Leidig, das
waren wortwörtlich – – Frau Kollegin Leidig, hören Sie
mir bitte zu! Ich rede gerade über Ihre Rede.


(Sören Bartol [SPD]: Das ist unverschämt!)

Wenn ich jetzt eine Frage stellen dürfte, würde ich fra-
gen: Können Sie sich noch an Ihre Rede erinnern?


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ja! Sehr gut!)

Sie haben gesagt: Ergebnisse müssen verbindlich sein.
Da kann ich nur zustimmen. Allerdings müssen die Er-
gebnisse auch dann verbindlich sein, wenn sie Ihnen
nicht in den Kram passen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das war ja bei Stuttgart 21 interessant. Da kam es zu ei-
nem Mediationsverfahren und dann noch zu einem
Volksentscheid. Der Volksentscheid hat ein demokra-
tisch nicht überbietbares Ergebnis gebracht. Dieses Er-
gebnis ist angegriffen worden, weil es vielen Leuten
Ihrer Couleur nicht in den Kram gepasst hat. Nein, Er-
gebnisse müssen schlicht und einfach akzeptiert werden.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Es ging um den Anfang und nicht um das Ende einer verfahrenen Geschichte!)


Da dankenswerterweise viel von dem Handbuch zur
Bürgerbeteiligung die Rede war, sage ich: Man will
mehr Bürgerbeteiligung. Deswegen soll es nicht ohne
Bürgerbeteiligung zustande kommen. Wir geben die
Möglichkeit, sich bis Mai – das ist die Frist – auf allen
möglichen Kommunikationswegen daran zu beteiligen.
Ich lade auch Sie dazu ein.

Noch ein Wort zu dem Antrag der SPD:

(Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist der Tagesordnungspunkt! Das ist das eigentliche Thema!)


Dieser Antrag ist gekennzeichnet durch einen regelrech-
ten Drang nach zusätzlicher Regulierung.


(Beifall des Abg. Patrick Schnieder [CDU/ CSU])






Bundesminister Dr. Peter Ramsauer


(A) (C)



(D)(B)


Daran kann uns allen nicht gelegen sein. Ich lese hier
von einem Anspruch auf einen „Bürgeranwalt mit ent-
sprechendem Etat“ – oje, oje! –, über umfassende Ver-
pflichtungen für die öffentlichen Planungsträger und den
Nachweis entsprechender Bürgerbeteiligung. Das reicht
bis zu Volksentscheiden über die Bedarfspläne für Bun-
desverkehrswege.


(Beifall bei der SPD)


Lieber Dirk Fischer, ich greife deinen Vorschlag auf
– das ist ein toller Vorschlag –: Wir sollten den Ländern,
in denen es einen SPD-Verkehrsminister gibt – inzwi-
schen gibt es wieder einige in den Ländern –, entspre-
chende Projektstudien vorschlagen. Ich weiß, was pas-
sieren würde, wenn das ernst gemeint wäre: In der
nächsten Länderverkehrsministerkonferenz kämen die
SPD-Landesverkehrsministerkollegen alle einzeln zu
mir und würden mich fragen, ob ich an dieser Stelle
nicht mit einer Weisung einschreiten könne, damit so et-
was unterbleibt.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was? Sie wollen doch den Bundestag nicht anweisen?)


Lassen Sie uns das Ziel, Bürger mit ihrem Wissen we-
sentlich besser in unsere Planungsprozesse einzubinden,
doch miteinander weiter verfolgen, damit Deutschland
weiterhin nicht nur das Land der Ideen ist, worauf wir
stolz sind und wofür wir bewundert werden, sondern
auch das Land des Ausführens und Verwirklichens
bleibt; denn auch das gehört zu unserer Identität. Wir
wollen unsere Ideen umsetzen – mit viel Bürgerbeteili-
gung und auf möglichst kurzem Wege.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717204600

Das Wort hat jetzt der Kollege Sören Bartol von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Jetzt kommt eine strukturierte Rede!)



Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1717204700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Minister Ramsauer, ich muss ganz
ehrlich sagen: Wer Ihre Rede gehört hat,


(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Ist begeistert!)


hat festgestellt, dass es Ihnen schwerfällt, den Unter-
schied zwischen Bundesverkehrswegeplanung und In-
vestitionsrahmenplan zu erklären. Angesichts dessen
sollten Sie vielleicht etwas charmanter mit dem Parla-
ment umgehen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hallo! Weil du das nicht verstanden hast, brauchst du den Minister nicht zu beleidigen! Das ist ja unglaublich!)


Bürgerbeteiligung ist der Schlüssel für eine moderne
Infrastrukturpolitik. Sie ist auch der Schlüssel, wenn wir
Konflikte, wie wir sie bei Stuttgart 21 erlebt haben,
künftig abmildern oder – das wäre am besten – vermei-
den wollen. Ich freue mich deshalb, dass nun auch Sie,
Herr Minister, ein Jahr nach Stuttgart 21, die Bürgerbe-
teiligung für sich entdeckt haben. Wenn Ihnen Bürgerbe-
teiligung allerdings so wichtig ist, wie Sie behaupten,
dann frage ich mich: Warum praktizieren Sie sie denn
nicht? Ihr Ministerium arbeitet seit zwei Jahren unter
sorgfältigem Ausschluss jeglicher Öffentlichkeit an ei-
nem neuen Bundesverkehrswegeplan. In Berlin hat die
Ihnen unterstellte Deutsche Flugsicherung die neuen
Flugrouten buchstäblich über die Köpfe der Menschen
hinweg festgelegt.


(Patrick Döring [FDP]: Quatsch!)


Als das Umweltbundesamt ein Gutachten zur Lärmbe-
lastung der Anwohner veröffentlichen wollte, hatte Ihr
Staatssekretär nichts Eiligeres zu tun, als genau dies ver-
hindern zu wollen. Ist das die von Ihnen versprochene
neue Transparenz und Beteiligungskultur? Beim Feld-
versuch mit Lang-Lkw umgehen Sie sogar die gewählten
Volksvertreter im Deutschen Bundestag.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wollen nicht einmal uns gewählte Volksvertreter an
Ihrer Politik beteiligen.


(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Scheinbeteiligung!)


Als es um die Bürgerbeteiligung und den Volksent-
scheid bei Stuttgart 21 ging, waren Sie völlig abge-
taucht, Herr Minister. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kol-
legen von der Koalition, mögen Volksentscheide nicht
ganz geheuer sein.


(Patrick Döring [FDP]: Doch! Doch!)


Was für die einen ein Mehr an Demokratie ist, bedeutet
für andere, wie wir diese Woche von einem Kollegen aus
dem Deutschen Bundestag erfahren durften, die „Tyran-
nei der Masse“.


(Oliver Luksic [FDP]: Falsch verstanden!)


Die SPD hat sich massiv für einen Volksentscheid zu
Stuttgart 21 eingesetzt. Das Volk ist verantwortungsvoll
mit dieser Entscheidung umgegangen. Daher lautet mein
Appell: Lassen Sie uns gemeinsam Volksentscheide auf
Bundesebene einführen! Damit stärken wir unsere reprä-
sentative Demokratie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben unsere Vorschläge für eine bessere Beteili-
gung der Bürgerinnen und Bürger bereits im Herbst letz-
ten Jahres vorgelegt und breit mit Verbänden, Bürger-
initiativen und gesellschaftlichen Gruppen darüber
diskutiert. Ein halbes Jahr später hören wir vom Bundes-
verkehrsminister, dass auch er die Bürgerinnen und Bür-
ger künftig beteiligen will. Wie wenig ernst es die Bun-





Sören Bartol


(A) (C)



(D)(B)


desregierung mit der Bürgerbeteiligung meint, zeigt ein
Gesetzentwurf, den das Bundeskabinett verabschiedet
hat, wohl auch mit Ihrer Zustimmung, Herr Ramsauer.
Das Gesetz hört auf den wohlklingenden Namen „Gesetz
zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und
Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren“. Be-
reits vor einem Jahr wurde uns dasselbe Gesetz unter
dem weniger schönen Namen „Planungsvereinheitli-
chungsgesetz“ präsentiert. Dieses wurde schnell zurück-
gezogen, als klar wurde, dass es darin um den Abbau
von Bürgerrechten geht, etwa um die Abschaffung des
obligatorischen Erörterungstermins beim Planfeststel-
lungsverfahren. Nun wird also ein neuer Versuch unter
neuem Namen unternommen.

Tatsächlich soll in das Verwaltungsverfahrensgesetz
ein neuer Absatz zur frühen Öffentlichkeitsbeteiligung
eingefügt werden. Liest man sich diesen durch, wird
klar: Es wird überhaupt keine Öffentlichkeitsbeteiligung
verpflichtend eingeführt. Vielmehr soll die zuständige
Behörde künftig darauf hinwirken, dass der Antragstel-
ler „die betroffene Öffentlichkeit frühzeitig über die
Ziele des Vorhabens, die Mittel, es zu verwirklichen, und
die voraussichtlichen Auswirkungen des Vorhabens un-
terrichtet“. So steht es im Gesetzentwurf. Lieber Herr
Minister, „wirkt darauf hin, dass …“, vielleicht hätten
Sie einmal darauf hinwirken sollen, dass Öffentlichkeits-
beteiligung hier verbindlich vorgeschrieben wird. Ich
glaube, dann wären Ihre Worte hier im Plenum etwas
glaubwürdiger gewesen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Stattdessen stellt es nun die Bundesregierung in das
Belieben von Behörden und Planungsträgern, ob sie die
Bürgerinnen und Bürger frühzeitig informieren und ein-
beziehen. Das ist Bürgerbeteiligung nach Gutsherrenart.
Wenn es mir passt, beteilige ich, wenn nicht, dann lasse
ich es sein. Das Gesetz, so wie es jetzt vorliegt, ist Eti-
kettenschwindel. Es verdient seinen Namen nicht. Herr
Minister Ramsauer, sorgen Sie dafür, dass dieser Gesetz-
entwurf, so wie er jetzt auf dem Tisch liegt, zurückgezo-
gen wird! Es geht nicht darum, die Bürger nach Stim-
mungslage und Wohlgefallen zu beteiligen. Auch ist die
Bürgerbeteiligung kein Mittel, um nachträglich Akzep-
tanz für Entscheidungen zu beschaffen, die vorher unter
Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen worden sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es geht vielmehr darum, unser Planungsrecht grund-
legend zu demokratisieren, beginnend bei der Bundes-
verkehrswegeplanung bis hin zu einer frühzeitigen Be-
teiligung der Öffentlichkeit, wenn die Trassen neuer
Verkehrswege festgelegt werden. Wir Sozialdemokraten
und Sozialdemokratinnen wollen einen Konsens für eine
moderne, nachhaltige Infrastruktur. Wir bieten Ihnen
hier ausdrücklich Zusammenarbeit an. Aber es gibt eine
Bedingung: Sie, Herr Minister, müssen es künftig mit
der Bürgerbeteiligung ernst meinen und dürfen hier
keine Placebogesetze zur Bürgerbeteiligung vorlegen,
die niemandem helfen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Bettina Hagedorn [SPD]: Und auch keine Handbücher!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717204800

Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege

Patrick Döring.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1717204900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-

nächst sage ich für die Koalition: Wir freuen uns, dass
auch die Sozialdemokraten das Thema Bürgerbeteili-
gung entdeckt haben.


(Sören Bartol [SPD]: Du hast bei meiner Rede nicht zugehört, oder? – Weitere Zurufe von der SPD: Oh! Oh!)


Sie haben gegen das Netzausbaubeschleunigungsgesetz
gestimmt, in dem es darum ging, umfangreiche, frühzei-
tige Bürgerbeteiligung bei der Planung unserer Energie-
netze einzuführen. Sie waren dagegen, wir waren dafür.

Die Rede der Kollegin Leidig hat deutlich gemacht,
dass Bürgerentscheide von manchen hier ganz offen-
sichtlich immer nur dann akzeptiert werden, wenn die
Mehrheit das tut, was die Linke will. Das war bei Stutt-
gart 21 anders. Wir freuen uns ausdrücklich darüber,
dass es eine Mehrheit für das Projekt, das so lange um-
stritten war, gab.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Kollege Bartol hat viel Richtiges gesagt. Auch
der Antrag der Sozialdemokraten enthält viel Richtiges.
Nur: Er unterschätzt und verschweigt, dass sich das
deutsche Planungsrecht, das deutsche Verwaltungsrecht
und die deutschen Regelungen zur Beteiligung der Trä-
ger öffentlicher Belange bei Investitionen nicht nur auf
öffentliche Investitionen beziehen, sondern dass sich die
gesamte Rechtsetzung der Bundesrepublik Deutschland
– das macht es ja auch so schwer; deshalb haben Sie kei-
nen Gesetzentwurf, sondern einen Entschließungsantrag
vorgelegt – auch auf private Investitionen bezieht.
Deshalb ist es klug und richtig, dass der Entwurf des
Bundesinnenministers nicht vorsieht, dass jeder Antrag-
steller – jeder, der seine Fabrik erweitern, sein Wohnge-
bäude erweitern oder seine wirtschaftliche Betätigung
verändern will – die Öffentlichkeit genauso beteiligen
muss wie die Bundesrepublik Deutschland oder die öf-
fentliche Hand. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
macht es nämlich so schwer. Das ist der Unterschied im
Rechtsstaat und in einer Kultur des Eigentums.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Man darf nicht den Fehler machen, zu glauben: Wenn
man verbindliche Bürgerbeteiligung ins Gesetz schreibt,
dann wird automatisch alles besser. Denn die Antragstel-
ler, die investieren wollen – 90 Prozent der Investitionen
in Deutschland sind private Investitionen –, können wir
als Gesetzgeber jedenfalls nicht so leicht in Verfahrens-





Patrick Döring


(A) (C)



(D)(B)


schritte zwingen, wie wir sie uns vornehmen; das zeigt
das Handbuch der Bundesregierung. Wir wollen mehr
Bürgerbeteiligung bei öffentlichen Infrastrukturinvesti-
tionen. Aber man darf öffentliche Infrastrukturinvestitio-
nen nicht genauso behandeln wie private Investitionen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ja! Das ist doch der Sinn des Antrags!)


Deshalb haben wir das Handbuch vorgelegt, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen. Das ist der Unterschied. Diesen
Unterschied muss man auch bei der Gesetzgebung ma-
chen. Das ist nicht trivial.

Frau Hagedorn hat in ihrer Frage an den Herrn Bun-
desminister interessanterweise gesagt: Wir wollen eine
Beteiligung im Hinblick auf das Ob, den Bedarf.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja! Das gehört doch auch dazu!)


– Das gehört unbedingt dazu, geschätzte Frau Kollegin. –
Sie haben in Ihrer Frage nur verschwiegen, dass bei dem
Projekt, auf das sich Ihre Frage bezog, nämlich die Feh-
marnbelt-Querung, längst über das Ob entschieden ist.
Es gibt dazu nämlich einen völkerrechtlich bindenden
Vertrag zwischen dem Königreich Dänemark und der
Bundesrepublik Deutschland. Er trägt die Unterschrift
von Wolfgang Tiefensee, in Klammern: SPD.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Oliver Luksic [FDP]: Aha! Interessant!)


Den Eindruck zu erwecken, nachdem ein solcher völ-
kerrechtlicher Vertrag von einem sozialdemokratischen
Verkehrsminister unterzeichnet worden ist


(Oliver Luksic [FDP]: Ohne Bürgerbeteiligung! Das wurde im Hinterzimmer ausgekungelt!)


– ohne jegliche Bürgerbeteiligung –, könne noch eine
Diskussion über das Ob und die Sinnhaftigkeit dieses
Projektes stattfinden, ist verlogen,


(Bettina Hagedorn [SPD]: Es gibt aber einen Art. 22, Herr Kollege!)


denn in Wahrheit kann das deutsche Volk darüber nicht
mehr entscheiden, geschätzte Frau Kollegin. Das wissen
Sie.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Oliver Luksic [FDP]: Alles im Hinterzimmer ausgekungelt! Null Bürgerbeteiligung!)


Der Punkt, der mich in dieser Debatte und im Papier
der Sozialdemokraten am meisten beschwert, findet sich
unter Ziffer 2. Es geht um die Frage, inwieweit und in-
wiefern wir die Bevölkerung an der Planung der Bedarfe
beteiligen können.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717205000

Herr Kollege Döring, Frau Hagedorn würde Ihnen

gerne eine Zwischenfrage stellen.


Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1717205100

Ja, unbedingt; gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717205200

Bitte.


Bettina Hagedorn (SPD):
Rede ID: ID1717205300

Herr Kollege Döring, da nicht jeder so gut in dem

Staatsvertrag zwischen Deutschland und Dänemark drin-
steckt wie ganz offensichtlich Sie und ich, würde ich Sie
bitten, dem Plenum und der Öffentlichkeit zu erläutern,
dass dieser Staatsvertrag einen Art. 22 enthält, der übri-
gens auf Initiative der damaligen Bundesregierung – von
Kanzlerin Merkel, Herrn Steinbrück und Herrn
Tiefensee an der Spitze – verhandelt und aufgenommen
wurde, auch die dänische Regierung hat ihn unterschrie-
ben. Dieser Art. 22 sieht vor, dass man sich dann, wenn
sich maßgebliche Rahmenbedingungen, die bei Aus-
handlung des Vertrages – das war im Jahr 2008 – Be-
stand hatten, ändern – dabei geht es insbesondere um
finanzielle Aspekte –, erneut an einen Tisch setzt, über
die veränderten Rahmenbedingungen redet und mögli-
cherweise sogar von einer Ausstiegsoption Gebrauch
macht.

Würden Sie mir zustimmen, dass sich seit 2008 nicht
nur durch die Pleite von Lehman Brothers und durch die
Finanz- und Wirtschaftskrise einige finanzielle Rahmen-
bedingungen bei großen Infrastrukturprojekten geändert
haben? Würden Sie mir weiterhin zustimmen, dass Dä-
nemark gar keine Brücke mehr bauen will, sondern ei-
nen Tunnel? Würden Sie mir auch zustimmen, dass der
Bundesrechnungshof eine gewaltige Erhöhung, mindes-
tens eine Verdopplung, der Kosten solide prognostiziert
hat?

Herr Kollege Döring, man muss hier ehrlicherweise
auch sagen: Der Art. 22 des deutsch-dänischen Staats-
vertrages gilt, und die dänische Regierung hat ihn unter-
schrieben.


Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1717205400

Frau Kollegin Hagedorn, das ist korrekt dargestellt. In

der Tat gibt es eine Öffnungsklausel, die Möglichkeiten
für neue Verhandlungen eröffnet. Diese Verhandlungen
sind aber zurzeit aus Sicht der Bundesrepublik Deutsch-
land überhaupt nicht in vertretbarer Weise anzustrengen;
denn das Königreich Dänemark hat entschieden, die
kompletten Gesamtkosten dieses Bauwerks zu tragen.


(Florian Toncar [FDP]: Aha!)


Wer sind dann wir als Vertragspartner, Gespräche da-
rüber zu führen und dem dänischen Parlament und der
dänischen Regierung auszureden, diese Infrastruktur-
maßnahme komplett zu bezahlen, trotz der zu Recht
angesprochenen vorhandenen Risiken? Ich glaube, das
wäre nicht redlich. Die Bundesrepublik Deutschland
wäre dann kein guter Vertragspartner, und darauf kommt
es mir an.

Der Vertrag gilt, und über das Ob wird keine Bürger-
befragung dieser Welt noch entscheiden können. Das
muss man den Menschen dann auch sagen. Ich bin sehr





Patrick Döring


(A) (C)



(D)(B)


für eine Bürgerbeteiligung hinsichtlich der Frage, wie
wir die notwendige Schieneninfrastruktur realisieren.
Die Realisierung der Fehmarnbelt-Querung ist aber
durch völkerrechtlich bindenden Vertrag erst einmal in
Stein gemeißelt. Das hat Ihr sozialdemokratischer Ver-
kehrsminister zu verantworten, geschätzte Kollegin, und
darauf, das klarzustellen, kam es mir an.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, unter der Ziffer 2
Ihres Antrages wird der Eindruck erweckt, dass der Be-
darf an öffentlicher Infrastruktur – Straße, Schiene, Was-
serstraße – in Deutschland quasi durch eine anonyme,
weit abgekoppelte Behörde Bundesverkehrsministerium
oder auch durch den Verkehrsausschuss des Deutschen
Bundestages zustande kommt. Das ist in Wahrheit eine
völlig verzerrte Darstellung, genauso wie der so popu-
läre Begriff Wünsch-dir-was-Liste, den der Kollege
Hofreiter hier verwendet hat.

Wer wünscht sich eigentlich was von wem? Es ist ja
nicht so, dass der Bund durch die Gegend läuft und sagt:
Wir haben rasend viel Geld, nun teilt uns doch endlich
mit, wo wir das verbauen können! – In Wahrheit wün-
schen sich die Menschen, die in Orten wohnen, die mehr
als 20 000 oder 30 000 Pkw und Lkw pro Tag ertragen
müssen, eine andere Infrastruktur. Die Menschen, die an
Schienentrassen wohnen, auf denen viele Güterzüge fah-
ren – erfreulicherweise aufgrund der guten Konjunktur –,
wünschen sich mehr Lärmschutz. Die Bürgerinnen und
Bürger in Nordrhein-Westfalen, die jeden Morgen auf
dem Weg zur Arbeit und am Abend auf dem Weg in den
Feierabend im Stau stehen, wünschen sich eine neue In-
frastruktur.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Es geht nicht um Staus!)


Deshalb ist es gelebte Bürgerbeteiligung, dass wir diese
Wünsche in einem Bundesverkehrswegeplan abbilden.
Hier haben wir vielleicht ein unterschiedliches Verständ-
nis, aber das ist kluge Infrastrukturplanung, weil sie sich
an der Realität orientiert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass das nicht an der Realität orientiert ist, wissen wir alle!)


Dass man nicht alle Wünsche erfüllen kann, liegt in
der Natur der Sache. Die Opposition hat immer unend-
lich viel Geld, und wir müssen verantwortungsbewusst
mit den Mitteln umgehen, die wir haben. Das Zerrbild,
dass die Wünsche nicht aus der Mitte der Bevölkerung
von der betroffenen Bevölkerung, sondern von einer
supraplanenden Behörde oder Bahn ausgehen, die nichts
anderes zu tun hat, als sinnlose Infrastruktur zu planen,
lasse ich nicht zu und will ich hier nicht durchgehen las-
sen. Das ist eine Verzerrung dessen, wie wir die Infra-
struktur in Deutschland planen, nämlich orientiert an den
Sorgen und Nöten der Menschen in Deutschland, die an
Straßen, Schienen und Wasserstraßen leben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich will auch zu dem interessanten Aspekt der Flug-
routen kommen, der ja insbesondere diese Stadt, in der
wir hier arbeiten dürfen, bewegt hat. Durch das Flug-
lärmgesetz der Großen Koalition wurde die permanente
öffentliche Beteiligung über die Fluglärmkommission
gesetzlich verankert. Das war gut so. Wir als Opposition
haben das damals unterstützt, und das hat hier auch An-
wendung gefunden.

Es gehört aber zur politischen Willensbildung und zur
seriösen politischen Debatte dazu, dass man auch sagt:
Bei der Realisierung von Anflug- und Abflugrouten an
einem Flughafen müssen zwar auch die Lärmauswirkun-
gen berücksichtigt werden – das ist überhaupt gar keine
Frage –, aber die Flugrouten müssen zuallererst, zumin-
dest nach den Gesetzen in Deutschland und in aller Welt,
unter dem Aspekt der Sicherheit des An- und Abfluges
geplant werden.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Das geht eben vor. So leid es mir für die Bürgerinnen
und Bürger tut, die von Lärm betroffen sind: Die Sicher-
heit von Lande- und Startvorgängen an einem neuen
Großflughafen ist nicht verhandelbar. Manchmal geht
sie den berechtigten Lärmschutzinteressen der Bürgerin-
nen und Bürger auch vor.

Das ist auch politische Realität, die man dann auch
kommunizieren muss. Ich stelle fest, dass der Regie-
rende Bürgermeister von Berlin und der Ministerpräsi-
dent von Brandenburg – in Klammern: beide SPD – in
der vierten Amtszeit sind. Ganz offensichtlich hat es ih-
nen nicht geschadet, dass sie zu dem Flughafen gestan-
den haben, meine sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Abschließend ist festzustellen, dass dies ein Posi-
tionspapier der Sozialdemokraten ist, das weitestgehend
das aufnimmt, was wir in Gesetzen realisieren, das aber
leider an manchen Punkten das Kind mit dem Bade aus-
schüttet und das – das ist eigentlich das Tragischste – so
gar nicht zu der Realität passt, die die Sozialdemokraten
in den Ländern zeigen, in denen sie regieren. Denn Sie
haben in Rheinland-Pfalz, in Nordrhein-Westfalen und
in Baden-Württemberg Koalitionsverträge unterschrie-
ben, in denen steht, dass Sie gar keine Infrastruktur mehr
realisieren wollen. Das ist natürlich der einfachste Kon-
sens: indem man sich schlicht verweigert. Das ist aber
nicht die Politik, die wir machen wollen. Wir wollen mit
dem Bürger klug planen und bauen. Das ist der Unter-
schied.

Vielen Dank, geschätzte Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717205500

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der

Kollegin Sabine Leidig von der Fraktion Die Linke.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das muss aber nicht sein!)







(A) (C)



(D)(B)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717205600

Verehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen!

Es ist sowohl von Herrn Minister Ramsauer als auch von
Ihnen, Herr Döring, gerade der Eindruck erweckt wor-
den, es hätte eine Volksabstimmung über das Projekt
Stuttgart 21 gegeben. Das ist aber nicht der Fall. Viel-
mehr hat es eine Volksabstimmung in einer Phase des
Projektes gegeben, in der schon alles das schlecht gelau-
fen ist, was wir hier zu Recht auf die Tagesordnung ge-
setzt haben. Bei der Abstimmung, die in Baden-Würt-
temberg stattgefunden hat, ging es um die Frage, ob das
Land als einer der Projektträger aus diesem Projekt aus-
steigen soll. Diese Volksabstimmung war mit einer groß
angelegten Kampagne verbunden, bei der überall Pla-
kate zu sehen waren, auf denen stand: 1,2 Milliarden
Euro Ausstiegskosten.

Heute kann man sagen, das war die große Ausstiegs-
kostenlüge, die von den Projektbetreibern flächende-
ckend verbreitet worden ist und die den Bürgerinnen und
Bürgern suggeriert hat, dass das Land 1,2 Milliarden
Euro zu zahlen hätte, wenn der Bahnhof nicht gebaut
würde.

Ich möchte an dieser Stelle auch erwähnen, dass der
Vorstandsvorsitzende von Daimler, Herr Zetsche, auf die
Frage, warum Daimler gemeinsam mit den Arbeitgeber-
verbänden so viel Geld in diese Kampagne investiert, ob
denn ein Vorteil für sie durch Stuttgart 21 entstünde,
sagte: Nein, er könne keinen Vorteil nennen. Es gehe
grundsätzlich um die Frage, ob ein Teil der Öffentlich-
keit der Industrie vorschreiben könne, was sie zu ma-
chen habe.

Ich glaube, das ist an dieser Stelle eine wichtige Er-
gänzung.


(Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das hätten Sie sich glatt sparen können!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717205700

Herr Kollege Döring zur Erwiderung.


Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1717205800

Geschätzte Frau Kollegin Leidig, Sie wissen, dass ich

mich mit diesem Projekt auch in anderer Funktion sehr
intensiv befasse. Deshalb will ich nicht auf alle Vorhal-
tungen eingehen.

Sind Sie bereit, mir dahin gehend zu folgen, dass seit
1994, als das erste Mal über dieses Projekt diskutiert
wurde, in Ermangelung des Instruments des Bürgerent-
scheids sowohl in Baden-Württemberg als auch im Bund
dennoch zahlreiche demokratische Wahlen stattgefunden
haben zum Gemeindeparlament, zum Landtag und zum
Deutschen Bundestag, in denen jedes Mal dieses Projekt
Teil des Wahlkampfs zumindest in der Region Stuttgart
war und in denen jedes Mal dennoch Vertreterinnen und
Vertreter von Union und FDP mit großer Mehrheit ge-
wählt wurden?

Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass, wenn man kei-
nen Volksentscheid macht, wenigstens demokratische
Wahlen, die diejenigen als Gewinner hervorbringen, die

für das Projekt sind, ein gewisser Indikator dafür sind,
wie die Mehrheit der Bevölkerung tickt?

Wir haben bisher kaum ein transparenteres Planungs-
verfahren als bei Stuttgart 21. Über Stuttgart 21 ist mehr
als 50-mal im Stuttgarter Gemeindeparlament und mehr
als 30-mal im Stuttgarter Landtag diskutiert worden. Es
sind mehr als 3 000 Bürgereinwendungen positiv abge-
räumt worden, berücksichtigt worden bei der Planung.


(Stephan Kühn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schöner Versprecher!)


Dann gab es ein Problem. Das will ich Ihnen zugeste-
hen. Zwischen dem Zeitpunkt der Planfeststellung und
dem Zeitpunkt des Baubeginns ist zu viel Zeit verstri-
chen, in der die Diskussion und die Aufklärung der Be-
völkerung erlahmte. Das hat die neue Bürgerentscheids-
debatte bzw. Schlichtungsdebatte dann wieder geheilt.
Aber den Eindruck zu erwecken, es sei geheimdienstlich
gearbeitet worden, ist in Anbetracht der ausführlichsten
parlamentarischen Beratung im Gemeindeparlament, im
Landtag und auch in diesem Hause schlicht die Unwahr-
heit. Es gehört zur Wahrheit dazu: Die Parlamente und
die gewählten Vertreter haben sich mit diesem Projekt
mehr beschäftigt als mit so gut wie jedem anderen in
Deutschland.

Mit Verlaub: Bei aller Sympathie für Bürgerentschei-
dungen und Bürgerbeteiligung, auch die repräsentative
Demokratie hat eine Aufgabe. Diese hat sie an dieser
Stelle besonders ausführlich und sorgfältig wahrgenom-
men. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717205900

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der Kollege

Herbert Behrens das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717206000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eine Vorbemerkung zu Ihnen, Herr Minister Ramsauer.
Sie spielen unberechtigterweise die Planer gegen die
Bürger aus, wenn Sie sagen: Die Planer machen ihre Ar-
beit gut und vernünftig. Es ist ungerechtfertigt, die Ent-
scheidungen der Planer anzugreifen. – Die Planer ma-
chen ihre Arbeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten,


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Nein, im Rahmen der Gesetze!)


im Rahmen von Gesetzen und Vorschriften. In diesen
Vorschriften kommt Bürgerbeteiligung nicht ausrei-
chend vor. Darum sind die Planer ab dem Zeitpunkt,
wenn sie mit ihrer Planung fertig sind, vor die Situation
gestellt, dass sie wesentliche Teile offenbar nicht berück-
sichtigen konnten und durften. Insofern ist das eine un-
gerechtfertigte Gegenüberstellung von Bürgern und Pla-
nern.


(Beifall bei der LINKEN)


Woche für Woche gehen immer noch Menschen auf
die Straße, sowohl hier in Berlin als auch in Frankfurt





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)


und München, wenn es darum geht, Flughafenerweite-
rungen zu kritisieren und mehr Lärmschutz und auch Al-
ternativen einzufordern. Da haben sich Engagierte zu-
sammengetan. Sie haben sich gefunden und nicht
aufgegeben, obwohl ihnen alle Offiziellen sagen: Geht
nach Hause, das Ding ist gelaufen. – Diese engagierten
Menschen sagen aber: Wir sind die Bürger. Wir sind der
Souverän. Deshalb soll unsere Position einbezogen wer-
den in das, was noch folgt.

Wir halten diese Position für richtig und für außer-
ordentlich wichtig. Eines zeigt sich dabei: Diese Diskus-
sion und diese Demonstrationen haben dazu geführt,
dass wir uns heute mit dieser Frage hier im Bundestag
beschäftigen. Das finde ich gut. Das ist meine Überzeu-
gung.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber viele Menschen wenden sich inzwischen ab. Sie
melden sich eben nicht mehr zu Wort, weil sie immer zu
hören bekommen: Es ist schön und gut, wenn ihr euch
kümmert, aber das Verfahren ist abgeschlossen. Insofern
gibt es keine Chance mehr, etwas zu verändern. – Die
Linke sagt: Wir brauchen mehr Bürgerengagement in der
Gesellschaft. Wir brauchen mehr Bürgerbeteiligung bei
der Planung von Verkehrsprojekten. Das ist eine Frage
von Demokratie und nicht nur in Bezug auf einzelne Fra-
gen wichtig.

Was soll die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger
leisten? Hier wurde darüber diskutiert: Soll sie das
Schmiermittel sein, damit Verkehrsprojekte schneller
umgesetzt werden, oder soll sie grundsätzlich zu besse-
ren, zu fundierteren Entscheidungen führen?

In ihrem Antrag bemüht sich die SPD-Fraktion da-
rum, sich dieser Frage zu nähern, aber sie beantwortet
diese Frage nicht. Es soll ein neuer gesellschaftlicher
Konsens für moderne Infrastruktur geschaffen werden.
Das ist ein vernünftiger Ansatz. Aber ein Punkt, der mir
wichtig ist: Dieser Konsens soll in der Begleitung von
Verfahren hergestellt werden. Die Diskussion, die wir
gerade eben geführt haben, macht deutlich: Es ist falsch,
die Beteiligung von Bürgern erst in Begleitung von Ver-
fahren einzuführen. Dann ist möglicherweise ein Ge-
samtprojekt schon schief eingestielt und kann überhaupt
nicht mehr gerade werden. Darum ist Bürgerbeteiligung
ganz woanders anzusetzen. Auch das steht in Ihrem An-
trag, aber ich finde, dieser Satz gehört an den Anfang Ih-
res Antrages. Bürgerbeteiligung heißt, sich zunächst da-
mit zu befassen, ob es überhaupt einen Bedarf für ein
bestimmtes Projekt gibt. An dieser entscheidenden Stelle
kann sich Bürgerbeteiligung entwickeln.


(Beifall bei der LINKEN – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das steht doch im Antrag drin!)


– Richtig. Auf Seite 2 unter „ferner liefen“.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Auf neun Seiten!)


Ich will es an einer zentralen Stelle Ihres Antrages ha-
ben, damit ich einen Anspruch darauf habe, das zu for-

dern. Aber Sie müssen all das, was folgt, diesem Grund-
satz unterordnen. Insofern ist es wichtig, dass man die
Prämisse an den Beginn setzt und dann die daraus abge-
leiteten Folgen auflistet.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie haben nicht gut gelesen!)


Ein gutes Verfahren schützt nicht davor, dass ein Pro-
jekt vor die Wand fährt. Ein Beispiel dafür haben wir in
Berlin bei dem Mediationsverfahren „Bäume am Land-
wehrkanal“ gesehen. Seit Ende 2007 findet in Berlin in
dieser Frage das größte Mediationsverfahren statt. 25 Ver-
treterinnen und Vertreter von Behörden und Verbänden
und die Bürgerinnen und Bürger sind daran beteiligt. Am
vergangenen Wochenende war in der Presse zu lesen,
dass plötzlich ohne Absprache mit den Beteiligten
100 Bäume abgehackt werden sollen. Das war überhaupt
nicht vorgesehen. Die Bürgerinitiativen sind entsetzt da-
rüber, dass all das, was vorher besprochen worden ist,
auf einmal überhaupt nicht mehr gelten soll.

Uns ist es wichtig, dass Bürgerbeteiligungsverfahren
insbesondere auf solche Situationen vorbereitet werden.
Das heißt, sie sollen darauf vorbereitet werden, was man
machen kann, wenn Absprachen, wenn gemeinsam ge-
fundene Kompromisse nicht umgesetzt werden, wenn
man an einer bestimmten Stelle vor die Wand läuft. Wir
als Linke sind dafür, am Beginn eines Verfahrens öffent-
lich und breit zu diskutieren, ob ein Umbau, ein Ausbau
oder ein Neubau eines Verkehrsprojektes überhaupt not-
wendig ist. Wenn dieser Bedarf festgestellt wird, dann
tritt man in das Beteiligungsverfahren mit Bürgerinnen
und Bürgern ein.

Die vielen Proteste von Bürgerinnen und Bürgern in
Stuttgart, in München und auch hier in Berlin sind nicht
nur Protestaktionen gegen Fehlplanungen. Ich finde, sie
sind auch Proteste gegen die wirtschaftlich Mächtigen,
die die Politik auf ihre Seite ziehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie sind eine Aufforderung an die Politik, in der Ver-
kehrspolitik umzudenken und die Zukunft anders zu pla-
nen. Diese Aufforderung nehmen wir gerne an.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717206100

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der

Kollege Stephan Kühn das Wort.


Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717206200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ehrliche Bürgerbeteiligung, soll sie nicht der reinen Ak-
zeptanzbeschaffung dienen, setzt eine ehrliche und of-
fene Prüfung von Alternativen voraus; denn der Erfolgs-
faktor für Bürgerbeteiligung heißt Ergebnisoffenheit.
Liest man in dem besagten Handbuch, gewinnt man
schnell den Eindruck, dass es darum geht, Kritiker klein-
zukriegen oder, wie es der Kollege Döring ausgedrückt
hat, Kritiker und Bedenken einfach abzuräumen.





Stephan Kühn


(A) (C)



(D)(B)


Dialog auf Augenhöhe heißt übrigens auch, Planfest-
stellungsverfahren oder Anhörungen nicht mitten in den
Schulferien stattfinden zu lassen, wie es in Deutschland
leider gelebte Praxis ist. Darüber hinaus heißt es, dass
wir gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern eine ver-
ständliche Sprache finden. Statt „Lichtsignalanlage“
kann man zum Beispiel „Ampel“ sagen. Würde man
dem folgen, würde das bedeuten, dass man sich an vielen
Stellen vom Planer-Deutsch trennen müsste. Des Weite-
ren heißt das, dass wir in solchen Verfahren freien Zu-
gang zu allen Unterlagen bekommen, beispielsweise zu
Verkehrsprognosen. Die Bürgerinnen und Bürger wollen
hinterfragen, sie wollen tatsächlich prüfen, ob die unter-
stellten Annahmen mit der Realität etwas zu tun haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die entsprechenden Unterlagen werden ihnen aber meis-
tens nicht zur Verfügung gestellt.

Im „Handbuch Bürgerbeteiligung“, das uns hier vor-
gelegt wurde, wird suggeriert, eine bessere Bürgerbetei-
ligung sei ohne eine weitere gesetzliche Änderungen auf
Basis des geltenden Rechts möglich. Das funktioniert
nicht. Ich will es Ihnen am Beispiel Flughafenplanung
und Flugroutenplanung deutlich machen. Dort geht es
nicht ohne gesetzliche Änderungen, will man eine tat-
sächliche Verbesserung beim Lärmschutz für die betrof-
fenen Anwohnerinnen und Anwohner erreichen. Ohne
eine Verbesserung des Lärmschutzes wird man in der
Bevölkerung keine Akzeptanz mehr für Großprojekte er-
halten.

Wie ist die Situation? Raumordnungsverfahren, Um-
weltverträglichkeitsprüfungen und Planfeststellungs-
verfahren zum Ausbau und Neubau von Flughafeninfra-
struktur finden lange vor Festlegung der Flugrouten
statt, sodass die Bewältigung des Lärmkonflikts gar
nicht stattfinden kann. Das Raumordnungsverfahren, das
letztlich über die Standortwahl entscheidet, sieht über-
haupt keine Bürgerbeteiligung vor. Wie das Verfahren
beim Hauptstadtflughafen zeigt, ist im Rahmen des
Planfeststellungsverfahrens nicht garantiert gewesen,
dass tatsächlich alle betroffenen Gemeinden und alle
Bürgerinnen und Bürger beteiligt wurden, die später von
den Flugrouten betroffen sind. Eine direkte Beteiligung
der betroffenen Bürgerinnen und Bürger am Verfahren
zur Festlegung von Flugrouten ist nach dem Luftver-
kehrsgesetz wiederum gar nicht vorgesehen. Daran än-
dern auch die Beratungen der Flugroutenvorschläge in
Lärmschutzkommissionen nichts. Dort haben die Bürge-
rinnen und Bürger keine Möglichkeiten, direkt Einfluss
zu nehmen und Einspruch zu erheben.

Für den Ablauf des Planfeststellungsverfahrens zum
Erlass von Flugrouten existieren im Übrigen gar keine
gesetzlichen Grundlagen, weder im Luftverkehrsgesetz
noch in der Luftverkehrs-Ordnung. Die Bundesregie-
rung – wir haben das Thema zuletzt im Ausschuss be-
handelt – hat nicht erkennen lassen, dass sie hier Hand-
lungsbedarf sieht. Das finde ich völlig inakzeptabel. Wo
bleibt die angekündigte Transparenz für die Bürgerinnen
und Bürger?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In einem Planfeststellungsverfahren – das besagt die
Theorie – sollen alle Probleme und Konflikte bewältigt
werden. Dadurch, dass die Flugrouten aber davon ge-
trennt in einem anderen, späteren Verfahren festgelegt
werden, ist eine wirkliche Bewältigung des Lärmkon-
fliktes nicht möglich. Daher sollte die Planung der
Hauptflugverfahren in das Planfeststellungsverfahren in-
tegriert oder ein entsprechendes separates Beteiligungs-
verfahren, also mit wirklichen Mitwirkungsmöglichkei-
ten für die Bürgerinnen und Bürger, aufgelegt werden.
Sonst werden weiter zuerst die Flughafenkapazitäten
festgelegt und erst danach die Flugrouten, sodass der
Lärm dann nur noch verteilt statt reduziert werden kann.

Wir brauchen also nicht nur die freiwillige, sondern
auch mehr verbindliche Bürgerbeteiligung bei der Flug-
hafen- und Flugroutenplanung. Wir brauchen die ver-
bindliche Einführung von Mediationsverfahren im Vor-
feld zu den formellen Genehmigungsverfahren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das bedeutet aber auch, dass sich beispielsweise die
schwarz-gelbe Landesregierung in Hessen an die Ergeb-
nisse eines solchen Mediationsverfahrens zu halten hat.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717206300

Herr Kollege.


Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717206400

Ich komme zum Schluss und ende damit, dass auch

die Zusammensetzung der Fluglärmkommissionen zu-
gunsten einer stärkeren Beteiligung der Betroffenen ver-
ändert werden muss. In Leipzig beispielsweise werden
nicht einmal die Tagesordnungen und Protokolle der
Sitzungen veröffentlicht. Ich finde, das ist ein Skandal.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Herzlichen
Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717206500

Der Kollege Patrick Schnieder hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Patrick Schnieder (CDU):
Rede ID: ID1717206600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns,
jedenfalls in der großen Mehrheit, einig, dass eine leis-
tungsfähige Infrastruktur für die Zukunft des Wirt-
schaftsstandortes Deutschland und die Zukunft unseres
Wohlstandes von entscheidender Bedeutung ist.

Wir sind uns auch einig – das betrifft den Großteil des
Antrags der Sozialdemokraten –, dass wir bei den Ver-
fahren, die wir praktizieren, um Infrastruktur neu schaf-
fen und ausbauen zu können, in dem einen oder anderen
Fall nachbessern müssen. Deshalb hat sich diese Koali-
tion auf die Fahne geschrieben, die Verfahren zu verbes-





Patrick Schnieder


(A) (C)



(D)(B)


sern und mehr und bessere Bürgerbeteiligung bei den
Planungsverfahren zu erreichen.

Diese Koalition ist auf einem guten und richtigen
Weg, weil sie das nicht nur beschreibt, sondern auch
umsetzt. Deshalb bin ich sowohl dem Bundesinnen-
minister als auch dem Bundesverkehrsminister, Herrn
Dr. Ramsauer, sehr dankbar, dass diese beiden Initiati-
ven, nämlich der Gesetzentwurf zur Verbesserung der
Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von
Planfeststellungsverfahren sowie das Handbuch Bürger-
beteiligung, jetzt vorliegen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wo liegen die Probleme? Meiner Ansicht nach ist das
Kernproblem die überlange Verfahrensdauer von der Ge-
burt einer Idee und dem Beginn eines Projektes bis hin
zur Umsetzung. Oft sind diejenigen, die über ein Projekt
entschieden haben, am Ende gar nicht mehr im Amt und
sehen nicht, was aus ihrem Projekt geworden ist. Oft-
mals sind es am Ende auch andere, die dann tatsächlich
von dieser Infrastruktur profitieren oder auch Einschrän-
kungen hinzunehmen haben.

Deshalb müssen wir an erster Stelle bei der überlan-
gen Verfahrensdauer ansetzen und uns mit der Frage be-
fassen, wie wir zu strafferen und effizienteren Verfahren
kommen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist richtig! Das steht im Antrag!)


Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass
die Bürger im Planfeststellungsverfahren bisher in einem
sehr komplizierten Verfahren nur formal beteiligt wer-
den. Es sind vor allem diejenigen eingebunden, die mit
einer entsprechenden Maßnahme beschwert sind oder ih-
ren Protest dagegen äußern.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Völlig richtig!)


Deshalb finde ich es richtig, sehr geehrter Herr Minister,
dass Sie darauf hingewiesen haben, dass wir auch dieje-
nigen, die für die Infrastruktur eintreten, im Vorfeld sol-
cher Maßnahmen beteiligen wollen. Das hat zudem den
Vorteil, dass der Zeitablauf diejenigen, die betroffen sind
oder die Planänderungen im Laufe eines solchen Verfah-
rens zu gewärtigen haben, nicht überholt.


(Beifall des Abg. Hans-Joachim Hacker [SPD])


Deshalb glaube ich, dass wir an vier verschiedenen Stel-
len einhaken müssen.

Das Erste ist: Wir brauchen ein Bekenntnis zu neuer
Infrastruktur in Deutschland, und zwar für alle Verkehrs-
träger.


(Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ CSU])


Das ist nicht trivial. Das ist vielleicht trivial für eine
Seite des Hauses, aber das ist leider nicht mehr bei allen
Verkehrsträgern Konsens. Der Kollege Döring hat da-
rauf hingewiesen, dass einige Landesregierungen zum
Beispiel keinen Straßenbau mehr wollen. Dazu zählen
Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-

Westfalen; die Beispiele sind genannt worden. Deshalb
muss das erste Bekenntnis lauten: Wir stehen zu einer
leistungsfähigen und zukunftsfähigen Infrastruktur in
Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Genau!)


Zweiter Punkt: Wir brauchen eine frühere Öffentlich-
keitsbeteiligung.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Auch wichtig!)


Wir wollen unterschiedliche Meinungen am Anfang des
Verfahrens diskutieren. Wir wollen nicht nur die Be-
denkenträger, sondern auch die Befürworter an den
Tisch bringen, ihnen die Möglichkeit zur Mitsprache
bieten und das, was dort an Gutem geäußert wird, in die
Planungsphase mit einbeziehen.

Wir brauchen drittens mehr Informationen, eine ver-
besserte Kommunikation und mehr Transparenz in den
Verfahren. Auch das ergibt sich zum Teil aus der Kom-
plexität und der langen Verfahrensdauer. Deshalb bin ich
dankbar, dass in dem E-Government-Gesetz vorgesehen
ist, dass wir die Möglichkeiten des Internets nutzen.

Viertens brauchen wir effizientere Planungsverfahren.
Ich habe hier mehrfach wahrgenommen, dass Media-
tionsverfahren als die Erfüllung aller Wünsche und als
die Lösung aller Probleme dargestellt wurden.


(Stephan Kühn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat niemand gesagt!)


Ich wäre dankbar, wenn Sie sich an Ihren eigenen An-
sprüchen messen lassen würden. Mir sind durchaus
Projekte bekannt, zu denen Mediationsverfahren durch-
geführt worden sind. Dort wird ein Mediationsverfahren
an das nächste gehängt, um die Dinge zu verzögern und
somit das Projekt nicht umsetzen zu müssen.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Welche sind das denn?)


– Das ist zum Beispiel die B 10 in der Pfalz. Dort sind
die Mediationsverfahren längst durchgeführt worden,
und nun könnte man langsam an das Baurecht denken.
Dort werden aber neue Mediationsverfahren eingeleitet,
um die Projekte zu verzögern und nicht umsetzen zu
müssen.

Deshalb ist ein sehr wichtiger Punkt, dass wir Verfah-
ren entbürokratisieren.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sehr gut!)


– Ja, aber genau das Gegenteil machen Sie mit Ihrem
Antrag. Sie blähen Verfahren durch die Forderungen, die
hier vorgetragen worden sind, auf, und dies führt dazu,
dass sie länger dauern. Damit wird das konterkariert,
was man mit einer früheren Bürgerbeteiligung erreichen
kann.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ihre Rede ist nicht schlüssig!)


Ein ganz wesentlicher Bereich ist das Umweltrecht,
das wir dringend optimieren müssen. Ein problemati-
scher Punkt ist sicherlich das Verbandsklagerecht. Ich





Patrick Schnieder


(A) (C)



(D)(B)


sage frank und frei, dass ich kein Freund des Verbands-
klagerechts bin. Durch die aktuelle EuGH-Entscheidung
zum Kohlekraftwerk Lünen ist das Klagerecht für Um-
weltverbände stark ausgeweitet worden. Das wird für die
Umsetzung von Infrastrukturprojekten kontraproduktiv
sein und zusätzliche Erschwernisse in diesem Bereich
bringen. Deshalb müssen wir uns intensiv Gedanken
darüber machen, wie wir insbesondere im Bereich des
Umweltrechts, aber auch beim Verbandsklagerecht eher
zu einer Einschränkung als zu einer Erweiterung dieser
ausufernden Beteiligungsrechte kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen; ich
meine die schnellere Umsetzung. Wir müssen in
Deutschland dazu kommen, dass wir das Projekt dann,
wenn Baurecht vorliegt, auch tatsächlich umsetzen. Es
kann nicht sein, dass Projekte fertig sind und Baurecht
vorliegt, es aber noch Jahre dauert, bis diese umgesetzt
werden.

Auch die Finanzierung muss gesichert sein. Wir brau-
chen zusätzliches Geld für die Verkehrsinfrastruktur. Auch
in diese Richtung hat der Verkehrsminister einen ersten
wichtigen Schritt durch die zusätzliche Milliarde Euro, die
in die Verkehrsinfrastruktur fließt, unternommen. Wir
haben allerdings auch andere Möglichkeiten, die Ver-
kehrsinfrastruktur auszubauen. Zum Beispiel könnten wir
das Instrument der ÖPP-Projekte stärker nutzen. Die Er-
fahrungen mit der ersten Staffel der A-Modelle sind
schließlich positiv, vor allem was die Beschleunigung und
Umsetzung von Projekten angeht. Wir müssen auch wei-
terhin die Potenziale nutzen, die in diesem Bereich liegen.

Ohne zukunftsweisende Verkehrsprojekte werden wir
die wachsenden Mobilitätsanforderungen in Deutsch-
land nicht in den Griff bekommen. Die Vorbereitungen
für den neuen Bundesverkehrswegeplan laufen. Dabei
ist die Beteiligung der Öffentlichkeit als fester Bestand-
teil vorgesehen, sowohl als Information als auch als
Konsultation im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebe-
nen Strategischen Umweltprüfung. So können Bürger
dort zum Entwurf des Bundesverkehrswegeplans selbst
Stellung nehmen. Das wird dann auch in die Beratungen
und Entscheidungen einfließen.

Diese Koalition steht für eine leistungsfähige Infra-
struktur und deren Ausbau. Sie steht für ein Mehr an Öf-
fentlichkeitsbeteiligung und Transparenz. Sie steht auch
für straffere Verfahren und für zügige Umsetzung. Ich
darf festhalten, dass wir nicht nur reden, sondern auch
handeln und dass wir uns auf einem guten Weg befinden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717206700

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Hans-Joachim

Hacker jetzt das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1717206800

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Am Ende der Debatte kann man nicht viel

Neues sagen. Ich will deswegen auf ein paar Gedanken
meiner Vorredner eingehen.

Herr Schnieder, ich hatte vorhin das Gefühl, fast die
Angst, Sie hätten mit meinem Büro korrespondiert und
Teile meiner Rede übernommen; denn in weiten Berei-
chen, muss ich sagen, haben Sie das angesprochen, was
auch in unserem Antrag steht.


(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Ja! Danke für das Lob dieser Regierungskoalition!)


Insofern bin ich sehr optimistisch, dass wir hier heute
eine große Zustimmung bekommen.

Ihre zentrale Botschaft „Deutschland braucht eine
leistungsfähige Infrastruktur, um auch künftig als mo-
derner Industrie- und Dienstleistungsstandort wirtschaft-
lich erfolgreich zu sein“, ist der Aufschlag unseres An-
trags. Da sind wir uns völlig einig.

Natürlich geht es uns darum, dass wir nicht, wie in
der Vergangenheit, über das Wie diskutieren, sondern
tatsächlich über das Ob. Dazu haben wir eine konkrete
Ansage, nicht nur auf der Seite 2 unseres Antrags, Herr
Behrens; wir fordern im Bereich der Netz- und Bedarfs-
planung für Bundesverkehrswege und Energieleitungen
ganz konkret, „den Bedarf für Infrastrukturprojekte
transparent und unter Mitwirkung der Öffentlichkeit zu
ermitteln“.

Wir haben heute den Fall, dass mehr Projekte in den
Regionen gefordert werden, zum Beispiel Ortsumgehun-
gen; wir haben aber auch den Fall, dass Bürgerinnen und
Bürger in den Gemeinden und auch Kommunalpolitiker
ein bestimmtes Projekt nicht wollen, das vor 15 Jahren
einmal geplant wurde.

Praktisches Beispiel: die Ortsumgehung Bad Doberan
in Mecklenburg-Vorpommern. Dort gibt es eine Bürger-
initiative gegen die Ortsumgehung.


(Gero Storjohann [CDU/CSU]: Wir waren mit dem Petitionsausschuss da!)


Dort wird wahrscheinlich nicht mehr gebaut, Herr
Minister; denn Sie werden sich, wie ich Sie kenne, ja
nicht gegen das Volk stellen. Dieses Projekt werden wir
im nächsten Bundesverkehrswegeplan bestimmt nicht
wiederfinden, weil sich das Land Mecklenburg-Vorpom-
mern mittlerweile klar dagegen erklärt hat.

Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie unseren Antrag
würdigen, Herr Minister. Sie haben in der Substanz an
unserem Antrag nichts auszusetzen gehabt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben aber ein Stück weit den Eindruck erweckt,
als würden wir die Rechtsweggarantie infrage stellen.
Das ist dem Antrag nicht im Ansatz zu entnehmen.
Natürlich ist auch für die Sozialdemokratie ganz klar:
Wir werden die Konflikte bei Infrastrukturvorhaben
nicht allein durch Mediation klären können, aber Media-
tion ist ein Weg, um den Konflikt vorzeitig aufzunehmen
und vielleicht gütlich zu lösen. Der Rechtsweg – das ist
grundgesetzlich verankert – kann gar nicht beschränkt
werden.





Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)


Wenn wir uns hier heute über diesen Antrag unterhal-
ten, geschieht dies auch deshalb, weil die SPD die Partei
ist, die immer auf einen breiten gesellschaftlichen Kon-
sens gesetzt hat. Willy Brandt hat das Wort geprägt:
Mehr Demokratie wagen. – Dieser Grundgedanke zieht
sich durch unseren Antrag. Wir wollen mehr Bürger-
demokratie erreichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es sind hier in der Diskussion von den Kollegen vor
mir, auch aus der Koalition, Fehler der Vergangenheit
genannt worden: späte Einbeziehung der Bürger, Dis-
kussion nicht über das Ob, sondern erst über das Wie,
lange Planungszeiträume. Ich denke, dass es auch neue
Formen der Information der Bürger geben muss. Die viel
zitierten 40 Aktenordner sind nicht der Weg, um Bürger
mit einzubeziehen und aufzuklären.


(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Aber die Welt ist kompliziert!)


Seien wir doch einmal ehrlich: Wir würden selber
Schwierigkeiten haben, in einem Erörterungstermin alle
Unterlagen objektiv zu bewerten. Wir brauchen neue
Formen der Information. Die Bundesregierung – wir ha-
ben das Thema zuletzt im Ausschuss behandelt – hat
nicht erkennen lassen, dass sie hier Handlungsbedarf
sieht. Das finde ich völlig inakzeptabel. Wo bleibt die
angekündigte Transparenz für die Bürgerinnen und Bür-
ger?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In einem Planfeststellungsverfahren – das besagt die
Theorie – sollen alle Probleme und Konflikte bewältigt
werden. Dadurch, dass die Flugrouten aber davon ge-
trennt in einem anderen, späteren Verfahren festgelegt
werden, ist eine wirkliche Bewältigung des Lärmkon-
fliktes nicht möglich. Daher sollte die Planung der
Hauptflugverfahren in das Planfeststellungsverfahren in-
tegriert oder ein entsprechendes separates Beteiligungs-
verfahren, also mit wirklichen Mitwirkungsmöglichkei-
ten für die Bürgerinnen und Bürger, aufgelegt werden.
Sonst werden weiter zuerst die Flughafenkapazitäten
festgelegt und erst danach die Flugrouten, sodass der
Lärm dann nur noch verteilt statt reduziert werden kann.

Wir brauchen also nicht nur die freiwillige, sondern
auch mehr verbindliche Bürgerbeteiligung bei der Flug-
hafen- und Flugroutenplanung. Wir brauchen die ver-
bindliche Einführung von Mediationsverfahren im Vor-
feld zu den formellen Genehmigungsverfahren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das bedeutet aber auch, dass sich beispielsweise die
schwarz-gelbe Landesregierung in Hessen an die Ergeb-
nisse eines solchen Mediationsverfahrens zu halten hat.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717206900

Herr Kollege.


Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717207000

Ich komme zum Schluss und ende damit, dass auch

die Zusammensetzung der Fluglärmkommissionen zu-
gunsten einer stärkeren Beteiligung der Betroffenen ver-
ändert werden muss. In Leipzig beispielsweise werden
nicht einmal die Tagesordnungen und Protokolle der
Sitzungen veröffentlicht. Ich finde, das ist ein Skandal.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Herzlichen
Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717207100

Der Kollege Patrick Schnieder hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Patrick Schnieder (CDU):
Rede ID: ID1717207200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns,
jedenfalls in der großen Mehrheit, einig, dass eine leis-
tungsfähige Infrastruktur für die Zukunft des Wirt-
schaftsstandortes Deutschland und die Zukunft unseres
Wohlstandes von entscheidender Bedeutung ist.

Wir sind uns auch einig – das betrifft den Großteil des
Antrags der Sozialdemokraten –, dass wir bei den Ver-
fahren, die wir praktizieren, um Infrastruktur neu schaf-
fen und ausbauen zu können, in dem einen oder anderen
Fall nachbessern müssen. Deshalb hat sich diese Koali-
tion auf die Fahne geschrieben, die Verfahren zu verbes-
sern und mehr und bessere Bürgerbeteiligung bei den
Planungsverfahren zu erreichen.

Diese Koalition ist auf einem guten und richtigen
Weg, weil sie das nicht nur beschreibt, sondern auch
umsetzt. Deshalb bin ich sowohl dem Bundesinnen-
minister als auch dem Bundesverkehrsminister, Herrn
Dr. Ramsauer, sehr dankbar, dass diese beiden Initiati-
ven, nämlich der Gesetzentwurf zur Verbesserung der
Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von
Planfeststellungsverfahren sowie das Handbuch Bürger-
beteiligung, jetzt vorliegen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wo liegen die Probleme? Meiner Ansicht nach ist das
Kernproblem die überlange Verfahrensdauer von der Ge-
burt einer Idee und dem Beginn eines Projektes bis hin
zur Umsetzung. Oft sind diejenigen, die über ein Projekt
entschieden haben, am Ende gar nicht mehr im Amt und
sehen nicht, was aus ihrem Projekt geworden ist. Oft-
mals sind es am Ende auch andere, die dann tatsächlich
von dieser Infrastruktur profitieren oder auch Einschrän-
kungen hinzunehmen haben.

Deshalb müssen wir an erster Stelle bei der überlan-
gen Verfahrensdauer ansetzen und uns mit der Frage be-
fassen, wie wir zu strafferen und effizienteren Verfahren
kommen.





Patrick Schnieder


(A) (C)



(D)(B)



(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist richtig! Das steht im Antrag!)


Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass
die Bürger im Planfeststellungsverfahren bisher in einem
sehr komplizierten Verfahren nur formal beteiligt wer-
den. Es sind vor allem diejenigen eingebunden, die mit
einer entsprechenden Maßnahme beschwert sind oder ih-
ren Protest dagegen äußern.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Völlig richtig!)


Deshalb finde ich es richtig, sehr geehrter Herr Minister,
dass Sie darauf hingewiesen haben, dass wir auch dieje-
nigen, die für die Infrastruktur eintreten, im Vorfeld sol-
cher Maßnahmen beteiligen wollen. Das hat zudem den
Vorteil, dass der Zeitablauf diejenigen, die betroffen sind
oder die Planänderungen im Laufe eines solchen Verfah-
rens zu gewärtigen haben, nicht überholt.


(Beifall des Abg. Hans-Joachim Hacker [SPD])


Deshalb glaube ich, dass wir an vier verschiedenen Stel-
len einhaken müssen.

Das Erste ist: Wir brauchen ein Bekenntnis zu neuer
Infrastruktur in Deutschland, und zwar für alle Verkehrs-
träger.


(Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ CSU])


Das ist nicht trivial. Das ist vielleicht trivial für eine
Seite des Hauses, aber das ist leider nicht mehr bei allen
Verkehrsträgern Konsens. Der Kollege Döring hat da-
rauf hingewiesen, dass einige Landesregierungen zum
Beispiel keinen Straßenbau mehr wollen. Dazu zählen
Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-
Westfalen; die Beispiele sind genannt worden. Deshalb
muss das erste Bekenntnis lauten: Wir stehen zu einer
leistungsfähigen und zukunftsfähigen Infrastruktur in
Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Genau!)


Zweiter Punkt: Wir brauchen eine frühere Öffentlich-
keitsbeteiligung.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Auch wichtig!)


Wir wollen unterschiedliche Meinungen am Anfang des
Verfahrens diskutieren. Wir wollen nicht nur die Be-
denkenträger, sondern auch die Befürworter an den
Tisch bringen, ihnen die Möglichkeit zur Mitsprache
bieten und das, was dort an Gutem geäußert wird, in die
Planungsphase mit einbeziehen.

Wir brauchen drittens mehr Informationen, eine ver-
besserte Kommunikation und mehr Transparenz in den
Verfahren. Auch das ergibt sich zum Teil aus der Kom-
plexität und der langen Verfahrensdauer. Deshalb bin ich
dankbar, dass in dem E-Government-Gesetz vorgesehen
ist, dass wir die Möglichkeiten des Internets nutzen.

Viertens brauchen wir effizientere Planungsverfahren.
Ich habe hier mehrfach wahrgenommen, dass Media-

tionsverfahren als die Erfüllung aller Wünsche und als
die Lösung aller Probleme dargestellt wurden.


(Stephan Kühn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat niemand gesagt!)


Ich wäre dankbar, wenn Sie sich an Ihren eigenen An-
sprüchen messen lassen würden. Mir sind durchaus
Projekte bekannt, zu denen Mediationsverfahren durch-
geführt worden sind. Dort wird ein Mediationsverfahren
an das nächste gehängt, um die Dinge zu verzögern und
somit das Projekt nicht umsetzen zu müssen.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Welche sind das denn?)


– Das ist zum Beispiel die B 10 in der Pfalz. Dort sind
die Mediationsverfahren längst durchgeführt worden,
und nun könnte man langsam an das Baurecht denken.
Dort werden aber neue Mediationsverfahren eingeleitet,
um die Projekte zu verzögern und nicht umsetzen zu
müssen.

Deshalb ist ein sehr wichtiger Punkt, dass wir Verfah-
ren entbürokratisieren.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sehr gut!)


– Ja, aber genau das Gegenteil machen Sie mit Ihrem
Antrag. Sie blähen Verfahren durch die Forderungen, die
hier vorgetragen worden sind, auf, und dies führt dazu,
dass sie länger dauern. Damit wird das konterkariert,
was man mit einer früheren Bürgerbeteiligung erreichen
kann.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ihre Rede ist nicht schlüssig!)


Ein ganz wesentlicher Bereich ist das Umweltrecht,
das wir dringend optimieren müssen. Ein problemati-
scher Punkt ist sicherlich das Verbandsklagerecht. Ich
sage frank und frei, dass ich kein Freund des Verbands-
klagerechts bin. Durch die aktuelle EuGH-Entscheidung
zum Kohlekraftwerk Lünen ist das Klagerecht für Um-
weltverbände stark ausgeweitet worden. Das wird für die
Umsetzung von Infrastrukturprojekten kontraproduktiv
sein und zusätzliche Erschwernisse in diesem Bereich
bringen. Deshalb müssen wir uns intensiv Gedanken
darüber machen, wie wir insbesondere im Bereich des
Umweltrechts, aber auch beim Verbandsklagerecht eher
zu einer Einschränkung als zu einer Erweiterung dieser
ausufernden Beteiligungsrechte kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen; ich
meine die schnellere Umsetzung. Wir müssen in
Deutschland dazu kommen, dass wir das Projekt dann,
wenn Baurecht vorliegt, auch tatsächlich umsetzen. Es
kann nicht sein, dass Projekte fertig sind und Baurecht
vorliegt, es aber noch Jahre dauert, bis diese umgesetzt
werden.

Auch die Finanzierung muss gesichert sein. Wir brau-
chen zusätzliches Geld für die Verkehrsinfrastruktur. Auch
in diese Richtung hat der Verkehrsminister einen ersten
wichtigen Schritt durch die zusätzliche Milliarde Euro, die
in die Verkehrsinfrastruktur fließt, unternommen. Wir





Patrick Schnieder


(A) (C)



(D)(B)


haben allerdings auch andere Möglichkeiten, die Ver-
kehrsinfrastruktur auszubauen. Zum Beispiel könnten wir
das Instrument der ÖPP-Projekte stärker nutzen. Die Er-
fahrungen mit der ersten Staffel der A-Modelle sind
schließlich positiv, vor allem was die Beschleunigung und
Umsetzung von Projekten angeht. Wir müssen auch wei-
terhin die Potenziale nutzen, die in diesem Bereich liegen.

Ohne zukunftsweisende Verkehrsprojekte werden wir
die wachsenden Mobilitätsanforderungen in Deutsch-
land nicht in den Griff bekommen. Die Vorbereitungen
für den neuen Bundesverkehrswegeplan laufen. Dabei
ist die Beteiligung der Öffentlichkeit als fester Bestand-
teil vorgesehen, sowohl als Information als auch als
Konsultation im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebe-
nen Strategischen Umweltprüfung. So können Bürger
dort zum Entwurf des Bundesverkehrswegeplans selbst
Stellung nehmen. Das wird dann auch in die Beratungen
und Entscheidungen einfließen.

Diese Koalition steht für eine leistungsfähige Infra-
struktur und deren Ausbau. Sie steht für ein Mehr an Öf-
fentlichkeitsbeteiligung und Transparenz. Sie steht auch
für straffere Verfahren und für zügige Umsetzung. Ich
darf festhalten, dass wir nicht nur reden, sondern auch
handeln und dass wir uns auf einem guten Weg befinden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717207300

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Hans-Joachim

Hacker jetzt das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1717207400

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Am Ende der Debatte kann man nicht viel
Neues sagen. Ich will deswegen auf ein paar Gedanken
meiner Vorredner eingehen.

Herr Schnieder, ich hatte vorhin das Gefühl, fast die
Angst, Sie hätten mit meinem Büro korrespondiert und
Teile meiner Rede übernommen; denn in weiten Berei-
chen, muss ich sagen, haben Sie das angesprochen, was
auch in unserem Antrag steht.


(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Ja! Danke für das Lob dieser Regierungskoalition!)


Insofern bin ich sehr optimistisch, dass wir hier heute
eine große Zustimmung bekommen.

Ihre zentrale Botschaft, „Deutschland braucht eine
leistungsfähige Infrastruktur, um auch künftig als mo-
derner Industrie- und Dienstleistungsstandort wirtschaft-
lich erfolgreich zu sein“, ist der Aufschlag unseres An-
trags. Da sind wir uns völlig einig.

Natürlich geht es uns darum, dass wir nicht, wie in
der Vergangenheit, über das Wie diskutieren, sondern
tatsächlich über das Ob. Dazu haben wir eine konkrete
Ansage, nicht nur auf der Seite 2 unseres Antrags, Herr
Behrens; wir fordern im Bereich der Netz- und Bedarfs-
planung für Bundesverkehrswege und Energieleitungen
ganz konkret, „den Bedarf für Infrastrukturprojekte

transparent und unter Mitwirkung der Öffentlichkeit zu
ermitteln“.

Wir haben heute den Fall, dass mehr Projekte in den
Regionen gefordert werden, zum Beispiel Ortsumgehun-
gen; wir haben aber auch den Fall, dass Bürgerinnen und
Bürger in den Gemeinden und auch Kommunalpolitiker
ein bestimmtes Projekt nicht wollen, das vor 15 Jahren
einmal geplant wurde.

Praktisches Beispiel: die Ortsumgehung Bad Doberan
in Mecklenburg-Vorpommern. Dort gibt es eine Bürger-
initiative gegen die Ortsumgehung.


(Gero Storjohann [CDU/CSU]: Wir waren mit dem Petitionsausschuss da!)


Dort wird wahrscheinlich nicht mehr gebaut, Herr
Minister; denn Sie werden sich, wie ich Sie kenne, ja
nicht gegen das Volk stellen. Dieses Projekt werden wir
im nächsten Bundesverkehrswegeplan bestimmt nicht
wiederfinden, weil sich das Land Mecklenburg-Vorpom-
mern mittlerweile klar dagegen erklärt hat.

Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie unseren Antrag
würdigen, Herr Minister. Sie haben in der Substanz an
unserem Antrag nichts auszusetzen gehabt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben aber ein Stück weit den Eindruck erweckt,
als würden wir die Rechtsweggarantie infrage stellen.
Das ist dem Antrag nicht im Ansatz zu entnehmen.
Natürlich ist auch für die Sozialdemokratie ganz klar:
Wir werden die Konflikte bei Infrastrukturvorhaben
nicht allein durch Mediation klären können, aber Media-
tion ist ein Weg, um den Konflikt vorzeitig aufzunehmen
und vielleicht gütlich zu lösen. Der Rechtsweg – das ist
grundgesetzlich verankert – kann gar nicht beschränkt
werden.

Wenn wir uns hier heute über diesen Antrag unterhal-
ten, geschieht dies auch deshalb, weil die SPD die Partei
ist, die immer auf einen breiten gesellschaftlichen Kon-
sens gesetzt hat. Willy Brandt hat das Wort geprägt:
Mehr Demokratie wagen. – Dieser Grundgedanke zieht
sich durch unseren Antrag. Wir wollen mehr Bürger-
demokratie erreichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es sind hier in der Diskussion von den Kollegen vor
mir, auch aus der Koalition, Fehler der Vergangenheit
genannt worden: späte Einbeziehung der Bürger, Dis-
kussion nicht über das Ob, sondern erst über das Wie,
lange Planungszeiträume. Ich denke, dass es auch neue
Formen der Information der Bürger geben muss. Die viel
zitierten 40 Aktenordner sind nicht der Weg, um Bürger
mit einzubeziehen und aufzuklären.


(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Aber die Welt ist kompliziert!)


Seien wir doch einmal ehrlich: Wir würden selber
Schwierigkeiten haben, in einem Erörterungstermin alle
Unterlagen objektiv zu bewerten. Wir brauchen neue
Formen der Information.





Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)


Für mich ist eine wichtige Schlussfolgerung aus der
Diskussion der letzten Monate, die wir mit Planungsträ-
gern und Bürgerinitiativen geführt haben, dass wir den
offensichtlichen Widerspruch zwischen materieller Pla-
nung und Finanzrahmen beseitigen müssen. Dann kom-
men wir auch nicht in die Bredouille, in der sich Herr
Ramsauer jetzt mit seinem Investitionsrahmenplan be-
findet. Sie schieben jetzt Projekte aus dem IRP 2006 bis
2010 bis in die Zeit nach 2015. Ich spreche insbesondere
die Kollegen aus der CDU/CSU an, weil die in der Gro-
ßen Koalition mit uns den alten IRP beraten und verab-
schiedet haben.


(Zuruf von der SPD: Weiße Salbe! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: D wie durchhängen! – Zuruf von der CDU/CSU)


– Natürlich, das ist doch Ihre Erfindung. – Sie haben
eine wundersame Liste D erfunden, auf der Sie all die
Projekte zusammengefasst haben, die bis 2015 nicht
mehr realisiert werden. Sie schieben jetzt Projekte, deren
Realisierung vor Ort für die Zeit bis 2010 verkündet
worden ist, in die Zeit nach 2015, zum Beispiel den Au-
tobahnzubringer Schwerin. Der soll nach 2015 kommen.
Ihr Staatssekretär hat mir im vorigen Jahr gesagt, dass
der Grünstempel, also der „gesehen“-Vermerk, im Ja-
nuar kommen soll. Der ist heute noch nicht da. Sie schie-
ben das auf die lange Bank. Das ist keine gute Planungs-
politik, die Sie betreiben, Herr Minister.


(Beifall bei der SPD)


Deswegen kann man das, was Sie machen, nicht als be-
sonders kreatives Regierungshandeln bezeichnen, Herr
Minister.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will hier
nur noch das Stichwort „Flughafen- und Flugroutenpla-
nungen“ nennen. Wir sehen das ganz genauso wie Bünd-
nis 90/Die Grünen: Wir brauchen eine Veränderung bei
der Planung von Flughäfen und Flugrouten. Das ist
wichtig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Dinge haben wir als Ergebnis der Diskussion
mit Bürgerinitiativen und Planungsträgern in den Antrag
geschrieben. Aus der CDU/CSU höre ich zu dem ganzen
Thema gar nichts. Doch – Herr Geißler äußert sich dazu.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,
Herr Geißler ist ja nicht mehr Mitglied Ihrer Fraktion.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717207500

Herr Kollege.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1717207600

Ich komme jetzt zum Schluss, Frau Präsidentin.

Bei der FDP gab es im vorigen Jahr Ankündigungen,
aber danach folgte nichts, Herr Döring. Sie müssten mit
Blick auf das Thema Bürgerbeteiligung am Sonntag ei-
gentlich die Glocken läuten gehört haben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717207700

Herr Kollege.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1717207800

Kommen Sie mit Vorschlägen!


(Patrick Döring [FDP]: Unsere Fraktion hat seit mehr als einem Jahr ein Positionspapier! Sie sind zu spät!)


Unser Vorschlag liegt vor, Frau Präsidentin. Wir können
einen neuen gesellschaftlichen Konsens für eine leis-
tungsfähige Infrastruktur in Deutschland schaffen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717207900

Herr Kollege!


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1717208000

Dieser Prozess könnte den Namen „Willy Brandt 2.0“

tragen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717208100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9156 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 36 a bis d und f
sowie Zusatzpunkt 3 auf:

36 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Zusatzprotokoll der UN-Kinderrechtskonven-
tion zur Individualbeschwerde schnellstmög-
lich ratifizieren

– Drucksache 17/8917 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD

Kooperationen von Hochschulen und Unter-
nehmen transparent gestalten

– Drucksache 17/9168 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, Sabine
Leidig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Wirksame Anreize für klimafreundlichere Fir-
menwagen

– Drucksache 17/9149 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Dr. Harald Terpe, Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Einführung eines pauschalierenden psychia-
trischen Entgeltsystems zur qualitativen Wei-
terentwicklung der Versorgung nutzen

– Drucksache 17/9169 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Nicole Maisch, Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kennzeichnungspflicht auf verarbeitete Eier
ausweiten

– Drucksache 17/9170 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Daniela Wagner, Lisa Paus, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Städtebauliche Qualität des Regierungsviertels
verbessern

– Drucksache 17/9171 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Es handelt sich hierbei um Überweisungen im ver-
einfachten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 37 a g sowie
den Zusatzpunkt 4 a bis h auf. Es handelt sich um Be-
schlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 37 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 12. Oktober 2011 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
der Republik Indien über Soziale Sicherheit

– Drucksache 17/8727 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 17/9094 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Josip Juratovic

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9094,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/8727 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in dritter Beratung einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 37 b:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
25. November 2011 über die Errichtung des
Sekretariats der Partnerschaft für öffentliche
Gesundheit und soziales Wohlergehen im Rah-
men der Nördlichen Dimension (NDPHS)


– Drucksache 17/8981 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)


– Drucksache 17/9200 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Harald Terpe

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Gesundheit
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9200, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/8981 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist angenommen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke. Die übrigen Fraktionen haben zugestimmt.

Wir kommen zu dem Tagesordnungspunkt 37 c bis g
sowie dem Zusatzpunkt 4 a bis h. Es handelt sich um Be-
schlussempfehlungen des Petitionsausschusses.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Tagesordnungspunkt 37 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 412 zu Petitionen

– Drucksache 17/9050 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 37 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 413 zu Petitionen

– Drucksache 17/9051 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Die
Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt, alle anderen
Fraktionen dafür.

Tagesordnungspunkt 37 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 414 zu Petitionen

– Drucksache 17/9052 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-
stimmung von Koalition und SPD. Dagegen haben
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke gestimmt.

Tagesordnungspunkt 37 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 415 zu Petitionen

– Drucksache 17/9053 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-
stimmung durch Koalition und Bündnis 90/Die Grünen.
SPD und Linke haben dagegen gestimmt.

Tagesordnungspunkt 37 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 416 zu Petitionen

– Drucksache 17/9054 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen, indem
die Koalition dafür und die Opposition dagegen ge-
stimmt hat.

Zusatzpunkt 4 a:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 417 zu Petitionen

– Drucksache 17/9177 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.

Zusatzpunkt 4 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 418 zu Petitionen

– Drucksache 17/9178 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig
angenommen.

Zusatzpunkt 4 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 419 zu Petitionen

– Drucksache 17/9179 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-
stimmung durch Koalition und SPD. Die Linke hat dage-
gen gestimmt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat
sich enthalten.

Zusatzpunkt 4 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 420 zu Petitionen

– Drucksache 17/9180 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.

Zusatzpunkt 4 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 421 zu Petitionen

– Drucksache 17/9181 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Ge-
genstimmen der Linken. Die übrigen Fraktionen haben
dafür gestimmt.

Zusatzpunkt 4 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 422 zu Petitionen

– Drucksache 17/9182 –





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Für die Sammelübersicht haben die Koali-
tionsfraktionen, Linke und Bündnis 90/Die Grünen ge-
stimmt. Die SPD-Fraktion hat dagegen gestimmt. Die
Sammelübersicht ist angenommen.

Zusatzpunkt 4 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 423 zu Petitionen

– Drucksache 17/9183 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Für die Sammelübersicht haben die Koali-
tionsfraktionen und die SPD gestimmt. Bündnis 90/Die
Grünen und die Linke haben dagegen gestimmt. Die
Sammelübersicht ist angenommen.

Zusatzpunkt 4 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 424 zu Petitionen

– Drucksache 17/9184 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-
stimmung durch die Koalition. Die Opposition hat dage-
gen gestimmt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zum Abbau der kalten Progression

– Drucksache 17/8683 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/9201 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Nicolette Kressl
Dr. Volker Wissing
Dr. Barbara Höll
Dr. Gerhard Schick


(8. Ausschuss)


– Drucksache 17/9202 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


Über diesen Gesetzentwurf werden wir später na-
mentlich abstimmen. Zwischen den Fraktionen ist es
verabredet, eine Stunde zu debattieren. – Dazu sehe und
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Klaus-Peter Flosbach für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1717208200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir beraten heute in dritter Lesung den Gesetzentwurf
der Bundesregierung zum Abbau der kalten Progression
im Einkommensteuerrecht. Was ist die kalte Progres-
sion? Stellen Sie sich vor, jemand bekommt eine Ge-
haltssteigerung in Höhe von 3 Prozent. Die Inflation, die
Preissteigerung, beträgt in dem Jahr ebenfalls 3 Prozent.
Dann geht jeder davon aus, dass er einen Kaufkraftaus-
gleich bekommen hat und netto genauso viel in der Ta-
sche hat, um die gleichen Waren wie zuvor zu kaufen.
Das ist aber nicht so. Wir haben einen sogenannten stei-
genden, einen progressiven Steuertarif. Mit jedem Pro-
zent, das Sie mehr an Einkommen erhalten, zahlen Sie
1,7 Prozent mehr Steuern. Diese kalte Progression wol-
len wir für die unteren und mittleren Einkommen ab-
schaffen. Wir wollen sie reduzieren. Das ist ein Verspre-
chen aus dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und
FDP, und das halten wir heute ein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie haben schon viel versprochen!)


Wir bekennen uns im Steuerrecht zum Prinzip der
steuerlichen Leistungsfähigkeit, das heißt, wenn jemand
ein höheres Einkommen erzielt, dann muss er auch mehr
Steuern zahlen. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung trauen
wir eine steuerliche Leistungsfähigkeit eher nicht zu,
deswegen sind etwa 40 Prozent der Bevölkerung von
Einkommen- oder Lohnsteuerzahlungen befreit.

Wer aber nach der Grundtabelle beispielsweise ein Ein-
kommen in Höhe von 25 000 Euro hat, zahlt für jeden
weiteren Euro 29 Prozent Steuern; hat er ein Einkommen
von 40 000 Euro, zahlt er bereits 36 Prozent Steuern; hat
er ein Einkommen von 50 000 Euro, zahlt er 41 Prozent
Steuern. Hat jemand ein sehr hohes Einkommen – die
sogenannten Reicheneinkommen ab 250 000 Euro –, so
zahlt er 45 Prozent Steuern plus Solidaritätszuschlag und
Kirchensteuer, somit kommen wir auf etwa 50 Prozent.
Das ist das Prinzip der steuerlichen Leistungsfähigkeit.
Genau zu diesem Prinzip bekennen wir uns.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir halten es für das steuergerechteste Prinzip.

Heute jedoch geht es um kleine und mittlere Einkom-
men, also um Einkommen bis etwa 55 000 Euro, für die
wir diese schleichende, heimliche Steuererhöhung redu-
zieren wollen. Es ist für uns überhaupt nicht nachvoll-
ziehbar, warum beispielsweise die Sozialdemokraten
hier nicht mitziehen und sie nicht mehr damit einverstan-
den sind, dass wir kleine und mittlere Einkommen von
Steuern entlasten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist wirklich falsch! Das muss man sagen!)






Klaus-Peter Flosbach


(A) (C)



(D)(B)


Der Staat – das ist der Bund, das sind die Länder und
die Gemeinden – nimmt durch diese schleichende Steu-
ererhöhung jedes Jahr etwa 3 Milliarden Euro ein, in den
Jahren 2013 und 2014 werden es somit 6 Milliarden
Euro sein. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirt-
schaftsforschung war vor wenigen Tagen im Rahmen ei-
ner Anhörung zu diesem Thema bei uns im Hause. Es
hat deutlich gemacht: Wenn wir den Bürgern diese
6 Milliarden Euro zurückgeben, dann handelt es sich da-
bei nicht um Steuerausfälle; denn diese Belastungen für
den Bürger sind nicht durch das Leistungsfähigkeitsprin-
zip gedeckt.

Das heißt, hier entstehen Einnahmen für den Staat nur
aufgrund der Inflation. Das hat nichts mit der Leistungs-
fähigkeit zu tun; die Einnahmen entbehren einer gesetz-
lichen Grundlage. Wir in der Koalition haben deutlich
gemacht: Das werden wir nicht weiter zulassen. Wir
werden den Steuertarif alle zwei Jahre überprüfen und
damit zeigen, dass wir den Bürgern das zurückgeben,
was ihnen zusteht. Ohne eine höhere Leistungsfähigkeit
dürfen die Bürger keine höheren Steuern zahlen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die SPD zitiert in ihrem Entschließungsantrag den
Sachverständigenrat, der darauf hinweist, dass die kalte
Progression durch die Tarifsenkungen der letzten Jahre
korrigiert worden sei. Ich verweise in diesem Zusam-
menhang auf den Bund der Steuerzahler, der hierzu bei
unserer Anhörung hinreichend Stellung genommen hat.

Sie haben nur eines vergessen, nämlich dass sich die
gesamten Gutachten auf den Zeitraum bis 2010 bezie-
hen, nicht auf die Jahre 2011 bis 2014. Hier wird näm-
lich ganz klar – das hat auch der Bund der Steuerzahler
deutlich gesagt –: Die Vorgehensweise der Koalition,
den kleinen und mittleren Einkommen das zurückzuge-
ben, was dem Staat nicht zusteht, ist im Hinblick auf die
Steuerprogression völlig richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie können sich auch nicht damit herausreden, dass
der 9. Existenzminimumbericht 2012 noch nicht vor-
liege. In der letzten Debatte hat der Bundesminister der
Finanzen, Herr Schäuble, deutlich gemacht, dass der
steuerfreie Grundbetrag 2012 knapp 1 Prozent über dem
steuerfreien Existenzminimum liegt, was 9 Euro aus-
macht. Die politische Absicht ist deutlich: Wir wollen
diese Entlastung im Hinblick auf die Jahre 2012, 2013
und 2014 durchführen, und Sie versuchen, das aus politi-
schen Gründen zu blockieren. Das wird der Bürger in
den nächsten Wochen und Monaten nicht honorieren.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ist das jetzt eine Gegenleistung oder keine?)


Wichtig in diesem Zusammenhang ist – das ist mir
auch persönlich besonders wichtig –, dass wir parallel zu
den Steuergesetzen die Konsolidierung des Haushaltes
vorantreiben. Wir haben eine Schuldenbremse einge-
führt. Sie soll bis zum Jahre 2016 dazu führen, dass wir
keine neuen Schulden aufnehmen. Wir werden nach der
jetzigen Planung voraussichtlich sogar schon im
Jahre 2014 diese Vorgabe der Schuldenbremse einhalten.

Die Diskussion in der Anhörung des Finanzausschus-
ses hat aber gezeigt, dass Sie unserer heutigen Maß-
nahme nichts entgegensetzen konnten


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist Quatsch!)


und ausschließlich darüber diskutiert haben, wie man die
Steuern erhöhen könnte. Das gilt für Sie von der Linken
ohnehin; aber auch die Grünen und die SPD haben deut-
lich gemacht: Es geht Ihnen um Steuererhöhungen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wir haben 2007 einen Antrag gemacht!)


Ich gebe Ihnen eine Empfehlung: Sie sollten einmal
im Protokoll der Sitzung vom 6. Juli 2000 nachlesen,
wie Herr Poß – er sitzt hier – in einer leidenschaftlichen
Rede zum Steuersenkungsgesetz von SPD und Grünen
für Steuerentlastungen in einer Größenordnung von
50 Milliarden für Arbeitnehmer, Mittelstand und vor al-
len Dingen Großunternehmen plädiert hat. Wenn Sie das
nachgelesen haben, werden Sie heute einiges in dem Be-
reich nicht mehr verstehen.

Sie sprechen von einer Erhöhung der Steuern in der
Spitze. Die Linken, aber auch Herr Hollande und Herr
Gabriel, sprechen davon, dass man den Spitzensteuersatz
deutlich anheben müsse. Selbst wenn wir den Spitzen-
steuersatz von 50 auf 70 Prozent anheben würden,
würden wir nicht einmal die Mittel einnehmen, um die
Steuerentlastung, die wir jetzt den Bürgern zukommen
lassen, zu finanzieren; es wären nicht einmal 6 Milliar-
den Euro.

Um das in ein richtiges Verhältnis zu setzen, sollten
Sie sich auch das Gutachten des Zentrums für Europäi-
sche Wirtschaftsforschung ansehen, in dem davor ge-
warnt wird, die Steuern im Bereich der Einkommen-
steuer oder, wie es von den Oppositionsparteien
durchgängig gewünscht wird, im Bereich der Vermögen-
steuer anzuheben. Dann würde nämlich das passieren,
was die größte Gefahr ist: Es gäbe – das gilt besonders
für Familienbetriebe – weniger Investitionen, weniger
Arbeitsplätze, weniger Sozialabgaben und vor allen Din-
gen weniger Steuereinnahmen.

Unsere Politik, die Politik von CDU/CSU und FDP in
den letzten Monaten, hat dafür gesorgt, dass wir wieder
eine stabile Wirtschaft in Deutschland haben. Wir haben
die wenigsten Arbeitslosen. Wir haben ein sehr hohes
Steueraufkommen: Allein von 2010 bis 2013 erreichen
wir pro Jahr 83 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen,
von denen beispielsweise 13,2 Milliarden Euro den
Kommunen zustehen. Das ist unsere Wirtschaftspolitik,
die für eine starke mittelständische Wirtschaft sorgt. Da
wir pro Jahr 83 Milliarden Euro mehr einnehmen, ist es
meines Erachtens gerechtfertigt, dass wir den Bürgern,
wie wir es vereinbart haben, jetzt 6 Milliarden Euro an
unberechtigterweise erhaltenen Steuermehreinnahmen
zurückgeben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717208300

Der Kollege Lothar Binding hat jetzt das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1717208400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Vielleicht eine Replik
auf Ihre Bemerkung zum Jahr 2000. Der erste kleine
Unterschied ist, dass man damals in D-Mark gerechnet
hat und heute in Euro rechnet.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Nein, nein! Prozente gab es damals auch schon!)


Die Zahlen sollte man geschickterweise anpassen, um
der Wahrheit näherzukommen. Um der Wahrheit noch
einen Schritt näherzukommen, sage ich: Wir wollten da-
mals, als wir allerdings in Europa ein Hochsteuerland
waren, den Spitzensteuersatz auf 43 Prozent senken; die
CDU/CSU wollte damals aber eine Senkung auf 36 Pro-
zent. Insofern glaube ich, dass sich Ihr Argument irgend-
wie in Luft auflöst.


(Beifall bei der SPD – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Es geht um die Bemessungsgrundlage!)


Es scheint doch immer gut zu sein, sich genauer zu erin-
nern.

Zugegeben: In Ihrer Rede haben Sie vorhin die Theo-
rie der kalten Progression nicht falsch beschrieben. Sie
haben allerdings an der Praxis, an der Wirklichkeit der
Menschen vorbeigedacht, vorbeigeredet und auch
vorbeigeregelt. Denn man muss sagen: Die kalte Pro-
gression, die Sie hier abschaffen wollen, existiert in der
Praxis für die Menschen nicht.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Quatsch! Völlig daneben! – Manuel Höferlin [FDP]: Für die, die keine Steuern zahlen, nicht! Aber sonst doch!)


– Man kann das berechnen; wer ein bisschen rechnen
kann, kann sich das leicht ausrechnen.

Dass Sie die kalte Progression in Wahrheit gar nicht
abschaffen wollen, erkennt man daran: Wenn Sie sie ab-
schaffen wollten, würden Sie eine jährliche Anpassung
der Kurve, über die wir reden, vornehmen; Sie würden
jedes Jahr eine Anpassung durch eine Verschiebung der
Grenzsteuersatzkurve nach rechts vornehmen. Das wol-
len Sie aber nicht, und zwar aus guten Gründen. Deshalb
sollten Sie hier in Bezug darauf, was Sie tun oder nicht
tun, keine Schimäre aufbauen. Dahinter steckt etwas
ganz anderes. Ich bin froh, dass wir überhaupt keinen
Wahlkampf haben; insofern ist dieser Gedanke fernab je-
der Realität.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der öffentliche Dienst kämpft gerade um Lohnerhö-
hungen. Diesen Forderungen nach Lohnerhöhungen
wird mit folgenden Argumenten begegnet: Kassen leer,

kein Geld, Schuldenbremse, Bankenkrise, Europa. Da
könnte man an so einiges denken. Für die Konzerne und
auch die Hotels war Geld vorhanden. Ich möchte daran
erinnern, weil das eine ganz andere Seite aufzeigt.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie wollen nur ablenken!)


Lassen Sie mich noch ein weiteres Argument anfüh-
ren, das unsere Sensibilität an dieser Stelle ein bisschen
illustriert.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Nur ein bisschen!)


Der Bundesgesundheitsminister Bahr hat in diesen
Tagen ein zentrales Projekt der Regierung vorgestellt,
mit dem die Leistungen der Versicherung konsequent auf
die Bedürfnisse von an Demenz erkrankten Menschen
ausgerichtet werden soll. Das ist ein hehres Ziel, ein gu-
tes Ziel; es klingt auch gar nicht nach Finanzpolitik.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wir haben doch kalte Progression als Thema!)


– Darauf gehe ich gleich ein. – Das bedeutet: Demenz-
patienten


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Kalte Demenz!)


können zusätzlich ein monatliches Pflegegeld von
120 Euro erhalten. Das sind 4 Euro pro Tag.


(Holger Krestel [FDP]: Guter Mann, der Herr Bahr!)


Dafür haben wir Geld. Für 5 Euro pro Tag haben wir
anscheinend kein Geld mehr übrig.


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Das ist kalte Demenz! Hör doch auf!)


Gleichzeitig verursacht diese Regierung durch das jetzt
vorgelegte Gesetz Ausfälle von über 6 Milliarden Euro.
Das muss man sich einmal vorstellen: Hier wird Sozial-
politik betrieben, und zwar ohne jede Gegenfinanzierung
– denken Sie an Ihren Koalitionsvertrag – und somit auf
Pump.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wir haben 83 Milliarden mehr Steuereinnahmen!)


Allein in den Ländern und Kommunen sind Ausfälle
von 2,5 Milliarden Euro zu erwarten. Diese können sie
im ersten Jahr kompensieren, aber das Gesetz ist auf
viele Jahre angelegt, und in den Folgejahren werden die
Ausfälle nicht kompensiert. Die Kommunen und die
Länder werden große Probleme bekommen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie zahlen doch fast alles alleine!)


Wir fragen uns: Warum braucht man dieses Gesetz
überhaupt?


(Gisela Piltz [FDP]: Dass Sie nicht verstehen, warum man das Gesetz jetzt braucht, wundert mich nicht!)


Die Steuerbelastung für Einkommen gleicher Kaufkraft
– darüber reden wir, das hat Herr Flosbach auch erklärt –





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


lag im Jahr 2011 deutlich niedriger als im Jahr 1999.
Man muss wirklich darüber nachdenken, was Sie mit
diesem Gesetz überhaupt erreichen wollen;


(Joachim Poß [SPD]: Richtig!)


denn in den letzten 16 Jahren gab es zehn Tarifsenkun-
gen. Schon bisher – jetzt komme ich zum Kern der Über-
legung – wurde das steuerfrei zu stellende sächliche
Existenzminimum alle zwei Jahre neu festgestellt.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Bis 2010!)


Das steuerlich freizustellende Einkommen wurde bis
zum Jahr 2012 festgestellt.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: 2010!)


Das steuerfreie Einkommen lag immer deutlich über
dem Existenzminimum. Wir haben den Bürgern sozusa-
gen schon in der Vergangenheit vorauseilend die Besorg-
nis vor den Gefahren, die durch die kalte Progression
entstehen könnten, genommen. Es gab überhaupt keine
kalte Progression. Ich habe schon einmal darauf hinge-
wiesen – rechnen Sie es sich aus –: Selbst der jetzige
Grundfreibetrag von 8 004 Euro liegt noch deutlich
oberhalb des verfassungsrechtlich gebotenen Maßstabs
für das sächliche Existenzminimum.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Für das Jahr 2012, nicht für 2013!)


Damit gibt es die kalte Progression zwar in der Theorie,
aber nicht in der Praxis. Sie wollen doch ein Gesetz für
die Menschen machen und nicht für ein Lehrbuch; denn
das erreicht die Menschen gar nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Alles falsch!)


Wir erwarten auch in diesem Jahr eine Anhebung des
Existenzminimums. Die gebotene Anhebung des Grund-
freibetrages kommt wie in der Vergangenheit automa-
tisch. Was aber wollen Sie jetzt machen? Sie wollen die
bisherige Verfahrenstechnik auf gesicherter Datengrund-
lage durch eine Verfahrenstechnik, die auf ungesicherten
Daten und auf einer Schätzung für die Zukunft beruht,
austauschen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Nein!)


Man muss schon sagen: Wer sich um diese Art Phan-
tomschmerz kümmert, der müsste noch einen substan-
ziellen Grund hinzufügen, warum er dieses Gesetz un-
bedingt braucht. Gerade vor dem Hintergrund der vielen
bereits gescheiterten Gesetze frage ich Sie: Warum brau-
chen Sie dieses Gesetz? Im Koalitionsvertrag steht, dass
Sie einen Stufentarif wollen. Diesen sieht keiner, darüber
diskutiert keiner.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ein Glück!)


– Ein Glück, aber nur, weil die Verabredung aus dem
Koalitionsvertrag nicht eingehalten wird.

Sie wollen Steuersenkungen – das Wort musste ja
noch einmal fallen – in Höhe von 24 Milliarden Euro.
Die sind übrigens vertraglich verabredet.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist schon längst Geschichte! Zum 1. Januar 2010! – Manuel Höferlin [FDP]: Das haben Sie nicht gemerkt!)


Ich bin dagegen, aber Sie haben das im Koalitionsver-
trag verabredet. Was machen Sie jetzt? Sie kommen mit
einem Betrag von über 6 Milliarden Euro, nur um die
Formulierung in der Koalitionsvereinbarung irgendwie
zu rechtfertigen, damit es nicht so auffällt, dass Sie die
nicht erfüllen, und damit der Streit, den Sie darüber ha-
ben, möglicherweise nicht öffentlich wird.


(Gisela Piltz [FDP]: Wir glauben, dass die Bürger besser mit Geld umgehen können als Sie!)


Ich glaube, die Menschen werden das merken. Dass
sozusagen die Restgröße der kalten Progression dafür
herhalten muss, das halte ich schon für riskant. Ich will
nur eine Zahl nennen: Denjenigen, der ein zu versteuern-
des Einkommen von 25 000 Euro hat, entlasten Sie jetzt
um 70 Euro im Jahr. Wer 70 Euro durch 12 teilen kann,
der weiß, was das im Monat bedeutet, und der weiß
auch, was Sie mit kalter Progression und deren Gefahren
für die niedrigen Einkommen tatsächlich meinen.


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Das ist auch Geld! – Zuruf von der FDP: Ist das sozial, was Sie sagen?)


Wir erkennen, dass das ein weiterer steuerpolitischer
Rohrkrepierer wird, der sich ohne Weiteres in Ihre Ge-
setzesserie einfügt. Ich nenne das Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz, mit dem Sie vererbte Unternehmenswerte
nicht erfassen, also den Reichen sozusagen Geld zurück-
geben, Geld schenken. Das Steuervereinfachungsgesetz
ist gescheitert. Das Ziel einer Steuererklärung alle zwei
Jahre musste zurückgenommen werden. Wer sich die
Serie dieser Gesetze anguckt, der weiß, warum Sie heute
so sehr an der Theorie der kalten Progression festhalten.
Leider hilft Ihr Gesetz den Menschen nicht. Deshalb
werden wir es ablehnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717208500

Der Kollege Dr. Volker Wissing hat das Wort für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1717208600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ihre Argumentation, Herr Binding, finde ich, ehrlich ge-
sagt, beschämend. Als wir hier in Deutschland darüber
diskutiert haben, ob man die Transferleistungen bei
Hartz IV erhöhen muss, haben Sie gesagt: Sie müssen
drastisch angehoben werden, weil die Lebenshaltungs-
kosten der Menschen erheblich gestiegen sind.

Jetzt geht es darum, unser Steuerrecht den gestiege-
nen Lebenshaltungskosten anzupassen. Nun sagen Sie:
Bei den Menschen, die arbeiten, gilt diese Argumenta-





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


tion nicht, bei denen sind die Lebenshaltungskosten
nicht gestiegen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das stimmt doch nicht!)


Kaufen die denn in anderen Supermärkten ein? So muss
man die SPD einmal fragen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie können doch nicht zwei Welten schaffen, nämlich
eine Welt für Empfänger von Transferleistungen, denen
man immer mehr gibt, und eine Welt für Steuerzahler,
für die angeblich alles immer besser wird und die man
immer höher besteuern kann.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: So ein Quatsch!)


Sie müssen einmal die Frage stellen, ob jemand, der
arbeiten geht und der ein Einkommen im unteren und
mittleren Bereich hat, nicht auch höhere Lebens-
haltungskosten hat. Deswegen finde ich Ihre Argumenta-
tion einen Schlag ins Gesicht von Millionen Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern in Deutschland.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Es ist eine an den Haaren herbeigezogene und auch
leicht zu entlarvende Argumentation von Ihnen. Sie
suchen offensichtlich Gründe auf dem Rücken der Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, um diesen hervorra-
genden Gesetzentwurf nicht unterstützen zu müssen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Da fragt man sich schon: Wo ist die SPD damit ange-
kommen?

Sie haben gesagt, die Lebenshaltungskosten seien in
Deutschland nicht gestiegen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Habe ich das behauptet? Das habe ich nicht gesagt!)


Fragen Sie doch einmal die Menschen in Ihrem Wahl-
kreis! Das Gegenteil ist nämlich richtig. Weiterhin haben
Sie gesagt, in Deutschland gebe es keine kalte Progres-
sion.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist völliger Unsinn!)


Damit sagen Sie im Grunde genommen, dass die Leute
durch die Lohnerhöhungen eine ordentliche Erhöhung
ihres Nettoeinkommens haben.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wer hat das denn gesagt?)


Gehen Sie einmal in Ihren Wahlkreis! Sprechen Sie
einmal mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
die Löhne im unteren Einkommensbereich verdienen,
und fragen Sie sie, ob bei ihnen die Nettoeinkommen
und die Kaufkraft in den letzten Jahren durch Lohnerhö-
hungen kräftig gestiegen sind!


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wären Sie für Mindestlöhne, dann wäre das Problem weg!)


Dann werden Ihnen die Menschen das Gleiche sagen wie
uns: Nein. Wir arbeiten zwar, aber die Steuern schlagen
immer stärker zu. Die Tariferhöhungen führen bei uns
nicht zu höheren Nettoeinkommen. – Das sagen uns die
Menschen. Deswegen legen wir diesen Gesetzentwurf
vor. Sie sollten ihn unterstützen und ihre an den Haaren
herbeigezogenen Ablehnungsgründe beiseitelegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wer hat denn diese Lohnpolitik gemacht? Sie!)


Dass es eine kalte Progression gibt, haben alle Sachver-
ständigen in der Anhörung einhellig gesagt.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: In der Theorie!)


Sie sagen in der Öffentlichkeit immer wieder das
Gleiche, nämlich es handele sich dabei um Steuerge-
schenke auf Pump.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Wir hingegen sagen: Lohnerhöhungen sind keine
Geschenke an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer, sondern sie haben sie sich mit ihrer Hände Arbeit
verdient. Deswegen ist es Zynismus, wenn die Sozial-
demokraten immer wieder von Geschenken sprechen.
Lohnerhöhungen sind keine Geschenke.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir sind doch für Lohnerhöhungen! – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht nicht um Lohngeschenke, sondern um Steuergeschenke!)


– Auch die Grünen reden jetzt von Geschenken. Ich sage
noch einmal, auch an die Adresse der Grünen: Lohner-
höhungen sind keine Geschenke. Diese haben sich die
Menschen mit harter Arbeit verdient. Sie haben nicht das
Recht, dies als Geschenke zu diffamieren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie sagen immer wieder, das sei auf Pump. Sie wissen es
besser. Trotzdem sagen Sie den Leuten bewusst die Un-
wahrheit.

Wir verzichten auf Steuererhöhungen. Wozu muss
man denn dafür einen Kredit aufnehmen? Die Bürgerin-
nen und Bürger müssen sich doch von diesem Unsinn
verhöhnt vorkommen. Die Einnahmen des Staates redu-
zieren sich durch diesen Gesetzentwurf doch nicht; sie
erhöhen sich nur nicht.


(Zurufe von der SPD: Ah!)


Deswegen bedeutet das: Wenn Sie gegen dieses Gesetz
sind, dann sind Sie für Steuererhöhungen im unteren und
mittleren Einkommensbereich. Wenn Sie das wollen,
dann sagen Sie es doch deutlich, damit die Menschen
wissen, wofür Sie stehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


Dann behaupten Sie – auch das tragen die Grünen wie
eine Monstranz vor sich her –, das würde die Kommu-
nen belasten. Das würde die Kommunen doch nur dann
belasten, wenn Sie das Geld in den Ländern, in denen
Sie regieren, in Rheinland-Pfalz oder Baden-Württem-
berg, auf Landesebene abziehen würden. Wenn Sie das,
was der Bund als Ausgleich für diesen Gesetzentwurf
zahlt, fair an die Kommunen weitergeben, dann kommt
das zu 100 Prozent dort an,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Im ersten Jahr! Künftig nicht!)


dann kostet das die Kommunen keinen einzigen Cent.
Sie haben es in den Ländern, in denen Sie regieren, in
der Hand. Dadurch, dass Sie heute angekündigt haben,
dass das die Kommunen Geld kosten würde, haben Sie
sich entlarvt: Sie wollen die Kommunen in den von Ih-
nen regierten Ländern hereinlegen, wie Sie es schon bei
unserem Gemeindefinanzreformgesetz gemacht haben.


(Lachen bei der SPD – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh, Herr Wissing!)


Damals ist ein Teil der 4 Milliarden Euro in den Kassen
der Landesfinanzminister gelandet, anstatt die Kommu-
nen zu entlasten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Politik, die Sie hier betreiben, ist scheinheilig.


(Joachim Poß [SPD]: Das haben Sie gerade nötig! Sie sind doch Mister Scheinheilig des Bundestages!)


Wir haben mit diesem Gesetzentwurf ein hervorra-
gend berechnetes Konzept zur Entlastung der Bezieher
unterer und mittlerer Einkommen und zum Schutz vor
höheren Steuern vorgelegt. Mit unserem Steuerprogres-
sionsbericht, der alle zwei Jahre vorgelegt wird, haben
wir dafür gesorgt, dass die Intransparenz des Steuersys-
tems beseitigt wird.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das stimmt doch alles nicht, was Sie da sagen!)


Ich schaue die Grünen an: Sie sind nach außen immer für
Transparenz.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat doch gar nichts mit Transparenz zu tun, Herr Wissing!)


Hier wird Transparenz geschaffen. Warum stimmen Sie
dann nicht zu? Endlich hören die schleichenden, heimli-
chen Steuererhöhungen auf. Und wer ist dagegen? Aus-
gerechnet die Grünen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Weil es nicht stimmt!)


An diesem Gesetzentwurf herumzumäkeln, ist klein-
kariert.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Den Gesetzentwurf zu machen, ist kleinkariert!)


Weil es hier nicht um hohe Einkommen, sondern um
untere und mittlere Einkommen geht, sollten Sie Ihre
Blockadehaltung aufgeben. Der Gesetzentwurf ist so nö-
tig, wie er richtig ist.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Er kostet 6 Milliarden!)


Wir fordern Sie auf, ihn nicht zu blockieren. Sie sind das
den Menschen in Deutschland, die Einkommen im unte-
ren und mittleren Bereich beziehen, schuldig.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Die Einzige, der das etwas bringt, ist die FDP!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717208700

Jetzt hat Barbara Höll das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717208800

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Das war eine Theatervorstellung: Herr
Wissing als moderner Robin Hood für Arme und Ent-
rechtete.


(Beifall bei der FDP)


Wenn Sie morgen hier einen Antrag einbringen und
10 Euro Mindestlohn für alle in der Bundesrepublik
Deutschland fordern würden, dann könnten wir Ihnen
vielleicht ein bisschen glauben.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will hier klarstellen: Auch die Linke ist für Steu-
erentlastungen im Bereich der unteren und mittleren Ein-
kommen. Dafür sind wir. Wir haben auch etwas dafür
getan. Den Weg, den Sie hier propagieren, können wir
aber nicht unterstützen. Das Vorhaben ist falsch, es ist
nicht gegenfinanziert, und die Umsetzung Ihres Gesetz-
entwurfs führt zu einer Vergrößerung der Kluft zwischen
Arm und Reich.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit dem Gesetzentwurf gehen Sie an dem Grundpro-
blem der Ungerechtigkeit im derzeitigen Einkommen-
steuertarif vorbei. Dies haben Ihnen auch Sachverstän-
dige in der Anhörung gesagt. Ich erinnere an Stefan
Bach vom DIW, der gesagt hat: Natürlich müssen wir im
unteren Bereich stärker entlasten, und natürlich haben
wir im oberen Einkommensbereich die Möglichkeit, das
gegenzufinanzieren.

Wer wirklich etwas tun will, um die Bezieher unterer
und mittlerer Einkommen zu entlasten, der muss an den
sogenannten Waigel-Bauch herangehen, an den Verlauf
des Einkommensteuertarifs. Wir von der Linken haben
Ihnen dazu einen Vorschlag vorgelegt: Bei einem durch-





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


gehend linear-progressiven Einkommensteuertarif hätten
wir keine kalte Progression in der Form, wie wir sie jetzt
haben, dann hätten wir nicht das Problem der Stauchung
des Tarifs bei Anhebung des Grundfreibetrags.


(Beifall bei der LINKEN)


In dem vorliegenden Gesetzentwurf wird außerdem
nicht zwischen gewünschter Progression und uner-
wünschter, sogenannter kalter Progression unterschie-
den. Der progressive Tarifverlauf in der Einkommen-
steuer entspricht dem Gerechtigkeitsprinzip des
deutschen Steuerrechts, der Besteuerung nach der wirt-
schaftlichen Leistungsfähigkeit. Dementsprechend sol-
len höhere Einkommen proportional höhere Steuern zah-
len. Dieses Prinzip ist aber leider ausgehebelt worden.
Klar ist: Einkommenssteigerungen, die nur inflationsbe-
dingt entstanden sind, verkörpern keine höhere Leis-
tungsfähigkeit und sollten daher auch nicht höher be-
steuert werden.

Nun hatten wir in den letzten zwölf Jahren aber eine
Steuerpolitik – das wurde schon gesagt –, die zu einem
massiven Abbau der gewünschten Progression führte.
Wir hatten in den letzten zwölf Jahren eine gezielte Ent-
lastung insbesondere der Bezieher hoher Einkommen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang zwei Beispiele
nennen:

Erstes Beispiel ist die Absenkung des Spitzensteuer-
satzes in der Einkommensteuer von 53 Prozent bis zum
Jahr 1999 auf 42 Prozent im Jahr 2005.

Zweites Beispiel ist die Herauslösung der Kapitalein-
künfte aus der regulären Einkommensteuer durch die
Abgeltungsteuer; dies wurde von der Großen Koalition
umgesetzt. Da die Abgeltungsteuer nur einen Steuersatz
hat – er liegt bei 25 Prozent –, sind Kapitaleinkünfte seit
2009 nicht mehr von der kalten Progression betroffen.
Von der sowieso schon niedrigeren Besteuerung von Ka-
pitaleinkünften profitieren eindeutig die Bezieherinnen
und Bezieher hoher Einkommen; denn nur sie haben so
viel Einkommen, dass sie tatsächlich Kapitaleinkünfte
erzielen können.

Wenn nunmehr hohe Einkommen durch die vorgese-
hene Rechtsverschiebung des Tarifverlaufs über die An-
hebung des Grundfreibetrages hinaus entlastet werden
sollen, dann ist das angesichts des vorangegangenen
massiven Abbaus der gewünschten Progression regel-
recht eine Verkehrung der Tatsachen. Der Abbau der kal-
ten Progression wird von Ihnen instrumentalisiert, um
die Verteilungsposition der Bezieherinnen und Bezieher
hoher Einkommen weiter auszubauen und zu zementie-
ren. Sie vergrößern durch Ihren Gesetzentwurf die
Schere zwischen Arm und Reich.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Zur geplanten Erhöhung des Grundfreibetrags sage
ich Ihnen Folgendes: Natürlich ist eine Erhöhung not-
wendig. Aber die vorgeschlagene Anhebung ist viel zu
gering. Das liegt daran, dass die Kriterien, die der Be-
rechnung zugrunde liegen, unzureichend sind. Ich
möchte darauf verweisen, dass Ihnen zum Beispiel der

Paritätische Wohlfahrtsverband einen Grundfreibetrag
von etwa 9 300 Euro vorgeschlagen hat. So steht es auch
in unserem Vorschlag. 9 300 Euro steuerfreier Grund-
freibetrag – das wäre eine Abbildung der Realität.

Was machen Sie? Sie instrumentalisieren auch diese
Frage wahltaktisch. Sie gehen eben nicht nach dem be-
währten Verfahren vor, nach dem die Anpassung alle
zwei Jahre nach Veröffentlichung des entsprechenden
Berichts vorgenommen wird. Sie ziehen einen Gesetz-
entwurf locker aus der Tasche und sagen: Wir machen
jetzt eine kleine Anhebung, egal ob wir neue Zahlen ha-
ben oder nicht. Das ist doch wunderbar. – Nein, das, was
Sie machen, ist Quatsch und eigentlich sträflich.


(Beifall bei der LINKEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sagt die PDS!)


Ich muss Ihnen auch sagen: Sie haben auf einmal die
kalte Progression als großes Thema entdeckt. Die Linke
hat hier bereits im Jahre 2007 einen Antrag eingebracht,
in dem wir gefordert haben, dass überprüft wird, ob es
eine kalte Progression gibt, und wenn ja, wie sie sich
auswirkt und wie man darauf reagieren kann. Diesen
Antrag haben Sie hier einmütig abgelehnt. Das Thema
fanden Sie alle nicht so interessant. Wir haben Ihnen ver-
schiedene Vorschläge unterbreitet.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Da war doch ein SPD-Finanzminister, oder? Der hieß Steinbrück, glaube ich!)


Nun haben wir darüber diskutiert und im Finanzaus-
schuss gefragt, wie die kalte Progression wirkt. Herr
Gutting sagte am Mittwoch, in den letzten Jahren habe
sie eigentlich gar nicht gewirkt, wir würden ja über die
Zukunft reden. Sie haben nicht einmal belastbare Zah-
len. Das ist ein Problem. Sie wollen also jetzt etwas ver-
ändern, obwohl es dazu keine belastbaren Zahlen gibt.
Sie agieren hier völlig freischwebend im Raum und ver-
kaufen das als seriöse Politik.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Das, was Sie machen, ist völlig verkehrt. Wir müssen
das Problem grundlegend im Einkommensteuertarif an-
gehen. Ich möchte noch einmal die Zahlen nennen. Nach
Ihrem Vorschlag wird ein Lediger mit einem zu versteu-
ernden Jahreseinkommen von etwa 15 000 Euro monat-
lich 8,30 Euro einsparen. Das ist gewaltig. Bei einem zu
versteuernden Jahreseinkommen von 30 000 Euro be-
trägt die Ersparnis 14,50 Euro.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Monatlich! Das ist doch gut!)


Bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von
60 000 Euro beträgt die monatliche Entlastung 31,50
Euro. Betrachten Sie ruhig die absoluten Zahlen; denn
sie spiegeln das wider, was man im Portemonnaie hat
und was nicht.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie haben das mit der Progression noch nicht verstanden!)






Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


Wenn Sie im Bereich der unteren und mittleren Ein-
kommen wirklich Entlastungen erzielen wollen, dann
brauchen wir einen durchgehend linear-progressiven Ta-
rif. Nach unserem Vorschlag – 14 Prozent Eingangssteu-
ersatz, 53 Prozent Spitzensteuersatz, 9 300 Euro steuer-
freier Grundbetrag – würde der Ledige mit einem zu
versteuernden Jahreseinkommen in Höhe von 15 000
Euro monatlich um 41,50 Euro entlastet werden, bei ei-
nem zu versteuernden Jahreseinkommen von 30 000
Euro sogar um 102 Euro. Im Gegensatz zu Ihnen haben
wir einen gegenfinanzierten Vorschlag vorgelegt. Das
unterscheidet uns grundlegend.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie wollen minimale Veränderungen im unteren Be-
reich, und oben wollen Sie mehr entlasten, und das sogar
noch auf Pump.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Oben ist doch gar keine Entlastung!)


Nach unserem Vorschlag würden alle mit einem Monats-
einkommen von bis zu 5 850 Euro, das entspricht einem
Jahreseinkommen von 70 000 Euro, durch eine stärkere
Belastung der Einkommen im oberen Bereich entlastet
werden.

Herr Wissing, weil Sie im Hinblick auf die kleinen
und mittleren Einkommen eine dicke Lippe riskiert ha-
ben, muss ich Ihnen sagen: Sorgen Sie lieber erst einmal
dafür, dass möglichst viele Menschen überhaupt in die
Situation kommen, Einkommensteuer zu zahlen.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das tun wir! Sehen Sie sich doch die Arbeitslosenzahlen an! – Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Wir hatten noch nie so wenige Arbeitslose!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717208900

Frau Kollegin.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717209000

Frau Präsidentin, mein letzter Satz. – Diejenigen, die

noch nicht einmal einen Mindestlohn bekommen, und
diejenigen, die Minijobs haben und zum Amt müssen,
um aufzustocken, –


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Jetzt sagen Sie am besten noch etwas zur Finanztransaktionsteuer! Dann haben wir dieses Thema auch abgehakt! – Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717209100

Frau Kollegin!


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717209200

– haben von diesen Peanuts nichts. Auch diese Men-

schen müssen endlich von ihrer Arbeit leben können.
Das ist das Hauptproblem.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD] – Dr. Volker Wissing [FDP]: Jetzt hat mir aber die Finanztransaktionsteuer gefehlt, Frau Kollegin! Wie schade!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717209300

Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man die Verteilungssituation von heute mit der
von 1970 vergleicht, stellt man fest: Es hat sich viel ver-
schoben, und das, obwohl Deutschland schon 1970 ein
marktwirtschaftliches Land war. Würde man die großen
und die kleinen Einkommen so verteilen, wie es 1970
der Fall war, müsste man dem reicheren Teil der Bevöl-
kerung 1,5 Billionen Euro abnehmen und diesen Betrag
den unteren 90 Prozent der Bevölkerung zukommen las-
sen.


(Joachim Poß [SPD]: Das ist richtig!)


Dann hätten die unteren 90 Prozent der Bevölkerung pro
Kopf 20 000 Euro mehr in der Tasche.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


So hat sich die Verteilungssituation entwickelt.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Ist das etwa der Vorschlag der Grünen? Das ist ja interessant! – Gegenruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Aber wir wollen Verteilungsgerechtigkeit!)


Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Welche
Steuerpolitik braucht Deutschland?

„Es müsste Sie doch mindestens genauso sehr be-
sorgen wie mich, dass drei Viertel der in Deutsch-
land lebenden Bevölkerung die derzeitige Einkom-
mens- und Vermögensverteilung als ungerecht
empfinden.“

In einer Zeit, in der bei Sozialleistungen gespart wer-
den muss, ist das

„nicht nur eine Frage der öffentlichen Akzeptanz,
sondern auch eine Frage, wie man sich die Herstel-
lung der Verteilungsgerechtigkeit im Hinblick auf
das Steuersystem vorstellt“.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


– Da hätten jetzt auch Sie von den Koalitionsfraktionen
klatschen können. Das war nämlich ein Zitat von
Norbert Lammert, dem Präsidenten des Deutschen Bun-
destages, vom 8. März 2012.


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Dem stimmen wir ja auch zu! – Gisela Piltz [FDP]: Sie klatschen bestimmt auch nicht bei jedem Zitat von Frau Höhn, oder?)






Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


Sie, Herr Flosbach, haben vorhin mit Ihrem Zwi-
schenruf deutlich gemacht, dass Sie diese Position als
Umverteilungssozialismus bezeichnen würden. Dabei
hat der Mann natürlich recht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Er spricht damit vielen Menschen aus der Seele. Ich sage
Ihnen: Wenn wir über dieses Thema diskutieren, dürfen
wir nicht abstrakt über irgendwelche Tarife reden. Denn
dann kann vieles ganz galant unter den Tisch gekehrt
werden, und es kann ein völlig falscher Eindruck entste-
hen.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Gut! Dann reden Sie doch jetzt mal konkret!)


Die Rede von Volker Wissing war leider diesbezüglich
sehr aufschlussreich.

In den letzten Wochen gab es in Deutschland eine
Diskussion über das Einkommen von Spitzenmanagern,
und zwar am Beispiel von Martin Winterkorn, dem Vor-
standsvorsitzenden der Volkwagen AG, der 17,5 Millio-
nen Euro im Jahr verdient.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wer hat das beschlossen?)


Im Hinblick auf Ihr Steuergesetz stellt sich jetzt die
Frage: Wollen wir, dass er steuerlich entlastet wird, oder
wollen wir, dass er steuerlich mehr belastet wird?


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Er wird nach diesem Gesetz doch gar nicht entlastet! Das ist doch völliger Quatsch!)


An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen Regie-
rung und Opposition deutlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Sagen Sie den Menschen doch, dass es Ihnen nicht um
die Bezieher kleiner Einkommen geht,


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist ganz dummes Zeug, was Sie reden!)


sondern dass Sie die Bezieher großer Einkommen in die-
ser Gesellschaft entlasten wollen! Das ist Ihre Steuer-
politik.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Völliger Blödsinn, was Sie da sagen! Wir wollen die kleinen Einkommen entlasten!)


– Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen und mit
Zahlen kontern. Sie merken ja selbst, dass Sie hier einen
wunden Punkt haben.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie haben damals 42 Prozent Steuerprogression verlangt! – Gegenruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mann, Mann, Mann! Jetzt reicht es aber!)


– Stellen Sie bitte eine Zwischenfrage. Dann hätte ich
Zeit, darauf einzugehen, und könnte das ausführlich wi-
derlegen. Aber das trauen Sie sich ja nicht.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das können Sie eben nicht widerlegen! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Dann stellen Sie doch eine Frage!)


Diese Forderung damals kam im Bundesrat vonseiten
der Union.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Ach was! Erzähl doch nichts!)


Betreiben Sie doch keine Geschichtsklitterung!

Der Punkt ist: Das Steuergesetz, das Sie auf den Tisch
legen, wird dazu führen, dass die Hälfte der Entlastun-
gen bei den oberen 20 Prozent der Steuerpflichtigen an-
kommt. Aber hier faseln Sie davon, dass es Ihnen um die
Bezieher kleiner Einkommen geht. Das stimmt einfach
nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich will einen zweiten Punkt ansprechen. Sie haben
gesagt: Es ist wichtig, die kleinen und mittleren Einkom-
men zu entlasten. – Unser Vorschlag verfolgt genau die-
ses Ziel. Wir schaffen das, ohne die öffentlichen Haus-
halte mit neuen Schulden zu belasten,


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Wir auch!)


weil wir eine Gegenfinanzierung vorschlagen. Sie tun
das nicht.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Ja! Weil man keine braucht! – Gegenruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach was! Natürlich! – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 6 Milliarden Euro, Herr Wissing! Nehmen Sie die etwa aus der Portokasse?)


Wir wollen den Grundfreibetrag höher als Sie anhe-
ben, nämlich auf 8 500 Euro. Wir entlasten die Empfän-
ger unterer Einkommen wirklich. Das können wir schon
für 2013 darstellen. Wenn man wirklich entlasten will,
dann kann man das auch tun. Man muss das aber so ma-
chen, dass man die öffentlichen Haushalte schont. Man
kann den Menschen auch klar sagen, um was es geht,
und muss nicht mit irgendeiner schiefen Argumentation
tricksen, wie Sie das hier getan haben.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie waren fünf Jahre lang der Defizitsünder in Europa! Hören Sie nur auf mit Haushalt!)


Ich möchte abschließend auf den Punkt „kalte Pro-
gression“ zu sprechen kommen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Endlich! Eine Minute noch!)


Sie sagen: Wir müssen die Wirkungen der Inflation be-
rücksichtigen. – Sie haben uns einen Entschließungsan-
trag vorgelegt, in dem Sie das vorschlagen – aber natür-
lich nur für den Einkommensteuertarif. Daran sieht man,
dass Sie in diesem Punkt die Scheuklappen aufsetzen.
Sie wollen damit nämlich nur begründen, dass bei der
Einkommensteuer in dem Bereich, wo die Empfänger





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


hoher Einkommen entlastet werden, eine Korrektur er-
folgt, wenn die Inflation Wirkungen auf das Verteilungs-
system und auf die Tarife hat, in anderen Bereichen aber
nicht.

Nehmen Sie die Beitragsbemessungsgrenze in der
Rentenversicherung. Von 2005 bis 2012 stieg diese um
7,7 Prozent.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist doch etwas ganz anderes! Da haben Sie einen Gegenleistungsanspruch!)


Die Inflationsrate betrug 12,7 Prozent. Dadurch sparen
Gutverdienende 300 Euro im Jahr. Über diese Wirkung
der Inflation reden Sie nie; denn vor diesem Hintergrund
müssten Sie auch einmal Höherverdienende belasten,
und das tun Sie nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Oder schauen Sie sich den Behindertenpauschbetrag
an. Seit 1975 wurde er nicht angepasst. Wenn Sie die In-
flation bei der Bemessung der Tarife und der Abgaben
berücksichtigen wollen, dann tun Sie das doch bitte auch
bei den Sozialabgaben. Dann sind wir auch dabei. Das
war unser Vorschlag im Ausschuss.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Da haben Sie doch einen Gegenleistungsanspruch! Das ist etwas ganz anderes! Bei Steuern haben Sie keinen Gegenleistungsanspruch!)


Aber nein, Sie wollen das ausschließlich auf den Bereich
konzentrieren, in dem es zu Verteilungswirkungen
kommt, die Ihrem Wunsch für unsere Gesellschaft ent-
sprechen. Dies lehnen wir ab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich fasse zusammen: Wir Grüne machen einen Vor-
schlag,


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Steuern rauf!)


der keine zusätzliche Belastung für die öffentlichen
Haushalte bedeutet und die Kommunen, die Länder und
den Bund nicht zu höheren Schulden zwingt.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Genau! Steuererhöhungen!)


Wir machen einen Vorschlag, der die Empfänger kleiner
bzw. geringer Einkommen wirklich entlastet, und wir
sorgen dafür, dass die Menschen, die in diesem Land
sehr gut verdienen, nämlich die obersten 10 Prozent,
mehr beitragen, damit die Steuerpolitik wirklich zu mehr
sozialer Gerechtigkeit führt, was sich drei Viertel der
Menschen in diesem Lande wünschen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717209400

Der Kollege Hans Michelbach hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1717209500

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Mit

dem heutigen Tag gehen wir einen richtigen Schritt da-
hin, dass die Steuererhebung in Deutschland gerechter
und leistungsfreundlicher wird. Das ist ein guter Tag.
Wir entlasten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
mit kleinem und mittlerem Einkommen, deren Lohnzu-
wächse der vergangenen Jahre durch die kalte Progres-
sion zu ungewollten, geradezu heimlichen Steuererhö-
hungen geführt haben.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist falsch! Das stimmt gar nicht!)


Es geht uns um einen fairen Anteil der arbeitenden Be-
völkerung an den selbst erarbeiteten Löhnen und Lohn-
zuwächsen. Wir geben die Aufschwungdividende heute
zurück.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wer hat das aufgeschrieben?)


Unser Gesetz stellt sicher, dass die Bürgerinnen und
Bürger in den Jahren 2013 und 2014 von zu hohen Wir-
kungen der kalten Progression entlastet werden. Die Ko-
alition sorgt dafür, dass diejenigen, die sich in der Krise
zurückgehalten haben und jetzt Lohnsteigerungen erwar-
ten, diese auch vermehrt behalten können, indem sie ge-
rechter besteuert werden. Unser Ziel bzw. unser Anlie-
gen heißt: Mehr netto vom Brutto! Arbeit muss sich
lohnen. – Das ist der richtige politische Ansatz.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Entlastungsbeträge geben wir den Menschen
zurück. Wir geben ihnen das zurück, was der Staat infla-
tionsbedingt quasi ohne rechtliche Grundlage erhalten
hat.


(Zurufe von der SPD: Was?)


Das ist ein gerechter und leistungsfreundlicher Weg. Un-
ser Prinzip heißt: Besteuerung nach Leistungsfähigkeit –
und nicht nach Ideologie, wie wir das gerade von den
Grünen gehört haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die kalte Progression bedeutet eine jährliche heimliche
Steuererhöhung. Das ist das Problem, das wir jetzt lösen.

Wir haben außerdem einen Entschließungsantrag ein-
gebracht, der darauf abzielt, dass uns ab der 18. Legisla-
turperiode alle zwei Jahre von der Bundesregierung ein
Steuerprogressionsbericht vorgelegt wird,


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber nur für die Einkommensteuer!)


der aufzeigen soll, ob wir Geld an die arbeitende Bevöl-
kerung zurückgeben müssen. Das ist ein wichtiger





Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)


Schritt, der bisher unterlassen wurde, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Unserer Meinung nach gehört das Geld zuerst den
Menschen und nicht dem Staat, wie Rot-Grün das immer
will. Es ist schon sehr erstaunlich, dass sich ausgerech-
net Rot-Grün dieser wichtigen Entlastung für die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer verweigern möchte.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Es ist doch gar keine!)


Meine Damen und Herren von der Opposition, mit Ihrer
Blockadehaltung, die Sie hier einnehmen, versündigen
Sie sich an den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
in Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Durch Ihre bisherige Blockade lassen Sie meiner
Meinung nach Ihre Maske fallen. Eigentlich wollen Sie
immer nur Steuererhöhungen, Steuererhöhungen, Steu-
ererhöhungen. Dabei wollen Sie mit Neiddebatten Poli-
tik machen; das ist klar erkennbar. Wenn man aber Geld
zurückgeben will, dann sind Sie nicht dafür. Dann schla-
gen Sie sich in die Büsche. Es geht Ihnen um noch mehr
Staat und um noch mehr Umverteilung.

Ich will Ihnen sagen: Die Steuererhöhungspolitik von
Rot-Grün braucht dieses Land nicht. Wir brauchen leis-
tungswillige Bürgerinnen und Bürger, um Wachstum zu
erzielen, um Arbeitsplätze zu schaffen und um Investi-
tionen zu ermöglichen. Wir brauchen aber nicht diese
Neid- und Umverteilungsideologie, die Sie hier immer
wieder an den Tag legen. Wir haben gerade gehört, dass
dazu sogar eine Vermischung von Steuern und Abgaben
stattfinden soll. Das ist völliger Unsinn. So etwas habe
ich in diesem Hause bisher noch nie gehört.

Wir dürfen feststellen, dass im Verhältnis zur gezahl-
ten Steuer die Entlastung gerade der unteren Einkom-
mensgruppen bei Umsetzung dieses Gesetzes am größten
ist. So wird ein alleinstehender Arbeitnehmer mit einem
Jahresbruttoarbeitslohn von 30 000 Euro aufgrund der
Tarifänderung 2014 jährlich etwa 150 Euro weniger Steu-
ern zahlen müssen als nach dem geltenden Recht. Wenn
Sie diese 150 Euro verhohnepipeln und den Leuten sa-
gen, das sei nichts wert, das sei zu wenig, dann kann ich
Ihnen nur sagen: 150 Euro sind für viele Menschen in die-
sem Land viel Geld.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dies entspricht einer Entlastung von 3,4 Prozent der
bisherigen Steuerzahllast dieses Steuerzahlers von
4 328 Euro Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag.
Wenn wir 3,4 Prozent zurückgeben, ist das ein wirklich
guter Ansatz. Dies sind keine Steuergeschenke, sondern
es handelt sich um den Verzicht auf ungewollte, heimli-
che Steuererhöhungen.

Wenn Sie sagen, das Steuergeschenk von 6 Milliarden
Euro sei zu hoch, weil dadurch die Schuldenbremse

nicht eingehalten werden könne, dann sage ich Ihnen:
Das ist grundsätzlich falsch. Das ist das falsche Fazit.
Wir sind die Ersten in Europa, die die Schuldenbremse
einhalten.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Sie haben sie doch noch kein Jahr eingehalten! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Da wollen wir mal gucken! Eingehalten haben Sie sie noch nicht!)


Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir den richti-
gen Weg eingeschlagen, indem wir bis zum Jahr 2016
fast eine Nettoneuverschuldung von null erreichen wol-
len. Das ist solide Politik. Das ist die richtige Haushalts-
politik, meine Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir verstehen Steuerpolitik als Wachstumspolitik.
Denn wir wissen, dass die Basis aller Staatsfinanzen die
Arbeit der Bürger unseres Landes und die wirtschaftlich
erfolgreichen Unternehmen sind. Mit einem größeren fi-
nanziellen Spielraum ist eine Voraussetzung geschaffen
für mehr Konsum, mehr Arbeitsplätze und mehr Investi-
tionen.

Ich sage Ihnen: Wenn Sie die 10 Prozent der Steuer-
zahler, die dem Spitzensteuersatz unterliegen und die
meisten Steuern zahlen, immer wieder verketzern,


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die haben aber 150 Prozent der Einkommen!)


dann schaden Sie diesem Land. Diese Leute zahlen na-
hezu 60 Prozent des Aufkommens aus der Einkommen-
steuer, tragen ein Risiko und schaffen letzten Endes Ar-
beitsplätze. Deswegen ist es völlig falsch, dass Sie diese
Leute immer an den Pranger stellen.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir stellen sie gar nicht an den Pranger!)


Wir brauchen diese Leute. Wir wollen sie nicht durch
Ihre Steuererhöhungspolitik ins Ausland treiben. Der
richtige Weg ist eine wachstumsorientierte Steuerpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wer soll Ihnen das glauben?)


Die Entlastung der Menschen ist das Gebot der
Stunde. Ich kann Sie nur ersuchen, sich nicht aus wahl-
taktischen, ideologischen Gründen dieser für die Men-
schen wichtigen Entlastung zu verweigern. Kehren Sie
um!


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Kehren Sie um“, was ist das denn?)


Beenden Sie die Blockade in Ihrem Kopf! Gehen Sie mit
uns den Weg der Entlastung der Steuerzahler, insbeson-
dere der arbeitenden Menschen in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hätten Prediger werden sollen! – Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Und die CSU muss Kindergärten finanzieren!)





(A) (C)


(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717209600

Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1717209700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach
der letzten Rede konnte man einen etwas schiefen Ein-
druck bekommen, vor allem die, die jetzt neu dazuge-
kommen sind. Deswegen möchte ich hier noch einmal
kurz erwähnen: Es geht um den Abbau der kalten Pro-
gression. Bei diesem Begriff fröstelt es jeden, keiner will
davon betroffen sein, wenn auch keiner so richtig weiß,
was das eigentlich ist.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Doch!)


Ich sage es einmal so: Der vorliegende Gesetzentwurf
hat einen ganz kleinen guten Teil und einen sehr großen
schlechten Teil. Ich fange mit dem kleinen guten Teil an,
sonst vergesse ich ihn am Ende, weil er so klein ist.


(Beifall des Abg. Bernd Scheelen [SPD])


Es wurde schon angedeutet: In Zukunft – dies wurde
in einem Entschließungsantrag gefordert; dem haben wir
zugestimmt – soll alle zwei Jahre von der Regierung eine
Vorlage gemacht werden, in der dargelegt werden soll,
ob es weiterhin eine kalte Progression gibt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dabei geht es um den sogenannten Steuerprogressions-
bericht. Das ist schon einmal ein gutes Ansinnen, weil
wir gar nicht wissen, ob die Betroffenheit, die wir zu
spüren glauben, vorhanden ist. Diesem Teil haben wir
zugestimmt; wir sind ausdrücklich dafür.

Dem anderen Teil können wir aber nicht zustimmen.
Es geht darum, ein Problem zu lösen, das im Normalfall
gar keines ist. Sie sagen einfach: Wir erhöhen den
Grundfreibetrag mit Blick auf den Existenzminimumbe-
richt, der erst Ende 2013 vorliegen wird. Mit Blick in die
Zukunft erklären Sie: Es wird wahrscheinlich nötig sein,
den Grundfreibetrag zu erhöhen, und zwar um 4,4 Pro-
zent. Gleichzeitig erhöhen wir den Tarif, um eine Stau-
chung zu vermeiden, wie das der Finanzminister das
letzte Mal erklärt hat.

Natürlich muss das Existenzminimum steuerfrei blei-
ben. Das wollen wir alle. Das will das Bundesver-
fassungsgericht; es hat uns aufgegeben, diese Vorgabe
umzusetzen. Aber wir wollen die Anpassung des Grund-
freibetrages nicht unnötigerweise vorziehen. Es gibt
überhaupt keinen Grund, das jetzt zu tun.


(Beifall bei der SPD)


Weil das schon für die Jahre 2013 und 2014 gilt,
könnte man vermuten, dass das irgendwie mit den Wah-
len zusammenhängt. Die Vermutung steht im Raum:

Nach 2014 wird es dies nicht mehr geben, weil dann an-
dere regieren, die dieses Gesetz wieder aufheben wer-
den.


(Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Das hängt nur mit dem Zustand der FDP zusammen! Das war heute bei Herrn Wissing zu besichtigen!)


Es geht dabei um einen Ausgleich von Inflation und
Lohnerhöhung. Kurz gesagt, dadurch haben die Men-
schen nachher weniger Geld als vorher; jedenfalls ist das
Befinden so. Deswegen ändert man sowohl das Tarifmo-
dell als auch die Tarifstruktur, will also etwas Grundle-
gendes ändern. Man macht es aber nur formal, nicht
grundsätzlich. Man könnte ja sagen: Man ändert den ge-
samten Tarifverlauf und sorgt so für Steuergerechtigkeit.
Sie reden immer davon, den Waigel-Buckel abzuschaf-
fen. Das machen Sie aber nicht. Sie sagen: Wir erhöhen
den Grundfreibetrag ein bisschen und ändern den Tarif-
verlauf ein bisschen. Damit schaffen wir Steuergerech-
tigkeit.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie machen nichts!)


Ich denke, das kann nicht die Antwort auf die Steuerpro-
bleme unseres Landes sein.


(Beifall bei der SPD)


Die SPD hält weder die Anpassung zum jetzigen Zeit-
punkt für nötig, noch glauben wir, dass es das Problem
der kalten Progression in den letzten Jahren gegeben hat.
Der Sachverständigenrat hat in seinem Jahresgutachten
2011/2012 festgestellt, dass es diese Effekte nicht gab,


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Bis zum Jahr 2010!)


weil durch verschiedene Tarifänderungen, zum Beispiel
das Bürgerentlastungsgesetz oder Lohnerhöhungen, der
Effekt der kalten Progression bei den Bürgern nicht an-
gekommen ist.

Wie gesagt, wir haben es im Ergebnis mit einer Lö-
sung ohne Problem zu tun. Man verteilt nach dem Gieß-
kannenprinzip 6 Milliarden Euro über das Land. Dieses
Geld wird unterschiedlich verteilt – das gebe ich zu –:
Die unteren Einkommen erhalten weniger Entlastung,
die oberen mehr.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das stimmt überhaupt nicht! Völlig falsch!)


– Natürlich stimmt das. Meine Vorredner haben es schon
gesagt: Ein Lediger, der ein Einkommen von 30 000 Euro
versteuert, erhält eine Entlastung von 12,50 Euro. Das
mag eine ganze Menge für den Einzelnen sein.

Wir müssen allerdings schauen: Wie finanzieren wir
das eigentlich? Sie sagen: Okay, es gibt keine Minder-
einnahmen; wir haben einfach nur weniger Mehreinnah-
men. – Nur, diese geringeren Mehreinnahmen von
6 Milliarden Euro haben Sie im Prinzip schon einge-
speist: bei der Schuldenbremse, also bei der Konsolidie-
rung des Staatshaushaltes.





Ingrid Arndt-Brauer


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wir halten alle Grenzen ein, im Gegensatz zu Rot-Grün!)


Sind diese 6 Milliarden Euro plötzlich übrig? Wo kom-
men sie jetzt auf einmal her?

Wir wären mit der Konsolidierung des Staatshaushal-
tes viel schneller fertig, wenn wir die 6 Milliarden Euro
wenigstens gegenfinanziert hätten. Dazu habe ich jegli-
chen Vorschlag von Ihnen vermisst.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717209800

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Wissing zulassen?


Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1717209900

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717210000

Bitte schön.


(Joachim Poß [SPD]: Der musste noch kommen!)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1717210100

Frau Kollegin, nachdem Sie jetzt schon die zweite

Rednerin in dieser Debatte sind, die behauptet, dieser
Gesetzentwurf entlaste höhere Einkommen stärker als
niedrige,


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Natürlich!)


möchte ich Ihnen einmal folgende Fragen stellen: Teilen
Sie meine Auffassung, dass durch den Verlauf unseres li-
near-progressiven Tarifs ein besonders steiler Tarifan-
stieg bei den unteren und mittleren Einkommen stattfin-
det und dass sich die kalte Progression in diesem Bereich
besonders stark auswirkt? Ist es nicht so, dass sich dann,
wenn man die kalte Progression abbaut, die Reduzierung
der Steuermehrbelastungen auch bei den unteren und
mittleren Einkommen denklogisch am stärksten auswir-
ken muss? Teilen Sie meine Auffassung, dass die Be-
hauptung, wir belasteten höhere Einkommen stärker,
eine von Ihnen erfundene Falschinformation ist?


(Beifall des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU])



Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1717210200

Ich habe Ihnen eben erklärt, dass wir in den letzten

Jahren den Effekt einer kalten Progression nicht hatten,
zum Beispiel durch Entlastungsgesetze und durch Lohn-
erhöhungen. Lohnerhöhungen erfolgen in der Regel pro-
zentual. Eigentlich könnten Sie mir bestätigen, dass eine
6,5-prozentige Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst für
die unteren Einkommen in der Summe geringer ausfällt
als für die oberen Einkommen. Daher ist davon auszuge-
hen, dass jede positive Wirkung auch eine negative Seite
hat. Das heißt, wenn man entlastet, dann entlastet man
natürlich progressiv. Von Ihrem Gesetz haben die unte-
ren Einkommen daher deutlich weniger als die oberen
Einkommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Völlig falsch! Die unteren Einkommen zahlen fast gar keine Steuern!)


Darüber habe ich geredet.

Ein Ausfall von 6 Milliarden Euro – darüber habe ich
eben gesprochen – bedeutet für Länder und Kommunen
ein Minus von 2,4 Milliarden Euro; allein auf die Kom-
munen kommt wahrscheinlich ein Ausfall von 600 Mil-
lionen Euro zu. Wir können uns alle vorstellen: Wenn je-
mand im Monat 12,50 Euro mehr in der Tasche hat, freut
er sich darüber nicht allzu sehr, wenn seine Kommune
gleichzeitig noch weniger Geld hat und er entsprechend
mehr für Eintrittsgelder und andere Dinge zahlen muss.
Das heißt, dieses Gesetz wird keine positive Wirkung
auf die Bezieher niedriger Einkommen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Im Ergebnis fehlt das Geld an anderen Stellen. Wir
haben es vorhin schon gehört: Wir bräuchten dieses Geld
dringend an anderen Stellen. Nach dem Jahr der Pflege,
von dem keiner etwas mitbekommen hat – demnächst
tritt in Kraft, dass für die Betreuung von Schwerstpflege-
fällen 4 Euro mehr gezahlt werden –, ist dieses Gesetz
ein Witz. Im Pflegebereich werden diese 6 Milliarden
Euro dringend gebraucht; doch da hat man sie nicht ein-
gesetzt.


(Beifall bei der SPD)


Täglich fallen mir Maßnahmen ein, bei denen man
dieses Geld besser unterbringen könnte.


(Zurufe von der FDP)


– Ja, das würde mir einfallen. Wir werden nach der
nächsten Bundestagswahl vor diesem Problem stehen,
und dann werden Sie sehen, wie wir es lösen werden.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Sie haben das Problem weiterer Ausgaben nicht!)


Wenn das Ganze hier Wahlkampfhilfe für die FDP
sein soll, dann wird das nicht fruchten; da können Sie si-
cher sein. Denn Ihre potenziellen Wähler werden den ge-
planten Effekt nicht empfinden; aufgrund von Beitrags-
steigerungen kommt die Entlastung nicht zustande.
Wirklich vernünftige, auf Konsolidierung ausgerichtete
Haushaltspolitik sieht anders aus.

Ich möchte noch etwas zu meinen Vorrednern sagen.
Ich finde, die Unterstellung, Rot-Grün hätte zustimmen
müssen, weil dieses Gesetz so sozial sei, ist einfach
Blödsinn.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Man hätte eine soziale Steuergesetzgebung vornehmen
können. Das haben Sie verpasst.

Allerdings hatte auch Herr Binding unrecht, als er
sagte, das sei ein dauerhaftes Gesetz. Das ist natürlich
kein dauerhaftes Gesetz. Es wird seine Wirkung höchs-
tens bis 2014 entfalten, weil wir 2013 etwas Besseres
vorlegen werden.





Ingrid Arndt-Brauer


(A) (C)



(D)(B)



(Gisela Piltz [FDP]: Das haben Sie in der Vergangenheit bewiesen!)


In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksam-
keit.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717210300

Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1717210400

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Frau Kollegin Arndt-Brauer, Sie ha-
ben ja eine sehr erhellende Ankündigung gemacht.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Die war gut! – Joachim Poß [SPD]: Das ist von Ihnen leider nicht zu erwarten!)


Sie gehen also schon jetzt davon aus, dass Sie 2014 die
Regierungsbank besetzen werden. Ich schlage vor, abzu-
warten. Der Wähler hat das letzte Wort, und es zählt,
was bei den Wahlen herauskommt.

Erhellend fand ich aber, dass Sie ganz offen und un-
verblümt schon für das Jahr 2014 deutliche Steuererhö-
hungen, übrigens offenbar auch für die Bezieher unterer
und mittlerer Einkommen, angekündigt haben. Damit
zeigt sich das wahre Gesicht derjenigen auf der linken
Seite des Hauses.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, wir alle sollten nicht die Augen davor ver-
schließen, dass wir momentan mit Inflationsraten zu le-
ben haben,


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ach was!)


die tatsächlich dazu führen, dass der einzelne Steuer-
pflichtige sehr wohl das Gefühl hat, dass er trotz einer
Lohnerhöhung weniger Geld in der Tasche und damit
weniger Kaufkraft hat, nachdem seine Einkommensteuer
abgezogen wurde.

Es bringt auch nichts, wenn von der linken Seite des
Hauses geradezu Realitätsverweigerung betrieben und
gesagt wird, dieses Phänomen bestehe nicht; wir sollten
doch erst einmal einen Bericht abwarten.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ja, genau!)


Herr Kollege Binding, Sie haben gefragt, wo die
Menschen sind, die dieses Gefühl haben. Ich spreche mit
vielen Menschen mit unteren und mittleren Einkommen,
die mir genau dies bestätigen.


(Joachim Poß [SPD]: Das sind die Begegnungen der dritten Art! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ich kann doch nicht bestätigen, was es nicht gibt! Sie müssen aufklären!)


Ich gehe felsenfest davon aus, dass Sie, wenn Sie bereit
wären, mit diesen Menschen zu sprechen, dann auch
diese Bestätigung bekommen würden. Verschließen Sie
doch nicht die Augen vor dem Phänomen der kalten Pro-
gression.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Gibt es das? In welchem Jahr gab es die?)


Wenn gesagt wird, dass angeblich auf Pump eine
Steuersenkung vorgenommen würde, dann ist auch das
leider Gottes schlechterdings falsch.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das habe ich doch gar nicht gesagt!)


Wir nehmen ganz einfach vorweg, dass sich unbeabsich-
tigte und ungerechtfertigte Steuererhöhungen nicht auf
die Portemonnaies der Bezieher von kleinen und mittle-
ren Einkommen auswirken.

Ich darf Sie an einen Punkt erinnern, den Sie mögli-
cherweise mittlerweile verdrängt haben. Im Jahre 2009
haben Sie unter der Verantwortung eines SPD-Finanz-
ministers, Peer Steinbrück, ein Gesetz auf den Weg ge-
bracht, das mit ungefähr 6 Milliarden Euro das gleiche
Entlastungsvolumen hatte. Sie haben damals auch den
Tarif nach rechts verschoben. Übrigens haben Sie auch
den Spitzen- bzw. Reichensteuersatz nach rechts ver-
schoben. Das machen wir nicht.

Aber der entscheidende Unterschied zwischen der da-
maligen und der heutigen Maßnahme ist: Von dem da-
maligen Entlastungsvolumen von 6 Milliarden Euro
mussten Länder und Gemeinden mehr als 50 Prozent in
Form von Mindereinnahmen tragen. In unserem Gesetz
zum Abbau der kalten Progression übernimmt der Bund
den Großteil der Mindereinnahmen, die sich aus dem
Abbau der kalten Progression ergeben. Wir unterstützen
die Bundesländer und die Kommunen in ihren haushalts-
mäßigen Anforderungen und Anstrengungen.

Ich sage aber eines ganz ehrlich: Ich habe das Gefühl,
dass ausgerechnet in den Bundesländern, wo Sozialde-
mokraten und Grüne die Regierungsverantwortung über-
nommen haben, offenbar ein gewisser Hang zu verfas-
sungswidrigen Haushalten besteht.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Darüber sollten Sie sich einmal Gedanken machen.

Insofern brauchen wir sicherlich keine Belehrung Ih-
rerseits über das Aufstellen verfassungsmäßiger Haus-
halte. Wir halten die Schuldenbremse ein.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717210500

Herr Kollege.


Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1717210600

Wir schaffen es, in den nächsten Jahren einen ausge-

glichenen Haushalt vorzulegen. Gleichzeitig schaffen
wir es, die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen
entsprechend gerecht zu behandeln.





Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717210700

Olav Gutting hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1717210800

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Das war bisher eine recht erhellende Debatte. Wir haben
von der Opposition viel gehört, zum Beispiel dass es das
Phänomen der kalten Progression überhaupt nicht gebe.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Theoretisch, habe ich gesagt, gibt es das sehr wohl! Aber nicht praktisch!)


Kritisiert wurde das Verfahren zur Festlegung des Exis-
tenzminimums. Die Linke fordert hier 10 Euro Mindest-
lohn.


(Zuruf von der LINKEN: Ja!)


Die Abgeltungsteuer wurde thematisiert. Die Grünen
wünschen sich 1970 zurück und ziehen über Herrn
Winterkorn von VW her. Aber zu dem Gesetzentwurf,
der heute verabschiedet werden soll, haben wir von der
Opposition relativ wenig gehört.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb will ich noch einmal deutlich machen, wo-
rüber wir gleich abstimmen. Im System des progressiv
ausgestalteten Einkommensteuertarifs profitiert der Staat
von Steuermehreinnahmen, die über den Effekt der kal-
ten Progression – und diesen gibt es – entstehen. Das Zu-
sammenspiel aus Lohnerhöhung, Geldentwertung und
Progression in der Einkommensteuer führt dazu, dass
Lohnerhöhungen, die lediglich die Inflation ausgleichen,
zu einem höheren Durchschnittssteuersatz führen. Wir
wollen sicherstellen, dass der Staat nicht von Lohnerhö-
hungen profitiert, die nicht gleichzeitig zu einer höheren
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichti-
gen beitragen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Ihr habt doch nichts gelernt!)


Das erscheint uns umso wichtiger, als von der kalten
Progression gerade die Bezieher kleiner und mittlerer
Einkommen überproportional betroffen sind. Es geht um
die Beseitigung einer Ungerechtigkeit, die gerade die
Bezieher mittlerer und unterer Einkommen trifft. Es geht
hier aber nicht um eine Steuersenkung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir diesen Gesetzentwurf nicht verabschieden,
dann lassen wir zu, dass es jedes Jahr zu einer heimlichen
Steuererhöhung um circa 3 Milliarden Euro kommt. Dann
zahlen die Bürger höhere Steuern, obwohl die reale Kauf-
kraft ihres Einkommens nicht gestiegen ist.

Eigentlich wäre es vor diesem Hintergrund doch eine
Selbstverständlichkeit, dass wir hier eine Korrektur vor-

nehmen, damit sich der Staat nicht noch zusätzlich an
den bescheidenen Einkommen bereichert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nur, die Damen und Herren von der Opposition stellen
sich hierhin und blockieren. Wenn Sie aber meinen,
meine Damen und Herren von der SPD, der Linken und
den Grünen, dass man mit weiteren Steuererhöhungen
– ob versteckt oder offen – den Haushalt konsolidieren
könne, dann haben Sie nichts gelernt.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sie haben nichts gelernt!)


Ihr Getue – Sie sagen, es gehe Ihnen darum, den
Haushalt zu konsolidieren – ist wirklich unglaubwürdig.
Schließlich fordern Sie an anderer Stelle Mehrausgaben
in Milliardenhöhe. Im Übrigen muss man feststellen: In
den Haushalten der Länder, in denen die SPD regiert,
werden rote Zahlen geschrieben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In Nordrhein-Westfalen ist der Haushalt sogar verfas-
sungswidrig. In den Ländern, in denen die SPD regiert
– und das ist eine Tatsache –, geht es auch den Kommu-
nen schlechter.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen nehmen wir Ihnen Ihre angebliche Sorge um
den Haushalt hier nicht ab.

Dank der guten Wirtschaftspolitik dieser Koalition
werden wir im Jahr 2013 die Schallmauer von 600 Mil-
liarden Euro an Steuereinnahmen in diesem Land durch-
brechen. Wir alle in der Politik, aber insbesondere Sie in
der Opposition müssen endlich lernen, dass wir mit dem
vorhandenen Geld auch auskommen müssen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie machen doch ein Gesetz auf Pump!)


Gerade in der jetzigen Phase, in der die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer nach einer schweren Wirtschafts-
krise in vielen Betrieben völlig zu Recht eine spürbare
Lohnerhöhung erhalten,


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben die Wirtschaftskrise noch nicht überwunden!)


müssen wir den Menschen in diesem Land eine Perspek-
tive geben, damit sich Arbeit wieder lohnt. Wir müssen
ihnen eine Perspektive zum Ausstieg aus der kalten Pro-
gression bieten. Lohnerhöhungen, meine Damen und
Herren, gehören den Bürgern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn Sie dieses Gesetz mithilfe des Bundesrates wei-
ter blockieren, dann kann ich nur sagen, dass dies eine
Attacke auf den Geldbeutel der kleinen Leute ist, die
zwar viel arbeiten, aber wenig mit nach Hause bringen.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Völliger Quatsch!)






Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)


Es ist beschämend, dass gerade Sie vonseiten der SPD
hier sagen, 150 Euro seien gar nichts. Sie gönnen den
Menschen nicht einmal das Schwarze unter dem Finger-
nagel, und das ist von Ihrer Seite beschämend.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich sage Ihnen: Wir lassen Sie hier nicht raus. Stim-
men Sie zu! Helfen Sie mit, gerade die Bezieher mittle-
rer und unterer Einkommen proportional stärker zu ent-
lasten! Treten Sie beiseite! Machen Sie mit bei diesem
Stück mehr Steuergerechtigkeit!

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717210900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Abbau
der kalten Progression. Der Finanzausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9201, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 17/8683 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung bei Zustimmung durch die Koali-
tionsfraktionen und Gegenstimmen der Oppositionsfrak-
tionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Hier ist namentliche Abstim-
mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. –
Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann ist die
Abstimmung eröffnet.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgeben konnte, sie aber abgeben wollte? –
Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich
die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.1)

Wir setzen die Abstimmungen fort. Unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9201
empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzuneh-
men. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Was ist
mit der FDP? – Okay. Wer ist dagegen? – Wer enthält
sich? – Was macht die Linke? – Der Entschließung stim-
men Sie zu. Dann haben wir die Zustimmung der Koali-
tionsfraktionen, der SPD und der Linken, dagegen war
Bündnis 90/Die Grünen, und enthalten hat sich niemand.
Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Caren Lay,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Unberechtigte Privilegien der energieintensi-
ven Industrie abschaffen – Kein Sponsoring
der Konzerne durch Stromkunden

– Drucksache 17/8608 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Hier ist verabredet, eine Stunde zu debattieren. –
Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.


(Unruhe)


– Wenn Sie so nett wären, Ihre Besprechungen anders-
wohin zu verlegen, dann könnten wir mit der Debatte
fortfahren.

Ich eröffne die Aussprache und bitte jetzt die Kollegin
Bulling-Schröter von der Fraktion Die Linke, das Wort
zu nehmen.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717211000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In einer Stunde wird von der Mehrheit des Hauses die
Solarstromförderung zusammengestrichen. Die Begrün-
dung ist, die Umlage für die erneuerbaren Energien
würde durch die Photovoltaik in die Höhe getrieben und
das würde Unternehmen und Haushalte belasten. Vor al-
lem die FDP – die quatschen alle noch – hat in diesem
Fall ihr Herz für die Harz-IV-Empfänger entdeckt.

Abgesehen von der unsinnigen Kürzung: Die Treiber
beim Strompreis sind ganz andere. Einer davon ist der
unbedingte Wille der Bundesregierung, die energieinten-
sive Industrie von den Kosten der Energiewende zu
befreien.


(Beifall des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Genau darum geht es in unserem Antrag, und zwar
aus zwei Gründen:

Erstens ist diese Politik eine gigantische Umvertei-
lungsmaschine. Das haben wir schon beim vorherigen
Debattenpunkt gehört; hier ist das auch wieder der Fall –
das ist Kontinuität. Kleine und mittlere Unternehmen
zahlen dafür genauso mit höheren Strompreisen wie pri-
vate Verbraucherinnen und Verbraucher. Ein Hartz-IV-
Empfänger subventioniert genauso wie ein Handwerks-
betrieb große Unternehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Eine Unverschämtheit!)


Ich denke, so haben sich wohl die Wenigsten die Ener-
giewende vorgestellt. Ich sage Ihnen: Wenn Sie da nichts
ändern, dann wird der sozial-ökologische Umbau schei-
tern.


(Beifall bei der LINKEN Eva Bulling-Schröter Dem Bundeshaushalt entgehen überdies Steuereinnahmen. Allein die Ermäßigungen bei der Ökosteuer für die energieintensive Industrie machen jährlich rund 5 Milliarden Euro aus. In der Summe betragen alle Vergünstigungen dieses Jahr rund 9,3 Milliarden Euro. Das hat eine Studie von Arepo Consult ergeben. Das können wir beweisen. Ich wiederhole: 9,3 Milliarden Euro – das ist in der Summe beinahe genauso viel, wie insgesamt an EEG-Umlage gezahlt wird. (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Hört! Hört!)





(A) (C)


(D)(B)


Zweitens behindert dieser Geldsegen auch die Ener-
giewende. Der Umweltverbrauch soll sich ja eigentlich
betriebswirtschaftlich niederschlagen; das erzählen Sie
uns ja auch immer. Aber das sind leider Sonntagsreden.
Oder warum werden gerade jene Firmen von umwelt-
politischen Instrumenten entlastet, die am meisten Ener-
gie verbrauchen? Wir brauchen Anreize für energiespa-
rende Technologien. Das ist dringend notwendig; und
dazu brauchen wir Preissignale.


(Beifall bei der LINKEN)

Und weil wir gerade dabei sind: Den Emissionshan-

del hält jetzt sogar schon Eon-Chef Teyssen für tot; und
das ist sicher kein Linker. „Er kenne kein Unternehmen
in Europa, das noch mit dem Ziel investiert, Kohlen-
dioxid zu sparen“, ist in der taz zu lesen. Da schau her.
Dies ist kein Wunder bei den jetzigen CO2-Preisen. Sie
liegen bei 7 Euro statt bei den angepeilten 25 bis
30 Euro. Dies liegt unter anderem daran, dass die Indus-
trie zu viele Zertifikate geschenkt bekommen hat. Das
macht einen geldwerten Vorteil in Höhe von 1,4 Milliar-
den Euro aus.

Um nicht missverstanden zu werden: Der Wettbewerb
mit außereuropäischen Unternehmen soll fair ablaufen.
Es gibt natürlich Unternehmen, die es technologisch
nicht schaffen, Energie oder CO2 einzusparen. Wir
wollen nicht, dass die Unternehmen aufgrund umwelt-
politischer Maßnahmen abwandern. Das sage ich an
dieser Stelle ausdrücklich; denn Sie alle werden mir das
unterstellen.


(Franz Obermeier [CDU/CSU]: Mit gutem Recht!)

Wertvolle Arbeitsplätze dürfen nicht leichtfertig ver-
nichtet werden. Aber die Frage ist – ich hoffe, Sie ant-
worten darauf –: Welches Unternehmen steht wie stark
unter einem Zwang? Wer braucht tatsächlich Hilfe, und
wer ist ein Trittbrettfahrer?


(Beifall bei der LINKEN)

Die Linke hat dafür zwei Kriterien, die so ähnlich

auch das Bundesumweltministerium im Jahr 2008 bei
den Brüsseler Verhandlungen über das EU-Klimapaket
vor Augen hatte. Unterstützung erhalten sollten nur jene
Unternehmen, die erstens einen relevanten Teil ihrer
Produkte trotz fortschrittlicher Produktionsweise CO2-
intensiv herstellen. Diese Unternehmen müssen zweitens
zugleich mit diesem Teil ihrer Produktion im tatsächli-
chen Wettbewerb mit Konkurrenten stehen, und zwar
mit Konkurrenten, die keinen vergleichbaren Klima-
schutzinstrumenten unterliegen, wie sie in Europa exis-
tieren; ich nenne nur Emissionshandel und Förderung
der erneuerbaren Energien. Es geht folglich um Konkur-

renten im außereuropäischen Ausland. Ich denke, solche
Kriterien sind gut und nachvollziehbar, sonst hätten Sie
sie als Große Koalition damals nicht vorgeschlagen.

Diese Vorschläge wurden letztlich aber vom Wirt-
schaftsministerium über Bord geworfen. Schade. Wir
kennen aber deren Reaktion. Und jetzt profitieren ab
2013 beispielsweise, im Falle der kostenlosen Zuteilung
im Emissionshandel, fast alle energieintensiven Unter-
nehmen, egal ob sie in einer solchen Konkurrenz stehen
oder nicht. Den öffentlichen Haushalten entgehen Mil-
liarden Steuereinnahmen. Viele Firmen haben schon
jetzt mehr kostenlose Zertifikate als sie brauchen. Leis-
tungslose Sondergewinne sind die Folge. Der CO2-Preis
befindet sich auch aus diesem Grund im Keller.

Infolge des Erneuerbare-Energien-Gesetzes sparen
insbesondere die großen Stromverbraucher netto mehr
Geld, als sie über die ermäßigte EEG-Umlage bezahlen
müssten. Es wird also auch hier nicht einfach ausgegli-
chen; denn im Vergleich zu einer Welt ohne EEG verdie-
nen energieintensive Unternehmen an jeder bezogenen
Kilowattstunde einen halben Cent. Das muss man sich
einmal vorstellen. Wenn also eine Firma 4 500 Giga-
wattstunden Strom verbraucht, dann hat sie einen
Zusatzgewinn von fast 25 Millionen Euro.

Bei der Ökosteuer ist es ähnlich. Hier profitieren Fir-
men des produktiven Gewerbes von der Senkung der
Rentenbeiträge. Sie werden aber weitgehend von der
Stromsteuer befreit. Die Steuerausfälle in Höhe von
5 Milliarden Euro, wie es im Subventionsbericht der
Bundesregierung steht, bräuchten wir für eine soziale
Abfederung der Energiewende.


(Beifall bei der LINKEN)

Das ist aber kein Thema für Schwarz-Gelb. Lieber wei-
ten Sie die Privilegien weiter aus. Gerade wurden die
Stromfresser unter den Unternehmen von den Netzent-
gelten befreit. Alle anderen Unternehmen zahlen dafür
rund 300 Millionen Euro. Weitere 500 Millionen Euro
sollen künftig zum Ausgleich der emissionshandels-
bedingten Strompreiserhöhungen fließen. Empfangs-
adresse: die energieintensiven Unternehmen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717211100

Frau Bulling-Schröter.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717211200

Ich bin gleich fertig. – Ich frage mich also: Wer be-

zahlt eigentlich dem Otto Normalverbraucher einen
Bonus für gestiegene Strompreise? Das tun Sie nicht.
Wir wollen eine industriepolitische Unterstützung, die
fair ist, die alle leben lässt, die aber auch zielgerichtet ist.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717211300

Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und

Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung bekannt; es ging um den Entwurf eines
Gesetzes zum Abbau der kalten Progression: Abgegeben
worden sind 553 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 310,
mit Nein haben gestimmt 243, es gab keine Enthaltung.
Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 553;
davon

ja: 310
nein: 243

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel

Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann

Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn

Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold

Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch

Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Anton Schaaf
Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke

Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn

Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour

Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider

Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms

Jetzt rufe ich auf den Kollegen Dr. Thomas Gebhart
für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Thomas Gebhart (CDU):
Rede ID: ID1717211400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wenn wir heute über den Antrag der Linken re-
den, dann ist es wichtig, zunächst einmal die Zusammen-
hänge deutlich zu machen. Es ist auch wichtig, sich zu
fragen: Was ist eigentlich die Zielsetzung in diesem Be-
reich der Energieversorgung?

Unsere Zielsetzung sieht so aus: Wir wollen eine
nachhaltige Energieversorgung, die sicher und verläss-
lich ist und die unter ökologischen Gesichtspunkten
sinnvoll ist. Wir wollen die erneuerbaren Energien mas-
siv ausbauen. Das tun wir bereits.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und warum kürzen Sie gleich die Photovoltaikzuschüsse?)


Die Energieversorgung muss aber auch unter ökonomi-
schen Gesichtspunkten vernünftig sein. Das heißt, wir
brauchen bezahlbare Preise für die Menschen und die
Unternehmen in diesem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben in Deutschland eine starke Wirtschaft und
eine starke Industrie. Darüber sind wir sehr froh. Zu die-
ser starken Industrie zählen auch sogenannte energiein-
tensive Branchen, die aufgrund ihrer Produktpalette rela-
tiv viel Energie benötigen.

Wir wollen, dass diese energieintensiven Unterneh-
men auch in Zukunft in Deutschland produzieren. Wir
wollen, dass auch zukünftig in Deutschland Möbel und
Papier hergestellt werden, Glas produziert wird und
viele andere Produkte mehr. Wir wollen, dass die Ar-
beitsplätze in diesem Bereich in Deutschland bleiben,
die Unternehmen Steuern bezahlen und insgesamt zum
Wohlstand in diesem Land beitragen. Das ist unsere
klare Zielsetzung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir auch!)


Wir fragen uns: Was will die Linke eigentlich? Sie
sprechen davon, dass es bei den Energiekosten zu starke
Umverteilungen von den Privaten hin zu den energiein-

tensiven Branchen gebe. Sie nennen Zahlen, die zu-
stande kommen, indem Sie verschiedene Dinge in einen
Topf werfen, die nicht in einen Topf gehören. In Ihrem
Antrag fordern Sie dann, die energieintensiven Branchen
im Vergleich zu heute deutlich stärker zu belasten.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles Subventionen!)


Jetzt fragen wir einmal: Was wäre denn die Folge,
wenn wir Ihre Forderungen umsetzen würden? Die
Folge wäre, dass die Produktion in diesen Branchen in
Deutschland teurer werden würde. Die Folge wäre, dass
die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen im Ver-
gleich zur ausländischen Konkurrenz massiv zurück-
gehen würde und dass insgesamt die Standortgunst und
-attraktivität sinken würde.

Dieses Problem erkennen Sie ebenfalls. In Ihrem An-
trag sprechen Sie davon, dass im Falle einer drohenden
Insolvenz oder Produktionsverlagerung auch künftig Er-
mäßigungen gewährt werden können. Das eigentliche
Problem ist aber, dass all die Maßnahmen, die Sie in Ih-
rem Antrag konkret fordern, darauf abzielen, die Wettbe-
werbsfähigkeit dieser Unternehmen deutlich zu reduzie-
ren. Damit erhöhen Sie die Gefahr, dass es genau zu
solchen Verlagerungen kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist das eine Problem.


(Zurufe von der LINKEN)

Das andere Problem – und das verkennen die Linken

total – ist:

(Zurufe von der LINKEN: Ja, ja!)


Selbst wenn es in dem einen oder anderen Fall infolge
dieser Verteuerungen nicht sofort zu einer Verlagerung
kommt, dann können die Verteuerungen und die redu-
zierte Wettbewerbsfähigkeit dazu führen, dass Neuinves-
titionen oder Ersatzinvestitionen eben nicht mehr an die-
sem Standort erfolgen, sondern an anderen Standorten.
Damit nehmen Sie einen schleichenden Prozess in Kauf.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Dazu hat die Kollegin doch etwas gesagt!)


Das entspricht aber nicht unserer Vorstellung. Wir den-
ken in diesem Bereich langfristig; deswegen berücksich-
tigen wir solche Zusammenhänge. Sie jedoch blenden
diese Fragen völlig aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717211500

Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin

Bulling-Schröter zulassen?


Dr. Thomas Gebhart (CDU):
Rede ID: ID1717211600

Ich würde es gerne im Zusammenhang darstellen. –

Ich mache es konkret: Sie fordern, den Spitzenausgleich
bei der Ökosteuer deutlich abzusenken. Diesen Spitzen-
ausgleich hatte damals Rot-Grün bei der Einführung der
Ökosteuer mit eingeführt.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!)


Wenn wir den Spitzenausgleich zu stark absenken wür-
den, dann hieße dies in der Konsequenz, dass zum Bei-
spiel die Papierherstellung in Deutschland in bestimmten
Bereichen nicht mehr rentabel sein würde. Ich frage Sie
schon: Was hätten wir unter dem Strich gewonnen, wenn
es so wäre, wenn also die Papierherstellung im Ausland
geschähe und wir lediglich die Fertigerzeugnisse impor-
tieren würden, aber in Deutschland kein Gramm Papier
weniger verbraucht würde? Ich sage es Ihnen: nichts,
aber auch gar nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Angelika Brunkhorst [FDP] – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Das ist Blödsinn!)


Wir hätten auch unter ökologischen Gesichtspunkten
nichts gewonnen. Im Gegenteil: Wir haben die Regelun-
gen bei der Ökosteuer an die Voraussetzungen geknüpft
– das ist auch Teil des Energiekonzepts –, dass die Un-
ternehmen effizienter werden, Energie einsparen und
insgesamt zum Klimaschutz beitragen. Das haben sie im
Übrigen gemacht: Viele der energieeffizientesten Unter-
nehmen in diesen Bereichen sind Unternehmen, die bei
uns in Deutschland produzieren. Wir wollen, dass dies
auch künftig so sein wird. Denn dies macht in jeder Hin-
sicht Sinn, unter Umweltschutzgesichtspunkten genauso
wie unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, natürlich wollen wir in
gleicher Weise, wie wir auf die Kosten der Unternehmen
achten, darauf achten, dass die Preise für die Verbrau-
cher bezahlbar bleiben. Genau deswegen ist es notwen-
dig, dass wir Anpassungen bei den Fördersystemen vor-
nehmen, zum Beispiel im Erneuerbare-Energien-Gesetz;
wir führen gleich im Anschluss eine Debatte dazu. Wir
ändern die Regelungen, sodass wir zu mehr Kosteneffi-
zienz kommen; wir machen das. Aber von den Linken
höre ich an dieser Stelle relativ wenig.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Wenn Sie nicht zuhören! – Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Das stimmt nicht! Was ist mit den Arbeitsplätzen in der Solarindustrie?)


Wir haben über die Energiepreise und die Wettbe-
werbsfähigkeit gesprochen. Ein anderer Punkt ist aber
für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland
genauso wichtig wie die Energiepreise: die Versorgungs-
sicherheit. Ich habe es gesagt: Wir bringen die erneuer-
baren Energien massiv voran; wir tun dies. Aber wir
werden auf lange Sicht nur erfolgreich sein, wenn wir

auch die Netze ausbauen und die Speichertechnologien
voranbringen. Das sind die eigentlichen Herausforderun-
gen in diesem Bereich. Aber auch hier gilt: Wir brauchen
Lösungen gemeinsam mit der Wirtschaft, gemeinsam
mit der Industrie. Es hilft überhaupt nicht weiter, hier ir-
gendwelche Gegensätze aufzubauen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Michael Kauch [FDP])


Meine Damen und Herren, wir wollen den Umbau der
Energieversorgung. Wir wollen die erneuerbaren Ener-
gien voranbringen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich mir nicht so sicher!)


Wir wollen die Energieeffizienz voranbringen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum blockieren Sie dann die Energieeffizienzrichtlinie?)


Wir wollen aber eines nicht: die Industrie aus diesem
Land treiben und damit Zigtausende Arbeitsplätze aufs
Spiel setzen. Das ist nicht unsere Politik.


(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind doch nur Phrasen!)


Deswegen lehnen wir Ihren Antrag heute ab, und zwar
aus voller Überzeugung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen machen Sie gar keine Politik! Das ist das Problem in Deutschland!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717211700

Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1717211800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wenn sich Abrissexperten einem Gebäude nä-
hern, entfernen sie nicht nur die Fassade der beiden unte-
ren Etagen, sondern sie zerstören so lange tragende Ele-
mente des Gebäudes, bis die noch bestehenden Säulen so
viel Gewicht tragen müssen, dass die kleinste Explosion
ausreicht, das gesamte Gebäude zu Fall zu bringen. Ir-
gendwie erinnert mich das an die schwarz-gelbe Ener-
giepolitik:


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jens Koeppen [CDU/CSU]: Jetzt kommt ein Kelber-Gleichnis!)


eine künstliche Erhöhung der Strompreise auf die Art
und Weise, dass die Finanzierung der Förderung der er-
neuerbaren Energien, der Netzkosten, aber auch der Um-
lage bei der Ökosteuer auf immer weniger Schultern ver-
teilt wird, da es immer mehr Befreiungen gibt, sodass am
Ende die Privathaushalte und kleinen und mittleren Un-
ternehmen diese Last alleine schultern müssen. Damit
gefährdet Schwarz-Gelb die Akzeptanz; die Akzeptanz





Ulrich Kelber


(A) (C)



(D)(B)


der Ausnahmen, die am Ende notwendig sind; denn es
gibt notwendige Ausnahmen.

Rot-Grün hat bei der Einführung der ökologischen
Steuerreform und bei der Einführung des Erneuerbare-
Energien-Gesetzes solche Ausnahmen eingeführt, und
zwar nach klaren Kriterien: Die Unternehmen mussten
energieintensiv sein, also einen hohen Anteil an Energie-
kosten bei ihrem Produkt haben, sie mussten mit ihren
Produkten in starkem internationalen Wettbewerb ste-
hen, und sie mussten zertifiziert nachweisen, dass sie die
verbrauchte Energie benötigten. Uns allen fallen die
Branchen ein, auf die das zutrifft: die Aluminiumindus-
trie mit ihrer gesamten Wertschöpfungskette oder die
Chemieindustrie. Man kann sogar über einige der Aus-
nahmen von damals neu nachdenken. Ist die Zementin-
dustrie tatsächlich handelsintensiv? Sind alle Teile der
Glasindustrie handelsintensiv? Auch das könnte man
prüfen.

Es gibt einen Grund dafür, solche Ausnahmen zu ge-
währen: um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu
erhalten und von der Grundstoffindustrie bis zum High-
techprodukt alles anbieten zu können. Es ist aber auf der
anderen Seite notwendig, sie so gering wie möglich zu
halten, damit die Lasten fair verteilt werden: wegen der
Kosten, wegen des Klimaschutzes und wegen der Ak-
zeptanz in der Gesellschaft. Diese Akzeptanz ist jetzt
durch die enorme Ausweitung, die Schwarz-Gelb bei
den Befreiungen durchgeführt hat, gefährdet.

Allein beim Erneuerbare-Energien-Gesetz belaufen
sich die Ausnahmen nach Schätzung des Bundesumwelt-
ministeriums – die Frau Staatssekretärin ist hier – auf
2,5 Milliarden Euro pro Jahr. Es ist schon wichtig, das
zu debattieren; denn als Nächstes soll die Förderung der
Solarindustrie zurückgefahren werden, damit die Men-
schen weniger Umlage für erneuerbare Energien bezah-
len. Ich denke, es ist wichtig, dass die Menschen wissen,
warum sie eine Umlage in Höhe von 2,5 Milliarden Euro
bezahlen, von der andere in Deutschland befreit wurden.

Im Bereich der Netzentgelte werden wahrscheinlich
mehr als 400 Millionen Euro aufgrund der Befreiung ei-
niger auf andere übertragen. Jeder hat das gemerkt, als
Anfang des Jahres die Strompreise erhöht wurden. Die
Erhöhung kam kaum durch den Betreiber allein – und
wenn, dann haben Sie ihn hoffentlich gewechselt –; der
Grund war, dass die Netzentgelte angestiegen sind, und
zwar nur wegen der Übertragung. Das einzige Kriterium
dafür, weniger Netzentgelte zu bezahlen, war, dass man
einen hohen Verbrauch hat und nicht etwa ein in der Her-
stellung energieintensives Produkt.

Das ist eine perverse Überlegung;


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


denn das zeigt: Die Strompreise sind nicht wegen der
Energiewende gestiegen, sie sind trotz der Energiewende
gestiegen. Die Mehrkosten tragen die Privathaushalte
und die kleinen Unternehmen: also der Rentner für das
befreite Hotel, die Krankenschwester für das befreite
Rechenzentrum, der Einkaufsmarkt um die Ecke für den

Riesenmarkt auf der grünen Wiese und der Handwerker
für die Fabrik.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Skandal!)


Wie kann man nur auf so blödsinnige Regelungen kom-
men?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: SchwarzGelb!)


Die SPD will bezahlbare Energie für alle. Dazu kön-
nen auch Ausnahmen und Umverteilungen gehören, aber
eng begrenzt. Ich komme daher noch einmal auf die drei
Aspekte für die Gewährung von Subventionen zurück:
energieintensiv, internationaler Wettbewerb und effi-
zient. Die Subvention ist eine Befreiung. Natürlich muss
jemand, der in Deutschland eine Subvention erhält, den
Nachweis erbringen, dass er diese Subvention dringend
benötigt. Ich kann nicht verstehen, dass Schwarz-Gelb
darauf verzichten will, dass Unternehmen, die diese Sub-
vention erhalten, nachweisen müssen, dass sie alles be-
triebswirtschaftlich Sinnvolle gemacht haben, um ihren
Energieverbrauch zu senken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das heißt, die Subvention wird sogar für nicht Notwen-
diges gewährt.

Uferlose Ausnahmen sind unsozial und wettbewerbs-
verzerrend, es gibt andere Dienstleistungen und andere
Produkte in Deutschland, die diese Befreiungen nicht
haben, weil sie weniger energieintensiv sind. Und sie
sind übrigens auch unlogisch; denn viele der jetzt zusätz-
lich befreiten Unternehmen profitieren längst vom Aus-
bau der erneuerbaren Energien und der ökologischen
Steuerreform, weil sie niedrigere Lohnnebenkosten ha-
ben, weil der Steuerzuschuss zur Sozialversicherung er-
höht wurde, weil sie ihre Produkte im Bereich der erneu-
erbaren Energien verkaufen und weil der Zuwachs der
erneuerbaren Energien so viele teure Kraftwerke aus der
Strombörse gedrückt hat, dass die Preise an den Strom-
börsen sinken. Schon heute können Industrieunterneh-
men für das Jahr 2017 Strom zu einem Preis einkaufen,
der noch nicht einmal im Jahr 2008 überschritten wurde.
Das heißt, 2017 wird der Strom wegen des Zubaus der
Erneuerbaren, die profitieren, billiger sein als 2008.
Deswegen sind diese zusätzlichen Ausnahmen nicht not-
wendig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
der FDP, wenn Sie wirklich Interesse an bezahlbaren
Energiepreisen haben, dann müssen Sie diesem Wild-
wuchs an Ausnahmen ein Ende setzen. Sie dürfen den
beiden Ministern Rösler und Röttgen nicht durchgehen
lassen, dass sie im Streit um die Energieeffizienz eine
Seifenoper aufführen. Die beiden haben nicht etwa
irgendeine Idee, die sie statt der Vorschläge aus Brüssel





Ulrich Kelber


(A) (C)



(D)(B)


umsetzen wollen, sondern sagen einfach nur Nein. Und
wenn sich der andere Minister nur minimal aus der
Deckung wagt, dann wird schnell eine Pressemitteilung
herausgegeben, warum der andere nicht recht hat.

Auch dürfen Sie nicht mehr zulassen, dass der Fi-
nanzminister die Förderprogramme zum Einsparen von
Energie in Haushalten und kleinen Unternehmen zusam-
menstreicht; denn der beste Schutz gegen steigende
Energiepreise ist noch immer, weniger Energie zu ver-
brauchen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Energieeffizienz zu verweigern und die Energiepreise
für private Haushalte sowie kleine und mittlere Unter-
nehmen künstlich zu erhöhen – das ist die Energiepolitik
von Schwarz-Gelb. Diese lehnen wir entschieden ab.
Wir werden sie rückgängig machen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717211900

Lieber Kollege Kelber, Sie haben heute einen jugend-

lichen Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!


(Beifall – Ulrich Kelber [SPD]: Vielen Dank!)


Das Wort hat nun der Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1717212000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das

Thema, über das wir heute diskutieren, zeigt sehr ein-
deutig das Dilemma, in dem die Umweltpolitik steckt,
die zwar national oder europäisch gemacht wird, sich
aber auf Unternehmen bezieht, die im internationalen
Wettbewerb stehen. Wir haben diese Debatte immer wie-
der: Auf der einen Seite wollen wir Deutschen im Um-
weltschutz Vorreiter sein; dazu steht diese Koalition.
Auf der anderen Seite haben wir Unternehmen, die mit
Wettbewerbern aus Ländern konfrontiert sind, die eben
nicht solche Vorgaben haben oder die – beispielsweise
weil es ausländische Unternehmen sind – keine Bindung
an den Standort haben und dann möglicherweise sehr
schnell entscheiden, dass sie an Orte gehen, wo die Pro-
duktionsbedingungen besser sind. Deswegen müssen wir
eine Balance zwischen diesen beiden Gedanken finden.

Ich sage ganz klar: Was die FDP, aber auch die Koali-
tion hier im Deutschen Bundestag nicht mitmachen wer-
den, ist eine Politik der Deindustrialisierung. Das, was
die Linke hier vorschlägt, ist die Politik der Deindustria-
lisierung Nordrhein-Westfalens, aber auch der Chemie-
gebiete in Sachsen-Anhalt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir wollen Vorreiter beim Klimaschutz sein. Wir sind
Vorreiter bei der Energiewende. Aber unsere Industrie
steht im internationalen Wettbewerb, die energieinten-

siven Unternehmen ganz besonders. Das sind Unterneh-
men, die häufig prozessbedingte Emissionen sowie ei-
nen Strom- und Energieverbrauch haben, der sich kaum
mehr reduzieren lässt. Unternehmen, in denen die Ener-
gie der größte Produktionsfaktor ist, haben ein Interesse
daran, ihre Energie so effizient wie möglich zu nutzen.
Deswegen ist es ein Märchen, zu sagen, diese Unterneh-
men werden jetzt privilegiert, gesponsert. Nein, es geht
darum, dass die Arbeitsplätze für die Menschen in
diesen Unternehmen erhalten werden. Das ist unsere
Politik. Das ist nicht Ihre Politik, wie wir hier gerade ge-
hört haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Koalition hat zwei wesentliche Kriterien ange-
setzt – das sind die Kriterien, die wir auch schon von frü-
heren Erneuerbare-Energien-Gesetzen her kennen –:
Erstens müssen diese Unternehmen energieintensiv sein.
Das heißt, sie müssen einen hohen Anteil von Energie an
ihrer Produktion haben. Zweitens müssen sie eine Zerti-
fizierung vorlegen, dass sie genau geprüft haben, welche
Einsparmöglichkeiten sie noch haben.

Ich sage Ihnen auch, was wir nicht gemacht haben.
Die Unternehmensverbände sind 2011 Sturm gelaufen,
als wir das neue Erneuerbare-Energien-Gesetz beraten
haben, und wollten eine Deckelung der EEG-Umlage für
alle Unternehmen auf 2 Cent. Damals haben wir gesagt:
Nein, das ist gegenüber den Verbraucherinnen und
Verbrauchern nicht gerechtfertigt. Wir wollen die EEG-
Umlage nicht auf nur wenige Schultern verteilen und sie
dadurch immer höher steigen lassen. Wir haben gesagt:
Nur diejenigen, die im internationalen Wettbewerb Pro-
bleme bekommen, erhalten eine Entlastung bei der EEG-
Umlage, bei den Netzentgelten.


(Ulrich Kelber [SPD]: Aber der internationale Wettbewerb steht doch gar nicht drin!)


Wir haben damit die richtige Abwägungsentscheidung
getroffen. Wir entlasten nicht alle Unternehmen, aber
wir entlasten diejenigen, bei denen die Gefahr droht,
dass sie ansonsten abwandern oder ihre Produkte nicht
mehr verkaufen können, sodass Arbeitsplätze verloren
gehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Hotels und Rolltreppenbetreiber, die können abwandern!)


Mit dem neuen EEG haben wir 2012 Ungerechtigkei-
ten und Wettbewerbsverzerrungen beseitigt, für die der
SPD-Vorsitzende Gabriel in seiner Zeit als Umweltmi-
nister Verantwortung getragen hat. Sie haben die ener-
gieintensiven Großunternehmen entlastet.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wo soll das denn gewesen sein?)


Das ist in der Tradition von Schröder, des Genossen der
Bosse. Das war Ihre Politik. Wir haben Folgendes
gemacht: Wir haben auch die energieintensiven Unter-
nehmen entlastet, die weniger Strom verbrauchen, die
weniger produzieren, weil sie kleiner sind. Wir haben
den industriellen Mittelstand entlastet. Auch hier zeigt





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


sich ein Unterschied: Diese Koalition ist für den Mittel-
stand, Sie sind für die Großunternehmen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Hotels und Rolltreppenbetreiber!)


Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Poli-
tik. Das sollte noch einmal sehr deutlich werden, auch in
den nächsten Wochen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben große Supermärkte befreit!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717212100

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-

gin Bulling-Schröter.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717212200

Danke schön. – Unserer Fraktion wurde vonseiten der

FDP unterstellt, die Linken würden die Arbeitsplätze ka-
puttmachen.


(Franz Obermeier [CDU/CSU]: Genau! So ist es!)


Ich kenne dieses Argument auch aus anderen Zusam-
menhängen. Ich stelle fest, dass Ihre Partei zurzeit
Arbeitsplätze von Schlecker-Kolleginnen kaputtmacht,
indem sie keine Finanzierung mitbeschließt.

Jetzt möchte ich aber ganz genau auf das eingehen,
was Sie hier dargestellt haben. Sie haben von Nordrhein-
Westfalen und Sachsen-Anhalt gesprochen. Wir wissen,
dass Solarfirmen in Sachsen-Anhalt demnächst Kurz-
arbeit anmelden oder sogar ganz dicht machen müssen.
Sachsen-Anhalt wurde schon einmal deindustrialisiert.
Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort haben das Ge-
fühl, dass diese Region jetzt noch einmal deindustriali-
siert wird. Über diese Ihre Politik werden wir beim
nächsten Tagesordnungspunkt detailliert diskutieren.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Eben! Im nächsten!)


Sie haben behauptet, dass wir keine Ausnahmetatbe-
stände wollen. Das ist nicht richtig. Sie sollten zuhören.
Wir wollen nur, dass die Unternehmen beweisen, dass
sie Energie einsparen. Ich denke, das ist möglich. Ich
möchte einige Beispiele nennen.

Ich war in einer Lederfabrik, die Energie einspart.
Dort wurden die Energiepreise hochgerechnet. Man
sagte mir: Wir werden in einigen Jahren Gewinn
machen. Dann werden wir überhaupt nichts mehr für
Energie bezahlen; denn wir nutzen die Wärme, wir nut-
zen den Strom, und wir werden sogar welchen verkau-
fen. – Das ist ganz super. Dieses Unternehmen macht das
ganz freiwillig.

Ich war in einer großen Metallfirma. Dort sagte man
mir: Ja, wir könnten Energie einsparen. Aber, Frau
Bulling-Schröter, dann zählen wir nicht mehr zu den
energieintensiven Unternehmen, die EEG-Ermäßigung
fällt also weg, und dann wird der Strom teurer, das ren-
tiert sich nicht.

Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir es schaf-
fen, dass die Unternehmen mehr Energie einsparen. Und
wir müssen darauf achten, dass Otto Normalverbraucher
nicht die Zeche zahlt. Bei Ihrer Politik wird Otto Nor-
malverbraucher immer zahlen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717212300

Kollege Kauch, Sie haben die Möglichkeit zur

Antwort.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1717212400

Liebe Kollegin Bulling-Schröter, über die Reform im

Bereich Solarenergie werden wir gleich ausführlich
sprechen. Deshalb gehe ich darauf jetzt nicht ein.

Sie sagten: Auch wir Linke wollen Ausnahmen. Man
sollte sich einmal genau anschauen, was in Ihrem Antrag
steht. Darin steht unter „1.“: „nachweisliche Wett-
bewerbsnachteile“ und „hohe Wahrscheinlichkeit zur In-
solvenz“. Die Unternehmen müssen also gleich richtig
pleitegehen. Dann steht da: „Stand der Technik“. Das ist
okay. Dann kommt: Die Unternehmen müssen den
„Hauptteil ihrer Produkte im Wettbewerb mit Unterneh-
men außerhalb der EU“ erwirtschaften, „die keinen
adäquaten umweltpolitischen Regelungen unterliegen.“
Wenn sie eine Ausnahmeregelung bekommen, dann
müssen diese Produkte mit einer spezifischen produktge-
bundenen „Ökosteuer“ verbunden werden. Einmal abge-
sehen von dem Dirigismus, der dahinter steht: Dafür
müssen Sie in jedes Unternehmen einen Staatskommis-
sar schicken, um genau zu schauen, welches Produkt an
welches Unternehmen geschickt wurde und ob dieses
vielleicht in China, in Indien oder in Italien produziert
wurde.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


Das ist die Art von Planwirtschaft, mit der Sie und Ihre
Partei bzw. die Vorgänger Ihrer Partei ein Land zugrunde
gerichtet haben. So kann man nicht Wirtschaft betreiben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Das hat gerade der Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums gefordert!)


Deshalb müssen wir die ordnungspolitische Linie der
sozialen Marktwirtschaft ernst nehmen. Ich sage Ihnen
ganz deutlich: Niemand, der jetzt für oder gegen Bürg-
schaften für eine Transfergesellschaft bei Schlecker ist,
macht Arbeitsplätze kaputt oder rettet sie. Diese Arbeits-
plätze sind kaputt, und zwar durch ein falsches Ge-
schäftsmodell des Unternehmens Schlecker,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)


dessen Arbeitsbedingungen Sie als Linke immer als
menschenunwürdig bezeichnet haben.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Warum haben Sie dann den Banken geholfen?)






Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


Jetzt sage ich Ihnen ganz deutlich: Wenn ein Unter-
nehmen so wirtschaftet, wie Schlecker es getan hat, dann
ist es gut, wenn die Marktanteile von einem anderen
Unternehmen übernommen werden und die Beschäftig-
ten von den anderen Wettbewerbern eingestellt werden,
statt in eine Transfergesellschaft zu kommen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen, dass die Menschen im ersten Arbeitsmarkt
sind und nicht im zweiten. Das, was Sie für die bisher
bei Schlecker Beschäftigten vorschlagen, wäre eine
Scheinrettung.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Scheinheilig ist das!)


Deshalb sage ich Ihnen ganz klar für meine Fraktion:
Wir glauben nicht, dass es gut ist, dass man Menschen in
eine Gesellschaft schickt, die Ihnen scheinbar eine Zu-
kunft bietet.


(Stefan Rebmann [SPD]: Keine Ahnung von der Realität!)


Diese schwarz-gelbe Koalition hat dafür gesorgt, dass
auf dem Arbeitsmarkt Fachkräfte, auch Verkäuferinnen,
in vielen Regionen Deutschlands händeringend gesucht
werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Unglaublich! – Stefan Rebmann [SPD]: Sie haben bei denen noch nie gestanden! Wenn ich so etwas erlebe!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717212500

Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717212600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kauch, Ihre Argumente werden durch Geschrei
nicht besser.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich glaube, das muss man – unabhängig von dem, was
die Kollegen der Linken wollen – an dieser Stelle sagen.

Wenn Sie das Wort „Deindustrialisierung“ in den
Mund nehmen, dann fällt mir die deutsche Solarindustrie
ein, dann fällt mir ein, wie sich Ihre wahlkämpfenden
Parteigenossen in Nordrhein-Westfalen vor Windkraft-
anlagen stellen, von Windenergiemonstern sprechen und
eine ganze Branche in den Senkel stellen.


(Michael Kauch [FDP]: Da steht keiner!)


Das ist die Realität in Ihrer Partei, und das ist Deindus-
trialisierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es ist völlig richtig: Die energieintensive Industrie
gehört zu Deutschland, gehört zu unserer Wertschöp-
fungskette. Wir müssen alles Notwendige tun – ich
betone das –, damit wir diese Unternehmen im Land hal-
ten. Das ist eine Herausforderung. Aber wir müssen uns
die Realität genau anschauen. Wir hören, das Strom-
preisniveau in Deutschland sei zu hoch. Wenn man sich
das Börsenniveau, die Börsenentwicklung anschaut,
sieht man, dass der Strompreis sowohl im Termin- als
auch im Spotmarkt inzwischen unter dem Niveau liegt,
das er vor den Ereignissen in Fukushima hatte. Das
heißt, durch die Energiewende gibt es keine Strompreis-
steigerung.

Der Verband der Industriellen Energie – und Kraft-
wirtschaft – das ist der Lobbyverband eines Teils der
energieintensiven Industrie – erstellt einen Strompreisin-
dex. Laut diesem Index liegt der Industriestrompreis im
Moment unter dem Durchschnitt der letzten zehn Jahre.
Realität ist, dass wir in Deutschland keine explodieren-
den Strompreise haben und dass keine Notwendigkeiten
bestehen, weitere Subventionen zu verteilen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jens Koeppen [CDU/CSU]: Deswegen ist unser Weg richtig!)


Man muss sich die Realität anschauen; das ist eben
schon mehrfach angeklungen. Es gibt einen unheimlichen
Wust von Ausnahmen in den Bereichen EEG-Umlage,
Kraft-Wärme-Kopplungs-Umlage, Stromsteuer und Emis-
sionshandel. Das alles summiert sich auf 9 Milliarden
Euro. Diese 9 Milliarden Euro werden von den privaten
kleinen Verbrauchern in Richtung Industrie umge-
switcht. Ich sage ja nicht, dass alles daran falsch ist, aber
das ist die Realität, der Sie sich letztendlich stellen müs-
sen. Sie reduzieren dieses Vorgehen nicht, Sie schauen
nicht, wo es notwendig ist und wo nicht, sondern Sie
weiten dies immer mehr aus. Immer weniger müssen im-
mer mehr zahlen. Die privaten Verbraucher müssen im-
mer mehr zahlen, und die Industrie wird immer weiter
entlastet.

Die Frage ist: Kommt dieses Geld wirklich dort an,
wo es gebraucht wird, nämlich – auch wir sagen, dass
man hier in der Tat etwas tun muss – bei den energie-
intensiven Industrien, die im internationalen Wettbewerb
stehen? Man erlebt sein blaues Wunder, wenn man ver-
sucht, das herauszubekommen. Wir haben im Bundestag
etliche Anfragen gestellt, wir waren beim Finanzminis-
terium, und wir haben Wissenschaftler gefragt. Es ist
nicht herauszubekommen, wer genau welche Subventio-
nen bekommt. Das ist ein sehr intransparenter Wust.
Man kann überhaupt nicht nachvollziehen, wohin das
Geld fließt.

An ein paar Stellen bekommt man es aber plötzlich
heraus. Durch hartnäckiges Nachfragen erfährt man zum
Beispiel, dass der Braunkohlebergbau, der nun wirklich
nicht im internationalen Wettbewerb steht – Braunkohle,
die im Tagebau abgebaut wurde, wird im Kraftwerk ne-
benan verbrannt, aber nicht über Grenzen transportiert –,
von der EEG-Umlage befreit ist. Das macht im Jahr ei-
nen Betrag von sage und schreibe 40 Millionen Euro
aus, den Sie von den privaten Verbrauchern in Richtung





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


RWE und Vattenfall verschieben. Das ist die Realität Ih-
rer Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wir sagen: Wenn es Ausnahmen gibt – man muss sie
sich allerdings sehr genau ansehen, sie transparent aus-
gestalten und muss deutlich machen, wohin das Geld
fließt –, dann müssen sie mit Verpflichtungen verbunden
sein. Als Allererstes gehört dazu, dass Unternehmen ein
Energiemanagement betreiben müssen. Wenn ich ein
Unternehmen besuche, höre ich immer: Hier kann man
nichts mehr einsparen. Es gibt keine einzige Kilowatt-
stunde, die überflüssig ist. – Wenn ein Energiemanager
in dem Unternehmen war, stellt sich aber plötzlich he-
raus: Das Unternehmen kann doch noch 20 Prozent ein-
sparen. Genau das müssen wir machen. Das ist nämlich
ein Standortvorteil für Deutschland.


(Michael Kauch [FDP]: Das steht im Gesetz!)


Auf diesem Gebiet ist beispielsweise die nordrhein-
westfälische Landesregierung, die im Rahmen von Öko-
profit genau solche Maßnahmen durchführt, sehr gut un-
terwegs.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir Grüne sagen: Es darf am Ende nicht so laufen,
wie es der Kollege Pfeiffer, den ich in dieser Debatte üb-
rigens vermisse – sonst nimmt er an diesen Debatten ja
immer teil –, einmal schön formuliert hat.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717212700

Herr Kollege, Sie müssten bitte zum Schluss kom-

men.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717212800

Ich komme zum Schluss.


(Judith Skudelny [FDP]: Das ist schön!)


Kollege Pfeiffer sagte: Die Verbraucher wollten die
Energiewende. Dann sollen sie sie auch bezahlen. – Das
wollen wir nicht. Wir wollen, dass es in diesem Land ge-
recht zugeht. Es ist ein gemeinsames Projekt, die Ener-
giewende voranzubringen. Daran müssen sich alle betei-
ligen: die privaten Verbraucher, die Industrie und die
Politik.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717212900

Das Wort hat nun Franz Obermeier für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1717213000

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Lassen

Sie mich zunächst auf ein paar Punkte eingehen, die so-
eben angesprochen worden sind.

Erstens. Herr Krischer, der Vorwurf, dass die Photo-
voltaikindustrie in Deutschland Schwierigkeiten hat, hat
mit unserem Thema so gut wie nichts zu tun.


(Dr. Thomas Gebhart [CDU/CSU]: So ist das! – Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Gut, dass du das richtigstellst!)


Denn der Wettbewerb, den sich die deutsche Photovolta-
ikindustrie mit den Chinesen liefert, ist aussichtslos.


(Ulrich Kelber [SPD]: Mein Gott!)


In China gibt es nicht nur das von den Linken angespro-
chene Energiensponsoring, sondern die chinesische Re-
gierung zahlt dieser Industrie auch noch Zuschüsse, da-
mit sie die Märkte der Welt bedienen kann. Dieses
Beispiel geht völlig fehl.


(Ulrich Kelber [SPD]: Was machen wir, wenn sich die nächste Branche so aufführt? Auch aufgeben? Das ist eine Wirtschaftspolitik!)


– Nein, das ist nicht Wirtschaftspolitik, sondern das ist
Staatsdirigismus in China.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das gefällt uns nicht. Das ist nicht unsere Politik. Aber
so ist die Realität, und es tut uns furchtbar leid, dass wir
so dastehen.

Zweitens. Herr Krischer, ich habe bei Ihrer Rede den
Eindruck gewonnen, dass Sie die volkswirtschaftlichen
Zusammenhänge überhaupt nicht einordnen können. Al-
les, was wir per Gesetz erheben – ob es die EEG-Umlage
ist, ob es die Netzumlage ist –, wird letzten Endes beim
Verbraucher landen.


(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Ja! Immer!)


Das zahlt niemand anders als der Verbraucher. Es ist völ-
lig unerheblich, wie wir das Ganze machen. Mit Blick
auf den Antrag der Linken und bei der gesamten Politik
im Zusammenhang mit dem EEG, dem Netzausbau und
Ähnlichem geht es uns um die Frage, wie es gelingt, da-
für zu sorgen, dass die deutsche Volkswirtschaft keinen
Wettbewerbsnachteil gegenüber ihren Wettbewerbern in
Europa, ja in der ganzen Welt erleidet.

Ich will Ihnen sagen, dass wir in der Wirtschaft, in der
Industrie und bei den Strompreisen schon jetzt Nachteile
haben. Schauen Sie bitte nach, was ein Industriebetrieb
in Frankreich und was ein Industriebetrieb in Spanien
und auch in anderen Ländern Europas für seinen Indus-
triestrom zu zahlen hat. Sie werden dann sehen – ich
rede, wie gesagt, nur vom Industriestrompreis, weil das
beim Kleinverbraucher anders ist; das weiß ich auch –,
dass es erhebliche Differenzen gibt.

Ich weiß ja nicht, in welche Betriebe Sie gehen,


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: In die falschen wahrscheinlich!)






Franz Obermeier


(A) (C)



(D)(B)


aber ich sage Ihnen: Mir hat bisher noch keiner der Be-
triebe, die ich in meinem Wahlkreis und darüber hinaus
besuche und mit denen ich über die Zusatzlasten durch
den Strom rede, kundgetan, dass er keine Potenziale hat,
den Energieverbrauch zu reduzieren. Alle haben gesagt,
sie werden erhebliche Anstrengungen unternehmen. Das
wird seitens der Linken dieses Hauses total unterschätzt.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Nein! – Ulrich Kelber [SPD]: Was ist das für eine Rede?)


Frau Bulling-Schröter, für jedes kluge Unternehmen
sind die Energiekosten ein Kostenfaktor. Diejenigen,
über die wir heute reden, haben fast durchweg einen sehr
hohen Energiekostenanteil.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Sie verstehen überhaupt nichts von Wirtschaftspolitik! Das ist unerträglich!)


Wenn sie klug waren, dann haben sie in der Vergangen-
heit schon einiges dafür unternommen, dass dieser Kos-
tenfaktor so klein wie möglich bleibt. Ich weiß von vie-
len Unternehmen, dass sie aufgrund der aktuellen
Entwicklung und dessen, was noch alles auf uns zu-
kommt, zum Beispiel beim Netzausbau, alles Mögliche
unternehmen, um den absoluten Energieverbrauch, spe-
ziell den Stromverbrauch, so gering wie möglich zu hal-
ten.

Ich will Ihnen auch sagen: Im internationalen Ver-
gleich der Produktivität – schauen Sie sich die Studien
an – ist die deutsche Wirtschaft, insbesondere die ener-
gieverbrauchende Wirtschaft, an der Weltspitze. Wir
sind weltweit die Besten, wenn es darum geht, wie viel
Energie bezogen auf eine produktive Einheit verbraucht
wird. Hier sind wir hervorragend. Hier können wir auch
noch besser werden, das ist schon wahr, aber das Risiko,
das wir eingehen würden, wenn wir solche Instrumente
wie die einsetzen würden, die die Linken per Antrag ein-
gebracht haben, wäre mir viel zu groß.

Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschland
eine kumulative Belastung des Stroms, zum einen durch
die Steuern, zum anderen durch den Emissionshandel,
durch die EEG-Umlage und durch die KWK-Umlage.
Wir müssen aufpassen, dass wir uns alle miteinander
nicht überfordern. Deswegen ist es unser Bestreben, das
Bestreben der christlich-liberalen Koalition, dass wir
diese Lasten beim Umstieg in der Energiepolitik für die
Verbraucher insgesamt und für die deutsche Volkswirt-
schaft so gering wie möglich halten.

Wir reden jetzt von einer Zusatzbelastung durch die
EEG-Umlage in Höhe von 3,5 Cent pro Kilowattstunde,
und in diesem Jahr wird es beispielsweise in der Photo-
voltaik wieder zu einem deutlichen Zubau kommen. Wir
tun uns alle miteinander keinen Gefallen, wenn wir die
gesamten Belastungen für die Kleinverbraucher, für die
mittelständische Wirtschaft und für die Industrie ständig
anwachsen lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Das tun Sie doch!)


Deswegen bleibt uns bei dem Antrag der Linken
nichts anderes übrig, als ihn rigoros abzulehnen, weil er
nicht zielführend ist und unsere Bürger kein Verständnis
dafür hätten, wenn wir Arbeitsplätze in unserem Land
gefährden würden. Frau Bulling-Schröter, es tut mir leid,


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Tut es nicht!)


aber es wird nichts mit Ihrem Traum, dass man das
Ganze von Leuten bezahlen lässt, die nicht existent sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717213100

Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1717213200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Wenn man den Rednern Glauben schenken darf, dann
scheint es zumindest in einem Punkt Einigkeit in diesem
Hause zu geben: Der deutschen Industrie wird eine hohe
Bedeutung zugemessen. Ich denke, dass das zumindest
eine richtige Erkenntnis ist. Diese ist bei einigen viel-
leicht gerade im Zuge der Weltwirtschaftskrise erwach-
sen, die Deutschland überdurchschnittlich schnell über-
wunden hat. Die deutsche Industrie hat daran sicherlich
einen erheblichen Anteil.

Das ist auch der Grund, warum schon frühere Regie-
rungen – gerade auch die rot-grüne Bundesregierung –
in begrenztem Umfang Ausnahmen für die Entlastung
insbesondere der energieintensiven Industrien zugelas-
sen haben. Das hat nicht nur mit den vielen Arbeitsplät-
zen in diesem industriellen Sektor zu tun, sondern das
hat natürlich auch damit zu tun, dass die dahinter liegen-
den Wertschöpfungsketten abhängig davon sind, dass
wir die Grundstoffindustrien hier im Lande haben; denn
dieses Zusammenwirken der Wertstoffketten insgesamt
macht eine besondere Stärke unserer Volkswirtschaft
aus. Insofern sind wir konstruktiv mit dabei, wenn es da-
rum geht, diese Ausnahmeregelungen für stromintensive
Unternehmen weiterzuentwickeln.

Vor dem Hintergrund der internationalen Strompreis-
situation reicht es in Europa leider immer noch nicht aus,
auf die Börsenpreise zu schauen. Wie wir wissen, gibt es
in einigen Staaten Staatsunternehmen, die Industrie-
strompreise an die Unternehmen weiterreichen, die im
Wettbewerb mit unseren Unternehmen überhaupt nicht
mehr zu unterbieten sind. Das muss man berücksichti-
gen. Deswegen sind solche Ausnahmeregelungen zu-
mindest auf Zeit nach wie vor notwendig.

Wenn man die Menschen dabei mitnehmen will, ist es
aber genauso wichtig, dass man diese Unternehmen ge-
rade beim Thema Energieeffizienz fordert. Was wir da-
bei zurzeit bei der Bundesregierung erleben, ist ein Hin
und Her, ein Geschachere zwischen zwei Ministern, die
sich bei diesem wichtigen Thema nicht einigen können
und die sich gegenseitig blockieren. Deshalb richtet sich





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)


die Aufforderung und die Bitte an die Koalitionsfraktio-
nen, mitzuhelfen, dass diese beiden Minister jetzt end-
lich einen gemeinsamen Vorschlag vorlegen, der ausrei-
chend ambitioniert ist, um tatsächlich die möglichen
Fortschritte im Bereich der Energieeffizienz im gesam-
ten Industriesektor in Deutschland zu erzielen.


(Beifall bei der SPD)


Herr Obermeier, es ist richtig, dass wir im internatio-
nalen Vergleich beim Thema Energieeffizienz gar nicht
so schlecht dastehen. Genauso richtig ist aber auch, dass
es Studien gibt, die nachgewiesen haben, dass noch
enorme Effizienzreserven in der deutschen Industrie lie-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist auch richtig, dass eine Reihe von Unternehmen
dabei besonders gut ist. Es gibt aber auch andere Unter-
nehmen, die vielleicht noch einen entsprechenden An-
stoß brauchen. Deswegen reicht das Vertrauen in die
Klugheit der Geschäftsführungen der Unternehmen
nicht. Vielmehr ist es wichtig, einen Rahmen zu setzen.
Das, was wir dazu vorgeschlagen haben, sollten Sie sich
vielleicht noch ein bisschen näher anschauen.

Meine Damen und Herren, wenn wir Ausnahmen für
die deutsche Industrie beschließen, dann kommt es auf
drei Dinge an: Wir müssen das mit einem Höchstmaß an
Transparenz tun. Wir müssen das gut begründen und
sauber kommunizieren. Außerdem müssen die Ausnah-
men ausgesprochen zielgerichtet, also nicht breit ge-
streut sein. Gegen alle diese Grundsätze ist in letzter Zeit
leider mehrfach verstoßen worden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Schauen wir uns beispielsweise die Entlastungen an,
die Sie im Bereich der Netzentgelte beschlossen haben.
Diese Ausnahmen sind überhaupt nicht kommuniziert
worden. Sie sind öffentlich überhaupt nicht begründet
worden.


(Zuruf von der FDP)


Das hat dazu geführt, dass sich die Medien dieses
Themas angenommen haben und dass von 1,1 Milliar-
den Euro Entlastung die Rede war, obwohl hierin Entlas-
tungen inbegriffen waren, die gar nicht die deutsche
Industrie betreffen, sondern zum Beispiel Pumpspeicher-
kraftwerke – was durchaus auch gewollt ist –, Nacht-
speicherstromheizungen oder Wärmepumpen. Als Bun-
desregierung muss man aber sauber kommunizieren,
was entlastet wird und welchen Anteil die Industrie
trägt.

Aber auch bei den 400 Millionen Euro, die hier für
die Industrie vorgesehen sind, muss man sich sehr genau
anschauen: Ist es wirklich so – das hat mein Kollege
Kelber hier schon ausgeführt –, dass alle Unternehmen,
die davon positiv betroffen sind, tatsächlich im interna-
tionalen Wettbewerb stehen und dass sie mit ihrer
Bandabnahme netzentlastend wirken? Dieser Nachweis
ist ausgeblieben.

Ein anderer Punkt: Sie haben im EEG die Zahl der
Ausnahmen ausgeweitet. Das klingt zunächst sehr gut
– das ist hier eben noch einmal gesagt worden –, nach
dem Motto: Wir wollen nicht nur die Großen entlasten. –
Übrigens sind die stromintensiven Unternehmen im We-
sentlichen keine großen Konzerne, sondern Mittelständ-
ler, manche vielleicht etwas größere Mittelständler,
andere kleinere. Jedenfalls sind die deutschen Unterneh-
men, die das betrifft, im Wesentlichen mittelständische
Unternehmen. Es sind zwar auch einige internationale
Konzerne im Spiel, aber im Wesentlichen handelt es sich
um deutsche Mittelständler.

Es ist so, dass die Ausweitungen, die Sie gemacht ha-
ben, nicht für mehr Gerechtigkeit gesorgt haben, sondern
Sie haben zum Beispiel – das ist hier angeklungen –
Hotels einbezogen und andere, die nun weder energie-
intensiv sind noch im internationalen Wettbewerb ste-
hen. Das Hotel wird nicht verlagert und die Rolltreppe
auch nicht. Deswegen ist das, was Sie an dieser Stelle
gemacht haben, Unsinn.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Praktisch gescheitert!)


Ein weiterer Punkt, der, wenn er gut ausgestaltet ist,
nach meiner Auffassung im Zuge der Energiewende sehr
sinnvoll sein kann, ist das Lastmanagement. Auch ich
gehe davon aus, dass die Netzbetreiber in Zukunft mehr
Gebrauch davon werden machen müssen, zu Spitzenlast-
zeiten gegebenenfalls, wenn beispielsweise ein Netz-
kollaps droht, Unternehmen abzuschalten, also ein
Industrieunternehmen zeitweilig nicht oder nur in redu-
zierter Menge mit Strom zu beliefern. Aber dann muss
man das vernünftig ausgestalten, und dann muss man
das mit den Akteuren, zum Beispiel mit den Netzbetrei-
bern, gemeinsam diskutieren. Das ist ganz offensichtlich
unterblieben. Anders wäre der Alarmruf eines der Netz-
betreiber gar nicht zu erklären.

Ich habe die dringende Bitte – weil ich glaube, dass
hier ein durchaus sinnvolles Instrument entstehen kann –,
dass Sie Ihre Hausaufgaben nachholen und dass sich
auch hier die Minister nicht wieder gegenseitig blockie-
ren und Nein sagen, sondern möglichst bald einen
vernünftigen, konstruktiven und mit den Akteuren ab-
gestimmten Vorschlag unterbreiten.

Fazit: Ja, wir brauchen restriktiv gehandhabte, gut be-
gründete, sauber kommunizierte Ausnahmeregelungen
für die deutsche Industrie, damit sie im Wettbewerb be-
stehen kann. Aber dann gestalten Sie sie so aus und
kommunizieren Sie sie auf eine Art und Weise, dass die
Akzeptanz dieses Instrumentes und der Energiewende
insgesamt erhalten bleibt!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717213300

Das Wort hat nun Martin Lindner für die FDP-

Fraktion.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1717213400

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Herr

Kollege Hempelmann, wenn Sie sagen, dass Einverneh-
men zwischen uns darüber besteht, dass wir Industrie in
Deutschland haben wollen, dann stimmt das in der Ziel-
setzung schon.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Guck mal an!)


Ich frage Sie nur zurück, warum jedes Mal dann, wenn
es konkret wird, Ihre Fraktion und Ihre Partei nicht mehr
vorhanden sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht mehr vorhanden ist die FDP! – Rolf Hempelmann [SPD]: Fragen Sie mal die Unternehmen!)


Ein Beispiel ist die Grüne Gentechnologie. Wenn es
bei der Grünen Gentechnologie konkret wird – die SPD:
weg. Wenn es bei der Rohstoffsicherung darum geht,
deutschen Unternehmen zu helfen, weltweit explorativ
tätig zu sein – Ihre Partei: weg.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wer ist nicht mehr da?)


Wenn es um Exportsicherung geht,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wer ist nicht mehr da? Die FDP ist weg!)


zum Beispiel Angra 3,


(Ulrich Kelber [SPD]: Atomkraftwerke in Erdbebengebiete!)


wenn es darum geht, deutsche Arbeitsplätze durch
Exportbürgschaften zu sichern – SPD: weg.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die FDP ist weg!)


Wenn es schließlich jetzt konkret um Ausnahmen für
die energieintensiven Unternehmen geht, ist mit der SPD
nicht zu rechnen. Sie waren früher einmal eine industrie-
politische Partei.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die FDP ist weg! – Rolf Hempelmann [SPD]: Fragen Sie mal die Industrie!)


Das sind Sie nicht mehr. Die einzigen, die wirklich In-
dustriepolitik betreiben, sind auf der anderen Seite des
Saales zu finden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sind Spruchbeutel; Sie können gar nichts.

Wenn man sich konkret anschaut, über was wir hier
reden, ist festzustellen: Wir haben eine Industrie, die mit
einem sehr hohen Verbrauch am Markt existieren muss.
Wenn wir dann betrachten, wie die Industriestrompreise

im Vergleich sind, kommen wir zu dem Ergebnis, dass
Deutschland mit 12,98 US-Cent pro Kilowattstunde an
zweithöchster Stelle aller referenzierten Länder liegt. Ita-
lien hat als einziges Land in Europa mit 15,72 US-Cent
einen höheren Wert. In Frankreich, unserem Nachbarstaat,
sind es 7,62 US-Cent, in den USA 9,27 US-Cent, in
Kanada 7,27 US-Cent, in Australien 6,88 US-Cent.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Deswegen sind wir ja für vernünftige Ausnahmeregelungen!)


Da kann man doch als durchschnittlich verständiger So-
zialdemokrat folgern,


(Rolf Hempelmann [SPD]: Nicht so arrogant!)


dass man in diesem Bereich für die deutsche Wirtschaft
Ausnahmen braucht,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


wenn wir hier nicht ein Industrieabbauprogramm ma-
chen wollen – und das wollen wir nicht.

Unsere Staatsquote liegt mit 46 Prozent an zweit-
höchster Stelle in der EU; nur in Dänemark ist sie noch
höher. Das zeigt doch ernsthaft, Herr Hempelmann, die
Notwendigkeit, dass wir zu Ausnahmen kommen, und
dass das, was die Bundesregierung gemacht hat, richtig
war.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Habe ich dagegen gesprochen?)


– Ja, aber verstehen Sie: Sie sind in der Zielrichtung tat-
sächlich mit uns vereint, aber immer wenn es konkret
wird, immer wenn es um die Wurst geht, dann werden
Sie zu Vegetariern. Das ist das Problem. Das muss man
sehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Immer wenn es um Hotels geht, dann sind wir auseinander!)


Maßnahmen, dem entgegenzuwirken, gibt es zweier-
lei. Beide führen wir durch. Gerade durch das ange-
strebte Reduzieren von Subventionen, gerade bei der
Solarenergie, versuchen wir, eine gewisse Entlastung
hinzukriegen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie erhöhen Subventionen!)


– Ja. – Dass der Cheflobbyist der Solarwirtschaft im Deut-
schen Bundestag – Kelber – damit ein Problem hat – –


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)


– Cheflobbyist zu sein, ist angesichts der Anzahl von
Lobbyisten, die hier gerade vor mir sitzen, wirklich eine
tolle Auszeichnung.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da spricht gerade einer!)


Hier kann es doch nicht darum gehen, etwas für Ihre
Spender und für Ihre Lobby zu tun, sondern hier geht es
um die Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem
Land und nicht um Ihre Spendengeber und Sponsoren.





Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und darum belasten Sie die! – Rolf Hempelmann [SPD], an die FDP gewandt: Habt ihr eigentlich keinen anderen Redner?)


Zum Schluss zur Linken; von Ihnen kommt ja der An-
trag. Bei Ihnen ist es doch so: Sie machen doch ernsthaft
keine Industriepolitik. Sie möchten doch genau ein
Modell haben, bei dem es ausschließlich darum geht, ein
Volk von Hartz-IV-Empfängern zu produzieren, von
Menschen, die der Staat zu versorgen hat. Sie möchten
erst mal Industriearbeitsplätze plattmachen, um sie
anschließend in einer Transfergesellschaft auf Steuer-
zahlerkosten aufzufangen. Das ist doch Ihre Wirtschafts-
politik.


(Lachen bei der LINKEN)


Und deswegen ging es – da hat der Kollege Kauch
völlig recht – auch in der Schlecker-Sache nicht darum,
ernsthaft Ökonomie zu betreiben,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1,8 Prozent!)


sondern darum, eine Propagandamaschine für Herrn
Schmid, den sogenannten Wirtschaftsminister von
Baden-Württemberg, in Gang zu setzen, und das haben
die Leute durchschaut. Das machen wir nicht mit; selbst-
verständlich machen wir das nicht mit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist kalte FDP, die da vorne steht!)


Wir machen eine vernünftige, seriöse Wirtschaftspoli-
tik und nicht diese Art von Versorgungspolitik, die Sie
hier fordern. Es geht hier nicht um Calvinismus, sondern
um ökonomische Vernunft. Sie wollen hier Steuergelder
für die eigene Propaganda verbraten. Um nichts anderes
geht es.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717213500

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1717213600

Das machen wir auf keinen Fall mit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: So gehen Sie mit den Menschen um! Pfui! – Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Pfui!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717213700

Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717213800

Herr Lindner, auch die Auferstehung der FDP als

Industriepartei wird nicht gelingen. Nächste Wahlen –
FDP: weg!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Und dann werden wir keine Transfergesellschaft machen! Das steht auch fest! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für die FDP gibt es keine! – Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Genau.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jährlich
9 Milliarden Euro Subventionen bekommt die energiein-
tensive Industrie in Deutschland seit Jahren, und jetzt
kommt wieder etwas dazu. Aber das ist kein Thema für
diese Koalition und auch nicht für die Subventions-
abbaupartei FDP. Auf der anderen Seite steht die Förde-
rung der erneuerbaren Energien unter Dauerbeschuss,
obwohl der Unterstützungstatbestand darunter liegt.


(Franz Obermeier [CDU/CSU]: Und Spitzenausbau!)


Bei alldem gibt es einen strukturellen Unterschied:
Die Mittel für die Erneuerbaren sind keine Subventio-
nen, sondern eine Umlage. Diese Umlage war von An-
fang an zeitlich befristet,


(Judith Skudelny [FDP]: So eine Heuchelei!)


so, wie man Subventionen eigentlich ausgestalten sollte.
Außerdem war von Anfang an festgeschrieben, dass
diese Umlage jährlich kleiner wird, also jährlich gekürzt
wird.


(Judith Skudelny [FDP]: Und die Umlage wird jährlich mehr!)


Von einer Subventionskürzung ist im Hinblick auf den
Bereich der energieintensiven Industrie kein Wort von
Ihnen zu hören, und das seit zehn Jahren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Obwohl das so ist, obwohl völlig klar ist, dass ein
Ende der Umlage bei den Erneuerbaren abzusehen ist
– bei der energieintensiven Industrie ist kein Ende der
Subventionen abzusehen –, werden Sie hier in einer
Stunde das Ende der Solarindustrie in Deutschland be-
schließen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP – Michael Kauch [FDP]: Das ist doch lächerlich! Das haben Sie jedes Jahr gesagt, und es ging immer weiter!)


Sie opfern die Zukunft auf Kosten der Vergangenheit,
und das ist ein Skandal, meine Damen und Herren von
der Koalition.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Sie verspielen damit nicht nur die Energiewende und
die Zukunft;





Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)



(Franz Obermeier [CDU/CSU]: 80 Prozent aus China!)


Sie gefährden damit auch die gesellschaftliche Unter-
stützung für die Energiewende


(Michael Kauch [FDP]: So jemand hat VWL studiert!)


und die Unterstützung der Europäischen Union, bei der
Sie immer wieder vorstellig werden müssen, weil die
Subventionen für die energieintensiven Industrien Bei-
hilfen sind, die von der EU genehmigt werden müssen.
Deshalb brauchen Sie die Unterstützung für Ihren ener-
giepolitischen Kurs durch die EU-Kommission, und das
torpedieren Sie permanent, indem Sie zweierlei Maß an-
wenden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein weiterer Punkt ist: Sie verfehlen auch Ihre eige-
nen Ziele. Zumindest auf dem Papier gibt es das Ener-
giekonzept der Bundesregierung. Darin schreiben Sie
selber, dass die Energieproduktivität gesteigert werden
muss, und zwar um 2,1 Prozent jährlich. Leider ist es so,
dass wir diese Zahl in Deutschland gegenwärtig noch
nicht erreichen, sondern nur die Hälfte davon. Zurzeit
steigt die Energieproduktivität eben nur um 1 Prozent
pro Jahr. Das heißt, Sie müssen sie verdoppeln.

Es ist völlig klar, dass auch die Industrie ihren Beitrag
dazu wird leisten müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das muss natürlich mit Augenmaß geschehen. Dazu
wurde schon von grüner und roter Seite das Richtige
gesagt. Das muss zielgenau erfolgen. Man muss sich das
bei den energieintensiven Industrien, die im internatio-
nalen Wettbewerb stehen, genau anschauen und auch
dafür über Ausnahmen nachdenken.

Aber eines ist klar: Die Effizienzreserven in diesem
Bereichen müssen gehoben werden. Deswegen brauchen
wir Energiemanagementsysteme in allen Bereichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich komme zum Schluss. Wir müssen aber trotzdem
auch etwas für bessere Wettbewerbsbedingungen tun.
Dafür könnten auch Sie etwas tun. Dabei sind Sie am
Zuge, auch auf der europäischen Ebene. Sie argumentie-
ren immer: Wir haben ein Wettbewerbsproblem. – Dann
müssen Sie dafür sorgen, dass wir zumindest innerhalb
der Europäischen Union zu anderen Wettbewerbsbedin-
gungen kommen.

Deswegen: Blockieren Sie nicht weiter die Effizienz-
richtlinie, und blockieren Sie bitte nicht weiter die Ener-
giesteuerrichtlinie. Damit könnten Sie bessere Wettbe-
werbsbedingungen für die deutsche Industrie erreichen.
Das blockieren Sie aber dauerhaft. Beenden Sie endlich
Ihre Blockade in diesem Punkt!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717213900

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717214000

Ja. – Ich finde, die energieintensive Industrie in

Deutschland hat eine klügere und zukunftsweisendere
Politik verdient. Deswegen: Beteiligen Sie sich endlich
am Durchsetzen der Energiewende! Blockieren Sie sie
nicht!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717214100

Das Wort hat nun Jens Koeppen für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1717214200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

muss, auch wenn es wehtut, noch einmal auf den vor-
liegenden Antrag und darauf, woher er kommt, zurück-
kommen. Bei den ideologischen Ergüssen und sozialis-
tischen Ausarbeitungen Ihrerseits fällt es manchmal
schwer, gelassen zu bleiben,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


obwohl ich mir als Ostdeutscher schon lange, auch
schon vor 1990, Gelassenheit auferlegt habe.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Ich komme aus Bayern!)


Damals hießen Sie noch SED, und es gab auch eine ent-
sprechende Umweltpolitik.


(Ulrich Kelber [SPD]: Die CDU war damals im Parlament mit dabei! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Nicht die Blockflöten vergessen!)


Danach – das war Ihnen wahrscheinlich ein bisschen
zu bunt – hießen Sie SED/PDS. Das hat Ihnen dann auch
nicht mehr gereicht; auch das war Ihnen zu peinlich.
Irgendwann war es nur noch PDS und dann Linke.

Es ist aber nie besser, sondern immer schlechter
geworden. Aber dieses Mal ist es mir besonders schwer-
gefallen, mich durch den Antrag mit seinen fünf Seiten
zu quälen. Sie haben so viele Ungereimtheiten, Des-
informationen, Verdrehungen der Tatsachen und so viel
Erfindergeist und Dichtung hineingebracht – das ist un-
glaublich.

Es geht schon mit dem ersten Wort der Überschrift
los: „Unberechtigte Privilegien der energieintensiven In-
dustrie abschaffen“. Bei der Frage, was „unberechtigt“
heißt, hilft ein Blick in den Duden, oder wir machen
politische Bildung. „Unberechtigt“ heißt rechtswidrig,
heißt ungesetzlich, heißt illegal oder auch, wenn man es
weitertreiben würde, kriminell.

Meine Damen und Herren, ich weiß, dass Sie Pro-
bleme mit dem demokratischen Rechtsstaat und dem
demokratischen System haben. Aber nicht Sie entschei-
den über Recht und Unrecht; das macht immer noch die
Legislative, der Sie – aus meiner Sicht: leider – immer
noch angehören. Aber auch daran kann man arbeiten.





Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch mal zum Thema! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Bringen Sie auch mal Argumente zum Thema?)


Darüber entscheidet auch kein ZK oder Politbüro, son-
dern dieses Haus.

In Ihrem Antrag verweisen Sie auf die Rosa-Luxemburg-
Stiftung. Das muss man sich auf der Zunge zergehen las-
sen: Die Rosa-Luxemburg-Stiftung macht uns jetzt prak-
tisch Vorschläge, wie in der Wirtschafts- und Energie-
politik vorzugehen ist.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Ich wusste gar nicht, dass die Rosa-Luxemburg-Stif-
tung ein Institut ist, das auf ökonomische Expertisen
spezialisiert ist, meine Damen und Herren. Wir brauchen
von dieser Stiftung unter der Leitung von Heinz Vietze


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben schon sehr viel Zeit damit verbraten, nicht zum Thema zu sprechen! – Zurufe von der LINKEN)


keine Hinweise für Anti-Marktwirtschafts-Debatten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denjenigen, die Heinz Vietze, den Chef der Rosa-
Luxemburg-Stiftung, nicht kennen, muss ich einfach mal
was erzählen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717214300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Enkelmann?


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1717214400

Nein.


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Ich muss Ihnen einfach mal sagen, wer der Kollege
Vietze, der Chef, der uns diese Vorschläge macht, ist. Er
war der letzte Chef der SED-Kreisleitung Potsdam.


(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hier geht es um Industriepolitik! Zum Thema bitte! – Zurufe von der LINKEN)


Er war darüber hinaus – Quelle: Wikipedia – inoffizieller
Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit, und, meine Da-
men und Herren, er hat 19 Jahre lang im Landtag von
Brandenburg gesessen.


(Zuruf von der LINKEN: Erfolgreich!)


Ich muss Ihnen sagen: Nach den Ergebnissen der
Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Nachwende-
zeit des Brandenburger Landtages hätte er da gar nicht
sitzen dürfen; Quelle wiederum: Wikipedia.

Meine Damen und Herren, wir haben es nicht nötig,
uns mit solchen Leuten auf Anti-Marktwirtschafts-De-
batten einzulassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die energieintensiven Industrien


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Sie haben jetzt einen Satz zum Thema gesagt! 30 Sekunden! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erste Mal zum Thema!)


erzielen einen Jahresumsatz von 300 Milliarden Euro;
das sind 19 Prozent des gesamten Umsatzes des verar-
beitenden Gewerbes. 10 Milliarden Euro investieren die
energieintensiven Industrien am Standort Deutschland.
Sie selbst müssen 15 Milliarden Euro für Energie ausge-
ben. Eine Papierfabrik in meinem Wahlkreis hat von ei-
nem Jahr auf das andere Jahr 15 Millionen Euro zusätz-
lich – on top – für Energiekosten ausgeben müssen. Die
Ausnahmetatbestände haben nichts, aber auch gar nichts
mit unberechtigten Privilegien zu tun. Vielmehr ist das
eine Hilfe, die wir solchen Betrieben angedeihen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


875 000 Menschen arbeiten in diesen Industrien, und
jeder Arbeitsplatz dort zieht zwei weitere Arbeitsplätze
in anderen Bereichen nach sich. Spätestens an diesem
Punkt müssten Sie aufwachen und aus Ihren ideologi-
schen Schützengräben herausspringen. Denn, meine Da-
men und Herren, Sie verraten gerade die Arbeiterklasse,
für die einzutreten Sie sonst immer vorgeben, und das
werden wir nicht mitmachen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die energieintensiven Industrien sind ein enormer
Wirtschaftsfaktor und Wohlstandsgarant für Deutsch-
land.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben irgendwie ein Karl-MarxTrauma! Kann das sein?)


In keinem anderen Land in der EU nimmt dieser Wirt-
schaftszweig eine solch herausragende Rolle für Be-
schäftigung, für Einkommen und für Wohlstand ein, und
das soll auch so bleiben.

Bei vielen Unternehmen machen aber bereits jetzt die
Energiekosten über 60 Prozent ihrer Ausgaben aus. Es
handelt sich also nicht um Privilegien – und schon gar
nicht um unberechtigte –, sondern um die Sicherung von
Arbeitsplätzen und das Herstellen von Waffengleichheit
im internationalen Wettbewerb.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehen wir ja gleich bei der Photovoltaik!)


Herr Präsident, meine Damen und Herren, der Umbau
der Energieversorgung, die Verbesserung der Klimaver-
träglichkeit, die Energieeffizienz und der Ausbau der er-
neuerbaren Energien werden hierzulande direkt über den
Verbrauch von Energie finanziert. Es gibt – das können
wir bedauern oder nicht – keine europäische Lösung,
und auch nicht jede Regierung geht diesen Weg – in
Klammern: Zertifikatehandel – mit. Weil das so ist, gibt
es einen unfairen Wettbewerb zulasten der deutschen In-
dustrie und zulasten der Menschen, die hier leben.

Wir können eines nicht machen, dass dann, wenn Ar-
beitslosigkeit entsteht und diese Menschen Hartz IV be-
ziehen, Sie die Ersten sind, die sagen: Die Regelsätze bei





Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)


Hartz IV müssen steigen. – Das ist ein Ding, das wir
nicht mittragen werden.

Wir entlassen die energieintensive Industrie auch
nicht aus ihrer Verantwortung – das wurde hier mehrfach
angesprochen –, was ihren eigenen Energieverbrauch an-
geht. Es liegt auch im eigenen Interesse der Unterneh-
men, weniger Energie zu verbrauchen. Denn weniger
Energie bedeutet weniger Kosten und bedeutet eine stär-
kere Position im Wettbewerb.

Meine Damen und Herren, das begleiten wir. Wir
werden uns nach wie vor politisch dafür einsetzen – zu-
gunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zu-
gunsten der Unternehmer. Die können sich dabei auf uns
verlassen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717214500

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich

Dagmar Enkelmann.


Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717214600

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Kollege

Koeppen, als stellvertretende Vorsitzende der Rosa-
Luxemburg-Stiftung kann ich sehr wohl einschätzen,
über welches Know-how und welche wissenschaftliche
Kompetenz die Rosa-Luxemburg-Stiftung verfügt. Dazu
gehört unter anderem die genannte Energiestudie, die ich
Ihnen nur wärmstens empfehlen kann, um Ihre Kompe-
tenz möglicherweise weiter zu verbessern.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich maße mir nicht an, über die Konrad-Adenauer-
Stiftung, die Friedrich-Ebert-Stiftung oder andere Stif-
tungen zu reden. Alle leisten ihren Teil zur politischen
Bildung in diesem Land – genauso wie die Rosa-
Luxemburg-Stiftung.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was Heinz Vietze anbetrifft, so hatte er anders als bei-
spielsweise die damaligen Parlamentarier der CDU in
Brandenburg einen großen Anteil daran, dass die Demo-
kratie in Brandenburg entwickelt wurde.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist mir neu!)


Die PDS ist mit verfassunggebende Partei in Branden-
burg – anders als übrigens die CDU, die heute noch ein
Problem mit der Verfassung in Brandenburg und mit der
Demokratie in Brandenburg hat.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Das sieht man am gegenwärtigen Agieren der branden-
burgischen Landtagsfraktion. Dafür werden Sie Ihre
Quittung bekommen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717214700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8608 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 a und b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Rechtsrahmens für Strom aus solarer Strah-
lungsenergie und zu weiteren Änderungen im
Recht der erneuerbaren Energien

– Drucksache 17/8877 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)


– Drucksache 17/9152 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Dirk Becker
Michael Kauch
Dorothée Menzner
Hans-Josef Fell

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Ralph Lenkert, Jan
Korte, Dorothée Menzner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE

Mut zum Aufbruch ins solare Zeitalter

– Drucksachen 17/8892, 17/9152 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Dirk Becker
Michael Kauch
Dorothée Menzner
Hans-Josef Fell

Zu dem Gesetzentwurf, über den wir später nament-
lich abstimmen werden, liegt je ein Entschließungsan-
trag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Maria
Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1717214800

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Nach intensiven Beratungen im Ausschuss, in den
Arbeitsgruppen und einer ausführlichen Anhörung stel-





Dr. Maria Flachsbarth


(A) (C)



(D)(B)


len wir nun die in Bezug auf die Photovoltaik überarbei-
tete Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Ple-
num zur Abstimmung.

Dass es einen Handlungsbedarf für eine Novellierung
gibt, daran besteht wohl auch in dieser Runde kein Zwei-
fel. Nach einem Ausbau um 7 400 Megawatt im Jahr
2010 und um 7 500 Megawatt im Jahr 2011 müssen wir
miteinander erkennen, dass hier eine Marktüberhitzung
vorliegt, dass wir also handeln müssen.

Weil ich das Argument schon kenne, dass wir mit ei-
ner Novelle Arbeitsplätze in Gefahr bringen – es ist in
der letzten Debatte auch schon gefallen –, muss ich Ih-
nen sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das EEG ist
weder ein Instrument zur Gefährdung noch eines zur
Rettung von Arbeitsplätzen,


(Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ CSU])


sondern ein Instrument zur Markteinführung erneuerba-
rer Energien. Deshalb würde ich darüber jetzt auch gern
sprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn wir eine Marktüberhitzung tatsächlich zurück-
führen wollen und auf einen nachhaltigen Aufbaupfad
kommen wollen, dann ist es notwendig, die Vergütungen
abzusenken. Genau das machen wir. Zum einen ziehen
wir die bereits erwartete Absenkung zum 1. Juli dieses
Jahres um 15 Prozent auf den 1. April vor, und zum an-
deren legen wir eine nochmalige Degression um 5 bis
15 Prozent obendrauf, weil der Preisverfall auf dem
Markt aufgrund des ruinösen Wettbewerbs durch chine-
sische Hersteller so ist, wie er ist.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Darum machen Sie das in Deutschland kaputt!)


Wir achten aber darauf – in Modifizierung des Regie-
rungsentwurfs –, dass diejenigen Investoren, die im Ver-
trauen auf die bestehende Gesetzeslage Geld in die Hand
genommen haben, keine gestrandeten Investments hin-
nehmen müssen, sondern dass sie die Projekte, die sie in
Angriff genommen haben, auch noch realisieren können.
Wir haben also letztendlich Übergangsregelungen unter-
schiedlicher Art – je nach Anlagenart – geschaffen, und
zwar für einfache Dachanlagen bis zum 1. April und für
große Freiflächenanlagen, die auf einer Konversionsflä-
che errichtet werden und für deren Installation entspre-
chende Vorarbeiten notwendig sind, bis zum 30. Sep-
tember. Ich glaube, dass wir damit all denen, die im
Vertrauen auf die geltende Rechtslage gehandelt haben,
ein sehr, sehr faires Angebot machen.

Einen zweiten wichtigen Punkt haben wir in dem Ge-
setzentwurf, so wie wir ihn jetzt dem Plenum vorlegen,
berücksichtigt: Wir wollen den Investoren darüber hi-
naus auch in Zukunft Planungssicherheit verschaffen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wie denn? – Jan Korte [DIE LINKE]: Reden Sie mal mit den Unternehmen!)


Das haben wir erreicht, indem wir die zunächst vorgese-
henen Verordnungsermächtigungen, mit denen die Bun-
desregierung auf entsprechende Marktentwicklungen re-
agieren wollte, zurückgenommen und im Gesetzentwurf
fixiert haben, nach welchen Maßgaben sich die Vergü-
tung tatsächlich richtet, damit das für jeden einsehbar
und von vornherein klar ist. Deshalb haben wir den at-
menden Deckel fortentwickelt, den es auch im derzeit
geltenden Gesetz gibt,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den hat der Kollege Fell erfunden! Den hat Hans-Josef Fell erfunden!)


und zwar unter der Maßgabe einer kontinuierlichen De-
gression zwischen 11 Prozent bei einem Ausbau im Rah-
men des Korridors – also zwischen 2 500 und 3 000 Me-
gawatt – und 29 Prozent ab einem Ausbau von 7 500
Megawatt. Denn wir sind doch gemeinsam der Meinung,
dass wir eine solche Größenordnung nicht wollen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der nächste Kritik-
punkt, mit dem wir uns im Rahmen der Beratungen in-
tensiv auseinandergesetzt haben, betraf die Absenkung
des Korridors. Da kam die Frage auf: Die wollen gar
nicht mehr PV-Installationen in diesem Land. Wie kom-
men die dann auf die Zahlen, die sie eigentlich wollen,
bis 2020 letztendlich 52 Gigawatt? – Das ist insofern zu
erklären, als in vielen Bereichen schon Netzparität er-
reicht ist und es also wirklich interessant ist, eine PV-
Anlage auf dem Dach oder einer Freifläche zu installie-
ren, wenn man denn weiß, wofür man den Strom nutzen
will. Nicht mehr jede produzierte Kilowattstunde ist also
als solche eine gute Kilowattstunde, sondern die Erneu-
erbaren – insbesondere die Photovoltaik – müssen jetzt
Kunden für ihr Produkt finden.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie verwechseln gerade Kapazität und Leistung! Das ist für eine Umweltpolitikerin peinlich! Das sind zwei physikalische Größen!)


Das ist völlig in Ordnung; das wollen wir. Deswegen
muten wir das der Branche auch zu und sagen: Bei
Dachanlagen bis 10 Kilowatt ist es vernünftig, bis zu
20 Prozent in den Eigenverbrauch zu gehen,


(Rolf Hempelmann [SPD]: Was hat denn die Anhörung dazu ergeben?)


und bei größeren Anlagen bis 1 000 Kilowatt kann man
bis zu 90 Prozent in den Eigenverbrauch gehen. Damit
haben wir letztendlich einen Hebel in der Hand und kön-
nen sagen: Wer eine solche Anlage betreibt, der muss
auch wissen, von wem der Strom abgenommen werden
soll.

Ich glaube, dass wir dadurch sehr innovative Projekte
auf den Weg bringen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist keine Glaubensfrage, Frau Flachsbarth!)


Denn ich kann mir vorstellen, dass Gewerbetreibende,
Landwirte, Einzelhändler es natürlich interessant finden,
ihren eigenen Strom zu geringeren Kosten zu produzie-





Dr. Maria Flachsbarth


(A) (C)



(D)(B)


ren, als sie aufbringen müssten, wenn sie ihn aus dem
Netz holten.

Darüber hinaus haben wir neue Modelle bezüglich ei-
nes modifizierten Grünstromprivilegs eingeführt, sodass
der Mieter den Vermietern oder auch den nächsten Nach-
barn den Strom zu sehr, sehr günstigen Preisen verkau-
fen kann, ohne dass das öffentliche Netz genutzt werden
muss. Ich glaube, dass wir diesbezüglich tatsächlich auf
einem sehr guten Weg sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben darüber
hinaus – das möchte ich hier noch erwähnen – in Bezug
auf die Speicherförderung einen Schritt in die richtige
Richtung gemacht. Wir haben nämlich Speicher von der
EEG-Umlage befreit. Das ist vernünftig, um einen An-
reiz für den Bau von großen Speichern, die wir im Zuge
der Energiewende brauchen, zu schaffen. Und wir haben
im Umweltausschuss einen Antrag eingebracht, der die
Bundesregierung dazu auffordert, bis Oktober konkrete
Vorschläge für ein Programm zur Markteinführung für
Speicher vorzulegen und die Forschung in diesem Be-
reich zu intensivieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Oktober welchen Jahres? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher soll das Geld kommen?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin überzeugt
davon, dass wir mit der Novelle zum Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetz, insbesondere mit der Förderung der Photo-
voltaik, einen richtigen Schritt in die Zukunft gemacht
haben. Ich bin davon überzeugt, dass die Photovoltaik
eine starke Säule der Energiewende bleiben wird und
dass es bei uns einen nachhaltigen Ausbau der Photovol-
taik geben wird.

Herzlichen Dank für Ihre Zustimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717214900

Das Wort hat nun der Wirtschaftsminister des Landes

Thüringen, Matthias Machnig.


(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717215000

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Im letzten Jahr ist in diesem Hause intensiv über die
Energiewende diskutiert worden. Auch im Bundesrat
wurde darüber debattiert. Ich habe immer genau zuge-
hört, wenn beispielsweise Herr Röttgen oder andere Ver-
treter der Koalitionsfraktionen gesprochen haben. Was
war deren Botschaft? Wir brauchen ein Gemeinschafts-
werk, hieß es. Wir brauchen eine gute Koordination des-
sen, was wir tun. Heute zeigen Sie, dass Sie zu einem
Gemeinschaftswerk nicht in der Lage sind. Ein Gemein-
schaftswerk braucht nämlich eines: einen breiten politi-
schen Konsens in den einzelnen Bereichen, auch wenn
es um eine Schlüsselbranche wie die Solarindustrie geht.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen eines voraus: So falsch es war, den Ver-
such zu wagen, wieder in die Kernenergie einzusteigen,
um danach wieder auszusteigen, so falsch ist es jetzt, den
Konsens, den man im Bundestag und auch mit den Län-
dern herbeiführen könnte, zu gefährden. Dazu kann ich
nicht raten; denn wir werden ihn in den nächsten Jahren
brauchen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will eine kleine Geschichte erzählen; denn man
lernt aus Konkretem. Auf Einladung des Bundeswirt-
schaftsministers, Herrn Rösler, war ich im Januar beim
Konjunkturrat. In diesem Gremium, das im Wachstums-
und Stabilitätsgesetz vorgesehen ist, berät der Bundes-
wirtschaftsminister mit den Wirtschaftsministern der
Länder. Wir haben über Konjunktur und Energie geredet.
Ich bin seit 30 Jahren in der Politik aktiv, aber ich habe
noch nie erlebt, dass übereinstimmend festgestellt wor-
den ist – Herr Zeil, ein Vertreter der FDP, hat damit be-
gonnen –, dass wir im Bereich der Energiepolitik endlich
eine vernünftige Koordination in Deutschland brauchen.
Diese Auffassung wurde von allen Vertretern, ob CDU,
ob CSU, ob FDP, ob Grüne, ob Linkspartei, ob SPD, ge-
teilt. Das macht deutlich, was wir in den nächsten Jahren
brauchen.

Vonseiten der Länder haben wir Herrn Röttgen und
Herrn Rösler immer wieder signalisiert: Sprecht doch
einmal mit uns!


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sprechen ja nicht mal untereinander!)


Wir kennen die Industrie.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber nicht durch Ihre Arbeit!)


In Thüringen gibt es mehr als 5 000 Arbeitsplätze in der
PV-Industrie. Sprecht doch einmal mit uns! Man hätte
klüger werden können und die eine oder andere Ent-
scheidung anders getroffen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage deshalb auch hier: Wenn man heute über den
vorliegenden Gesetzentwurf entscheidet, muss man vier
Antworten darauf geben, warum man das macht. Man
muss eine energiepolitische Antwort geben, man muss
eine investitionspolitische Antwort geben, man muss
eine industriepolitische Antwort geben, und man muss
eine preispolitische Antwort geben. Dazu mache ich ei-
nige Bemerkungen.

Erstens zur Energiepolitik. Die PV-Industrie ist der
Energieträger mit der höchsten Akzeptanz aller Energie-
träger in Deutschland. 96 Prozent unterstützen diesen
Energieträger. Ich kenne keinen anderen Energieträger,
der eine so hohe Akzeptanz findet. Wenn wir etwas für
die Realisierung der Energiewende brauchen, dann Ak-





Minister Matthias Machnig (Thüringen)



(A) (C)



(D)(B)


zeptanz und ein Konsens darüber, welche Energieträger
wir in den nächsten Jahren einsetzen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Entscheidend ist auch: PV stärkt dezentrale Strukturen.
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sagen, das solle alles
dezentral ablaufen. Wir brauchen in den nächsten Jahren
ein ausgewogenes Verhältnis von dezentralen und zen-
tralen Strukturen. Wir brauchen aber auch dezentrale
Angebote, und da ist die Photovoltaik von ganz entschei-
dender Bedeutung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Sie müssen mir einmal eines erklären: Wenn Sie im
Jahr 2020 einen Anteil der erneuerbaren Energien von
35 Prozent erreichen wollen, Sie aber beim Bereich Off-
shorewind nicht vorankommen – und in anderen Berei-
chen auch nicht –, dann werden wir die Photovoltaik
brauchen, um das Ziel zu erreichen. Das ist die Wahrheit.
Man muss sich dazu bekennen oder die Ziele entspre-
chend anpassen; eines von beiden geht nur.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens zur Investitionspolitik, einem Thema, das
mir ganz besonders wichtig ist. Für die Energiewende
brauchen wir in den nächsten Jahren massive Investitio-
nen im Bereich der Netze, aber auch im Bereich der fos-
silen Energieträger. In diesem Zusammenhang stelle ich
fest: Die Vorgänge, die sich derzeit in der Solarbranche
abspielen, werden nicht auf die Solarbranche beschränkt
bleiben. Reden Sie doch einmal mit Energieunterneh-
men! Ich jedenfalls mache das.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch!)


Sie sagen: Diese Bundesregierung verunsichert die
Märkte, sie schafft keine klaren Rahmenbedingungen –
nicht nur in der Solarindustrie, sondern auch in anderen
Bereichen. Das ist ein Riesenproblem für die Energie-
wirtschaft; denn wir brauchen in den nächsten Jahren In-
vestitionen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Sie haben sich nicht geändert, Sie Schlaumeier!)


Das ist die Wahrheit. Deshalb sage ich: Wir brauchen
klare Rahmenbedingungen. Ich hoffe, dass das gelingt.

Das dritte Thema ist die Industriepolitik. Auch hier
will ich Ihnen einen Hinweis geben. Wer sich die Zahlen
im Hinblick auf die deutschland- und weltweit instal-
lierte Leistung anschaut, wird Folgendes feststellen: Im
Jahre 2011 wurden knapp 28 Gigawatt Photovoltaikleis-
tung verbaut, davon 7,5 Gigawatt in Deutschland. 2010
lag dieser Wert noch bei 50 Prozent. Was ist passiert?
Die internationalen Märkte springen an. Wir haben die
Photovoltaik ja nicht nur gefördert, weil wir sie inlän-
disch nutzen wollen, sondern auch, weil sie für deutsche

Unternehmen eine Riesenexportchance bedeutet, vo-
rausgesetzt, dass diese Unternehmen noch existieren. Ich
möchte gerne, dass die Unternehmen existieren, damit
sie die Chancen auf den internationalen Märkten nutzen
können.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man sich die Zahlen vergegenwärtigt – 20 Mil-
liarden Euro Umsatz, Investitionen in Höhe von
19,5 Milliarden Euro im Jahre 2010, 70 Prozent aller In-
vestitionen im Bereich der Erneuerbaren in der Photo-
voltaikbranche – und ein bisschen volkswirtschaftlich
denkt, wird deutlich, dass diese Branche industriepoli-
tisch ein sehr wichtiger Faktor ist. Das ist gerade für
Thüringen und die anderen neuen Bundesländer essen-
ziell. Wir haben hier eine der wenigen Branchen mit Zu-
kunftspotenzial aufbauen können. Entstanden ist dies im
sogenannten Solar Valley, einem der größten Solarclus-
ter der Welt.

Jetzt erleben wir, dass Maßnahmen auf den Weg ge-
bracht werden, die de facto zu einer Unterstützung chi-
nesischer Solarhersteller führen; das ist die Konsequenz
aus Ihrer Politik.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das gefährdet 30 bis 40 Prozent aller industriellen Ar-
beitsplätze, sagt die Branche; das müssen wir im Auge
behalten.

Es handelt sich hier um eine industriepolitische, inno-
vationspolitische und strukturpolitische Schlüsselauf-
gabe, die wir in den nächsten Jahren angehen müssen.
Das sage ich insbesondere als Minister eines neuen Bun-
deslandes. Ich bitte Sie darum, einmal neu darüber nach-
zudenken. In Frankreich wird zum Beispiel gerade über
eine Local-Content-Klausel diskutiert. Vielleicht ist das
ja nur Wahlkampfgeklingel, weil Herr Sarkozy im Wahl-
kampf steckt; ich weiß es nicht genau.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Und der andere ist nicht im Wahlkampf? Das ist ja lächerlich!)


– Ich bin nicht im Wahlkampf, sondern Sie, Herr
Lindner. Ich war einmal im Wahlkampf. Wir haben ge-
gen Sie gewonnen; das war das Schöne.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der FDP)


– Ist ja gut. Wir kommen schon noch; macht euch mal
keine Sorgen. 2 Prozent ist ja nicht so sehr stark.

Ich will auf Folgendes hinaus: In anderen Ländern
wird ernsthaft darüber diskutiert, wie man Industriepoli-
tik macht, um die Branche zu unterstützen. Frankreich
habe ich bereits genannt; auch Italien hat eine Local-
Content-Klausel, ebenso Kanada. Wir sollten ernsthaft
darüber diskutieren, ob es nicht auch in Deutschland
eine Local-Content-Klausel geben sollte, um diese
Schlüsselindustrie, die wir im 21. Jahrhundert brauchen,
voranzubringen.





Minister Matthias Machnig (Thüringen)



(A) (C)



(D)(B)


Mit Blick auf den vorliegenden Gesetzentwurf will
ich eines sagen: Es gibt seit dem 23. März eine positive
Entwicklung; das will ich ausdrücklich festhalten. Ich
finde es gut, dass die Verordnungsermächtigungen ge-
strichen worden sind. Meine Vermutung aber ist die Fol-
gende: Sie sind ohnehin nur hineingeschrieben worden,
damit die Fraktionen sie wieder herausstreichen können.


(Dirk Becker [SPD]: Genau das ist der Punkt! – Ulrich Kelber [SPD]: Billiges Theater! Der Abteilungsleiter lacht doch schon!)


Das ist meine Vermutung, das kann ich natürlich nicht
beweisen.


(Christian Hirte [CDU/CSU]: Sie dürfen nicht von sich auf andere schließen!)


Ich finde, dass sich die Übergangsfristen verbessert ha-
ben; das unterstütze ich sehr. Ich halte auch das eine oder
andere Element für richtig, zumindest ist es ein Schritt in
die richtige Richtung. In der Substanz aber kann dieser
Gesetzentwurf nicht so bleiben. Wir brauchen weitere
Schritte; sie sind dringend notwendig. Da will ich einige
Dinge ansprechen.

Ich halte das Festhalten am Deckel von 3 500 Mega-
watt für falsch, weil doch eines klar ist: Nur wenn es uns
gelingt, eine Economy of Scale aufzubauen, werden wir
in der Lage sein, die Kostendegression in den nächsten
Jahren voranzutreiben. Die Kostendegression bei der
Photovoltaik muss doch im Zentrum stehen, damit wir
schnell wettbewerbsfähige Preise haben.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717215100

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus

der CDU/CSU-Fraktion?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717215200

Ja, am Ende, wenn ich so weit bin.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717215300

Dann ist es ja keine Zwischenfrage mehr. Jetzt oder

nie!


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717215400

Bitte schön.


Christian Hirte (CDU):
Rede ID: ID1717215500

Sehr geehrter Herr Minister Machnig, wollen Sie zur

Kenntnis nehmen, dass wir uns in einer Weltmarktsitua-
tion befinden, in der das Angebot in der Solarbranche
sehr stark die Nachfrage übersteigt, etwa um das Dop-
pelte? Wollen Sie außerdem bitte zur Kenntnis nehmen,
dass wir, wenn Sie schon davon sprechen, die Industrie
zu schützen, auch sichere Rahmenbedingungen schaffen
wollen? Wenn Sie gerade verkünden, dass der Gesetz-
entwurf in seiner Ausprägung aus Ihrer Sicht nicht aus-
reichend ist, erweckt das den Anschein, dass Sie dem auf
Länderebene nicht zustimmen wollen, –


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717215600

Das ist so, ja.


Christian Hirte (CDU):
Rede ID: ID1717215700

– was hieße, dass gegebenenfalls für Monate eine

rechtsunsichere Lage entsteht


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Herbeigeführt wird!)


und Sie damit der Branche eventuell einen Bärendienst
erweisen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717215800

Ich finde, das ist ein tolles Argument. Dann will ich

einmal ein anderes Beispiel nennen: Im weltweiten Au-
tomobilmarkt haben wir seit Jahren Überkapazitäten. Es
käme in Deutschland niemand auf den Gedanken, die
deutsche Automobilindustrie wegen weltweiter Überka-
pazitäten zu schwächen. Niemand käme auf diesen Ge-
danken!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Brand [CDU/CSU]: Armes Thüringen!)


– Das ist doch die Wahrheit. Wir haben im Übrigen in
der Großen Koalition in einer schwierigen konjunkturel-
len Lage – das war auch nicht unumstritten – ein Pro-
gramm zur Steigerung der Nachfrage nach neuen Fahr-
zeugen geschaffen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist ein lobbyistischer Veitstanz, der hier aufgeführt wird!)


– Ja, das ist klar. Das müssen Sie gerade sagen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie sind alle Lobbyisten!)


– Ja, wir sind alle Lobbyisten. Vielen Dank. Das sagt mir
jemand von der FDP.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717215900

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kurth von der FDP? Das verlängert Ihre Rede-
zeit.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717216000

Ja, gerne.


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1717216100

Herr Minister, die Ostthüringer Zeitung vom heutigen

Tage – sie kommt aus Ihrem Bundesland – schreibt: So-
larzellenproduktion wächst immer noch. Unterüber-
schrift: Fachzeitschrift prognostiziert weitere Verlage-
rung nach Fernost und anhaltende Dominanz der
chinesischen Hersteller.





Patrick Kurth (Kyffhäuser)



(A) (C)



(D)(B)



(Ulrich Kelber [SPD]: Ja, weil sie eure Gesetze kennen! Mein Gott!)


Unter den Top 10 der Solarzellenproduzenten findet man
inzwischen sechs Chinesen. Ich frage Sie, inwieweit Sie
mit der EEG-Novelle, die Sie eventuell einbringen wol-
len, diesem Trend in der Produktion – nicht in der Inno-
vation – entgegenwirken?

Eine zweite Frage: Können Sie mir, wenn Sie der
Auffassung sind, dass die Automobilproduktion trotz
weltweiter Nachfrage überdimensioniert ist, erklären,
wie viele Millionen Sie Opel Eisenach in diesem oder
auch im letzten Jahr überwiesen haben?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717216200

Das kann ich gerne machen. Wir können in Thüringen

weiter darüber diskutieren. Auch dafür stehe ich ein. Bei
Opel Eisenach werden im Übrigen gerade 200 Millionen
Euro investiert, um eine neue Produktlinie, ein neues
Produkt aufzubauen. Das, was wir da tun, ist richtig und
auch regionalpolitisch sehr vernünftig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir können doch nicht die Entscheidung treffen, die
weltweiten Überkapazitäten zulasten der deutschen
Standorte abzubauen. Das ist keine Wirtschaftspolitik;
das ist gar nichts, überhaupt nichts.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist Untergangsgezucke!)


Das Zweite ist: Ich glaube, dass wir bei den Förder-
sätzen ab dem 1. April zu viel tun. Ich bin für die De-
gression; das sage ich hier ganz klar. Mir geht es um ihre
Höhe.


(Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP] nimmt wieder Platz – Ulrich Kelber [SPD], an Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP] gewandt: Das ist schon noch die Antwort! Ein Benehmen! – Christian Lange [Backnang] [SPD], an Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP] gewandt: Bleiben Sie stehen, bitte! Aufstehen!)


Das Thema ist auch nicht unstrittig. Ich war einmal im
Bundesumweltministerium; da haben wir auch eine De-
gression vorgenommen. Die Frage ist, wie hoch die De-
gression ist.

Die höchste Wertschöpfung hat die deutsche Solar-
industrie im Bereich kleinerer Anlagen, die auf den Dä-
chern installiert werden. Wir sollten deswegen Regelun-
gen suchen, damit gerade dieses Marktsegment, in dem
wir bei deutschen Herstellern die größte Wertschöpfung
haben, gefördert wird. Dort sollten wir die Vergütungs-
sätze nicht absenken, sondern sogar leicht steigern. Das
ist meine Position in der Sache.


(Beifall bei der SPD)


Mein letzter Punkt. Ich würde gerne darüber spre-
chen, wie wir Regelungen finden können, um wieder für
mehr Planungssicherheit zu sorgen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717216300

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717216400

Ich weiß, ich will nur noch einen Gedanken ausfüh-

ren. – Ich glaube nicht daran, dass das Modell des at-
menden Deckels in dieser Form funktioniert. Das schafft
mehr Unsicherheit als Sicherheit.


(Zuruf von der SPD: So ist das!)


Deswegen sollten wir zu der Regelung zurückkehren,
dass es zu bestimmten Stichtagen klar definierbare Ab-
senkungen der Einspeisevergütung gibt. Ich glaube, es
wäre vernünftig – da gibt es durchaus eine Diskrepanz
zwischen der SPD-Bundestagsfraktion und einem Län-
dervertreter –, die Degression, die wir ohnehin im EEG
für 2012 beschlossen haben, zum 1. Juli einzuführen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717216500

Herr Minister, Sie müssen zum Schluss kommen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717216600

Ein letzter Satz. – Mir ist eines wichtig: Ich und

meine Landesregierung, wir wünschen uns – das kann
ich in Übereinstimmung mit meiner Ministerpräsidentin
sagen, die der CDU angehört –, dass wir über den Bun-
desrat die Chance bekommen, im Vermittlungsausschuss
noch einmal über das Paket zu reden.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Das möchte ich gerne, weil ich glaube, dass dies eine
Chance ist, zu einem breiteren Konsens in der Sache zu
kommen, den wir brauchen. Es muss der Grundsatz gel-
ten: –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717216700

Herr Minister, Sie müssen zum Schluss kommen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717216800

– Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Wir alle sollten

uns ein bisschen ändern.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD – Christian Hirte [CDU/ CSU]: Sie schaden der Branche!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717216900

Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1717217000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Machnig ist ja ein importierter Landesminister.





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)



(Lachen des Landesministers Matthias Machnig [Thüringen])


Er ist aus Berlin importiert, wo er Staatssekretär war. Als
Staatssekretär im Umweltministerium war er federfüh-
rend für das EEG 2009 zuständig.


(Dirk Becker [SPD]: Die Kanzlerin war aber auch daran beteiligt!)


Damals hat Herr Gabriel gemeinsam mit Herrn Machnig
einen Zielkorridor für die Photovoltaik von 1 200 bis
1 900 Megawatt für das Jahr 2011 beschlossen.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das hat das Parlament beschlossen! – Dirk Becker [SPD]: Das hat Frau Reiche für die CDU verhandelt!)


Diese Koalition hat diesen Zielkorridor in etwa verdop-
pelt. Der Ausbau war dann noch einmal doppelt so hoch.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Eine falsche Behauptung wird durch Wiederholung nicht richtig!)


Das ist die Wahrheit. Schauen Sie doch ins Gesetz. Der
atmende Deckel, der gerade kritisiert wurde,


(Dirk Becker [SPD]: Das hat die Union mit Frau Reiche damals verhandelt!)


wurde in das EEG 2009 sozusagen in einer Kurzfassung
eingeführt. Basis für die Degression 2011 ist ein Anla-
genzubau von 1 900 Megawatt als Obergrenze und
1 200 Megawatt als Untergrenze. Das kann jeder gerne
auf seinem iPhone nachlesen. Die ganze Diskussion ist
scheinheilig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Kleinere Ziele, aber bessere Ergebnisse!)


Als er Staatssekretär war, waren es 1 900 Megawatt.
Jetzt soll es keine Obergrenze geben, nur weil es viel-
leicht einen Hersteller gibt, den er hier als Landesminis-
ter vertritt. Das mag ja legitim sein, aber das ist keine
verantwortliche Politik für das ganze Land.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Lernen Sie sich einmal zu benehmen am Rednerpult!)


Die Mengen sind zwei Jahre hintereinander doppelt
so hoch gewesen, wie es das Gesetz vorsieht.


(Ulrich Kelber [SPD]: Schlimm! Da muss man sofort eingreifen!)


Es wäre ja schön, wenn sich das aus dem Markt heraus
entwickelt hätte, aber es ist doch nur deswegen so ge-
kommen, weil die Preise für die Solaranlagen schneller
gesunken sind als die Vergütung.


(Ulrich Kelber [SPD]: Ganz schlimme Entwicklung! Aber Ironie kommt im Protokoll ja nicht rüber!)


Wenn die Preise für die Anlagen schneller sinken als die
Vergütung, dann machen sich diejenigen, die die Anla-
gen aufbauen, die Taschen voll, und die Rechnung wird

dem Endverbraucher präsentiert. Das will die SPD fort-
führen; das ist der Punkt. Das ist unsoziale Politik: Ei-
nige machen sich die Taschen voll, und andere müssen
es bezahlen. Das machen wir nicht mit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Das war allerhöchstens Pflichtbeifall!)


Wenn die Preise für Anlagen sinken, dann finden wir
das gut, weil das technischen Fortschritt bedeutet. Das
genau ist es, was wir mit dem Erneuerbare-Energien-Ge-
setz erreichen wollen: dass Anreize für Innovationen ge-
schaffen werden und die Kosten durch hohe Stückzahlen
sinken. Wenn die Kosten sinken, dann muss aber auch
die Vergütung sinken. Ansonsten wäre das aus meiner
Sicht gegenüber dem Normalbürger in unserem Land,
der am Schluss die Rechnung bezahlt, nicht vertretbar.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den belasten Sie doch zugunsten der Industrie!)


Deshalb müssen wir auch bei der Menge zu einem Um-
denken kommen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Beim Einzelhandel hat das Kabinett gerade den Verkauf unter Einstandspreis verboten!)


Eine Energiewende bedeutet, dass wir das gesamte
Energiesystem in einem gewissen Zeitrahmen auf erneu-
erbare Energien umstellen wollen. Dann müssen die er-
neuerbaren Energien aber nicht nur Masse, sondern auch
Qualität im Netz liefern. Deshalb brauchen wir einen
Energiemix der verschiedenen Formen der erneuerbaren
Energien. Für das Energiesystem ist es nicht gut, wenn
wir auf der einen Seite auf Teufel komm raus die Solar-
industrie subventionieren und wenn auf der anderen
Seite andere Technologien keinen Raum haben.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche denn?)


– Beispielsweise die Solarthermie. Investitionen in die-
sem Bereich haben seit dem Boom der Photovoltaik
nachgelassen, weil es sich eben mehr lohnt, eine Photo-
voltaikanlage auf dem Dach zu installieren als eine So-
larthermieanlage.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was tun Sie denn für die Solarthermie? Sagen Sie mir, was Sie für die Solarthermie tun!)


Deshalb müssen wir beim Ausbau der Versorgung durch
erneuerbare Energie zu einer Nachhaltigkeit kommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wenn uns hier suggeriert wird, bei der Vergütungs-
höhe ginge es um die Wettbewerbsfähigkeit der deut-
schen Solarindustrie, dann geht das leider völlig am
Thema vorbei. Die deutschen Solarunternehmen stehen
in Konkurrenz zu den Chinesen, egal wie hoch die Ver-
gütung ist. Deutsche Verbraucher, die sich eine Solar-
anlage auf das Dach bauen, entscheiden nach Preis und
Qualität, ob sie eine deutsche oder eine chinesische An-





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


lage kaufen. Wenn man nicht billiger ist als die Chine-
sen, dann muss man besser sein als die Chinesen. Das
heißt, dann muss man mehr Qualität liefern. Nur so wer-
den die deutschen Solarunternehmen in diesem Land
eine dauerhafte und gute Zukunft haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich höre immer wieder, wir brauchten eine Local-
Content-Klausel. Was bedeutet denn Local Content?
Local Content bedeutet: Ihr dürft hier nur dann eure So-
laranlagen verkaufen und die entsprechende Vergütung
erhalten, wenn ihr hier produziert. – Wenn wir diese Lo-
gik auf alle Branchen der Wirtschaft ausweiten, dann ist
das das Ende der Exportnation Deutschland. Das macht
den Freihandel kaputt. Das, was hier gefordert ist, ist ge-
gen die deutschen Interessen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es gibt nicht nur die Solarbranche; es gibt auch andere
Arbeitsplätze in der Industrie, und die vergessen Sie an
dieser Stelle. Ich muss sagen: Ich finde das beschämend,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Beschämend ist das, was ihr bei Schlecker macht!)


gerade vor dem Hintergrund der nordrhein-westfälischen
Situation, nämlich wenn uns Ministerpräsidentin Kraft
aus Nordrhein-Westfalen immer wieder sagt: „Wir müs-
sen die industriellen Kerne erhalten“, und dann Vor-
schläge gemacht werden, die am Schluss den Freihandel
zunichtemachen, aufgrund dessen diese Unternehmen
auf dem Weltmarkt bestehen. Das ist das Gegenteil von
kluger Industriepolitik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717217100

Das Wort hat nun Dorothée Menzner für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717217200

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! 16 Gigawattstunden – das war gestern zwi-
schen 12 und 13 Uhr in der Mittagszeit die Strommenge,
die Solaranlagen in Deutschland produziert haben.
16 Gigawattstunden entsprechen dem Jahresverbrauch
von 4 500 Haushalten. Für diesen sauberen Strom wurde
keine Kohle, kein Öl und kein Uran verbraucht und folg-
lich auch kein CO2 freigesetzt. Für diejenigen, die auf
Atomkraft stehen: Bei Atomstrom wären dafür 11,3 Kilo
Atommüll angefallen.

Zur gleichen Zeit mussten die vier großen Energie-
konzerne trotz Spitzenlastzeit fossile Großkraftwerke he-
runterregeln, und zur gleichen Zeit ist der Strompreis an
der Börse, der morgens um 9 Uhr noch 5 Cent je Kilo-
wattstunde betrug, wegen des hohen Angebots an erneu-
erbaren Energien auf 2,5 Cent gefallen. Dass das die vier
großen Stromkonzerne Eon, RWE und Co. nicht beson-
ders freut, die bisher in der Mittagszeit ihre größten Ge-
winne gemacht haben, ist vollkommen klar. Die Preise
sind gesunken; hier können sie keine Gewinne mehr ma-

chen. Nur so viel zu dem Märchen, man müsse aus Ver-
braucherschutzgründen den Zubau an Solaranlagen dros-
seln.


(Beifall bei der LINKEN)


Das hat etwas mit der Preisbildung zu tun und nicht da-
mit, dass dies für den Verbraucher so teuer wäre.

Wir beraten heute abschließend einen Gesetzentwurf,
der in Berlin Tausende von Mitarbeitern der Solarbran-
che zu Protesten auf die Straße gebracht hat. Dieser Ge-
setzentwurf ist fatal, selbst wenn man die Änderungen
– zum Teil waren das tatsächlich Verbesserungen – der
letzten 48 Stunden einrechnet. Daran wird aber auch
deutlich, mit welch heißer Nadel diese Koalition strickt.

Dass die Bundesregierung den Zubau von Solaranla-
gen begrenzen will, ist aus ihrer Sicht logisch; das muss
ich zugestehen. Die vier großen Energiekonzerne haben
schlicht und ergreifend den Zug der Zeit verpasst. Sie
kommen nicht hinterher und realisieren jetzt, dass ihr
Monopol allmählich bröckelt, weil die Bürgerinnen und
Bürger selbst zu Stromproduzenten werden. Das kann
Konzernlobbyisten nicht gefallen.

Die Koalition legt mit ihren Änderungen des Erneuer-
bare-Energien-Gesetzes seit 2009 ein Hü und Hott an
den Tag, das jeden Verbraucher, aber auch die Industrie
unnötig verunsichert. Wer heute eine PV-Anlage plant,
weiß nicht, mit welchem Satz er den eingespeisten
Strom in einigen Monaten vergütet bekommt. So dreht
man einer Branche den Hahn ab.

Das Erneuerbare-Energien-Gesetz allein ist natürlich
nicht dazu in der Lage, die Photovoltaikbranche in die-
sem Land wettbewerbsfähig zu halten. Dazu gehört noch
sehr viel mehr. Dazu gehört zum Beispiel Industriepoli-
tik.


(Beifall bei der LINKEN)


Öffentliche Bürgschaften gehören dazu, Zertifizierungs-
pflichten, Recyclingregelungen oder auch die Förderung
von Forschung und Entwicklung. Bei all dem herrscht
aber Fehlanzeige. Wenn wir nachfragen, heißt es immer,
dafür sei kein Geld da, das sei zu teuer.

Ich kann nur sagen: Ganz stimmen kann das nicht.
Entwicklungshilfe und internationale Zusammenarbeit
sind etwas sehr Sinnvolles; sie finden unsere Unterstüt-
zung. Wenn man sich hier hinstellt und sagt, dass für die
Solarindustrie kein Geld da sei, es aber woanders aus-
gibt, dann ist das absurd. Yingli – das ist ein chinesischer
Solarhersteller, einer der größten weltweit – macht fast
die Hälfte seines Umsatzes in Deutschland. Das Unter-
nehmen kassierte einen 25-Millionen-Kredit der Deut-
schen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft, einer
Tochter der öffentlich-rechtlichen KfW. Yingli geht es
nicht besonders schlecht. Das Unternehmen hat große
Werke, macht Umsatz und Gewinn, so viel, dass das Un-
ternehmen sogar einer der Sponsoren des FC Bayern
München ist.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Da schau her!)






Dorothée Menzner


(A) (C)



(D)(B)


Wenn die KfW außerdem einen zinsgünstigen Kredit
über 75 Millionen Euro an die chinesische Staatsbank
gibt, die das Geld dann unter anderem an die größten
Konkurrenten der deutschen Unternehmen in der Solar-
wirtschaft weiterreicht, dann darf man diese Regierung,
so finde ich, getrost fragen, wieso keine Gelder da sind,
um die deutsche Industrie in den Bereichen Forschung
und Entwicklung zu unterstützen.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Kauch [FDP]: 100 Millionen! Forschungsallianz!)


Wieso ziehen sie sich immer wieder mit dem Argument,
dass kein Geld da ist, zurück, und wieso versäumen Sie
es, Industriepolitik zu machen?


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717217300

Frau Kollegin, würden Sie bitte zum Schluss kom-

men?


Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717217400

Sie würgen eine ganze Branche ab.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717217500

Das Wort hat nun Hans-Josef Fell für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(Judith Skudelny [FDP]: Die Lobby spricht! – Gegenruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer kräht da?)



Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717217600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Diese Gesetzesnovelle ist ein heftiger Schlag
gegen die erfolgreiche und innovative Solarbranche.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Schwarz-Gelb kennt kein Erbarmen mit den Arbeiterin-
nen und Arbeitern in dieser Branche, obwohl in den letz-
ten Wochen weitere Solarfirmen Insolvenz und Kurz-
arbeit anmelden mussten.


(Christian Hirte [CDU/CSU]: Vor der Novellierung!)


Ihre radikalen und überzogenen Vergütungskürzungen
werden, verbunden mit einer fehlenden Industriepolitik,
weitere Insolvenzen verursachen. Deswegen werden wir
Grünen Ihrer Gesetzesnovelle nicht zustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Christian Hirte [CDU/CSU]: Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun!)


Wir brauchen diese Branche, wenn wir den Atomaus-
stieg schultern wollen. Statt einer drastischen Zubaube-
schränkung, die Sie in Ihrem Gesetz vorsehen – sogar
die Planzahlen sind geringer –, benötigen wir einen ver-
stärkten Zubau im Bereich der erneuerbaren Energien.
Sie wollen angeblich die Kosten senken. Sie erhöhen
aber die Belastung der Sozialkassen, indem Sie immer

mehr Insolvenzen, Kurzarbeiter und Arbeitslose schaf-
fen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717217700

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Hirte von der CDU/CSU-Fraktion?


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717217800

Gerne, Herr Kollege Hirte.


Christian Hirte (CDU):
Rede ID: ID1717217900

Sehr geehrter, lieber Kollege Fell, Sie haben gerade

ausgeführt, dass es in der Solarbranche schon Insolven-
zen gab. Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass diese
vor der Novellierung des aktuellen EEG eingetreten
sind? Haben Sie auch zur Kenntnis genommen, dass das
etwas damit zu tun hat, dass das weltweite Angebot die
Nachfrage deutlich übersteigt? Das ist unabhängig da-
von, ob wir aktuell noch etwas ändern.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717218000

Wenn Sie genau zugehört hätten, Herr Kollege Hirte,

wüssten Sie, dass ich betont habe, dass es auch an der
fehlenden Industriepolitik dieser Bundesregierung liegt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Da möchte ich mich auf Herrn Machnig beziehen, der
dies gerade sehr schön ausführen konnte, weil er mehr
Redezeit hatte. Ich kann das nicht so umfangreich aus-
führen.

Es ist klar: Der Wettbewerber aus China ist stark ge-
worden. Wir sollten uns zunächst einmal freuen, dass
auch China groß in eine Klimaschutztechnologie inves-
tiert. Aber jetzt wird China einen großen starken Binnen-
markt aufbauen. Wir haben Freude daran, wenn unsere
Unternehmen dorthin exportieren können, aber bevor
dies in großem Rahmen stattfindet, wird ein Teil unserer
deutschen Solarfirmen vom Markt verschwunden sein.
Es kann doch nur ein Treppenwitz der Geschichte sein,
dass wir die Solarindustrie mit großen Geldern erst auf-
gebaut haben und Sie dann, wenn es um das Ernten in
der Exportwirtschaft geht, die Daumenschrauben bei
dieser Industrie ansetzen. Nein, das ist keine gute Indus-
triepolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Christian Hirte [CDU/CSU]: Sie haben an der Frage vorbeigeantwortet!)


Sie wollen Kosten senken, aber Sie erhöhen einfach
die Finanzierungskosten für die Solarinvestoren. Sie be-
jammern fehlende Netzintegration, aber Sie verweigern
sich der Einführung eines Speicherbonus. Sie wollen den
Mittelstand, die Handwerker und die kleinen Firmen
unterstützen, Sie senken aber in genau diesem Ge-
schäftssegment überproportional. So sinkt nach Ihrem
Gesetzentwurf die Vergütung bei Freiflächen um etwa
24 Prozent, während Sie bei Dachflächen sogar um sage
und schreibe 32,5 Prozent kürzen.





Hans-Josef Fell


(A) (C)



(D)(B)


Bei den Dachanlagen kommt auch noch die neue
Zwangsvermarktung hinzu. Ein Familienvater hat doch
gar keine Chance, seinen Solarstrom vom Hausdach an
der Börse zu vermarkten.


(Michael Kauch [FDP]: Nein, aber selber verbrauchen!)


– Sie haben es als Marktintegration bezeichnet und sa-
gen, er soll den Strom, wenn er ihn nicht verbrauchen
kann, vermarkten. Das ist hier verfehlt.


(Michael Kauch [FDP]: Abwegig!)


Ihre Zwangsvermarktung wirkt wie eine weitere
10- bis 20-prozentige Vergütungssenkung. Das alles
trifft die Hausbesitzer, die Mieter, die Vermieter, die
Bürgergenossenschaften, all diejenigen, die einen per-
sönlichen Beitrag zum Atomausstieg leisten wollen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717218100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kauch?


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717218200

Lassen Sie mich diesen Gedanken vorher zu Ende

führen. – Es trifft vor allem die Handwerker, die gerade
hinsichtlich der Dachanlagen schon heute massive
Markteinbrüche befürchten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Bitte, Herr Kollege.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717218300

Bitte schön, Kollege Kauch.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1717218400

Herr Kollege Fell, ich schätze Ihr Engagement für die

erneuerbaren Energien, aber man muss bei der Wahrheit
bleiben.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt genau der Richtige!)


Im Gesetz ist nicht vorgesehen, dass der Eigenheim-
besitzer mit seinem Strom an die Börse geht. Wenn man
sich den entsprechenden Paragrafen im EEG, so wie er
hier heute beschlossen wird, anschaut, dann sieht man,
dass es bei den kleinen Dachanlagen natürlich um den
Eigenverbrauch geht.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Warum nennt ihr das dann Marktintegrationsmodell?)


Ich sage ganz deutlich: Es geht um eine Entlastung der
Netze und vor allen Dingen um Dezentralität, die gerade
die Photovoltaik schaffen soll. Dies soll entsprechend
gefördert werden.

Deshalb bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass
es hier um einen Eigenverbrauchsanteil von 20 Prozent
geht. Diesen Anteil kann jeder Hausbesitzer, der sich ein
bisschen um seinen Stromverbrauch kümmert, erreichen.
Dies kann auch von ihm gefordert werden, schließlich

bekommt er über die Verbraucherinnen und Verbraucher
erhebliche Mittel und hat deshalb eine gewisse Gemein-
wohlverpflichtung zur Netzentlastung.


(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Muss er Strom verschwenden, dass er auf die 20 Prozent kommt?)



Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717218500

Herr Kollege Kauch, das gehört, wie so oft, in Ihre

theoretischen Begründungen, die mit der Lebenswirk-
lichkeit nichts zu tun haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ein Hausbesitzer, der jetzt in dieses Zwangsvermark-
tungsmodell kommt, muss zusätzliche Investitionen auf-
bringen, beispielsweise einen zweiten Zähler kaufen, der
nicht billig ist und über Jahre hinweg Zusatzkosten ver-
ursacht. Dadurch wird die Gesamtbelastung durch die
Investition erhöht, und die Renditen sinken. Die An-
schaffung eines zweiten Zählers ist völlig unnötig; denn
der Hausbesitzer wird keine Chance haben, das, was er
nicht selbst verbraucht, zu vermarkten. Das haben Sie ja
selbst zugegeben. An die Börse – das wissen wir – kann
er nicht. Ja, an wen soll er denn verkaufen? An den
Nachbarn? Soll er ein Energieversorgungsunternehmen
oder so etwas werden? Das ist völlig abstrus, was Sie
hier vorlegen. Es wird keine Vermarktungschance für
diesen Teil der Dachbesitzer geben.


(Michael Kauch [FDP]: Das hat ja auch keiner gesagt!)


Damit ist Ihre Gesetzesnovelle genauso verfehlt wie das,
was Sie im Zusammenhang mit der Marktprämie ge-
macht haben. Auch da sagten Sie: Wir wollten eigentlich
die Integration in den Markt stärken. – Sie erzeugen nur
Zusatzkosten im Erneuerbare-Energien-Gesetz, aber
keine Marktintegration. Aber diese handwerklichen Feh-
ler haben bei Ihnen ja Methode.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Herr Kauch, dass Sie selbst nichts von Ihrer soge-
nannten Marktintegration halten, haben Sie gezeigt, in-
dem Sie die Zwangsvermarktung für große Freiflächen
nun gestrichen haben. Was Sie tun, ist immer dasselbe:
Die Großen werden bevorteilt, und die Kleinen werden
weiter belastet. Das ist lupenreine FDP-Politik, Herr
Kauch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Michael Kauch [FDP]: Ja, genau! Deshalb kriegen die auch eine Kürzung um 30 Prozent! Das ist ja eine Superbevorteilung! Das ist doch absurd!)


Es hätte nur noch gefehlt – hören Sie gut zu! –, dass Sie
auch die Hotelbesitzer von der Zwangsvermarktung be-
freit hätten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Michael Hans-Josef Fell Kauch [FDP]: Ach! Nicht schon wieder diese Leier! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt eigentlich! Warum sind die denn nicht befreit worden?)





(A) (C)


(D)(B)


Auch Herr Seehofer, der sich mit seiner CSU so gerne
als Beschützer der kleinen Leute und des Handwerks
darstellt, hat versagt. Noch am 14. März dieses Jahres,
bei der Eröffnung der Internationalen Handwerksmesse
in München, betonte er, die vom Kabinett angesetzten
Kürzungen seien zu hoch und setzten die falschen
Schwerpunkte. Recht hat er. Aber herausgekommen ist
bei den Verhandlungen zwischen dem bayerischen Mi-
nisterpräsidenten und den Koalitionsfraktionen das
glatte Gegenteil. Er hat die mittleren Segmente, –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717218600

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717218700

– das, woran die Handwerker verdienen, noch stärker

belastet und damit in diesem Segment für eine Ver-
schlechterung gesorgt.

Wir fordern Sie, meine Damen und Herren von der
CSU, auf: Wenn Sie es ernst meinen, dann organisieren
Sie eine Bundesratsmehrheit, um exakt dies zu korrigie-
ren!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717218800

Das Wort hat nun Minister Norbert Röttgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Teilzeitminister!)


Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Alle Reden der Opposition, insbesondere die
von SPD und Grünen, die heute gehalten worden sind,
sind fast bis in die Formulierungen hinein – gerade bei
Ihnen, Herr Kollege Fell, war das so – vor zwei Jahren
schon einmal genauso gehalten worden.


(Dirk Becker [SPD]: Und Sie haben dieselbe Rede, mit der Sie jetzt anfangen, schon vor zwei Wochen gehalten! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie halten doch auch immer die gleiche Rede, Herr Röttgen!)


Damals haben Sie angekündigt: Die Branche wird ster-
ben, Deutschland wird seine Technologieführerschaft
verlieren, die Solarbranche wird keine Zukunft haben.
Nachdem Sie Ihre Reden vom Tod der Branche gehalten
haben, hat die Erfolgsgeschichte der Photovoltaik in die-
sem Land aber erst angefangen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und zwar deshalb, weil wir diese Gesetzesänderungen
vorgenommen haben.


(Dirk Becker [SPD]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


– Das sind die Fakten. Sehen Sie: Sie sprechen immer
von „glauben“, ich rede von den Fakten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zu den Fakten gehört, dass wir in den letzten beiden
Jahren 15 000 Megawatt zugebaut haben. Das ist deut-
lich mehr als das Doppelte von dem, was in all den Jah-
ren zuvor, als SPD und Grüne regiert haben, zugebaut
wurde. Wir haben also in zwei Jahren mehr als doppelt
so viel geschafft, wie Sie in den Jahren Ihrer Regie-
rungszeit zuwege gebracht haben, meine Damen und
Herren.


(Ulrich Kelber [SPD]: Aber mit dem Gesetz, das Sie von uns übernommen haben und jetzt verändern wollen!)


Darum: Sie können zwar reden. Aber von der Realität
haben Sie wenig Ahnung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der entscheidende Punkt ist: Der Erfolg ist nicht ein-
getreten, obwohl wir diese Änderungen vorgenommen
haben, sondern weil wir diese Änderungen vorgenom-
men haben. Sie waren die Bedingung des Erfolges.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben eine Schlussverkaufsmentalität ausgelöst! Das ist die Realität!)


Wenn es bei dem geblieben wäre, was ich übernommen
habe, als ich ins Amt kam, dann wäre dieser Erfolg nicht
eingetreten, sondern dann wäre die Photovoltaik heute
gescheitert, weil sie nicht mehr bezahlbar gewesen wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind keine Fakten! Das ist Heuchelei!)


Gerade die SPD nimmt ja für sich in Anspruch, eine
Partei der sozialen Verantwortung zu sein. Als ich ins
Amt gekommen bin und die Arbeiten von Gabriel und
Machnig übernommen habe,


(Dr. Thomas Gebhart [CDU/CSU]: Wer ist Machnig?)


gab es für einige wenige Investoren zweistellige Kapital-
renditen, garantiert für 20 Jahre.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Ich habe nichts gegen zweistellige Kapitalrenditen. Aber
ich habe etwas dagegen, dass die Stromverbraucherinnen
und -verbraucher dies mit ihrer Stromrechnung bezah-
len.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)


„Dass einige wenige verdienen und alle anderen dafür
zahlen müssen, hat das mit sozialer Verantwortung zu
tun?“, frage ich Sie von der SPD. Wahrscheinlich nicht.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich sage nur: RWE! Ganz toll!)


Die entscheidende These lautet, dass die Erfolgsge-
schichte der Photovoltaik weitergehen wird und weiter-
gehen soll, jedenfalls solange diese Koalition diese Poli-
tik macht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie?)


Wir wollen, dass die Wertschöpfung in Deutschland
bleibt, und wir wollen die 110 000 Arbeitsplätze in die-
sem Bereich erhalten. Wir sind Technologieführer in die-
sem Bereich. All das ist unser Ergebnis.


(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dank uns!)


Sie haben parteipolitisch keine Freude daran, aber freuen
Sie sich doch über den Erfolg für unser Land, den wir
auf diesem Gebiet haben. Das müssten Sie doch zuwege
bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieser Erfolg wird durch Ihr konservatives Besitz-
standsdenken, in Teilen auch Besitzstandslobbyismus, ge-
fährdet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind Sie der Richtige!)


Wer nicht anpassungsfähig ist und wer den Strukturwan-
del nicht gestaltet, der wird sein Opfer.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da müssen Sie selber lachen!)


Mit dem Besitzstandslobbyismus, den Sie betreiben,
sind Sie eine Gefahr für die Solarenergie in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da lachen Sie doch selber, Herr Röttgen!)


Es sind drei Punkte, die man gewährleisten muss: Ers-
tens. Wir müssen die Kosten im Blick behalten. In den
gut zwei Jahren, von denen ich gesprochen habe, sind
die Vergütungssätze für die Solarenergie – in der Zeit, in
der sie ausgebaut wurde – um die Hälfte gesunken.
Glauben Sie denn, dass die Verbraucherinnen und Ver-
braucher bereit wären, doppelt so viel zu bezahlen, ob-
wohl das nicht durch die Marktpreise gerechtfertigt ist?
Wir müssen die Kosten der Energiewende im Blick be-
halten. Die Bürgerinnen und Bürger sind doch bereit, das
zu bezahlen. Aber alles, was nicht geboten ist, den Ein-
zelinvestoren zu geben, gehört den Verbraucherinnen
und Verbrauchern und nicht Einzelnen, die Kapital ha-
ben. Den Bürgerinnen und Bürgern und nicht einigen
wenigen gehört die Rendite der Energiewende.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit dem Großverbraucher?)


Zweitens. Versorgungssicherheit. Sie ist der zweite
fundamentale Aspekt und noch viel wichtiger als die
Kosten im Einzelnen, die nicht zu unterschätzen sind,
auch in der sozialen Dimension. Eine Energiewende
ohne soziale Dimension darf es nicht geben und wird mit
dieser Koalition auch nicht stattfinden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Ihnen denn?)


In zwei Jahren haben wir in Deutschland doppelt bis
dreifach so viel Solarenergie zugebaut, als wir uns selber
als Zielmarke vorgegeben haben. Herr Kollege Kauch
hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass das eine
deutlich anspruchsvollere Zielmarke als die war, die
Herr Kollege Machnig als Staatssekretär zu verantwor-
ten hatte. Sie waren bei der Solarenergie nie sehr ambi-
tioniert.


(Matthias Machnig, Minister [Thüringen]: Das ist unfassbar!)


Wir haben Sie mit unserer Ambition schon deutlich
übertroffen. Das alles sind die Fakten, Herr Kollege. Ich
kann es ja nicht ändern. Es mag Sie schmerzen, aber es
ist so.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das sagt der Norbert Röttgen, der gegen das EEG gestimmt hat! Sie verdecken mit diesem Pathos doch nur Ihren Blödsinn!)


– Ich weiß gar nicht, warum Sie so schreien. Dadurch,
dass Sie schreien, werden Ihre Argumente nicht überzeu-
gender. – Wir haben ungefähr das Vierfache Ihrer Ambi-
tion realisiert. Diese Ambition war aber auch nicht ehr-
geizig. Darum nehme ich das nicht zum Maßstab. Wir
haben also das Zwei- bis Dreifache von dem erreicht,
was im Gesetz steht.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Sie kommen von null auf drei!)


Wenn ich die volatile Stromeinspeisung aus Solar-
energie und Windenergie in Deutschland addiere, dann
komme ich auf eine Kapazität von rund 55 Gigawatt.
Diese volatile Stromeinspeisung ist deutlich höher als
der Verbrauch in Zeiten schwacher Nachfrage. Der be-
trägt nämlich unter 40 Gigawatt. Die durchschnittliche
Nachfrage beträgt rund 60 Gigawatt. Das heißt, wir ha-
ben schon heute an bestimmten Tagen und in bestimm-
ten Stunden von Tagen eine deutlich höhere volatile
Stromeinspeisung als Stromnachfrage. Wenn wir das
nicht in den Griff bekommen, wenn wir den zu schnellen
Ausbau stark volatiler Stromerzeugung nicht durch eine
vernünftige Entwicklung beenden und wenn wir die Ent-
wicklung der Erzeugungskapazitäten nicht in eine Bezie-
hung zum Netzausbau bringen, dann sind die Sicherheit
der Stromversorgung in Deutschland und die Stabilität
der Netze gefährdet.





Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wissen Sie eigentlich, was es bedeutet, wenn die
Netzstabilität in Deutschland nicht mehr unbedingt ge-
währleistet ist? Das darf nicht in einer Minute im Jahr
passieren. Darum stehen wir für Versorgungssicherheit
und für Netzstabilität. Sie gefährden diese Güter unserer
Volkswirtschaft und Gesellschaft mit Ihrer Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum tun Sie nichts für Speicher?)


Das steht außerhalb jeden Zweifels. Mit Ihrem unkon-
trollierten Ausbau gefährden Sie die Sicherheit und die
Stabilität der Netze und der Stromversorgung in
Deutschland. Das ist unverantwortlich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Drittens. Markt. Wir wollen 80 Prozent des Stroms
aus erneuerbaren Energien gewinnen. Darum müssen
wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz nach und nach zu
einem Marktordnungsgesetz machen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Warum passiert dann nichts?)


Wir müssen die Technologien in den Markt einbringen.
Sie müssen wettbewerbsfähig werden. Das werden sie
auch, indem wir permanent Anpassungen vornehmen,
die Marktpotenziale nutzen, Vergütungen reduzieren und
Anreize schaffen. Sie müssen in den Markt eingebracht
werden.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Warum passiert immer noch nichts?)


Damit machen wir erstmalig Ernst. Sie haben wahr-
scheinlich noch nicht in den Gesetzentwurf hineinge-
schaut, mit dem wir nun das Marktintegrationsmodell
gesetzlich verankern wollen und nicht mehr 100 Prozent,
sondern 80 Prozent des produzierten Stroms vergüten
wollen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das ist nur ein Wort!)


Jeder normale Produzent muss irgendwann auch ein-
mal anfangen, sich mit dem Produkt, das er herstellt, am
Verbraucher zu orientieren, meine Damen und Herren.
Das muss auch für diese Technologien gelten. Die Tech-
nologien können viel mehr, als Sie ihnen zutrauen. Da-
rum ist Marktintegration genau das Richtige, was wir
machen. Das bringen wir nach vorne.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will noch ein bisschen auf die Argumente von
Herrn Machnig eingehen. Ich weiß nicht, ob man fürch-
ten oder hoffen soll, dass die SPD diese Argumente teilt.
Immerhin hat er aber für sie – das nehme ich doch ein-
mal an – gesprochen. Ansonsten wäre ich daran interes-
siert, dass sich die SPD eindeutig distanziert von den
Thesen des SPD-Redners.


(Dirk Becker [SPD]: Auch CDU-Bundesländer sind der Ansicht!)


– Sie haben die Gelegenheit, sich davon zu distanzieren.

Herr Machnig hat vorgeschlagen, heimische bzw.
europäische Produkte gegenüber Importprodukten zu be-
vorzugen. Ich stelle hier die Frage an die SPD: Haben
Sie das schon einmal in Arbeitsplätzen ausgerechnet?
Haben Sie schon einmal ausgerechnet, was es kostet,
wenn unser Land, das vom Export lebt, das so wettbe-
werbsfähig ist wie nie zuvor, auf einmal auf Protektio-
nismus setzt? Haben Sie das schon einmal in Wertschöp-
fung und Arbeitsplätzen ausgedrückt, meine Damen und
Herren?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das hat mit Protektionismus nichts zu tun!)


Es ist unglaublich, was Sie hier einfach so einmal in
die Debatte werfen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben das Thema doch selbst einmal erwähnt!)


Herr Machnig scheint sozusagen der Oberökonom der
SPD geworden zu sein. Er ist vom Kollegen Hirte auf
die Überkapazitäten bei der Herstellung angesprochen
worden. Ein Problem der Solarenergie sind in der Tat die
globalen Überkapazitäten, Herr Kollege Hirte, die auch
den Preis unter Druck setzen. Darauf haben Sie Herrn
Machnig angesprochen. Darauf hat er gesagt, bei der
Automobilindustrie gebe es diese ja auch, und noch nie
sei jemand auf vergleichbare Ideen gekommen.


(Matthias Machnig, Minister [Thüringen]: Unsinn!)


Erstens haben Sie offensichtlich auch von der Automo-
bilindustrie wenig Ahnung. Zu behaupten, es gebe in
diesem Bereich vergleichbare Überkapazitäten, ist völli-
ger Unsinn.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens ist es immer noch so, dass, wenn man sich ein
Auto kauft, man das Auto selbst bezahlen muss, während
der Photovoltaikstrom von allen Stromverbrauchern be-
zahlt wird. Ich finde, das ist ein großer Unterschied bei Ih-
rem Vergleich, den Sie auch berücksichtigen müssen.
Wenn das Auto von allen Verbrauchern bezahlt würde,
wäre das anders.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zur Stichtagsregelung. Ich hoffe, dass der umwelt-
politische Kompetenzabfall erst nach Ihrem Ausschei-
den aus dem Umweltministerium eingetreten ist. Alle
haben gesagt, die Stichtagsregelung habe sich nicht be-
währt, weil diese einen Schlussverkaufseffekt zur Folge
hat. Deshalb stimmen alle darin überein, die Stichtagsre-
gelung abzuschaffen. Sie plädieren jedoch für die Beibe-
haltung dieser Regelung.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie können noch nicht einmal die Anträge der Opposition lesen! Was für eine Arroganz!)






Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)


Das zeigt, wie weit Sie vom Markt, von der Realität und
von ökonomischer Vernunft entfernt sind, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir treiben die Energiewende voran mit wirtschaftli-
cher Vernunft und sozialer Verantwortung. Gut, dass
diese Koalition regiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Sprücheklopfer! – Dirk Becker [SPD]: So wird das nichts in Nordrhein-Westfalen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717218900

Das Wort hat nun Dirk Becker für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1717219000

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren!


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Jetzt muss erst einmal der Machnig rausgeschmissen werden!)


Die Energiewende hat wieder den Bundestag gefangen.
Manche sind anscheinend gefangen genommen von ei-
ner Ideologie, von der sie sich nicht verabschieden kön-
nen.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich muss Ihnen eines sagen: Immerhin ist hier heute
einmal ein Minister aufgetreten, wenn auch ein Minister
aus einem Bundesland, der erkannt hat, dass die Energie-
wende mit ihren Herausforderungen angekommen ist.
Man will sie annehmen und nicht zulassen, dass die
rechte Seite des Hauses das kaputtmacht. Das ist zu-
nächst einmal begrüßenswert.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dass das wehtut, das verstehe ich.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Karneval im März!)


Herr Röttgen, allen Ernstes: Mir fehlen eigentlich die
Worte bei dem, was Sie hier sagen, was Sie sich selbst in
die Tasche lügen. Seit heute hat das Wort Blindleistung
für mich eine neue Bedeutung. Davon haben Sie nämlich
gesprochen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist aber keine Systemdienstleistung!)


Man soll vorsichtig sein, wenn man die Aussagen von
Ministern vergleicht. Sie kritisieren die hohen Renditen,
die Sigmar Gabriel angeblich zu verantworten hat, bei
Investitionen in erneuerbare Energien. Die Eons und die
RWEs dieser Welt hatten zu Beginn Ihrer Amtsperiode
eine Rendite von rund 25 Prozent erzielt. Sie haben sie
mit der Laufzeitverlängerung doppelt vergoldet; davon
kein Wort. Sie sind doch einfach unglaubwürdig.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Ein echter Röttgen eben!)


Was hat der Bundesumweltminister noch im Novem-
ber gesagt? Wir haben eine neue EEG-Novelle mit Wir-
kung ab dem 1. Januar 2012 gemacht, um den Heraus-
forderungen Rechnung zu tragen. Das muss jetzt erst
einmal in Ruhe wirken, bis wir beurteilen können, wie es
wirkt. – Die Änderungen waren noch nicht einmal in
Kraft, als Sie das EEG erneut infrage gestellt haben. Ih-
nen passt das EEG nicht. Ihnen passt der Umstieg auf die
Erneuerbaren nicht. Insbesondere die PV ist doch Ihr
Hauptangriffsfeld.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Üble Unterstellung!)


Gerade Herr Rösler ist doch derjenige, der im End-
effekt Druck macht. Herr Röttgen, ich weiß, es tut weh,
aber in allen energiepolitischen Fragestellungen der letz-
ten Monate war von Ihnen nichts als warme Worte zu
hören. Als es darum ging, zu liefern, waren die Taten
eben nicht so, wie Sie sie angekündigt haben. Sie haben
sich hier hingestellt und gesagt: Wir wollen den Ausbau
der Erneuerbaren vorantreiben. Diese Regierung ist die
Regierung, die am meisten für den Ausbau der erneuer-
baren Energien tut. – Diese Novelle hat Sie enttarnt. Sie
wollen bremsen, wo es nur geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie machen dabei nicht einmal bei der Solarenergie
halt. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, dann wären
die sogenannten Instrumente der Marktprämie auf alle
anderen Bereiche der Erneuerbaren ausgeweitet worden.
Wozu hat diese Regelung bisher geführt? Es gab Fach-
kongresse von Banken, von Gesellschaften, die gesagt
haben: Mit der Ankündigung der Regierung und der Vor-
lage des Entwurfs sind massenhaft Finanzierungszusa-
gen der Kreditinstitute zurückgezogen und gestrichen
worden, weil die Energiepolitik à la Röttgen die Investi-
tionssicherheit am Markt beseitigt hat. Damit finden
keine Investitionen mehr statt. Herr Röttgen, mit dieser
Politik sind Sie höchstpersönlich zu einem Investitions-
risiko für Projekte der erneuerbaren Energien geworden.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie können sich hier ruhig hinstellen und lachen. Sie
wissen, wie das die Branche sieht.

Ein letzter Punkt. Es ist einfach, zu sagen, was alles
nicht geht, so angeblich die Local-Content-Regelung.
Wenn die Chinesen dies machen, um die Windindustrie
in China zu schützen: Kein Wort! Wenn das die Italiener
oder andere machen: Kein Wort! Warum geht das denn
in Deutschland nicht? Ich frage Sie: Was wollen Sie
stattdessen tun? Gehen Sie nach Brüssel, und setzen Sie
sich dafür ein, dass auf europäischer Ebene endlich eine
Klage wegen unlauteren Wettbewerbs eingereicht wird!





Dirk Becker


(A) (C)



(D)(B)



(Michael Kauch [FDP]: Dafür muss man erst einmal eine Mehrheit finden!)


Machen Sie das? Nichts da! Nur Worte!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen etwas ganz Entscheidendes zum
Schluss. Es gibt viele Dinge, über die wir hätten reden
können und müssen – ich bin da ganz nah bei Herrn
Machnig –: Sie haben das Gespräch erst gar nicht ge-
sucht. Auch wir wollen die qualitative Weiterentwick-
lung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Wir wollen
den Eigenverbrauch stärken. Aber bei der Thematik Ei-
genverbrauch stärken ist für uns wichtig, in Zukunft
auch die Mieter und Mietshäuser mit in den Fokus zu
nehmen.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das haben wir doch!)


Da gibt Ihr Entwurf die falschen Antworten. Wir brau-
chen beispielsweise eine Größenklasse von 10 bis
100 Kilowatt. Wir brauchen einen ernsten Anreiz zur
Speicherförderung. Das, was Sie hier vorschlagen, ist
weiße Salbe; nicht finanziert, Absichtserklärungen. So
kann das nicht gelingen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Von daher sage ich Ihnen: Sie reden sich diese No-
velle schön. Sie ist nichts weiter als ein kaltes PV-Kür-
zungsprogramm, mehr nicht. Die Energiewende wird so
mit Ihnen nicht gelingen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717219100

Das Wort hat nun Klaus Breil für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1717219200

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Der Schritt, den wir heute mit der Verabschiedung
dieses Gesetzentwurfes gehen, ist ein überfälliger Schritt;
denn die Höhe der Vergütung für Strom aus Photovol-
taikanlagen hinkt dem Verfall der Systempreise seit zwei
Jahren hinterher. Die Renditen für Anlagenbetreiber wa-
ren, sind und bleiben attraktiv.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Daher musste dieser Schritt angemessen groß werden.
Die Vorlage der beiden Minister Dr. Rösler und
Dr. Röttgen war sehr im Sinne der Fraktionen von CDU/
CSU und FDP.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Eines wollten wir allerdings verhindern, nämlich dass
Unternehmen und Bürger, die im Vertrauen auf das gül-

tige Gesetz neue Anlagen auf den Weg gebracht haben,
auf einen Schlag neuen Investitionsbedingungen gegen-
überstehen. Für einen besseren Vertrauensschutz haben
wir deshalb Übergangsregelungen eingeführt. Das ge-
schah besonders mit Rücksicht auf kleine und mittelstän-
dische Unternehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Es wird nunmehr jedem, der Anfang des Jahres ernsthaft
eine Anlage bauen wollte, die Möglichkeit eingeräumt,
dies noch zu den alten Konditionen zu Ende zu bringen.
Meine Damen und Herren, Vertrauensschutz, ja, An-
spruch auf lebenslange Förderung, nein.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Dies war das Leitmotiv für die vorliegende Einigung.

Wenn ich mir die Klagen der Opposition anhöre,
könnte ich zu der Auffassung gelangen, dass man den ei-
gentlichen Sinn des EEG vergessen hat, nämlich die
Markteinführung der erneuerbaren Energien, und dass
man die gemütliche Hängematte der Einspeisevergütung
nie wieder abhängen wolle.

Wir müssen uns klar darüber sein, dass das EEG ein
Instrument bleiben muss, um die erneuerbaren Energien
an den Markt zu bringen, und dass es nicht dazu da ist,
sie durchzufüttern.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Um die Marktintegration von Photovoltaik voranzu-
bringen, ohne dabei bestehende Umlagesysteme zu be-
lasten oder gar neue Umlagesysteme aufzulegen, haben
wir die Gesetzesänderung mit einem Entschließungs-
antrag begleitet. Dessen Ziel ist es, technologieoffen den
effizientesten Speichertechnologien über bestehende
Hürden hinwegzuhelfen. Auch Speichersysteme müssen
in naher Zukunft die Marktreife erlangen. Wie wir dort-
hin kommen, soll im Rahmen einer Studie durch die
Bundesregierung geprüft werden. Wir erwarten von der
Bundesregierung noch in diesem Jahr Vorschläge für ein
Marktanreizprogramm für Speichersysteme. Die KfW
soll dies im Rahmen ihrer bestehenden Möglichkeiten
flankieren.


(Beifall des Abg. Michael Kauch [FDP])


Die vorliegende Gesetzesänderung zeigt, dass die Ko-
alition und die Bundesregierung auf dem allerbesten
Weg sind, die erneuerbaren Energien weiter an den
Markt zu bringen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Richtig!)


Das ist unser Ziel; darüber sind wir uns alle einig. Was
uns von den Plänen der Opposition aber besonders unter-
scheidet, ist, dass wir beim Umbau unserer Energiever-
sorgung auch auf die Bezahlbarkeit achten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])


Zum Schluss sage ich Ihnen noch eines, meine Da-
men und Herren: In vielen Gesprächen mit der Industrie





Klaus Breil


(A) (C)



(D)(B)


und den Projektoren sagten mir alle, dass eine kräftige
Kürzung jetzt und vermutlich auch in Zukunft notwen-
dig ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717219300

Das Wort hat nun Jan Korte für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717219400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

bin Wahlkreisabgeordneter aus Bitterfeld-Wolfen. Es ist
schon erwähnt worden: Da ist das Solar Valley beheima-
tet, wo mittlerweile rund 3 000 Beschäftigte arbeiten.
Herr Röttgen, ich glaube, wenn diese Beschäftigten
heute Ihre Rede gehört haben, dann denken sie: Das ist
der blanke Hohn für Menschen aus einer Region, die so
gebeutelt wie diese ist. – Unglaublich!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jens Koeppen [CDU/CSU]: Durch wen denn so gebeutelt? – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Unglaublich, dass man sich dann darüber echauffiert!)


Die Region Bitterfeld-Wolfen hat seit 1990 die wohl
drastischsten ökonomischen, ökologischen, sozialen und
vor allem persönlichsten Umbrüche der Menschen in
diesem Land verkraftet. Über Nacht sind dort 50 000 Ar-
beitsplätze weggefallen. Im Landkreis Anhalt-Bitterfeld
ist die Arbeitslosenquote auch heute noch exorbitant
hoch, vor allem die der Langzeitarbeitslosen. Immer
noch verlassen täglich – das ist besonders dramatisch –
gut ausgebildete junge Leute diese Region.

Die gute Seite der Entwicklung ist – das ist in der Tat
anzuerkennen –, dass es dort mit der Ansiedlung, der
Förderung und dem Ausbau der Solarindustrie – die be-
kanntesten Unternehmen sind Q-Cells und Sovello – in
dieser so gebeutelten Region gelungen ist, den Aufbruch
hinzubekommen und einen sozial-ökologischen Umbau
zu initiieren. In diesen Betrieben sind Menschen be-
schäftigt, die zum Teil 10 bis 15 Jahre arbeitslos gewe-
sen sind. Reden Sie einmal mit ihnen darüber, was sie
von Ihrer Politik halten!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Reden Sie darüber, was sie von Ihrer Politik gehabt haben!)


Ihnen ist Ostdeutschland egal. Das ist doch das wei-
tere Problem. Es ist in der Tat bemerkenswert. Etwas an-
deres als die Wirtschaftsliberalen ist von Ihnen ja nicht
übriggeblieben.


(Zuruf von der FDP: Haha!)


Reden Sie doch mit den Unternehmen! Reden Sie mit
den Beschäftigten! Reden Sie mit den Gewerkschaften,

wie sie Ihren Gesetzentwurf einschätzen, wenn Sie
schon nicht auf die Opposition hören wollen. Ihre Politik
ist erstens ein Anschlag auf die Entwicklung in Ost-
deutschland und ganz konkret auch auf die in meinem
Wahlkreis, im Solar Valley.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zweitens haben Sie sich das, was Sie heute exekutie-
ren wollen, gar nicht selber ausgedacht, sondern das ist
Ihnen direkt von den Konzernzentralen der vier großen
Energieunternehmen aufgetragen worden, und Sie setzen
es eins zu eins um. Das ist die Situation.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Kauch [FDP]: Das ist doch wohl lächerlich! – Christian Hirte [CDU/CSU]: Früher war das alles! Heute nicht mehr!)


Drittens kann einem das, was Herr Röttgen und Herr
Rösler miteinander aushandeln, eigentlich egal sein. Das
ist in der Tat zweitrangig. Was Sie aber heute machen,
um der Profilierung der mittlerweile zur Splitterpartei
FDP gewordenen Truppe willen,


(Michael Kauch [FDP]: In NRW haben wir mehr in den Umfragen als Sie!)


machen Sie auf dem Rücken der Menschen in Ost-
deutschland. Das werden wir nicht zulassen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen freue ich mich auch als Bundestagsabge-
ordneter aus Sachsen-Anhalt, dass alle Bundestagsabge-
ordneten der Linken, der SPD und der Grünen erklärt ha-
ben, Ihrem Murks heute nicht zuzustimmen.


(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das haben wir auch nicht anders erwartet!)


Ich bin gespannt, was die Abgeordneten der CDU/CSU
und FDP aus Ostdeutschland heute machen werden. Das
interessiert uns sehr.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Genau das Gegenteil natürlich!)


Wir werden nicht mitmachen, und Sie können sicher
sein, dass sowohl die Beschäftigten als auch die Linke
Ihnen in dieser Frage und übrigens zunehmend auch in
anderen Fragen energischen Widerstand entgegensetzen
werden.

Schönen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717219500

Die Kollegin Bärbel Höhn hat das Wort für Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717219600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Dass es heute etwas hitzig zugeht, hängt damit zusam-
men, dass wir über eine zentrale Weichenstellung für die





Bärbel Höhn


(A) (C)



(D)(B)


Energiewende reden. Zunächst einmal freue ich mich,
dass Sie überhaupt hier sind, Herr Röttgen. Das ist näm-
lich ein seltenes Ereignis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein seltener Gast! – Ulrich Kelber [SPD]: Das haben wir mit der namentlichen Abstimmung erzwungen!)


In den letzten Debatten gab es immer wieder den
Zwischenruf: Wo steckt eigentlich Minister Röttgen? –
Im Umweltausschuss sagte gestern ein Kollege, und
zwar nicht einer von der Opposition, sondern einer von
der Koalition: Vom Bundesminister kommt momentan
nicht allzu viel. – Das hat auch etwas damit zu tun, dass
Sie sich nicht entscheiden können. Ein solches Amt, in
dem es um Themen wie die Energiewende geht, ist kein
Teilzeitjob. Sie haben sich zwischen der Bundespolitik
und Nordrhein-Westfalen zu entscheiden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Röttgen, wenn Sie über diejenigen, die die Inte-
ressen der Photovoltaik vertreten, sagen: „Das sind Be-
sitzstandswahrer“,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie sind die Photovoltaikindustrie!)


dann sage ich Ihnen: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht
mit Steinen werfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wer nicht nach Nordrhein-Westfalen geht, weil er seinen
Besitzstand in Berlin wahren will, der sollte nicht ande-
ren Besitzstandswahrung vorwerfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN Herr Röttgen, Sie haben eben sehr viel über Erfolge geredet. Sie sehen sich sowieso nur als Minister der Erfolge. Ein Blick auf Ihre Bilanz zeigt aber nur Misserfolge, einen nach dem anderen. Wer war für die AKWLaufzeitverlängerung? Sie nicht, aber Sie haben damals gegen die Energiekonzerne verloren. Wer will die Energiewende? Eigentlich Sie, aber wer gewinnt, ist der Kollege Rösler von der 2-Prozent-Partei. Die Energieeffizienz kommt nicht voran. Deutschland blockiert die Energieeffizienz, weil wir die Energiepolitik von einer 2-Prozent-Partei und deren politischem Überleben abhängig machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


(Ulrich Kelber [SPD]: 1,2!)


Das, was Sie jetzt bei den erneuerbaren Energien vor-
haben – auch das ist ein Vorschlag von Minister Rösler –,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die kleinste Fraktion bläst hier die Backen auf!)


ist keine Absenkung mit Augenmaß. Das hat nichts mit
der Abkühlung eines überhitzten Marktes zu tun. Das,
was Sie vorhaben, ist Kahlschlag, meine Damen und
Herren. Sie gefährden Zehntausende von Arbeitsplätzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Deshalb sollten Sie sich den Begriff „soziale Verant-
wortung“ – Sie haben den anderen vorgehalten, Sie seien
der Einzige, der sich sozial verantwortlich verhielte –
selber einmal zu Herzen nehmen. Man trägt auch soziale
Verantwortung gegenüber Zehntausenden von Arbeits-
plätzen, und die sollten Sie nicht einfach so gefährden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wir können bei der Photovoltaik eine Menge verän-
dern. In den letzten vier Jahren sind die Zuschüsse um
60 Prozent gesenkt worden; das ist viel. Wir alle waren
übereinstimmend der Meinung, dass wir die Stromein-
speisevergütung im Jahre 2012 noch einmal um 30 Pro-
zent senken können. Was Sie aber machen, ist keine Sen-
kung um 30 Prozent, sondern zum Teil eine Senkung um
50 Prozent. Welche Technologie soll es schaffen, in ei-
nem Jahr eine Senkung der Zuschüsse um 50 Prozent
hinzunehmen? Das ist Kahlschlag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das führt auch zu einem Jo-Jo-Effekt, wie die taz
heute zu Recht schreibt; denn die massiven Kürzungen,
die Sie hier beschließen, führen bei denjenigen, die So-
laranlagen installieren wollen, zu Torschlusspanik. Dann
wird schnellstmöglich alles gebaut. Für die Überhitzung
des Solarmarkts sind Sie verantwortlich. Für diese Aus-
bauzahlen sind Sie verantwortlich, weil Sie die Kürzun-
gen nicht vernünftig ausgestalten. Das ist der Grund, wa-
rum wir in diese missliche Lage geraten sind. Deshalb ist
das, was wir hier erlebt haben, kein Erfolg, sondern ein
Armutszeugnis.

Ich komme zum Schluss und sage Ihnen nur eines,
Herr Röttgen: Ich habe in dieser Woche nachgelesen,
was Jürgen Hambrecht, der frühere Chef der BASF, in
der Financial Times gesagt hat. Er hat gesagt: Wenn die
Energiewende so weitergeht, dann müssen wir die
Atomkraftwerke am Ende doch länger laufen lassen. –
Ich unterstelle Ihnen, Herr Röttgen, nicht, dass Sie das
wollen. Aber mit Ihrem Versagen in der Energiewende
geben Sie Atomfreunden wie Herrn Hambrecht die
Hoffnung, dass es mit diesem atomaren Wahnsinn wei-
tergehen könnte.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717219700

Frau Kollegin.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717219800

Dafür tragen Sie dann die Verantwortung.





Bärbel Höhn


(A) (C)



(D)(B)


Wir wollen eine Energiewende, die ganz und gar
funktioniert und nicht den Atomkonzernen die Oberhand
überlässt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717219900

Frau Kollegin!


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717220000

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717220100

Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So, jetzt wird noch einmal überzeugt!)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1717220200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Lassen Sie mich vom Wahlkampf in Nordrhein-
Westfalen wieder zu der Sache, die wir hier diskutieren
wollen, kommen,


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


obwohl, Frau Höhn, es gerade zum Wahlkampf gehört,
dass man bei der Wahrheit bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zur Wahrheit gehört auch, dass Ihnen Norbert Röttgen
hier bei vielen Gelegenheiten die Leviten gelesen hat,
wenn wir um Energiepolitik gestritten haben,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seltener Gast hier!)


und er hat dies genauso klar und glanzvoll getan wie
heute.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte nun weg von Nordrhein-Westfalen und
auf Bayern zu sprechen kommen. Bei uns in Bayern
werden Solaranlagen momentan auf der Ostseite mon-
tiert. Nun, was schließt man daraus? Zum einen kann
man daraus schließen, dass Bayern mit Sonne gesegnet
ist. Das ist zwar auch ein richtiger Schluss, aber man
muss daraus insbesondere schließen, dass wir es mit ei-
ner erheblichen Überhitzung auf dem Markt zu tun ha-
ben und dass es einer Korrektur bedarf. Genau das ma-
chen wir, und zwar maßvoll, in Stufen und so, dass diese
Schlussverkäufe in Zukunft ausbleiben. Das bitte ich,
zur Kenntnis zu nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Maßvoll und in Stufen? 50 Prozent Kürzung!)


Zum anderen glaube ich, dass irgendwann Einigkeit
über ein bestimmtes Ziel hergestellt werden muss. Es
kann doch nicht sein, dass man Strom auf dem Dach pro-

duziert, diesen teuren Strom dann einspeist und anschlie-
ßend billigen Strom vom Kraftwerk kauft. Das ist bis
dato gängige Praxis. Nach 14 Jahren der Solarförderung
wird es doch irgendwann einmal so weit sein können,
dass man den Strom, den man produziert, selber ver-
braucht und nur den, den man übrig hat, einspeist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Genau an diesen Punkt, zu dem jeder vernünftige Bürger
nickt und sagt: „Jawohl, das ist der richtige Weg“, führen
wir die PV-Förderung mit dieser Novellierung des EEG.

Herr Minister Machnig hat recht: Die Akzeptanz der
Photovoltaik ist hoch. Nur, Herr Machnig, was schließen
wir daraus? Wir müssen doch unseren Beitrag dazu leis-
ten, dass das so bleibt. Das geht nicht dadurch, dass man
hohe Renditen sichert, die nur Neid schüren, sondern das
geht dadurch, dass man eine vernünftige und nachvoll-
ziehbare Politik macht und die Potenziale nutzt, die die
Technologie letztendlich hergibt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Gestatten Sie mir, eine Frage zu stellen: Wer glaubt
denn mehr an die Sinnhaftigkeit, an die Zukunftsfähig-
keit der Photovoltaik, wer hat mehr Zutrauen darin, der-
jenige, der wie die linke Seite des Hohen Hauses sagt:
„Man muss einen hohen Subventionszaun bauen“ –
wenn es nach Ihnen ginge, wären wir immer noch bei
der Förderung von knapp 1 DM, wie Sie sie seinerzeit
eingeführt haben –, oder derjenige, der sagt: „Darin liegt
ein hohes Potenzial; wir reduzieren die Förderung der
Photovoltaik auf ein Niveau, auf dem man zu sinnvollen
Konditionen Strom produzieren kann“?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Letzteres ist das, was diese Koalition mit Kürzungen
um gut 40 Prozent in knapp zwei Jahren erreicht, und
zwar bei nach wie vor Rekordzubau. Beides findet
gleichzeitig statt. Insofern sind die Vorwürfe, die hier al-
lenthalben erhoben wurden, schlicht und einfach falsch.

Es geht um Akzeptanz bei den Verbrauchern, aber
auch um Akzeptanz bei den Investoren. Diese Akzep-
tanz erreichen wir durch Übergangsvorschriften, durch
ein hohes Maß an Verlässlichkeit und durch Vertrauens-
schutz. Für die CSU stand immer fest: Vertrauensschutz
ist nicht verhandelbar. Deshalb sind wir hier sehr weit
gegangen. Ich bin mir sicher, dass mit den Regelungen,
die wir jetzt treffen, praktisch jeder, der im Vertrauen auf
das Gesetz, das zum 1. Januar in Kraft getreten ist, ein
Projekt in Planung hat, der schon im Vorfeld Geld darin
investiert hat, dieses Projekt auch umsetzen kann. Auch
das ist wichtig für die zukünftige Entwicklung der erneu-
erbaren Energien.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Da ich beim Stichwort „Akzeptanz“ bin: Ich räume
ein, dass innerhalb der Koalition der CSU-Vorschlag, im
Rahmen des EEG Speicher zu fördern, leider keine
Mehrheit gefunden hat.





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)



(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Ich räume auch ein, dass die Gründe für mich und den
Kollegen Göppel – wir beide haben den Vorschlag ver-
treten – durchaus nachvollziehbar waren. Es wurde da-
rauf hingewiesen, dass so das Risiko besteht, die EEG-
Vergütung nach oben zu treiben. Dieses Risiko besteht;
das räume ich ein.

Wir sind einen anderen Weg gegangen. Wir haben uns
gemeinsam darauf verständigt, die Regierung aufzufor-
dern, bis Oktober einen Vorschlag vorzulegen, wie wir
im Rahmen des Haushalts diese Förderung leisten wol-
len.


(Dirk Becker [SPD]: Da kommt doch wieder nichts bei rum!)


– Lieber Kollege Becker, regen Sie sich nicht auf!


(Dirk Becker [SPD]: Bei Ihnen muss man sich aufregen!)


Wenn dabei nichts herauskommt, weil die Haushalts-
restriktionen so sind, wie sie sind – zu Recht –, werden
wir bei der nächsten Novellierung des EEG – die kommt
bestimmt; das ist Erfahrungswissen – noch einmal über
die Förderung von Speichern diskutieren müssen; denn
das gehört zusammen. Ich habe eingangs erwähnt: Beim
Thema Eigenverbrauch leuchtet der Zusammenhang mit
der Speicherung aus meiner Sicht ein.

Wir wollen eine intelligente, eine bezahlbare Energie-
wende, eben keine rot-rot-grüne, sondern eine schwarz-
gelbe Energiewende. Diesen Weg gehen wir beherzt.

Ich darf mir abschließend wünschen, Herr Machnig,
dass der Bundesrat jetzt auch dem zustimmt, was wir
hier vorgelegt haben.


(Dirk Becker [SPD]: Das kann ich mir vorstellen! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das jetzt auch noch!)


Ich bin der festen Überzeugung: Der Branche schadet
ein Verzögern des Verfahrens im Bundesrat erheblich
– Vermittlungsausschuss und das ganze Hin und Her –,
wenn man bedenkt, was dieses Gesetz an guten und
sinnvollen Neuerungen bringt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung. Es geht
darum, verlässliche Grundlagen für diese Branche zu
schaffen. Dann geht es auch wieder vorwärts, so, wie wir
es gewohnt sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717220300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechtsrahmens

für Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren
Änderungen im Recht der erneuerbaren Energien.

Hierzu liegen eine Reihe von Erklärungen nach § 31
der Geschäftsordnung aus verschiedenen Fraktionen
vor.1) Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Re-
aktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/9152, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/8877 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Diejenigen, die zustimmen wollen, bitte ich um ihr
Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Da-
mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zu-
stimmung der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen. Enthaltungen
waren jedenfalls von hier aus nicht zu erkennen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Es ist namentliche Abstim-
mung verlangt. Die Schriftführerinnen und Schriftführer
haben offensichtlich ihre Plätze schon eingenommen.
Gibt es eine Urne, die noch nicht besetzt ist? – Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Abstimmung eröffnet.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgeben konnte? – Noch einige. Wir
haben hier vorne ganz viel Platz zum Abstimmen. Man
kommt hier vorne auch gut ins Fernsehen.

Ist jetzt noch jemand im Saal, der seine Stimme noch
nicht abgeben konnte? – Das ist nicht der Fall.

Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später be-
kannt gegeben.2)

Wir kommen nun zu einer Entschließung des Aus-
schusses und zu zwei Entschließungsanträgen.

Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9152 empfiehlt der Ausschuss für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, eine Entschlie-
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
Entschließung ist angenommen bei Zustimmung der Ko-
alitionsfraktionen; dagegen haben SPD und Grüne ge-
stimmt, die Linksfraktion hat sich enthalten.

Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge, zunächst den der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/9157. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag
ist abgelehnt bei Gegenstimmen der Koalitionsfraktio-
nen. Die Oppositionsfraktionen haben zugestimmt.

Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9172. Wer
stimmt für den Entschließungsantrag? – Die Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist
ebenfalls abgelehnt worden. Dagegen haben die Koali-
tionsfraktionen gestimmt, dafür die Oppositionsfraktio-
nen.

1) Anlagen 2 bis 4
2) Ergebnis Seite 20314 D





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Wir setzen die Abstimmungen über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/9152 fort. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/8892 mit dem Titel
„Mut zum Aufbruch ins solare Zeitalter“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Die Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen. Die Op-
positionsfraktionen haben sich mehrheitlich enthalten.
Es gab einige Gegenstimmen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 a bis c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Sven-Christian Kindler, Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Kein Betreuungsgeld einführen – Kinder und
Familie durch den Ausbau der Kindertagesbe-
treuung fördern

– Drucksache 17/9165 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Ach-
ten Buches Sozialgesetzbuch – Aufhebung der
Ankündigung eines Betreuungsgeldes

– Drucksache 17/1579 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(13. Ausschuss)


– Drucksache 17/8201 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Bär
Caren Marks
Miriam Gruß
Diana Golze
Katja Dörner

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone,
Christel Humme, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Auf die Einführung des Betreuungsgeldes ver-
zichten

– Drucksachen 17/6088, 17/8201 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Bär
Caren Marks
Miriam Gruß
Diana Golze
Katja Dörner

Über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen werden wir später ebenfalls namentlich abstim-
men. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu
sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Katja Dörner vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717220400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Wir haben heute die Möglichkeit, die
Notbremse zu ziehen. Wir haben heute die Möglichkeit,
die Einführung einer Maßnahme zu verhindern, die eine
gleichstellungspolitische und eine bildungspolitische
Katastrophe wäre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Das hat nicht nur Ministerin von der Leyen erkannt. Wir
haben heute vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Ar-
beit die Zahlen schwarz auf weiß bekommen. Es hat be-
legt, dass das Betreuungsgeld eine gleichstellungspoliti-
sche und bildungspolitische Katastrophe wäre. Es wäre
auch verfassungsrechtlich höchst bedenklich.

Wir werden gleich wieder hören, beim Betreuungs-
geld gehe es um Wahlfreiheit. Dieses Argument kommt
gewichtig daher, aber es ist falsch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich zitiere aus dem 8. Familienbericht, der uns druck-
frisch vorliegt. In diesem Bericht steht ganz dezidiert:

Erst wenn für alle Kinder Ganztagsbetreuungs-
plätze in hervorragender Qualität vorhanden sind,
haben Eltern tatsächlich eine Wahlmöglichkeit.

Investitionen in Kitas schaffen Wahlfreiheit und nicht
das Betreuungsgeld.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich vertrete hier auch die Anliegen des DGB, des Kin-
derschutzbundes, der IG Metall, der GEW, von pro fami-
lia, des Arbeitgeberverbandes, der AWO, des Land-
frauenverbandes, der Industrie- und Handelskammer,
des Bundesforums Familie, des Deutschen Vereins, des
Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der Diakonie, des
Deutschen Juristinnenbundes, der AFET, des Bundes
Deutscher Wirtschaft, des Zukunftsforums Familie, des
Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter, des BDI
und vieler mehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Wo sind die Familienvertreter?)


Alle haben sich unisono und über ihre ansonsten erhebli-
chen Differenzen hinweg gegen die Einführung des Be-
treuungsgeldes ausgesprochen. Auch die Kirchen kämp-
fen nicht für das Betreuungsgeld.





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)



(Michael Brand [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Unlängst schmollte die bayerische Sozialministerin in
der Würzburger Tagespost, selbst von dieser Stelle gebe
es keine Unterstützung. Die EU-Kommission zeigt der
Bundesregierung wegen des Betreuungsgeldes die Rote
Karte. Diese Phalanx müsste Sie doch endlich einmal
wachrütteln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wir erleben, dass eine Minderheit einer großen Mehr-
heit auf der Nase herumtanzt. CDU/CSU und FDP haben
sich wider alle Vernunft und wider besseren Wissens auf
einen durchsichtigen Deal eingelassen. Dieser Deal geht
zulasten der Kinder, der Familien und in erster Linie zu-
lasten vieler Mütter. Ich finde das unfassbar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


In den Haushaltsplanungen ist das Betreuungsgeld
nicht seriös finanziert. Für 2013 sind 400 Millionen Euro
und für 2014 bereits 1,2 Milliarden Euro als globale
Minderausgabe zur Finanzierung vorgesehen. Den Haus-
hältern müssten sich da eigentlich die Fußnägel hochrol-
len, das aber nur am Rande.

Was bedeutet in dem Zusammenhang „globale Min-
derausgabe“? Das bedeutet: Die Bundesregierung weiß
nicht, wie sie das Betreuungsgeld finanzieren soll. Das
bedeutet auch: Andere Leistungen müssen für die Ein-
führung des Betreuungsgeldes bluten. Wir wissen nicht,
welche Leistungen das sein werden. Vielleicht ist es das
Elterngeld. Es gibt zwar Beteuerungen, das Elterngeld
solle nicht angetastet werden, aber wir wissen es nicht.
Wir wissen nicht, ob es die Sprachförderung in den Kitas
oder die Familienhebammen betreffen wird. Ich finde
dieses Vorgehen unverantwortlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger wissen sehr
genau, dass man beides nebeneinander – den Kitaausbau
und das Betreuungsgeld – nicht seriös finanzieren kann.
In einer Emnid-Umfrage haben sich 80 Prozent der Be-

fragten dafür ausgesprochen, statt des Betreuungsgeldes
lieber in die Kitas zu investieren. Das ist die richtige Pri-
oritätensetzung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Viele Kolleginnen und Kollegen in den Regierungs-
fraktionen wissen es ebenfalls besser. Ich möchte stell-
vertretend nur Frau Kramp-Karrenbauer als Kronzeugin
nennen, die am Montag – einen Tag nach der Saarland-
Wahl – vor der Einführung des Betreuungsgeldes ge-
warnt hat und die ihrer Sorge Ausdruck verliehen hat,
dass die Einführung des Betreuungsgeldes zu Einsparun-
gen beim Elterngeld führen wird. Wenn Sie schon Oppo-
sitionspolitikerinnen nicht glauben, dann glauben Sie
wenigstens der wahrscheinlich zukünftigen Ministerprä-
sidentin des Saarlandes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717220500

Frau Kollegin, Sie kommen bitte zum Schluss.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717220600

Ich komme zum Schluss. Ich möchte Sie dringend

auffordern, heute mit uns gemeinsam die Notbremse zu
ziehen. Machen Sie dem Spuk Betreuungsgeld ein Ende.
Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717220700

Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und

Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung bekannt; es ging um den Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom
aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren Änderun-
gen im Recht der erneuerbaren Energien auf den Druck-
sachen 17/8877 und 17/9152. Abgegeben wurden
541 Stimmen. Mit Ja haben 305 Kolleginnen und Kolle-
gen gestimmt, mit Nein 235, es gab eine Enthaltung.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 541;
davon

ja: 305
nein: 235
enthalten: 1

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer

Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)


Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött

Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)


Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder

Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring

Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Johannes Vogel

(Lüdenscheid)


Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

CDU/CSU

Veronika Bellmann
Josef Göppel
Helmut Heiderich

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl

Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Anton Schaaf
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler

Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland

Enthalten

CDU/CSU

Andreas G. Lämmel





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Wir kommen zurück zu unserer Debatte. Ich gebe das
Wort dem Kollegen Norbert Geis für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1717220800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es kann überhaupt kein Zweifel bestehen – da-
rüber besteht Einigkeit über alle Fraktionen hinweg –,
dass es erste Aufgabe der Eltern ist, darüber zu entschei-
den, wie sie ihr Kind erziehen.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Nicht der Staat hat das Recht, darüber zu entscheiden,
sondern die Eltern haben das Recht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum klatschen nur die Männer?)


Das ist hoffentlich die gemeinsame Meinung. Das steht
so auch in Art. 6 Grundgesetz.


(Caren Marks [SPD]: Art. 3!)


Wenn die Eltern schon das Recht haben – –


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Kann ich bitte Ruhe haben, das ist ja furchtbar. Sie
müssen doch in der Lage sein, sich wenigstens einmal
ein paar Argumente anzuhören. Ich habe wirklich den
Eindruck, dass in der Debatte über das Betreuungsgeld
sehr viel Verbohrtheit dabei ist.


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Bringen Sie doch Argumente, aber bitte keine Schlag-
wörter, wie wir sie jetzt schon über zwei Jahre lang hö-
ren. Keine Schlagwörter, sondern zurück zu Argumen-
ten.

Mein erstes Argument ist, dass die Eltern die Ent-
scheidungsfreiheit haben, ob sie ihr Kind in die Kita ge-
ben oder ob sie es daheim erziehen oder die Erziehung
anderweitig planen. Diese Entscheidungsfreiheit haben
die Eltern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Ich bedanke mich für den Applaus.


(Caren Marks [SPD]: Sie haben es nicht verstanden!)


Der Staat hat nicht das Recht, zu entscheiden,


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie aber auch nicht!)


ob die Eltern ihr Kind in die Kita geben oder es daheim
erziehen; darüber darf der Staat nicht entscheiden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Ich bedanke mich für den Beifall. – Wenn das aber so
ist, dann hat der Staat auch die Verpflichtung, dafür
Sorge zu tragen, dass beides möglich ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Genau!)


– Na also! Sie klatschen mir Beifall und stimmen mir zu,
dass der Staat die Verpflichtung hat, auch die Eltern zu
unterstützen, die ihr Kind nicht in die Kita geben wollen,
sondern es lieber daheim erziehen wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Jetzt wird es falsch! Buh!)


– Jetzt hören Sie auf zu klatschen; jetzt haben Sie es ka-
piert. Sie haben mir aber immerhin zugestimmt, dass ers-
tens die Eltern die Entscheidungsfreiheit haben sollen
und dass zweitens der Staat da nicht hineinzureden hat.
Der Staat muss also drittens die Möglichkeit schaffen
– da haben Sie mir nicht mehr zugestimmt –, dass die El-
tern diese Entscheidungsfreiheit nutzen können.

Genau das will das Verfassungsgericht. Hier ist im-
mer die Rede davon, unser Verlangen sei verfassungs-
widrig. Das, was Sie wollen, ist verfassungswidrig.


(Zuruf von der SPD: Nein!)


In seiner Entscheidung vom 10. November 1998, vor
14 Jahren, hat das Verfassungsgericht festgelegt, dass
der Staat Sorge dafür tragen muss, dass die Eltern diese
Entscheidungsfreiheit haben. Es hat gesagt: Wenn sich
eine Frau dazu entschließt, ihre Erwerbstätigkeit zu un-
terbrechen, daheim zu bleiben und daheim ihr Kind zu
erziehen, hat der Staat die Verpflichtung, diese Frau zu
unterstützen.


(Caren Marks [SPD]: Warum „diese Frau“? Es könnte auch ein Mann sein!)


Genau das wollen wir mit dem Betreuungsgeld leisten.
Was ist daran falsch?

Ich verstehe Ihre Logik wirklich nicht. Wenn Sie zu-
nächst Beifall klatschen, dass der Staat nicht hineinzure-
den hat, dass der Staat die Entscheidungsfreiheit zu ge-
währleisten hat, dann müssen Sie auch Beifall klatschen,
wenn ich feststelle, dass der Staat aufgrund Art. 6
Grundgesetz die Verpflichtung hat, der Frau zu helfen,
die daheim bleibt und daheim ihr Kind erziehen will.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Caren Marks [SPD]: Warum „der Frau“?)


Genau das wollen wir mit dem Betreuungsgeld leisten.
Wir wollen auf der anderen Seite, dass die Frau, die ihre
Erwerbstätigkeit nicht unterbrechen will, ihr Kind in die
Kita geben kann.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Wo sind die Männer?)


Wir wollen, dass die Kitas gebaut werden. Sie werden
staunen: Bayern liegt insoweit an der Spitze.





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)



(Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Da können Sie wohl nur lachen. Ich vermute, Sie la-
chen aus lauter Dummheit und weil Sie es nicht besser
wissen. Das ist der Hintergrund. Sie reden sich etwas
ein, aber übersehen völlig eine vernünftige Argumenta-
tion und auch die Wirklichkeit. Bayern steht beim Bau
von Kitas mit an der Spitze; nichts anderes ist wahr.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD)


– Da brauchen Sie nicht so dumm zu lachen. Sie lachen
über Ihre eigene Dummheit. Das mag es wohl sein.

Wenn es so ist, dass der Staat nicht hineinreden darf,
dann muss man sich schon die Frage stellen, warum Sie
dagegen sind. Warum sind Sie dagegen, dass die Frau
die Möglichkeit hat,


(Caren Marks [SPD]: Der Mann! – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit den Männern?)


ihr Kind daheim zu erziehen und es nicht in die Kita ge-
ben zu müssen? Was soll daran falsch sein? Sie sagen
immer, nur in der Kita könne das Kind richtig erzogen
werden.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt keiner!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, es handelt
sich hier um Kleinkinder, um Kinder zwischen ein und
drei Jahren. Diese Kinder brauchen zunächst einmal die
Bindung zu ihren Eltern.


(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: So ist es!)


Das ist nicht nur Erbgut der Menschheit insgesamt; das
können Sie auch in jeder Studie nachlesen.


(Zurufe von der SPD und der LINKEN: Oh!)


Sie können also nicht behaupten, dass das Kind nur in
der Kita richtig erzogen werden kann.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das behaupten aber auch nur Sie!)


Das ist eine Behauptung, die Sie für Ihre Ideologie brau-
chen, die aber nicht wahr ist.

Ich will einen weiteren Punkt dazu sagen. Sie befin-
den sich bei dieser Frage in einer wirklich seltsamen Al-
lianz mit den Arbeitgeberverbänden; das will ich zuge-
stehen. Aber den Arbeitgebern geht es darum, dass die
Frau als Arbeitskraft erhalten bleibt, auch in der Zeit, in
der sie das Kleinkind hat. Wir denken nicht an die Ar-
beitskraft der Frau, sondern zunächst an das Kind. Das
ist meiner Meinung nach die Aufgabe des Staates. Das
übersehen Sie.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717220900

Herr Kollege Geis, würden Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Ziegler von der SPD-Fraktion zulassen
wollen?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1717221000

Bitte.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717221100

Bitte schön.


Dagmar Ziegler (SPD):
Rede ID: ID1717221200

Herr Kollege, ich habe nach Ihrer Meinung dumm ge-

lacht.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Ja!)


Das zeigt schon den Intellekt auf Ihrer Seite.


(Beifall der Abg. Caren Marks [SPD])


Sie sagen, dass Bayern beim Ausbau der Kitas ganz
vorn liegt. Ich glaube, Sie wissen nicht, von welchem
Level ausgehend Bayern ganz vorne liegt, nämlich von
dem Level ganz unten. Würden Sie das bitte zur Kennt-
nis nehmen und die Unterlagen einmal genau studieren.
Sie haben offensichtlich einen höheren IQ als alle ande-
ren hier.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1717221300

Sie liegen falsch. Beim Ausbau der Kitaplätze liegt

Bayern nicht von irgendeinem Level kommend, sondern
absolut gesehen an der Spitze.


(Beifall des Abg. Alexander Dobrindt [CDU/ CSU] – Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Es ist so. Sie haben leider keine Ahnung. Es hat keinen
Sinn, dass ich die Frage noch weiter beantworte; denn
Sie werden nicht klüger. Sie sind nicht bereit, die Tatsa-
chen zur Kenntnis zu nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie denken immer nur in eine Richtung, und das ist das
Problem.

Wenn der Staat bereit ist, die Frau zu unterstützen, die
daheim bleibt, um ihre Kinder zu erziehen, dann hat der
Staat auch die Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, dass
der Frau der Wiedereinstieg in den Beruf gelingt. Das ist
eine viel wichtigere Verpflichtung als die, die Sie für
wichtig halten, nämlich Kitas auszubauen. Der Wieder-
einstieg der Frau, die daheim geblieben ist, in den Beruf
scheint mir eine der zentralen Aufgaben zu sein.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit den Vätern?)


Da sind wir hoffentlich einer Meinung.

Es ist wahnsinnig schwierig, sich hier Gehör zu ver-
schaffen.





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)



(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu Recht!)


Man muss die Lautstärke seiner Stimme voll und ganz
einsetzen, um überhaupt noch zu Wort zu kommen. Es
ist nicht möglich, mit Ihnen hier in einer vernünftigen
Art und Weise zu diskutieren. Wir werden unsere Politik
weiterverfolgen. Wir müssen es allerdings aufgeben, Sie
von der Richtigkeit unserer Politik zu überzeugen. Es hat
offensichtlich keinen Sinn.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717221400

Die Kollegin Caren Marks hat jetzt das Wort für die

Fraktion der SPD.


(Beifall bei der SPD)



Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1717221500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Geis,
wie gewohnt haben wir von Ihnen keine Argumente ge-
hört – keiner hat sie wirklich erwartet –, sondern Ihre
verbohrte, verquaste Ideologie.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Seit dem 21. März ist die Katze aus dem Sack: Auch
Finanzminister Schäuble ist vor der CSU eingeknickt
und hat diesem wirklich unsinnigen Betreuungsgeld im
Kabinett grünes Licht gegeben. 2013 sollen hierfür
400 Millionen Euro und 2014 bereits 1,2 Milliarden
Euro zur Verfügung gestellt werden. Die Süddeutsche
Zeitung nannte den verabschiedeten Eckwertebeschluss
zum Haushalt völlig zu Recht „Buch der vertanen Chan-
cen“. Grund dafür ist das – Zitat – „völlig sinnlose Be-
treuungsgeld“, das hier festgeschrieben wird. Wie das
Betreuungsgeld im Detail ausgestaltet wird und wie die
Gegenfinanzierung aussehen soll, bleibt weiterhin völlig
unklar. Ich sage Ihnen: Solide, verantwortungsvolle
Haushaltspolitik geht anders.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist wirklich enttäuschend, meine Damen und Her-
ren von der Regierungskoalition, dass Sie diese Fernhal-
teprämie – und nichts anderes ist es – allein auf Druck
einiger Verbohrter in der CSU tatsächlich umsetzen wol-
len, und das trotz aller berechtigten Proteste. Ich will die
Verbände und Organisationen nicht im Einzelnen auf-
zählen, das hat bereits meine Kollegin Frau Dörner ge-
tan. Es hagelt zu Recht massive Kritik von Fachverbän-
den, der Wissenschaft, von Gewerkschaften und von
allen Arbeitgeberverbänden, auch von denen, die nicht
im Verdacht stehen, den Grünen, der SPD oder den Lin-
ken nahezustehen. Auch die Europäische Kommission
hat das Betreuungsgeld im Januar gerügt, doch Sie igno-
rieren das. Selbst einige Kolleginnen und Kollegen in Ih-
ren eigenen Reihen schämen sich für diese unsinnige
Idee. Das machen sie uns in Gesprächen jedenfalls im-
mer wieder deutlich.

Die Regierung hat der CSU nachgegeben, ungeachtet
der Tatsache, dass dieses Vorhaben bildungspolitisch,
gleichstellungspolitisch und integrationspolitisch schlicht
katastrophal ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist eine Fehlinvestition; denn es soll für die Nicht-
inanspruchnahme eines Krippenplatzes gezahlt werden.
Welch absurde Idee! Welch absurde Ideologie!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Doch schön, dass Herr Geis direkt vor mir gesprochen
hat. Ein besseres Beispiel dafür, dass bei der CSU Ideo-
logie vor Fachlichkeit kommt, konnten Sie hier nicht ge-
ben, Herr Geis. Herzlichen Dank für diese Steilvorlage!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Staat schafft damit finanzielle Anreize, die Bil-
dungsbeteiligung von Kindern und die Erwerbstätigkeit
insbesondere von Müttern zu verringern. Zahlreiche Stu-
dien beweisen ganz aktuell, dass diese Gefahr wirklich
besteht. Zudem ist diese Fernhalteprämie, Herr Geis,
verfassungsrechtlich höchst problematisch; denn das
Gleichstellungsgebot – vielleicht schauen Sie noch ein-
mal in unser Grundgesetz; es lohnt sich – wird konterka-
riert.

Mit diesem Unsinn zementieren Sie die veraltete Rol-
lenverteilung zwischen den Geschlechtern. Sie setzen
falsche Anreize, insbesondere für Frauen, länger zu
Hause zu bleiben und die eigene Existenzsicherung und
damit auch die eigene Alterssicherung zu vernachlässi-
gen.

Stellen Sie sich einmal die Frage, welches Signal Sie
dem Arbeitsmarkt geben. Sie bauen Hürden für die Be-
rufstätigkeit von Frauen auf. Ich frage mich: Wäre es
nicht die Pflicht dieser schwarz-gelben Bundesregie-
rung, die Hürden abzubauen und vor allem die Verein-
barkeit von Beruf und Familie zu fördern?


(Michael Brand [CDU/CSU]: Es geht um das Kind, nicht um die Wirtschaft!)


Doch dieses Ziel, meine Damen und Herren von der Re-
gierungskoalition, erreichen wir nur mit dem wirklich
forcierten Ausbau der frühkindlichen Bildung. Hier
sollte Ihre Schwerpunktsetzung liegen.

Noch immer entscheidet viel zu häufig die soziale
Herkunft über den Bildungserfolg von Kindern. Wir alle
wissen: Auf den Anfang kommt es an. Wir brauchen
mehr Krippen- und Kitaplätze und insbesondere mehr
Ganztagsangebote. Die Qualität muss verbessert werden.
Nur so erhalten alle Kinder tatsächlich eine gute und ver-
lässliche Förderung.

Ich warne Sie eindringlich: Wenn das Betreuungsgeld
kommt, dann konterkarieren Sie den notwendigen Aus-
bau, vor allem den Ausbau der frühkindlichen Bildung.
Sie wollen für Eltern einen finanziellen Anreiz schaffen,





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)


ihr Kind nicht in eine Krippe zu geben. Das ist einfach
fatal und absurd.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das, was Sie da reden, ist Schwachsinn!)


Ich fordere Sie im Namen meiner gesamten Fraktion
und der gesamten Opposition auf: Verzichten Sie auf
dieses unsinnige und fatale Betreuungsgeld und investie-
ren Sie die hierfür eingeplanten Mittel in den Ausbau der
frühkindlichen Bildung! Die Kinder in unserem Land
werden es Ihnen einmal danken, wenn Sie ein Einsehen
haben. Deutschland braucht weniger Ideologie, aber
deutlich mehr Chancengleichheit. Wir werden dem Ge-
setzentwurf der Grünen aus voller Überzeugung und zu
Recht zustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717221600

Für die FDP-Fraktion hat jetzt Miriam Gruß das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1717221700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Bislang wissen wir über das Betreuungsgeld
nur, dass es kommen soll. Ich zitiere aus einer Vereinba-
rung der Koalitionsspitzen:

Als zusätzliche Anerkennungs- und Unterstüt-
zungsleistung erhalten Familien, die ihre Kinder
nicht in eine Krippe geben, ab 2013 zunächst
100 Euro ab dem zweiten Lebensjahr; ab 2014 er-
halten sie 150 Euro für das zweite und dritte Le-
bensjahr des Kindes.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist eine bekloppte Vereinbarung!)


Darüber hinaus liegt kein konkretes Konzept vor. Ich
werde mich daher bei der heutigen namentlichen Ab-
stimmung enthalten.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Hört! Hört!)


Meine Vorbehalte aus bildungs-, gleichstellungs- und
familienpolitischer Sicht sind lange bekannt, und ich
brauche sie hier nicht zu wiederholen.

Ich will aber einen weiteren Punkt anführen: Wir ge-
ben in Deutschland 187 Milliarden Euro für familien-
politische Leistungen aus. Trotzdem haben wir mit die
geringste Geburtenrate europaweit. Dank der Arbeit von
Ministerin Schröder erwarten wir in 2013 die Ergebnisse
der Gesamtevaluation der familienpolitischen Leistun-
gen. Dann gilt es, die gesamte Familienpolitik ohne
ideologische Scheuklappen effizienter zu gestalten; denn
bislang ist es tatsächlich so, dass wir in der einen Rich-
tung etwas fördern und es mit einer anderen Maßnahme

wieder konterkarieren. Familienpolitik muss effizienter
gestaltet werden.


(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Vorfeld dazu eine neue milliardenschwere Leistung
einzuführen, halte ich im Sinne einer nachhaltigen, zu-
kunfts- und generationengerechten Haushaltspolitik für
fragwürdig.


(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auf Schuldenbergen können Kinder nicht spielen und
erst recht nicht lernen. Nichtsdestotrotz: Die Koalitions-
spitzen haben es beschlossen. Es liegt nun an Ministerin
Schröder, ein verfassungsgemäßes Konzept vorzulegen.
An der Verfassungsmäßigkeit wird sich dieses Konzept
messen lassen müssen.

Ich bleibe skeptisch. Man kann ein Amt verlieren,
man kann ein Mandat verlieren, aber nicht seine Über-
zeugung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Respekt! – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an die CDU/CSU gewandt: Nehmt euch daran ein Beispiel!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717221800

Die Kollegin Diana Golze hat das Wort für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717221900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Miriam, ich bin richtig stolz. – Ich sage das
einmal so.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir kennen uns aus der Kinderkommission. Ich bin sehr
froh, dass du dich heute so geäußert hast, dass du zu dei-
ner Meinung stehst und dir nicht reinreden lässt. Ich
hoffe, dass ganz viele deiner Kolleginnen und Kollegen
deinem Beispiel folgen werden.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Thema Wahl-
freiheit ist schon einiges gesagt worden. Ich will diesen
Punkt nur kurz aufgreifen: Herr Geis, auch Sie sollten
sich die Zahlen wirklich noch einmal konkret anschauen.
Sie wissen: Es stehen längst nicht genügend Kitaplätze
zur Verfügung. Auch fehlt es an gut ausgebildetem Per-
sonal und guten Arbeitsbedingungen für die Beschäftig-
ten. Das heißt, wer tatsächlich Wahlfreiheit herstellen
will, muss in den Ausbau der Kindertagesbetreuung und





Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)


der Angebote investieren, weil die Eltern erst dann eine
Wahl haben. Beim Ausbau der Kindertagesbetreuung
wäre das Geld wirklich gut eingesetzt.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte mich auf das Thema Anerkennung der
Betreuungsleistung der Eltern konzentrieren. Als zwei-
fache Mutter möchte ich es noch einmal sagen: Auch er-
werbstätige Eltern erbringen Betreuungs- und Erzie-
hungsleistungen.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch ihnen gebührt Anerkennung. Erziehende und be-
treuende Eltern, die erwerbstätig sind und ihr Kind in die
Kita bringen, erhalten die Kitabetreuung nicht als Ge-
schenk, sondern sie bezahlen Kitagebühren. Sie würden
doppelt bestraft: Sie müssten Kitagebühren bezahlen und
könnten kein Betreuungsgeld bekommen. Andere bekä-
men die Anerkennung und müssten keine Kitagebühren
bezahlen. Das fände ich sehr ungerecht.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte den Fokus auf die Alleinerziehenden rich-
ten. Von einem Vertreter der Unionsfraktion ist hier eben
gesagt worden, es gehe Ihnen nicht um die Arbeitskraft
der Frauen, es gehe Ihnen um die Kinder. Dazu sage ich:
Wenn es wirklich so ist, sollten Sie sich eine Studie an-
schauen, die Ministerin Schröder heute in Berlin vorge-
stellt hat. Das ist eine Studie des Bundesfamilienministe-
riums, des Deutschen Roten Kreuzes und des Instituts
der deutschen Wirtschaft, das der Linken nicht wirklich
nahesteht. Nach dieser Studie könnten fast doppelt so
viele Kinder von Alleinerziehenden ein Gymnasium be-
suchen, wenn sie im Alter von ein bis zwölf Jahren ganz-
tägig betreut würden. Das würde ihre Bildungschancen
verbessern. Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Steigern
Sie die Bildungschancen von diesen Kindern!


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Investieren Sie in öffentliche Kindertagesbetreuung!
Schaffen Sie eine qualitativ gute Betreuung der Kinder!
Damit leisten Sie etwas für die Kinder. Sparen Sie sich
das Betreuungsgeld!

In diesem Zusammenhang ein kleiner Ausflug zu ei-
nem anderen Thema: 11 000 Verkäuferinnen und Ver-
käufer des Schlecker-Unternehmens sind verunsichert;
zum Großteil sind es Verkäuferinnen. Ich finde es wirk-
lich krass, dass Sie es nicht fertigbekommen, 75 Millio-
nen Euro für eine Transfergesellschaft für Schlecker-
Verkäuferinnen zusammenzubekommen,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was hat das mit dem Thema zu tun?)


aber 1,2 Milliarden Euro für diesen familien- und frauen-
politischen Schwachsinn ausgeben wollen.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es wird vor dem Betreuungsgeld gewarnt. Umfragen
und Studien zeigen, dass es Mitnahmeeffekte geben
wird, dass auch Familien dieses Betreuungsgeld in An-
spruch nehmen werden, die es eigentlich überhaupt nicht
brauchen, die sowieso nie vorhatten, ihr Kind in eine
Kita zu geben, die das Betreuungsgeld als zusätzliches
Taschengeld abgreifen. Im Übrigen werden das genau
dieselben sein, die vom Ehegattensplitting profitieren.
Für diese Gruppe ist das Betreuungsgeld ja eigentlich
auch gedacht.

Das Betreuungsgeld würde erwerbstätige Elternpaare
und Alleinerziehende zugunsten von Einverdienerehen
benachteiligen. Deshalb lehnen wir es ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Schluss noch ein Wort zu der Formulierung im
Koalitionsvertrag, nach der es um die Förderung und die
Bildung gehen soll. In § 16 des Kinder- und Jugendhilfe-
gesetzes steht, dass es Angebote der Familienbildung ge-
ben soll. Dem können viele Kommunen nicht mehr so
nachkommen, wie sie es wollen, weil sie es sich nicht
mehr leisten können. Dieser Paragraf ist zur Sparbüchse
geworden. Deshalb ist es kein Ausweg, in Taschengeld
zu investieren. Vielmehr müssen wir den Kommunen ih-
ren finanziellen Spielraum zurückgeben. Ich fordere Sie
auf: Verzichten Sie auf dieses milliardenteure Wahlge-
schenk in 2013! Investieren Sie in Bildung, in Betreuung
und in die Kommunen!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717222000

Der Kollege Dr. Peter Tauber spricht jetzt für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Haben Sie keine Frauen? – Gegenruf des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir haben Gleichberechtigung! – Caren Marks [SPD]: Den Frauen von der Union ist es peinlich, dazu zu sprechen!)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1717222100

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen! Meine

lieben Kollegen!


(Caren Marks [SPD]: Oh! Nicht so schleimen!)


– Entschuldigung, Frau Marks, bei Ihnen nützt Schlei-
men sowieso nichts mehr; deswegen versuche ich es erst
gar nicht.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Gott sei Dank!)


Es gibt gute Gründe, bei der Frage des Betreuungs-
gelds über unterschiedliche Ansätze oder auch über Al-
ternativen zu reden. Natürlich kann man sagen: Das
Geld, das wir dafür bereitstellen, nutzen wir lieber, um





Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)


schneller einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen.
Natürlich kann man auch sagen: Wir wollen das Geld,
das wir dafür bereitstellen, an anderer Stelle verwenden,
zum Beispiel für eine Beschleunigung des Krippenaus-
baus.


(Caren Marks [SPD]: Das wäre sinnvoll!)


Die dritte Alternative ist, zu überlegen, wie wir mit
den Familien umgehen, bei denen die Eltern gemeinsam
entschieden haben, dass sie ihr Kind bis zum dritten Le-
bensjahr selbst betreuen wollen.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat ihnen das jemand verboten?)


Ich glaube, dass es unsere Aufgabe ist, darüber nachzu-
denken, wie wir ihnen das ermöglichen können.

An der Stelle bin ich geneigt, zu sagen, dass es keinen
Abwägungsprozess zwischen diesen drei Alternativen
gibt. Denn hier wurde sehr schnell deutlich – dies wurde
auch in einigen Reden, wenn auch nicht in allen, aus den
Reihen der Opposition deutlich –, dass Sie nicht zwi-
schen drei Maßnahmen abwägen wollen. Sie moralisie-
ren und wollen die Form, wie sich Familien in diesem
Land zu organisieren haben, vorgeben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Hier haben wir ein Problem; denn an der Stelle ist die
Diskussion nicht mehr sachlich, und wir wägen nicht
mehr ab.


(Caren Marks [SPD]: Sie wissen, dass Sie Unsinn reden!)


Sie sagen selbst – Frau Marks hat es am Ende ihrer
Rede gesagt –: Die Eltern werden es uns danken,


(Caren Marks [SPD]: Ihnen nicht!)


wenn wir kein Betreuungsgeld einführen. Das heißt,
Frau Marks entscheidet, was Eltern in diesem Land wol-
len. Das finde ich beeindruckend, Frau Marks.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Das zeigen Umfragen!)


– Natürlich können wir uns über Umfragen unterhalten.


(Caren Marks [SPD]: Fragen Sie einmal Eltern!)


Ich weiß, dass die Lebenswirklichkeit in diesem Land
so aussieht, dass sich ein Großteil der Eltern diese Frage
gar nicht stellt und sie sich Betreuungsangebote wün-
schen,


(Caren Marks [SPD]: Genau!)


weil sie beide arbeiten gehen wollen oder dies aus finan-
ziellen Gründen müssen. Aber – auch das wird in den
Umfragen deutlich – es gibt auch eine signifikant große
Zahl an Eltern, die sagen: Wir wollen und können die
Betreuung unseres Kindes bis zum dritten Lebensjahr
selbst organisieren.


(Caren Marks [SPD]: Können sie ja auch!)


Es geht auch nicht darum – das unterstellen Sie im-
mer –, dass im Idealfall einer zu Hause bleibt. Sie unter-
stellen weiterhin, dass es nach unserem Verständnis die
Frau sein müsste. Mitnichten ist das so.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Herr Geis hat nur von Frauen gesprochen!)


Wir wollen, dass die Familien, die die Betreuung eines
Kindes bis zu dessen drittem Lebensjahr selbst organi-
sieren können und wollen, weil die Großeltern in der
Nähe sind, weil es ältere Geschwister gibt, weil andere
Familienmitglieder in der Nähe wohnen oder


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Glauben Sie das, was Sie erzählen, eigentlich?)


weil die Eltern aufgrund der beruflichen Situation von zu
Hause aus arbeiten können, Anerkennung erfahren und
die Gesellschaft ihnen zeigt, dass wir diese Erziehungs-
leistung honorieren und sie unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Darum geht es im Kern. Sie hingegen moralisieren
und sagen, dass das weniger wert ist.


(Caren Marks [SPD]: Nein, das sagen wir nicht!)


Das ist eine Unverschämtheit gegenüber den Eltern, die
die Betreuung selbst organisieren wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist der entscheidende Punkt in der Debatte. Hier be-
steht der Unterschied zwischen uns und Ihnen.

Ich sage Ihnen sehr ehrlich: Ich habe keinen Blanko-
scheck für ein Betreuungsgeld in der Tasche. Ich sage
auch nicht: Egal, wie es aussieht, ich mache da mit. Na-
türlich habe ich konkrete Vorstellungen davon, was ich
mir wünsche.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erzählen Sie doch mal, wie Sie das gegenfinanzieren werden! Erzählen Sie das den Eltern!)


Nach meinem Verständnis sollte es beiden Elternteilen
möglich sein, arbeiten zu gehen, auch wenn sie die Be-
treuung ohne staatliche Institutionen organisieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das wäre eine Möglichkeit.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717222200

Herr Kollege, Frau Ziegler würde Ihnen gern eine

Zwischenfrage stellen.


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1717222300

Wenn Frau Ziegler gerne eine Frage stellen möchte

und es der Wahrheitsfindung dient, dann sehr gerne.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann kannst du es vergessen!)







(A) (C)



(D)(B)



Dagmar Ziegler (SPD):
Rede ID: ID1717222400

Vielen Dank, Herr Dr. Tauber. – Sie sagten ja gerade,

mit dem Betreuungsgeld solle auch die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie sichergestellt werden. Können
Sie uns hier und heute erklären, wie das gewährleistet
werden soll? Sie sagten, Geschwister, Großeltern oder
andere Bezugspersonen könnten die Betreuung überneh-
men.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sogar die Eltern! Stellen Sie sich das mal vor!)


Bei der Kitabetreuung stellt der Staat bisher hohe An-
forderungen an die Qualifizierung des Betreuungsperso-
nals, weil wir damit auch die frühkindliche Bildung ver-
knüpfen.


(Unruhe bei der CDU/CSU)


Wie sollen Ihrer Auffassung nach die Anforderungen an
die Qualifikation der Betreuungspersonen, die das Be-
treuungsgeld erhalten, aussehen?


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wollen Sie demnächst etwa einen Elterntest machen, um dann zu entscheiden, ob die Eltern ihre Kinder erziehen dürfen, oder was?)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1717222500

Diese Frage kann man relativ schnell beantworten,

Frau Kollegin.


(Caren Marks [SPD]: Ich bin gespannt!)


Mir ist bis jetzt nicht bekannt, dass Eltern oder Groß-
eltern eine Art Elternführerschein bzw. Großelternfüh-
rerschein vorlegen müssen, um in diesem Land Kinder
großzuziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich habe den Eindruck, auch beim Blick in diesen Saal,
dass das bei den meisten auch ohne einen solchen Füh-
rerschein ganz gut geklappt hat – zugegebenermaßen
vielleicht nicht bei allen. Aber bei den meisten hier im
Saal hat das auch ohne Eltern-TÜV ziemlich gut ge-
klappt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Von daher halte ich nichts davon, –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717222600

Herr Kollege.


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1717222700

– Entschuldigung, diesen Halbsatz noch –, den Ein-

druck zu erwecken, wir würden abwägen: zwischen der
Herzenswärme von Eltern,


(Caren Marks [SPD]: Oje!)


die nicht pädagogisch gebildet sind und vielleicht nicht
studiert haben, und der sehr großen Kompetenz der Er-
zieherinnen und Erzieher in den entsprechenden Einrich-
tungen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717222800

Herr Kollege, auch Herr Lenkert würde Ihnen gern

eine Zwischenfrage stellen.


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1717222900

Na gut. Eine habe ich ja schon zugelassen. Dann lasse

ich noch eine zweite zu.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717223000

Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie sprachen gerade

von der Anerkennung der Erziehungsleistung. Meines
Wissens erziehen alle Eltern ihre Kinder. Ein Kindergar-
tenkind bzw. Krippenkind besucht die Einrichtung im
Durchschnitt an 230 Tagen im Jahr, sagen wir acht Stun-
den täglich. Das macht, grob überschlagen, 2 000 Stun-
den im Jahr. Das ist ein Viertel des Jahres. Selbst wenn
ich in Rechnung stelle, dass das Kind nachts schläft, und
diese Zeit von der Erziehungsleistung abziehe, würde
ich die kühne Behauptung aufstellen, dass ein Kind, das
Vollzeit eine Betreuungseinrichtung besucht, mindestens
50 oder 60 Prozent des Jahres von seinen Eltern erzogen
wird.

Wollen Sie nicht auch diesen Eltern eine Anerken-
nung zuteilwerden lassen, indem Sie die Regelung tref-
fen, dass sie die Hälfte des Betreuungsgeldes bekom-
men? Wenn es Ihnen um Anerkennung geht, müssten Sie
eigentlich der Auffassung sein, dass alle Eltern ein Be-
treuungsgeld bekommen sollten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie müssen die Feiertage mit berechnen, Herr Kollege!)


Zweitens möchte ich gern von Ihnen wissen, wie Sie
dazu stehen, dass Sie Eltern monatlich einen kleinen
dreistelligen Euro-Betrag an Betreuungsgeld zahlen wol-
len, während Sie bei dem so nicht genutzten Kindergar-
ten- bzw. Krippenplatz gleichzeitig 800 Euro pro Monat
einsparen. Könnte es nicht sein, dass Sie das Betreu-
ungsgeld lediglich als eine Art Silberling nutzen, damit
die Eltern auf die Inanspruchnahme der wesentlich teu-
reren, für die Kinder aber besseren Kindergartenplätze
verzichten?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1717223100

Lieber Kollege, danke für diese Fragen. Das war ja

nicht nur eine Frage, sondern das war eher ein Fragen-
bündel.

Man kann festhalten: Diese Gesellschaft honoriert es,
wenn sich Paare dafür entscheiden, Kinder zu bekom-
men, indem die Gesellschaft als Solidargemeinschaft
Betreuungseinrichtungen zur Verfügung stellt. Daran be-
teiligen sich alle, die Steuern zahlen. Sie wissen genau,
dass jeder Betreuungsplatz im Schnitt mit 1 000 Euro
pro Monat subventioniert wird. Das ist eine Leistung, die
die Solidargemeinschaft für die Eltern erbringt.





Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)


Es stellt sich aber die Frage: Was machen wir mit de-
nen, die sagen: „Wir freuen uns, dass die Solidargemein-
schaft diese Leistung erbringt. Auch wir leisten durch
unsere Steuerzahlungen einen Beitrag dazu. Aber wir ha-
ben für uns ein anderes Modell gewählt. Wir wollen das
anders handhaben“? Sagen wir ihnen: „Das ist schön;
das könnt ihr tun“ – Gott sei Dank sind Sie ja noch nicht
so weit, den Eltern das verbieten zu wollen; das kommt
wahrscheinlich als Nächstes –,


(Heiterkeit des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU])


oder sagen wir ihnen: „Gut, dann wollen wir euch eine
Form von Anerkennung zukommen lassen, die es euch
leichter macht, diese Aufgabe selbst zu übernehmen“?
Auch Eltern können Bildungsinhalte vermitteln. Es wäre
schlimm, wenn das nicht so wäre.

Wie ich sehe, haben Sie sich wieder hingesetzt. Ich
war mit der Beantwortung Ihrer Fragen eigentlich noch
nicht fertig; schließlich haben Sie nicht nur eine Frage
gestellt. Aber dann werde ich jetzt in meiner Rede fort-
fahren.

Am Ende bleibt es dabei: Man kann das gegeneinan-
der abwägen. Man kann sagen: Wir verzichten auf das
Betreuungsgeld und sparen das Geld, um schneller die
schwarze Null zu erreichen. – Man kann auch sagen: Wir
setzen einen anderen Schwerpunkt. – Aber bei Ihnen
klingt durch, dass Sie den Eltern vorschreiben wollen,
wie Erziehung und Bildung in den ersten drei Lebensjah-
ren des Kindes zu organisieren sind.


(Caren Marks [SPD]: Nein! Keiner will das!)


– Das ist so.


(Caren Marks [SPD]: Nein!)


Sie verstecken sich hinter pro familia und hinter dem
Deutschen Gewerkschaftsbund. Sie vertreten aber nicht
die Interessen der Eltern, die gerne ein Betreuungsgeld
hätten. Das ist der entscheidende Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Und was ist mit den Arbeitgebern? Was ist mit den Kirchen? – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Aha! So einfach ist das? Was sagt denn der BDI?)


– Sie können sich hinter Lobbyisten verstecken, wie Sie
wollen.


(Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir stehen für die Eltern, die sagen: Wir wollen das sel-
ber machen. – Ich sage Ihnen auch: Es ist mir herzlich
egal, was hierzu der BDI oder der Gewerkschaftsbund
sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Herr Tauber, schämen Sie sich!)


– Liebe Frau Marks, ich bin geneigt, meine Haltung zum
Betreuungsgeld vielleicht zu überdenken, wenn Sie mir
persönlich nachher noch einmal die Frage beantworten,


(Caren Marks [SPD]: Nein, Gott bewahre! Ihnen persönlich gar nicht!)


ob Sie zu Hause betreut worden sind oder in einer Ein-
richtung waren. Ihr Verhalten und Ihre Zwischenrufe las-
sen vielleicht Rückschlüsse darauf zu.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Caren Marks [SPD]: Ich sage noch mal: Es gibt Männer, Frauen und Schnösel! Sie gehören zur letzten Gattung! – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schämen Sie sich! Unterirdisch, der Tauber!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717223200

Das Wort hat der Kollege Sönke Rix für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Sönke Rix (SPD):
Rede ID: ID1717223300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Die Nerven scheinen bei
Schwarz-Gelb blank zu liegen. In hitzigen Debatten
Zwischenrufe als ungezogen darzustellen, finde ich
schon etwas schräg.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit muss man umgehen können. Gerade wenn man
Argumente liefert, die zu Zwischenrufen animieren,
sollte man eine größere Gelassenheit haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Mechthild Dyckmans [FDP])


Ich möchte auf ein paar Argumente eingehen, die ge-
rade pro Betreuungsgeld genannt worden sind:

Erstens. Herr Geis, Sie haben mehrmals die Verfas-
sung zitiert und gesagt, aus verfassungsrechtlichen
Gründen sei die Einführung des Betreuungsgeldes quasi
ein Gebot, weil wir die Verpflichtung hätten, die Frauen
– Sie haben es so formuliert – dafür zu belohnen, dass
sie zu Hause bleiben und sich dort um die Kinder küm-
mern. Von den Männern haben Sie nie gesprochen. Ich
weise auf einen Verfassungsgrundsatz hin, nämlich auf
die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Den
haben Sie anscheinend außer Acht gelassen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Miriam Gruß [FDP])


Zweitens. Hier wird häufig davon gesprochen, dass es
sowohl auf der einen Seite als auch auf der anderen Seite
des Hauses Ideologien gibt und dass wir das Betreuungs-
geld aus ideologischen Gründen ablehnen würden. Liebe
Kolleginnen und Kollegen insbesondere der CDU/CSU
– bei der FDP ist ja eine Einsicht vorhanden, zumindest
in großen Teilen –, wir haben den Ausbau der Krippen-





Sönke Rix


(A) (C)



(D)(B)


plätze doch gemeinsam beschlossen. Warum stehen Sie
denn nicht dazu und tun jetzt so, als ob das der falsche
Weg gewesen ist?


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Wir stehen doch dazu!)


Sie sind doch jetzt diejenigen, die ein neues Instrument
einführen und uns vorwerfen, wir hätten eine falsche
Ideologie. Wir sind von der gemeinsamen Beschlusslage
nicht abgewichen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir auch nicht!)


Das wollen Sie doch jetzt. Sie wollen doch jetzt plötzlich
den Konsens aufgeben.

Sie reden auch gerne von einem besonderen Fami-
lienbild und suggerieren mit einigen Aussagen, dass die-
jenigen Familien, bei denen ein Elternteil zu Hause
bleibt und auf die Kinder aufpasst, sie betreut und er-
zieht, etwas sehr Gutes tun. Sie verleugnen dabei aber,
dass es genügend Eltern gibt, die das einfach nicht kön-
nen, weil sie arbeiten müssen.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das hat er doch gesagt!)


Diesen quasi zu sagen: „Ihr bekommt keine Belohnung,
weil ihr eure Kinder erst nach der Krippenzeit betreut“,
finde ich eine Frechheit.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das, was Sie sagen, ist dumm!)


Das suggeriert doch, dass die Erziehung derjenigen, die
ihre Kinder in die Krippe geben, weniger wert ist als die
Erziehung derjenigen, die das nicht tun. Warum werden
sie denn nicht belohnt?


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wer sagt denn so einen Schwachsinn? Auf so einen Schwachsinn können auch nur Sie kommen! Herr Gott noch mal!)


Ein Beispiel: Stellen wir uns einmal Familie Meier
vor. Die Kinder der Familie Meier gehen nie in eine Bü-
cherei. Bekommen auch sie einen Bonus dafür, weil sie
die Bücherei nicht nutzen? Die gleiche Frage stelle ich in
Bezug auf die Kinder, die nicht in die Schwimmhalle
oder nicht ins Museum gehen. Wir halten öffentliche
Einrichtungen vor und wollen nicht diejenigen belohnen,
die diese nicht nutzen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Billiger geht es gar nicht mehr!)


Über die Summe, die das Betreuungsgeld kostet, ha-
ben wir schon gesprochen. Es wäre sinnvoller angelegt,
wenn es in den Ausbau von Krippenplätzen gesteckt
würde. Die Kommunen warten auf weitere Signale
durch den Bund und die Länder. Wir müssen uns mit den

Ländern an einen Tisch setzen und Signale dafür senden,
dass es sich lohnt, weiter in Krippenplätze zu investie-
ren, und dass wir Geld dafür bereitstellen – und nicht für
ein unsinniges Betreuungsgeld.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zum Schluss möchte ich sagen, dass ich nicht hoffe,
dass Sie sich der Meinung der Lobbyisten wie der Kir-
chen, der Arbeitgeberverbände und der Unternehmens-
verbände anschließen. Es kann ja angehen, dass Sie
diese als Lobbyisten bezeichnen, Herr Tauber. Wir ma-
chen das aber nicht ausschließlich.

Vielmehr hoffe ich, dass Sie sich den Argumenten
von Frau von der Leyen anschließen. Sie hat nämlich ge-
sagt, das Betreuungsgeld sei eine bildungspolitische Ka-
tastrophe. Sie sollten sich einmal daran erinnern, was
Ihre eigenen Leute zu diesem Thema sagen.

Sie haben nun die Chance, diesen Worten Taten fol-
gen zu lassen. Wir stimmen dem Gesetzentwurf der Grü-
nen zu, weil er auch von uns hätte sein können.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717223400

Sibylle Laurischk hat jetzt das Wort für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Sibylle Laurischk (FDP):
Rede ID: ID1717223500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wenn wir heute über das Betreuungsgeld disku-
tieren, dann müssen wir uns auch den gesellschaftlichen
Realitäten stellen. Wir haben seit einigen Jahren ein
neues Unterhaltsrecht, das insbesondere Frauen nach ei-
ner Scheidung auferlegt, zu arbeiten. Das heißt, wir ha-
ben die klare Zielsetzung, dass die Berufstätigkeit von
Frauen gewünscht ist. Insofern ist zu überlegen, ob der
Weg, der mit dem Betreuungsgeld gewiesen werden soll,
nämlich zu Hause zu bleiben, der richtige Weg ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)


Ich persönlich bin der Meinung, dass wir die Rah-
menbedingungen dahin gehend ausrichten müssen, dass
diese Realität lebbar ist. Dies betrifft den Weg der
Frauen in den Beruf und ihre eigenverantwortliche
selbstständige Lebensführung. Dies ist mit einer Ehe-
schließung nicht immer gewährleistet.

Darüber hinaus gibt es eine weitere gesellschaftliche
Realität, nämlich die Notwendigkeit zur Integration. Das
heißt, viele Kinder, die zu Hause unzureichend gefördert
werden, weil ihre Eltern dazu einfach nicht in der Lage
sind, auch wenn sie das wollen, brauchen entsprechende
Bildungsangebote. In diesem Zusammenhang würde das
Betreuungsgeld nach meinem Dafürhalten falsche An-
reize setzen.





Sibylle Laurischk


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)


Ich denke, diese Bundesregierung hat gerade mit der
Förderung der frühkindlichen Bildung das richtige Si-
gnal gesetzt, mehr Sprachförderung zu entwickeln und
den betroffenen Kindern frühzeitig ein Angebot in den
Kindergärten bzw. Kitas zu machen. Das Betreuungs-
geld dagegenzusetzen, ist sicherlich problematisch.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb müssen wir uns genau überlegen, wie das
Betreuungsgeld aus verfassungsrechtlicher Sicht zu be-
werten ist. Kann der Bund es denn überhaupt einführen?
Nur dann, wenn er dafür zuständig ist. An dieser Stelle
ist Art. 74 Abs. 1 des Grundgesetzes, die konkurrierende
Gesetzgebung, zu beachten. Nur dann, wenn die Herstel-
lung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet
oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im
gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Re-
gelung des Betreuungsgeldes erfordern – entsprechend
Art. 72 Abs. 2 des Grundgesetzes –, wäre die konkurrie-
rende Gesetzgebung überhaupt gegeben.

Dies halte ich allerdings für zweifelhaft. Ich meine,
bei dieser Frage muss noch rechtliche Expertise einge-
holt werden. Deswegen werde ich mich heute der
Stimme enthalten.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717223600

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9165 an den Ausschuss für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend vorgeschlagen. Damit sind
Sie einverstanden? – Dann ist das so beschlossen.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entwurf
eines Dritten Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch –
Aufhebung der Ankündigung eines Betreuungsgeldes.
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/8201, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1579 abzu-
lehnen.

Wir werden jetzt über diesen Gesetzentwurf abstim-
men, und zwar namentlich. Es liegen hierzu verschie-
dene Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung
vor, unter anderem der Kolleginnen Gruß, Happach-
Kasan und Canel.1)

Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze
einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt?


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Würden Sie bitte noch einmal sagen, worüber abgestimmt wird?)


– Wir stimmen über den Gesetzentwurf namentlich ab. –
Die Schriftführerinnen und Schriftführer sind überall da? –
Dann eröffne ich die Abstimmung.

Konnten denn jetzt alle ihre Stimmkarten abgeben? –
Das scheint mir der Fall zu sein. Dann schließe ich die
Abstimmung.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen
später bekannt gegeben.2)

Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort, und zwar
über die Beschlussempfehlungen des Ausschusses für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache
17/8201. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6088 mit dem
Titel: „Auf die Einführung des Betreuungsgeldes ver-
zichten“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Was macht Bündnis 90/Die Grü-
nen?


(Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Wir waren jetzt bei der Drucksache 17/6088. Die Frak-
tion stimmt dagegen, nehme ich an.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen bei
Zustimmung durch die Koalition und Ablehnung durch
die Oppositionsfraktionen.

Somit komme ich zu Tagesordnungspunkt 9:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-
Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, Dr. Birgit Reinemund, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP

Europäische Finanzaufsicht stärken und effi-
zient ausgestalten

– Drucksache 17/9151 –

Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.


(Unruhe)


– Ich bitte darum, die Gespräche an der Regierungsbank
und im vorderen Teil des Saales zu verlagern, damit der
nächste Redner ausreichend zur Geltung kommt. – Vie-
len Dank.

1) Anlage 5 2) Ergebnis Seite 20328 C





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1717223700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Er-

gebnis der Finanzkrise im Jahr 2008 war die Erkenntnis,
dass wir Finanzmärkte nur noch europäisch regulieren
können, und zwar deswegen, weil Finanzmärkte leider
nicht an Ländergrenzen haltmachen können. Noch bes-
ser wäre es gewesen, das Ganze international zu regeln.
Das ist aber leider nicht gelungen.

Europäische Regulierung bedeutet aber auch, dass wir
eine europäische Aufsicht brauchen. Genau so eine Auf-
sicht ist im Jahr 2010 für das Jahr 2011 auf den Weg ge-
bracht worden. Wir haben Aufsichtsbehörden gegründet:
die EBA für die Banken, die EIOPA für die Versicherun-
gen und die ESMA für die Wertpapiere. Wir haben die-
sen Aufsichtsbehörden auch Aufgaben zugewiesen: Sie
sind dafür verantwortlich, dass europäisches Recht ein-
heitlich ausgeübt wird. Wir haben ihnen die Verantwor-
tung für die Schlichtung von Streit zwischen nationalen
Aufsichtsbehörden zugewiesen, und wir haben ihnen
Eingriffsrechte im Fall von Krisen gegeben. Wir haben
dabei die nationalen Aufsichten weiterarbeiten lassen;
denn wir wissen genau, dass die Dinge vor Ort besser
von denen zu regeln sind, die auch vor Ort verhaftet
sind. Das ist gelebtes Subsidiaritätsprinzip.

Meine Damen und Herren, ich denke, dieses Kon-
strukt ist gelungen. Es ist gar nicht hoch genug zu be-
werten, dass wir innerhalb eines Jahres – es geht um
Gründungen im Jahr 2011 – dazu gekommen sind, dass
diese drei Behörden arbeitsfähig sind, und das, obwohl
sie gleichzeitig Personal rekrutieren mussten und ob-
wohl sie im Feuer standen, da sich die Finanzmärkte
weiterentwickelt haben. Insofern ist das eigentlich eine
gute Entwicklung.

Aber es gibt auch einige Dinge, die Anlass zur Sorge
geben. Diese Dinge möchten wir in unserem Antrag be-
nennen. Wir möchten die Bundesregierung auffordern,
darauf hinzuwirken, dass diese Dinge sich nicht so
schlecht entwickeln, wie wir es uns vorstellen könnten.

Der erste Punkt. Es gibt eine europäische Aufsicht, es
gibt nationale Aufsichten, und da muss sich einiges zu-
sammenruckeln. Jeder kämpft um Einfluss. Wir möchten
auf der einen Seite dafür sorgen, dass die nationale Auf-
sicht hier in Deutschland abgeben kann, dass sie erkennt:
Mehr Kompetenzen müssen auf die europäische Ebene
verlagert werden. Auf der anderen Seite möchten wir,
dass die europäische Aufsicht das macht, wofür sie zu-
ständig ist, und nicht zu tief in die nationalen Belange
eingreift.

Der zweite Punkt; er ist besonders wichtig, wie ich
vielen Gesprächen mit Vertretern von Privatbanken,
Sparkassen und Volksbanken entnehmen kann. Wir ha-
ben nicht das Gefühl, dass auf europäischer Ebene die
Vielfalt der europäischen Bankenlandschaft zur Kennt-
nis genommen wird. Wir haben nicht das Gefühl, dass

zur Kenntnis genommen wird, dass wir sehr erfolgreiche
regionale, mittelständisch tätige Banken haben. Wir ha-
ben vielmehr das Gefühl, dass das Rollenmodell für die
Bankenregulierung viel zu sehr die nach britischem Vor-
bild formierte börsennotierte Aktiengesellschaft ist. Das
kann nicht sein. Wir müssen immer wieder darauf hin-
wirken, dass unsere mittelständischen Banken weiterhin
ihren Platz haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das hat viel damit zu tun, dass wir insbesondere den
mittelständischen Banken durch neue Aufsichtsbehörden
viel Bürokratie aufhalsen. Auch das kann nicht sein.
Wenn mir Volksbanker sagen: „Ich kann mein Geschäft
nicht mehr machen, weil ich nur noch damit beschäftigt
bin, sämtliche Templates im Meldewesen auszufüllen“,
dann ist das nicht in unserem Sinne. Wir wollen einheit-
liche europäische Regeln haben. Wir wollen aber nicht,
dass insbesondere kleine und mittelständische Institute,
ob im Banken- oder im Versicherungsbereich, durch Bü-
rokratie kaputtgemacht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Auch das ist ein wichtiger Ansatz in unserem Antrag.

Es geht aber noch weiter. An dieser Stelle wird es
vielleicht etwas kompliziert, aber für uns als Parlamen-
tarier sehr interessant. Wir haben den europäischen
Aufsichtsbehörden eigentlich nur zugewiesen, die An-
wendung von Recht, das andere gesetzt haben, zu beauf-
sichtigen. Was wir momentan erleben, ist aber eine
andere Entwicklung: Im europäischen Gesetzgebungs-
prozess werden Vorlagen vom Rat, von der Kommission
und leider auch vom Parlament nur noch so aufgebaut,
dass ein grober Rahmen gesetzt wird und dass alles, was
in die Details geht, den Aufsichtsbehörden überlassen
wird mit der Folge, dass sie technische Standards setzen
und mit diesen Standards dann quasi demokratiefrei
Politik machen. Das ist nicht gut, und das ist nicht rich-
tig. Wir sind der Meinung, dass auch auf europäischer
Ebene in der einen oder anderen Detailregelung dafür
gesorgt werden muss, dass die Parlamente weiter mitbe-
stimmen können. Wir wollen kein Regime der Techno-
kraten, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein weiterer Punkt, der uns im Zusammenhang mit
dem Antrag bewegt und der durchaus kritisch anzumer-
ken ist, ist, dass in den Schlüsselpositionen der europäi-
schen Aufsichtsbehörden nahezu keine deutschen Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter vertreten sind. Das ist im
Übrigen nicht nur ein Problem der europäischen Finanz-
aufsichtsbehörden, sondern dieses Problem besteht auch
an vielen anderen Stellen auf europäischer Ebene.

Wenn man davon ausgeht, dass unabhängig vom An-
sehen der Nationalität die Besten dorthin gelangen sol-
len, ist das auf den ersten Blick vielleicht nicht schlimm.
Aber vielleicht ist es auch so, dass die Wahrnehmung der
mittelständisch strukturierten und regional aufgestellten
deutschen Bankenlandschaft mit Sparkassen, Volksban-





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


ken und kleinen Privatbanken in Brüssel deswegen fehlt,
weil dieses Modell dort zu wenig vertreten wird. Das
hängt vielleicht wiederum damit zusammen, dass wir als
Deutsche nicht in Schlüsselpositionen vertreten sind.

Deswegen geht mein dringender Appell an das Fi-
nanzministerium, die BaFin und alle anderen, die dafür
verantwortlich sind, verstärkt dafür zu sorgen, dass deut-
sche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei den europäi-
schen Finanzbehörden und ebenso bei anderen europäi-
schen Institutionen auch in Schlüsselpositionen zum
Zuge kommen. Ich denke, darin haben wir großen Nach-
holbedarf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist aber eine böse Kritik an der Kanzlerin! Ganz böse!)


Ich komme zum letzten Punkt meiner Ausführungen.
Angesichts der Geschichte der europäischen Regulie-
rung und der europäischen Rechtsetzung haben wir eines
festzustellen, nämlich dass wir in Deutschland immer
viel Zeit investiert haben, um zu verhindern, dass in

Europa etwas geregelt wird, was wir in Deutschland ver-
meintlich besser regeln können. Ich glaube, wir könnten
diese Zeit besser investieren, wenn wir uns bemühen
würden, die europäischen Regelungen für Deutschland
besser zu gestalten, statt zu versuchen, sie zu verhindern.
Dieser Antrag soll dazu dienen. Er ist proeuropäisch. Ich
freue mich auf die Diskussion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717223800

Ich gebe Ihnen zwischenzeitlich das von den Schrift-

führerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der
namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches So-
zialgesetzbuch – Aufhebung der Ankündigung eines Be-
treuungsgeldes – bekannt: Abgegeben wurden 537 Stim-
men. Mit Ja haben gestimmt 231 Abgeordnete, mit Nein
haben gestimmt 297 Kolleginnen und Kollegen. Es ha-
ben sich 9 Kolleginnen und Kollegen enthalten. Damit
ist der Gesetzentwurf abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 538;
davon

ja: 232
nein: 297
enthalten: 9

Ja

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Martin Gerster

Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering

Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Anton Schaaf
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer

Waltraud Wolff

(Wolmirstedt)


Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Dr. h. c. Jürgen Koppelin

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Sabine Leidig





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch

Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms

Nein

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Klaus-Peter Flosbach

Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse

Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)


Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann

Heinz Golombeck
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger

Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Enthalten

CDU/CSU

Dr. Maria Flachsbarth
Anette Hübinger
Katharina Landgraf
Rita Pawelski

FDP

Nicole Bracht-Bendt
Sylvia Canel
Miriam Gruß
Sibylle Laurischk
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)


Wir kommen zurück zu unserer Debatte. Ich gebe das
Wort dem Kollegen Manfred Zöllmer für die SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD)



Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1717223900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Das Thema Finanzaufsicht ist wohl so etwas
wie das schwarze Loch der Koalition. Es hat viele An-
kündigungen gegeben, und alles ist irgendwie ver-
schwunden.

Ich will das Ganze ein bisschen nachzeichnen und be-
ginne mit den Koalitionsverhandlungen am 8. Oktober
2009. Ich zitiere:

Die künftigen Koalitionäre CDU, CSU und FDP
haben sich auf ein erstes Vorhaben geeinigt: Die
Bankenaufsicht wird bei der Bundesbank konzen-
triert.

Mit dieser Position zur Finanzaufsicht ist Schwarz-
Gelb in diese Koalition gestartet. Ich kann mich noch
sehr gut an Aussagen von Herrn Wissing erinnern – er ist
gerade nicht anwesend –, der im Finanzausschuss deut-

lich gemacht hat: Dies ist unser wichtigstes Reformvor-
haben zur Regulierung der Finanzmärkte.

Wir müssen feststellen: Sie sind mit dieser Position
krachend gegen die Wand gefahren. Dieses Vorhaben,
das ich eben beschrieben habe, war schon damals falsch.
Dies haben wir als Sozialdemokraten von Anfang an
deutlich gemacht.


(Beifall bei der SPD – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Andere auch!)


– Genau, andere auch.

Ich frage die Koalition: Warum gibt es eigentlich im-
mer noch keinen Gesetzentwurf zur Finanzaufsicht? Es
gibt bisher nur einen Referentenentwurf. Zu dem nach
Ihrer Aussage wichtigsten Reformthema dieser Legisla-
turperiode gab es bisher nur heiße Luft.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Armselig!)


Man kann weiterverfolgen, was dann passierte. Am
16. Dezember 2010 war sich die Koalition angeblich
über die Reform der nationalen Finanzaufsicht einig. Na
wie schön! Zehn Eckpunkte wurden der staunenden Öf-
fentlichkeit präsentiert.





Manfred Zöllmer


(A) (C)



(D)(B)


Was passierte dann? Gar nichts. Ein Jahr lang pas-
sierte gar nichts. Dann, am 13. Januar 2011, stand im
Handelsblatt unter dem Titel „Streit um Neuordnung der
Finanzaufsicht“ – ich zitiere –:

Die Koalition hat sich auf eine Reform der Finanz-
aufsicht verständigt, doch wichtige Fragen sind
noch nicht geklärt. Experten warnen bereits vor ei-
nem Kompetenzgerangel der Aufseher, das im Kri-
senfall wertvolle Zeit kosten könnte.

Jetzt sind wir wieder ein Jahr später, und ich muss
feststellen: Sie sind keinen Schritt weitergekommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie können sich innerhalb dieser Regierung offensicht-
lich nicht einigen. Dies ist ein eklatantes Armutszeugnis
für diese Koalition. Denn natürlich müssen Konsequen-
zen aus den Fehlern der Bankenaufsicht vor der Finanz-
marktkrise gezogen werden; das ist ganz wichtig. Die
Rolle der BaFin muss präzisiert werden. Ihre Aufgaben
im Bereich von Aufsicht und Verbraucherschutz müssen
angepasst werden. Die Zusammenarbeit mit der Bundes-
bank muss präzisiert werden. Wir warten deshalb drin-
gend auf Ergebnisse.

Ich kann vielleicht noch einmal einen nicht völlig un-
bekannten ehemaligen Kollegen zitieren. Er hat wörtlich
gesagt:

Ich kann es nicht nachvollziehen, wenn wir

– also Sie –

die notwendige Reform der Finanzaufsicht auf die
lange Bank schieben würden. … Das wäre eine un-
gute Situation.

So Herr Dautzenberg, ehemaliger finanzpolitischer Spre-
cher. – Diese ungute Situation haben Sie herbeigeführt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr habt doch die Drachen gefüttert, und jetzt müssen wir sie zähmen!)


Da Sie zu dem Thema nationale Aufsicht, welches
von der Regierung bearbeitet und vorgelegt werden
müsste, nichts beitragen konnten, beschäftigen Sie sich
in dem vorliegenden Antrag mit dem Verhältnis Europas
zur Bundesrepublik.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Jetzt kommt er zum Thema! Das war aber ein langer Anlauf!)


– Natürlich war es ein langer Anlauf. Aber das musste
man Ihnen noch einmal deutlich machen.


(Zuruf von der FDP: Nein, das wäre nicht notwendig gewesen!)


Jetzt haben Sie ein Problem. Denn die Sozialdemo-
kraten haben einen Antrag zu Basel III und den Sparkas-
sen eingebracht, der morgen diskutiert wird. Dabei geht
es um das, was Sie hier eben angesprochen haben,


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Na also!)


nämlich um das Verhältnis der deutschen zur europäi-
schen Aufsicht.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Jetzt kommt das Lob!)


Dann haben Sie sich schnell überlegt, was Sie ma-
chen,


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Da haben wir uns überlegt, was schreiben die Sozialdemokraten, und haben das dann auch aufgeschrieben! – Das aber nicht mitschreiben! Um Gottes willen, das ist diskreditierend! – Gegenruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Gesagt ist gesagt! Das muss ins Protokoll! Darauf bestehe ich! – Heiterkeit)


und sich dafür entschieden, einen eigenen Antrag einzu-
bringen. Das will ich nicht kritisieren. Denn es ist nicht
schlecht, wenn es der Opposition gelingt, die Regie-
rungsfraktionen vor sich herzutreiben.

Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann stellt
man fest: Sie haben teilweise von uns abgeschrieben. Da
kann man sich nicht beklagen; die Quelle ist dann sicher-
lich richtig. Konrad Adenauer hat ja zu Recht gesagt:
Man soll niemanden daran hindern, klüger zu werden.


(Beifall bei der SPD)


In Ihrem Antrag beschäftigen Sie sich mit dem Ver-
hältnis zwischen der europäischen und der nationalen
Aufsicht. Ich stelle für uns fest: Wir begrüßen ausdrück-
lich die Reform des europäischen Aufsichtssystems.
Diese war überfällig. Grenzüberschreitend agierende
Banken müssen auch grenzüberschreitend überwacht
werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

Dieses europäische Finanzsystem hat seine Arbeit am
1. Januar 2011 aufgenommen. Daher ist es nachvollzieh-
bar, dass es auch nach über einem Jahr – verallgemei-
nernd würde man es so sagen – noch an vielen Punkten
quietscht und klemmt. Das gilt für die Ausgestaltung der
Arbeit – wer ist wofür zuständig? – und besonders für
die Zusammenarbeit mit den nationalen Aufsehern.

Sie haben es zu Recht gesagt: Da muss man seine
Claims abstecken und die Ellbogen ausfahren. Da
kommt es zu Problemen. – Aber wir müssen ganz klar
feststellen: Wir fordern, dass die mikroprudentielle Auf-
sicht auch in Zukunft von den nationalen Aufsichtsbe-
hörden wahrgenommen wird; das ist ein ganz wesentli-
cher Punkt.

Es muss ebenso eine abgestufte Aufsichtsdichte er-
halten bleiben. Was heißt das? Die Risikostufe des be-
aufsichtigenden Instituts muss beachtet werden. Es kann
nicht sein, dass SIFIs, also große international agierende
Banken, genauso behandelt werden wie eine kleine kom-
munale Sparkasse. Hier muss entsprechend differenziert
werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir hatten gehofft, dass Sie in Ihren Formulierungen
Konkretes von der Bundesregierung fordern. Aber diese
Hoffnung war vergeblich.





Manfred Zöllmer


(A) (C)



(D)(B)



(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Weil Sie nicht lesen können!)


Wir diskutieren hier im Bundestag viele Anträge, aber
selten gibt es im Forderungsteil eines Antrags eine sol-
che Ansammlung von Plattitüden und Gemeinplätzen
wie hier. Ich darf einmal zwei zitieren. Da wird gefor-
dert, „darauf zu achten, dass die mit dem aufsichtlichen
Meldewesen verbundene bürokratische Belastung der
Finanzinstitute nicht außer Verhältnis zu dem mit dem
Meldewesen angestrebten Zweck steht“.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist einer der entscheidenden Punkte!)


– Ja, das ist ein ganz entscheidender Punkt. Da werfen
Sie aber schwer mit Wattebäuschchen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Perfekt formuliert!)


Ich würde von Ihnen verlangen, dass Sie klare Forderun-
gen in Richtung Bundesregierung stellen


(Beifall bei der SPD)


und nicht in dieser allgemeinen Form formulieren „da-
rauf hinzuwirken, dass die Arbeit des Europäischen Aus-
schusses für Systemrisiken effektiv und transparent
gestaltet wird“. – Mein Gott!


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Super! Wer könnte da dagegen sein?)


– Das finde ich auch. Es ist wirklich eine grandiose For-
derung. Man stelle sich vor, dieser Ausschuss würde
ineffektiv und intransparent arbeiten! Grauenvoll!


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Skandalös!)


Wir als Sozialdemokraten hatten, als wir das gelesen
haben, ein kleines Problem. Wir haben nämlich beim
besten Willen keinen Grund gefunden, diesen Antrag in
der allgemeinen Form abzulehnen.


(Peter Aumer [CDU/CSU]: Super!)


Wenn wir das ganze Thema etwas konkreter diskutieren
wollen, dann können wir das morgen tun, wenn wir uns
mit unserem Antrag zu diesem Thema befassen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ob wir diesen
Antrag beschließen oder ob in China ein Sack Reis
umfällt, ist völlig egal.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Sprechen Sie jetzt von dem SPD-Antrag?)


Damit aber die Reissäcke in China stehen bleiben kön-
nen, werden wir dem Antrag zustimmen.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD – Ingrid Arndt-Brauer [SPD], an die CDU/CSU gewandt: Wollen Sie nicht klatschen?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717224000

Björn Sänger hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1717224100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wenn ich jetzt etwas mehr Zeit als die sechs
Minuten hätte, Herr Kollege Zöllmer, dann würde ich
noch einmal die einzelnen Stationen aufzeigen, die uns
in diese Situation gebracht haben,


(Manfred Zöllmer [SPD]: Keine Drohungen!)


für die Sie Verantwortung tragen. Aber da ich nur sechs
Minuten habe, möchte ich viel lieber über unseren guten
Antrag sprechen.

Es ist schon gesagt worden: Eine ganz große Lehre
aus der Krise, in der wir uns befinden, ist, dass wir die
Aufsicht europäisch gestalten müssen, weil wir europäi-
sche Finanzstrukturen und Verflechtungen haben. Des-
wegen hat die Bundesregierung aktiv daran mitgewirkt,
darauf hingewirkt, dass das Europäische Finanzauf-
sichtssystem installiert wurde und seine Arbeit aufge-
nommen hat.

Auch in anderen Fällen hat die Bundesregierung bei
entscheidenden regulatorischen Maßnahmen vorn an der
Front gestanden, wenn es nämlich darum ging, die Dinge
zu regeln, zum Beispiel beim Thema Banken-Restruktu-
rierungsgesetz, beim Thema Leerverkäufe, beim Thema
Selbstbehalt bei Verbriefungsverkäufen.

Aber obwohl das mit der europäischen Finanzaufsicht
ganz gut angelaufen ist, gibt es immer noch das eine
oder andere, wo Bedenken bestehen. Es holpert etwas.
Der Motor läuft noch nicht ganz rund. Diese Probleme
greifen wir mit dem Antrag auf und sagen der Bundesre-
gierung, auf welche Punkte sie ein besonderes Augen-
merk richten soll.

Wir gehen dabei davon aus, dass es ein einheitliches
Leitbild gibt, was da heißt: gleiches Geschäft – gleiche
Regeln. „Gleiches Geschäft“ bedeutet in dem Fall: Wenn
eine Organisation eine Bank, eine Versicherung oder ein
Wertpapierinstitut ist, dann gelten für die jeweilige
Organisation alle entsprechenden Regeln; sonst könnte
man beispielsweise auch auf eine andere Idee kommen.

Ein Vergleich: Jemand im Gastronomiebereich etwa
könnte sagen: Ich habe ein besonders hochwertiges Res-
taurant. Ich verwende keine Risikolebensmittel. Ich habe
einen ganz besonderen Kundenkreis. Deswegen gehe ich
sehr sorgfältig mit allem um. Da müssen die Hygiene-
vorschriften für mich nicht gelten – anders als mögli-
cherweise bei der grenzüberschreitend tätigen Imbiss-
kette.

Das soll aber eben nicht sein. Die Regeln gelten für
alle gleich. Die Frage ist nur, wer häufiger und intensiver
kontrolliert wird, und das ist die Frage, um die es sich
hier im Kern dreht.

Es gibt in der Branche natürlich eine Sorge bzw. eine
Verunsicherung darüber, ob jetzt aus Europa, aus Lon-
don, aus Paris oder vielleicht aus Frankfurt – die euro-
päische Versicherungsaufsicht sitzt ja in Frankfurt; aber





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)


das wird in Deutschland wahrscheinlich niemanden
schrecken, außer vielleicht einen Nordhessen wie mich –
kontrolliert wird,


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Nichts gegen Nordhessen!)


ob es mehr Bürokratie gibt, was mit den deutschen
Besonderheiten passiert und wie man sich rechtlich weh-
ren kann, wenn so eine EU-Behörde auf ein Institut
zukommt.

Diese Bedenken greifen wir mit dem vorliegenden
Antrag auf. Denn es gibt natürlich Besonderheiten in
unserem Markt. Wir haben das bewährte Drei-Säulen-
Modell; wir haben bestimmte Formen der Trägerschaft,
die im EU-Raum nicht ganz so bekannt sind. Wir haben
im Versicherungsbereich eine breit gefächerte Struktur
von mittelständischen Versicherungen, die eben auch
Vorteile für den Konsumenten bietet: Es gibt einen Wett-
bewerb, es gibt bestimmte Spezialangebote und eben
keinen Einheitsbrei von nur drei, vier, fünf oder auch
zehn großen Versicherungen.

Es besteht eine berechtigte Sorge mit Blick auf die
Frage, ob die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesen
Behörden auch immer das richtige Verständnis für diese
Besonderheiten haben. Wir haben dafür zwei Lösungs-
ansätze: Zum einen ermutigen wir unsere guten und
bewährten Aufsichtsinstitute, die BaFin, die Bundes-
bank, ihr Know-how noch deutlich stärker als bisher in
das Europäische Finanzaufsichtssystem einzubringen.
Zum anderen sagen wir: Wir müssen darüber nachden-
ken, wie wir uns gerade im Hinblick auf diese Fragen in
Europa personell noch stärker aufstellen als bisher, zum
Beispiel indem wir geeignete Kandidaten identifizieren,
sie qualifizieren und sie dann auch auf den entsprechen-
den Positionen unterbringen. Das muss optimiert wer-
den.

Es gibt darüber hinaus die Sorge, dass willkürlich
Recht gesetzt wird. Es gab die Erfahrung mit dem EBA-
Stresstest. Wir meinen, dass man darauf achten muss,
dass Rechtsetzung wirklich nur dann an eine nachgeord-
nete Behörde – nichts anderes ist es ja – delegiert wird,
wenn es um technische Standards geht, und nicht, wenn
es etwa um die Politik geht, auf die es ankommt. Hier ist
eine demokratische Legitimation notwendig. Ich ermun-
tere auch unsere Kollegen in den Parlamenten in Straß-
burg bzw. Brüssel, darauf zu achten, dass man ihnen da
nichts aus der Hand nimmt.

Wir wollen darüber hinaus regelmäßig evaluieren,
inwieweit diese Rechtsetzungsakte tatsächlich notwen-
dig sind, ob man da eventuell nachsteuern muss.

Eine weitere große Sorge – ich sagte es schon –
betrifft die Frage, wie man sich rechtlich wehren kann.
Es ist verständlich, dass sich eine kleinere Volksbank
möglicherweise darüber Gedanken macht, wie sie sich
gegen Maßnahmen einer EU-Behörde wehren kann. Der
Weg bis zum Europäischen Gerichtshof nach
Luxemburg erscheint sehr weit. Deswegen fordern wir
die Bundesregierung auf, zu prüfen, inwieweit man die
Rechtshilfemöglichkeiten näher zu den Betroffenen
bringen kann.

Wir stehen zum Europäischen Finanzaufsichtssystem;
wir haben es mit dieser Bundesregierung initiiert. Wir
unterstützen die Bundesregierung aktiv dabei, es weiter
zu optimieren, weil wir seinen Erfolg wollen. Um diesen
Erfolg zu erreichen, müssen wir mögliche Akzeptanz-
probleme beseitigen. Das tut und will dieser Antrag.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717224200

Der Kollege Dr. Axel Troost hat das Wort für die

Fraktion die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717224300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Antrag ist mit dem Titel „Europäische Finanzauf-
sicht stärken“ überschrieben. Wenn man sich aber den
Inhalt des Antrags anschaut, dann stellt man fest, dass
alles Mögliche relativiert wird und Aufsichtstätigkeiten
eher eingeschränkt werden. Deswegen stellt sich für
mich schon die Frage, was Sie denn nun wollen: Wollen
Sie die europäische Finanzaufsicht stärken, oder sehen
Sie darin eher eine Bedrohung für die national unter-
schiedlich ausgeprägten Finanzsysteme?

Ich bin ganz bei Ihnen, wenn die Zielsetzung ist, dass
die Europäische Bankaufsichtsbehörde, EBA, für eine
kleine Sparkasse im Schwarzwald nicht dieselben Maß-
stäbe anlegen darf wie für die Deutsche Bank oder für
französische oder britische Großbanken. Aber das tut sie
ja auch nicht. Die Sparkassen und Volksbanken waren
beim Bankenstresstest der EBA völlig zu Recht nicht auf
dem Prüfstand.

Ich habe den Eindruck, dass Sie ein grundsätzlich
richtiges Anliegen an der falschen Stelle viel zu spät ver-
treten. Das Problem ist nicht primär eine europäische
Finanzaufsicht, die zu wenig zwischen lokalen Volks-
banken und globalen Investmentbanken unterscheidet.
Das Problem ist vielmehr eine europäische Finanzmarkt-
regulierung – Stichwort Basel III oder CRD IV –, wo
weitgehend gleiche Spielregeln für diese so unterschied-
lichen Bankentypen festgeschrieben werden. An dieser
Stelle haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Koalition, und Ihre Bundesregierung eher geschlafen.


(Beifall bei der LINKEN)


Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, für die Sparkassen
und Genossenschaftsbanken bei den europäischen Ver-
handlungen, zum Beispiel zu Basel III, eine andere
Behandlung auszuhandeln. Genau dies ist sträflich ver-
säumt worden.


(Beifall bei der LINKEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: So ist es!)


Es ist zwar positiv, wenn Sie dieses Versagen jetzt
implizit eingestehen und nun versuchen, bei der Regulie-
rung Veränderungen herbeizuführen, um das wiedergut-
zumachen. Es ist aber die falsche Stelle.





Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)


Mir fällt zudem auf: Ihr Antrag macht insgesamt
Stimmung gegen das Europäische Finanzaufsichtssys-
tem und insbesondere gegen die Bankenaufsicht. Ich
kann zwar die Kritik an der EBA nachvollziehen, dass
der europäische Bankenstresstest nicht glücklich verlau-
fen ist und man sich wie ein Elefant im Porzellanladen
verhalten hat, aber das ist nicht nur eine Schwäche, son-
dern auch eine Stärke. Die EBA ist selbstbewusst aufge-
treten und hat den Großbanken – nicht den Sparkassen –
einen gehörigen Schreck eingejagt. Es ist genau das Auf-
treten, das wir aus meiner Sicht brauchen.

Wenn die Öffentlichkeit und auch die Banken den
Eindruck haben, dass die Finanzaufsicht die Finanzinsti-
tute nur mit Samthandschuhen anfasst und mit Watte-
bäuschchen um sich wirft, dann läuft hier etwas schief.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Die Großbanker haben uns die teuerste Finanz- und
Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit eingebrockt. Trotz
vieler Aufseher werden sie nach wie vor vorsichtig
behandelt. Auch die Politik scheint sich immer zu ent-
schuldigen, wenn es darum geht, Regulierungen endlich
vernünftig zu gestalten. Wir sollten froh sein, wenn die
Bankenaufsicht hier vernünftig handelt. So verschafft
man sich Respekt gegenüber der Branche, und man lehrt
der Branche an der einen oder anderen Stelle auch das
Fürchten.

Genau das brauchen die Großbanker: Sie sollen sich
ruhig vor einer strengen Finanzaufsicht fürchten.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD] und Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Leider steht davon nichts in Ihrem Antrag, im Gegenteil.
Deswegen werden wir ihn ablehnen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717224400

Das Wort hat Dr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die

Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir über die europäische Finanzaufsicht sprechen,
ist es wichtig, sich klarzumachen, warum wir sie brau-
chen. Es gibt hier einen Zielkonflikt, den man als das Tri-
lemma der internationalen Finanzaufsicht bezeichnet,
und zwar gibt es drei Dimensionen, von denen man nur
zwei erreichen kann. Das sind die Stabilität des interna-
tionalen Finanzsystems, globale Finanzinstitute und
nationale Aufsichtsbehörden. Das kann zusammen nicht
funktionieren. Das können Sie im letzten Jahresgutachten
des Sachverständigenrates nachlesen. Dort steht – ich
zitiere –:

Wenn von wirtschaftspolitischer Seite ein stabiles
internationales Finanzsystem mit global tätigen
Finanzinstituten gewollt ist, dürfen Länder nicht
weiter auf der Souveränität der nationalen Auf-
sichtsbehörden beharren.

Und weiter heißt es:

Auf europäischer Ebene bedeutete dies die Schaf-
fung einer umfassenden europäischen Finanzauf-
sicht mit sämtlichen Kompetenzen für global tätige
Finanzinstitute.

Genau das ist die Forderung von uns Grünen. Im
Gegensatz dazu schreiben Sie in Ihrem Antrag, es gebe
eine nicht ausreichende Beschränkung der Aufsichts-
tätigkeit der europäischen Finanzaufsichtsbehörden auf
ihre harmonisierende Funktion. Dazu schreibt der Sach-
verständigenrat, dass das der Versuch ist, die drei
Dimensionen mit der Harmonisierung zu verknüpfen.
Das muss natürlich scheitern. An dieser Stelle gibt es ei-
nen Dissens. Es ist keine gute Struktur, dass wir eine
Harmonisierung der Aufsicht für große wie für kleine
Banken anstreben. Bei großen Banken, die grenzüber-
schreitend tätig sind, brauchen wir eine knackige euro-
päische Finanzaufsicht. Bei kleinen Banken, die nur re-
gional tätig sind, ist es richtig, dass sie der Zuständigkeit
der nationalen Aufsichtsbehörde unterstehen. Das muss
man nicht von London aus machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


An dieser Stelle ist es wichtig, sich noch einmal die
Unterschiede in der Größenordnung deutlich zu machen.
Auf der einen Seite steht beispielsweise die Volksbank
Mannheim-Sandhofen: 55 Mitarbeiter, Bilanzsumme etwa
200 Millionen Euro. Auf der anderen Seite steht ein
Konzern in der Größenordnung der Deutschen Bank: Bi-
lanzsumme etwa 2 Billionen Euro, 10 000-mal größer,
etwa 100 000 Mitarbeiter, davon 8 500 in London.

Wie wollen Sie diese globalen Aktivitäten von
Deutschland aus sinnvoll beaufsichtigen? In London
sitzt keine Handvoll Aufseher der britischen Finanzauf-
sicht, die hierfür zuständig sind. Genau deswegen ist es
richtig, eine knackige europäische Finanzaufsicht zu ha-
ben.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Kein Widerspruch!)


Das Problem ist, dass sich die Bundesregierung in Brüs-
sel dagegen ausgesprochen hat. In Ihrem Antrag wollen
Sie die Aufsichtstätigkeit auf eine harmonisierende
Funktion beschränken; aber Sie verweigern die direkten
Durchgriffsrechte auf die globalen Finanzinstitute.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nein! Das steht nirgendwo drin!)


Sie verweigern den Finanzaufsichtsbehörden genau die
Rechte, die sie hierfür brauchen. Hier liegt der Dissens.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Einfach mal lesen!)






Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


– Deswegen habe ich ja genau zitiert. Sie sagen: Der
Bundestag ist besorgt, dass die Aufsichtstätigkeit der
ESAs nicht ausreichend auf die harmonisierende Funk-
tion beschränkt ist. Sie schreiben überhaupt nichts zu
den stärkeren direkten Durchgriffsmöglichkeiten, die je-
doch notwendig sind. Die Differenzierung zwischen
kleinen und großen Banken, die wir brauchen, nehmen
Sie an dieser Stelle gerade nicht vor.

An einer Stelle können wir dem Antrag aber zustim-
men: Wir müssen dafür sorgen, dass die Kontrolle durch
das Parlament verstärkt wird. Es kann nicht sein, dass
Aufsichtsbehörden ein Eigenleben entwickeln. Wir Grü-
nen setzen uns deswegen auf europäischer Ebene dafür
ein, dass die Kontrolle durch den Rat und insbesondere
durch das Parlament verstärkt wird. Jede Aufsichtsbe-
hörde – das gilt für die Aufsichtsbehörden in Deutsch-
land wie auch für die europäischen – braucht eine klare
Kontrolle durch demokratisch legitimierte Institutionen.
Das ist extrem wichtig.

Zum Schluss möchte ich noch eine Bemerkung ma-
chen. Ich finde es schade, dass die Koalition erneut einen
Antrag zu europäischen Fragen vorlegt, bei dem nicht
versucht wurde, eine gemeinsame Position zu formulie-
ren. Früher hatten wir immer wieder den Versuch unter-
nommen, uns als Fraktionen zu europäischen Fragen ge-
meinsam aufzustellen. Vielleicht hätte das auch in dieser
Frage gelingen können, zumindest zu einer Reihe von
Punkten. Sie haben es nicht einmal versucht.

Ich würde mich freuen, wenn wir es in Zukunft wie-
der schaffen könnten, bei europäischen Fragen im
Finanzausschuss zu prüfen, ob der Bundestag nicht mit
einer gemeinsamen Stimme entscheidende konsensfä-
hige Punkte anstoßen kann.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717224500

Der Kollege Peter Aumer spricht jetzt für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1717224600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir diskutieren eines der großen Themen un-
serer Zeit, nämlich die Frage, wie die Finanzmärkte ef-
fektiv oder – wie Sie es sagen, Herr Dr. Schick – knackig
reguliert werden können.

Die Bundesregierung hat die Konsequenzen aus der
Krise gezogen und hat auf europäischer Ebene bei der
Umsetzung einer effektiven europäischen Finanzaufsicht
mitgewirkt. Vor allem hat sie Wert darauf gelegt, dass ei-
nes der tragenden Prinzipien Europas und unserer Ge-
sellschaft, das Subsidiaritätsprinzip, beachtet wird. Für
uns als christlich-liberale Koalition ist es ganz wichtig,
dass man auf europäischer Ebene einheitliche Regelun-
gen trifft, die auch greifen. Dennoch dürfen die nationa-

len Eigenheiten nicht vergessen werden. – Deshalb unser
Antrag.

Wir unterstützen selbstverständlich die Arbeit der neu
geschaffenen europäischen Aufsichtsbehörden. Wir wol-
len aber auch, dass dabei die deutschen Eigenheiten be-
rücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang muss
man den Zielkonflikt, den Sie, Herr Dr. Schick, ange-
sprochen haben, selbstverständlich beachten. Man kann
nie alle Ziele gleichzeitig im Auge haben; es gilt ganz
klar auszutarieren.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss sich entscheiden, auf welches man verzichten will! Bei der Stabilität machen wir keine Abstriche!)


Zielkonflikte wird es immer geben; diesen Konflikt
muss man aber so lösen, dass man den deutschen Eigen-
heiten, vor allem unserem dreigliedrigen Bankensystem,
nicht den Boden unter den Füßen wegzieht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Herr Dr. Troost, wir haben in unserem Antrag sehr
klar dargelegt, was wir wollen. Ich glaube, Sie haben
den Antrag nicht wirklich gelesen. Auch in Bezug auf
Basel III haben Sie uns vorgeworfen, wir würden nicht
so verhandeln, dass unsere deutschen Eigenheiten – das
geht wieder in diese Richtung – berücksichtigt werden.
Da gibt es schon einmal einen Konflikt zwischen den
Linken und den Grünen.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kommt vor!)


Eigenheiten müssen beachtet werden – das ist ganz klar –,
damit wir den Weg unseres Bankensystems gemeinsam
erhalten können.

Dann kommt Herr Zöllmer mit seinem „schwarzen
Loch“. Ich kann kein schwarzes Loch erkennen. Viel-
leicht war es nur in Ihrer Rede, Herr Zöllmer. Mit Blick
auf die innerdeutschen Angelegenheiten haben wir eine
Regelung gefunden, die im Moment beraten wird und im
Sommer sicherlich kommen wird.


(Manfred Zöllmer [SPD]: In welchem Jahr denn?)


Sie von der SPD sagen, Sie hätten von Anfang an ge-
wusst, wie man richtig reguliert; ich habe es mir extra
aufgeschrieben. Dann frage ich mich schon: Wie konnte
es zu dieser Krise kommen? Sie haben lange Zeit vor der
Krise die Regierung gestellt und hätten in dieser Zeit
eine Finanzaufsicht auf den Weg bringen können, die ef-
fektiv arbeitet und auch mit Blick auf Europa einen gu-
ten Weg einschlägt. Da würde ich um ein bisschen mehr
Bescheidenheit bitten. Man hätte von Anfang an etwas
tun können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Wir waren nicht so global ausgerichtet! Wir haben uns ums Land gekümmert!)






Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)


– Ja. Aber vorausschauende Politik bedeutet natürlich
auch, dass man rechtzeitig Lösungen auf den Weg
bringt, die tragen.

Wir haben vorausschauend einen Finanzkongress ge-
plant – schon lange Zeit vor Ihrem Antrag zu Basel III,
der morgen diskutiert wird –, genau zu dem Thema des
heutigen Antrags: „Europäische Finanzaufsicht stärken
und effizient ausgestalten“, aber die Eigenheiten
Deutschlands berücksichtigen. Das ist lange vor Ihrem
Antrag diskutiert worden. Auch da sollte man vielleicht
ein bisschen bescheidener sein und nicht immer nur die
eigenen Dinge nach vorne stellen. Wir haben ganz be-
wusst ein Thema gewählt, das wichtig ist. Ich glaube,
man muss dieses wichtige Thema gemeinsam diskutie-
ren.

Herr Dr. Schick, wenn Sie mir nicht den Rücken zu-
kehren würden, dann würde ich Sie darin unterstützen,
dass man bei solchen wichtigen europäischen Themen
gemeinsame Wege gehen muss. Es ist für uns alle wich-
tig, dass man einen starken Aufsichts- und Regulie-
rungsrahmen für Europa findet, der die deutschen Eigen-
heiten berücksichtigt.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber auch bei der Finanztransaktionsteuer!)


Im Zusammenhang mit der Finanztransaktionsteuer hat
der Herr Minister heute früh ganz klar den Weg genannt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die Opposition steht fest hinter Ihnen!)


Sie müssen ab und zu ein bisschen aufpassen, damit man
bei diesen Themen gemeinsam in eine gute Zukunft ge-
hen kann. Sie wollen eher den Konflikt herbeireden, als
gemeinsam eine Lösung für Europa zu finden. Es muss
uns einmal bewusst werden – ich denke mir das bei vie-
len Diskussionen in diesem Haus –, dass von Ihnen
keine konstruktiven Vorschläge kommen, etwa wenn ich
mir die Debatte heute Morgen zum Fiskalpakt und zum
Stabilitätsmechanismus vor Augen führe. Da muss man
konstruktive Beiträge leisten, um Europa in eine gute
Zukunft zu führen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben doch jede Menge konstruktive Vorschläge gemacht!)


– Na ja.

Herr Zöllmer, Sie haben gesagt, dass wir keine klaren
Forderungen gestellt haben. Wenn Sie unseren Antrag
genau gelesen hätten – ich habe ihn hier –, dann hätten
Sie gesehen: Darin wird in acht Punkten mit klaren For-
derungen sehr ausdrücklich dargelegt,


(Manfred Zöllmer [SPD]: Da ist nichts klar!)


wie wir es haben wollen: eine starke Aufsicht in Europa,
die die individuellen Aspekte Deutschlands mit berück-
sichtigt. Da ist die Dreigliedrigkeit unseres Bankensys-
tems ein zentrales Thema. Wir wollen unser Netz regio-
naler Banken nicht noch stärker mit Bürokratie und

Anforderungen belasten, die eher die global agierenden
Banken zu erfüllen haben. Das ist ein wesentlicher
Punkt, auf den wir mit diesem Antrag aufmerksam ma-
chen wollten. Bürokratische Belastungen sollen nicht
überbordend sein.

Ein wichtiger Punkt, der heute noch nicht angespro-
chen wurde, ist, auch deutsches Personal in diese Institu-
tionen zu bringen; deutsches Denken ist gerade im Fi-
nanzbereich ganz wichtig.


(Zurufe von der SPD: Ja! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das hat die SPD elf Jahre versäumt!)


Wir fordern die Bundesregierung dazu auf. Hätten Sie es
doch angesprochen und dem Staatssekretär mit auf den
Weg gegeben!


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Der tippt!)


– Der passt schon auf. Der Herr Staatssekretär kann bei-
des zugleich: Zuhören und Tippen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben
eine gute Lösung für die Finanzaufsicht in Europa ge-
funden. Wir gehen einen Weg, bei dem aber auch die
deutschen Interessen verwirklicht und berücksichtigt
werden. Deswegen bitte ich Sie, diesen Antrag zu unter-
stützen,


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Wir machen es ja!)


damit wir gemeinsam in eine gute Zukunft gehen, mit
stabilen Finanzen und einer guten Finanzaufsicht. Herz-
lichen Dank für die Zustimmung. Ich wünsche mir bei
Europafragen weiterhin ein gutes Miteinander.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Gerne!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717224700

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksa-
che 17/9151 mit dem Titel „Europäische Finanzaufsicht
stärken und effizient ausgestalten“. Wer stimmt für die-
sen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Damit ist der Antrag bei Zustimmung durch CDU/CSU,
FDP und SPD angenommen. Dagegen haben die Frak-
tionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt.
Enthaltungen gab es keine.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 a und b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Edelgard
Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungs-
politik (GSVP) weiterentwickeln und mitge-
stalten

– Drucksachen 17/7360, 17/8507 –





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Dr. Frithjof Schmidt

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Dağdelen, Andrej Hunko, Dr. Diether Dehm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
und Gemeinsame Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik der EU wirksam kontrollieren

– Drucksachen 17/5387, 17/8807 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dietmar Nietan
Dr. Rainer Stinner
Sevim Dağdelen
Dr. Frithjof Schmidt

Hierzu ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debat-
tieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Joachim Spatz für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Joachim Spatz (FDP):
Rede ID: ID1717224800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Drei große Linien zeichnen sich als Herausfor-
derungen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik
ab. Die eine ist die multipolare Welt, die Neudefinition
von Beziehungen zu aufstrebenden Mächten, die zweite
Linie ist, dass wir erkennen müssen, dass wir in Zukunft
sehr viel stärker zivile Aspekte der Sicherheitspolitik
werden betonen müssen, und der dritte große Bereich ist
die europäische außen- und sicherheitspolitische Integra-
tion.

Wir haben in Bezug auf die außen- und sicherheits-
politische Integration der EU – wie in manchen anderen
Feldern – einen eher technokratischen Ansatz. Es wird
versucht, über technische Integration und über Versuche
der gemeinsamen Beschaffung bis hin – um das erfolg-
reichste Modell zu nennen – zur Integration der strategi-
schen Lufttransporteinheiten mehr Kooperation und
mehr Gemeinsamkeiten zu etablieren, aus dem Bewusst-
sein, dass die Mittel für Verteidigung in Europa be-
schränkt sind und in dem Gedanken, dass wir mit mehr
Kooperation letztendlich Einsparpotenziale realisieren,
die wir anders nicht heben können.

Leider sehen wir auch bei den erfolgreichen Model-
len, dass irgendwann eine Grenze erreicht ist. Wir haben
gestern im Verteidigungsausschuss das Thema angespro-
chen, ob wir bei der erfolgreichen Integration von Luft-
transporteinheiten nicht irgendwann einmal daran den-

ken könnten, nicht nur Flugzeuge, sondern auch
Hubschrauber zu integrieren. Aber man sieht schon: Je
näher sie an die „Front“ herankommt, je näher sie an den
Kriegseinsatz herankommt, desto schwieriger wird die
Integration, weil wir an einen Punkt kommen, an dem
die politische Integration gefragt ist.

Das ist aus unserer Sicht die Herausforderung, der wir
uns jetzt stellen müssen. Im Endeffekt haben wir uns als
Europäer viel zu lange um diese Fragen herumgedrückt.
Immer dann, wenn es zu Treffen und zu den wirklich
harten Entscheidungen kam, hat man wieder die alten
Reflexe in den nationalen Hauptstädten registrieren müs-
sen. Das müssen wir endlich überwinden, um die Ge-
meinsame Außen- und Sicherheitspolitik voranzubrin-
gen.

Wir als Deutscher Bundestag haben auf Vorlage der
Koalitionsfraktionen eine Resolution zu einer parlamen-
tarischen Begleitung der Gemeinsamen Außen- und Si-
cherheitspolitik in der Europäischen Union verabschie-
det, die vorsieht, dass sich die nationalen Parlamente mit
dem Europäischen Parlament zusammensetzen sollen,
das gerade im zivilen Bereich – ich betonte bereits die
steigende Notwendigkeit – eine starke Rolle spielt und
auch spielen sollte. Das kann eine Unterstützung sein für
das, was die Regierungen an Bemühungen an den Tag
legen, um eine Gemeinsame Außen- und Sicherheits-
politik auf europäischer Ebene zu formulieren.

Da ich vor Frau Cramon-Taubadel reden muss,
möchte ich folgenden Aspekt aufgreifen. Sie haben ges-
tern in der Ausschusssitzung gesagt, dass es auf die
Größe der Delegation gar nicht ankomme, weil das oh-
nehin – das sei ein Erfahrungswert aus anderen parla-
mentarischen Versammlungen – sehr spärlich genutzt
werde. Frau Cramon-Taubadel, ich kann Ihnen nur sa-
gen: Wer mit einem solchen Ansatz herangeht, hat die
Dimension des Problems nicht verstanden.


(Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Fragen Sie mal Ihre anderen Kolleginnen und Kollegen!)


Wenn wir das so machen wie in anderen parlamentari-
schen Versammlungen, dann werden wir dieser Heraus-
forderung nicht gerecht. Wer schon jetzt skeptisch ist, ob
wir – wie alle anderen – das erkennen, und kleine Bröt-
chen bäckt, der wird das Thema verfehlen.

Der Druck wird noch wachsen. Die Amerikaner ha-
ben öffentlich mehrfach angekündigt, dass sie ihre
Schwerpunkte verlagern werden, und zwar in den pazifi-
schen Raum. Da ist es völlig unausweichlich, dass auf
die Europäische Union ein Mehr an Herausforderungen
zukommen wird – im zivilen Bereich, aber auch im mili-
tärischen Bereich. Deshalb ist hier ein Mehr an Integra-
tion notwendig. Ich bezweifele aber nachhaltig, dass das
gelingen wird, wenn wir es nur den Regierungen über-
lassen, so wichtig die Exekutive hier ist. Ich glaube, dass
die Formulierung des europäischen Gemeinwohls in der
Außen- und Sicherheitspolitik mehr sein muss als die
Summe von nationalen Interessen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Joachim Spatz


(A) (C)



(D)(B)


Ich glaube, hier müssen die Parlamentarier, die dafür
Verantwortung tragen, entsprechend eine Mitgestal-
tungsmöglichkeit haben. Wenn das gewährleistet ist,
dann können wir auf der sachlichen Ebene gerne über
die nächsten Integrationsschritte reden, Kolleginnen und
Kollegen von der SPD.

Aber die Conditio sine qua non für die harten The-
men, für den konkreten Einzelfall, bei dem der Deutsche
Bundestag gegebenenfalls eine Zustimmung für einen
Auslandseinsatz gibt, klären wir nicht auf administrative
und nicht auf technokratische Art und Weise, sondern
mit einem neuen Integrationsschub auf politischer Ebene
zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. So
werden wir wirklich vorankommen.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717224900

Der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels hat das Wort für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1717225000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich bin dem Kollegen Spatz dankbar dafür, dass er nicht
das Hohelied der Erfolge der Bundesregierung gesungen
hat, sondern etwas Neues in die Debatte geworfen hat,
worüber wir einig sind: Wir wollen eine Parlamentarisie-
rung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungs-
politik der Europäischen Union, weil sie ein Motor sein
kann, die Fortschritte zu erreichen, die wir bisher ver-
missen.


(Joachim Spatz [FDP]: So ist es!)


Auch diese Bundesregierung war nämlich nicht in der
Lage, sie wirklich anzustoßen. Aber wir wollen mehr
Europa in der Verteidigungs- und der Sicherheitspolitik.

Erstens. Warum brauchen wir das? – Wir leben nicht
mehr in einer bipolaren Welt, sondern wir leben heute in
einer multipolaren Welt. Europa soll einer der starken
Pole in dieser Welt sein, nicht Deutschland, nicht Frank-
reich, nicht Großbritannien, nicht Italien, nicht Spanien,
nicht Polen, sondern ein gemeinsames Europa, das wir
politisch schon geschaffen haben. Es gibt die Europäi-
sche Union in vielen Bereichen, aber außenpolitisch ist
sie noch schwach.

Zweitens. Wir erleben die neue amerikanische Sicher-
heitspolitik als eine Politik, die sich vielleicht nicht von
Europa abkehrt, die aber Europa aus gutem Grund nicht
mehr als ersten Adressaten für ihre Besorgnisse, aber
auch nicht mehr für ihre Bündnisse sieht, sondern sich
dem pazifischen Raum zuzuwenden scheint. Auch des-
halb wird es für Europa wichtiger, sich um seine eigenen
Angelegenheiten zu sorgen. Wir werden uns nicht mehr
darauf verlassen können, dass die Amerikaner immer in
die Bresche springen oder dass sie dies gemeinsam mit
der NATO tun. Wir brauchen auch die EU als einen ei-
genständigen sicherheitspolitischen Akteur.

Drittens. Warum brauchen wir mehr Gemeinsame Si-
cherheits- und Verteidigungspolitik? – Wir brauchen sie,
weil wir alle die gleichen Probleme haben. Wir haben
die gleichen, zum Teil veralteten militärischen Struktu-
ren, die reformiert werden. Wir haben die gleichen Ein-
sätze zu bestehen, nämlich auf dem Balkan, am Horn
von Afrika, letztlich weltweit. Wir haben in allen euro-
päischen Ländern die gleichen beschränkten Haushalts-
mittel. Das heißt, eine Zusammenarbeit kann uns stärker
machen. Ich sehe kein anderes Mittel, um stärker zu wer-
den. Wir werden nicht mehr Geld ausgeben als jede ein-
zelne Nation, sondern wir werden durch Zusammenar-
beit effizienter werden müssen. Aber da hat die jetzige
Bundesregierung eine Chance vertan.

Der verflossene Verteidigungsminister zu Guttenberg
hat vor der Verkündung der Ergebnisse der Bundeswehr-
reform als Anspruch sehr richtig formuliert:

Wir müssen jetzt handeln; es ist die Stunde Euro-
pas, das Bekenntnis zur europäischen Verteidigung
muss mehr sein als ein Lippenbekenntnis.

Im gleichen Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zei-
tung fuhr er fort:

Wie können bestehende Redundanzen abgebaut
werden? Was sind militärische Kernfähigkeiten, die
weiterhin rein national bereitgestellt werden sollen?
Auf welche Fähigkeiten können wir in Zukunft ver-
zichten, weil sie besser von anderen Partnern erfüllt
werden können?

Gute Fragen. Die neue Struktur, das neue Reformkon-
zept des Nachfolgers de Maizière gibt darauf aber keine
Antwort. Das ist eine rein nationale Reform. Genauso
führen die Briten und die Franzosen rein nationale Re-
formen ihrer Streitkräfte durch. Wir müssen spätestens
beim nächsten Mal – das soll keine Drohung sein – zu
europäischeren Lösungen kommen.

Wir Sozialdemokraten haben als, ich glaube, erste
Partei in Europa in unserem Grundsatzprogramm das
Ziel einer gemeinsamen europäischen Armee formuliert.


(Joachim Spatz [FDP]: Das haben wir auch!)


– Auch im Grundsatzprogramm?


(Joachim Spatz [FDP]: Selbstverständlich!)


– Sie haben ein Grundsatzprogramm?


(Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Im Koalitionsvertrag!)


Das Grundsatzprogramm der FDP ist der Koalitionsver-
trag. Das lerne ich jetzt und bin erfreut darüber, dass wir
einer Meinung sind.


(Lachen des Abg. Joachim Spatz [FDP])


Ich wollte eigentlich eine noch größere Autorität zi-
tieren, die Frau Bundeskanzlerin, die sich sozialdemo-
kratische Programmsätze immer gern zu eigen macht.
Bei der Verleihung des Karlspreises an den polnischen
Regierungschef Tusk in Aachen hat sie gesagt:

Und jenseits des Ökonomischen wagen wir viel-
leicht nach der gemeinsamen Währung weitere





Dr. Hans-Peter Bartels


(A) (C)



(D)(B)


Schritte, zum Beispiel den zu einer gemeinsamen
europäischen Armee.

Das steht bei uns im Programm, aber recht hat sie natür-
lich.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joachim Spatz [FDP])


Wo steht Europa heute? Was geht schon? Kollege
Spatz hat es angesprochen. Wir diskutieren im Verteidi-
gungsausschuss über ein gemeinsames europäisches
Lufttransportkommando. Dies ist das erste Jahr, in dem
es operativ tätig ist, und wir können sagen: Es scheint zu
funktionieren. Auch die gemeinsame Lufttransportlö-
sung SALIS – schwerer strategischer Lufttransport, sta-
tioniert in Leipzig; hier haben sich etliche NATO-Staa-
ten zusammengeschlossen – scheint zu funktionieren.
Das sollte man auf Dauer stellen. Die Lufthoheit über
dem Baltikum wird durch NATO-Geschwader gesichert,
weil es keinen Sinn macht, dass Staaten, die 1 Million
Einwohner haben, sich eine eigene Luftwaffe anschaf-
fen. Das kann man gemeinsam, abwechselnd erledigen.
Es gibt ein paar Beispiele innerhalb der NATO, aber sie
sind rar. Das ist der AWACS-Verband; in Zukunft wird
vermutlich das Aufklärungssystem AGS dazugehören.
Sonst haben wir eigentlich noch nichts. Wir brauchen
neue, zusätzliche europäische Beispiele. Wir brauchen
einen starken Kern einer strukturierten Zusammenarbeit
im militärischen Bereich, auch einer technischen Zusam-
menarbeit.

Die Deutsch-Französische Brigade ist noch kein Bei-
spiel dafür, wie es gehen soll. Die Tatsache, dass es sich
um eine deutsch-französische Brigade handelt, ist gera-
dezu ein Hindernis, wenn es darum geht, sie einzusetzen.
Sie hat noch keine Aufgabe gefunden. In der neuen
Bundeswehrstruktur, die im Übrigen von Minister
de Maizière erarbeitet wurde, ist vorgesehen, dass ihre
Jägerbataillone im Falle des Einsatzes deutschen Briga-
den unterstellt werden. Das entspricht gerade nicht der
europäischen Idee. Eigentlich müsste die Deutsch-Fran-
zösische Brigade zum Beispiel als Reserve für das Ko-
sovo dienen, sozusagen als ORF-Bataillon – hinter dem
Horizont –, das bei einer Lagezuspitzung eingesetzt wer-
den kann. Das wäre eine wirkliche Funktion. Im Kosovo
haben wir erlebt, dass ein solcher Einsatz nötig werden
kann. Hier könnte die Deutsch-Französische Brigade
eingesetzt werden. Wir brauchen mehr Erfolgsgeschich-
ten, die man weitererzählen kann. Die Brigade ist bisher
keine solche Erfolgsgeschichte.

Warum sollten wir nicht mit Polen, Dänemark oder
anderen skandinavischen Ländern gemeinsame einsatz-
fähige Einrichtungen schaffen? Das kann heißen, dass zu
einem Bataillon eine Kompanie aus einem anderen Land
hinzukommt. Oder eine Fähigkeit könnte in einem Land
stationiert werden, aus dem die Soldaten nicht kommen.
Das ist in Deutschland ja nicht anders: Nicht alle, die in
Schleswig-Holstein stationiert sind, kommen aus Schles-
wig-Holstein, und nicht alle, die in Bayern stationiert
sind, sind Bayern. Europa ist groß, aber nicht so groß,
dass man nicht hier und dort stationiert sein könnte. In-
sofern ist es gut, dass ein deutsches Bataillon in Frank-
reich stationiert sein kann, aber es ist schlecht, dass die

Franzosen ihre Stationierung in Deutschland komplett
aufgegeben haben. Dieses Stationieren in unterschiedli-
chen Ländern ist wichtig, um eine europäische Durchmi-
schung herbeizuführen und das Ganze mit Leben zu er-
füllen, damit man gemeinsam in Einsätze gehen kann.
Das ist der nächste Schritt, den wir gehen müssen.

Wir haben in unserem Antrag einige technische An-
forderungen, wie Kollege Spatz sagen würde, formuliert.
Ich glaube, diese Bedingungen sind nicht hinreichend,
aber notwendig, um weiterzukommen.

Wir brauchen ein europäisches Weißbuch. Wir brau-
chen eine Fortschreibung der Solana-Strategie, der euro-
päischen Sicherheitsstrategie, die zu ihrer Zeit gut war.
Aber das war 2003; inzwischen hat sich vieles verändert.
Wir brauchen eine europäische Verteidigungsplanung.
Wir brauchen eigentlich auch eine gemeinsame europäi-
sche Rüstungsexportpolitik. Es kann nicht sein, dass wir
uns da noch Konkurrenz machen. Man müsste versu-
chen, sich in Europa auf die restriktiven deutschen Vor-
schriften zu verständigen. Dass jeder nach anderen Kri-
terien vorgeht, ist nicht vernünftig. Sich da Konkurrenz,
einen Unterbietungswettbewerb zu leisten – wer kann
noch ein bisschen mehr exportieren –, entspricht nicht
dem Gedanken einer Zivilmacht Europa, die wir – ich
glaube, hier sind wir uns fraktionsübergreifend einig –
anstreben. In unserem Antrag steht, dass die Regierung
da noch mehr tun muss. Da sind wir sicherlich einer
Meinung.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717225100

Das Wort hat der Kollege Roderich Kiesewetter für

die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1717225200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen
zwei Anträge vor, wie sie gegensätzlicher wohl kaum
sein können. Es ist interessant, zu sehen, mit welch un-
terschiedlichen Ansätzen die Opposition an uns heran-
tritt. Insbesondere der Antrag der Linken beinhaltet ei-
nige Punkte, auf die wir gar nicht weiter einzugehen
brauchen.


(Beifall des Abg. Joachim Spatz [FDP])


Ich frage mich, warum Sie fordern, militärische Einsätze
grundsätzlich abzulehnen. Schauen Sie einmal in Rich-
tung bestimmter Einsatzgebiete wie Libyen. Sie stellen
auch fest, dass die Anzahl der Einsätze zugenommen
hat. Es kann doch nicht um die Quantität von Einsätzen
gehen. Es geht dabei um Fragen der Notwendigkeit und
um aktive europäische Gestaltungspolitik. Dies sieht
man zum Beispiel gut bei der Operation Atalanta.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Spatz [FDP] – Sevim Dağdelen [DIE Roderich Kiesewetter LINKE]: 50 000 Tote! Ist das Gestaltungspolitik?)





(A) (C)


(D)(B)


In Ihrem Antrag geht es auch um parlamentarische
Kontrollrechte; Kollege Spatz hat das vorhin beeindru-
ckend angesprochen, und auch Kollege Bartels ist darauf
eingegangen. Wir haben kein Zuwenig an parlamentari-
scher Kontrolle. Dieser Bundestag bestimmt über die
Einsätze wie jedes andere der 27 Parlamente auch. Jetzt
kommt es darauf an, dass man die gemeinsame Kon-
trolle ausübt. Wie das ausgestaltet wird, werden wir se-
hen. Der Bundestagspräsident hat gestern jedenfalls
überzeugend dargestellt, dass er sich dem Interesse unse-
res Parlaments angenommen hat. Wir warten jetzt auf
Vorschläge der polnischen Präsidentschaft. Ich glaube,
wir werden unsere deutschen Beiträge gut einbringen.

Lieber Herr Kollege Bartels, wenn Sie Ihren Antrag
so formuliert hätten wie Ihre Rede, dann sähe die Situa-
tion vielleicht etwas anders aus. Ihr Antrag ist viel düste-
rer formuliert als das, was Sie vorgetragen haben.


(Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Das war die Hoffnung!)


Ich denke, so pessimistisch sollte man die Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik nicht sehen. Sie steht
nicht vor dem Zerfall. Vielmehr ist es die Kunst der Eu-
ropäischen Union, 27 Politiken zusammenzubringen.
Dabei kommt es auch ganz wesentlich auf unseren Bun-
destag an.

Ich möchte einen strategischen Blick auf die GSVP
wagen. Es geht um den Dreiklang von Glaubwürdigkeit,
Vertrauen und Verlässlichkeit. Genau das macht Macht
aus. Macht ist nicht die Menge an militärischen Arsena-
len, sondern Macht ist die Fähigkeit zur Kooperation.
Diese zeichnet uns Deutsche besonders aus.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Spatz [FDP])


Ich möchte auch sagen, dass wir diesen Teil der au-
ßenpolitischen Kultur – ich sage das als Außenpolitiker –
deutlicher bewerben müssen. Dann können wir auch die
Gefahr, die Sie ansprechen, Frankreichs und Großbritan-
niens Sonderweg, auffangen. Ich möchte das anhand von
vier Gedanken darstellen.

Erster Gedanke. Das bilaterale Vorgehen von Frank-
reich und Großbritannien ist sicherlich das Kernthema
für die Zukunft der Gemeinsamen Sicherheits- und Ver-
teidigungspolitik. Aber, liebe Kollegen von der SPD,
Konzepte, die Großbritannien nicht berücksichtigen,
sind zum Scheitern verurteilt. Eine Fokussierung allein
auf das Weimarer Dreieck wird nicht reichen.

Zweiter Gedanke. Deutschland sollte sich noch stär-
ker und proaktiver als Anlehnungspartner für andere in
der Europäischen Union profilieren. Wir sollten zusam-
men mit denjenigen europäischen Partnern vorangehen,
die bereits heute politisch dazu bereit sind. Diese Koope-
ration dürfen wir nicht als Gegensatz zum französisch-
britischen Vorgehen sehen, sondern wir müssen es als
Ergänzung betrachten. Aufgrund ähnlicher außenpoliti-
scher Kulturen könnte ich mir – dies haben Sie vorhin
angesprochen – eine Kooperation mit Polen, den Nieder-

landen, Österreich und einigen skandinavischen Staaten
sehr gut vorstellen.

Dritter Gedanke. Unter ähnlicher außenpolitischer
Kultur – ich glaube, hier lohnt sich auch ein Blick auf
unsere Geschichte – kann der Vorrang für das Zivile und
die Art der parlamentarischen Entscheidungsfindung in
Deutschland verstanden werden. Unser behutsamer An-
satz baut insbesondere auf Verlässlichkeit und kann zu
einer größeren Bereitschaft führen, tiefere Abhängigkei-
ten von unserem Land einzugehen. Die Niederlande ha-
ben das bereits vorgemacht.

Ein vierter Gedanke. Auf diese Weise könnte unser
Land einen ganz zentralen Beitrag zur Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik, aber auch zur
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU
leisten. Wir könnten unser Land damit zu einer Dreh-
scheibe der europäischen Handlungsfähigkeit werden
lassen. Warum ist das so wichtig? Das ist wichtig, damit
wir auch unsere essenzielle Beziehung zu den Vereinig-
ten Staaten von Amerika weiter ausgestalten. Deutsch-
land könnte also verlässlicher Ansprechpartner sein, eine
Scharnierfunktion zwischen EU und NATO haben und
das, was wir bereits einbringen, deutlich weiterent-
wickeln. Damit könnten wir die GSVP, wenn ich diese
Abkürzung verwenden darf, erheblich dynamisieren.

Ich halte fest: Deutschland als Anlehnungspartner für
andere in Europa, Ergänzung und irgendwann vielleicht
Aufhebung der französisch-britischen Achse und damit
ihre europäische Wiedereinbindung, Behutsamkeit und
Verlässlichkeit sowie Scharnierfunktion für das Trans-
atlantische Bündnis. Das könnte auch ein glaubwürdiger
Beitrag unseres Landes zu einer europäischen Sicher-
heitsstrategie sein.

Ein Letztes. Mit sehr großem Interesse habe ich die
Rede des SPD-Parteivorsitzenden, Herrn Gabriel, zur
GSVP vom 10. März dieses Jahres gelesen. Mich freut,
dass er sich für die Stärkung der GSVP einsetzt. Er geht
sogar einen erheblichen Schritt weiter: Er fordert die
Verankerung einer europäischen Armee als Staatsziel im
Grundgesetz. Hervorragende Theorie! Jetzt schauen wir
auf die Praxis. Ich würde mir wünschen, Sie würden bei
der Operation Atalanta Ihre im Verhältnis zu diesem
ganz wichtigen Vorhaben sehr kleinen Bedenken auf-
geben und dieser ersten europäischen Marinemission
deutlich mehr Schwung verleihen,


(Gerd Bollmann [SPD]: Das haben wir doch gemacht!)


statt große Theorien zu einer Verankerung als Staatsziel
im Grundgesetz zu entwickeln und sich in der Praxis,
wenn es darum geht, im Rahmen von Atalanta rasch zu
einer Lösung zu kommen, dermaßen zurückzuhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir die Gemein-
same Außen- und Sicherheitspolitik stärken müssen. Ich
glaube auch, es gibt hier im Hause wenig Widerspruch,
wenn ich sage: Wir sollten darüber nachdenken, die par-
lamentarische Kontrolle zu verstärken und vor allen Din-
gen die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspoli-





Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)


tik in ganz konkreten Projekten zusammenzuführen. Wir
sollten lieber einige wenige Projekte gut machen als eine
Vielfalt unterschiedlicher Initiativen, die weder zu kon-
trollieren noch in irgendeiner Weise zu finanzieren sind,
aufrechtzuerhalten.

Das schaffen wir, indem wir zum Beispiel das Baltic
Air Policing, also den Luftraumschutz über dem Balti-
kum, intensiver betreiben und vielleicht sogar gemein-
sam durchführen, indem wir den Schutz der Außengren-
zen an der Küste gewährleisten, indem wir gemeinsame
Ausbildungseinrichtungen schaffen, also auch junge
Menschen zusammenführen, und indem wir gemein-
same Hauptquartiere und gemeinsame Doktrinen entwi-
ckeln. Hier gibt es noch viel zu tun. Wir von der Union
sind mit ganzer Kraft dabei, diese Vorhaben zu unterstüt-
zen. Aber vor dem Hintergrund des erwähnten inneren
Widerspruchs – Sie formulieren große Ziele, sprechen
sogar von einer Verankerung im Grundgesetz, haben
aber im Kleinen Schwierigkeiten – haben wir noch etwas
Nacharbeit vor uns. Deswegen folgen wir der Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717225300

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin

Sevim Dağdelen das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717225400

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Herr Kiesewetter, eines ist ganz deutlich geworden:
Unter Stärkung der parlamentarischen Kontrolle bei der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verstehen
Sie eigentlich nur die Durchsetzungskraft deutscher Inte-
ressen, aber nicht, eine echte parlamentarische Kontrolle
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einzu-
richten.


(Beifall bei der LINKEN – Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch!)


Während die Zahl der Missionen – vor allen Dingen
die der Militärmissionen im Rahmen der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch im Rahmen der
Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik –
immer weiter zunimmt und der Haushaltstitel für eine
global agierende Europäische Union mittlerweile mil-
liardenschwer ist und jedes Jahr exorbitant steigt, fristet
die parlamentarische Kontrolle von GASP- und GSVP-
Missionen immer noch ein stiefmütterliches Dasein. Vor
diesem Hintergrund bedauert es die Linke, dass alle an-
deren im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen
einen Antrag meiner Fraktion zur Etablierung einer
GASP-Versammlung mit wirklichen, echten parlamenta-
rischen Kontrollrechten in den entsprechenden Aus-
schüssen unisono zurückgewiesen haben.

Im vorliegenden Antrag der SPD heißt es, die „gestal-
terische Kraft“ Deutschlands fehle ganz besonders „für
den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-

politik“. Sie schreiben, hier sei „seit Jahren nichts mehr
passiert“. Da fragt man sich: Wo leben Sie eigentlich?
Sie erwähnen in Ihrem Antrag doch selbst das Weimarer
Dreieck, und die Gent-Initiative zum Pooling und
Sharing ist an Ihnen offensichtlich ganz vorbeigegangen.

Im Kern geht es eben wohl doch darum, unter deut-
scher Vorherrschaft ein eigenständiges EU-Hauptquar-
tier und ständig bereitstehende zivil-militärische Battle
Groups, also Kampftruppen, Schlachttruppen aufzustel-
len.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


– Ja, so heißt das. Wie würden Sie denn „Battle Groups“
übersetzen? – Sie gehen sogar noch weiter mit der For-
derung, dass Deutschland eine Vorreitergruppe beim
Ausbau gemeinsamer militärischer Fähigkeiten bilden
soll. Genau das treibt den Keil in die Europäische Union,
den Sie als tiefste Krise der EU seit ihren Anfängen
monieren.

Die Linke ist gegen eine deutsche Vorreiterrolle. Wir
wollen eine entmilitarisierte EU-Außenpolitik und ein
friedliches Europa.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb finden wir es eben auch skandalös, dass wir
gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Finanz- und
Wirtschaftskrise, während überall von Sparen und Spar-
diktaten gesprochen wird, in der Europäischen Union
eine Mammutbehörde haben, nämlich den Europäischen
Auswärtigen Dienst, der letztes Jahr rund eine halbe
Milliarde Euro „gefressen“ hat. Was könnte man hier in
Europa mit diesem Geld vor allen Dingen im sozialen
Bereich nicht alles erreichen!


(Beifall bei der LINKEN)


Für die Militarisierung haben Sie immer Geld, an allem
anderen soll gespart werden.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: So ein Unsinn! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Was reden Sie da eigentlich?)


Auch sonst kann nicht im Geringsten davon die Rede
sein, dass in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-
politik nichts passiert. Die EU hat ein umfangreiches
Sanktionsregime entwickelt, das in der Elfenbeinküste,
in Libyen, in Syrien die Eskalation zu Bürgerkriegen
begünstigt hat und in einen Krieg mit dem Iran zu mün-
den droht.


(Joachim Spatz [FDP]: So ein Quatsch! Wer hat denn dort das Problem gelöst? Dummes Geschwätz jedenfalls nicht!)


– Das glauben auch nur Sie. Wovon träumen Sie eigent-
lich nachts? Sehen Sie sich die Elfenbeinküste an! – Die
EU hat Berater und Grenzschützer nach Libyen entsandt
und finanziert mit ihrer Sahel-Strategie die Militarisie-
rung der Sahara. Sie bereitet gegenwärtig eine GSVP-
Mission in Mauretanien, Niger und Mali vor, dort wo
gerade ein Aufstand und ein Putsch stattgefunden haben.





Sevim Da?delen


(A) (C)



(D)(B)


All das geschieht ohne jede Kontrolle des Europäischen
Parlaments oder der nationalen Parlamente.

Auch zum Horn von Afrika hat die EU mittlerweile
eine eigene Strategie entwickelt. Sie hat ein eigenes
Operationszentrum errichtet und plant ihre mittlerweile
dritte GSVP-Mission. Das erweiterte Mandat für die
Operation Atalanta wurde mit der somalischen Über-
gangsregierung abgestimmt und vom Rat beschlossen,
bevor es dem Bundestag auch nur ansatzweise vorlag.
Und da sprechen Sie hier von parlamentarischen Rech-
ten!

Für die EU-Trainingsmission EUTM SOM für die
Übergangsregierung wurde niemals ein Mandat des
Bundestages eingeholt, und sie wurde über den Ablauf
des EU-Mandates hinaus stillschweigend fortgesetzt.
Unsere Kleine Anfrage zur geplanten Mission zur mari-
timen Aufrüstung der Verbündeten in der Region blieb
faktisch unbeantwortet.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717225500

Kollegin Dağdelen, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Spatz?


(Zuruf von der CDU/CSU: Längere Redezeit!)


Das würde Ihnen die Redezeit tatsächlich verlängern.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717225600

Ja, sehr gern.


Joachim Spatz (FDP):
Rede ID: ID1717225700

Auch wenn man das billigend in Kauf nehmen muss,

habe ich doch einmal eine Frage.

Was hätten Sie denn gesagt, wenn hier im Deutschen
Bundestag ein Mandat vorgelegt worden wäre, das mit
der somalischen Regierung nicht abgestimmt gewesen
wäre? Dann wäre genau das doch Ihr Vorwurf gewesen.
Sie müssen sich schon einmal entscheiden, ob Sie
Ownership so hoch hängen, wie wir das tun, und erst die
Betroffenen fragen oder ob Sie hier einfordern, dass das
Mandat gewissermaßen im Verhandlungsstadium hätte
vorliegen müssen.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717225800

Herr Kollege Spatz, Sie sprechen gerade etwas an,

worüber wir im Deutschen Bundestag überhaupt nicht
haben beraten können. Das ist ja meine Kritik.


(Joachim Spatz [FDP]: Das kommt ja noch!)


– Sie sagen: „Das kommt ja noch.“ Die Mission EUTM
SOM läuft schon seit Jahren. Wir haben hier im Deut-
schen Bundestag nicht ein Mal eine Diskussion oder eine
Debatte über dieses Mandat gehabt. Es gibt einen Antrag
der Linksfraktion, darüber hier zu debattieren. Wir for-
dern, dass der Parlamentsvorbehalt endlich einmal wahr-
genommen und ernst genommen wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie entparlamentarisieren das System und höhlen den
Parlamentsvorbehalt aus, indem eben nur noch auf euro-
päischer Ebene über die Mandatierungen gesprochen

und abgestimmt wird und das Kabinett und nicht das
Parlament entscheidet. Das kritisiert die Linke hier. Wir
sind für echte parlamentarische Kontrollrechte. Das geht
nur, wenn Sie uns die entsprechenden Vorlagen liefern,
wir hier in den Ausschüssen und im Deutschen Bundes-
tag darüber diskutieren und Sie nicht eine heimliche
Außenpolitik im Hinterzimmer betreiben. Herr Kollege
Spatz, das müssen Sie auch einmal ernst nehmen.


(Beifall bei der LINKEN – Joachim Spatz [FDP]: Nein, das darf man gar nicht ernst nehmen!)


Deshalb fordert die Linke echte parlamentarische
Mitbestimmung und Transparenz in der europäischen
Außenpolitik, meine Damen und Herren. Dies kann mit
einer interparlamentarischen Versammlung, wie wir sie
in unserem Antrag fordern, erreicht werden, und zwar
mit ständigen Strukturen und substanziellen Kontroll-
und Vetorechten. Das wäre ein wirklicher Beitrag zum
Frieden.

Ich bitte Sie deshalb: Springen Sie einfach über Ihren
Schatten und stärken Sie Ihre eigenen parlamentarischen
Rechte! Entmachten Sie sich nicht weiterhin selbst
dadurch, dass Sie sich selbst Ihre parlamentarischen
Rechte beschneiden.


(Beifall bei der LINKEN – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Mehr Demokratie wagen! Auch im Parlament!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717225900

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die

Kollegin Cramon-Taubadel das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wir sind natürlich für eine echte parlamentarische
Kontrolle der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik. Wenn wir aber hier über die WEU und die
Selbstauflösung der WEU sowie über die Idee des Lissa-
bon-Vertrags sprechen und wenn wir das alles zueinan-
derbringen, dann kommen wir auf jeden Fall nicht zu
dem Ergebnis, das Sie uns in Ihrem Antrag präsentiert
haben. Die Frage der Umsetzung, also die Frage, wie wir
eine solche Versammlung gestalten, kann nicht darin
münden, dass wir sagen, dass wir ein vollständiges
Sekretariat haben wollen, dass wir uns vier Mal im Jahr
treffen wollen und dass wir große Delegationen brau-
chen.

Wer Mitglied in einer parlamentarischen Versamm-
lung ist – ich bin Mitglied in zwei parlamentarischen
Versammlungen, und ich wiederhole das gerne noch ein-
mal, wie ich es gestern im Ausschuss getan habe –, wird
merken, dass wir im Deutschen Bundestag gar nicht die
Abgeordneten finden, die diese parlamentarische Kon-
trolle auch ausüben wollen. Wenn wir in unseren Frak-
tionen geeignete und sehr motivierte Kolleginnen und
Kollegen heuern, die sich dann die Mühe machen, dort
auch mitzuarbeiten, ist das ganz bestimmt eine vernünf-
tige Sache. Ich glaube aber nicht, dass wir angesichts

Sevim Dağdelen





Viola von Cramon-Taubadel


(A) (C)



(D)(B)


unserer Beteiligung in der WEU und angesichts dessen,
was in der WEU besprochen wurde, in dieser Form da-
rüber diskutieren müssen.


(Joachim Spatz [FDP]: Das ist doch ein ganz neues Ding!)


Daher sind wir für die parlamentarische Kontrolle. Wir
sind außerdem sehr dafür, dass das Europäische Parla-
ment in geeigneter Form eingebunden wird.

Was die Frage der Umsetzung angeht, brauchen wir
den Antrag der Linken nicht unbedingt ernst zu nehmen.
Er ist unrealistisch.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sagt die Kriegspartei Grüne!)


– Genau, sagt die Kriegspartei Grüne. Richtig. Das kön-
nen wir hier festhalten.

Es steht also nicht gut um das deutsche Engagement
in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspoli-
tik der Europäischen Union. Der Motor stottert. Der Ver-
teidigungsminister konzentriert sich im Augenblick noch
auf die Bundeswehrreform. Fragen nach Einsparungen
im EU-Rahmen spielen bislang keine Rolle. Der Vertei-
digungsminister sagt – ich zitiere –:

Wir müssen mehr können und mehr gemeinsam
können.

Allein uns fehlt der Glaube; denn wenige Tage zuvor
konnten wir ebenfalls von ihm lesen, und das klingt
schon deutlich skeptischer – ich zitiere wiederum –:

Die Wahrheit ist: Smart Defence spart kein Geld,
sondern reduziert allenfalls künftige Aufwendun-
gen.

Das ist doch genau die Skepsis, die wir immer wieder
auf der Seite der Bundesrepublik feststellen, wenn es um
die Zusammenarbeit in der EU und in der NATO geht.
Das ist auch die Linie des Verteidigungsministeriums.

Das Projekt eines europäischen Hauptquartiers ist am
Widerstand Großbritanniens gescheitert. Das haben Sie
erwähnt. Das ist sicherlich richtig. Es ist sicher auch
richtig, dass wir es nicht schaffen, gemeinsame Battle
Groups aufzustellen. Das Pooling und das Sharing hat
noch Herr Minister zu Guttenberg angestoßen. Das ist
auch versandet. Es stockt also an allen Stellen. Von den
Mitgliedern der Konferenz der europäischen Vertei-
digungsagentur haben wir gehört, dass es keine neuen
Initiativen gibt.

Bei der Abstimmung über Ihren Antrag können wir
uns aber nur der Stimme enthalten, weil wir nicht erken-
nen können, dass der zivile Bereich in Ihrem Antrag
berücksichtigt wurde. Aus unserer Sicht liegen genau
hier die Dinge noch im Argen. Im Europäischen Aus-
wärtigen Dienst fristen die für die zivilen Aspekte der
Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
zuständigen Abteilungen ein Schattendasein.


(Zuruf des Abg. Joachim Spatz [FDP])


Wir sind der Meinung: Es muss endlich einen Pool für
Expertinnen und Experten aus Polizei, Verwaltung und

Justizwesen geben. Das gibt es im Moment nicht. Deut-
sche Justizbeamte und Polizisten, die sich bereit erklä-
ren, werden vielfach ausgebremst. Sie müssen Karriere-
pausen befürchten, anstatt befördert zu werden. Ein
Belohnungssystem sähe anders aus. An Vereinbarkeit
von Familie und Auslandstätigkeit ist nicht zu denken.
Wir sehen im Moment noch keine Bereitschaft aufseiten
der Koalition, da etwas zu ändern.

Wir wünschen uns, dass vor allem – – Entschuldi-
gung, ich glaube, ich bin gerade etwas neben der Spur;
das tut mir leid.


(Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Das macht doch nichts!)


Wir sehen, dass insbesondere Großbritannien darauf
drängt, dass den Einsatzkräften die Zerstörung der Pira-
terielogistik ermöglicht wird. Das sind aus unserer Sicht
unübersehbare Risiken. Diese führen dazu, dass der ge-
samte Erfolg der geplanten EU-Mission in Gefahr ist. –
Ich werde jetzt meine Rede beenden; das tut mir leid.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717226000

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Wolfgang

Götzer das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1717226100

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Seit Bestehen der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik tritt die Bundesregierung kontinu-
ierlich für deren Weiterentwicklung im europäischen
Rahmen ein.


(Beifall des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU])


Dabei kommt der GSVP als operativem Arm der Ge-
meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine nicht zu
unterschätzende, ja zunehmende Bedeutung auch für das
europäische Einigungswerk und die Wahrnehmung der
EU als internationalem Akteur auf der Weltbühne zu.

Mit nunmehr über 20 zivilen Missionen und militäri-
schen Operationen tritt die EU in Krisengebieten welt-
weit als Krisenmanager in Erscheinung. So zeigt die EU
seit Jahren Präsenz in Afghanistan, wo sie erfolgreich
afghanische Polizisten und Sicherheitskräfte ausbildet,
vor der Küste Somalias, wo sie Piraterie bekämpft und
Schiffen des Welternährungsprogramms sicheres Geleit
bietet, oder in Georgien, wo sie seit Oktober 2008 durch
eine Beobachtermission zur Stabilisierung der Lage
beiträgt.

Erst letzte Woche haben die Außenminister der EU
bei ihrem Treffen grünes Licht für einen weiteren Aus-
bau der GSVP-Einsätze, insbesondere in Afrika, gege-
ben. Von Stillstand oder fehlender „gestalterischer
Kraft“ in der GSVP, wie es im SPD-Antrag heißt, kann
also keine Rede sein.





Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)


Um diesen stetig wachsenden Herausforderungen und
Aufgaben gerecht werden zu können, braucht die Ge-
meinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik Struk-
tur, und zwar sowohl zivile als auch militärische Fähig-
keiten. Gerade in deren Vernetzung liegt eine große
Stärke der Krisenmanagementfähigkeiten der EU. Da die
GSVP nach wie vor Defizite im Bereich der militäri-
schen Fähigkeiten hat, gilt es, diese zu stärken. Eine Ent-
militarisierung, wie im Antrag der Fraktion der Linken
gefordert, wäre genau der falsche Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wenn Sie keinen Frieden wollen, dann ist das so!)


Der Ausbau der militärischen Fähigkeiten geht Hand
in Hand mit dem Ausbau der parlamentarischen Kon-
trolle der GSVP. Auch hier sind sehr wohl in der jüngs-
ten Zeit wichtige Schritte hin zu einer stärkeren Einbin-
dung der nationalen Parlamente und des Europäischen
Parlaments unternommen worden. Richtungweisend war
vor allem der auf Antrag der Koalitionsfraktionen – der
Kollege Spatz hat das schon erwähnt – gefasste Be-
schluss zur Einrichtung einer interparlamentarischen
Konferenz aus Vertretern der nationalen Parlamente und
des Europäischen Parlaments zur GASP und zur GSVP.
Die Einrichtung eines Konvents oder anderer Gremien
zur Kontrolle der Gemeinsamen Sicherheits- und Vertei-
digungspolitik ist somit nicht erforderlich.

Um noch einmal auf den Antrag der SPD-Fraktion
zurückzukommen: Selbstverständlich hat es in den letz-
ten Jahren Initiativen der Bundesregierung gegeben,


(Joachim Spatz [FDP]: Natürlich!)


auch die Strukturen und Fähigkeiten der GSVP, gerade
in Zeiten der Finanzkrise, weiterzuentwickeln. Man
denke bloß an die GSVP-Initiative des Weimarer Drei-
ecks. In dieser schlugen Polen, Frankreich und Deutsch-
land Ende 2010 vor, die Battle Groups zu reformieren,
ein EU-Headquarter aufzubauen, die EU-NATO-Bezie-
hungen auszubauen und gemeinsam auf EU-Ebene mili-
tärische Fähigkeiten zu entwickeln, oder an die ebenfalls
von Deutschland mit initiierte Gent-Initiative, die zum
Ziel hat, gemeinsame Spar- und Kooperationspotenziale
durch Pooling and Sharing militärischer Fähigkeiten zu
optimieren. Wenn nun die SPD-Fraktion in ihrem Antrag
fordert, diesen Ansatz des Pooling and Sharing noch
stärker zu nutzen, so ist dazu zu sagen: Dies geschieht
bereits. Erst am 23. März dieses Jahres haben die Vertei-
digungsminister der EU die bedeutenden Fortschritte,
die die EU auf diesem Gebiet in jüngster Zeit erzielt hat,
lobend hervorgehoben. Darunter sind vor allen Dingen
die mithilfe der Europäischen Verteidigungsagentur,
EDA, zustande gekommenen Initiativen zur Luftbetan-
kung, zur medizinischen Unterstützung und zur mariti-
men Überwachung.

Trotz dieser Fortschritte ist es uns wichtig, dass Poo-
ling and Sharing nicht nur als Möglichkeit, in Zeiten der
Finanzkrise Kosten einzusparen, genutzt werden sollte,
sondern auch als ein Instrument zum Ausbau weiterer
militärischer Fähigkeiten.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sieh mal! Das wollen Sie also!)


Wenn wir jetzt aus der Not eine Tugend machen und
vor dem Hintergrund schrumpfender Verteidigungs-
budgets den Schritt hin zu mehr europäischer Integration
im Verteidigungsbereich gehen, setzen wir damit auch
ein eindeutiges Signal für die Zukunft Europas.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717226200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD
mit dem Titel „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik (GSVP) weiterentwickeln und mitgestal-
ten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/8507, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7360 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und Ge-
meinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU
wirksam kontrollieren“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8807, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5387
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions-
fraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der Pressefreiheit im Straf- und
Strafprozessrecht (PrStG)


– Drucksache 17/3355 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Volker Beck (Köln), Tabea Rößner, Kai
Gehring, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz von
Journalisten und der Pressefreiheit im Straf-
und Strafprozessrecht

– Drucksache 17/3989 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/9199 –





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Ingo Egloff
Burkhard Lischka
Christian Ahrendt
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag

b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung der Pressefreiheit

– Drucksache 17/9144 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Wenn die entsprechende Ruhe und Aufmerksamkeit
hier im Saale hergestellt ist, kann ich die die Aussprache
eröffnen. Ich bitte sowohl die Kolleginnen und Kollegen
in den Fraktionsreihen als auch diejenigen auf der Regie-
rungsbank, die notwendige Aufmerksamkeit herzustel-
len. – Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Eine freie Presse ist für das Funktio-
nieren des demokratischen Gemeinwesens unverzichtbar.


(Beifall bei der FDP)


Unsere Verfassung schützt die Pressefreiheit ausdrück-
lich. Das gehört zu den konstitutiven Grundlagen unse-
rer Verfassung.

Die Gefahren, die der Pressefreiheit drohen, gibt es
seit der Erfindung des Buchdrucks. Sie setzen sich im
21. Jahrhundert angesichts digitaler Kommunikation und
rasend schneller Verbreitung von Texten, von Arbeiten
von Journalisten fort. Zuletzt hat das Cicero-Urteil des
Bundesverfassungsgerichts deutlich gemacht, dass auch
in Deutschland nach wie vor Gefährdungen bestehen.


(Mechthild Dyckmans [FDP]: Sehr richtig!)


Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung soll nun
ein Einfallstor geschlossen werden, durch das die Arbeit
der freien Presse unmittelbar gefährdet wird. Wenn Jour-
nalisten ihnen zugespieltes Geheimmaterial verwendet
haben, wird ihnen nach bisher geltendem Recht „Bei-
hilfe zum Geheimnisverrat“ vorgeworfen. Das ist dann
ein Anlass zu strafrechtlichen Ermittlungen, die natür-
lich gerade auch mit dem Ziel geführt werden, die ei-
gentlichen Quellen, also gerade auch undichte Stellen in
verschiedenen Behörden oder öffentlichen Institutionen,
aufzudecken.

In vielen Fällen ist es in der Vergangenheit zu um-
fangreichen Ermittlungen gekommen. Dazu gehören

Durchsuchungen von Redaktionsräumen und die Be-
schlagnahme von Computern, Festplatten und wichti-
gem Recherchematerial bzw. von Notebooks mit Hin-
weisen auf Informanten. All das sind erhebliche
Beeinträchtigungen unabhängiger journalistischer Tätig-
keit. Verurteilungen wegen Beihilfe zum Geheimnis-
verrat hat es nicht gegeben.

Für Medienangehörige, die sich auf das Entgegenneh-
men und Verwenden eines Geheimnisses beschränken,
soll deshalb nach dem Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung künftig die Strafbarkeit der Beihilfe gestrichen
werden.


(Beifall bei der FDP)


Wir wollen, dass dieser Vorwurf gegenüber Journalisten
nicht mehr benutzt wird, um Ermittlungen in andere
Richtungen zu tätigen. Damit unterbinden wir in unse-
rem Strafgesetzbuch an der entscheidenden Stelle die
Möglichkeit, durch die es immer wieder – Sie kennen
die Verfahren, die es dazu gibt – umfangreiche Strafver-
folgungsmaßnahmen gegeben hat.

Wir stärken damit den Quellen- und Informanten-
schutz. Das sichert zudem investigative Recherche und
kritische Berichterstattung. Das alles ist uns allen nicht
immer angenehm, aber es ist Bestandteil unseres demo-
kratischen Rechtsstaats.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Gesetzentwurf der Bundesregierung schafft damit
Klarheit über strafrechtliche Grenzen, aber keine, wie
teilweise angeklungen ist, unangemessene Privilegie-
rung von Medienangehörigen. Vielmehr wägen wir sehr
sorgfältig in dem Spannungsfeld zwischen der Freiheit
der Presseberichterstattung und der Arbeit von Journalis-
ten auf der einen Seite und der Aufgabe der Strafverfol-
gungsbehörden auf der anderen Seite, Delikte zu ahnden,
ab, die natürlich ermöglicht werden muss.

Wir wählen einen angemessenen und richtigen Weg.
Es gibt Gesetzentwürfe und Änderungsvorschläge aus
den Oppositionsfraktionen, von Bündnis 90/Die Grünen
und von der SPD. Ein Vorschlag ist, die Anstiftung zum
Geheimnisverrat durch Medienvertreter auch straflos zu
stellen.

Wir konzentrieren unseren Gesetzentwurf auf Beihil-
fehandlungen. Denn wir sind der Auffassung, dass der
Unrechtsgehalt einer Anstiftung anders zu bewerten ist,
wenn zielgerichtet versucht wird, aus Behörden heraus
mit verschiedensten Möglichkeiten Informationen zu be-
kommen, die der Geheimhaltung unterliegen, als wenn
einem Material zugespielt wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb haben wir die Anstiftung nicht straffrei gestellt.

Wir wenden uns weiterhin der Strafprozessordnung
zu und wollen bei der Beschlagnahme von Material, das
Journalisten von Informanten erhalten, die Hürden zu-
gunsten der Pressefreiheit ein Stück höher legen. In Zu-
kunft wird nicht mehr nur ein auf bestimmte Tatsachen





Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


(A) (C)



(D)(B)


gestützter einfacher Tatverdacht gegen einen Journalis-
ten ausreichen, sondern es muss ein dringender Tatver-
dacht vorliegen. Das heißt, es sind natürlich Beschlag-
nahmemaßnahmen möglich, aber für diese sind höhere
Hürden vorgesehen. Ich glaube, das zeigt, dass die Bun-
desregierung hier mit Augenmaß vorgegangen ist. Wir
setzen an den Stellen an, bei denen wir der Auffassung
sind, dass es richtig ist, die Pressefreiheit, die Recherc-
hearbeit und das Vorgehen von Journalisten zu schützen
und zu würdigen. Das tun wir nach Abwägung aller Kri-
terien.

Die vorliegenden Gesetzentwürfe der Opposition
wählen teilweise andere Ansätze oder gehen unserer
Meinung nach deutlich über das, was wir erreichen wol-
len, hinaus. Deshalb werbe ich um Zustimmung zu die-
sem Gesetzentwurf.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717226300

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Ingo Egloff

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Ingo Egloff (SPD):
Rede ID: ID1717226400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich gebe der Ministerin an der Stelle recht, wo
sie die Bedeutung einer freien Presse und eines freien
Rundfunks für das Funktionieren eines demokratischen
Rechtsstaates hervorgehoben hat; ich glaube, hieran be-
steht in diesem Hause auch kein Zweifel. Das wird von
allen Fraktionen so gesehen.

Ich begrüße es auch ausdrücklich, dass hier alle Sei-
ten Konsequenzen aus dem Cicero-Urteil des Bundes-
verfassungsgerichts gezogen haben, und die Entwürfe
zur Regelung der Fragen der Beihilfe, Beschlagnahme
und Durchsuchungen bei Medienangehörigen haben die
richtige Stoßrichtung. Der Regierungsentwurf, Frau
Ministerin, geht unseres Erachtens allerdings nicht weit
genug.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Cicero-Urteil
in dankenswerter Klarheit ausgeführt, dass das Risiko
bestehen könnte, dass die Staatsanwaltschaft ein Ermitt-
lungsverfahren wegen Beihilfe mit dem ausschließlichen
oder überwiegenden Ziel einleitet, die Person des Infor-
manten festzustellen.

Dies aber

– so das Bundesverfassungsgericht wörtlich –

widerspräche dem verfassungsrechtlich gewährleis-
teten Informantenschutz … Der Schutz des Art. 5
Abs. 1 Satz 2 GG gebietet, dem Risiko entgegenzu-
wirken. Deshalb müssen die strafprozessualen Nor-
men über Durchsuchung und Beschlagnahme
dahingehend ausgelegt werden, dass die bloße Ver-
öffentlichung des Dienstgeheimnisses durch einen
Journalisten nicht ausreicht, um einen diesen Vor-
schriften genügenden Verdacht der Beihilfe des

Journalisten zum Geheimnisverrat zu begründen.
Zu fordern sind vielmehr spezifische … Anhalts-
punkte für das Vorliegen einer vom Geheimnisträ-
ger bezweckten Veröffentlichung des Geheimnisses
und damit einer beihilfefähigen Haupttat.

So das Bundesverfassungsgericht zu Recht.

Der Entwurf der Bundesregierung schlägt eine Ände-
rung des Strafgesetzbuches vor, mit der sichergestellt
werden soll, dass Journalisten ihnen vertraulich zugelei-
tetes Material veröffentlichen können, ohne sich strafbar
zu machen; dazu dient ihr Vorschlag zu § 353 b StGB.

Zudem wird das Beschlagnahmeverbot gegen Journa-
listen ausgeweitet, indem bei Verdacht der Verstrickung
nicht mehr der einfache Verdacht, sondern ein dringen-
der Verdacht der Verstrickung bestehen muss. Hier,
meine Damen und Herren, setzt unsere Kritik an. Denn
ein solcher dringender Verdacht besteht sonst aus-
schließlich beim Haftbefehl, und wir erachten ihn bei
§ 97 Abs. 5 Satz 2 StPO als systemwidrig.


(Beifall bei der SPD)


Der Kollege Montag hat im Rechtsausschuss zu Recht
von der Sortierung nach Berufsgruppen gesprochen. Das
lehnen wir ab.

Auch die Einfügung beim § 353 b StGB – die Grünen
haben das genauso gemacht – halten wir für rechtsdog-
matisch falsch. Hier wird bei der Strafrechtsnorm auf die
Beihilfehandlung einer einzigen Berufsgruppe aus der
Gruppe der Berufsgeheimnisträger abgestellt. Unseres
Erachtens hätte das besser in der Strafprozessordnung
angesiedelt werden sollen, so wie es in unserem Entwurf
in Bezug auf die Änderung von § 160 a StPO vorge-
schlagen wird.


(Beifall bei der SPD)


Mit dem Gesetz zur Neuregelung der Telekommuni-
kationsüberwachung und anderer verdeckter Ermitt-
lungsmaßnahmen sind unterschiedliche Formen von Er-
hebungs- und Beweisverwertungsverboten geschaffen
worden, welche je nach Berufsgruppe unterschiedlich
gestaltet sind. Die Journalisten gehörten bisher zu der
Berufsgruppe, die nicht in dem Maße geschützt war, wie
dies bei Geistlichen, Verteidigern, Abgeordneten und
seit 2011 auch bei Anwälten der Fall ist. Das Gleiche gilt
im Übrigen auch für Ärzte und Psychotherapeuten.

Deswegen sind wir der Auffassung, dass diese Be-
rufsgruppen, die auch Berufsgeheimnisträger sind, in
diesen Schutz des Beweiserhebungs- und -verwertungs-
verbotes einbezogen werden müssen, damit es nicht
dazu kommen kann, dass das Zeugnisverweigerungs-
recht, das vor Gericht besteht, im Ermittlungsverfahren
leerläuft. Deshalb schlagen wir vor, dass das absolute
Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsgebot auch
bei Ermittlungsverfahren gegen Medienangehörige
greift.


(Beifall bei der SPD)


Auch die Grünen haben die Änderung des § 353 b
StGB vorgeschlagen und dies dann noch – darauf hat die
Ministerin hingewiesen – um die Anstiftungshandlungen





Ingo Egloff


(A) (C)



(D)(B)


erweitert. Ich bin in der Kritik bei Ihnen, was diese Frage
angeht: Auch wir Sozialdemokraten sehen es kritisch,
eine Anstiftung in diesem Zusammenhang auf diese Art
und Weise straffrei zu stellen. Das geht unseres Erach-
tens zu weit.

Ich teile die Kritik der Ministerin: Es ist ein substan-
zieller Unterschied, ob ein Medienangehöriger einen Ge-
heimnisträger dazu anstiftet, Geheimnisse zu offenbaren,
oder ob dem Medienangehörigen solche Geheimnisse
zugespielt werden. Deswegen sollte man an der Stelle
vorsichtig sein, das Tor weiter zu öffnen.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen die Beschlagnahme grundsätzlich in allen
diesen Fällen unter Richtervorbehalt stellen, um hier die
Schwelle zu erhöhen und die Berufe in diesen sensiblen
Bereichen zu schützen.

Wir hätten uns gewünscht, dass wir das nach dem
Vorlauf – das Ganze geht ja schon etliche Jahre – diese
Woche nicht sozusagen im Schweinsgalopp durch den
Ausschuss und hier durch das Plenum hätten bringen
müssen, sondern die Zeit gehabt hätten, das noch einmal
entsprechend zu diskutieren, zumal wir ja auch noch ei-
nen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Diese Kritik haben
wir bereits im Rechtsausschuss angebracht.

Auch eine intensive Diskussion um die Frage, ob die
rechtssystematische Einordnung der Änderung richtig
ist, hätten wir uns gewünscht. Auch diese Diskussion
hätten wir führen können. Aber das war wahrscheinlich
aus koalitionsinternen Gründen nicht gewünscht, nach-
dem Sie im Koalitionsausschuss am 4. März 2012, an-
scheinend im Rahmen eines Tauschgeschäfts, sich da-
rauf verständigt haben, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung ohne Änderung durchzudrücken. Gut
finden wir das nicht, meine Damen und Herren.


(Beifall der Abg. Sonja Steffen [SPD])


Der Deutsche Journalisten-Verband ist mit dem Ge-
setzentwurf der Regierung nicht einverstanden, weil, so
der DJV, der Schutz der Informanten und der Recherche
durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht ver-
bessert wird. Der Vorsitzende des Deutschen Journalis-
ten-Verbandes, Michael Konken, forderte die Abgeord-
neten dazu auf, sich intensiv mit den Gesetzentwürfen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu befassen, weil
sie der Situation der Journalisten als Berufsgeheimnis-
träger besser gerecht werden. Nur wenn die Regelungen
in den Gesetzentwürfen der Opposition berücksichtigt
werden, so der DJV-Vorsitzende, ist in Deutschland ein
Mehr an Pressefreiheit erreicht. Der Mann hat recht.


(Beifall bei der SPD)


Aber da die Koalition wild entschlossen ist, heute hier
die Sache durchzuziehen, werden wir auf einen umfas-
senden Schutz, wie der Journalisten-Verband und auch
wir ihn erwarten, noch ein bisschen warten müssen. Wir
arbeiten daran. Wir werden nicht nachlassen. Wir sehen
uns an dieser Stelle mit einem anderen Gesetzentwurf
wieder.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Guter Mann!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717226500

Der Kollege Ansgar Heveling hat nun für die Unions-

fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1717226600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Müsste ich entscheiden, ob wir eine Regierung
ohne Zeitungen oder Zeitungen ohne Regierung ha-
ben sollten, ich würde nicht einen Augenblick zö-
gern, Letzteres zu wählen.

So pointiert hat bereits der dritte Präsident der Vereinig-
ten Staaten, Thomas Jefferson, zu Beginn des 19. Jahr-
hunderts die Bedeutung der Presse und der Pressefreiheit
für den demokratischen Staat formuliert, zu einer Zeit im
Übrigen, zu der in Kontinentaleuropa die Entwicklung
der Meinungs- und Pressefreiheit erst einmal noch eine
ganz andere Wendung nehmen sollte.

Bei uns musste diese Freiheit erst über einen langen
Prozess mit vielen Rückschlägen bis weit ins 20. Jahr-
hundert hinein erkämpft werden. Unter der Geltung des
Grundgesetzes sind Meinungs- und Pressefreiheit in
Deutschland allerdings – gottlob! – fest verankert und in
Art. 5 des Grundgesetzes auch als Grundrecht ausformu-
liert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


So hat das Bundesverfassungsgericht bereits in einer
frühen Entscheidung zur Meinungsfreiheit klargestellt,
was ohne Weiteres auch auf die Pressefreiheit übertragen
werden kann:

Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als
unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persön-
lichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten
Menschenrechte überhaupt … Für eine freiheitlich-
demokratische Staatsordnung ist es schlechthin
konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige
geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Mei-
nungen, der ihr Lebenselement ist … Es ist in ge-
wissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit über-
haupt …

Aus dieser grundlegenden Bedeutung der Mei-
nungsäußerungsfreiheit für den freiheitlich-demo-
kratischen Staat ergibt sich, daß es vom Standpunkt
dieses Verfassungssystems aus nicht folgerichtig
wäre, die sachliche Reichweite gerade dieses
Grundrechts jeder Relativierung durch einfaches

(und damit zwangsläufig durch die Rechtsprechung der die Gesetze auslegenden Gerichte)

zu überlassen.

So weit das Bundesverfassungsgericht.

Das zeigt: Art. 5 des Grundgesetzes hat eine beson-
dere Stellung in unserem Verfassungsgefüge. Er erfor-
dert eine besondere Sensibilität von den staatlichen Ge-





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)


walten. Dem müssen wir als Gesetzgeber auch in
besonderem Maße gerecht werden. Es ist unsere Auf-
gabe, durch gesetzliche Regelungen sorgsam auszutarie-
ren, wo die Relativierung durch einfaches Gesetz be-
ginnt und wo es gerechtfertigt ist, der Pressefreiheit
gesetzliche Grenzen zu setzen.

Dazu ist zunächst einmal festzuhalten: Die Pressefrei-
heit in Deutschland ist stark. In der Bundesrepublik kön-
nen Medien ihrer wichtigen Aufgabe ungehindert nach-
kommen. Die Presse ist frei. Jeder hat die Chance, die
unterschiedlichste veröffentlichte Meinung in den ver-
schiedensten Medien ohne jegliche Repression wahrzu-
nehmen. Das ist nicht in jedem Land so, aber bei uns ist
es so.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Allerdings ist auch klar, dass die Pressefreiheit in ei-
nem Spannungsverhältnis zu anderen Rechten steht, zum
Beispiel zum Interesse des Staates an einer wirksamen
Strafverfolgung. Hier gibt es keinen Automatismus, der
Medienangehörige generell und grundsätzlich außerhalb
des Geltungsbereichs strafrechtlicher und strafprozess-
ualer Normen stellt.

Zu Recht wird in der Begründung des Gesetzentwurfs
darauf hingewiesen – ich zitiere –:

Dass das Strafverfolgungsinteresse grundsätzlich
hinter das Rechercheinteresse der Medien zurück-
zutreten hat, lässt sich verfassungsrechtlich nicht
begründen … Es ist zudem zu beachten, dass das
Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung durch
verfahrensrechtliche Vorschriften, die die Ermitt-
lung der Wahrheit beschränken, empfindlich be-
rührt werden kann. Solche Beschränkungen können
auch den im Rechtsstaatsprinzip begründeten An-
spruch des Beschuldigten auf ein faires Strafverfah-
ren beeinträchtigen, weil Gegenstände, auf die sich
Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahme-
verbote beziehen, grundsätzlich nicht nur der An-
klage, sondern auch der Verteidigung entzogen
sind.

Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung sollen
nun nicht nur Verfahrensrechte geregelt werden. Es soll
auch vielmehr gesetzlich geregelt werden, dass Beihilfe-
handlungen zur Verletzung des Dienstgeheimnisses und
einer besonderen Geheimhaltungspflicht gemäß § 353 b
Strafgesetzbuch zukünftig nicht einmal mehr rechtswid-
rig sein dürfen. Damit reagiert die Bundesregierung un-
mittelbar auf eine Entwicklung in jüngster Zeit, bei der
Medienangehörige wiederholt Gegenstand der Ermitt-
lungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden gewesen
sind.

Die Bundesregierung hat deshalb die Notwendigkeit
gesehen, das Verhältnis von Pressefreiheit und Strafrecht
neu zu justieren. Ich will dabei keinen Hehl daraus ma-
chen, dass dies eine Abwägung ist und dass man bei je-
der Abwägung der unterschiedlichen Rechtsgüter durch-
aus auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen
kann – insbesondere dann, wenn es sich im Wesentlichen
um Einzelfälle handelt.

Gleichwohl hat sich die Koalition entschieden, diese
Fälle zum Anlass zu nehmen, das Verhältnis zwischen
der Pressefreiheit und anderen Rechten gesetzlich neu
auszubalancieren. Das ist maßvoll geschehen, indem nur
Beihilfehandlungen aus dem Bereich der Rechtswidrig-
keit herausgenommen wurden. Wir erteilen damit keinen
Freibrief, andere etwa zum Geheimnisverrat anzustiften.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen lehnen wir auch die weitergehenden Vor-
schläge vonseiten der Opposition ab.

Wenn das neue Gesetz also mehr Freiheit gewährt,
dann verbindet sich damit aber auch eine klare Ver-
pflichtung – eine klare Verpflichtung an den Freiheits-
adressaten. Je weiter dessen Freiheitsraum ist, umso grö-
ßer ist auch seine Verantwortung, mit der Freiheit
verantwortungsvoll umzugehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das hat der Gesetzgeber dann nämlich nicht mehr in der
Hand. Dessen sollten und müssen wir uns alle bewusst
sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717226700

Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717226800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute debattieren wir über drei Gesetzentwürfe zur Stär-
kung der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozessrecht.
Ausgangspunkt für diese Initiativen ist folgendes Pro-
blem: Häufig sind Medienschaffende von der Ermitt-
lungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden betroffen.
Dies passiert immer dann, wenn jemand, der im Rahmen
seiner Tätigkeit zur Geheimhaltung verpflichtet ist,
trotzdem Dokumente oder Informationen an eine Journa-
listin oder einen Journalisten weitergibt und diese dann
veröffentlicht werden.

Die Rechtsprechung sagt gegenwärtig: Medienange-
hörige sind in einem solchen Fall Tatbeteiligte – das ist
hier schon angesprochen worden –, und zwar durch die
bloße Veröffentlichung der erhaltenen Informationen.
Dabei wird der Begriff Medienangehörige weit gefasst.
Es werden Personen subsumiert, die bei der Vorberei-
tung, Herstellung oder Verbreitung von Druckwerken,
Rundfunksendungen, Filmberichten oder berufsmäßig an
der Unterrichtung oder der Meinungsbildung dienenden
Informations- und Kommunikationsdienste mitwirken.

Letztlich haben alle hier im Hohen Haus vertretenen
Parteien erkannt, dass dies absurd ist und das hohe Gut
der Pressefreiheit infrage stellt. Pressefreiheit ist nicht
möglich, wenn Medienschaffende ihre Informantinnen
oder Informanten preisgeben oder verraten müssen, aus
welcher Quelle ihre Informationen stammen. Das soge-





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)


nannte Cicero-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat
diese Auffassung und damit Pressefreiheit und Infor-
mantenschutz bestärkt. Deshalb muss künftig für
Medienangehörige die Rechtswidrigkeit von sogenann-
ten Beihilfehandlungen ausgeschlossen werden. Wer
Informationen und Dokumente, die der Geheimhaltung
unterliegen, entgegennimmt, auswertet oder veröffent-
licht, handelt nicht rechtswidrig.

Für die Linke gilt: Recherche fällt ebenso unter Aus-
wertung. Eine solche Klarstellung oder Ergänzung wäre
besser gewesen als der vorliegende Gesetzentwurf der
Bundesregierung. Das sehen auch die Grünen so; das
finden wir gut, und das unterstützen wir auch. Ebenso
finden wir – das ist schon erwähnt worden –, dass die
Anstiftung zur Weitergabe von Dokumenten oder Infor-
mationen, die der Geheimhaltung unterliegen, straffrei
sein soll; denn uns geht es nicht nur um den Schutz der-
jenigen, die veröffentlichen, uns geht es gleichermaßen
um den Schutz von Informantinnen und Informanten.
Darin sind wir uns mit den Grünen einig. Begrüßenswert
ist auch, dass die Grünen in ihrem Gesetzentwurf den
Informantenschutz durch die Einschränkung von Ermitt-
lungsmaßnahmen über das Beschlagnahmeverbot hinaus
erweitern. Deswegen werden wir dem Gesetzentwurf
zustimmen.

Die vorgeschlagenen Änderungen sind uns gleich-
wohl nicht weitgehend genug; denn alle vorliegenden
Gesetzentwürfe erfassen einige Probleme nicht. Für uns
stellt beispielsweise die Beschränkung auf Medienange-
hörige, also auf eine Berufsgruppe, ein Problem dar. Sie
ist nicht mehr zeitgemäß, wenn man sich anschaut, wie
heutzutage Informationen verbreitet werden und wer
alles im digitalen Zeitalter die Möglichkeit hat, Informa-
tionen zu veröffentlichen. Deshalb sollten alle, die sich
dieser Möglichkeit bedienen, davon Gebrauch machen
können, ohne Strafverfolgung fürchten zu müssen, egal
ob es sich hierbei um Journalisten, Gelegenheitspublizis-
ten, Bloggerinnen und Blogger, politische Aktivistinnen
und Aktivisten handelt. Wir sagen: Wer etwas öffentlich
macht, ist egal, wenn es sich dabei nicht um den Ge-
heimnisträger oder die Geheimnisträgerin handelt.

Auch die einmalige Verbreitung von Informationen
mithilfe des Internets sollte von der Regelung erfasst
werden. Der Sachverständige Fiedler hat in der Anhö-
rung gefordert, dass Gelegenheitspublizisten einbezogen
werden.

Sicher kann man darüber streiten, ob Leak-Plattfor-
men und Blogs Journalismus sind oder nicht. Aber die-
ser Streit geht an der eigentlich wichtigen Frage vorbei:
Bewerten wir die Veröffentlichung von Informationen,
die der Geheimhaltung unterliegen, aber nicht vom Ge-
heimnisträger selbst verbreitet werden, als Straftat oder
nicht? Darauf kann es nach Überzeugung der Linken nur
eine Antwort geben: die zugunsten der Pressefreiheit.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717226900

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die

Kollegin Tabea Rößner das Wort.


Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717227000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Eine Journalistin ruft einen Beamten an und bittet um In-
formationen. Der Beamte kommt ihrer Bitte nach, steckt
ihr möglicherweise eine vertrauliche Information und
begeht so einen Geheimnisverrat.

Der Informantenschutz – das ist hier schon angespro-
chen worden – soll gewährleisten, dass die Journalistin
kritisch berichten kann, ohne dass sie ihren Informanten
preisgeben muss. Sie soll nicht zum Ziel von Ermittlun-
gen werden. Ermittler dürfen nicht ihren Computer be-
schlagnahmen und ihre Arbeitsräume durchsuchen, um
herauszufinden, von wem die Information stammt. Aber
genau das ist dem Journalisten Bruno Schirra im soge-
nannten Cicero-Fall passiert. Um Informationslecks zu
finden, werden wegen des Anfangsverdachts der Bei-
hilfe oder der Anstiftung zum Geheimnisverrat immer
wieder Arbeits- und Privaträume von Journalisten durch-
sucht und Beweisstücke beschlagnahmt. Das Zeugnis-
verweigerungsrecht wird so unterlaufen. Ein solcher
Verdacht der Beteiligung an einer Straftat führt zu einer
erheblichen Einschränkung der Pressefreiheit. Schirra
konnte seiner Arbeit monatelang nicht nachgehen, weil
sein Büro quasi lahmgelegt war. Es existierte nicht mehr.
Genau das hat das Bundesverfassungsgericht kritisiert.

Man sollte glauben, dass uns die Pressefreiheit als
Grundpfeiler unserer Demokratie viel wert ist. Dennoch
befindet sich Deutschland laut Reporter ohne Grenzen
nicht unter den ersten 15 Staaten, die die Pressefreiheit
hochhalten. Das ist peinlich. Solange wir es aber zulas-
sen, dass Journalisten Strafvorwürfen ausgesetzt sind,
wenn sie investigativ recherchieren, wird sich daran
auch nichts ändern. Mit unserem Gesetzentwurf wollen
wir Grünen sichergehen, dass Journalisten so etwas nicht
mehr passieren kann. Uns ist die Pressefreiheit wichtiger
als Strafverfolgung um jeden Preis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Alle Fraktionen halten die Pressefreiheit hoch; das
haben wir heute gehört. Dennoch hat sich die Koalition
anderthalb Jahre lang über den eigenen Vorschlag ge-
stritten und am Ende alles beim Alten gelassen. Das geht
uns Grünen nicht weit genug. Unser Gesetzentwurf ist
konsequenter. Wir wollen Journalisten – zu ihnen zählen
wir übrigens auch die Blogger – wirklich stärken. Wir
wollen nicht, dass gegen sie irgendein Tatverdacht erho-
ben werden kann, weder eine Beihilfe noch eine Anstif-
tung. Wer den Geheimnisverräter sucht, darf das nicht
auf dem Rücken von Medienangehörigen tun.

Es ist doch fern jeder Realität, während der Ermittlun-
gen zu beurteilen, ob ein Journalist möglicherweise den
Wunsch, das Geheimnis zu verraten, erst hervorgerufen
hat. Dann nämlich könnte ihm nach dem Willen der
Bundesregierung weiterhin Anstiftung vorgeworfen
werden. Er würde dann einer Straftat verdächtigt, ob-
wohl er einfach nur recherchiert hat. Wir alle wissen: In
Ermittlungsverfahren muss es sehr schnell gehen, und
was sich genau abgespielt hat, wird oft erst am Ende der
Ermittlungen klar. Dann ist die Pressefreiheit aber schon
beschädigt.





Tabea Rößner


(A) (C)



(D)(B)


Auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, ist die Pressefreiheit nicht schützenswert genug.
Sie wollen ja nicht die Strafbarkeit als solche angehen,
sondern nur die Beschlagnahmemöglichkeiten. Mit
Ihren Änderungen im Strafprozessrecht schützen Sie die
Journalisten eben nicht vor Ermittlungen. Sie lassen Ein-
schränkungen der Pressefreiheit somit weiter zu.

Wir wollen außerdem, dass Beschlagnahmen und
Durchsuchungen bei Medienangehörigen nur dann mög-
lich sind, wenn der Richter dies anordnet, ausführlich
begründet und die Verhältnismäßigkeit prüft, auch in
Eilfällen. Dies darf nicht nur für Redaktionsräume gel-
ten. Es ist inzwischen üblich, frei und mobil zu arbeiten.
Der Laptop darf also auch nicht im Café oder aus dem
Auto beschlagnahmt werden, ohne dass der Richter um-
fassend prüft.

Pressefreiheit heißt für uns aber noch mehr: Wir wol-
len Zufallsfunde bei Beschlagnahmen ausschließen, die
Berichterstattung bei laufenden Strafverfahren lockern
und Medienangehörige bei strafprozessualen Maßnah-
men anderen Berufsgeheimnisträgern gleichstellen. Das
fehlt im Regierungsentwurf leider völlig.

Sie tun nichts für den Schutz von Medienangehörigen
im präventiv-polizeilichen Bereich, etwa im BKA-
Gesetz. Die SPD greift beim Schutz von Berufsgeheim-
nisträgern einzelne Berufsgruppen heraus; das ist nicht
konsequent. Wir haben hier den weitestgehenden Ge-
setzentwurf vorgelegt. Wir drehen nicht nur an einem
Schräubchen, sondern meinen es ernst, damit Deutsch-
land bald wieder zu den Top Ten in Sachen Pressefrei-
heit gehört.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717227100

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Thomas Silberhorn für die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1717227200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Freiheit der Medien ist ein hohes Gut, ein so hohes
Gut sogar, dass man etwas überhöhend von den Medien
in Deutschland als der vierten Gewalt spricht. Es ist die
originäre Aufgabe von Presse und Rundfunk, Gescheh-
nisse in Politik und Gesellschaft kritisch zu hinterfragen
sowie offene Diskussionen und öffentliche Debatten zu
ermöglichen. Schrankenlos ist die Freiheit der Medien
aber nicht. Die Vertreter von Presse und Rundfunk müs-
sen die allgemeinen Gesetze achten.

Es ist die Aufgabe sowohl des Gesetzgebers als auch
der Rechtspflege, diese grundgesetzlich verankerte Frei-
heit der Presse in einen angemessenen Ausgleich zu an-
deren Rechtspositionen zu bringen und sie zu gewähr-
leisten. Im vorliegenden Gesetzentwurf geht es um eine
Abwägung zwischen dem Grundrecht der Pressefreiheit
einerseits und dem Interesse an einer funktionstüchtigen
Strafrechtspflege und einer effektiven Strafverfolgung

andererseits. Fest steht, dass Ermittlungsmaßnahmen ge-
gen Presseangehörige nicht missbraucht werden dürfen,
um die Identität von Informanten offenzulegen. Das hat
das Bundesverfassungsgericht mit seiner Cicero-Ent-
scheidung aus dem Jahr 2007 unmissverständlich bekräf-
tigt. Zu demselben Zweck befreien wir nun einen Teilbe-
reich der Medientätigkeit von der Strafandrohung.
Indem wir die Rechtswidrigkeit von Beihilfehandlungen
ausschließen, die Medienangehörige bei der Entgegen-
nahme, der Auswertung oder der Veröffentlichung von
Geheimnissen begehen, machen wir deutlich: Diese Bei-
hilfehandlungen unterliegen von vornherein keinem
strafrechtlichen Unwerturteil mehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dadurch, dass künftig Beschlagnahmen nur noch statt-
haft sind, wenn die Schwelle des dringenden Verdachts
einer Tatbeteiligung überschritten wird, sollen Ein-
schüchterungen durch Beschlagnahmen im Presse-
bereich vermieden werden und soll dafür gesorgt wer-
den, dass der beabsichtigte Schutz der Presse nicht ins
Leere läuft. Das ist die Zielsetzung unseres Gesetzes.


(Beifall des Abg. Dr. Max Stadler [FDP])


Ich will nicht ganz verhehlen, dass wir uns in der
Union die selbstkritische Frage gestellt haben, inwieweit
gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Hier ist zu-
nächst festzuhalten, dass der Geheimnisschutz nach
§ 353 b StGB schon in seiner geltenden Fassung in der
Rechtspraxis sehr restriktiv angewandt wird. Wir sollten
auch die Kontrollmechanismen unserer Rechtsprechung
nicht unterschätzen. Das hat etwa das Gros der Sachver-
ständigen im Rahmen der öffentlichen Anhörung An-
fang vergangenen Jahres unterstrichen. In den fraglichen
Fallkonstellationen werden Versäumnisse und Fehler der
Eingangsinstanzen spätestens in der Berufungs- oder Be-
schwerdeinstanz repariert.

Hinzuweisen ist auch darauf, dass die bloße Entge-
gennahme oder Auswertung eines Geheimnisses nach
der Praxis der deutschen Staatsanwaltschaften nicht
strafbar ist. Mit der Cicero-Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts sind die Strafverfolgungsbehörden
und Gerichte an die Vorgaben des Bundesverfassungsge-
richts gebunden. Seit dieser Entscheidung sind mir
jedenfalls keine weiteren Eingriffsmaßnahmen wegen
Beihilfe zum Geheimnisverrat bekannt geworden. Den-
noch: Durch die ausdrückliche Normierung in Straf-
gesetzbuch und Strafprozessordnung bringen wir als Ge-
setzgeber noch einmal zum Ausdruck, dass wir eine un-
berechtigte Beschränkung der Pressefreiheit nicht
tolerieren. Wir schließen damit Fehlinterpretationen von
vornherein aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten
uns allerdings davor hüten, über das Ziel hinauszuschie-
ßen, wie es der Gesetzentwurf der Grünen tut. Der Vor-
schlag nämlich, nicht nur die Beihilfe, sondern auch die
Anstiftung zur Verletzung des Dienstgeheimnisses nach
§ 353 b Strafgesetzbuch für Medienvertreter straflos zu
stellen, würde die Balance der in Rede stehenden
Rechtsgüter, die ich vorhin angesprochen habe, zerstö-





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)


ren. Denn die Anstiftung besitzt in der Regel einen höhe-
ren Unwertgehalt als die Beihilfe.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie wollen Sie denn das unterscheiden?)


Durch die Anstiftung wird beim Täter der Tatentschluss
erst hervorgerufen. Deshalb wird nicht ohne Grund der
Anstifter grundsätzlich wie ein Täter bestraft, während
für den Gehilfen die Möglichkeit der Strafmilderung
vorgesehen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Eine Straflosigkeit in den Fällen, in denen der Medien-
angehörige letztlich den Amtsträger erst zu seinem straf-
baren Handeln anstiftet, zum Zwecke der Gewährleis-
tung der Presse- und Rundfunkfreiheit ist weder geboten
noch überhaupt plausibel begründbar. Deswegen lehnen
wir diesen Vorschlag ab.

Inwieweit in der Abwägung zwischen Pressefreiheit
und Geheimschutz eine Straffreistellung für Beihilfe-
handlungen angezeigt ist, konnte bislang im Einzelfall
entschieden werden, im Rahmen eines staatsanwalt-
schaftlichen Ermittlungsverfahrens oder eines gericht-
lichen Strafverfahrens.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717227300

Kollege Silberhorn, gestatten Sie eine Frage oder Be-

merkung der Kollegin Rößner?


Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1717227400

Ich habe noch zwei Sätze. Dann nehme ich gerne eine

Frage entgegen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717227500

Dann sind die 15 Sekunden um. Sie müssen jetzt eine

Abwägung treffen.


Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1717227600

Dann würde ich gerne im Zusammenhang fortfahren.

Wenn wir jetzt eine pauschale Straffreistellung ge-
setzlich festlegen, dann sollten wir nicht ganz vernach-
lässigen, dass ein Mehr an Presse- und Rundfunkfreiheit
notwendigerweise ein Weniger an Geheimschutz bedeu-
tet. Nun kann man sagen, dass staatliche Stellen das bis
zu einem gewissen Grade hinnehmen müssen. Zu beach-
ten bleibt aber auch dann, dass hinter den durch einen
Amtsträger zu wahrenden Geheimnissen auch Geheim-
schutzinteressen Privater stehen können, etwa Persön-
lichkeitsrechte oder Betriebsgeheimnisse, die weiterhin
des Schutzes bedürfen.

Sie sehen, wir führen einen offenen Diskurs, so wie
wir auch die Medienfreiheit in aller Offenheit brauchen.
Dazu soll unser Gesetz zur Stärkung der Pressefreiheit
im Straf- und Strafprozessrecht einen Beitrag leisten.
Deswegen bitte ich um Zustimmung für diesen Gesetz-
entwurf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717227700

Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Rößner

das Wort.


Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717227800

Ich möchte nur kurz feststellen, dass der Unterschied

zwischen der normalen Recherche eines Journalisten,
wenn er einen Beamten nach Informationen fragt, und
der Anstiftung zum Geheimnisverrat nicht klar ist. Ich
würde mir hier vonseiten der Bundesregierung eine
Klarstellung wünschen.

Danke.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717227900

Möchten Sie erwidern, Herr Silberhorn? – Das sieht

nicht so aus. Dann schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-

desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozess-
recht. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9199,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/3355 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 11 a. Abstim-
mung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen zum Schutz von Journalisten und der Presse-
freiheit im Straf- und Strafprozessrecht. Der Rechtsaus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/9199, den Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3989
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9144 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Swen Schulz

(Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann,

Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Für einen Hochschulpakt Plus – Zusätzliche
Studienplätze schaffen und Masterangebot
ausbauen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Hochschulpakt 2020: Für mehr Studien-
plätze und gute Arbeitsbedingungen – Hoch-
schulen sozial öffnen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Den Hochschulpakt weiterentwickeln: Mehr
Studienplätze, bessere Studienbedingungen
und höhere Lehrqualität schaffen

– Drucksachen 17/7340, 17/7341, 17/6918,
17/9141 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Swen Schulz (Spandau)

Dr. Martin Neumann (Lausitz)

Nicole Gohlke
Kai Gehring

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Krista Sager, Priska Hinz (Herborn), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Gute Lehre an allen Hochschulen garantie-
ren – Eine dritte Säule im Hochschulpakt
verankern und einen Wettbewerb für he-
rausragende Lehre auflegen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Qualitätsoffensive für die Lehre starten –
Einheit von Forschung und Lehre sichern

– Drucksachen 17/4588, 17/1737, 17/9142 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Swen Schulz (Spandau)

Dr. Martin Neumann (Lausitz)

Nicole Gohlke
Kai Gehring

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Monika
Grütters, Florian Hahn, Swen Schulz, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Dr. Peter Röhlinger, Nicole Gohlke und Kai
Gehring.1)

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung auf Drucksache 17/9141. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/7340 mit dem Titel „Für einen Hochschulpakt
Plus – Zusätzliche Studienplätze schaffen und Masteran-
gebot ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/7341 mit dem Titel „Hochschulpakt 2020: Für mehr
Studienplätze und gute Arbeitsbedingungen – Hoch-
schulen sozial öffnen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/6918 mit dem Titel „Den Hochschulpakt weiterent-
wickeln: Mehr Studienplätze, bessere Studienbedingun-
gen und höhere Lehrqualität schaffen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 12 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung auf Drucksache 17/9142. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/4588 mit dem Titel „Gute
Lehre an allen Hochschulen garantieren – Eine dritte
Säule im Hochschulpakt verankern und einen Wettbe-
werb für herausragende Lehre auflegen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.

Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/1737 mit dem Titel „Qualitätsoffensive für die Lehre
starten – Einheit von Forschung und Lehre sichern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.


(Abg. Iris Gleicke [SPD] begibt sich zum Präsidium)


Zur Erklärung für diejenigen, die uns hier zuschauen
und sich wahrscheinlich fragen: Was tun die Parlamenta-
rierinnen und Parlamentarier dort unten?


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Natürlich die Gesetze machen!)


Wir sind jetzt in einem Marathon von Abstimmungen
über Beschlussempfehlungen und Überweisungen, da-
mit wir ab morgen in den Ausschüssen weiterarbeiten
können. Da sich das Ganze noch ein Weilchen hinziehen
wird, haben wir gerade die Verabredung getroffen, dass1) Anlage 6





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


wir bei den Punkten, bei denen wir die Reden zu Proto-
koll nehmen, darauf verzichten, die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen zu verlesen. Das ist aber dann im
Protokoll nachlesbar. – Das akzeptieren Sie offensicht-
lich, meine Damen und Herren Abgeordneten.

Ähnliches gilt bei der Feststellung der Abstimmungs-
ergebnisse. Ich stelle nur fest, welche Beschlüsse ange-
nommen wurden und welche nicht. Alles andere, denke
ich, lässt sich dem Kontext entnehmen.

Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu der Siebten Ände-
rung des Übereinkommens über den Inter-
nationalen Währungsfonds (IWF)


– Drucksache 17/8839 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/9083 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Manfred Zöllmer

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9083 den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/8839 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
ben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist bei einer Enthaltung einstimmig ange-
nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Demokratie durch Transparenz stärken – De-
klassifizierung von Verschlusssachen gesetz-
lich regeln

– Drucksache 17/6128 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Ulla Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE

Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfahrens-
akten des Bundesverfassungsgerichtes stärken

– Drucksache 17/4037 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien

Wir haben interfraktionell vereinbart, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/6128 und 17/4037 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu den Änderungen vom
30. September 2011 des Übereinkommens vom
29. Mai 1990 zur Errichtung der Europäi-
schen Bank für Wiederaufbau und Entwick-
lung

– Drucksache 17/8840 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/9176 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Dr. Gerhard Schick

Es ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu geben.3)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9176, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/8840 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Kai Gehring, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Das Bildungs- und Teilhabepaket – Leistungen
für Kinder und Jugendliche unbürokratisch,
zielgenau und bedarfsgerecht erbringen

– Drucksachen 17/8149, 17/8831 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Zimmermann

Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.4)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/8831, den Antrag der Frak-

1) Anlage 7

2) Anlage 8
3) Anlage 9
4) Anlage 10





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8149
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. Novem-
ber 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Zentralrat der Juden in
Deutschland – Körperschaft des öffentlichen
Rechts – zur Änderung des Vertrages vom
27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Zentralrat der Juden in
Deutschland – Körperschaft des öffentlichen
Rechts – zuletzt geändert durch den Vertrag
vom 3. März 2008

– Drucksache 17/8842 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/9081 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Gabriele Fograscher
Dr. Stefan Ruppert
Petra Pau
Wolfgang Wieland

Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/9082 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Herrmann
Petra Merkel (Berlin)

Florian Toncar
Roland Claus
Katja Dörner

Wir nehmen die Reden zu Protokoll1) und kommen
zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9081, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-
che 17/8842 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist einstimmig angenommen.


(Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/ CSU])


– Auch ich finde, Kollege Grund, wir haben Grund, uns
darüber zu freuen, dass wir diesen Gesetzentwurf ein-
stimmig angenommen haben. Außerdem hatte ich so Ge-
legenheit, einmal Luft zu holen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut
Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen-
Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Wasser und Ernährung sichern

– Drucksache 17/9153 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss

Wir nehmen die Reden zu Protokoll.


Helmut Heiderich (CDU):
Rede ID: ID1717228000

Wasser ist Leben. Der menschliche Körper besteht zu

über 70 Prozent aus Wasser. Damit ist der Mensch ohne
Wasser nicht lebensfähig. Ein Mangel an Wasser führt
schnell dazu, dass die Funktionen des Körpers, die auf
Wasser angewiesen sind, eingeschränkt werden. Ein di-
rekter und problemloser Zugang zu Wasser ist für jeden
Menschen auf der Welt mehr als notwendig. Während
hierzulande eine problemloser Zugang zu sauberem
Wasser gewährleistet ist, leiden insbesondere Menschen
in ärmeren Gebieten der Erde unter einem unzureichen-
den Zugang zu Wasser. Das Umweltinstitut WWF hat
darauf aufmerksam gemacht, dass weltweit rund
50 bewaffnete Konflikte existieren, bei denen der Was-
sermangel eine Rolle spielt oder gespielt hat. Selbst
wenn der Zugang gesichert ist, heißt das nicht, dass das
Wasser auch für den Menschen und seinen täglichen Be-
darf brauchbar ist. In einigen Ländern erkranken die
Menschen, weil Trinkwasser verseucht ist. Weltweit
muss laut Angaben von WHO und UNIFEC knapp 1 Mil-
liarde Menschen verunreinigtes Wasser trinken.
Aufgrund dieser Erkenntnis haben sich die Entwick-
lungsländer und die Regierungen der Geberländer im
Rahmen der im Jahr 2000 verabschiedeten Millen-
niumsentwicklungsziele unter anderem dazu verpflich-
tet, den Anteil der Menschen ohne nachhaltigen Zugang
zu sauberem Trinkwasser und sanitärer Versorgung bis
2015 auf die Hälfte zu reduzieren.

Unlängst wurde festgestellt, dass dieses Entwick-
lungsziel, den Anteil der Menschen ohne dauerhaft gesi-
cherten Zugang zu hygienisch einwandfreiem Trinkwas-
ser von 65 Prozent auf 32 Prozent zu reduzieren,
inzwischen erreicht wurde. Einen wichtigen Anteil an
diesem Ergebnis hat die bilaterale Entwicklungszusam-
menarbeit, für die der Wassersektor ein traditioneller
Schwerpunkt ist. Das bisher Erreichte ist zwar überaus
erfreulich, reicht jedoch nicht aus, um zukünftigen Pro-
blemfeldern zu begegnen.

Neben dem Trinkwasser müssen wir berücksichtigen,
dass global gesehen 70 Prozent des Wassers für die Er-1) Anlage 11





Helmut Heiderich


(A) (C)



(D)(B)


zeugung von Nahrungsmitteln eingesetzt wird. Damit
wird deutlich, dass die zunehmende Verknappung von
Wasser ein zentrales Thema für die Welternährung ist.
Der sichere Zugang zu Wasser wird zu einer Schlüssel-
frage der Welternährung, betonte gerade auch der Deut-
sche Bauernverband zum Weltwassertag. Nahrung kann
ohne Wasser nicht erzeugt werden. Mit steigender Be-
völkerungszahl steigt auch die Nachfrage nach Wasser
und Nahrungsmitteln. Setzt sich der Nachfrageanstieg
unverändert fort, wird der weltweite Wasserbedarf im
Jahr 2030 das Angebot um rund 40 Prozent übersteigen.
Somit ist es mehr als geboten, dass Thema Wasser und
Nahrungssicherheit verstärkt in den internationalen Fo-
kus zu nehmen. In diesem Jahr hat folgerichtig die Er-
nährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Verein-
ten Nationen den Weltwassertag unter dem Motto
„Wasser und Nahrungssicherheit“ durchgeführt. Unter
diesem Motto wurde darauf aufmerksam gemacht, dass
die internationale Gemeinschaft eine nachhaltige Was-
sernutzung gewährleisten muss, um genug Nahrung für
die rasch zunehmende Weltbevölkerung zu erwirtschaf-
ten. „Jeder von uns trinkt zwei bis vier Liter Wasser täg-
lich“, schreibt die Welternährungsorganisation FAO.
„Aber es sind 2000 bis 5000 Liter Wasser nötig, um die
tägliche Nahrung für einen Menschen zu produzieren.“
Derzeit leben etwa 7 Milliarden Menschen auf der Erde;
bis 2050 könnten es nach FAO-Angaben 9 Milliarden
sein. Um diese satt zu bekommen, müsse die Menschheit
lernen, besser mit dem Wasser umzugehen. Dazu zähle,
mehr Nahrung mit weniger Wasser zu produzieren und
weniger Lebensmittel wegzuwerfen. „30 Prozent der
weltweit produzierten Lebensmittel werden nie geges-
sen, und das dafür benötigte Wasser ist definitiv verlo-
ren“, schreibt dazu die Organisation UN-Water.

Die Kommission der Europäischen Union hat die
Frage nach dem zukünftigen Umgang mit der zuneh-
menden Nachfrage nach Wasser und einer ressourcen-
schonenden Nutzung auf die Agenda der in diesem Jahr
stattfindenden UN-Konferenz für nachhaltige Entwick-
lung in Rio de Janeiro – kurz Rio plus 20 – eingebracht.
Mit unserem jetzt vorgelegten Antrag wollen wir diese
Initiative unterstützen, damit sich die internationale Ge-
meinschaft im Rahmen des Klimawandels noch stärker
für einen besseren und nachhaltigeren Umgang mit der
Ressource Wasser einsetzt.

Die internationale Klimapolitik hat sich bereits zur
Begrenzung der globalen Erderwärmung auf weniger
als zwei Grad gegenüber dem Niveau vor Beginn der In-
dustrialisierung verständigt; denn es ist klar, dass durch
die Erderwärmung Wasser in vielen Gegenden knapper
wird. Deshalb muss ein entsprechendes Bewusstsein für
den sorgsamen Umgang mit Wasser geschaffen werden.
Klimapolitische Entscheidungen müssen auch im Hin-
blick auf die globalen Wasservorkommen getroffen wer-
den. Es muss allgemein bewusst sein, dass Entscheidun-
gen auf dem einen Gebiet auch auf andere Bereiche
Auswirkungen haben.

Die Förderung der Ernährungssicherheit bedarf ei-
ner verbesserten, effizienteren Wassernutzung. Ein Drit-
tel der Erdbevölkerung lebt bereits jetzt in Wasserman-
gelgebieten. Die Probleme des Bevölkerungswachstums

können mithilfe einer verbesserten Agrartechnik und ei-
ner sinnvolleren Nutzung des Ökosystems abgefedert
werden. In vielen Teilen der Welt geht Wasser auf dem
Weg zum Feld in maroden Kanälen verloren – um nur
ein Beispiel zu nennen. Weiterhin versickert oder ver-
dunstet oft bis zu dreiVierteln des Wassers aufgrund fal-
scher Bewässerung. Jedoch gibt es Bewässerungssys-
teme, die dies verhindern können. Wir müssen
gemeinsam projektieren und investieren, damit entspre-
chend angepasste Bewässerungssysteme auch in Ent-
wicklungsländern genutzt werden. Zudem vergrößern
sich die Gebiete, in denen mehr Wasser entnommen
wird, als durch Zufluss wieder angefüllt wird. Der Aral-
See in Zentralasien ist zum Beispiel in den vergangenen
Jahren so stark geschrumpft, dass heute die früheren
Häfen 100 Kilometer vom Ufer entfernt liegen.

Eine wichtige Quelle für die Bewässerung ist auch
das vorhandene Abwasser. Für etwa 10 Prozent der be-
wässerten Gesamtfläche in Entwicklungsländern wird
diese Ressource genutzt. Zwar bietet dies von Wasser-
mangel betroffenen Bauern unmittelbare Vorteile. Den-
noch muss der Umgang mit Abwasser mit Bedacht erfol-
gen. Das verwendete Abwasser darf nicht unbehandelt
auf die Felder gegossen werden, sondern muss entspre-
chend technisch aufbereitet werden, damit es nicht zu ei-
ner Belastung der Böden kommt.

In einigen Regionen mit intensiv betriebener Land-
wirtschaft seien die Grenzen der Wasserversorgung be-
reits erreicht oder überschritten, heißt es in einem
Bericht des UN-Umweltprogramms und des Internatio-
nalen Instituts für Wassermanagement. Deshalb müssen
Möglichkeiten zum schonenden Umgang mit Wasser ent-
wickelt und vor Ort umgesetzt werden. Richtige Anreize
können dazu beitragen, umweltschonender zu wirtschaf-
ten. Nur mit internationalem Handeln kann dafür ein
Bewusstsein geschaffen werden.

Die jährlich stattfindende World Water Week in Stock-
holm widmet sich in diesem Jahr im August ebenfalls
dem Thema Wasser und Ernährungssicherheit. Es ist
also erkennbar, dass dieses Thema verstärkt in einem in-
ternationalen Kontext diskutiert wird.

In diesem Umfeld ist es richtig und wichtig, dass der
Bundestag selbst aktiv wird und die Neuausrichtung der
internationalen Politik durch eigene Aktivitäten unter-
stützt. Mit unserem Antrag wollen wir dazu beitragen,
dass sich die Bundesregierung noch stärker mit weiteren
Schritten für die Wasser- und Ernährungssicherheit
einsetzt. Das Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung engagiert sich seit
Jahren traditionell stark für eine Entwicklungszusam-
menarbeit im Wassersektor. Wasserbezogene Entwick-
lungsvorhaben waren in den vergangenen Jahren der
zweitgrößte Investitionsbereich der gesamten deutschen
Entwicklungszusammenarbeit. Deutsches Know-how
und deutsche Expertise im Wassersektor sind weltweit
führend. So hat beispielsweise die entwicklungspoliti-
sche Zusammenarbeit zwischen Jordanien und Deutsch-
land vor allem im Wassersektor den Schwerpunkt. Ent-
wicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft können
daher die Entwicklung eines effizienten Wassermanage-

Zu Protokoll gegebene Reden





Helmut Heiderich


(A) (C)



(D)(B)


ments in Jordanien entscheidend voranbringen. Wir be-
grüßen dieses Engagement des BMZ und fordern, solche
Projekte weiter auszudehnen.

Dabei sind auch alle Kooperationen hilfreich, bei de-
nen die Verbindung zwischen modernen Technologien
mit der Privatwirtschaft und entwicklungspolitischer
Arbeit synergetische Fortschritte bringen. Die Deutsche
Klimatechnologieinitiative – um ein Beispiel herauszu-
greifen – arbeitet mit dem Ziel, Rahmenbedingungen für
den Einsatz von Technologien für den Klimaschutz zu
schaffen. Es werden innovative Technologien deutscher
Unternehmen mittels bilateraler Technologiepartner-
schaften in Länder vermittelt, die diese benötigen. Dies
zeigt gelungene Beispiele, die auch auf dem Sektor der
Bewässerungssysteme in Zukunft verstärkt genutzt wer-
den sollen. Die Deutsche Klimatechnologieinitiative ist
dabei eine enge Kooperation von BMU und BMZ. Inso-
weit wird deutlich, dass eine gute Kooperation mehrerer
Ministerien erfolgreich in der Lage ist, Technologien für
Entwicklungsländer nutzbar zu machen. Für die zukünf-
tige Ernährungssicherung durch besseres Wasserma-
nagement könnte deshalb eine weitergehende Koopera-
tion der projektaktiven Ministerien wie BMU, BMZ und
BMELV noch größere Erfolge erzielen. Ministerien und
Behörden sollten den engen Zusammenhang von Klima,
Energie, Wasser und Nahrung stärker in den Blick neh-
men und nicht mehr nur als Einzelelemente betrachten.
Zu diesem Ergebnis kommt auch die Nexus-Konferenz,
die unter Federführung der Bundesregierung vergange-
nen November in Bonn stattfand.

Deutschland ist zwar von einer Verknappung der
Wasservorräte nicht direkt betroffen. Dennoch wird je-
doch häufig übersehen, dass viele Industriestaaten ihren
steigenden Bedarf mit Wasser aus ärmeren Ländern de-
cken. Dies wird besonders deutlich bei der Berechnung
des Wasserfußabdrucks eines jeden Landes. Mit dem Im-
port von Lebensmitteln aus anderen Ländern wird
zwangsläufig auch das für die Produktion genutzte Was-
ser importiert. Zum Beispiel werden in Südspanien in
großem Umfang Erdbeeren für den Markt in Deutsch-
land produziert, obwohl Südspanien schon lange unter
Wassermangel leidet. Seit Jahren sinkt der Grundwas-
serspiegel, und immer öfter trocknen die Zuflüsse aus.
Für diese Situation sind wir durch unser Konsumverhal-
ten mitverantwortlich. Industriestaaten und damit
Deutschland sind deshalb auch indirekt zum Handeln
verpflichtet, um Wasserknappheit in anderen Regionen
der Welt zu bekämpfen.


Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1717228100

Die ständige Verfügbarkeit von sauberem Trinkwas-

ser ist für uns in Deutschland eine absolute Selbstver-
ständlichkeit. Jeder von uns verbraucht im Durchschnitt
127 Liter pro Tag. Davon nutzen wir nur den kleinsten
Teil, nämlich etwa 5 Liter, zum Trinken und Kochen –
also als Lebensmittel. Der weitaus größte Teil wird zum
Duschen, Wäschewaschen, für die Toilettenspülung oder
auch zum Blumengießen im Garten verwendet. Es ist so
einfach: Wir drehen den Wasserhahn auf, und das Was-
ser ist da.

Für rund 900 Millionen Menschen auf der Welt aber
ist sauberes Wasser alles andere als Normalität. Für sie
ist der tägliche Kampf ums Überleben auch ein täglicher
Kampf um Trinkwasser. Noch weit größer ist die Zahl
derer, die keinen Zugang zu sanitärer Grundversorgung
haben.

Die Folgen sind dramatisch: dreckiges Trinkwasser
und mangelnde sanitäre Ver- und Entsorgung verursa-
chen Krankheiten bis hin zu Seuchen. Und es ist wie so
oft: Es sind die Ärmsten der Armen, die unter der unge-
rechten Verteilung der wertvollen Ressource Wasser lei-
den. Während sich der weltweite Zugang zu sauberem
Wasser grundsätzlich in den letzten Jahren stark verbes-
sert hat, liegt die Versorgung in vielen Ländern Afrikas,
insbesondere in den ländlichen Gebieten südlich der Sa-
hara, noch immer erst bei 60 Prozent.

Nun haben wir uns sicher alle gefreut, als kürzlich
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon das siebte der Mil-
lenniumsentwicklungsziele hinsichtlich der Zielvorgabe,
bis 2015 den Anteil der Menschen um die Hälfte zu sen-
ken, die keinen Zugang zu einwandfreiem Trinkwasser
und grundlegenden sanitären Einrichtungen haben,
schon jetzt für erfüllt erklärt hat. In der Tat hat sich die
Versorgungslage insgesamt verbessert; aber die Lage in
Afrika ist – obwohl auch hier Fortschritte erzielt werden
konnten – nach wie vor besorgniserregend. Keinesfalls
dürfen wir uns also auf dem bislang Erreichten ausru-
hen, sondern müssen weiter für jeden Tropfen sauberen
Wassers kämpfen. Das Menschenrecht auf Trinkwasser
wurde von der Generalversammlung der Vereinten Na-
tion 2010 offiziell anerkannt. Es darf kein Lippenbe-
kenntnis bleiben.

So gesehen ist es sicherlich zu begrüßen, dass sich die
Koalition des Problems in einem Antrag angenommen
hat. Leider muss man sagen: Problem erkannt, aber mit
den Forderungen, die die Koalition stellt, nicht gebannt.
Der Problemaufriss ist in weiten Teilen richtig, die
Schlussfolgerungen sind dürftig und bleiben leider zu oft
unkonkret. Wenn es etwa in Punkt 15 heißt, Regelwerke
im Wassersektor sollten weiterentwickelt werden, dann
wäre es schon interessant, zu wissen, was damit konkret
gemeint ist. Etwas mehr Mut im Forderungsteil hätte
man sich schon gewünscht, zumal Deutschland im Was-
sersektor einen bis dato guten Ruf zu verteidigen hat.

Seit vielen Jahren schon ist der Wassersektor ein
Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenar-
beit. Das deutsche Engagement reicht dabei von Infra-
strukturmaßnahmen bis hin zur Unterstützung bei der
Ressourcenverwaltung. Im Wassersektor ist das umfas-
sende integrierte Wasserressourcenmanagement schon
seit langem das Leitbild. Insofern haben wir durch jah-
relanges kontinuierliches Wirken in diesem Bereich
wohl einen nicht unerheblichen Anteil an dem, was in
unseren Partnerländern erreicht werden konnte. Es ist
zu hoffen, dass die Bundesregierung den Weg weitergeht –
und zwar nicht nur durch bi-, sondern auch durch multi-
laterale Zusammenarbeit.

Wichtig ist, dass wir Wasser als Gut der öffentlichen
Daseinsvorsorge begreifen. Wasser ist Leben, und es ist
erste Pflicht des Staates, seinen Bürgern ein menschen-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Sascha Raabe


(A) (C)



(D)(B)


würdiges Leben zu ermöglichen. Für das Lebensmittel
Wasser heißt das, dass es in erster Linie bezahlbar sein
muss, damit jeder die Möglichkeit hat, sich zu versor-
gen. Ob daher die Beschränkung auf private Versorger,
wie von der Koalition vorgesehen, der Königsweg ist,
muss bezweifelt werden. Knappe Ressourcen und gewinn-
orientierte Privatunternehmen auf der einen und der
Kampf der Ärmsten ums Überleben auf der anderen
Seite – das geht nicht zusammen. Mindestens ebenso
wichtig wie regulierte Tarifsysteme für private Anbieter,
wie von der Koalition vorgeschlagen, ist daher die Ein-
beziehung kommunaler Versorger und genossenschaftli-
cher Modelle.

Nicht nur an dieser Stelle bleibt der vorliegende An-
trag hinter seinen Möglichkeiten zurück. Man würde
sich insgesamt von der Koalition einen weiteren Blick
auf die Dinge wünschen. Der Zugang zu Trinkwasser ist
eben nur ein Glied in einer ganzen Kette von entwick-
lungspolitischen Maßnahmen, die zusammenwirken
müssen. So wird etwa nur sehr am Rande die Problema-
tik des Landgrabbing gestreift. Die aber lässt sich nicht
von der Frage der Wasserknappheit abtrennen. Land-
grabbing geht naturgemäß oft mit Watergrabbing einher,
wenn riesige Ländereien bewirtschaftet und dementspre-
chend auch bewässert werden. Wenn Betriebe aus dem
Ausland im großen Stil Ackerland nehmen und Wasser
beanspruchen, bleiben für die lokale Landwirtschaft oft
nur noch trockene, unbrauchbare Flächen. Hier brau-
chen wir in Zukunft strengere Regeln für die Nutzung so-
wohl von Land als auch von Wasser. Die FAO hat kürz-
lich einen Aufschlag gemacht und neue Leitlinien
formuliert. Ich empfehle der Koalition, dort einmal hi-
neinzuschauen.

Gleiches gilt übrigens auch für den Bereich der in-
dustriellen Produktion, der neben der Landwirtschaft
der größte Wasserverbraucher ist. Es ist absolut enttäu-
schend, dass im Antrag keinerlei verbindliche Regeln
für die Nutzung von Wasser durch die Industrie entwor-
fen werden. Die Koalition vertraut stattdessen auf – wie
es heißt – ein enges und vernetztes Zusammenspiel von
Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Allein auf freiwil-
lige Selbstbeschränkung zu setzen, wird aber kaum rei-
chen. Es ist naiv, das zu glauben.

Letztlich muss man festhalten: Der Antrag, den wir
heute debattieren, hat wie die meisten seiner Vorgänger
auch ein Glaubwürdigkeitsproblem. Sämtliche schwarz-
gelben Anträge, all die schönen Strategiepapiere und
Konzepte des Ministeriums, sie klingen gut – die Worte
hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Wer es im
Haushalt nicht schafft, für die nötigen Aufwüchse in der
Entwicklungszusammenarbeit zu sorgen, der kann noch
so viele Papiere schreiben, sie werden folgenlos bleiben.
Die vielleicht gut gemeinten Ansätze bleiben auf der
Strecke, wenn man nicht die Mittel hat, sie umzusetzen.
Leider werden wir auch in diesem Jahr wieder erleben,
dass die Bundesregierung nicht die erforderlichen Mittel
in den Haushalt einstellen wird, die nötig wären. Von
dem Versprechen, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttonatio-
naleinkommens für öffentliche Entwicklungszusammen-
arbeiten bereitzustellen, ist Deutschland heute weiter
entfernt denn je. Ich appelliere daher an die Kolleginnen

und Kollegen von Union und FDP: Stellen Sie die Mittel
zur Verfügung, dann können wir weiterreden. Alles an-
dere ist unglaubwürdig.

Was gute Entwicklungszusammenarbeit im Wasser-
sektor bewirken kann, konnte ich mir erst kürzlich wäh-
rend einer Reise nach Äthiopien anschauen. An unter
anderem durch die Welthungerhilfe eingerichteten Was-
serkiosken wird zu fairen Preisen sauberes Trinkwasser
an die Bevölkerung verkauft. Mussten früher die Frauen
kilometerweit laufen, um mühselig Wasser zu besorgen,
ist der Zugang nun wesentlich vereinfacht. Das bringt
eine enorme zeitliche und damit wirtschaftliche Erspar-
nis für die Familien. Hinzu kommt, dass denen, die bis-
lang in Tanklastern vorfuhren und zu völlig überteuerten
Preisen eine dreckige Brühe als Trinkwasser verkauft
haben, damit endlich das Handwerk gelegt ist.

Es sind solche Taten und nicht wohlfeile Worte, mit
denen wir dazu beitragen, dass das Millenniumsziel
„Wasser“ nicht nur statistisch erreicht ist, sondern auch
spürbar bei den Menschen ankommt.


Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP):
Rede ID: ID1717228200

So selbstverständlich, wie wir in den Industrielän-

dern den Wasserhahn zu Hause aufdrehen, so wenig
selbstverständlich ist die Versorgung mit Wasser in den
meisten Entwicklungsländern. Wenn wir uns hier im
Reichstag die Hände waschen möchten, dann brauchen
wir uns nur zweimal umzuschauen, und schon sehen wir
den nächsten Wasserhahn. Für die Menschen in den Ent-
wicklungsländern hingegen entscheidet es sich jeden
Tag neu, ob sie genügend Wasser zum Trinken, für die
Bewässerung von Pflanzen oder zum Tränken für ihre
Tiere vorfinden. Und auch hier sind – wie so oft, wenn
wir über Armut sprechen – die Frauen die am stärksten
betroffene Bevölkerungsgruppe. Die Frauen sind es, die
für die häusliche Wasservorsorge zuständig sind. Im
Durchschnitt legen Frauen und Mädchen täglich sechs
Kilometer Fußweg zurück, um 20 Liter Wasser nach
Hause zu tragen. Je problematischer die Wassersitua-
tion ist, desto weiter müssen sie gehen, und desto weni-
ger Zeit bleibt den Mädchen für den Schulbesuch oder
den Frauen für Erwerbsarbeit, die sie unabhängig ma-
chen könnte.

Der diesjährige Weltwassertag, der jedes Jahr am
22. März von den Vereinten Nationen ausgerufen wird,
stellt den Zusammenhang zwischen Wasser und Nah-
rungssicherheit in den Vordergrund, genauso wie der
ihnen vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen. Bei
einer steigenden Weltbevölkerung muss die Wasserver-
sorgung immer im Zusammenhang mit der Nahrungs-
sicherheit betrachtet werden. Besonders die Produktion
von Nahrungsmitteln verknappt die vorhandenen Was-
servorräte. Für die Produktion von einem Kilogramm
Weizen werden 1 500 Liter benötigt, für die Produktion
von einem Kilogramm Rindfleisch sogar 15 000 Liter
Wasser.

Es wird in Zukunft darum gehen, dass wir in der west-
lichen Welt mit unseren Ressourcen und mit denen in den
Entwicklungsländern schonender umgehen. Die Kampa-
gne der Bundesministerin Aigner „Zu gut für die Tonne“

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Christiane Ratjen-Damerau


(A) (C)



(D)(B)


geht da in die richtige Richtung. Wir können es uns nicht
leisten, Lebensmittel wegzuwerfen und zu vernichten.
Und es wird in Zukunft immer mehr auf die technologi-
sche Entwicklung in diesem Bereich ankommen. Speziell
in den Entwicklungsländern lässt sich hier mit ver-
gleichsweise wenigen Mitteln viel für den effizienteren
Wassereinsatz tun.

Ferner benötigt insbesondere die Industrie einen er-
heblichen Anteil der Wasserressourcen. Hier bedarf es
einer engen und vernetzten Zusammenarbeit zwischen
Politik, Ökonomie und Gesellschaft. Wir brauchen ein
nachhaltiges Zusammenspiel von Landwirtschaft und
Industrie um die Ressource Wasser aufzubauen.

Das siebte Milleniumsentwicklungsziel, den Anteil
der Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Trink-
wasser und sanitäre Grundversorgung haben, zwischen
1990 und 2015 um die Hälfte zu senken, haben wir vor
einigen Wochen erreicht. Das ist ein großer Erfolg.
Doch noch immer haben fast 900 Millionen Menschen
auf der Welt keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser
und 2,6 Milliarden Menschen keinen Zugang zu adäqua-
ten sanitären Einrichtungen. Sauberes Trinkwasser ist
eine Grundvoraussetzung für ein gesundes Leben. Viele,
auch tödliche, Krankheiten ließen sich durch eine sau-
bere Trinkwasserversorgung von Vorneherein verhin-
dern. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden
im Jahr 2025 zwei Drittel der Weltbevölkerung von Was-
serknappheit betroffen sein.

Gleichzeitig gibt es berechtigte Warnungen der Welt-
gemeinschaft, dass der Streit um den Zugang zu Wasser
und um die Nutzungsrechte von Wasser eine immer grö-
ßere Bedrohung für den Frieden auf der Welt sein wird.
Dürren, Überschwemmungen und Mangel an Trinkwas-
ser können demnach in den kommenden Jahrzehnten zu
Instabilität führen und Konflikte schüren. So könnten
stromaufwärts gelegene Nationen die Wasserverteilung
als Druckmittel gegen ihre stromabwärts gelegenen
Nachbarn einsetzen.

Daher fordern wir, dass die weltweite Wasserver-
sorgung weiter in den Fokus der internationalen Ge-
meinschaft gerückt wird, Krisenpläne bei Dürren oder
Überschwemmungen weiter integriert werden, die De-
sertifikationen zurückgedrängt werden, die Forschung
in Technik und Pflanzen vorangetrieben wird, der Tech-
nologieaustausch verstärkt wird, noch mehr Unterstüt-
zung bei Bewässerungs- und Kanalisationssystemen
geleistet wird und die Stärkung von Wasserversorgungs-
systemen in den Entwicklungsländern weiter vorgenom-
men wird. Wasser ist die Quelle allen Lebens. Der
Mensch kann fast 30 Tage ohne Nahrung überleben,
aber nur 3 Tage ohne Wasser.

Unser Antrag zeigt einen Weg auf, wie wir in Zukunft
das Recht auf den Zugang zu sauberem Wasser weltweit
umsetzen können. Ich bitte Sie daher um die Unterstüt-
zung unseres Antrags.


Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717228300

Ich möchte eines klar feststellen zu Beginn meiner

Rede: Für uns, die Linke, ist das Menschenrecht auf sau-

beres Trinkwasser und Sanitärversorgung nicht nur eine
Floskel. Wir müssen es auch weltweit umsetzen. Deshalb
muss die Wasserversorgung überall auf der Welt als öf-
fentliche Aufgabe, als Teil der Daseinsvorsorge, begrif-
fen werden. Eine ausreichende Trinkwasserversorgung
ist für jeden Menschen so existenziell, dass nur die Staa-
ten selbst sie gewährleisten dürfen. Private Konzerne
sind aufgrund ihres Profitstrebens völlig ungeeignete
Akteure auf diesem Gebiet. Das gilt für Berlin ebenso
wie für Chochabamba in Bolivien. Denn private Kon-
zerne gewährleisten nicht, dass arme Teile der Bevölke-
rung an Wasser kommen; sie verteuern die Preise, um
Gewinne zu machen, und hängen damit die Ärmsten ab.

Der vorliegende Antrag der Koalition weist richtiger-
weise sehr ausführlich auf die Probleme eines einge-
schränkten Zugangs zu Wasser und die daraus resultie-
renden negativen Folgen für die betroffenen Menschen
hin. Als Lösungsvorschläge bietet er technische Maß-
nahmen wie effizienteres Wassereinzugsgebietsmanage-
ment oder moderne Verteilungsnetze. Doch für Regio-
nen, in denen heute schon beständig Wassermangel
herrscht, werden diese Vorschläge keine Verbesserun-
gen bringen, zumal sie im Süden nicht finanzierbar sind.
„Wasser sparen“ ist hier der einzig erfolgversprechende
Weg. Und eben dies blendet der vorliegende Antrag aus.
Auch in wasserarmen Regionen ist es häufig nicht die lo-
kale Fehlnutzung, die zu Wassermangel führt, sondern
der Anbau von Agrarrohstoffen für den Konsum in den
Industrieländern, oder auch von Rosen oder wasser-
intensiven Exportpflanzen wie Kaffee oder Baumwolle.
Dass dabei auch zumeist von kleinbäuerlicher Landwirt-
schaft auf Industrielandwirtschaft umgestellt wird, stei-
gert die Wasserverschwendung zusätzlich. In ganzen
Landstrichen in Afrika, Asien und Lateinamerika wird
mittlerweile etwa Palmöl zur Biokraftstoffherstellung
angebaut, Tendenz steigend. Wasserökonomisch bedeu-
ten diese Projekte den Super-GAU für ganze Regionen.
Sie fördern Landraub und damit einhergehend Wasser-
raub. Kein Wort dazu in Ihrem Antrag.

Der Fortschritt wird’s schon richten, wir hier können
auf jeden Fall so weitermachen wie bisher so, lässt sich
die Haltung der Koalition zusammenfassen. Denn wie
beim Thema Klimawandel wollen Sie eines nicht wahr-
haben: Es ist primär der Lebensstil in den reichen Län-
dern mit seiner Wachstums- und Konsumfixierung, der
die Grenzen des globalen Ökosystems aufzeigt. Wir hier
in Deutschland verursachen einen großen Teil der Was-
serprobleme in Entwicklungsländern. Das gilt es anzu-
erkennen, will man brauchbare Lösungsvorschläge ma-
chen.

Entgegen der Erkenntnis zahlreicher Studien sollen
gentechnisch veränderte Pflanzen die Ernährungssitua-
tion in Dürreregionen verbessern. Was für eine Fehlein-
schätzung! In der Praxis benötigen die Zauberpflanzen
von Montsanto und Konsorten oft von Jahr zu Jahr mehr
Insektenschutzmittel, die die leichten Vorteile im Ertrag
schnell überwiegen. Nur eines ist am Ende sicher: Der
Gewinn der beteiligten Konzerne steigt. Die Selbstmord-
welle unter Kleinbauern zum Beispiel in Indien ist die
tragische Folge einer solchen Politik.

Zu Protokoll gegebene Reden





Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)


Bei näherer Betrachtung erweisen sich auch ihre
Forderungen alles andere als innovativ. Das Konzept
„Integriertes Wasserressourcenmanagement“ etwa
wurde bereits 1992 von Global Water Partnership ent-
wickelt. Und die Vorschläge der 2030 Water Resources
Group in den Planungen des Entwicklungsministeriums
zukünftig zu berücksichtigen, lehnen wir selbstverständ-
lich grundsätzlich ab. Unternehmen wie The Coca-Cola
Company, The International Finance Corporation,
McKinsey & Company, Nestlé S.A., New Holland Agri-
culture und die Syngenta AG sind Mitglieder dieser
Gruppe. Sie sind naturgemäß daran interessiert, Profit
zu machen. Und ich sage es nochmal: Mit der Wasser-
versorgung sollte niemand Profit machen.

Stattdessen sollte das Entwicklungsministerium lie-
ber die Vorschläge von kleinbäuerlichen Organisationen
wie Via Campesina berücksichtigen. Auch beim Thema
Wassermanagement findet man hier die kompetentesten
Ansprechpartner. Die Zukunft der Entwicklung des länd-
lichen Raums liegt in einer kleinbäuerlichen Landwirt-
schaft, die in erster Linie die Versorgung der lokalen Be-
völkerung sicherstellt und sparsam mit Ressourcen wie
Wasser umgeht, und eben nicht in der industriellen
Landwirtschaft und Grüner Gentechnik. Doch die von
Wasserknappheit betroffenen Bevölkerungsgruppen sind
erkennbar nicht das Hauptaugenmerk der Koalition.
Denn auch die Forderung nach der Stärkung der Eigen-
tumsrechte dient letztendlich vor allem industriellen
Großprojekten und deren Investoren. In den meisten
Entwicklungsländern sind Land- und Wassernutzungs-
rechte gewohnheitsrechtlich geregelt. Eine Stärkung der
Eigentumsrechte im herkömmlichen Sinne geht deshalb
in den meisten Fällen zulasten von indigenen Gruppen,
Nomaden, Kleinbauern, Landlosen. Aber Sie nennen
diese Bevölkerungsgruppen nicht einmal beim Namen.
Das sagt viel über die Geisteshaltung in ihrem Antrag
aus.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717228400

Die Bundesregierung hat einen Antrag zum Thema

„Wasser und Ernährung sichern“ vorgelegt. Es ist gut,
dass sie dieses Thema aufnimmt. Die weltweite Wasser-
und Nahrungskrise gehört zu den größten Herausforde-
rungen der internationalen Gemeinschaft. Ich richte
mein Augenmerk hier auf die menschenrechtlichen
Aspekte.

Zunächst die gute Nachricht: Die internationale Ge-
meinschaft hat ihr für 2015 gesetztes Millenniumsent-
wicklungsziel erreicht, den Anteil der Menschen mit
mangelhaftem Zugang zu sauberem Trinkwasser zu hal-
bieren. 89 Prozent der Weltbevölkerung haben Zugang
zu sauberem Trinkwasser. 2 Milliarden mehr Menschen
können heute sauberes Wasser trinken als noch 1990.
Weniger Kinder sterben oder werden krank, und mehr
Mädchen können Zeit in ihre Ausbildung investieren, an-
statt Wasser für den häuslichen Bedarf zu organisieren.
Dagegen ist das Ziel, den Anteil der Menschen ohne Sa-
nitärversorgung zu halbieren, leider noch lange nicht
erreicht.

Der Erfolg in der Wasserversorgung blendet ein we-
nig. Da der Zugang zu Wasser vor allem in China und
Indien verbessert werden konnte, täuschen die Zahlen
leicht über weiterhin schlechte Bedingungen in Subsa-
hara-Afrika und über Rückschritte in Zentralasien oder
Ozeanien hinweg. Bei genauerem Hinsehen wird deut-
lich, dass vor allem die Reicheren von einer besseren
Versorgung profitieren. Leidtragende sind noch immer
die Ärmsten der Armen, die Landbevölkerung sowie
Frauen und Kinder. Fortschritte gehen ausgerechnet an
denjenigen vorbei, die besonders auf sie angewiesen
sind.

Quantitative Ziele sind wichtig, aber sie bergen die
Gefahr, dass sich Staaten vor allem auf die leicht zu-
gänglichen Armen, etwa in Großstädten, konzentrieren.
Auch wenn der Staat seine Versorgungsstatistik damit
insgesamt verbessert hat – die Bevölkerung in weniger
gut zugänglichen Regionen geht oft leer aus. Ein Men-
schenrechtsansatz darf die Versorgungsdiskrepanzen
zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht aus
dem Blick verlieren. Er richtet den Fokus explizit auf Be-
nachteiligte, Marginalisierte und Diskriminierte.

Im Antrag der Bundesregierung wird das Menschen-
recht auf Nahrung nicht erwähnt. Doch es macht einen
Unterschied, ob wir von Nahrungsmitteln als Gnade
oder als rechtliche Ansprüche sprechen. Nach dem Men-
schenrecht auf Nahrung sind Regierungen aufgefordert,
alle möglichen Schritte zu unternehmen, um sicherzu-
stellen, dass niemand Hunger leidet und dass für jede
und jeden Einzelnen das Recht auf angemessene Nah-
rung sobald wie möglich verwirklicht wird.

Für Kinder aus den ärmsten 20 Prozent der Haus-
halte in Entwicklungsländern ist das Risiko, vor dem Er-
reichen des fünften Lebensjahrs an Hunger zu sterben,
mehr als doppelt so hoch wie für Kinder aus den reichs-
ten 20 Prozent der Haushalte. Auch die Staatengemein-
schaft ist verpflichtet, gemeinsam und einzeln zu han-
deln, um das Recht auch außerhalb ihres eigenen
Landes zu unterstützen und umzusetzen. Bei der Vielzahl
an Organisationen und Staaten, die sich im Kampf ge-
gen Hunger engagieren, kann das Menschenrecht auf
Nahrung als bindender Referenzrahmen Orientierung
geben und zur Harmonisierung und Kohärenz der ver-
schiedenen Politiken beitragen.

Als einflussreiches Industrieland tragen wir eine be-
sondere Verantwortung für eine gerechte Wirtschaft.
Wer es mit dem Kampf gegen Hunger ernst meint, darf
nicht an Agrarexportsubventionen oder spekulativen Fi-
nanzinvestitionen auf Agrarmärkten festhalten. Es gilt,
vor allem eine kleinbäuerliche, klimaverträgliche Land-
wirtschaft zu fördern. In ländlichen Gebieten sind Kin-
der doppelt so häufig untergewichtig wie in städtischen
Gebieten.

Die Menschenrechte auf Wasser und Nahrung er-
scheinen vielen als abstrakte Normen, die in endlosen
internationalen Konferenzen verhandelt werden, aber
kaum konkrete Auswirkungen in der Praxis haben. In-
zwischen ist die Argumentation mit rechtlichen Ansprü-
chen auf Wasser und Nahrung aber zu einem viel genutz-
ten Instrument vor allem der Zivilgesellschaft avanciert.

Zu Protokoll gegebene Reden





Tom Koenigs


(A) (C)



(D)(B)


Das ist gut so. Denn nach wie vor klafft eine Lücke zwi-
schen geäußerten Absichten und tatsächlichem politi-
schen Willen. Menschenrechte auf Wasser und Nahrung
bleiben eine ständige Herausforderung. Sie müssen im-
mer wieder gegen Widerstände erkämpft, eingefordert
und beharrlich in Erinnerung gerufen werden. Sie erfor-
dern einen langen Atem und den unbedingten Willen zur
Veränderung. Dann helfen sie, Mauern einzureißen, die
den Weg zu gerechteren Lösungen der weltweiten Was-
ser- und Nahrungskrise versperren.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717228500

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9153 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Griese, Dr. Eva Högl, Michael Roth (Heringen),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Nationales Reformprogramm 2012 muss so-
ziale Ziele der Strategie „Europa 2020“ be-
rücksichtigen

– Drucksache 17/9154 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Federführung strittig

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9154 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie. Die Fraktion der SPD wünscht Feder-
führung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD, also Federführung beim Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union, ab-
stimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Federführung beim
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, abstimmen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überwei-
sungsvorschlag ist angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 19. September 2011
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Republik Türkei zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen

– Drucksache 17/8841 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/9140 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding (Heidelberg)


Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.


Manfred Kolbe (CDU):
Rede ID: ID1717228600

Dem Deutschen Bundestag liegt heute ein Gesetzent-

wurf zur Ratifikation eines neuen Doppelbesteuerungs-
abkommens mit der Republik Türkei vor.

Grundsätzlich dienen Doppelbesteuerungsabkommen
dazu, die doppelte Besteuerung in den Vertragsstaaten
für Unternehmen und Privatpersonen zu vermeiden.
Damit können die internationale wirtschaftliche Zusam-
menarbeit verbessert und Investitionshemmnisse auf-
grund einer doppelten Steuerlast abgebaut werden.

Deutschland ist mit einem Handelsvolumen von rund
26 Milliarden Euro im Jahr 2010 der wichtigste Han-
delspartner der Republik Türkei. Die Zahl deutscher
Unternehmen in der Türkei liegt bei über 4 700. Beein-
druckend ist auch das deutsche Investitionsvolumen:
rund 6,3 Milliarden Euro.

Die Bundesrepublik Deutschland hatte bereits seit
1985 ein Doppelbesteuerungsabkommen mit der Türkei,
das jedoch fundamentale Steuervorteile für die türkische
Seite enthielt. Diese Regelungen entsprachen in den
letzten Jahren nicht mehr der deutschen Doppelbesteue-
rungspolitik und auch nicht einmal mehr der Praxis, wie
sie gegenüber Entwicklungsländern angewendet wird.
Unter anderem gab es die Möglichkeit, „fiktive“ Steu-
ern, also in der Türkei nicht gezahlte Steuern, in
Deutschland steuermindernd geltend zu machen.

Mit der türkischen Regierung konnte in drei Revi-
sionsverhandlungen von 2007 bis 2008 keine Einigung
erzielt werden, weshalb dann 2009 das alte Doppelbe-
steuerungsabkommen mit der Türkei gekündigt wurde,
mit dem Angebot und Ziel, Verhandlungen über ein
neues Abkommen aufzunehmen. Aus diesem Grund galt
eine Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2010, in der
das alte Abkommen weiter angewendet wurde.

In Verhandlungen mit der Türkei wurde ein neues Ab-
kommen erarbeitet, das die kritisierten Punkte aufnahm
und auf der Höhe der aktuellen deutschen Abkommens-
politik ist. Das neue Doppelbesteuerungsabkommen,1) Anlage 12





Manfred Kolbe


(A) (C)



(D)(B)


das am 19. September 2011 unterzeichnet wurde, hält
sich im Wesentlichen an das OECD-Musterabkommen.

Ziel des neuen Abkommens ist einerseits die Ver-
meidung einer Doppelbesteuerung von deutschen
Unternehmen und Privatpersonen in der Türkei und an-
dererseits eine Verbesserung der Bekämpfung von Steu-
erhinterziehung.

Lassen Sie mich die wichtigsten Änderungen kurz er-
läutern:

Das Besteuerungsrecht von Dividenden wurde für
den Quellenstaat auf 5 Prozent begrenzt. Das entspricht
dem OECD-Musterabkommen. Hierfür muss der Nut-
zungsberechtigte eine Gesellschaft sein, die mindestens
25 Prozent der Anteile an der ausschüttenden Gesell-
schaft hält; ansonsten beträgt der Quellensteuersatz
15 Prozent des Bruttoertrages der Dividenden.

Ruhegehälter oder Renten können nun auch im Quel-
lenstaat, also dem auszahlenden Land, besteuert
werden. Bisher musste die Steuer im Wohnsitzstaat ab-
geführt werden. Das bedeutet für Deutschland etwa,
dass die Renten, die in die Türkei überwiesen werden, in
Deutschland versteuert werden. Beispielsweise kann die
Rente des ehemaligen türkischen Gastarbeiters in
Deutschland, der seinen Ruhestand in der Türkei ver-
bringt, mit dem neuen Abkommen erstmals von den deut-
schen Steuerbehörden besteuert werden, wie das im
Übrigen beim Großteil der Renten schon geschieht, die
ins Ausland überwiesen werden. Allerdings fällt die Be-
steuerung erst ab einer Höhe von mehr als 10 000 Euro
an und beträgt maximal 10 Prozent. Der steuerfreie Teil
der Rente ist jedoch anzurechnen. Deutschland zahlte im
Jahr 2010 mehr als 53 000 Renten mit einem Volumen
von circa 335 Millionen Euro in die Türkei. Diese
Summe kann jetzt also in Deutschland teilweise versteu-
ert werden.

Erstmalig erhält die Bundesrepublik Deutschland die
Möglichkeit mithilfe einer Umschwenkklausel, einseitig
von der Freistellungs- zur Anrechnungsmethode überzu-
gehen. Hierfür ist erst eine Konsultation mit der Türkei
notwendig. Dieser Fall würde verhindern, dass Einkom-
men in keinem der beiden Vertragsstaaten besteuert
würden.

Wie bisher wird eine Doppelbesteuerung bei den
wichtigsten Einkünften durch Freistellung vermieden.
Beispiele wären Einkünfte aus selbstständiger und un-
selbstständiger Arbeit oder Gewinne aus Betriebsstätten
in der Türkei oder Deutschland.

Bei Einkünften, die nicht von der deutschen Steuer
freigestellt werden, wird die türkische Steuer auf die
deutsche Steuer angerechnet. Das gilt etwa für Zinsen,
Lizenzgebühren, Vorstandsvergütungen oder Gagen von
Sportlern oder Künstlern.

Die deutsche Steuerfreistellung wird also nur bei akti-
ver Tätigkeit in der Türkei gewährt. Das alte Abkommen
sah hier bisher die Anrechnung von fiktiven, nicht gezahl-
ten, türkischen Steuern auf Streubesitzdividenden, Zinsen
und Lizenzgebühren vor, die in Deutschland angerechnet
werden konnten – das ist jetzt nicht mehr möglich.

Auf der anderen Seite eröffnet das neue Doppel-
besteuerungsabkommen bessere Möglichkeiten des In-
formationsaustausches in Steuersachen. Informationen,
die zur Durchführung des Abkommens notwendig sind,
aber auch Informationen, die zur Verwaltung und
Durchsetzung von Steuern jeder Art erforderlich sind,
werden unter den entsprechenden Behörden ausge-
tauscht. Keiner der beiden Staaten kann sich auf ein
Bankgeheimnis berufen. Neu vereinbart wurde auch die
Amtshilfe bei der Steuererhebung zwischen der Türkei
und der Bundesrepublik.

Mit diesem Abkommen wird es Steuerbetrügern wie-
der ein Stück schwerer gemacht, ihr Vermögen am Fi-
nanzamt vorbeizumanövrieren.

Die Türkei entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten
zu einer Industrienation und einem großen Handelspart-
ner der Bundesrepublik Deutschland. Sie gilt zudem als
Stabilitätsfaktor im Nahen Osten. Es ist deshalb gut und
recht, ein neues Doppelbesteuerungsabkommen zu rati-
fizieren, das beide Staaten gleichstellt. Deutschland ist
für viele ehemalige türkische Gastarbeiter zu ihrer
Heimat geworden, viele haben hier Geschäfte eröffnet –
die Türkei ist für deutsche Unternehmen ein guter Wirt-
schaftsstandort und Handelspartner. Wir möchten die
wirtschaftliche Verbindung der beiden Länder stärken
und setzten deshalb auf dieses faire und sinnvolle
Doppelbesteuerungsabkommen. Das ist gut so.


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1717228700

Wir beraten heute abschließend über den Regie-

rungsentwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
19. September 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Türkei zur Vermeidung
der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen. Die SPD-
Bundestagsfraktion unterstützt diese Vorlage der Bun-
desregierung, weil wir die Grundsätze und die Arbeits-
richtung des Gesetzes richtig finden – auch wenn uns
noch einige Verbesserungsvorschläge zu Einzelaspekten
des Vertragsgesetzes einfallen, die in den Verhandlun-
gen mit der Türkei aber leider nicht aufgegriffen
wurden. Das Abkommen mit der Türkei enthält gute
Regelungen, die die Steuereinnahmen der öffentlichen
Haushalte in Deutschland stärken, den Informations-
austausch in Steuerangelegenheiten und die Zusammen-
arbeit bei der Steuererhebung zwischen den Verwal-
tungsbehörden verbessern, den Besteuerungsinteressen
beider Seiten im Kompromiss entgegenkommen und
steuerliche Beeinträchtigungen der wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Beziehungen zwischen der Türkei und
Deutschland abbauen helfen.

Unsere Zustimmung zu einem Vorschlag der Bundes-
regierung ist auch deshalb erwähnenswert geworden, da
es die Bundesregierung und die sie tragenden Regie-
rungsfraktionen von CDU, CSU und FDP der Opposi-
tion in den letzten Wochen und Monaten häufig sehr
schwer gemacht haben, ihren schlechten, zögerlichen,
unvollständigen oder gleich ganz fehlenden Verhand-
lungsergebnissen auf europäischer und internationaler
Bühne zuzustimmen. Das ist eine bedauerliche Entwick-

Zu Protokoll gegebene Reden





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


lung; denn es gibt in der sozialdemokratischen Fraktion
ein grundsätzliches Bekenntnis zu europäischer und in-
ternationaler Solidarität und eine Bereitschaft, sinnvolle
Regelungen zu unterstützen, mit denen sich unsere
gemeinsamen Interessen in der Steuerpolitik, in der
Finanzmarktregulierung, in der Bewältigung der Fi-
nanzkrisen im Ausland gemeinsam vertreten lassen.
Allerdings streut die lärmende Uneinigkeit in der Regie-
rungskoalition immer wieder Sand ins Getriebe bei der
Suche nach einheitlichen und abgestimmten Positionen,
die Deutschlands Wahrnehmung als verlässlichen und
berechenbaren Partner in Europa stärken.

Ich bin daher über jedes zustimmungsfähige Verhand-
lungsergebnis froh und erleichtert, das die Bundesregie-
rung vorlegt. Mein Dank geht daher an dieser Stelle an
meine Kolleginnen und Kollegen im Finanzausschuss
und insbesondere auch an die Fachbeamtinnen und
Fachbeamten des Bundesfinanzministeriums, denen wir
das gute Verhandlungsergebnis mit der Türkei verdan-
ken. Obwohl stets mehr wünschbar ist – diese Verhand-
lungsleistung der Finanzbeamten und Finanzbeamtin-
nen ist umso höher einzuschätzen, als wir gegenwärtig
mit Westerwelle und Niebel auf dem Tiefpunkt deutscher
Außendarstellung und -politik angekommen sind.

Das alte, aus dem Jahr 1985 stammende und im Jahr
2009 gekündigte Abkommen mit der Türkei hat der
rasanten Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen
und der engen gesellschaftlichen Verflechtungen zwi-
schen der Türkei und Deutschland nicht mehr angemes-
sen Rechnung getragen. Es ist Ende 2010 ausgelaufen
und wird durch das heute beschlossene neue Abkommen
ersetzt. Das rückwirkende Inkrafttreten zum 1. Januar
2011 gewährleistet Rechtssicherheit und stellt sicher,
dass keine Lücke in der Rechtsanwendung entsteht.

Das Abkommen mit der Türkei schafft neue Möglich-
keiten zur Besteuerung von Sozialversicherungsrenten
und Ruhegehältern auch im Quellenstaat. Bislang lag
das Besteuerungsrecht ausschließlich beim Wohnsitz-
staat; die gesetzliche Rente des Arbeitnehmers, der sei-
nen wohlverdienten Ruhestand im milden Klima der tür-
kischen Riviera genießt, unterlag in Deutschland also
nicht der Besteuerung – und ich kann verstehen, wenn
sich mancher Rentner im deutschen Winter ungerecht
behandelt fühlt, dessen Rente hierzulande in zunehmen-
dem Umfang steuerlich belastet wird. Die Türkei hat in
den Verhandlungen das deutsche Besteuerungsinteresse
anerkannt; im Gegenzug hat man sich im Kompromiss
darauf verständigt, den Steuersatz im Quellenstaat auf
10 Prozent zu beschränken. Außerdem greift die Besteu-
erung erst bei Leistungen über 10 000 Euro; allerdings
wird der steuerfreie Teil der Rente nach § 22 Nr. 1 Satz 3
EStG auf diesen Freibetrag angerechnet.

Art. 25 des Abkommens enthält wichtige Passagen
zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Das Abkom-
men orientiert sich am Musterabkommen, MA, der
Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, OECD-MA, das einen international akzep-
tierten Standard für den umfassenden Informationsaus-
tausch in Steuerangelegenheiten definiert. In den Ver-
handlungen mit der Türkei wurde eine Klausel über den

Informationsaustausch gemäß dem OECD-Standard aus
dem Jahr 2008 aufgenommen, OECD-MA 2005. Damit
wird ein Austausch von Informationen auf Anfrage mög-
lich, die zur Durchführung dieses Abkommens und des
innerstaatlichen Besteuerungsrechts der Vertragsstaa-
ten erforderlich sind. Betroffen sind Steuern aller Art
und Bezeichnung, nicht nur diejenigen, auf die sich das
DBA bezieht. Ein Bankgeheimnis darf sich nicht dahin
gehend auswirken, dass diese Informationen nicht über-
mittelt werden können. Im Zusammenwirken mit Art. 26
des Abkommens, der die wechselseitige Amtshilfe bei
der Erhebung von Steuern regelt, sind dies wichtige
Fortschritte, die bei der einheitlichen Anwendung unse-
res Steuerrechts helfen.

Leider ist der Informationsaustausch aber nicht so
umfassend, wie wir uns das in der SPD-Fraktion vorstel-
len, nämlich im Sinne eines automatischen Informa-
tionsaustauschs, bei dem steuerlich relevante Daten
übermittelt werden, ohne dass es eine konkrete Anfrage
der jeweiligen Behörde zur Aufklärung eines Sachver-
haltes geben muss oder ohne dass es einen begründeten
Anfangsverdacht auf Steuerhinterziehung oder -betrug
geben muss. Der automatische Austausch ist nach
Art. 26 OECD-MA möglich und mit Blick auf die enge
wirtschaftliche Verflechtung zwischen der Türkei und
Deutschland und der nicht nur geografischen Nähe der
Türkei zum einheitlichen Wirtschafts- und Verwaltungs-
raum der Europäischen Union auch wünschenswert. In
der Europäischen Union ist der automatische Informa-
tionsaustausch bei Zinseinkünften in einer Richtlinie
geregelt – auch wenn es immer noch Staaten gibt, die
sich der lückenlosen Anwendung dieser Regel und der
Einbeziehung weiterer Arten von Kapitaleinkünften aus
Eigeninteresse widersetzen. Eine entsprechende Eini-
gung mit der Türkei wäre hier in der Auseinanderset-
zung um die Weiterentwicklung der Zinsrichtlinie sicher-
lich hilfreich gewesen.

Meine Nachfrage in den Beratungen im Finanzaus-
schuss nach den Unterschieden zum OECD-Muster-
abkommen haben folgende Klarstellungen ergeben:
Deutschland und die Türkei haben Quellsteuersätze auf
Lizenzgebühren vereinbart, die im Musterabkommen
nicht vorgesehen sind. Außerdem konnte die Bundes-
regierung ein eigenes Besteuerungsrecht erzielen, das
nach dem Musterabkommen nur dem Wohnsitzstaat zu-
steht. Weitere Abweichungen bestehen bei der Definition
von Betriebsstätten: Die türkische Seite hat in diesem
Punkt ihre Besteuerungsinteressen verteidigt.

Das Abkommen bringt auch einige wichtige Verbesse-
rungen für die Besteuerung von Kapitaleinkünften aus
dem unternehmerischen Bereich, wovon wir uns Mehr-
einnahmen für die öffentlichen Haushalte in Deutsch-
land versprechen: Bei Zinseinkünften wird der Quellen-
steuersatz, der in dem Land erhoben wird, aus dem die
Zinsen zufließen, von 15 auf 10 Prozent reduziert,
Art. 11. Zudem hat sich die Türkei bereit erklärt, auf
eine Besteuerung von Zinsen aus Hermes-Bürgschaften
und Zinszahlungen an die Kreditanstalt für Wiederauf-
bau, KfW, Deutsche Entwicklungsgesellschaft, DEG,
Bundesregierung und Bundesbank zu verzichten. Es geht
dabei um Zinsen, die in Deutschland steuerpflichtige

Zu Protokoll gegebene Reden





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


Unternehmen als „Gegenleistung“ für Unterstützungs-
zusagen der öffentlichen Hand zahlen müssen. Diese
Garantien spielen eine wichtige Rolle dabei, die finan-
ziellen Risiken für deutsche Unternehmen bei einem En-
gagement im Ausland zu verringern – eine sinnvolle
Einrichtung, von der sowohl deutsche Unternehmen als
auch die Staaten profitieren, in denen sie investieren.

Bei Einnahmen aus Dividenden, die eine türkische
Tochtergesellschaft an ihre deutsche Konzernmutter
ausschüttet, wird das Besteuerungsrecht des Quellen-
staats von 15 auf 5 Prozent des Bruttobetrags begrenzt,
wenn das begünstigte Unternehmen mit mehr als
25 Prozent an der ausschüttenden Gesellschaft beteiligt
ist. Bislang galt für Dividendenausschüttungen aus die-
sen sogenannten Schachtelbeteiligungen eine Mindest-
beteiligungsquote von 10 Prozent. Bei Beteiligungen un-
terhalb dieser Grenze, sogenannten Streubesitz-
dividenden, gilt ein von 20 auf 15 Prozent reduzierter
Quellensteuersatz. Diese Regelung ist ein guter Ver-
handlungserfolg, da sie den Kreis miteinander
verflochtener Unternehmen einengt, die von einem
günstigeren Steuersatz profitieren; außerdem wird der
türkische Quellensteuersatz, der auf die deutsche Steu-
erschuld angerechnet werden kann, reduziert. Beide
Maßnahmen stärken die deutsche Einnahmeseite. Für
Dividenden, die in umgekehrter Richtung fließen, redu-
ziert sich hingegen die Kapitalertragsteuerbelastung;
damit ist zwar ein Rückgang an Steuereinnahmen ver-
bunden, der mit Blick auf die Kapitalverkehrsbilanz und
darauf, dass die Dividendenströme in der Regel in stär-
kerem Maße in Richtung Deutschlands fließen, vermut-
lich aber mehr als kompensiert wird.

Art. 22 des Abkommens enthält eine wichtige „Um-
schwenkklausel“, die im Zusammenwirken mit den ge-
änderten Regelungen zur Dividendenbesteuerung die
deutsche Steuerbasis stärkt und Gestaltungsmöglichkei-
ten verschließt, mit denen steuerpflichtige Unternehmen
ihre Steuerbelastung künstlich reduzieren können. Die
Möglichkeit der Anrechnung fiktiver türkischer Quellen-
steuer wurde gestrichen. Bei der Ermittlung der Steuer-
belastung eines Unternehmens in Deutschland wurde in
der Vergangenheit so getan, als ob aus der Türkei zuflie-
ßende Dividenden dort besteuert worden seien – was in
der Realität allerdings nicht geschah. Diese Einkünfte
wurden dann in Deutschland steuerfrei gestellt, was
wirtschaftlich gesehen wie eine doppelte Nichtbesteue-
rung wirkte. Deutschland verzichtete mit dieser Rege-
lung quasi auf die Ausübung von Besteuerungsrechten
und die Festlegung von Steuersätzen; es galten vielmehr
die Steuersätze des Quellenstaats, auch wenn diese wie
bei der Türkei effektiv „null“ betrugen. Diese Regelung
ermöglichte es der Türkei, durch einen Verzicht auf eine
Besteuerung ihre Attraktivität als Investitionsstandort
für deutsche Unternehmen zu verbessern; für deutsche
Unternehmen entstanden steuerliche Anreize, Tochter-
gesellschaften in der Türkei anzusiedeln, insgesamt eine
Lösung, die als – zeitlich befristetes – Instrument der
Außenhandelsförderung und der wirtschaftlichen Zu-
sammenarbeit mit anderen Staaten sinnvoll eingesetzt
werden kann. Die Rahmenbedingungen haben sich
allerdings angesichts der starken Wachstumsdynamik

der türkischen Volkswirtschaft geändert; ein entspre-
chender steuerrechtlicher Nachvollzug der neuen Kon-
stellation in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen bei-
den Staaten ist damit erforderlich geworden. Der
Übergang zur Anrechnungsmethode ist seit einigen Jah-
ren ein wichtiger Aspekt der deutschen Verhandlungspo-
sition, wenn es um die Revision bestehender Doppelbe-
steuerungsabkommen und den Abschluss neuer
Vereinbarungen geht.

Deutschland kann künftig von der Freistellungs- zur
Anrechnungsmethode übergehen, um eine doppelte
Nichtbesteuerung zu vermeiden. Das heißt, die in der
Türkei fiktiv gezahlte Quellensteuer führt nicht mehr zu
einer Steuerfreistellung in Deutschland, sondern wird
auf die deutsche Steuerschuld angerechnet. Im Ergebnis
erhöht sich zwar die gesamte Steuerbelastung für das
Unternehmen – allerdings nur auf ein Niveau, das auch
für Unternehmen ohne Tochtergesellschaften im Aus-
land gilt.

Die Freistellungsmethode gilt im Prinzip bei allen
aktiven Einkünften. Darunter fallen Einkünfte aus
selbstständiger und nichtselbstständiger Arbeit sowie
Einkünfte aus einer Betriebsstätte in der Türkei, bei Di-
videndenausschüttungen einer in der Türkei ansässigen
Gesellschaft, bei der eine Beteiligung von mindestens
25 Prozent besteht – allerdings unter beschriebenem
Vorbehalt der „Umschwenkklausel“. Die Anrechnungs-
methode gilt im Grundsatz bei Einkünften, die nicht der
Freistellung unterliegen, das heißt für Dividenden in
Streubesitz, Zinsen, Lizenzgebühren sowie bei Einkünf-
ten von Sportlern und Künstlern.

Doppelbesteuerungsabkommen sind Kompromisse –
manchmal gute, manchmal schlechte, manchmal reife,
manchmal faule. Es gab schon Abkommen, bei denen
uns die Zustimmung schwerer gefallen ist als bei dieser
Vereinbarung mit der Türkei.


Holger Krestel (FDP):
Rede ID: ID1717228800

Die Türkei ist ein starker und aufstrebender Wirt-

schaftspartner für Deutschland, und durch das Anwer-
beabkommen, welches vor kurzem 50-jähriges Jubiläum
feierte, sind diese beiden Länder auf eine ganz beson-
dere Weise verbunden. Dies schlägt sich auch sehr deut-
lich in der Wirtschaft nieder. So gibt es unter den in
Deutschland lebenden Türken und türkischstämmigen
Deutschen auch zahlreiche Unternehmer, die neue Mög-
lichkeiten schaffen und die Wirtschaftsbeziehungen der
beiden Länder intensivieren. Auch kehren viele türkisch-
stämmige, junge Deutsche in die Heimat ihrer Eltern zu-
rück, um unternehmerisch aktiv zu werden, und eine
große Zahl von Firmen fungiert als Brückenbauer, wenn
sie die Bedürfnisse dieser Selbstständigen mit festen
Bindungen zu zwei Ländern bedient und mit ihnen zu-
sammenarbeitet. Der Außenhandel beider Länder unter-
einander ist in den letzten Jahren stetig und kräftig ge-
wachsen, und Deutschland ist noch vor dem großen
Rohstofflieferanten Russland der wichtigste Handels-
partner der Türkei. Zudem lässt das boomende Wirt-
schaftswachstum der letzten Jahre von bis zu 11 Prozent
die Türkei zu einem immer wichtigeren Absatzmarkt für

Zu Protokoll gegebene Reden





Holger Krestel


(A) (C)



(D)(B)


deutsche Unternehmen werden. Viele deutsche Firmen
haben dies erkannt und sind vermehrt auch mit Nieder-
lassungen und Mitarbeitern vor Ort aktiv.

Diese intensive Beziehung macht eine zeitgemäße Re-
gulierung der Besteuerung zwischen den beiden Natio-
nen zu einem wichtigem Thema, dem wir uns auch gerne
gewidmet haben. In dieser Überarbeitung des Doppel-
besteuerungsabkommen von 1985 wird primär die Be-
steuerung von Einkommen neu geregelt, was zahlreiche
Selbstständige, Unternehmer und Angestellte in beiden
Ländern betrifft. Durch klare Regelungen, die den büro-
kratischen Aufwand vermindern und die Mehrfachbe-
steuerung von Einkommen verhindern, möchten wir
Steine für unternehmerische lnnovationen aus dem Weg
räumen und einen reibungslosen Ablauf des Handels
und der Investitionen garantieren. Wenn ein Leistungs-
träger den großen Schritt wagt und im Ausland unter-
nehmerisch aktiv wird oder als Angestellter ein wichti-
ges Projekt im Ausland übernimmt, bringt er damit den
wirtschaftlichen Fortschritt, von dem alle profitieren,
voran. Daher sollte man diese Menschen nicht abschre-
cken und für eindeutige Regeln sorgen, damit sie sich in
einer neuen und unbekannten Situation nicht auch noch
mit unsinniger Bürokratie herumschlagen müssen.

Inhaltlich basiert das Abkommen im Wesentlichen auf
dem OECD-Musterabkommen. Durch die Anpassung
verschiedener Besteuerungssätze bei Dividenden- und
Zinszahlungen ist aufgrund eines höheren Zahlungs-
stroms aus der Türkei nach Deutschland mit einem posi-
tiven Saldo für die Bundesrepublik zu rechnen. Die Ab-
schaffung der Möglichkeit zur Anrechnung fiktiver,
tatsächlich nicht gezahlter türkischer Steuern auf die
deutsche Steuer, welche bisher bestand, dürfte ebenfalls
für Mehreinnahmen im deutschen Haushalt sorgen.
Weite Teile des alten Abkommens wie beispielsweise In-
formationspflichten für Unternehmen bleiben jedoch un-
verändert.

Dieses Abkommen ist ein vernünftiger Schritt im Rah-
men einer stetig wachsenden Beziehung binationaler
Zusammenarbeit. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717228900

Steuerverweigerung ist nicht nur ein leichtes Ver-

gehen, sondern unsolidarisch und eine – ich zitiere Pro-
fessor Bryde, Richter des Bundesverfassungsgerichts –
„Kampfansage gegen die Grundlagen der staatlichen
Ordnung“. Unsere heutige globalisierte und hochindus-
trialisierte Welt ist von starkem internationalem Waren-
und Kapitalverkehr geprägt. Dazu bedarf es dement-
sprechender Regelungen der Staatengemeinschaften, so
auch im Steuersystem. Die Länder haben unterschied-
liche Steuersysteme. Dies führt mitunter zur Steuerhin-
terziehung und bedeutet unter anderem für Deutschland
jedes Jahr mehrere Milliarden Euro Steuereinbußen. Ich
erinnere auch an die heißbegehrten Steuer-CDs. Sie sind
ein Beispiel dafür, dass der Staat dringend mehr gegen
Steuerflucht und Steuerhinterziehung unternehmen
muss. Damit allerdings keine Doppelbesteuerung er-
folgt, existieren zahlreiche Doppelbesteuerungsabkom-
men, kurz DBA, zwischen Deutschland und anderen

Ländern. Das hier vorliegende Doppelbesteuerungs-
abkommen mit der Türkei, welches sich an das OECD-
Musterabkommen von 2005 und 2008 anlehnt, soll das
bereits gekündigte DBA ersetzen.

Noch einmal kurz zur Rolle von Doppelbesteuerungs-
abkommen: Einerseits ist zu verhindern, dass Staatsbür-
ger, sofern sie in einem anderen Land arbeiten, übermä-
ßig besteuert werden. Gleichzeitig sollen sie verhindern,
dass jemand Vermögen ins Ausland schafft und somit
der Besteuerung im Ursprungsland entzieht.

Der Knackpunkt bei der tatsächlichen Verhinderung
von Steuerumgehung ist der Informationsaustausch
zwischen den Steuerbehörden der Länder. Hier steckt
der Teufel wie so oft im Detail. Selbst nach OECD-
Musterabkommen erfolgt kein automatischer Informa-
tionsaustausch, sondern lediglich ein Austausch auf
Ersuchen. Das heißt, zuerst muss die Steuerverwaltung
einen begründeten Verdacht hegen, um dann im betref-
fenden Land nachfragen zu können. Das ist bürokra-
tisch, kostet Zeit, frisst viele Ressourcen und unterstützt
die Steuerumgehung. Deshalb fordert die Linke seit lan-
gem einen automatischen Informationsaustausch.

Was soll nun im DBA mit der Türkei geregelt werden?
Neu im Vergleich zu anderen DBA enthält dieses hier
auch eine Regelung zur Verhinderung der Doppel-
besteuerung von Renten. Die Politik der Bundesregie-
rung besteht hier – unter Verweis auf den Übergang zur
nachgelagerten Besteuerung – seit geraumer Zeit darin,
Rentenbezüge aus Deutschland auch dann besteuern zu
können, wenn sie an Empfängerinnen und Empfänger im
Ausland fließen.

Dieses DBA ist zwar im Vergleich zum alten DBA ein
Fortschritt, aber immer noch unzureichend. Denn es
wurde keine verbindliche Umsetzung von Spontanaus-
kunft und automatischem Informationsaustausch verein-
bart. Zudem wird im Wesentlichen zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung das Freistellungsverfahren ange-
wendet und nicht, wie wir fordern, das Anrechnungsver-
fahren. Ich frage mich auch, warum in dieses Abkommen
nicht die Erbschaft- und Schenkungsteuer aufgenommen
worden ist. Und ich frage mich, warum hinsichtlich des
Informationsaustausches der Standard des OECD-
Musterabkommens von 2005 genommen wurde und
nicht der von 2008. Das alles sind triftige Gründe, dem
Gesetz nicht zuzustimmen. Wir werden uns daher bei
diesem Gesetzentwurf aus den genannten Gründen ent-
halten.

Zum Schluss noch etwas Allgemeines, aber sehr
Wichtiges: Damit die geltenden Steuergesetze auch ver-
nünftig umgesetzt werden können, brauchen wir eine
besser ausgestattete Finanzverwaltung, die diese Arbeit
tatsächlich erledigen kann. Dabei lohnt sich diese Inves-
tition auch noch. Im Falle der Betriebsprüfungen zum
Beispiel trieb jeder Finanzbeamte im Jahr 2009 rund
1,4 Millionen Euro an Steuernachzahlungen ein. Das
heißt: Wird bei Finanzämtern gespart und gibt es weni-
ger Planstellen, dann geht Deutschland viel Steuergeld
durch die Lappen.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Türkei ist ein überaus interessanter Wirtschafts-
standort. Mit einem Volumen von rund 243 Milliarden
Dollar war das BIP im ersten Quartal dieses Jahres
etwa so groß wie die türkische Wirtschaft im gesamten
Jahr 2003. In der Rangfolge der größten Volkswirtschaf-
ten der Welt liegt die Türkei inzwischen auf Platz 17.
Umso wichtiger ist es für die beiden Länder, für
Deutschland und die Türkei gleichermaßen, mit einem
Doppelbesteuerungsabkommen die Steuerfragen mit
dem Ziel der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen
aufgrund von unterschiedlichen steuerlichen Regeln in
beiden Ländern zu regeln. Die engen Beziehungen bei-
der Länder, verbunden mit einer hohen Anzahl türki-
scher Einwanderer sowie deutscher Staatsbürger, die in
der Türkei leben, erhöhen die Notwendigkeit eines funk-
tionierenden Rahmens, der sowohl Doppelbesteuerung
vermeidet als auch eine doppelte Nichtbesteuerung ver-
hindert.

Beim vorliegenden Entwurf gehen einige Änderungen
gegenüber dem bisher geltenden Doppelbesteuerungs-
abkommen aus dem Jahr 1985 in die richtige Richtung.
So steigt die Beteiligungshöhe für das Schachtelprivileg
von 10 auf 25 Prozent, und die Anrechnung fiktiver
Quellensteuern in der Bundesrepublik wird abgeschafft.
Diese hat sich als ein wenig erfolgreiches Instrument
der Entwicklungspolitik erwiesen. Außerdem war es not-
wendig, dass die Besteuerung von Renten geregelt wird,
was mit dem Abkommen geschehen ist. Besonders vor
dem Hintergrund, dass viele Gastarbeiter Rentenan-
sprüche in der Bundesrepublik erworben haben, aber
zurück in die Türkei gezogen sind oder dies planen, ist
die Regelung erforderlich geworden.

Das ausgehandelte Doppelbesteuerungsabkommen
enthält aber auch Schwächen. Besonders kritisch ist die
Absenkung der Quellensteuersätze. Bei Dividenden sinkt
er von 20 auf 15 Prozent, und bei Zinsen sinkt er von
15 auf 10 Prozent. Damit liegt der Steuersatz noch unter
der in der Bundesrepublik gültigen Abgeltungsteuer, was
nur schwer nachvollziehbar ist. Insgesamt werden so die
Möglichkeiten, die eine Quellensteuer zur Vermeidung
von Steuerflucht oder Steueroptimierung bietet, nicht
ausgenutzt. Da in Europa bei der Zinsrichtlinie eine
35-prozentige Quellensteuer vorgesehen ist, sind die
ausgehandelten Steuersätze auch kein Zeichen für eine
schnellere Integration der Türkei in die EU, sei es als
Vollmitglied oder als privilegierter Partner. Hier hätten
wir von der Bundesregierung mehr Weitsicht erwartet:
sei es durch eine fest vereinbarte Öffnungsklausel oder
noch besser durch eine Angleichung der Regelung an
europäische Muster. Auch die Türkei wäre gefordert,
denn auch sie will eine Annäherung an die EU errei-
chen, zumindest auf dem Gebiet der Wirtschaft. Deshalb
könnten wir den Partner fordern. Dies ist aber seitens
der Bundesregierung offensichtlich nicht geschehen.

Beim Informationsaustausch zwischen beiden Staaten
entspricht das neue Abkommen dem OECD-Standard,
weist aber in Richtung Europa ähnliche Mängel wie die
Quellenbesteuerung auf. Es sieht keinen automatischen
Informationsaustausch beider Länder vor, wie er in der

EU mit der Zinsrichtlinie eingeführt werden soll. Damit
wurde auch hier die Möglichkeit verpasst, ein Zeichen
zu setzen, dass eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU
oder eine privilegierte Partnerschaft ein Stück näher
rückt.

Mit diesen Mängeln können wir dem Abkommen nicht
zustimmen. Insgesamt ersetzt und verbessert das Dop-
pelbesteuerungsabkommen zwar manche überkommene
Regelungen aus dem DBA von 1985. Dies begrüßen wir
ausdrücklich. Meine Fraktion bewertet aber einige Stel-
len sogar als eine Verschlechterung gegenüber den alten
Regelungen. Darüber hinaus vermissen wir Lösungen,
die eine zügige Angleichung an die EU erlauben. Des-
halb werden wir uns bei der Abstimmung enthalten.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717229000

Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9140, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/8841 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit einstimmig angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Josip Juratovic, Anette Kramme, Iris Gleicke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Für eine soziale Revision der Entsendericht-
linie

– Drucksachen 17/1770, 17/4755 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Johann Wadephul

Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung aus-
gewiesen, die Reden zu Protokoll.


Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1717229100

Auslöser heftiger Debatten zur Tariftreue bei der Ver-

gabe öffentlicher Aufträge waren das Rüffert- und das
Laval-Urteil des Europäischen Gerichtshofs in den Jah-
ren 2007 und 2008. Mit ihnen stellt der EuGH klar: Ta-
riftreue ist ein vergabefremder Aspekt – sie verstoße ge-
gen europäisches Recht. Bund und Länder dürfen
demnach die Vergabe öffentlicher Aufträge nicht an die
Tarifbindung koppeln. Damit widerspricht der EuGH
dem Bundesverfassungsgericht, das im Jahr 2006 in
einem Urteil gesetzliche Regelungen zur Tariftreue bei
öffentlichen Aufträgen als Gemeinwohlziel ansieht und
das aus meiner Sicht zu Recht.





Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)


Die Urteile des EuGH führten dazu, dass die Europäi-
sche Kommission zu einer Überprüfung der Entsende-
richtlinie aufgefordert wurde. Ein solches Anliegen teilt
auch die SPD in ihrem Antrag. Grundsätzlich sind wir
uns einig: Mit der Entsenderichtlinie sollen der Schutz
der Arbeitnehmer vor Ausbeutung flankiert sowie Wett-
bewerbsverzerrungen und Sozialdumping im Binnen-
markt vermieden werden. Als ein wichtiges Instrument
sind hier die nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz
festgesetzten branchenspezifischen Mindestlöhne zu nen-
nen. National festgesetzte Mindestlöhne ermöglichen es,
Missbrauch bei der Entsendung zu begegnen und einen
Mindestschutz für entsandte Arbeitnehmer sicherzustel-
len.

Doch wie verfahren in Branchen, in denen es keine
Mindestlöhne bzw. für allgemeinverbindlich erklärte
Tarifverträge gibt? Auch wenn das Urteil des Europäi-
schen Gerichtshofs Pflöcke einschlägt, heißt es nicht,
dass uns mit der bestehenden Entsenderichtlinie die
Hände gebunden sind. Neben der Möglichkeit, Aufträge
nur an Unternehmen zu vergeben, die sich verpflichten,
ihren Beschäftigten mindestens branchenspezifische
Mindestlöhne zu zahlen, könnte eine Vergabe öffent-
licher Aufträge an einen vergabespezifischen Mindest-
lohn gekoppelt werden. Ein solcher findet bereits in eini-
gen Bundesländern Anwendung. Dies stellt für mich ei-
nen gangbaren Weg dar, den wir weiter beschreiten
sollten.

Problematischer dürfte sich die Kontrolle gestalten,
ob entsprechende tarifliche Vereinbarungen vor Ort ein-
gehalten werden. Dies werde oftmals als Argument ge-
gen eine Tarifbindung als Vergabekriterium angeführt.
Das ist für mich nicht hinnehmbar, genauso wie es für
mich nicht nachzuvollziehen ist, warum die Erhaltung
sozialer Standards in der Praxis gerechtfertigt werden
muss, während ökonomische Argumentationen hingegen
beinahe schon einen axiomatischen Charakter haben.
Daher: Wenn Regeln nicht eingehalten werden, dann
müssen wir die Rahmenbedingungen dafür schaffen,
dass deren Einhaltung besser kontrolliert werden kann.
Unternehmen, welche die Tarifbindung etwa durch Frei-
schichten ihrer Mitarbeiter zu unterlaufen versuchen,
missbrauchen das Vertrauen ihrer Arbeitnehmer. Tarif-
treue ist für mich eine Selbstverständlichkeit, die einem
Unternehmer gegenüber nicht begründet werden muss.
Schließlich profitieren auch sie davon, wenn seine
Mitbewerber unter gleichen Voraussetzungen antreten
müssen.

Für wenig hilfreich halte ich die Forderung der So-
zialdemokraten, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz für
alle Branchen zu öffnen. Meines Erachtens ist es sinn-
voller, wenn wir zeitnah ein Gesetz für eine Lohnunter-
grenze auf den Weg bringen. Eine Lohnuntergrenze kann
dann auch als tariflicher Maßstab bei der Ausschrei-
bung öffentlicher Aufträge herangezogen werden. Tarif-
treue wäre dann nicht mehr länger ein vergabefremder
Aspekt, sondern systemimmanent.

Sicherlich wäre es auch wünschenswert, wie die So-
zialdemokraten in ihrem Antrag fordern, Briefkastenfir-
men zu unterbinden. Ob die Entsenderichtlinie hierfür

das Mittel erster Wahl darstellt, möchte ich bezweifeln.
Das Ziel ist gewiss lohnenswert, aber über den Weg soll-
ten wir an anderer Stelle streiten – ebenso wie über eine
von der SPD geforderte zeitliche Begrenzung der Ent-
sendung.

Abschließend möchte ich drei Punkte deutlich
machen. Erstens darf im Interesse der Arbeitnehmer
eine Revision der Entsenderichtlinie keinesfalls zu einer
Abschwächung bestehender Schutzstandards oder zu ei-
ner Verminderung unserer nationalen Kontrollmöglich-
keiten führen. Wir werden uns daher den Entwurf einer
Revision, den die EU-Kommission sicherlich in nächster
Zeit vorlegen wird, sehr genau anschauen.

Zweitens sollten die Bundesländer den weiteren Aus-
bau europarechtskonformer Tariftreuegesetze forcieren.
Der vergabespezifische Mindestlohn stellt hierfür ein
probates Mittel dar.

Drittens zeigt die Debatte, dass eine Lohnuntergrenze
für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen
vorteilhaft wäre; denn sie würde im europäischen Wett-
bewerb der Schmutzkonkurrenz durch Dumpinglöhne
Einhalt gebieten. Daher gilt es nun, ein entsprechendes
Gesetz auf den Weg zu bringen.

Wir sind uns mit den Sozialdemokraten einig im Ziel.
Wir wollen den Schutz der Arbeitnehmer vor Ausbeu-
tung flankieren; Lohndumping ist inakzeptabel. Was die
Wahl der Mittel angeht, unterscheiden wir uns jedoch
punktuell. Die SPD stellt in ihren Antrag einige Forde-
rungen, die gut gemeint sind, aber nicht zwingend an
eine Revision der Entsenderichtlinie zu koppeln sind.
Daher werden wir den Antrag der SPD ablehnen.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1717229200

Unsere Fraktion sieht in der Entsenderichtlinie sowie

dem hierzu ergangenen nationalen Arbeitnehmer-Ent-
sendegesetz einen Schutz der Arbeitnehmer in Deutsch-
land und Europa, da die durch die Entsenderichtlinie
geltenden Mindestlöhne auch von ausländischen Dienst-
leistungserbringern einzuhalten sind. Und ich möchte
darauf hinweisen, dass in den Art. 3 und 152 ausdrück-
lich die soziale Marktwirtschaft, sozialer Fortschritt und
die Rolle der Sozialpartner erwähnt werden. Der Ver-
trag von Lissabon wertet die sozialen Grundrechte der
Arbeitnehmer also auf.

Wie ist der Sachverhalt? Im EU-Binnenmarkt genie-
ßen Unternehmen die Freiheit, Dienstleistungen in
anderen Mitgliedstaaten zu erbringen. Das schließt die
Möglichkeit ein, Arbeitnehmer vorübergehend in ande-
ren Mitgliedstaaten einzusetzen, damit sie dort
bestimmte Projekte durchführen. Unternehmen haben so
die Möglichkeit, ihre besonderen Dienstleistungen
innerhalb des gesamten EU-Binnenmarktes anzubieten,
was wiederum zu größerer Effizienz und Wirtschafts-
wachstum beiträgt. Es ist gerade diese Freiheit des EU-
Binnenmarktes, die zum wirtschaftlichen Erfolg der Mit-
gliedsländer führt. Insbesondere für Deutschland als
Exportnation ist es von äußerster Wichtigkeit, dass wir
nicht unnötig Hemmnisse innerhalb von Europa auf-
bauen. Unsere wirtschaftliche Stärke beruht auf unserer

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)


Exportstärke, auch von Dienstleistungen. Auch darauf
sind die derzeit sprudelnden Steuereinnahmen zurück-
zuführen. Und ausreichende Steuereinnahmen sind Vo-
raussetzung für die sozialen Leistungen, die in Deutsch-
land gewährt werden.

Nach Feststellung der EU gibt es aber auch schwarze
Schafe, die diese Freiheiten ausnutzen wollen. Durch
Umgehung der Vorschriften werden die Arbeitnehmer
vor allem im Baugewerbe daran gehindert, ihre vollen
Rechte, zum Beispiel bei Bezahlung oder Urlaub, in
Anspruch zu nehmen. Deshalb hat die EU-Kommission
nach einer Prüfung der Situation in Europa jetzt neue
Regeln vorgeschlagen, um vorübergehend ins Ausland
entsandte Arbeitnehmer besser zu schützen. Wenn es um
den EU-Binnenmarkt geht, sind Arbeitnehmerschutz und
fairer Wettbewerb zwei Seiten ein und derselben
Medaille.

Studien zeigen jedoch, dass für die rund 1 Million
entsandten Arbeitnehmer in der EU die Mindestarbeits-
und Beschäftigungsbedingungen nicht immer eingehal-
ten werden. Als Antwort auf diese spezielle Problematik
hat die Kommission konkrete, praktische Vorschläge in
eine Durchsetzungsrichtlinie gepackt, mit der die Über-
wachung und Einhaltung der Bestimmungen verstärkt
und die Anwendung der für entsandte Arbeitnehmer gel-
tenden Bestimmungen in der Praxis verbessert werden
sollen. Damit werden gleiche Ausgangsbedingungen für
die betroffenen Unternehmen geschaffen und Firmen,
die sich nicht an die Regeln halten, ausgeschlossen.
Deshalb ist der Antrag der SPD überholt. Wie im Aus-
schuss schon mehrfach angesprochen, rate ich den Kol-
leginnen und Kollegen der SPD zu etwas mehr Geduld.
Auf der Grundlage der Evaluierung der EU müssen wir
jetzt prüfen, welche Konsequenzen dies für Deutschland
hat.

Auch wenn Ihr Antrag von der Entwicklung überholt
ist, möchte ich anmerken, dass die SPD scheinbar
Abstand nimmt von ihrer Forderung nach einem flä-
chendeckenden Mindestlohn und auf den von uns favori-
sierten Weg der tariflichen Mindestlöhne einschwenkt.
Diese Einsicht begrüße ich ausdrücklich. Auch wenn Ihr
Antrag für die Debatte zur Entsenderichtlinie keine
Bedeutung mehr hat, hoffe ich, dass Sie den Standpunkt
der tariflichen Mindestlöhne, wie in Ihrem Antrag
beschrieben, weiterhin favorisieren.


Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1717229300

Das Thema der Entsenderichtlinie ist in der vergan-

genen Woche wieder hochaktuell geworden. Die
EU-Kommission hat zwei Vorschläge vorgestellt, um
bessere Arbeitsbedingungen für entsandte Arbeitnehmer
zu schaffen. Nur, leider gilt hier: Gut gemeint ist nicht
gut gemacht.

Bei der Verbesserung von Arbeitsbedingungen gene-
rell, aber besonders für entsandte Arbeitnehmer be-
obachte ich oft das gleiche Spiel: Jeder betont in Gruß-
worten und Sonntagsreden, dass gute Arbeitsbedingungen
und faire Löhne wichtig sind für ein soziales Europa.
Die Umsetzung dieser Sonntagsreden an den Wochenta-
gen funktioniert jedoch nicht, wie wir auch am Vor-

schlag der Kommission für eine Monti-II-Verordnung
sowie an dem Vorschlag für eine Richtlinie zur Durch-
setzung der Entsenderichtlinie sehen.

Die Entsenderichtlinie war ursprünglich dazu ge-
dacht, Lohn- und Sozialdumping in Europa zu verhin-
dern. Es sollte ein fairer Wettbewerb in Europa entste-
hen, bei dem die Unternehmen um Innovation und
bessere Produkte konkurrieren und sich nicht bei den
Löhnen unterbieten, um möglichst günstig zu sein. Der
Europäische Gerichtshof hat die Richtlinie aber in meh-
reren Urteilen zu einer Maximalrichtlinie uminterpre-
tiert, sodass nur noch niedrige Standards eingehalten
werden mussten. Entsandte Arbeitnehmer sind dabei die
Leidtragenden, da sie oft deutlich schlechtere Arbeitsbe-
dingungen und Löhne in Kauf nehmen müssen, als in
dem Land, in das sie entsandt sind, üblich sind.

Die Beispiele aus der Praxis sind zahlreich. Wir ken-
nen alle die erschreckenden Berichte aus Zeitungen,
wenn wieder einmal ein Missbrauchsfall ans Tageslicht
kommt. Oft sind dies Fälle in der Bauwirtschaft, zuletzt
auch beim Bau des neuen Berliner Flughafens. Irgend-
welche windigen Subunternehmer ziehen in Dörfer vor-
zugsweise in Osteuropa und erzählen den Menschen
dort etwas von guter Entlohnung in Deutschland. Hier
werden die Menschen dann in überteuerten Unterkünf-
ten untergebracht, unterschreiben keinen Arbeitsver-
trag, sondern eine Anmeldung als Selbstständige, und
arbeiten dann oft 12 bis 13 Stunden am Tag auf der Bau-
stelle. Häufig werden auch ihre Pässe eingezogen, und
die Entlohnung erfolgt erst ganz zum Schluss, falls über-
haupt, sodass die Menschen keine Chance haben, den
Missbrauch anzuzeigen.

Bisher wird dann in der öffentlichen Debatte darauf
verwiesen, dass das schwarze Schafe bei den Arbeitge-
bern seien, die einen solchen Missbrauch von entsand-
ten Arbeitnehmern betreiben. Es kann aber nicht sein,
dass wir sehenden Auges einen solchen Missbrauch in
unserem Land zulassen und uns dann darauf berufen,
dass das nur Einzelfälle seien. Es ist unsere Aufgabe als
Politiker, dafür zu sorgen, dass ein solcher Missbrauch
gar nicht erst geschieht! Denn jeder Mensch muss recht-
lich geschützt sein vor Ausbeutung.

Dazu gehört die Einführung von Beratungsbüros für
entsandte Beschäftigte. Hier leisten die Gewerkschaften
und insbesondere die dort angestellten mehrsprachigen
Berater eine hervorragende Arbeit, indem sie die ent-
sandten Beschäftigten über ihre Rechte aufklären und
sie in Fällen des Missbrauchs unterstützen. Wir brau-
chen aber auch mehr Aufsicht durch die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit sowie eine Generalunternehmerhaftung,
damit die Ketten von Subunternehmern, die oft bei Miss-
brauchsfällen von entsandten Arbeitnehmern involviert
sind, endlich für die Arbeitnehmer zu durchschauen sind
und es am Ende einen gibt, der für den Missbrauch haf-
tet.

All das reicht aber nicht aus, wenn wir nicht auch auf
europäischer Ebene vorankommen. Ich habe daher be-
reits im Juli 2010 hier dazu gesprochen, dass eine soziale
Revision der Entsenderichtlinie dringend notwendig ist.
Die Entsenderichtlinie muss wieder ihre ursprünglichen

Zu Protokoll gegebene Reden





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


Ziele erhalten, nämlich das Verhindern von Lohndum-
ping und die Schaffung von gleichen Löhnen und glei-
chen Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen
Ort. Leider gehen die Vorschläge der Kommission teils
in die falsche Richtung, teils reichen sie nicht aus.

Bei der Monti-II-Verordnung ist ein System herausge-
kommen, das Streiks diskreditiert. Es soll zum ersten
Mal ein EU-weiter Mechanismus geschaffen werden, mit
dem die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, Streiks, die
„das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmark-
tes schwerwiegend beeinträchtigen“, an andere betrof-
fene Mitgliedstaaten und die EU-Kommission zu mel-
den. Zum einen ist meiner Meinung nach ziemlich
unklar, was alles „das ordnungsgemäße Funktionieren
des Binnenmarktes beeinträchtigen“ kann. Zum anderen
ist unklar, was mit dieser Information dann geschehen
soll. Will die Kommission dann bewerten, ob ein Streik
verhältnismäßig ist? Für mich ist klar, dass das Streik-
recht nicht angetastet werden darf. Die Kommission täte
gut daran, die Monti-II-Verordnung zurückzunehmen
und neu mit der Arbeit zu beginnen, um festzulegen, dass
soziale Rechte und der Binnenmarkt zusammengehören
und eben nicht, wie es in der derzeitigen Fassung der
Verordnung geschieht, gegeneinander ausgespielt wer-
den. Es darf nicht sein, dass Wirtschaftsfreiheiten und
Wettbewerbsregeln über den sozialen Grundrechten ste-
hen. Ich fordere daher die Bundesregierung auf, bei den
Verhandlungen über die Verordnung eine klare Position
pro Streikrecht einzunehmen!

Der Richtlinienvorschlag zur besseren Durchsetzung
der Entsenderichtlinie ist so, wie er derzeit vorliegt, lei-
der ein zahnloser Tiger. In unserem Antrag, den wir
heute debattieren, fordern wir eine soziale Revision der
Entsenderichtlinie, damit diese Richtlinie sicheren
Schutz bietet, wenn es darum geht, Lohndumping und
Ausbeutung von entsandten Arbeitnehmern zu verhin-
dern. Die Durchsetzungsrichtlinie beschränkt sich je-
doch darauf, die Zusammenarbeit nationaler Behörden
besser zu regeln und eine Generalunternehmerhaftung
nur im Baugewerbe einzuführen. Das reicht bei weitem
nicht aus, um die Richtlinie wieder ihrem ursprüngli-
chen Ziel zuzuführen.

Zudem gibt es bei der Zusammenarbeit nationaler
Behörden einen Pferdefuß: Die Kontrollbefugnisse der
nationalen Behörden sollen eingeschränkt werden.
Wenn wir die Missbrauchsfälle sehen, die in Deutsch-
land passieren, und wenn wir mit den Menschen spre-
chen, die bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim
Zoll arbeiten, ist klar, dass wir mehr Kontrollen und
mehr Personal brauchen, aber definitiv nicht weniger
Kontrollrechte! Daher fordere ich die Bundesregierung
auf, die Einschränkung der Kontrollrechte der Finanz-
kontrolle Schwarzarbeit bei den Verhandlungen auf eu-
ropäischer Ebene zu verhindern und sich für eine echte
soziale Revision der Entsenderichtlinie anstatt der nun
vorliegenden Durchsetzungsrichtlinie einzusetzen, da-
mit das soziale Europa nicht nur in Sonntagsreden, son-
dern auch unter der Woche stattfindet.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1717229400

Endlich schließen wir die Debatte um den Antrag der

SPD ab. Ihr wesentliches Anliegen hat sich ja vollkom-
men erledigt. Die schwarz-gelbe Koalition hat eine gute
Regelung für die Zeitarbeit gefunden, die auch für aus
dem EU-Ausland entsandte Arbeitnehmer gilt. Hieran
zeigt sich einmal mehr der entscheidende Unterschied
zwischen der Regierungskoalition und der Opposition.
Das kann man ruhig so allgemein sagen, obwohl es sich
um einen SPD-Antrag handelt, weil die Grünen ohnehin
dem Ganzen zustimmen und die Linke trotz ihrer Enthal-
tung den Zielen ihres Antrags grundsätzlich und aus-
drücklich zugestimmt hat. Der Unterschied liegt einfach
darin, dass wir für Probleme angemessene Lösungen
finden und Sie jedes Problem dadurch bekämpfen wol-
len, dass Sie hektisch ein größeres Problem schaffen.
Mein Kollege Heinrich Kolb hat es Ihnen in der ersten
Lesung im Juli 2010 schon gesagt, und ich muss es noch
einmal wiederholen: Es ist nicht der Fall, dass das so-
ziale Europa durch die wirtschaftlichen Grundfreiheiten
bedroht sei oder an den Rand gedrängt würde. Und es
wäre falsch, vermeintlichen sozialen Schutz durch blan-
ken Protektionismus schaffen zu wollen.

Genau das möchte ich heute gerne noch einmal the-
matisieren. Denn was einen doch ziemlich stören muss,
ist der gesamte Ton, den Sie, liebe Opposition, im Vor-
feld der Arbeitnehmerfreizügigkeit für unsere östlichen
Partner angeschlagen haben. Erst einmal möchte ich
zum Abschluss der Debatte festhalten, dass die Arbeit-
nehmerfreizügigkeit eine wichtige Errungenschaft, ja
eine wichtige Freiheit ist, die wir alle durch die Europäi-
sche Union erhalten haben. Das ist die entscheidende
Botschaft. Besonders ärgerlich finde ich es da, wenn
zum Beispiel Sie, liebe Frau Pothmer, sich im November
2010 vor allem mit der Warnung vor einer osteuropäi-
schen Billigkonkurrenz zitieren ließen. Und in der Plen-
ardebatte im Juli 2010 sprachen Sie von „Sendboten des
Lohndumpings“. Ich muss sagen, diese arbeitsmarktpo-
litische Deutschtümelei von Ihnen habe ich damals für
völlig unangebracht gehalten und halte ich auch nach
wie vor für vollkommen unangebracht. So jedenfalls
schafft man keine Willkommenskultur.

Leider ist dies bei SPD und Linkspartei keinesfalls
besser gewesen. Sie beide haben das in diversen Vorla-
gen deutlich gemacht. Nicht umsonst hat die Zeitung
„Das Parlament“ – sozusagen unsere Hauszeitung,
liebe Kolleginnen und Kollegen – in ihrer Ausgabe vom
26. April 2011 festgehalten, dass die Arbeitnehmerfrei-
zügigkeit bei den Abgeordneten aller Oppositionspar-
teien vor allem ein „mulmiges Gefühl“ hinterlassen
würde. Schön, dass wir aus heutiger Sicht festhalten
können, dass sich die Bundesregierung und die sie tra-
genden Koalitionsfraktionen nicht durch diese Bauch-
schmerzen haben kirre machen lassen. Mit anderen Wor-
ten: Sie sind heute klüger, wir waren es schon damals.

Letztes Jahr schon hat das IAB einen Kurzbericht
vorgelegt. Und da heißt es: „Die Zuwanderung aus den
EU-8-Ländern ist nach den Angaben des Ausländerzen-
tralregisters seit Einführung der vollständigen Arbeit-
nehmerfreizügigkeit nur moderat gestiegen.“ Es ist also
das Gegenteil von dem passiert, was Sie immer behaup-

Zu Protokoll gegebene Reden





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


tet haben. Dagegen hat das IAB festgestellt, dass seither
die Beschäftigung aus den EU-8-Ländern deutlich stär-
ker zugenommen hat als die Zuwanderung. Das heißt,
dass eine Menge Menschen, die ohnehin schon bei uns
waren, nun eine Arbeit aufgenommen haben oder auch
aus einer Selbstständigkeit heraus eine Beschäftigung
begonnen haben. Übrigens haben die Forscher aus
Nürnberg nicht nur festgestellt, dass das von vielen an
die Wand gemalte Horrorszenario reiner Unfug gewesen
ist, sondern, dass vielleicht sogar eine andere Politik
hätte eingeschlagen werden müssen. Man hätte nicht un-
bedingt die volle Frist bei der Abschottung des deutschen
Arbeitsmarkts ausnutzen müssen. Das IAB jedenfalls
meint: „Angesichts des vergleichsweise hohen Qualifika-
tionsniveaus der jungen Kohorten aus den EU-8-Staaten
ist die geringe Zuwanderung aus diesen Ländern vermut-
lich ein erheblicher Verlust für die deutsche Volkswirt-
schaft.“

Aber gut, inzwischen ist ja eigentlich jedem klar, dass
Deutschland mehr gesteuerte Zuwanderung braucht, um
hochqualifizierte Fachkräfte ins Land zu locken. Ich bin
glücklich, dass meine Partei bei der Diskussion um die
Arbeitnehmerfreizügigkeit schon einmal ein gutes Bei-
spiel abgegeben und die Willkommenskultur gemehrt
hat. Die aktuellen Beschlüsse zur Bluecard begrüße ich
deswegen ausdrücklich. Sie sind der Einstieg in ein be-
darfsabhängig gesteuertes Zuwanderungssystem. Das
ist auch allemal wichtiger als Ihr Antrag, liebe SPD, den
wir guten Gewissens ablehnen werden.


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717229500

Bei der Entsenderichtlinie geht es an ganz zentraler

Stelle um die Rechte der europäischen Beschäftigten:
Die Entsendung von Beschäftigten über Grenzen hinweg
birgt die Gefahr von Lohndumping, wenn Beschäftigte
nach den Löhnen des Herkunftslandes bezahlt werden
und nach den dortigen Arbeitsbedingungen hier arbei-
ten.

Am Beispiel des Möbelriesen Ikea lässt sich das wun-
derbar darstellen: In dessen Europalager in Dortmund
wurde der Fall einer litauischen Logistikfirma bekannt.
Ihre Beschäftigten machen die Nachtschicht auf Werk-
vertragsbasis für 6,50 Euro die Stunde. Ikea spart sich
so die Nachtarbeitszuschläge und die höheren Tarif-
löhne, die regulär laut deutschem Tarifvertrag fällig wä-
ren.

Das könnte von der Bundesregierung eingedämmt
werden: zum einen durch die Ausweitung der Allgemein-
verbindlichkeit unserer Tarifverträge und zum anderen
durch einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von
10 Euro die Stunde. Es ist schlicht unglaublich, dass
Schwarz-Gelb hier beharrlich blockiert.

Entsendete Beschäftigte brauchen zudem eine gute
Beratung. Nur so können sie ihre Rechte auch einfor-
dern. Viele Beschäftigte, gerade aus Osteuropa, werden
zu gnadenlosem Lohndumping missbraucht. Es gibt Ar-
beitgeber, die sie systematisch um ihre Rechte und ihre
Löhne betrügen. Bisher werden diese Beschäftigten al-

lein vom Deutschen Gewerkschaftsbund beraten. Dieses
DGB-Projekt wird aber nur für drei Jahre gefördert –
was ist dann? Unternehmen aus anderen EU-Ländern,
die hier Dienstleistungen anbieten wollen, bekommen
schon seit Jahren eine großzügige, dauerhafte Bera-
tungsinfrastruktur zur Verfügung gestellt. Warum haben
das die Beschäftigten nicht? Beratung für entsandte Be-
schäftigte braucht es flächendeckend und auf Dauer.
Das ist doch sonnenklar!

Die Linke setzt darüber hinaus auf eine Revision der
Entsenderichtlinie. Wir wollen, dass das Prinzip „Glei-
cher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ auch in
der Europäischen Union volle Gültigkeit erlangt. Da-
durch kann Lohndumping zulasten der Beschäftigten
wirkungsvoll verhindert werden. Es darf Arbeitgebern
nicht länger erlaubt sein, Beschäftigte zu den Bedingun-
gen ihres Herkunftslandes zu entsenden, und es darf
auch nicht sein, dass für entsandte Beschäftigte nur die
absoluten Minimalbedingungen gelten.

Schließlich muss verhindert werden, dass die Entsen-
derichtlinie Streikrecht und Tarifverträge aushebelt. Die
Entsenderichtlinie definiert den Mindeststandard – wei-
tergehende Regelungen auf nationaler Ebene, die für die
Beschäftigten günstiger sind, müssen möglich sein.

Darüber hinaus ist auch eine Änderung der EU-Ver-
träge nötig, um zu verhindern, dass soziale Grundrechte
mit Verweis auf die Binnenmarktfreiheiten ausgehebelt
werden. Soziale Grundrechte müssen durch eine soziale
Fortschrittsklausel in den EU-Verträgen einen klaren
Vorrang vor den Freiheiten der Unternehmen bekom-
men. Es greift zu kurz, wenn die SPD fordert, soziale
Grundrechte sollen nur gleichrangig neben den Unter-
nehmensfreiheiten stehen.

Das sieht man am aktuellen Beispiel der Monti-II-
Verordnung. In dem letzte Woche von der EU-Kommis-
sion vorgelegten Vorschlag wird das Streikrecht nach
dem Gleichrangigkeitsprinzip wie folgt geregelt: Streiks
sollen demnach nur gestattet sein, wenn sie verhältnis-
mäßig sind. Arbeitgeber könnten dies in Zukunft bei Ge-
richt prüfen lassen. Gewerkschaften müssten künftig bei
Streikaktionen mit dem Risiko von Schadenersatzforde-
rungen rechnen, die ihre Existenz bedrohen. Wir lehnen
das ab.

Ich frage Sie: Wird künftig das Grundrecht auf Unter-
nehmensfreiheit auch anfechtbar? Wird in Zukunft das
Verhalten eines Unternehmens in Europa per Gericht
auf Verhältnismäßigkeit geprüft und im Zweifelsfall ein-
geschränkt? Nein, ich fürchte, das wird es nicht geben.

Die sogenannte Gleichrangigkeit ist daher in Wahr-
heit eine massive Einschränkung des Streikrechts von
Beschäftigten und Gewerkschaften. Um dies zu verhin-
dern, braucht es eben den Vorrang von sozialen Grund-
rechten. Dieser Vorrang fehlt leider im Antrag der SPD.

Die Linke sagt hingegen: Soziale Grundrechte müs-
sen Vorrang haben. Wir machen eine klare Politik: Men-
schen vor Profite!

Zu Protokoll gegebene Reden






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(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nur ein soziales Europa schafft Vertrauen. Aber ge-
nau dieser notwendige soziale Aspekt von Europa wurde
durch eine Reihe von Urteilen des Europäischen Ge-
richtshofs zu den Regelungen in der 1996 beschlossenen
Entsenderichtlinie infrage gestellt. Der EuGH hat in den
Rechtssachen Viking, Laval und Rüffert einen Vorrang
der Dienstleistungsfreiheit vor einschlägigen Bestim-
mungen zu den Arbeitsbedingungen im Gaststaat er-
kannt. Die Interpretation, dass die Entsenderichtlinie
Maximalstandards anstelle von Minimalstandards ent-
hält und eine Unterordnung sozialer Kriterien unter
wirtschaftliche Freiheiten, können wir nicht akzeptieren.
Streikrecht, Tarifautonomie und Arbeitnehmerschutz
müssen gewahrt bleiben und dürfen nicht gegen andere
Freiheiten abgewogen werden. Wir fordern daher – wie
die Gewerkschaften in Europa auch – eine soziale Fort-
schrittsklausel und eine Überarbeitung der Entsende-
richtlinie.

Am vergangenen Mittwoch hat nun die Europäische
Kommission mit dem Entsendepaket zwei Vorschläge öf-
fentlich gemacht, wie die angemahnte soziale Dimen-
sion in Europa gestärkt werden soll. Das Ergebnis ist
aber enttäuschend und bleibt hinter den Erwartungen
zurück. Kommissionspräsident Barroso hatte dem Par-
lament im Vorfeld seiner Wiederwahl versprochen, dass
er die Probleme beheben wird, die mit den Entscheidun-
gen des Europäischen Gerichtshofs im Rahmen der Ent-
senderichtlinie entstanden sind. Die vorliegenden Vor-
schläge aber sind genau das Gegenteil, denn bereits
jetzt werden zwei neue Angriffe auf die sozialen Rechte
der Beschäftigten offenkundig.

Erstens. Die sogenannte Monti-II-Verordnung sollte
eigentlich das Streikrecht wahren und nationale Rechts-
vorschriften unberührt lassen. Fakt ist aber, dass das
Streikrecht gegen wirtschaftliche Freiheiten abgewogen
werden soll. Eine Art Verhältnismäßigkeitsprüfung zwi-
schen einem sozialen Grundrecht und wirtschaftlichen
Interessen darf und kann es nicht geben. Damit würde
das Streikrecht infrage gestellt und in der Folge die
Rechte der Beschäftigten geschwächt. Ein soziales Eu-
ropa geht anders.

Zweitens. Der Vorschlag zur Durchsetzung der Ent-
senderichtlinie listet eine Reihe von Kontrollmaßnah-
men auf, die die Mitgliedstaaten durchführen können,
um die Einhaltung von Arbeits- und Entlohnungsstan-
dards zu gewährleisten. Darüber hinausgehende Maß-
nahmen – und hier liegt das Problem – sollen nicht mehr
möglich sein. Für Deutschland bedeutet das konkret:
Die Kontrollbefugnisse der nationalen Behörden wür-
den eingeschränkt. Die bewährte Kontrolle des Zolls vor
Ort in den Betrieben wäre in dieser Form nicht mehr
möglich. Der Kampf gegen Schwarzarbeit und
Lohndumping muss aber gestärkt werden und darf nicht
ans Gängelband europäischer Regelungen genommen
werden.

Die Bundesregierung ist also aufgefordert, sich in
den weiteren Verhandlungen auf EU-Ebene und im Rat
vehement für Veränderungen einzusetzen und Ein-

schnitte beim Streikrecht und bei den nationalen Kon-
trollbefugnissen zu verhindern. Sie darf nicht zulassen,
dass weitere nationale Standards infrage gestellt wer-
den. Sie muss bei den Verhandlungen in Brüssel einen
klaren Kurs zur Bewahrung und Stärkung der Arbeit-
nehmerrechte vertreten. Denn das deutsche Sozialmo-
dell ist ein hohes Gut, das es zu bewahren und auszu-
bauen gilt, anstatt sinnvolle Regelungen über Bord zu
werfen.

Die Bundesregierung muss aber auch zu Hause ihre
Hausaufgaben erledigen. Es muss endlich eine Mindest-
lohnregelung auf den Tisch. Wir brauchen Vereinfachun-
gen im Verfahren für mehr branchenspezifische Min-
destlöhne und für mehr allgemeinverbindlich erklärte
Tarifverträge. Die nationale Kontrollbehörde, Finanz-
kontrolle „Schwarzarbeit“, muss personell und mate-
riell gestärkt werden. Das Prinzip von gleichem Lohn
für gleiche Arbeit am gleichen Beschäftigungsort muss
effektiv umgesetzt werden. Die in Deutschland geltenden
und unter den Tarifparteien ausgehandelten Mindestar-
beitsbedingungen in Bezug auf Ruhezeiten, Urlaubs-
tage, Arbeitsschutzvorschriften dürfen durch die Anwen-
dung der Entsenderichtlinie nicht unterlaufen werden.

Viele berechtigte Forderungen, die wir Grünen im
Bereich der Arbeitnehmerrechte haben, sind im vorlie-
genden Antrag der SPD aufgegriffen. Sie sind auch vor
dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen nach wie
vor gültig und wichtig. Wir werden dem Antrag daher
zustimmen; denn nur ein soziales Europa schafft Ver-
trauen und Gerechtigkeit.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717229600

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/4755, den Antrag der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/1770 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ange-
nommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Vorschlag für
eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates über die Konzessionsvergabe
KOM(2011) 897 endg.; Ratsdok. 18960/11

– Drucksachen 17/8515 Nr. A.36, 17/9069 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Nink

Auch hier nehmen wir die Reden, wie in der Tages-
ordnung ausgewiesen, zu Protokoll.


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1717229700

„Und wöchentlich grüßt die Konzessionsrichtlinie“ –

so könnte man in Abwandlung des mittlerweile fast zum
Klassiker gewordenen Filmtitels „Und täglich grüßt das





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


Murmeltier“ bei dem heute wieder einmal vorliegenden
Tagesordnungspunkt sagen. Dabei sind alle Argumente,
vor allem die gegen den Richtlinienentwurf, längst aus-
getauscht und bekannt, die Frontlinie gegen den Vor-
schlag steht auf nationaler wie auf europäischer Ebene
wie selten in großer, überparteilicher Einigkeit – mit ei-
ner kleinen Ausnahme: Das FDP-geführte Bundeswirt-
schaftsministerium und damit leider auch unser Koali-
tionspartner, die FDP-Bundestagsfraktion, können sich
mit der breiten Mehrheitsmeinung im Deutschen Bun-
destag, im Bundesrat, ja auch im Europäischen Parla-
ment sowie bei allen kommunalen Spitzenverbänden und
sämtlichen kommunalen Wirtschaftsverbänden nicht an-
freunden und zeigen sich dem Vorschlag der EU-Kom-
mission gegenüber zumindest offen, wenn nicht gar
hörig. Das hat unsere Debatte um einen Entschließungs-
antrag zu dem Richtlinienentwurf einer EU-weiten Kon-
zessionsvergabe deutlich gezeigt – bedauerlicherweise.

Die von der SPD als Antrag vorgelegte Subsidiari-
tätsrüge hätte ich inhaltlich – das muss ich deutlich
sagen – gerne unterstützt; ebenso im Inhalt den Antrag
der Grünen, die Bundesregierung dazu anzuhalten, die
Richtlinie im Rahmen ihrer Verhandlungen in Brüssel zu
kippen. Mittlerweile hat der Bundesrat am 2. März 2012
eine Subsidiaritätsrüge nach Art. 6 des Protokolls Nr. 2
des Vertrags von Lissabon beschlossen. Ich glaube, da
sitzen auch noch einige Länderkollegen aus der FDP
mit drin. Warum sehen die das offenbar anders als die
Kollegen in ihrer Bundestagsfraktion?

Mit Rücksicht auf unseren Koalitionspartner haben
wir im Wirtschaftsausschuss den ursprünglich von CDU/
CSU formulierten, Ihnen in der Drucksache 17/9069 vor-
liegenden, von den FDP-Kollegen aber deutlich abge-
schwächten Entschließungsantrag angenommen, in dem
die Bundesregierung im Ergebnis lediglich „ersucht“
wird, „bei ihren Verhandlungen im Europäischen Rat
darauf hinzuwirken, dass in dem Richtlinien-Vorschlag
zur Vergabe von Dienstleistungskonzessionen den be-
sonderen Belangen insbesondere der Wasserversorgung
... Rechnung getragen wird.“

Allerdings hat die Wasserwirtschaft „besondere Be-
lange“. Wenn es um so sensible und lebensnotwendige
Bereiche wie die Trinkwasserversorgung, die Abwasser-
entsorgung oder auch die Rettungsdienste geht, dann ist
bei mir die Diskussion um die Frage einer EU-weiten
Ausschreibung schnell beendet.

Die im internationalen Vergleich qualitativ herausra-
gende Trinkwasserversorgung in Deutschland ist das
beste Beispiel, dass im Sinne des Subsidiaritätsprinzips
auf kommunaler Ebene ein nicht nur funktionsfähiges,
sondern ausgezeichnetes Versorgungssystem aufrecht-
erhalten wird – auch ohne Vorschriften aus Brüssel.
Vordergründig argumentiert die Kommission, mehr
Transparenz und Wettbewerb auf den öffentlichen Be-
schaffungsmärkten herstellen, den Binnenmarkt voran-
treiben und mehr Rechtssicherheit schaffen zu wollen.
Die FDP-Kollegen lesen in der Begründung der Kom-
mission nur „mehr Wettbewerb“ und schreien Hurra. Ist
mehr künstlich erzeugter Wettbewerb aber immer ein
Hurra? Ich bezweifele das: Nehmen wir doch die ge-

plante Verschärfung des Vergaberechts im Bereich der
Trinkwasserversorgung her: Eine EU-weite Ausschrei-
bungspflicht sorgt eben nicht für mehr Transparenz, son-
dern für mehr Bürokratie, weil höherer Verwaltungsauf-
wand, und damit für höhere Kosten für die Verbraucher.

Und nicht nur das: Die europaweit führende Trink-
wasserqualität in Deutschland wird doch nicht gerade
dadurch gesichert, dass ein griechisches Wasserunter-
nehmen den Zuschlag für die Wasserversorgung zum
Beispiel in Freiburg, in St. Peter-Ording, in Wismar
oder in Leverkusen erhält und dann von Athen aus die
Trinkwasserqualitätskriterien in Deutschland überwa-
chen soll. Meinen Sie, das funktioniert in allen Fällen so
gut wie bisher? Gerade bei der Wasserversorgung kann
man doch nicht von grenzüberschreitendem Dienstleis-
tungsverkehr sprechen!

Gerade weil unsere Kommunen die Gestaltungsho-
heit über die Trinkwasserversorgung für ihre Einwohner
vor Ort haben und damit im Sinne einer besonderen Für-
sorgepflicht für „ihre“ Bürger besonders auf ein Topni-
veau des Trinkwassers achten, haben wir in Deutschland
einen europaweit führenden Qualitätsstandard des
Trinkwassers. Wollen wir dieses über Jahrzehnte erar-
beitete Topniveau wegen dieser fadenscheinigen Argu-
mente der EU-Kommission wieder aufgeben?

Ebenso bei Rettungsdienstleistungen: Sollen denn
Rotes Kreuz, Johanniter, Malteser, Arbeiter-Samariter-
Bund oder die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft
ihre Rettungsdienstleistungen und ihre Alten- und Be-
hindertentransporte an einen rumänischen Bewerber
abgeben, der nach den Vergabekriterien den Zuschlag
erhalten hat? Dann haben Sie Ihren totalen Wettbewerb,
werte Freunde der FDP. Hurra? Ich weiß nicht …

Der jetzt vorliegende Richtlinienvorschlag ist aus
mehreren Gründen überflüssig, ja kontraproduktiv für
uns alle. Mit einem solchen Rechtsakt würde der Gestal-
tungsspielraum unserer Kommunen – auch wenn von der
Kommission anders behauptet – erheblich eingeschränkt.
Dienstleistungskonzessionen haben – wie die Grünen in
ihrem Antrag richtig schreiben – lange Laufzeiten. Das
liegt in der Natur der Sache. Die Laufzeiten der Konzes-
sion können die Konzessionsgeber, also die Kommunen,
mit dem Konzessionsnehmer nach geltendem Recht ver-
traglich frei bestimmen. Mit der vorgelegten Richtlinie
wäre damit Schluss. Es würden bestimmte Laufzeiten
EU-rechtlich festgelegt.

Erschwerend kommt hinzu: Im Rahmen eines solchen
EU-weiten Vergabeverfahrens könnten alle sich benach-
teiligt fühlenden Mitbewerber aus dem EU-Raum gegen
die Vergabe dieser oder jener Konzession klagen. Damit
könnte eine Flut von Klagefällen auf die Vergabekam-
mern und auf unsere Städte und Gemeinden zukommen.
Die Dienstleistungskonzessionen wären also faktisch
vollständig dem Vergaberecht unterworfen. Unsere
Kommunen wären damit an enge Ketten gelegt – und das
bei so unverzichtbaren Aufgaben wie der Wasserversor-
gung, der Abwasserentsorgung oder bei so fundamenta-
len Gesundheitsdienstleistungen wie Rettungsdiensten.
Das ist und bleibt falsch und wäre nicht nur in meinen
Augen unverantwortlich.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Georg Nüßlein


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(D)(B)


In der Begründung der von der SPD vor kurzem vor-
gelegten Subsidiaritätsrüge erkennt die Fraktion „das
Bestreben der Kommunen an, effiziente, kundenorien-
tierte und wettbewerbsfähige kommunale Unternehmen
und Einrichtungen zu betreiben“. Da kommunale Unter-
nehmen an das Örtlichkeitsprinzip gebunden sind, sind
sie tatsächlich in ihrer Existenz gefährdet, wenn finanz-
starke Unternehmen oder Investoren aus dem EU-Aus-
land die ausschreibungspflichtigen Konzessionen über-
nehmen und das örtliche Unternehmen die Konzession
verlieren würde. Das kann uns doch nicht egal sein!

Es geht mir nicht um patriotischen Protektionismus
unserer kommunalen Unternehmen oder um Rekommu-
nalisierung als Prinzip, wie es von linker Seite gerne be-
trieben wird, sondern um die Aufrechterhaltung unserer
fundamentalen Grundgüterversorgung. Das ist die Ba-
sis, auf der unsere Diskussion fußen sollte; die meisten
Fraktionen haben das ja auch erkannt. Eine Subsidiari-
tätsrüge des Deutschen Bundestages hätte hier noch ein
weiteres, wichtiges Ausrufezeichen gesetzt. Aber libe-
rale Kräfte haben daraus ein Fragezeichen geformt.
Schade.

Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat nachvollziehba-
rerweise bislang auf sekundärrechtliche Regelungen der
Vergabe von Dienstleistungskonzessionen verzichtet.
Wieder verweise ich an dieser Stelle auf die bisherige
Rechtsprechung des EuGH: Danach gelten im Vergabe-
recht schon jetzt die aus den Grundfreiheiten des Ver-
trags über die Arbeitsweise der EU abzuleitenden pri-
märrechtlichen Grundsätze der Gleichbehandlung und
der Transparenz. Ein besonderer Regelungsbedarf für
Dienstleistungskonzessionen ist nach dem EuGH also
nicht erforderlich. Dazu darf ich aus dem Urteil des Ge-
richts vom 10. März 2011 zitieren. Hier heißt es:

„Es ist hinzuzufügen, dass Verträge über Dienst-
leistungskonzessionen beim gegenwärtigen Stand des
Unionsrechts zwar von keiner der Richtlinien erfasst
werden, mit denen der Unionsgesetzgeber das öffentli-
che Auftragswesen geregelt hat, die öffentlichen Stellen,
die solche Verträge schließen, aber gleichwohl verpflich-
tet sind, die Grundregeln des AEU-Vertrags, insbeson-
dere die Art. 49 AEUV und 56 AEUV, sowie die daraus
fließende Transparenzpflicht zu beachten, wenn … an
dem betreffenden Vertrag ein eindeutiges grenzüber-
schreitendes Interesse besteht.“

Gegen einen wie jetzt vorgelegten Rechtsakt spricht
sich auch das Europäische Parlament unter anderem in
seinem am 18. Mai 2010 beschlossenen Initiativbericht
zum Vergaberecht, dem sogenannten Rühle-Bericht, aus.
Vielmehr sollten die Kommunen nach Auffassung des
Europäischen Parlaments nach Maßgabe der aktuellen
Rechtsprechung des EuGH zusammenarbeiten.

So auch der Bundesrat, der in seinem Beschluss vom
12. Februar 2010 an die Kommission appelliert – ich zi-
tiere –, „den Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten,
Regionen und lokalen Gebietseinheiten nicht durch le-
gislative Eingriffe einzuschränken“, was „insbesondere
auf Dienstleistungskonzessionen gerichtete Regulie-
rungsbestrebungen der Kommission“ gemünzt ist. Diese
Haltung hat der Bundesrat in seinem Beschluss vom

11. Februar 2011 bekräftigt. Hier hat der Bundesrat mit
Blick auf Art. 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der
EU besonders auf das Selbstverwaltungsrecht der Kom-
munen verwiesen. Ich zitiere:

„Im Vertrag von Lissabon wird das Selbstverwal-
tungsrecht der Kommunen anerkannt. Vor allem im Inte-
resse der Kommunen ist daher darauf zu achten, dass
die EU ihre Regelungskompetenz betreffend Dienstleis-
tungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nicht
zu Steuerungszwecken einsetzt und versucht, für den
sensiblen Bereich der Daseinsvorsorge eigene Quali-
täts- und Sozialstandards einzuführen. Die Daseinsvor-
sorge muss im Entscheidungsbereich der Mitgliedstaa-
ten und dort insbesondere der Kommunen verbleiben.
Nur so kann auch dem Subsidiaritätsgedanken Rech-
nung getragen werden.“ Die schon genannte, jüngst am
2. März 2012 beschlossene Subsidiaritätsrüge des Bun-
desrates spricht in diesem Sinne für sich.

Ich hatte mich zu diesem Thema in den letzten Mona-
ten, ja Jahren, bereits mehrfach an die Bundesregierung
gewandt, bevor die Kommission dann doch einen Richt-
linienentwurf auf den Tisch gelegt hat. In ihren Antwor-
ten haben mir der frühere Bundeswirtschaftsminister
Rainer Brüderle, sein Nachfolger Dr. Philipp Rösler und
der zuständige Staatssekretär Dr. Bernhard Heitzer im-
mer wieder versichert, dass der Gestaltungsspielraum
der Kommunen auch mit einer solchen Richtlinie erhal-
ten bleibe, denn die Kommunen könnten ja weiterhin
selbst darüber entscheiden, ob sie Leistungen der
Daseinsvorsorge wie die Wasserversorgung selbst er-
bringen oder Dritte – natürlich unter Beachtung des
Vergaberechts – damit beauftragen. So hat auch
EU-Kommissar Michel Barnier mir gegenüber geant-
wortet – um dann doch einen Richtlinienvorschlag vor-
zulegen.

Was können wir nationale Parlamentarier dann also
tun, wenn der Entwurf dann doch vorliegt? Ein von mir
initiierter und von CDU/CSU intern so beschlossener
Entschließungsantrag hatte auch den Auftrag an die
Bundesregierung, die Richtlinie in Brüssel ganz zu ver-
hindern oder wenigstens Ausnahmeregelungen für so
sensible Bereiche wie die Wasserversorgung oder Ret-
tungsdienste zu schaffen. Was aus unserem Antragsent-
wurf geworden ist, können Sie in der Beschlussempfeh-
lung und in dem Bericht, die wir heute als Drucksache
17/9069 debattieren, nachlesen. Das ist politisch enttäu-
schend und in der Sache fahrlässig, wenn nicht gefähr-
lich. Wenn sich Teile einer kleinen Fraktion und eine
Reihe von Ministerialbeamten gegen den „Rest“ des
Parlaments, gegen die Länder, gegen die Kommunen,
gegen die kommunalen Spitzen- und Wirtschaftsver-
bände, gegen die Mehrheit des Europäischen Parla-
ments und gegen die Intentionen der bisherigen Recht-
sprechung stellen, dann müssen sich unsere Freunde von
der FDP schon deutlicher erklären als bisher.


Manfred Nink (SPD):
Rede ID: ID1717229800

Der Vorschlag der Europäischen Kommission für

eine Konzessionsrichtlinie steht heute ein weiteres Mal
auf der Tagesordnung des Bundestages. Die geplante

Zu Protokoll gegebene Reden





Manfred Nink


(A) (C)



(D)(B)


Richtlinie ist vor allem für unsere Städte, Kreise und Ge-
meinden von großer Bedeutung, denn sie ist in erster
Linie ein Angriff auf die kommunale Selbstverwaltung.

Das hat meine Fraktion bereits vor vier Wochen mit
dem Antrag einer Subsidiaritätsrüge im Bundestag zum
Ausdruck gebracht. Die SPD hat sich damit für die
Kommunen und die kommunalen Unternehmen stark
gemacht.

Sehr geehrte Damen und Herren von CDU, CSU und
FDP, nur aus Koalitionsdisziplin haben Sie unseren
Antrag abgelehnt. Das hat der Kollege Nüßlein in der
Debatte am 1. März mit seiner Rede, die er zu Protokoll
gegeben hat, sehr deutlich gemacht. Kollege Nüßlein,
ich danke Ihnen für diese offenen Worte über den aktuel-
len Gemütszustand der Koalition.

Immerhin konnten Sie, sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen der Koalition, sich im Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie zu einem Entschließungsantrag durch-
ringen, der Teil der Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses ist. Mit diesem bleiben Sie aber hinter den Forderun-
gen der Opposition zurück. Anders als wir haben Sie
keine grundsätzlichen Probleme damit, dass eine solche
Konzessionsrichtlinie kommen soll.

So schreiben Union und FDP in ihrem Entschlie-
ßungsantrag wörtlich: „Ordnungspolitisch ist es sinn-
voll, Konzessionen aufgrund ihres wirtschaftlichen
Potentials in einem transparenten und von Wettbewerb
geprägten Markt zu vergeben. Ob die von der Europäi-
schen Kommission anvisierten Ziele mit dem vorgeleg-
ten Richtlinienentwurf erreicht werden können, bedarf
einer eingehenden Prüfung und Diskussion.“

Lassen Sie uns diese Diskussion gerne führen. Die
Aushöhlung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts
und der Versuch, die Wasserwirtschaft in Europa durch
die Hintertür zu liberalisieren, waren bereits Teil der
Kritik der Subsidiaritätsrüge der SPD. Die SPD-Bun-
destagsfraktion lehnt insbesondere einen Gesetz-
gebungsakt im Bereich der Dienstleistungskonzessionen
ab. Diese sind durch die Prinzipien des Primärrechts
und die gültige Rechtsprechung ausreichend geregelt.
Die Argumente der SPD und der anderen Oppositions-
parteien in diesem Bereich sollten hinlänglich bekannt
sein. Ich möchte mich hier deshalb nicht wiederholen,
sondern lieber auf weitere wichtige Kritikpunkte am
Richtlinienentwurf hinweisen.

Die Europäische Kommission hat als Ziel formuliert,
mehr Rechtssicherheit mit dieser Richtlinie schaffen zu
wollen. Ich habe meine Zweifel, dass das gelingen kann.
Der Kommissionsvorschlag ist sehr komplex. Er ist zu
komplex, geht zu weit und ist in Teilen auch ungenau.
Meine Kritik bezieht sich dabei unter anderem auf die
Laufzeitregelung, aber vor allem auch auf den gesamten
Bereich der interkommunalen Zusammenarbeit und der
Inhouse-Vergabe. Hier müsste die Kommission viel deut-
licher machen, dass solche Fälle von der Richtlinie nicht
erfasst werden. Es darf hier nicht zu einer Verschärfung
kommen, die die Handlungsmöglichkeiten der öffent-
lichen Stellen weiter einschränken würde. Wir Sozial-
demokraten wollen im Gegenteil die interkommunale

Zusammenarbeit stärken und halten das auch mit Blick
auf unsere bestehenden deutschen Strukturen für den
richtigen Weg.

Weitere Ziele, die die Europäische Kommission mit
dieser Richtlinie verfolgt, sollen eine Vereinfachung des
Vergaberechts und größere Transparenz sein. Der
geplante massive Aufbau von Bürokratie muss dabei
unweigerlich auf Kritik stoßen. Die Europäische Kom-
mission fordert stets und ständig den Abbau von Büro-
kratie. Mit ihrem Vorschlag bezweckt sie jedoch genau
das Gegenteil. Die Bekämpfung von Korruption im
Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe ist ein wichti-
ges Ziel. Und auch die Herstellung von Transparenz ist
wichtig. Aber Meldungen, Statistiken und Berichte sind
sicherlich nicht Teil eines Bürokratieabbauprogramms.
Weder für die öffentlichen Auftraggeber noch für die
Auftragnehmer wird das Verfahren dadurch erleichtert.
Das passt also hinten und vorne nicht zusammen.

Diskussionswürdig ist aus meiner Sicht außerdem die
Frage der Ausnahmen vom Anwendungsbereich der
Richtlinie. Im Entschließungsantrag von CDU/CSU und
FDP heißt es – ich zitiere –: „Die strukturellen Auswir-
kungen der Richtlinie auf bestimmte Bereiche staat-
lichen Handels und einzelne Branchen, darunter ins-
besondere auch auf die Wasserversorgung, sind zu
bedenken.“

Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition,
muss die Forderung nicht vielmehr lauten, die Wasser-
wirtschaft vom Anwendungsbereich der Richtlinie gänz-
lich auszunehmen? Das wäre meiner Meinung nach eine
konsequentere Haltung und eine Forderung mit Sub-
stanz. Warum trauen Sie sich nicht, die Bundesregierung
mit dieser eindeutigen Position des Bundestages zu den
Verhandlungen nach Brüssel zu schicken? Das müssen
Sie erklären.

Und wo wir schon bei Ausnahmen für einzelne Bran-
chen sind, möchte ich einen weiteren Bereich nennen,
der unbedingt in den Ausnahmekatalog gehört: die Ret-
tungsdienste. Die Organisation des Rettungsdienstes ist
Ländersache. Und da ist der Rettungsdienst gut aufge-
hoben. Wir brauchen keine Ausschreibungspflichten für
Dienstleistungskonzessionen in diesem Bereich. Es geht
um die innere Sicherheit und den Katastrophenschutz.
Eine Kommerzialisierung ist der falsche Weg. Kosten-
drückerei zulasten der Qualität können wir uns hier
nicht erlauben. Es sind die vielen ehrenamtlichen
Kräfte, die durch ihr unermüdliches Engagement die
hohe Qualität der Rettungsdienste vor Ort sichern. Die
wichtige Stütze des Ehrenamtes wäre mit der Richtlinie
infrage gestellt. Ein System, das dem Ehrenamt vertraut
und ihm eine breite Anerkennung in der Bevölkerung
verleiht, würde kaputtgemacht.

Das alles sind Punkte, an denen die Bundesregierung
dringend Nachbesserungen und Ausnahmeregelungen in
Brüssel durchsetzen muss, wenn sie sich nicht in der
Lage sieht, die Konzessionsrichtlinie komplett abzuleh-
nen und zu verhindern.

An dieser Stelle muss ich mich dann doch wiederho-
len: Die SPD-Bundestagsfraktion sieht durch die Richt-

Zu Protokoll gegebene Reden





Manfred Nink


(A) (C)



(D)(B)


linie die Prinzipen der Subsidiarität und der Verhältnis-
mäßigkeit verletzt. Insbesondere die Regelungen zur
Ausschreibungspflicht für Dienstleistungskonzessionen
sind vollkommen unnötig und ein Angriff auf das Recht
der kommunalen Selbstverwaltung.


Ursula Lötzer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717229900

Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, die Ver-

gabe von Dienstleistungskonzessionen durch eine Richt-
linie der EU zu regeln. Das sehen nicht nur wir so. Es
gibt eine breite Front gegen diese Richtlinie: von den
Kommunalverbänden aus Deutschland, Frankreich und
Österreich über den DGB bis hin zum Bundesverband
der Energie- und Wasserwirtschaft. Und auch der Bun-
desrat und das Europäische Parlament haben diese
Richtlinie abgelehnt. Ich will hier nur mal das Europäi-
sche Parlament zitieren, das erklärt, „dass ein Vor-
schlag für einen Rechtsakt über Dienstleistungskonzes-
sionen nur dann gerechtfertigt wäre, wenn durch ihn
etwaige Verzerrungen beim Funktionieren des Binnen-
markts abgestellt würden“. Da diese bisher noch nicht
festgestellt worden seien, sei ein Rechtsakt über Dienst-
leistungskonzessionen folglich auch nicht notwendig.

Und viele Kolleginnen und Kollegen der Union sehen
das doch genauso, wenn sie ehrlich sind. Das war schon
eine interessante Beratung im Wirtschaftsausschuss. In
der ersten Version des Entschließungsantrags hatte die
Koalition die Bundesregierung noch aufgefordert, „bei
ihren Verhandlungen im Europäischen Rat darauf hinzu-
wirken, dem Richtlinien-Vorschlag zur Vergabe von
Dienstleistungskonzessionen keine Abstimmungsmehr-
heit zu verschaffen bzw. zumindest darauf hinzuwirken,
dass der sensible Bereich der Wasserversorgung aus
einer solchen Regelung ausgenommen bleibt.“ Dem hät-
ten wir gerne zugestimmt. Doch leider haben Sie diesen
Antrag zurückgezogen und in der neuen Version ihres
Entschließungsantrags auf die Ablehnung des Richt-
linienvorschlags verzichtet. Wenn die Union da nicht
schon wieder einmal vor der FDP und ihrem Wirt-
schaftsminister eingeknickt ist!

Energie-, Wasserversorgung und Abwasserentsor-
gung sind grundlegende Aufgaben der Daseinsvorsorge.
Die Koalition weist in ihrem Antrag im Ausschuss zu
Recht darauf hin, „dass der hohe und europaweit füh-
rende Qualitätsstandard des Trinkwassers in Deutsch-
land letztlich auf die von den Kommunen verantwortete
Wasserversorgung und Abwasserentsorgung zurückzu-
führen“ ist. Bei einer europaweiten Ausschreibung sei
zu befürchten, „dass die Qualität dieser Versorgung zum
Nachteil der Verbraucher signifikant sinkt“. Trotz dieser
Analyse verlangt die Koalition jetzt nur noch, „dass in
dem Richtlinien-Vorschlag den besonderen Belangen,
insbesondere der Wasserversorgung Rechnung getra-
gen“ werden soll. Das ist vor dem Hintergrund, dass es
um elementaren Belange geht gelinde gesagt eine arm-
selige Formulierung.

Tatsache ist, dass die Vergabe von Dienstleistungs-
konzessionen durch das bestehende Primärrecht der EU
und die ständige Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofes hinreichend rechtssicher geregelt ist. Es

ist nicht angemessen, mit dieser Richtlinie die Gestal-
tungsspielräume der Kommunen einzuschränken und im
Bereich der Daseinsvorsorge eine Dienstleistungskon-
zessionspflicht einzuführen. Ich freue mich, dass dies
alle Oppositionsfraktionen so sehen und wir einen
gemeinsamen Antrag in den Ausschuss dazu einreichen
konnten.

Prinzipiell muss der Nutzen von Öffentlich-Privaten-
Partnerschaften grundsätzlich hinterfragt werden.
Meistens wird die Dienstleistung teurer und schlechter,
zulasten der Bürgerinnen und Bürger. Die Gewinne wer-
den privatisiert, die Kosten verbleiben bei der öffent-
lichen Hand. Deshalb fordern wir die Bundesregierung
weiterhin auf, sich im Europäischen Rat gegen eine
Richtlinie für Dienstleistungskonzessionen auszuspre-
chen.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717230000

Die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen ist der-

zeit bewusst vom Anwendungsbereich des EU-Vergabe-
rechtes ausgenommen. Sie sind, im Gegensatz zu der
öffentlichen Beschaffung, auch nicht in den internatio-
nalen Verträgen fixiert. Durch das bestehende Primär-
recht der Europäischen Union, also Gleichbehandlung,
Nichtdiskriminierung und Transparenz und die ständige
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes hierzu,
sind Dienstleistungskonzessionsvergaben hinreichend
rechtssicher geregelt. So sieht es auch der Europäische
Gerichtshof selbst. Die EU-Kommission hatte am
20. Dezember 2011 ihre Vorschläge zur Modernisierung
des öffentlichen Vergaberechts vorgelegt. In diesem Ge-
samtpaket unterbreitet die Kommission auch einen um-
fänglichen Richtlinienvorschlag zur Vergabe von Kon-
zessionen, der in das Selbstverwaltungsrecht der
Kommunen eingreift und unseres Erachtens nicht ver-
hältnismäßig ist. Hier wird auf 98 Seiten bürokratisch
geregelt, was in der Praxis schon jetzt gut funktioniert.
Darüber hinaus beschränkt sich der vorgelegte Vor-
schlag der Kommission nicht darauf, die Rechtspre-
chung des Europäischen Gerichtshofes umzusetzen, son-
dern geht weit darüber hinaus.

Die Kommission begründet ihren Rechtsetzungsvor-
schlag damit, dass die bisherige Regelungslücke
schwerwiegende Verzerrungen des EU-Binnenmarkts
zur Folge habe. Allerdings sind in den Bereichen Infra-
struktur und Daseinsvorsorge, auf die der Vorschlag
zielt, schwerwiegende Wettbewerbsverzerrungen oder
eine Marktabschottung, die eine solche Regulierung ge-
gebenenfalls erfordern würden, bislang nicht erkennbar
und von der EU-Kommission auch nicht nachgewiesen
worden. Ähnliche Bewertungen haben aktuell der Bun-
desrat am 2. März 2012 und das Europäische Parlament
sogar mehrmals, so zum Beispiel im Bericht „Neue Ent-
wicklungen im öffentlichen Auftragswesen“ vom
18. Mai 2010 sowie im Bericht „Über die Modernisie-
rung im Bereich des öffentlichen Auftragswesens“ vom
25. Oktober 2011, abgegeben.

Im Bereich der Dienstleistungskonzessionsvergabe
besteht keine Notwendigkeit einer weiteren Verrechtli-
chung mit den entsprechenden bürokratischen Belastun-

Zu Protokoll gegebene Reden





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)


gen für öffentliche Auftraggeber und Unternehmen. Da-
rüber hinaus wird die Gestaltungsfreiheit der
Kommunen im Bereich der Daseinsvorsorge, beispiels-
weise in den Bereichen Wasser- und Energieversorgung,
beschränkt. Das lehnen wir ab und haben im Wirt-
schaftsausschuss zusammen mit SPD und Linken die
Bundesregierung aufgefordert, den Richtlinienvor-
schlag im Europäischen Rat abzulehnen, und diesen An-
trag auch bereits im Plenum zur Abstimmung gestellt.
Union und FDP haben unsere Anträge abgelehnt.

Dabei hatte ursprünglich der gesamte Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie des Deutschen Bundestages
unsere Positionierung mitgetragen und bereits am
1. Dezember 2010 in einem gemeinsamen Schreiben an
den Kommissar für den Binnenmarkt und Dienstleis-
tungen, Michel Barnier, zum Ausdruck gebracht. Der
Ausschuss hatte sich dafür ausgesprochen, dass die Recht-
setzungsinitiative zur Vergabe von Dienstleistungskonzes-
sionen kein Regelungstatbestand der Europäischen Union
sein sollte. Leider haben nun bei Vorliegen des Richtlini-
envorschlags die Koalitionsfraktionen von Union und
FDP einen Rückzieher gemacht und ein einheitliches
und klares Signal des Bundestages an den Europäischen
Rat und an das Europäische Parlament verhindert. Die
von der Koalition formulierten Nachbesserungsforde-
rungen an der Richtlinie sind nicht ausreichend; damit
ist den Kommunen nicht geholfen. Die Koalition verlässt
damit die von allen Fraktionen gemeinsam getragene
Linie des Wirtschaftsauschusses, eine weitere Regulie-
rung der Vergabe von Konzessionen klar abzulehnen.
Wir werden die Beschlussempfehlung des Ausschusses
deshalb ablehnen.

E
Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1717230100


Die Bundesregierung dankt dem Deutschen Bundes-
tag für seine Einschätzung zur geplanten Konzessions-
richtlinie. Auch die Bundesregierung hat sich schon seit
längerem eingehend mit dem Für und Wider einer
gesetzlichen Regelung zur Vergabe von Konzessionen
auseinandergesetzt.

Aus Sicht der Bundesregierung ist es ordnungspoli-
tisch sinnvoll, Konzessionen in einem transparenten und
von Wettbewerb geprägten Markt zu vergeben. Mehr
Rechtssicherheit bei der Konzessionsvergabe und ein
besserer Zugang zu den Konzessionsmärkten sind Ziele,
denen sich Deutschland nicht verschließen darf. Es freut
mich, dass der Bundestag im Grundsatz diese Auffas-
sung teilt.

Ich möchte aber keinen Hehl daraus machen, dass
wir uns einen schlankeren und praxisgerechteren Text
gewünscht hätten. Auch die geplante Konzessionsricht-
linie muss sich an dem Ziel der Europäischen Kommis-
sion messen lassen, das Vergaberecht insgesamt zu ver-
einfachen. Diese Vereinfachung ist bisher leider nicht
ausreichend gelungen. Je komplexer aber die Regeln
sind, desto größer ist der Anreiz für die Kommunen, auf
Auftragsvergaben an private Unternehmen ganz zu ver-
zichten, um keine Angriffsfläche für vergaberechtlichen
Rechtsschutz zu bieten. Das Vorhaben läuft daher in sei-

ner jetzigen Fassung Gefahr, Märkte abzuschotten,
anstatt mehr Wettbewerb zu schaffen. Auch lassen sich
Widersprüche zum allgemeinen Vergaberecht nicht aus-
schließen.

Die Sorge der Kommunen vor einer Einschränkung
ihrer Handlungsspielräume haben wir immer sehr ernst
genommen. Wir haben diese Befürchtungen wiederholt
in Brüssel deutlich gemacht. Auch aufgrund unserer
Intervention bei der Kommission respektiert der aktuelle
Richtlinienentwurf die kommunale Handlungsfreiheit:
Auch künftig werden die Kommunen frei darüber ent-
scheiden können, in welcher Form sie öffentliche Aufga-
ben erbringen. Für uns sind neben der kommunalen
Selbstverwaltung aber auch die Wettbewerbschancen
privater Unternehmen beim Zugang zu Konzessionen
sehr wichtig.

Das ordnungspolitische Ziel der Richtlinie, Rechts-
sicherheit zu schaffen und den europaweiten Zugang zu
Konzessionsmärkten zu verbessern, ist richtig. Aber ihre
jetzige Ausgestaltung ist zu bürokratisch und schwerfäl-
lig. Wir werden uns daher mit Nachdruck dafür einset-
zen, dass der Text deutlich verschlankt und praxis-
gerechter wird. Auch die weiteren Überlegungen des
Deutschen Bundestages, insbesondere zu den strukturel-
len Auswirkungen auf einzelne Branchen wie beispiels-
weise die Wasserwirtschaft, werden wir bei den Ver-
handlungen in Brüssel angemessen berücksichtigen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717230200

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/9069, in Kennt-
nis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Jens Petermann, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Berichts- und Zustimmungspflicht für Amts-
hilfe und Unterstützungsleistungen der Bun-
deswehr im Inneren

– Drucksache 17/4884 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Innenausschuss (f)

Federführung strittig

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch diese Reden zu Protokoll.


Anita Schäfer (CDU):
Rede ID: ID1717230300

Seit Jahrzehnten ist es geübte und bewährte Praxis,

dass die Bundeswehr in besonderen Situationen Amts-
hilfe und Unterstützung im Inland leistet. Ich erinnere
an die Flutkatastrophe in Norddeutschland von 1962,
als der damalige Hamburger Innensenator, spätere Ver-
teidigungsminister und Bundeskanzler Helmut Schmidt
kurzerhand Streitkräfte der NATO anforderte, was zur





Anita Schäfer (Saalstadt)



(A) (C)



(D)(B)


Rettung unzähliger Menschenleben beitrug, obwohl Alt-
bundeskanzler Schmidt als damaliger Innensenator zu
diesem Schritt verfassungsrechtlich gar nicht befugt
war. Aufgrund dieser Erfahrung wurde 1968 Art. 35 des
Grundgesetzes geändert, um für die Zukunft eine solide
rechtliche Grundlage zu schaffen. Auf dieser Grundlage
haben Soldaten der Bundeswehr seither vielfach Hilfe
im Innern geleistet, ob bei Waldbränden oder zahlrei-
chen weiteren Flutkatastrophen wie 1997 an der Oder,
als sie – teilweise unter Lebensgefahr – entscheidend
zur Rettung der Deiche im Oderbruch beitrugen.

Die Bundeswehr hat unter anderem technische Hilfe
beim Zugunglück von Eschede im Jahr 1998 geleistet
und während der Vogelgrippe 2006 Fahrzeuge dekonta-
miniert und verendete Vögel eingesammelt, um die Be-
drohung durch das Virus einzudämmen. Sie hat mit den
Wärmebildgeräten von Tornado-Aufklärern nach Ver-
missten gesucht und auch sonst in vielen Fällen Polizei
und Hilfsorganisationen mit speziellen Fähigkeiten und
Manpower unterstützt, all das in den engen Grenzen, die
Art. 35 vorgibt, der ein Tätigwerden der Bundeswehr
aus eigener Befugnis, insbesondere unter Einsatz von
Waffen, ausschließt. Bewaffnete Inneneinsätze werden
bekanntlich in noch engeren Grenzen von Art. 87 a
Abs. 4 des Grundgesetzes geregelt. So weit, so gut.

Nun kommt also die Linke und beklagt in ihrem vor-
liegenden Antrag zunächst eine angebliche Zunahme
der Bundeswehreinsätze nach Art. 35. Sie schafft das,
ohne auch nur mit einem einzigen Wort die ungezählten
Hilfeleistungen bei Naturkatastrophen und anderen
Großschadensereignissen zu erwähnen, geschweige
denn die dabei von unseren Soldaten geretteten Men-
schenleben. Stattdessen fabuliert sie von der mutmaßli-
chen Absicht, die Öffentlichkeit an das Auftreten der
Bundeswehr im Inland zu gewöhnen. Angesichts des
Ausmaßes, in dem die Bundeswehr seit der Wiederverei-
nigung Deutschlands aus der Öffentlichkeit verschwun-
den ist, kann man das nur als bizarr bezeichnen.

Im Rahmen der gegenwärtigen Streitkräftereform
sind wir gerade dabei, weitere 31 Standorte zu schlie-
ßen. In der zukünftigen Struktur wird es nur noch maxi-
mal 185 000 Soldaten in der ganzen Bundeswehr geben,
verglichen mit 500 000 allein in Westdeutschland wäh-
rend des Kalten Krieges. Die meisten hier werden sich
noch an Zeiten erinnern, in denen es in jedem Landkreis
mindestens eine Kaserne gab. Heute sind auch Politiker
der Linken vor Ort heilfroh um jeden erhaltenen Stand-
ort.

Ihr saarländischer Landesvorsitzender Rolf Linsler
wollte vor kurzem noch Ministerpräsidentin Kramp-
Karrenbauer daran messen, wie sehr sie sich in Berlin
für die Saarlandbrigade einsetzt. Der Wittenberger
Landrat Jürgen Dannenberg hat sich dankbar gezeigt,
dass man beim Erhalt des örtlichen Standortes Gehör in
Berlin gefunden habe, obwohl „wir uns noch mehr er-
hofft und gewünscht“ hatten. Und, man höre und staune:
Dieser Standort habe „für die Sicherheit Deutschlands
und den Katastrophenschutz in der Region eine hohe Be-
deutung“, Recht hat er, Ihr Landrat.

Und angesichts dessen, was die Bundeswehr mit viel
zu wenig Anerkennung für unser aller Sicherheit im In-
und Ausland leistet, wird sie in ihrer künftigen Stärke je-
des bisschen Öffentlichkeit dringend nötig und verdient
haben. Das ist aber natürlich nicht der Grund für Unter-
stützungsleistungen nach Art. 35, sondern jeweils ganz
konkrete Erfordernisse.

Zusammen zeigt das alles nachdrücklich die Ge-
schichtsvergessenheit der Linken. Lieber versucht sie
sich an semantischen Konstruktionen, die in Abwesen-
heit realer Tatsachen ein Bedrohungsgefühl herbei-
beschwören sollen, etwa dass Amtshilfe der Bundeswehr
für die Polizei an militärische Inlandseinsätze erinnere.
Sodann beklagt sie, dass das parlamentarische Frage-
recht sich als unzureichend für eine wirksame und zeit-
nahe parlamentarische Kontrolle erwiesen habe, dies
von einer Partei, die jedes Quartal eine regelmäßige An-
frage zu Amtshilfe- und Unterstützungsleistungen der
Bundeswehr im Inland stellt, die die Bundesregierung
ebenso regelmäßig pflichtgetreu auf 30 bis 40 Seiten be-
antwortet, ganz zu schweigen von zahllosen weiteren
Anfragen zu allen möglichen und unmöglichen Gelegen-
heiten, bis hin zu Veranstaltungen im Rahmen von Pa-
tenschaften zwischen Einheiten der Bundeswehr sowie
Städten, Gemeinden und Landkreisen, was nicht uner-
heblich zu dem parlamentarischen Papierberg beiträgt,
den Bundestagspräsident Lammert zu Anfang dieser Le-
gislaturperiode einmal zart hinterfragt hat.

Damit aber nicht genug, fordert die Linke nun jeweils
im Vorfeld einer Unterstützungsleistung die Unterrich-
tung des Bundestages mit der Möglichkeit, dass dieser
die Durchführung untersagen kann. Das muss man sich
einmal vorstellen: Bei der nächsten Oder-Flut stünde
dann ein weiterer Hilfseinsatz der Bundeswehr unter
dem Vorbehalt eines parlamentarischen Entscheidungs-
ganges, weil die Linke befürchtet, die möglichen Opfer
könnten dabei ein positives Bild von unseren Soldaten
gewinnen. Oder noch zugespitzter formuliert: Lieber ein
Dorf weggespült als eine Uniform in der Öffentlichkeit.

Ich nehme an, nach Ihrem Willen wird die Beteiligung
von Soldaten an öffentlichen Müllsammelaktionen und
Veranstaltungen zur Integration von Behinderten bei
den Patengemeinden ihrer Einheiten auch gleich mit
verboten. Gerade bei uns in Rheinland-Pfalz gibt es sehr
viele dieser Patenschaften zwischen Einheiten der Bun-
deswehr und Kommunen, und ich begrüße diese lebendi-
gen Verbindungen ausdrücklich.

Im Übrigen ist die Anforderung von Kräften der Bun-
deswehr zu Unterstützungsleistungen im Rahmen von
Art. 35 Sache der Länder. Der Bundestag sollte sich hier
aus gutem Grund sehr zurückhalten. Im noch nie einge-
tretenen Fall von Abs. 2 dieses Artikels, bei dem die
Bundesregierung die Länder zum Einsatz von Einheiten
der Bundespolizei oder Bundeswehr anweisen kann,
wäre es denn auch das Recht des Bundesrates als Län-
dervertretung, die Einstellung dieser Maßnahme zu ver-
langen.

Der Weg über die Landesparlamente und Landesre-
gierungen, um in diesem Gremium Kontrollrechte aus-
zuüben, steht Ihnen selbstverständlich frei, meine Da-

Zu Protokoll gegebene Reden





Anita Schäfer (Saalstadt)



(A) (C)



(D)(B)


men und Herren von der Linken. Dieser Antrag ist
dagegen nur ein weiterer Mosaikstein in dem Bild, das
Sie abgeben. Je mehr Sie Ihre Felle davonschwimmen
sehen, desto mehr reiten Sie auf Ihrem politischen Al-
leinstellungsmerkmal herum: Angriffe auf unsere Bun-
deswehr und die Ablehnung all dessen, was sie tut, selbst
wenn es sich um Hilfe für ganz konkret bedrohte Men-
schen handelt.

Es wird Sie nicht überraschen, wenn auch dieser An-
trag mit breiter Mehrheit in diesem Haus abgelehnt
wird. Und ich möchte diese Ablehnung ausdrücklich mit
einem Dank an die Zehntausenden Soldaten verbinden,
die in den vergangenen Jahrzehnten der Bundesrepublik
Menschen aus Gefahr für Leib und Leben gerettet ha-
ben.


Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1717230400

Heute hat die Fraktion Die Linke das Thema der

Amtshilfe- und Unterstützungsleistungen der Bundes-
wehr im Inneren auf die Tagesordnung gesetzt. Bedauer-
licherweise beschäftigt sie sich dabei aber nicht etwa
mit den Möglichkeiten der Verbesserung der zivil-militä-
rischen Zusammenarbeit in Deutschland oder beispiels-
weise mit den zukünftigen Herausforderungen im
Bereich des Katastrophenschutzes. Den Linken geht es
vielmehr um eine Berichts- und Zustimmungspflicht bei
Anträgen auf Amtshilfe- und Unterstützungsleistungen
der Bundeswehr.

Sie fordern, dass das Parlament in Zukunft über
Anträge, die von Behörden oder Dritten an die Bundes-
wehr gestellt werden, im Vorfeld informiert werden soll.
Nach den Vorstellungen der Linken soll der Deutsche
Bundestag zudem ein Vetorecht erhalten. Hinzu kommt
die Forderung nach einer umfassenden Berichtspflicht
der Bundesregierung nach dem Abschluss einer Unter-
stützungsleistung.

Der Hintergrund ihres Antrags sei der rasante
Anstieg der Hilfeleistungen der Bundeswehr in den letz-
ten Jahren, der nach Ansicht der Linken rein politisch
motiviert ist. Genau das führt uns zur eigentlichen Moti-
vation für den vorliegenden Antrag: Im Grunde spricht
die Fraktion Die Linke davon, dass durch die Amtshilfe-
und Unterstützungsleistungen Inlandseinsätze der Bun-
deswehr durch die Hintertür eingeführt würden. Über-
dies wirft sie der Bundesregierung vor, die Bevölkerung
durch die vermehrte Präsenz der Bundeswehr an den
Anblick uniformierter Soldaten gewöhnen zu wollen.

Diese Vorwürfe kann ich nur entschieden zurückwei-
sen. Ich lehne den Antrag daher ab.

Die Bundeswehr ergänzt in Deutschland den zivilen
Sicherheits- und Katastrophenschutz, der eine gesamt-
staatliche Aufgabe darstellt. Den Verteidigungspoliti-
schen Richtlinien 2011 ist zu entnehmen, dass zum ent-
sprechenden Beitrag der Bundeswehr subsidiäre
Aufgaben im Inland im Rahmen geltender Gesetze gehö-
ren. Zu diesen zählt die Amtshilfe in Fällen von Naturka-
tastrophen und schweren Unglücksfällen, zum Schutz
kritischer Infrastrukturen und bei innerem Notstand. Ein
solcher Einsatz der Bundeswehr ist im Grundgesetz in

Art. 35 geregelt. Die von der Fraktion Die Linke in
ihrem Antrag aufgeführten Amtshilfe- und Unterstüt-
zungsleistungen der letzten Jahre bewegten sich alle im
Rahmen der Vorgabe des Art. 35, auch wenn einige von
ihnen politisch umstritten waren. Zudem möchte ich
darauf hinweisen, dass die Unterstützungsleistungen
nicht von der Bundeswehr selbst konzipiert werden, son-
dern von den zuständigen zivilen Stellen vor Ort. Des-
halb sehe ich keine Notwendigkeit zur Änderung des bis-
herigen Verfahrens.

In ihrem Antrag zielt die Linke demnach erneut da-
rauf ab, das Bild einer Bundesregierung zu zeichnen, die
eine Militarisierung der Gesellschaft vorantreiben
möchte. Die Befürchtungen, die die Fraktion Die Linke
in ihrem Antrag anführt, werden aber durch meine Er-
fahrungen aus der Praxis in keiner Weise bestätigt.

In meinem Wahlkreis werden insbesondere die
Gemeinden, die direkt an der Donau im Hochwasser-
gebiet liegen, seit jeher im Katastrophenfall von Solda-
ten der Bundeswehr unterstützt. Die Bundeswehr
genießt aufgrund dieser Unterstützungsleistungen ein
sehr hohes Ansehen in der Region. Wenn ich mit Bürge-
rinnen und Bürgern vor Ort spreche, dann äußert nie-
mand – im Gegensatz zur Fraktion Die Linke – Befürch-
tungen über eine zu starke Präsenz der Bundeswehr. Der
letzte große Einsatz war beim Pfingsthochwasser 1999.
Vielmehr wird immer wieder die Sorge an mich herange-
tragen, dass nach dem Wegfall der Wehrpflicht der
Katastrophenschutz nicht in gleichem Maße aufrechter-
halten werden kann wie bisher. Das sind die Probleme,
die die Bevölkerung bewegen, und um die kümmern wir
uns als christlich-liberale Koalition. Dieses Thema ist
mir persönlich ein großes Anliegen.

Das Bundesverteidigungsministerium muss bei der
Reform darauf achten, dass die Bundeswehr auch in
Zukunft ihren Beitrag zum Sicherheits- und Katastro-
phenschutz leisten kann. Bei dem, was ich sehe, ist das
auch der Fall. Dafür möchte ich der Bundesregierung
herzlich danken.

Unsere Aufgabe als Abgeordnete des Deutschen Bun-
destages sollte es sein, die Bundeswehr bei der Erfül-
lung ihrer Hilfeleistungen und dem Schutz unser Bürge-
rinnen und Bürger zu unterstützen.


Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1717230500

Mit ihrem Antrag reagiert die Linkspartei auf die

nach ihrer Ansicht unangemessene und verfassungswid-
rige Amtshilfe der Bundeswehr beim G8-Gipfel in Heili-
gendamm 2007 und bei einer steigenden Anzahl von
Amtshilfeersuchen an die Bundeswehr. Die Verfassungs-
widrigkeit des Einsatzes von 2007 hat das Bundesverfas-
sungsgericht mit seinem Urteil von 2010 eindeutig ver-
neint

Die Linke spricht von einer „schleichenden Militari-
sierung der Gesellschaft“ und „von einem Gewöhnen
der Gesellschaft an ein Tätigwerden der Bundeswehr im
Innern“ durch diese vermehrten Amtshilfeersuchen und
Unterstützungsmaßnahmen. Aus Sicht der SPD-Bundes-
tagsfraktion sind beide Argumente nur als völlig absurd

Zu Protokoll gegebene Reden





Fritz Rudolf Körper


(A) (C)



(D)(B)


zu bezeichnen. Weder wird die Gesellschaft schleichend
militarisiert noch besteht die politische Absicht, die Be-
völkerung an Bundeswehreinsätze im Innern zu gewöh-
nen. Jede Hilfe durch die Bundeswehr geht zurück auf
ein konkretes Hilfeersuchen einer Behörde, von der klei-
nen Kommune bis zum Land. Ein durch die Bundesregie-
rung koordiniertes Verfahren, das ja vorhanden sein
müsste, wenn die beiden Argumente der Linken zuträfen,
ist für mich nicht einmal in Ansätzen erkennbar.

Um welche Hilfeleistungen der Bundeswehr handelt
es sich eigentlich, die hier so vehement kritisiert wer-
den? Amtshilfe kann von der Bundeswehr als technisch-
logistische Unterstützung einer Amtshandlung, das heißt
einer hoheitlichen Verwaltungstätigkeit der anfordern-
den Behörde, geleistet werden. Hierbei können zum Bei-
spiel Auskünfte erteilt, Liegenschaften, Transportkapa-
zität und andere Sachleistungen bereitgestellt sowie
personelle Unterstützungen geleistet werden. Die Bun-
deswehr stellt Hilfeleistungen stets subsidiär insoweit
und solange bereit, als zivile Ressourcen nicht in ausrei-
chender Anzahl oder mit den benötigten Fähigkeiten zur
Verfügung stehen.

Ein Beispiel hierfür war die Unterstützung der Bun-
deswehr bei der Bombenentschärfung Ende letzten Jah-
res in Koblenz. Hier stellte sie unter anderem Laut-
sprecherwagen zur Verfügung sowie Liegenschaften
außerhalb des Evakuierungsraums zum Abstellen von
Fahrzeugen des Rettungs- und Katastrophendienstes
und als Ruheraum für das Personal. Dieses wurde zu-
dem aus der Truppenküche mit verpflegt.

Zur Hilfe bei Naturkatastrophen oder besonders
schweren Unglücksfällen können nach Art. 35 Abs. 1, 2
und 3 des Grundgesetzes Truppenteile und Dienststellen
der Bundeswehr zur Rettung von Menschenleben und
von Tieren sowie zum Schutz und zur Erhaltung von für
die Allgemeinheit wertvollem Material und lebenswich-
tigen Einrichtungen eingesetzt werden. Gleiches gilt für
die Abwehr von Gefährdungen, die durch eine unmittel-
bar bevorstehende Katastrophenlage eintreten können.
Naturkatastrophen sind unmittelbar drohende Gefah-
renzustände oder Schädigungen von erheblichem Aus-
maß, die durch Naturereignisse wie zum Beispiel Erdbe-
ben, Hochwasser, Eisgang, Unwetter, Wald- und
Großbrände durch Selbstentzündung, Blitze oder Dürre
ausgelöst werden. Die verschiedenen Hochwasserein-
sätze der Bundeswehr in den vergangenen Jahren sind
hier nur in zu guter Erinnerung.

Besonders schwere Unglücksfälle sind Schadens-
ereignisse von großem Ausmaß und von Bedeutung für
die Öffentlichkeit, die durch Unfälle, technisches oder
menschliches Versagen ausgelöst oder von Dritten ab-
sichtlich herbeigeführt werden. Hierunter fallen zum
Beispiel besonders schwere Verkehrsunfälle, schwere
Flugzeug- oder Eisenbahnunglücke, Stromausfall mit
Auswirkungen für lebenswichtige Einrichtungen, Groß-
brände, Unfälle in Industrieanlagen mit giftigen oder in
sonstiger Form lebensbedrohlichen Stoffen, Unfälle in
Kernenergieanlagen, andere Unfälle mit Strahlenrisiko
und Großschadenslagen nach terroristischen Anschlä-
gen.

In allen diesen Fällen kann die Bundeswehr auf An-
trag der zuständigen Behörden unterstützend mit Hilfe-
leistungen tätig werden. Hinzu kommen noch Fälle der
dringenden Nothilfe, die als Hilfeleistung weniger Bun-
deswehrangehöriger, gegebenenfalls mit Fahrzeugen,
Luftfahrzeugen, Wasserfahrzeugen und Geräten, zum
Beispiel zur Rettung von Menschenleben oder zur Ver-
meidung schwerer gesundheitlicher Schäden sowie er-
heblicher Beeinträchtigungen der Umwelt oder des Ver-
lustes von für die Allgemeinheit wertvollem Material,
insoweit und solange zulässig sind, als geeignete zivile
Hilfskräfte und geeignetes Material der zuständigen Be-
hörden oder Hilfsorganisationen nicht ausreichend oder
nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen. Nach Abschluss
der Hilfeleistung ist ein Ersuchen der Behörde nachzu-
reichen. Am bekanntesten sind hier sicherlich die Suche
nach vermissten Personen mittels Wärmebildkameras
zum Beispiel durch Tornadoflugzeuge.

Aber was verfolgt die Linke nun aber konkret mit ih-
rem Antrag? Sie fordert die Vorlage eines Gesetzentwur-
fes, mit dem Amtshilfeersuchen an und Unterstützungs-
leistungen der Bundeswehr nach Art. 35 Abs. 1 bis 3
grundsätzlich unter einen Parlamentsvorbehalt gestellt
werden. Der Bundestag sei unverzüglich nicht nur über
den Eingang des Antrags, sondern umfassend auch über
Inhalt, Zweck und Ablauf sowie konkrete Tätigkeiten, die
die Soldatinnen und Soldaten zu verrichten hätten, Ort,
Datum, Anzahl des erforderlichen Personals und die an-
fallenden Kosten zu informieren. Dabei soll dem Bun-
destag sogar ein Vetorecht im Einzelfall eingeräumt
werden, das sich sogar gegen einzelne der beantragten
Leistungen der Bundeswehr im Rahmen solcher Maß-
nahmen richten kann. Dazu ist der Bundestag über den
Abschluss der durchgeführten Maßnahmen umgehend zu
informieren, und eventuelle Abweichungen gegenüber
dem ursprünglichen Antrag sind auch zu begründen. Ist
dieser Vorschlag der Linken überhaupt umsetzbar? Aus
meiner Sicht: Nein. Der Verteidigungsausschuss und der
Bundestag müssten sich ja dann mit jedem einzelnen An-
trag auseinandersetzen. Oder soll ein Sondergremium
für diese Fälle geschaffen werden? In welchem Zeitraum
soll die Prüfung geschehen? Was geschieht bei Fällen
der Nothilfe? Nein, hier entstände ein überflüssiges bü-
rokratisches Verfahren, das Hilfeleistungen der Bundes-
wehr unmöglich macht. Aber das ist ja auch der Sinn
dieses Antrags, oder?

Diesen im Antrag der Linken aufgezeigten Weg wird
die SPD-Bundestagsfraktion auf keinen Fall mitgehen.


Joachim Spatz (FDP):
Rede ID: ID1717230600

Um es vorweg zu sagen: Dem Ansinnen der Fraktion

Die Linke können und wollen wir uns nicht anschließen.
Der vorliegende Antrag ist ein weiterer untauglicher
Versuch, die Bundeswehr in Misskredit zu bringen und
ihr Wirken als regelmäßig repressiv zu verunglimpfen.
Die Bundesregierung hat in etlichen Stellungnahmen
klargestellt, dass die Unterstützungsleistungen, die im
Rahmen der technischen Amtshilfe erbracht werden,
unter der Einsatzschwelle des Art. 87 a Satz 2 des
Grundgesetzes verbleiben. Auch verweist die Bundes-
regierung fortwährend darauf, dass der unterstellte Auf-

Zu Protokoll gegebene Reden





Joachim Spatz


(A) (C)



(D)(B)


wuchs von sogenannten Inlandseinsätzen schlicht falsch
ist. Diese Aussage wird regelmäßig durch detailliertes
Zahlenmaterial dokumentiert und bestätigt. Die FDP-
Bundestagsfraktion hat nicht den geringsten Anlass, an
der Richtigkeit der gemachten Angaben zu zweifeln. Im
Gegenteil: Die Bundesregierung genießt unser volles
Vertrauen. Wir sind überzeugt davon, dass die verfas-
sungsmäßig auferlegte Beschränkung des Art. 87 a
Satz 2 des Grundgesetzes stets eingehalten und die Bun-
deswehr verantwortungsbewusst nur unter klar umrisse-
nen Kriterien im Sinne der Amts- und Unterstützungs-
leistung im Innern zum Einsatz gebracht wird. Damit
erfüllt die Bundeswehr nicht nur einen ihr übertragenen
Auftrag, sondern leistet einen wichtigen Beitrag zum
Wohle unseres Landes. Dafür möchte ich mich an dieser
Stelle herzlich bedanken.

Die Antragsteller dagegen haben offensichtlich ein
Problem damit, die Bundeswehr als Teil der Gesellschaft
anzuerkennen und die von ihr auf vielfältige Art und
Weise geleistete Unterstützung zu akzeptieren. Die von
den Antragstellern implizit vermutete Tendenz zur
schleichenden Militarisierung der Gesellschaft zieht
sich wie ein roter Faden durch den Antrag. In welcher
Form diese Unterwanderung vonstattengehen soll,
bleibt allerdings schwammig. Die Vermutung, dass etwa
die Präsenz der Bundeswehr bei Großveranstaltungen
wie dem 34. Europäischen Jugendtreffen der Kommuni-
tät von Taizé im vergangenen Oktober durch die Bereit-
stellung von Warmhaltethermen für 2 000 Liter Tee zur
Imagepflege oder gar Nachwuchsgewinnung miss-
braucht wird, ist schlicht lebens- und realitätsfremd und
zeugt von ideologisch verbrämtem Misstrauen. Tatsache
ist, dass Hilfeleistungen der Truppe nicht von der Bun-
deswehr angeregt oder gar veranlasst werden, sondern
ausschließlich auf Nachfrage durch die für die Veran-
staltung verantwortlichen zivilen Stellen geleistet wer-
den. Die von den Antragstellern unterstellte „verstärkte
Amtshilfebewilligung“ für Maßnahmen der Bundeswehr
bei gesellschaftlichen Großveranstaltungen wie Kir-
chentagen oder sportlichen Massenveranstaltungen zur
„Imagepflege“ geriert sich angesichts der vorherr-
schenden Genehmigungspraxis und des ständig arti-
kulierten Bedarfs vonseiten der Länder und Gebiets-
körperschaften mehr als kurios und grenzt an
Verschwörungstheorie.

Die im Antrag geforderte Dokumentationspflicht in
Form unzumut- und unleistbarer Berichtspflichten wäre
darüber hinaus ein nie da gewesener Akt des Bürokra-
tieaufbaus und soll offenkundig zur Verhinderung der
Amtshilfe durch die Bundeswehr beitragen. An dieser
Stelle ist schon erlaubt, zu fragen, wie sich die Antrag-
steller – etwa im Falle von Naturkatastrophen – das von
ihnen erdachte Antrags- und Berichtswesen vorstellen.
Gefahrenzustände oder Schädigungen von erheblichem
Ausmaß, die durch Naturereignisse wie Erdbeben,
Hochwasser, Eisgang, Unwetter, Wald- und Großbrände
durch Selbstentzündung, Blitze oder Dürre ausgelöst
werden, sind regelmäßig schlicht nicht vorhersehbar, in
ihrem Ausmaß kaum abzuschätzen und daher, etwa
bezogen auf die Dauer und die anfallenden Kosten, stets
auch erst im Nachgang festzustellen. In diesen Fällen

erfolgen Hilfsmaßnahmen der Streitkräfte zur Unterstüt-
zung der für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörden
im Wege der Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 des Grund-
gesetzes, bei der die Streitkräfte allerdings keine hoheit-
lichen Befugnisse ausüben. Keine Amtshilfe erfolgt
dagegen, wenn dienstliche Belange unter angemessener
Berücksichtigung des Anliegens der ersuchenden
Behörde entgegenstehen oder eine andere Behörde die
Hilfe wesentlich einfacher oder mit wesentlich geringe-
rem Aufwand leisten kann als die Bundeswehr. Diese
Praxis stellt einen weiteren Beleg dafür dar, dass die
Amtshilfe der Bundeswehr keinen Selbstzweck im Sinne
eines verstärkten Auftretens von Soldatinnen und Solda-
ten zur Gewöhnung an die Tätigkeit der Bundeswehr im
Innern darstellt, sondern eine subsidiäre Hilfeleistung
in Form von fähigkeitsbezogenen Kräften und Mitteln,
sofern zivile Mittel nicht zur Verfügung stehen.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717230700

Die Linke will, dass sogenannte Amtshilfemaßnah-

men der Bundeswehr besser vom Parlament kontrolliert
werden können und der Bundestag die Möglichkeit hat,
ein Veto gegen solche Maßnahmen einzulegen. Denn mit
der rasanten Zunahme von Amtshilfeeinsätzen werden
politische Absichten verfolgt, die nicht dem Auftrag der
Bundeswehr entsprechen. Und: Es ist nicht immer Amts-
hilfe drin, wo Amtshilfe draufsteht. Das haben wir ganz
deutlich beim Heiligendamm-Einsatz der Bundeswehr
im Jahr 2007 festgestellt, als beim G8-Gipfel weit über
1 000 Bundeswehrsoldaten, Kampfflugzeuge und Späh-
panzer gegen Demonstranten eingesetzt wurden. Aus
unserer Sicht war das ein verfassungswidriger Inlands-
einsatz. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage
offen gelassen. Offenkundig wird jedoch, dass es hier
eine Kontrolllücke im Bereich der inneren Verwendun-
gen der Bundeswehr gibt.

Im Moment kann die Bundesregierung Amtshilfeer-
suchen anderer Behörden nach eigenem Gutdünken er-
füllen oder ablehnen. Das Parlament wird weder ge-
fragt, noch wird es überhaupt darüber informiert. Da
kann ein Militäreinsatz noch so politisch brisant sein,
wie jener in Heiligendamm – die Abgeordneten und die
Öffentlichkeit erfahren nichts davon, bis zur letzten
Minute, bis er dann konkret durchgeführt wurde.

Diese Kontrolllücke will die Linke schließen. Die
Bundesregierung soll jeweils vor einem solchen Einsatz
mitteilen, wann und wo er stattfinden soll, wie viele Sol-
daten eingeplant sind und was sie genau machen wer-
den. Wenn der Bundestag zum Schluss kommt, dass er
diesen Einsatz aus politischen oder rechtlichen Gründen
ablehnt, muss er das Recht haben, ihn zu unterbinden
oder seinen Abbruch zu erwirken. Ich bin mir sicher:
Der Heiligendamm-Einsatz wäre nicht durchgeführt
worden, hätte er vorher mitgeteilt werden müssen.

Es geht aber nicht nur um den Heiligendamm-
Einsatz. Die Linke erkundigt sich seither jedes Quartal
nach durchgeführten und beantragten Maßnahmen. Die
Antworten der Bundesregierung zeigen eindeutig, dass
die Zahl der Amtshilfeeinsätze in den letzten Jahren ra-
sant nach oben gestiegen ist. Ende der 90er-Jahre gab

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


es eine einzige solche Maßnahme pro Jahr. In unserer
Antragsbegründung nennen wir den Stand des Jahres
2009. Da waren es schon 44. Im Jahr 2010 wurde die
bisherige Höchstmarke mit 71 erreicht, im vorigen Jahr
waren es 68. Es liegt ja auf der Hand, dass diese Zu-
nahme nicht an Sachzwängen liegt. Niemand in diesem
Haus wendet sich dagegen, dass Bundeswehrsoldaten,
wenn es nottut, bei der Abdichtung von Deichen helfen.
Aber Hilfe bei Katastrophen – und dazu zähle ich jetzt
auch solche Fälle wie das Entschärfen von Weltkriegs-
blindgängern macht weniger als ein Drittel dieser
Einsätze aus. Ansonsten handelt es sich entweder um
prestigeträchtige Maßnahmen wie Hilfe bei Sportveran-
staltungen oder um Unterstützungsmaßnahmen bei so-
genannten Großlagen; das kann die Fußball-EM sein,
aber auch größere Gipfeltreffen, Staatsbesuche und
Großdemonstrationen. Auch wenn die Soldaten dabei
nicht unmittelbar gegen Demonstranten vorgehen, be-
steht ihre Funktion doch darin, den Polizeieinsatz logis-
tisch und materiell zu unterstützen. Das ist aber nicht
der primäre Verwendungszweck der Bundeswehr.

Die Linke sieht diese Entwicklung im Zusammenhang
mit immer wieder aufflammenden Diskussionen über ei-
nen Inlandseinsatz der Bundeswehr. Die Gefahr besteht
in einem Gewöhnungseffekt: Die Soldaten gewöhnen
sich daran, eine aktive Rolle im Bereich der inneren
Sicherheit zu spielen. Die Polizei gewöhnt sich daran,
bei der Wahrnehmung ihrer Kernaufgabe auf militäri-
sche Ressourcen zuzugreifen. Und die Öffentlichkeit ge-
wöhnt sich daran, dass die Bundeswehr immer mit von
der Partie ist, wenn es eine sogenannte Großlage gibt.

Solche Gewöhnungsprozesse sind außerordentlich
bedrohlich. Dass sich ein Szenario wie 2007 in Heili-
gendamm nicht mehr wiederholt hat, liegt nämlich ge-
nau daran, dass der Militäreinsatz damals große Empö-
rung hervorgerufen hat und weithin als Skandal
empfunden wurde. Wenn man jetzt Schritt für Schritt die
Bundeswehr als Hilfspolizei aufbaut, droht ein solches
Szenario seine Skandalträchtigkeit zu verlieren.

Wer parlamentarische Kontrolle ernst nimmt, kann
nichts dagegen haben, dass der Bundestag über die in-
neren Verwendungen der Bundeswehr genau in Kenntnis
gesetzt wird. Das entspricht dem parlamentarischen
Prinzip und dem Primat der Politik. Die Linke verbindet
mit dem Antrag natürlich auch die Hoffnung auf eine
disziplinierende Wirkung: Manche Einsätze würden wo-
möglich ausfallen, wenn sie öffentlich würden.

Eines sei noch angemerkt: Ich habe schon ausge-
führt, dass niemand etwas gegen Soldaten haben wird,
die in der unmittelbaren Katastrophenhilfe unterstützen.
Wir müssen aber immer danach fragen, warum so etwas
notwendig wird. Die Gefahr besteht doch, dass Kapazi-
täten im zivilen Katastrophenschutz eingespart werden,
weil man darauf hofft, im Ernstfall aufs Militär zurück-
zugreifen. Das ist freilich eine trügerische Option, weil
militärische Kapazitäten nach militärischem und nicht
nach zivilem Bedarf eingeplant werden. Wenn es darauf
ankommt, sind die vielleicht gerade in Afghanistan.
Also: Im Zweifelsfall muss der zivile Katastrophenschutz
gestärkt werden.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717230800

Keine Bundeswehreinsätze im Innern, das ist eines

der Grundprinzipien grüner Innenpolitik. Der militäri-
sche Auftrag, die Ausbildung der Soldatinnen und
Soldaten und die entsprechende Ausrüstung vertragen
sich einfach nicht mit polizeilichen Aufgaben. Wir haben
immer dagegen gekämpft, die Bundeswehr als Polizei
einzusetzen, und wir haben uns beharrlich gegen eine
paramilitärische Bewaffnung und Ausrichtung der Poli-
zei eingesetzt. Für uns gilt: Die Bundeswehr ist keine
Polizei, und sie soll es auch niemals werden.

Das Grundgesetz ist da auch ganz eindeutig, und wo
es deutungsbedürftig ist, da hat Karlsruhe für die not-
wendige Klarheit gesorgt. Nach Art. 35 des Grundgeset-
zes kann die Bundeswehr in Amtshilfe bei Notlagen tätig
werden, die von den Ländern und der Polizei nicht zu
bewältigen sind. Die klassischen Beispiele kennen wir
alle. Erinnert sei nur an den Schutz der Deiche im Oder-
bruch, bei dem Abertausende von Soldaten im Einsatz
waren und mit THW, Feuerwehr und vielen anderen
Sandsack um Sandsack aufgeschichtet haben, um noch
Schlimmeres zu verhüten, und es wird hier hoffentlich
niemand sagen wollen, dass das falsch oder verfas-
sungswidrig war.

Mir wird nicht klar: Was will dieser Antrag der Links-
partei? Die Bundeswehr hat eine militärische Aufgabe
– von der Linkspartei übrigens ja nicht nur im Innern
abgelehnt –, und sie übernimmt im zivilen Bereich Amts-
hilfe. Sie ist als Armee eine Parlamentsarmee. Ihr Ein-
satz für militärische Zwecke bedarf der Zustimmung des
Deutschen Bundestages, und das ist auch richtig so. Es
geht um Leben und Gesundheit der beteiligten deutschen
Soldatinnen und Soldaten, um die Interessen der Bun-
desrepublik und um den Einsatz militärischer Gewalt
gegen andere. Das sind gute Gründe, den Marschbefehl
nicht einfach der Regierung zu überlassen, sondern
diese schweren Entscheidungen hier zu debattieren und
zu treffen. Aber darum geht es in dem Antrag nicht; denn
dafür gibt es schon ein Parlamentsbeteiligungsgesetz.

Es geht in diesem Antrag um die Amtshilfeeinsätze im
Innern. Die sind grundsätzlich nicht militärischer
Natur; denn genau das hat das Bundesverfassungsge-
richt 2006 verboten. Der Einsatz spezifisch militärischer
Bewaffnung ist ja eben nicht erlaubt. Über die wollen
Sie nun das Parlament entscheiden lassen? Warum?
Weil Sie sagen – nicht ganz falsch, aber auch mehr in
der Begründung als im Beschlusstext –, es gibt zu viele
solche Einsätze. Und Sie sagen: Manche davon sind
fragwürdig, auch das ist nicht falsch. Aber wieso ist
denn die Konsequenz daraus, dass für den Einsatz der
Beschluss des Parlamentes nötig werden soll? Wenn ein
Einsatz nicht legal ist, gehört er vor Gericht. Und wenn
ein Einsatz illegitim ist, dann gehört die Regierung da-
für angeprangert. Aber wie um alles in der Welt soll
denn der Beschluss des Bundestages hier Abhilfe schaf-
fen?

Endgültig skurril wird es bei Ihren Forderungen zur
Öffentlichkeitsarbeit und zu Einsätzen im Kontext von
Demonstrationen. Für Letztere gilt das schon Gesagte:
Diese Einsätze, wenn sie nicht rechtmäßig sind, wenn sie

Zu Protokoll gegebene Reden





Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)


die Ausübung von Grundrechten beeinträchtigen, sind
schlicht zu unterlassen. Und für Erstere gilt: Die Öffent-
lichkeitsarbeit der Bundeswehr mag man mögen oder
nicht, aber wollen Sie allen Ernstes den Bundestag da-
rüber entscheiden lassen? Ist das nicht ganz eindeutig
Aufgabe der Bundeswehr und des Verteidigungsminis-
ters? Was soll das mit dem Gesetzgeber zu tun haben?

Kritik an falscher Praxis ist gut und richtig; da kann
ich mich vielem anschließen. Wenn die Linkspartei hier
gesagt hätte: „Es gibt einfach zu viele Einsätze der Bun-
deswehr bei Großlagen; das ist nicht immer nötig“,
wenn sie gesagt hätte: „Der Auftrag ist eben nicht im-
mer Amtshilfe; das grenzt – wie in Heiligendamm – an
Einschüchterung und damit an einen Eingriff in die
Bürgerrechte“, wenn sie gesagt hätte: „Wir wollen enge
Richtlinien für die Entscheidung über Amtshilfe, und wir
wollen detaillierte Berichte über jeden Einsatz“, wenn
sie all das gesagt hätte, dann hätten wir dem zugestimmt.
Aber in der Form, wie der Antrag jetzt vorliegt, ist er ein
Gemischtwarenangebot in einem zu großen Schaufenster,
aber mit zu wenig Ware.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717230900

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/4884 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
hier jedoch strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU, FDP
und SPD wünschen Federführung beim Verteidigungs-
ausschuss. Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen wünschen Federführung beim Innenaus-
schuss.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, Feder-
führung beim Innenausschuss, abstimmen. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist ab-
gelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU, der FDP und der SPD, Feder-
führung beim Verteidigungsausschuss, abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überwei-
sungsvorschlag ist angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Instrumente zur Förderung der Medienvielfalt
auf solide Datenbasis stellen

– Drucksache 17/9155 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch diese Reden zu Protokoll.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1717231000

Die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der

SPD lassen einen ratlos zurück. Viele Worte für einen
Sachverhalt, nämlich die Fertigstellung und Veröffentli-
chung der Mediendatenbank, der eigentlich nicht der
Rede wert ist, und da, wo ein klares politisches Bekennt-
nis gefragt wäre, die Themen Pressefusionsrecht und vor
allem Leistungsschutzrecht der Verlage, findet sich
nichts Konkretes. Das ist medienpolitisch dürftig.

Die Bundesregierung muss durch den Antrag der Op-
positionsfraktionen nicht gedrängt werden, die Medien-
datenbank zu veröffentlichen. Die Bundesregierung hat
immer erklärt, auch im Lichte eines Beschlusses des
Haushaltsausschusses, dass sie die Studien des Hans-
Bredow-Instituts und des Formatt-Instituts unverzüglich
nach deren Fertigstellung veröffentlichen wird. Dies
steht unmittelbar bevor.

Politisch entscheidend ist doch aber ein ganz anderer
Sachverhalt. Sie unterstellen, die Bundesregierung
könne oder dürfe sogar in Sachen Pressefusionskon-
trolle und Leistungsschutzrecht nicht handeln, bevor
eine Mediendatenbank erstellt ist. Das ist abwegig. Die
Frage, ob man etwa Verlagen ein Leistungsschutzrecht
einräumen will, setzt doch in erster Linie eine medienpo-
litische Entscheidung voraus und ist nicht von den An-
gaben einer Mediendatenbank abhängig. Wir als CDU/
CSU bekennen uns klar und eindeutig zu einem solchen
Leistungsschutzrecht, wie wir es auch schon in der Ko-
alitionsvereinbarung angekündigt haben. Wir müssen
gerade auch in der digitalen Welt für einen fairen Inte-
ressenausgleich zwischen Verlagen und gewerblichen
Anbietern im Netz sorgen, um die Pressevielfalt und
Leistungsfähigkeit der Verlage zu stärken. Und ich bin
sehr dafür, dass wir uns auch in diesem Bereich dazu be-
kennen, dass das Netz genauso eine Ordnung braucht,
wie es für uns in der analogen Welt selbstverständlich
ist.

So wie wir selbstverständlich es richtig finden, dass
man etwa für die Verwendung von Zeitungsartikeln in
Pressespiegeln eine Abgabe an die VG Wort zahlt, muss
es auch in Zukunft selbstverständlich sein, dass Suchma-
schinenbetreiber und News-Aggregatoren für die Ver-
breitung von Zeitungsartikeln im Internet ein Entgelt an
die Verlage zahlen. Die Presseverlage werden damit an
den Gewinnen gewerblicher Internetdienste beteiligt,
die diese nur erzielen können, weil es Journalisten gibt,
die einen Anspruch darauf haben, dass ihr schöpferisch-
geistiges Eigentum geschützt wird, wobei ich hier gerne
hinzufügen möchte, dass ich es persönlich als selbstver-
ständlich ansehe, dass Verlage, die in Zukunft durch eine
Verwertungsgesellschaft Einnahmen generieren, ihre
Mitarbeiter daran beteiligen. Aus Sicht der Verlage ist
die Durchsetzung eines Leistungsschutzrechts noch
überzeugender und glaubwürdiger, wenn man sich nicht
automatisch von seinen redaktionellen Mitarbeitern alle
Rechte an den Artikeln abtreten lässt.

Im Kern geht es doch darum, dass in einem Land, das
nicht über sehr viele Rohstoffe verfügt, der Rohstoff
geistiges Eigentum geradezu unter die Schutzpflicht des
Staates gestellt werden muss. Und das ist doch in Wahr-





Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)


heit der Grund für die sehr merkwürdige Abfassung ih-
res Antrags. Sie flüchten sich in die Einforderung der
Mediendatenbank, um die eigentliche Kernfrage nicht
beantworten zu müssen: Wie halten Sie es mit dem Leis-
tungsschutzrecht?

SPD und Grüne sind nach den Erfolgen der „Pira-
ten“ in einer Zwickmühle. Sie wollen einerseits das Ab-
wandern der Netzgemeinde zu den „Piraten“ verhin-
dern und wollen andererseits eine Klientel, die lange
Zeit zu ihren politischen Stammkunden gehörte, nämlich
die Vertreter der Kreativwirtschaft, die Künstler, Musi-
ker oder Designer, nicht verprellen. Aber Sie werden
sich entscheiden müssen. Die Haltung der CDU/CSU in
dieser Frage ist völlig eindeutig: Gerade im Bereich des
Leitungsschutzrechts steht für uns das geistige Eigentum
nicht zur Debatte. Wir sind die Anwälte des geistigen Ei-
gentums. Ich will deshalb mit allem Nachdruck ange-
sichts der Beschlüsse des Koalitionsausschusses beto-
nen, dass wir vom zuständigen Bundesministerium der
Justiz jetzt auch erwarten, dass die entsprechenden Ge-
setzesentwürfe zügig vorgelegt werden. Daran dürfen,
bei allem Respekt vor unserem geschätzten Koalitions-
partner, auch bayerische Landesparteitagsbeschlüsse
nichts ändern.

Dabei ist es wiederum mit Blick auf die sogenannte
Netzgemeinde wichtig, zu differenzieren, dass es hier
auch um eine klare Trennung zwischen privater und ge-
werblicher Nutzung des Netzes gehen muss. Das Internet
ist für viele Privatleute eine wunderbare Einrichtung,
um sich schnell und präzise und vor allem selbstbe-
stimmt zu informieren. Dabei soll es selbstverständlich
bleiben. Hier soll es keine Einschränkungen in Form
von etwaigen Gebührenverpflichtungen geben. Etwas
anderes ist freilich die gewerbliche Nutzung fremden
geistigen Eigentum und ich denke, dass dafür die wahr-
haft Toleranten im Netz auch Verständnis haben.

Was die Frage des Pressefusionsrechts anbelangt, ist
es mir ebenso schleierhaft, weshalb man ernsthaft
glaubt, hierbei ohne eine Mediendatenbank nicht zu gu-
ten Ergebnissen zu kommen. Die Bundesregierung hat in
diesem Zusammenhang selbstverständlich den Rat so-
wohl der großen überregionalen Verleger als auch der
lokalen Zeitungsverlage eingeholt. Diese haben sich auf
einen Kompromiss verständigt, den wir jetzt im Wesent-
lichen übernommen haben.

Ich will dabei nur auf das Sondergutachten der Mo-
nopolkommission vom Januar 2012 verweisen. Dort
wird eindeutig festgehalten, dass es auch künftig ge-
währleistet bleibt, dass die Übernahme kleiner Verlage
durch Großverlage kontrollpflichtig bleibt. Die Vor-
schläge werden als wettbewerbspolitisch vertretbar be-
zeichnet, und es wird betont, dass mit unserem Gesetzes-
vorhaben die in unserer deutschen Medienlandschaft
vorherrschende Prägung durch kleine und mittlere Ver-
lage nicht beeinträchtigt wird. Das ist wichtig, weil die
Fusionskontrolle im Pressebereich zum Erhalt einer
vielfältigen Zeitungslandschaft unerlässlich ist. Für die
gesellschaftliche und politische Willensbildung ist es
schlichtweg konstituierend, dass eine Vielzahl von öf-
fentlichen Informationsquellen eröffnet wird.

Mit der Reform der Pressefusionskontrolle werden
dabei angemessene Spielräume der Verlage zur Stabili-
sierung ihrer wirtschaftlichen Basis durch Zusammen-
schlüsse erweitert und wird die Wettbewerbsfähigkeit
gegenüber anderen Medien gesteigert. Dadurch wird
Medienvielfalt erhalten und nicht gefährdet.


Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1717231100

SPD und Grüne fordern im vorliegenden Antrag, die

Instrumente zur Förderung der Medienvielfalt auf eine
solide Datenbasis zu stellen. Allein von dieser Grund-
aussage ausgehend ist das eine durchaus wünschens-
und unterstützenswerte Forderung – wenn nicht schon
längst genau das unternommen worden wäre! Ihr Antrag
ist im Ganzen gesehen, sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen – Sie er-
lauben mir bitte die regionale Abwandlung eines Zitates
aus einer altgriechischen Komödie –, wie Wasser in die
Pegnitz schütten. Er ist nicht notwendig in seinen Forde-
rungen, weil diese im Kern alle erfüllt sind bzw. kurz vor
der Umsetzung stehen. Und er ist nicht notwendig in sei-
ner Kritik, denn bei den für Sie kritischen Punkten brin-
gen Sie kein Fleisch an den Knochen in den inhaltlichen
Fragen, denen Sie kritisch gegenüberzustehen scheinen.

Lassen Sie mich das im Einzelnen begründen.

Sie listen eine Reihe von Zitaten aus Antworten der
Bundesregierung in der Fragestunde vom 7. März auf,
die sich um die Themen Mediendatenbank, Pressefu-
sionsrechtsänderungen in der 8. GWB-Novelle und um
das angestrebte Leistungsschutzrecht für Verlage dre-
hen. Damit glauben Sie Nachweise zu führen, dass die
Bundesregierung die beiden letztgenannten Gesetzge-
bungsvorhaben ohne ausreichende Kenntnis der Situa-
tion der deutschen Medienlandschaft plane. Im Grunde
genommen steht dahinter Ihr Versuch, die Bundesregie-
rung in einen Kontext zu setzen, wonach sie gegen Viel-
falt und Transparenz in der deutschen Medienlandschaft
sei. Das Gegenteil ist der Fall; das zeigen gerade diese
beiden Gesetzesvorhaben. Aber darauf werde ich im
Weiteren noch eingehen.

Mit der soliden Datenbasis, die Sie ansprechen, ist
die 2009 beschlossene Einrichtung und Veröffentlichung
einer Mediendatenbank bis 2011 gemeint. Dafür wurden
in den letzten drei Jahren regelmäßig Mittel im Bundes-
haushalt eingestellt. Die Mediendatenbank ist Beschluss
und Auftrag des Deutschen Bundestages an den Beauf-
tragen der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Seien Sie versichert, meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen:
Nichts liegt dem BKM ferner, als diesem Auftrag nicht
nachzukommen! Er muss und er wird die Datenbank ins
Netz stellen.

Der Beauftragte hat Anfang März mitgeteilt, dass die
beiden bestandaufnehmenden Studien des Hans-
Bredow-Institutes und des Formatt-Institutes als Basis
für die Einrichtung der Mediendatenbank nunmehr vor-
liegen. Sie unterstellen, dass die Bundesregierung die
Daten nicht veröffentlichen wolle, und fordern nach-
drücklich die öffentliche Zugänglichmachung der Me-
diendatenbank. Genau das aber soll doch vollkommen

Zu Protokoll gegebene Reden





Dagmar G. Wöhrl


(A) (C)



(D)(B)


auftragsgemäß demnächst passieren. Allerdings müssen
die Studien erst freigegeben werden. Zur korrekten Aus-
führung dieses Bundestagsbeschlusses bedarf es nun
einmal auch einer Prüfung der Untersuchungen, bevor
die Ergebnisse veröffentlicht werden können. Darin liegt
nichts Verwerfliches, sondern es zeugt von besonderer
Sorgfalt, zumal öffentliche Mittel für Datenerhebungen
geflossen sind.

Sie unterstellen außerdem, die Bundesregierung habe
den Entwurf zur 8. GWB-Novelle, der gestern im Bun-
deskabinett beschlossen worden ist, und den Beschluss
zum Leistungsschutzrecht im Koalitionsausschuss vom
4. März ohne ausreichende Datengrundlagen vorge-
nommen.

Dazu kann ich eigentlich nur sagen: Schließen Sie
nicht so vorschnell von sich auf andere, und vermuten
Sie bei der Bundesregierung nicht die gleiche Ober-
flächlichkeit, wie Sie sie in Ihrem Antrag an den Tag le-
gen! Denn der enthält in Wirklichkeit nichts anderes als
eine Reihe von Schnellschüssen.

Die Einführung des Leistungsschutzrechts wurde be-
reits im Koalitionsvertrag formuliert und Anfang März
im Koalitionsausschuss beschlossen. Verlage sollen
hiernach im Onlinebereich nicht schlechter gestellt sein
als andere Werkvermittler. Mit einem Leistungsschutz-
recht für Presseverlage soll der Schutz von Presseer-
zeugnissen im Internet verbessert werden. Gewerbliche
Nutzer wie Suchmaschinenbetreiber sollen künftig dafür
bezahlen, dass sie beispielsweise Presseartikel im Inter-
net verbreiten. Die Presseverlage werden also beteiligt
an den Gewinnen aus ihren Erzeugnissen, die die Inter-
netdienste bislang allein und für sich erzielen. Wohlge-
merkt: Die private Nutzung von Zeitungsartikeln wird
damit nicht gebührenpflichtig, aber es soll eine Besser-
stellung der Verlage beim Leistungsschutz gegenüber
den gewerblichen Nutzern ihrer Erzeugnisse erreicht
werden. Erklären Sie mir bitte, wo das nicht der Medien-
vielfalt und Stärkung der deutschen Presselandschaft
dient! In die derzeitige Erarbeitung dieses Entwurfes
können sämtliche Informationen aus den beiden Daten-
erhebungen zur Mediendatenbank einfließen. Natürlich
müssen noch einige Dinge geklärt werden, bevor der
Entwurf rund ist. Ich denke da beispielsweise an die
Frage „gewerblich oder nichtgewerblich“, wenn es um
die journalistischen Beiträge von Bloggern geht. Denn
Blogger sind meinem Verständnis nach ein fester Be-
standteil unserer Medienlandschaft. Aber wie gesagt,
die Detailfragen werden wir in den kommenden Wochen
in dem hierfür vorgesehenen parlamentarischen Verfah-
ren klären.

Bei der 8. GWB-Novelle ist das zwar leider nicht
mehr möglich, denn der Referentenentwurf liegt bereits
seit Oktober letzten Jahres vor, während die Studiener-
gebnisse des Hans-Bredow- und des Formatt-Institutes
erst seit Ende Februar bekannt sind. Nichtsdestotrotz
wurde der Entwurf lange und sorgfältig vorbereitet und
unter Einbeziehung aller zur Verfügung stehenden Da-
ten und Informationen erarbeitet. Eines der wichtigsten
Anliegen der Bundesregierung ist die kartellrechtliche
Unterstützung des Strukturwandels im Pressesektor, und

dieses Bereiches nimmt sich der Entwurf zur 8. GWB-
Novelle im besonderen Maße an. Die Erhöhung der Auf-
greifschwelle, ab der Fusionen im Pressebereich geneh-
migungspflichtig sind, von 25 Millionen auf 62,5 Millio-
nen Euro wird ein Beitrag zur Medienvielfalt sein. Denn
diese maßvolle Anhebung der Aufgreifschwelle hilft ge-
rade kleineren und mittleren Verlagen, sich angesichts
der großen investiven Herausforderungen, die unter an-
derem das Internet an ihre Wettbewerbsfähigkeit stellt,
am Markt zu behaupten. Das sollte doch auch in Ihrem
Sinne sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen.

In Ihrem Antrag kommt aber nur zum Ausdruck, dass
Sie an der Sinnhaftigkeit und Stoßrichtung beider Ge-
setzgebungsvorhaben zweifeln. Nichtsdestotrotz sind
von Ihnen eigene inhaltliche Anmerkungen oder Verbes-
serungsvorschläge nicht zu vernehmen.

Die Bundesregierung hingegen hat ihre Vorhaben von
Anfang an klar formuliert und den Willen deutlich ge-
macht, den Presseverlagen einerseits den wirtschaftlich
notwendigen Strukturwandel zu erleichtern und ande-
rerseits die Vielfalt der deutschen Medienlandschaft zu
stärken. So sind beispielsweise die Änderungen im
Pressefusionsrecht – das war der Bundesregierung be-
sonders wichtig – nach einer Einigung der großen und
der lokalen Verleger zustande gekommen. Sie sind als
Kompromiss zwar nicht sehr weitreichend, aber den-
noch ein Fortschritt im Sinne der kleineren und mittleren
Verleger. Die Änderungen stehen also auf breiter und
sorgfältig erarbeiteter Basis.

Was nun die baldige Veröffentlichung der Medienda-
tenbank anbetrifft: Ich freue mich darauf und bin schon
sehr gespannt. Die Möglichkeiten, die sie ihren Nutzern
bietet, sind ein großer Beitrag zu mehr Transparenz, und
diese Transparenz wird die Vielfalt der Medienland-
schaft wahren und stärken helfen. Ganz besonders ge-
spannt bin ich aber auf eines: nämlich wie Ihre Partei,
meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von der
SPD-Fraktion, es selbst mit der Meinungsvielfalt und
mit der Transparenz hält. Die Mediendatenbank wird
auch offenlegen, wie stark die Verflechtungen der So-
zialdemokratischen Partei in der Medienbranche sind.
Es wird sich zeigen, ob die oftmals nicht klar erkennba-
ren Medienbeteiligungen Ihrer parteieigenen Druck-
und Verlagsgesellschaft einem fairen Wettbewerb ent-
sprechen. In meinen Augen sind sie ein Widerspruch zur
Meinungsvielfalt in Deutschland. Seien Sie versichert:
Wir freuen uns auf diese Transparenz!


Martin Dörmann (SPD):
Rede ID: ID1717231200

Mit ihrem gemeinsamen Antrag fordern die Fraktio-

nen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen eine be-
lastbare Datengrundlage für wichtige medienpolitische
Entscheidungen. Insbesondere sollen die durch das
Hans-Bredow-Institut und das Formatt-Institut erstell-
ten Datenerhebungen zur Errichtung der Mediendaten-
bank im Deutschen Bundestag unverzüglich vorgelegt
und die Mediendatenbank der Öffentlichkeit zugänglich
gemacht werden.

Zu Protokoll gegebene Reden





Martin Dörmann


(A) (C)



(D)(B)


Aktueller Anlass für unseren Vorstoß ist der zwi-
schenzeitlich vom Bundeskabinett verabschiedete Ge-
setzentwurf zur Novellierung des Gesetzes gegen Wett-
bewerbsbeschränkungen, GWB. Darin enthalten ist eine
Änderung der Pressefusionsrechts. Fusionen von Pres-
seunternehmen werden hierdurch erheblich erleichtert.
Künftig soll das Bundeskartellamt einen Zusammen-
schluss zwischen Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen
erst ab einem gemeinsamen weltweiten Umsatz der be-
teiligten Presseunternehmen von 62,5 Millionen Euro
prüfen statt wie bisher ab 25 Millionen Euro. Zusätzlich
wird auch die Bagatellmarktschwelle im Pressebereich
von 750 000 Euro auf 1,875 Millionen Euro angehoben.
Begründet werden die beabsichtigten Gesetzesänderun-
gen mit veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingun-
gen auf den Pressemärkten. Das Internet als bedeuten-
des Informationsmedium führe zu einer gewachsenen
Konkurrenz durch neue Anbieter, andere Mediengattun-
gen sowie ein geändertes Mediennutzungsverhalten.

In der Tat hat die Digitalisierung insbesondere die
Printpresse vor große Herausforderungen gestellt. Der
Auflagenverlust ist enorm und anhaltend. Von 1995 bis
2010 haben die Kaufzeitungen gut ein Drittel ihrer Auf-
lage eingebüßt, die Abonnementzeitungen etwa ein
Fünftel. Zudem ging alleine von 1998 bis 2008 der Um-
satz durch Werbeerlöse um 1,7 Milliarden Euro und da-
mit mehr als ein Viertel zurück.

Auch die SPD-Bundestagsfraktion betrachtet diese
Entwicklung mit Sorge, vor allem auch deshalb, weil ein
erheblicher Qualitäts- und Vielfaltsverlust damit ver-
bunden ist. Wir beobachten insgesamt einen Abbau re-
daktioneller Ressourcen bei Printmedien. Redaktionen
werden zusammengelegt, Stellen abgebaut und Lohnkos-
ten gesenkt. Oft lösen Reporterpools, die allen Titeln ei-
nes Konzerns zuarbeiten, eigenständige Redaktionen ab,
um Kosten zu sparen. Insbesondere im lokalen Bereich
ist der Vielfaltsverlust gravierend. Gerade vor diesem
Hintergrund ist es notwendig, dass wir alle vernünftigen
Möglichkeiten nutzen, um Medienvielfalt im Printbe-
reich zu erhalten und zu stärken. So haben die Fraktio-
nen von SPD und von Bündnis 90/Die Grünen kürzlich
einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der eine ge-
setzliche Absicherung des Presse-Grosso vorsieht.
Durch dieses Vertriebssystem wird sichergestellt, dass
kleine und große Verlage ihre Zeitschriften gleich-
berechtigt an die Verkaufsstellen bringen können.

Die SPD-Bundestagsfraktion wird prüfen, ob und in-
wieweit eine Änderung des Pressefusionsrechts sinnvoll
und notwendig ist, um das wirtschaftliche Fundament
kleinerer und mittlerer Presseverlage zu stabilisieren.
Allerdings nehmen wir auch die Hinweise des Bundes-
kartellamts sehr ernst, das in seiner Stellungnahme zum
Referentenentwurf zur GWB-Novelle die beabsichtigten
Änderungen der Anmeldeschwelle für Fusionen im Pres-
sebereich und erst recht darüber hinaus gehende Forde-
rungen kritisch bewertet hat. Es sei zu befürchten, dass
dadurch der Wettbewerb und die Pressevielfalt einge-
schränkt würden.

Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, so
weitreichende Änderungen beim Pressefusionsrecht

sollten auf einer möglichst soliden Datengrundlage er-
folgen. Von daher halten wir es für irritierend und wenig
nachvollziehbar, dass die Bundesregierung ihr bekannte
Zahlen über den Medienbereich noch nicht vorgelegt
hat.

Ich will daran erinnern, dass der Ende 2008 vorge-
legte Medien- und Kommunikationsbericht der Bundes-
regierung die bestehenden Informationsdefizite im Be-
reich der traditionellen und der neuen Medien
ausdrücklich bestätigt hat. Gerade aus diesem Grund
hat der Deutsche Bundestag die Einrichtung einer Medi-
endatenbank beschlossen. Sie soll – aufbauend auf den
Ergebnissen der Medien- und Medienkonzentrationsfor-
schung – belastbare Daten zu den Angebots- und Anbie-
terstrukturen enthalten. Eigentlich sollte diese Medien-
datenbank bereits Ende 2011 auf der Homepage des
Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Me-
dien veröffentlicht werden. Beim Einstellen der Mittel
für die Mediendatenbank im Haushalt 2009 hatte der
Haushaltsgesetzgeber ausdrücklich das Ziel vorgege-
ben, dass diese belastbare Informationen und Daten-
grundlagen für medien- und kommunikationspolitische
Entscheidungen bieten soll.

Mit den Gutachten sollten insbesondere die Defizite
im Bereich der vielfaltsrelevanten Daten abgebaut wer-
den. Dabei sollten die multimedialen Angebots- und An-
bieterstrukturen auf lokaler Ebene untersucht und das
gesamte klassische und onlinegestützte örtliche Medien-
angebot sowie crossmediale Verflechtungen und Ent-
wicklungen detailliert beschrieben und für die Medien-
datenbank auch kartografisch dargestellt werden. Dabei
sollte es vor allem darum gehen, nicht nur die lokalen
Verhältnisse, sondern auch generelle nationale Trends
der Angebots- und Anbieterentwicklung unter Viel-
faltsaspekten zu erfassen. Zugleich sollte in einer zwei-
ten Studie die Nutzerseite untersucht und aufgezeigt
werden, wie die Nutzer im Medienwandel Angebote rezi-
pieren und in ihrer Relevanz für Meinungsbildung und
Meinungsvielfalt einschätzen. Damit sollten insbeson-
dere die Veränderungen der Informationsrepertoires der
Bevölkerung aufgezeigt werden, um gegebenfalls Rück-
schlüsse auf die Vielfaltsrelevanz klassischer und on-
linegestützter Angebote und Anbieter ziehen zu können.

Nun ist die vom Hans-Bredow-Institut in Kooperation
mit dem Formatt-Institut in zwei Studien durchgeführte
Bestandsaufnahme zwar abgeschlossen, wurde aber
dem Deutschen Bundestag immer noch nicht vorgelegt.
Auch ist nicht erkennbar, dass die Bundesregierung die
erhobenen Daten zur Grundlage ihres Gesetzentwurfes
gemacht hätte. Vielmehr hat die Bundesregierung offen-
sichtlich bestimmte Forderungen von Verlegerver-
bänden aufgegriffen, ohne dass aus der Begründung
absehbar wäre, welche Folgen die Änderung des Presse-
fusionsrechts für die Medienvielfalt in Deutschland
hätte. Gerade diese Folgen sind aber entscheidend bei
der Beurteilung, inwieweit eine Änderung des Presse-
fusionsrechts Medienvielfalt stärkt oder schwächt. Des-
halb fordern wie die Bundesregierung nochmals auf,
jetzt unverzüglich Klarheit über die Ergebnisse der Stu-
dien zu schaffen und die Mediendatenbank schnellst-
möglich der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Weit-

Zu Protokoll gegebene Reden





Martin Dörmann


(A) (C)



(D)(B)


reichende Änderungen des Pressefusionsrechts sollten
auf eine möglichst belastbare Datengrundlage gestellt
werden. Uns allen sollten der Erhalt und die Förderung
einer vielfältigen Medienlandschaft ein wichtiges Anlie-
gen sein.


Burkhardt Müller-Sönksen (FDP):
Rede ID: ID1717231300

Für die Liberalen ist Vielfalt ein Leitmotiv. Eine viel-

fältige Medienlandschaft ist die Grundvoraussetzung
des Meinungspluralismus und damit unserer demokrati-
schen Grundordnung. In Deutschland erfreuen wir uns
an einer Medienvielfalt, die im globalen Vergleich
herausragend ist. Der Schutz und die Förderung dieser
Vielfalt ist deshalb ein richtiges, gemeinsames Anliegen
des Deutschen Bundestags, das wir als FDP-Fraktion
ausdrücklich verfolgen. Ziel muss sein, dem Bürger eine
freie Meinungsbildung aus unterschiedlichen Quellen
seiner Wahl zu ermöglichen.

Wir beschränken uns dabei nicht auf eine Sicherung
des Status quo, sondern erkennen die Chancen, die der
dynamische Digitalisierungs- und Konvergenzprozess
im Internet eröffnet hat. So ist zum Beispiel der Rund-
funk nicht länger an knappe Frequenzen gebunden, son-
dern kann im Internet auf unerschöpfliche Ressourcen
ausweichen. Bewegte Bilder lassen sich sehr günstig
produzieren, und lange Texte engagierter Blogger finden
im Internet auch ohne Verleger ihren Weg zum Leser.
Der Mediennutzer ist in der Auswahl der konsumierten
Medien so frei wie nie, auch weil mit den Verlegern und
privaten Anbietern engagierte Unternehmer wirtschaft-
lich in Vorleistung gehen. Den Digitalisierungsprozess
und die daraus folgenden Verschiebungen auf dem
Mediensektor wollen wir konstruktiv begleiten, einsei-
tige Fehlentwicklungen gesetzgeberisch korrigieren und
dort regulierend eingreifen, wo Meinungsmacht zum
Nachteil der Bürgerinnen und Bürger konzentriert zu
werden droht.

Der vorliegende Antrag hingegen ist nur nach seinem
äußeren Anschein auf die Förderung der Meinungsviel-
falt gerichtet und findet deshalb nicht unsere Unterstüt-
zung. So geht der Antrag von der irrigen Annahme aus,
die Bundesregierung würde vorliegende Erkenntnisse
ohne sachlichen Grund zurückhalten. Dies ist nicht der
Fall. Die durch das Hans-Bredow-Institut und das For-
matt-Institut erstellten Datenerhebungen zur Einrich-
tung der Mediendatenbank werden dem Deutschen
Bundestag in Kürze vorgelegt werden. So hat es Staats-
minister Neumann glaubhaft bekundet, und so gibt es im
Übrigen auch der Beschluss des Haushaltsausschusses
vor. Sinnvollerweise wird dies im Anschluss an die Prü-
fung und Freigabe der Studie durch den Auftraggeber
geschehen. Bekanntermaßen kann es hierbei zu Verzöge-
rungen kommen, die uns jedoch keinesfalls an der baldi-
gen, umfassenden Unterrichtung im Ausschuss für Kul-
tur und Medien zweifeln lassen.

Des Weiteren impliziert der vorliegende Antrag, dass
die fraglichen Studien Voraussetzungen der laufenden
Gesetzgebungsverfahren zum Pressefusionsrecht und
zum Urheberrecht waren. Auch diese Annahme trifft
nicht zu. Die für die laufenden Gesetzesinitiativen benö-

tigten Daten liegen längst vor. Es gab zahlreiche Stel-
lungnahmen und Anhörungen, die in die Entwürfe einge-
flossen sind oder noch beraten werden.

Im Falle der GWB-Novelle liegt dem Beschluss des
Koalitionsausschusses der Referentenentwurf vom
Herbst letzten Jahres zugrunde. Die Koalition setzt
damit ihre Ankündigungen um, der internen Einigung
der Branche zu folgen, und reagierte nicht unmittelbar
auf die erst kurz zuvor zugestellten Studienergebnisse.
Die Datenerhebungen des Hans-Bredow-Instituts und
des Formatt-Instituts wurden dem BKM erst Ende Fe-
bruar zugestellt, während der Referentenentwurf zur
8. GWB-Novelle bereits im Oktober seitens des BMWi
vorgelegt wurde. Damit konnten die Studienergebnisse
schon zeitlich nicht in den Gesetzentwurf einfließen.
Sollten die Studien allerdings zusätzlich relevante
Erkenntnisse bringen, dann werden alle Fraktionen
Gelegenheit haben, diese im parlamentarischen Verfah-
ren einfließen zu lassen.

Auch bei der Reform des Urheberrechts setzen wir
den Koalitionsvertrag um und verbessern die Rahmen-
bedingungen der Medienbranche im digitalen Zeitalter.
Auch hier wurden mit dem Beschluss des Koalitionsaus-
schusses Eckpunkte festgelegt, denen nicht kurzfristig
eingegangene Datenerhebungen, sondern der Koali-
tionsvertrag zugrunde liegt. Wir wollen die Verleger bei
der Bewältigung der Herausforderungen des digitalen
Zeitalters unterstützen und setzen uns daher seit Jahren
für eine Anpassung des Urheberschutzes ein. Weitere
parlamentarische Beratungen werden auch hier folgen.

Zum Abschluss möchte ich nochmals betonen, dass
wir die Förderung der Medienvielfalt sehr ernst nehmen
und die kommenden Beratungen zur GWB-Novelle ent-
sprechend sorgfältig angehen werden. Ich lade meine
Kolleginnen und Kollegen ein, sich konstruktiv in die
Debatte einzubringen, damit wir die bestmöglichen
Voraussetzungen zum Erhalt der Medienvielfalt in
Deutschland schaffen.


Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717231400

Eine solide Datenbasis sollte überall Grundlage poli-

tischer Entscheidungen sein. Insofern mutet es höchst
erstaunlich an, dass im Zusammenhang mit Presse- und
Internetdienststrukturen sowie generell zu Konzentra-
tionsprozessen im Medienbereich heute offenbar nicht
klar ist, in welcher medienwirtschaftlichen Situation wir
uns überhaupt befinden. Der Antrag von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen beschäftigt sich unter einem eher zu-
rückhaltenden Titel faktisch mit einem Skandal. Seit
1996 gibt es durch die Einstellung der Pressestatistik
des Statistischen Bundesamtes keine gültigen parla-
mentsamtlichen Daten über die Verschmelzungen und
Verzahnungen der Presse- und Medienkonzerne mehr.
Die Errichtung einer Mediendatenbank – längst überfäl-
lig und europäische Standards nachholend – ist vom
Deutschen Bundestag beschlossen worden und trotzdem
noch nicht zugänglich. Das Parlament ist in Auswertung
der Medien- und Medienkonzentrationsforschung daher
auf externe Erhebungen angewiesen, wie zum Beispiel

Zu Protokoll gegebene Reden





Kathrin Senger-Schäfer


(A) (C)



(D)(B)


die Basisdaten zur Mediensituation 2011 der Zeitschrift
„Media Perspektiven“.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich die antragstellenden
Fraktionen für ihren Vorstoß nun beglückwünschen soll
oder ob es nicht vielmehr angemessener wäre, ange-
sichts des Versagens sämtlicher Bundesregierungen seit
1996 von einer vorsätzlichen Vernachlässigung elemen-
tarer Auskunftspflichten gegenüber den Mandatsträgern
zu sprechen, die offensichtlich seit 16 Jahren in der Me-
dienpolitik Entscheidungen treffen, ohne gesichert zu
wissen, auf welcher Grundlage sie das tun. Von dieser
Kritik können die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen natürlich nicht ausgenommen werden, da
sie zwischen 1998 und 2005 selbst die Regierung bilde-
ten.

Nichtsdestoweniger ist es natürlich sehr erhellend,
wenn wir als Medienpolitikerinnen und Medienpolitiker
erfahren müssen, dass, so heißt es in dem Antrag, „der-
zeit nicht einmal die Frage nach der Anzahl der Tages-
zeitungen in Deutschland beantwortet werden“ kann,
„wenn darunter Zeitungen mit jeweils eigenständigem
redaktionellen Angebot verstanden werden“. Es muss
die dringende Frage erlaubt sein, wie ich bei diesen Zu-
ständen fachpolitisch argumentieren soll. Und solange
die beschlossene Mediendatenbank noch keine Daten
liefert, müsste man eigentlich allen politisch Verant-
wortlichen größte Zurückhaltung bei der sachgerechten
Bewertung vorliegender medienpolitisch relevanter Ge-
setzentwürfe empfehlen. Der Antrag von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen hat hier der Tendenz nach die richti-
gen Fragen aufgeworfen, und erfreulich ist auch, dass
explizit die bestehenden Defizite an Information sowohl
für die traditionellen als auch für die neuen Medien fest-
gestellt werden.

Das Informationsdefizit ist umgehend zu beseitigen
und die Datengrundlage im Mediensektor signifikant zu
verbessern. In dieser Hinsicht stimmt die Fraktion Die
Linke dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
zu. Wir stimmen auch darin zu, dass die fehlende Daten-
grundlage das gesamte Verfahren der Neufassung der
Pressefusionskontrolle im Rahmen der Novellierung des
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, GWB,
fragwürdig macht, welche ja eine Erleichterung von
Pressefusionen in einem Maße vorsieht, wonach der
Konzentrationswert im Pressewesen deutlich angehoben
werden kann. Damit ist nun eine weitere Einschränkung
des Wettbewerbs und der Pressevielfalt zu befürchten,
die möglicherweise auch Auswirkungen auf den Ge-
samtverbund der Medienlandschaft hat. Bekanntlich
nehmen crossmediale und gerätekonvergente Medienan-
gebote im Zeitalter der Digitalisierung stark zu. Diese
Erkenntnis werden sich Bundesregierung und Parlament
jedoch aus anderen Quellen als den eigens finanzierten
Datenerhebungen erschließen müssen – und wenn das
nicht skandalös ist, dann weiß ich nicht, wie man das
sonst nennen soll.

Kritisch anzumerken wäre vonseiten meiner Fraktion
zum wiederholten Male, dass Presse- und Medienvielfalt
bei SPD und Bündnis 90/Die Grünen nachgerade ein
Wert an sich zu sein scheinen. Aber Vielfalt allein garan-

tiert weder Qualität, noch ist damit gesichert, dass die
medialen Angebote auch tatsächlich den kulturellen und
informationellen Ansprüchen der Bevölkerung dienen.
Das Plädoyer für die unbedingte Aufrechterhaltung der
Presse- und Medienvielfalt kaschiert meiner Ansicht
nach zu oft den durchaus spekulativen Charakter vieler
Medienprodukte, wohingegen herrschaftskritische Me-
dieninhalte nicht selten im breiten Strom der Meinungs-
und Medienpluralität schlicht durch fehlende Wahrneh-
mungsmöglichkeit untergehen.

Abzulehnen ist die in dem Antrag von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen suggerierte Verbindung zu einem
Leistungsschutzrecht für Presseverlage. Die Fraktion
Die Linke sieht hierfür keinerlei Regelungsbedarf, da
sich die Presseverlage etwas rechtlich schützen lassen
wollen, das genau genommen keine eigene Leistung dar-
stellt oder, wenn doch, dann bereits durch das Urheber-
recht abgedeckt ist. Unverhohlen handelt es sich beim
Leistungsschutzrecht um einen Lobbyistenwunsch der
Verlage, die durch Onlinemedien verstärkt Konkurrenz-
druck verspüren. Wir begrüßen ausdrücklich, dass die
Bundesregierung aufgefordert wird, auch andere Instru-
mente zur Medienstabilität als Pressefusionskontroller-
leichterung und Leistungsschutzrecht zu prüfen.


Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717231500

Die Entscheidungen dieses Hauses haben weit-

reichende Auswirkungen: Sie betreffen die Umwelt, die
Europäische Union, das Land und vor allem die Men-
schen. Wir müssen deshalb Entscheidungen nach bestem
Wissen und Gewissen treffen. Das mit dem Gewissen
muss jede und jeder selbst mit sich abmachen. Das mit
dem Wissen geht einfacher, beispielsweise durch die
Erhebung von Daten. Und wenn man diese Daten hat,
muss man sie nutzen. Das klingt konsequent, aber konse-
quentes Handeln ist nicht gerade die Stärke dieser Bun-
desregierung.

Konkret: Bereits 2009 hatte der Bundestag mit grüner
Unterstützung eine Mediendatenbank beschlossen. Auf-
bauend auf den Ergebnissen der Medienkonzentrations-
forschung, sollte diese belastbare Daten zu Angebots-
und Anbieterstrukturen im Medienbereich enthalten, vor
allem zu Formen der crossmedialen Zusammenarbeit
und Verflechtungen. Die Datenbank ist dringend nötig,
wenn wir über die Zukunft der Presse reden; denn eine
valide Datengrundlage ist rar. Die Verlage legen ihre
Zahlen nicht offen, und seit die Pressestatistik 1996
abgeschafft wurde, fehlt uns dringend benötigtes Zah-
lenmaterial. Die Datenbank aber, sie kommt und kommt
nicht, obwohl sie bereits Ende 2011 auf der Webseite des
Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und
Medien online sein sollte. Staatssekretär Neumann sagte
in der Fragestunde am 7. März 2012, sie sei vor kurzem
abgeschlossen worden. Noch drei Tage vorher hatte der
Koalitionsausschuss zwei Projekte beschlossen, die an-
gesichts der Digitalisierung den Presseverlagen den
„wirtschaftlich notwendigen Strukturwandel erleich-
tern“ sollen: eine Erleichterung der Pressefusionskon-
trolle und das immer wieder angekündigte Leistungs-
schutzrecht für Verlage.

Zu Protokoll gegebene Reden





Tabea Rößner


(A) (C)



(D)(B)


Ich frage mich allerdings: Woher will die Bundesre-
gierung wissen, was den Verlagen hilft, wenn sie nicht
mal genau weiß, wie es ihnen wirtschaftlich geht? Die
Bundesregierung hat offenbar ihre Vorschläge zur Neu-
regelung der Pressefusionskontrolle ohne jede Zahlen-
erhebung vorgelegt, die die Situation auf den einzelnen
Medienmärkten überhaupt darstellt. Sie hatte dem-
entsprechend auch keine Daten, auf deren Basis sie
hätte abwägen können, welche Instrumente die Situation
verbessern könnten. Dabei sollte die Mediendatenbank
auf ausdrücklichen Wunsch des Gesetzgebers vor allem
als Grundlage für medien- und kommunikationspoliti-
sche Entscheidungen dienen. Die Bundesregierung hat
auch nicht näher erläutert, warum sie die beiden Instru-
mente Leistungsschutzrecht und Erleichterungen bei der
Pressefusionskontrolle für geeignet hält, um Vielfalt zu
erhalten oder zu fördern.

Ja, die Presse steckt in einer großen Krise. Vor allem
die kleinen Verlage kämpfen um ihr Überleben. Die Auf-
lagen sinken kontinuierlich, ebenso die Werbeeinnah-
men, weil Nutzungsgewohnheiten sich ändern und
Werbetreibende ihre Werbung lieber bei Google oder
anderen zugriffsstarken Onlineportalen platzieren. Die
meisten kleineren Onlineangebote schreiben rote Zah-
len. Die Verlage bauen vor allem Mitarbeiter ab oder
strukturieren die Redaktionen um. Das heißt, sie produ-
zieren weniger Qualität. Genau diese bräuchten sie
aber, um im Wettbewerb – auch online – bestehen zu
können. Diese strukturellen Probleme möchte die Bun-
desregierung lösen, indem sie vor allem den großen Ver-
lagen Geschenke macht.

Es ist zweifelhaft, ob ein Leistungsschutzrecht den
kleinen, lokalen Verlagen hilft. Warum? Weil prozentual
die am meisten abbekommen werden, die die meisten
Artikel mit der höchsten Klickzahl online stellen, erst
recht dann, wenn die Bezahlung der gewerblichen
Anbieter nicht pauschal läuft und zudem über Verwer-
tungsgesellschaften – wie es die FDP zu wollen scheint.
Denn dann müssen die Verlage die unrechtmäßige
gewerbliche Nutzung ihrer Leistung einzeln verfolgen
und Klage erheben. Gerade das aber macht schon jetzt
den kleinen Verlagen bei Urheberrechtsverstößen
Schwierigkeiten. Sie haben weder die finanzielle Aus-
stattung noch die personellen Ressourcen, um lange
Gerichtsverfahren anzustrengen. Vielfalt und Qualität
sind mit dem Leistungsschutzrecht also nicht gewonnen.

Die Journalistinnen und Journalisten erhalten im
Zweifel wenig bis nichts aus den Einnahmen. Denn: Was
eine angemessene Beteiligung an der Vergütung sein
soll, müsste bilateral verhandelt werden, wenn das
Gesetz bereits beschlossen wäre. Im Gesetz selbst wird
dazu nichts stehen. Liebe Bundesregierung, selbst dann,
wenn nur die großen Verlage profitieren von einem Leis-
tungsschutzrecht und Sie genau dies bezwecken: Glau-
ben Sie wirklich, dass es Springer, „WAZ“ und Co. im
Kampf gegen die digitale Konkurrenz von Suchmaschi-
nen und Social Networks hilft? Woher nehmen Sie diese
Gewissheit?

Mit den Änderungen bei der Pressefusionskontrolle,
die das Kabinett gestern mit dem Entwurf zum Gesetz

gegen Wettbewerbsbeschränkungen, GWB, beschlossen
hat, werden nach Schätzungen des Bundeskartellamtes
rund 20 Prozent der bislang anmeldepflichtigen Fusio-
nen in diesem Bereich nicht mehr der Fusionskontrolle
unterliegen. Ich sehe darin – ähnlich wie das Kartellamt
in seiner Stellungnahme zum Referentenentwurf – die
Gefahr von noch mehr Konzentration und weniger Viel-
falt auf den Märkten. Anstatt den Davids unter den Ver-
lagen noch größere Goliaths gegenüberzustellen, hätte
die Bundesregierung wenigstens die etwa in Frankreich
oder Österreich übliche direkte und indirekte Presseför-
derung prüfen müssen.

Nebenbei ist auch nichts zu einer gesetzlichen Rege-
lung des Presse-Grosso enthalten, wie wir es in unserem
Antrag zur gesetzlichen Absicherung desselben fordern.
Auch hier verpasst die Koalition eine Gelegenheit, die
Pressevielfalt zu stärken.

Wissen ist Macht, heißt es. Wissen haben, aber daraus
nichts machen – das ist eine große medienpolitische
Dummheit. Wie schade, meine Damen und Herren von
der Regierung, dass Sie sich dem Wissen nicht verpflich-
tet fühlen. Denn dann könnten wir bei der Bewältigung
der Pressekrise schon einen Schritt weiter sein. Es wäre
angesichts des Vormarsches von Google und Co. drin-
gend nötig.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717231600

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9155 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Carola Reimann, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Gesundheitsforschung an den Bedarfen der
Patientinnen und Patienten ausrichten – Rah-
menprogramm Gesundheitsforschung der Bun-
desregierung überarbeiten

– Drucksachen 17/5364, 17/9143 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Eberhard Gienger
René Röspel
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Petra Sitte
Krista Sager

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch diese Reden zu Protokoll.


Eberhard Gienger (CDU):
Rede ID: ID1717231700

Der Antrag der SPD entbehrt jeder Tatsache. Das

Rahmenprogramm Gesundheitsforschung wird im An-
trag der SPD an vielen Stellen ins Gegenteil verkehrt. Es
heißt, das Programm orientiere sich zu nahe an der
Wirtschaft und nutze vor allem den Pharmaunterneh-





Eberhard Gienger


(A) (C)



(D)(B)


men. Erstens ist das falsch, und zweitens widerspricht
der Vorwurf dem, was die SPD in Ihrer Regierungszeit
mit vorangetrieben hat. In Ihrem Antrag setzen Sie da-
rauf, dass die Menschen das Gesundheitsforschungsrah-
menprogramm nicht gelesen haben, und kritisieren
Punkte, die im Programm bereits stehen. Damit will sich
die SPD wohl als Erfinder der Programmpunkte hervor-
tun. Ich kann das nicht für gut befinden, denn ich finde,
wie Ministerin Schavan im April 2011 schon ausgeführt
hat, das Thema Gesundheit für die Menschen in unserem
Land sollte überparteilich zur Gemeinsamkeit führen.
Die Menschen setzen große Hoffnung in das rund 6 Mil-
liarden schwere Programm. Hier sind parteitaktisches
Kalkül, Kleinkariertheit und Nörgelei völlig fehl am
Platz.

Das Leitmotiv des Gesundheitsforschungsprogramms
ist klar: Wir wollen die Wege zum Patienten verkürzen.
Wenn von Translation und Wissenstransfer die Rede ist,
dann geht es nicht um verkaufbare Produkte, sondern
um neue Therapien, um neue Leitlinien für Diagnostik
und Therapien und der Beschleunigung der Herstellung
bzw. der Marktreife von Medikamenten, mit dem Ergeb-
nis, Verbesserungen für den Patienten zu erzielen. Das
ist unser Leitmotiv. Doch die SPD stellt es in ihrem An-
trag falsch dar. Dort heißt es: Das Leitmotiv sei die Stär-
kung der Gesundheitswirtschaft. Das ist ein Nebenef-
fekt, ja. Denn die Gesundheitswirtschaft schafft und
sichert Arbeitsplätze, und wir wollen natürlich auch,
dass sich die Branche gut entwickelt. Das primäre Ziel
ist und muss sein, Qualität und Sicherheit der Gesund-
heitsversorgung für kranke Menschen weiter zu steigern.
Dabei ist es unerlässlich, die Produktivität der Wirt-
schaft zum Wohle der Menschen zu nutzen.

Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD,
wollen Sie die Zielsetzung des Rahmenprogrammes der
Gesundheitsforschung nicht wahrnehmen? Ich zitiere
aus dem gemeinsamen Vorwort von Ministerin Schavan
und dem damaligen Gesundheitsminister Rösler: Aus
der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftlern entstehen die Ansätze, die bei entspre-
chender Weiterentwicklung und erfolgreicher Übertra-
gung in die medizinische Praxis den Menschen in
unserem Land ein beschwerdefreies, selbstbestimmtes
und langes Leben ermöglichen. Damit nimmt das Pro-
gramm den Menschen als Ganzes in den Fokus.

Die Koalition hat beispielsweise den öffentlichen Zu-
gang zu Studiendaten beleuchtet und gehandelt. In
§ 42 b Arzneimittelgesetz mit dem Gesetz zur Neuord-
nung des Arzneimittelmarktes haben wir diesen Zugang
herbeigeführt. Denn wenn man nichtkommerzielle For-
schung fördert, sollte man auch im Bereich nichtarznei-
mittelbezogener Forschung ein Interesse an öffentlichen
Daten haben. Das gesamte aus Studien resultierende
Wissen muss zur Verfügung stehen, ohne den Patienten
durch unnötige Doppeluntersuchungen zu belasten.

Weiterhin werden mit dem gemeinsamen Programm
der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des BMBF
vorrangig Studien über psychische Erkrankungen geför-
dert.

Der Vorwurf, dass die Erforschung von vernachläs-
sigten und seltenen Erkrankungen vordergründig kom-
merziellen Interessen diene und nicht genug Beachtung
fände, kann ich hier nicht so stehen lassen. Die Pro-
duktentwicklungsstudien der klinischen Phasen 1 bis 3
beziehen sich auf vernachlässigte und seltene Erkran-
kungen, bei denen der Mensch im Mittelpunkt des Inte-
resses steht.

Und natürlich haben wir auch immer mehr den Men-
schen in einer alternden Gesellschaft im Blick. Das
Deutsche Zentrum für Neurogenerative Erkrankungen
für Parkinson, Demenz, Alzheimer und das Deutsche
Zentrum für Diabetesforschung sind bereits gegründet,
und vorgestern erst wurde das Deutsche Zentrum für
Lungenforschung eröffnet.

„Gesundheitsforschung an den Bedarfen der Patien-
ten ausrichten“, so lautet der Antrag der SPD. Das tun
wir doch. Eine Überarbeitung ist überflüssig. Das Stich-
wort heißt hier individualisierte Medizin, wie im Ak-
tionsfeld 2 beschrieben. Dieses Aktionsfeld ist der ganz-
heitlichen Behandlung gewidmet. Die Forschung weiß
inzwischen, dass Krankheiten und deren Verläufe indivi-
duell entstehen können. Dabei spielen offensichtlich Al-
ter, Geschlecht, sozialer Hintergrund und die genetische
Disposition eine große Rolle. Daher werden Diagnostik
und Therapie künftig stärker individuell ausgerichtet
werden.

Wir sprechen über ein Forschungsfeld, welches die
humane Entwicklung unserer Gesellschaft betrifft. Was
wir brauchen, sind ein parteiübergreifender Konsens,
eine gute Zusammenarbeit zwischen Forschung und
Staat, eine gute Verbindung der Forschung mit dem Ge-
sundheitssystem und der Gesundheitsversorgung. Was
wir nicht brauchen, ist das Zerreden des Rahmenpro-
gramms der Gesundheitsforschung. Deshalb ist der An-
trag der SPD abzulehnen.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1717231800

Gesundheit – das wünschen wir uns gegenseitig bei

den verschiedensten Gelegenheiten, und das nicht ohne
Grund. Denn krank sein bedeutet häufig Schmerzen, Un-
annehmlichkeiten und oft auch Unsicherheit. Darüber
hinaus hält uns Krankheit von der Teilnahme am sozia-
len Leben und der Arbeit ab. Der Staat wie auch die Bür-
gerinnen und Bürger haben deshalb ein großes Interesse
an einem gut funktionierenden und finanzierbaren Ge-
sundheitssystem.

In Deutschland sind wir in der glücklichen Lage, dass
jeder von uns zum Arzt gehen kann, Medikamente in der
Apotheke erhältlich sind und, wenn es ganz schlimm
wird, ein Krankenhaus in der Nähe ist. Aus einem Kran-
ken wird in Deutschland also schnell ein Patient und
dann hoffentlich bald wieder ein Gesunder. Im Vergleich
zu vielen, auch europäischen Ländern existiert in
Deutschland ein sehr gutes Gesundheitswesen. Dazu
hat, wie so oft, auch die Forschung einen großen Teil
beigetragen.

Auf diesen Strukturen können und sollten wir uns
aber nicht ausruhen. Denn auch im aktuellen Gesund-

Zu Protokoll gegebene Reden





René Röspel


(A) (C)



(D)(B)


heitssystem gibt es viele Schwachstellen. So gibt es ins-
besondere auf dem Lande und in sozial schwachen
Stadtgebieten immer noch einen Ärztemangel. Wenn wir
gleichzeitig um den Zusammenhang von Bildung, Armut
und Gesundheitszustand der Menschen wissen, ergeben
sich neue Forschungsfelder. Auch die speziellen Heraus-
forderungen bei der Pflege von Demenzkranken spie-
geln sich immer noch nicht im Gesundheitssystem wider.
Da helfen auch keine Pflegereförmchen à la Minister
Bahr. Und die Privilegien der Privatversicherten sind
gesamtgesellschaftlich so unsozial, dass sie längst abge-
schafft gehören.

Neben den aktuellen Problemen kommen aber auch
neue Herausforderungen auf unser Gesundheitssystem
zu. Zu nennen ist dabei der demografische Wandel, der
einerseits zu einem Ausbau der Geriatrie, insbesondere
im Bereich Demenz, führen wird, aber andererseits auch
den Fachkräftemangel im Bereich des Pflege- und Medi-
zinpersonals noch weiter verschärfen wird. Darüber hi-
naus steigen mit neuen Diagnose- oder Therapiemög-
lichkeiten häufig auch die Kosten, übrigens auch für die
so hoch gepriesene personalisierte Medizin. Es muss so-
mit ein Ausgleich zwischen der Ausweitung des Thera-
pie- und Behandlungsspektrums auf der einen Seite und
den begrenzten Ressourcen eines auf Beitrags- und Steu-
erzahlerinnen und -zahlern basierenden Gesundheits-
versorgungssystems auf der anderen Seite gefunden
werden. Langfristig werden wir diese Herausforderun-
gen nur durch die Unterstützung der Forschung, zum
Beispiel im Bereich der Allokation, meistern können.

Aus diesem Grund waren wir Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten auf das Gesundheitsforschungs-
programm der Bundesregierung sehr gespannt. Die Vor-
arbeiten dazu hatten noch unter der Großen Koalition
begonnen, weshalb wir durchaus Hoffnung auf ein soli-
des Programm hatten. Umso enttäuschter waren und
sind wir über das Resultat. Es zeigt sich, dass die Verfas-
serinnen und Verfasser nicht aus der Sicht von Patien-
tinnen und Patienten gedacht haben, sondern sich zu
stark von wirtschaftlichen Interessen haben leiten las-
sen. Die Handschrift einer markt- und verwertungs-
orientierten FDP scheint an vielen Punkten durch. Das
Programm ist außerdem viel zu allgemein gehalten. In-
haltlich wichtige Fragen werden, wenn überhaupt, nur
gestreift. Als Reaktion haben wir deshalb den hier vor-
liegenden Antrag zur Überarbeitung des Gesundheits-
forschungsprogrammes in den Deutschen Bundestag
eingebracht.

Während der Diskussion im Plenum und im Aus-
schuss haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Regierungskoalition, sich redlich bemüht, unsere Kritik-
punkte am Gesundheitsforschungsprogramm als unzu-
treffend darzustellen. Leider, auch im Sinne der Gesund-
heitsforschung in Deutschland, ist Ihnen dies nicht
gelungen. Ihre verzweifelten Versuche, die positiven As-
pekte des Programms herauszustellen, haben im Gegen-
teil gezeigt, wie groß die Leerstellen in Ihrem Konzept
sind.

Anbei möchte ich unsere Kritik noch einmal an eini-
gen Beispielen illustrieren. Frau Schavan konzentriert

sich mit dem Gesundheitsforschungsprogramm stark auf
die Einführung neuer medizinischer Produkte. Das ist
nicht grundsätzlich falsch. Aber neue Produkte sind
nicht die einzige und nicht immer die beste Lösung für
Patientinnen und Patienten, insbesondere wenn sie die
Kosten für das Gesundheitssystem unverhältnismäßig
erhöhen, ein großer Teil der Bevölkerung sie sich gar
nicht mehr leisten kann und sie dann in vielen Fällen
auch nur geringen Nutzen erbringen. Deshalb fordern
wir in unserem Antrag, dass die Bundesregierung For-
schungsprojekte auflegt, die der Kommerzialisierung
von medizinisch notwendigen Gesundheitsleistungen
entgegenwirken.

In den letzten Jahren wird viel über die Stärkung der
Patientenautonomie diskutiert. Dies ist wichtig. Denn
auch hier gibt es noch viel Verbesserungs- und For-
schungsbedarf. Unser Ziel ist die mündige Patientin
bzw. der mündige Patient, aber die Realität in den Pra-
xen sieht oft anders aus. Viele medizinische Eingriffe
sind mittlerweile so komplex, dass viele Patientinnen
und Patienten – und wohl auch nicht mehr jede Ärztin
und jeder Arzt – überhaupt bis ins letzte Detail verste-
hen, welche Konsequenzen Ihre Unterschrift mit sich
bringt. Unklar ist Patientinnen und Patienten daneben
ebenfalls oft, welche Alternativen sie zu den angepriese-
nen Eingriffen eigentlich haben. Besonders schwer ist
diese Entscheidung für Menschen mit körperlichen oder
geistigen Gebrechen. Deshalb sprechen wir uns in unse-
rem Antrag dafür aus, Fördermaßnahmen zu entwickeln,
die in dem zunehmend komplexeren medizinischen Ver-
sorgungsystem das Ziel eines informierten und selbstbe-
stimmten Patienten fördern.

Statt des technikzentrierten Ansatzes von Frau
Schavan brauchen wir breite Lösungsansätze, die auch
sozialwissenschaftliche Fragen mit einbeziehen. Es
kann doch zum Beispiel nicht sein, dass Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter in Krankenhäusern unter Arbeits-
bedingungen arbeiten und behandeln, die sie in abseh-
barer Zeit selbst krank machen. Das ist doch nicht
nachhaltig. Strukturen und Arbeitsbedingungen, die
Menschen krank machen, existieren aber auch in ande-
ren Bereichen. Auch diese müssen in einem ganzheitli-
chen Gesundheitsforschungsprogramm angegangen
werden. Insbesondere die Arbeitsforschung muss des-
halb im Sinn des gesundheitlichen Präventionsansatzes
massiv ausgebaut werden. Auch hier findet man im Pro-
gramm der Bundesregierung nur Leerstellen und hüb-
sche Bildchen.

Man könnte noch viele weitere Beispiele nennen, an
denen das aktuelle Gesundheitsforschungsprogramm
zum Wohle der Menschen in diesem Land verbessert
werden könnte und müsste. Es liegt jetzt an Frau Bun-
desministerin Schavan und der Regierungskoalition, die
vielen Kritikpunkte aus den Diskussionen aufzunehmen
und in die Konkretisierung des Programmes einfließen
zu lassen. Wir sind auf das Resultat gespannt.


Dr. Peter Röhlinger (FDP):
Rede ID: ID1717231900

Vor einem Jahr haben wir hier über das Gesundheits-

forschungsprogramm der Bundesregierung gesprochen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Peter Röhlinger


(A) (C)



(D)(B)


Damals haben Sie Ihren Antrag eingebracht und Ihre
Kritik am Gesundheitsforschungsprogramm formuliert.
Demnach meinen Sie, das Programm diene mehr der
Stärkung der Gesundheitswirtschaft als dem Ziel, kran-
ken Menschen schnell neu entwickelte Hilfsangebote
zugänglich zu machen. Sie sehen da offenbar einen Ge-
gensatz, den es meiner Meinung nach so nicht gibt. Wis-
senschaftler, die Krankheiten erforschen und Unterneh-
men, die Produkte und Geräte für Diagnose und
Therapie herstellen und vertreiben, tun das, um kranken
und hilfebedürftigen Menschen zu helfen. Den Bedarf
dieser Menschen zu decken ist das Ziel. Was denn sonst?

Dabei kann man unterschiedliche Schwerpunkte set-
zen. Der Schwerpunkt, den die Forschungspolitik setzt,
ist die Gesundheitsforschung – mit Betonung auf For-
schung.

Es ist richtig, dass wir die Steigerung der Lebenser-
wartung in Deutschland in den letzten 100 Jahren in ers-
ter Linie der Verbesserung der sozialen Lebensbedin-
gungen zu verdanken haben. Dafür müssen wir uns
heute mit den Problemen einer alternden Gesellschaft
auseinandersetzen. Wir können uns nicht auf den Erfol-
gen der Vergangenheit ausruhen, sondern müssen unse-
ren Blick auf die Gegenwart und in die Zukunft richten.

Daraus folgt, dass wir uns im Hinblick auf unsere
Gesellschaft verstärkt um die sogenannten Volkskrank-
heiten zu kümmern haben. Schwerpunkt des Gesund-
heitsforschungsprogramms der Bundesregierung ist
deshalb die Einrichtung von Zentren zur Erforschung
von neurodegenerativen Erkrankungen, zum Beispiel
Parkinson, Demenz, Alzheimer, Diabetes, Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen, Krebs, Infektions- und Lungen-
krankheiten. Es ist schön, dass Sie den Auf- und Ausbau
dieser Zentren grundsätzlich begrüßen. Dass die Ent-
wicklung der Zentren und die Arbeit dort beobachtet und
evaluiert werden muss, ist selbstverständlich. Dass nicht
alles, was wünschenswert wäre, realisiert werden kann –
geschenkt.

Das Ziel ist, dass Forschungsergebnisse in Zukunft
schneller aus der Grundlagenforschung und der klini-
schen Forschung in die medizinische Regelversorgung
und damit zu den Patienten kommen. Dieser Prozess,
der in der Vergangenheit manchmal Jahrzehnte gedau-
ert hat, soll durch neue Strukturen und neue Formen der
Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftlern beschleunigt werden.

In ihrem Antrag vermissen Sie Maßnahmen, die zum
Beispiel die pflegerischen Leistungen für chronisch
Kranke verbessern. Inzwischen sind wir ein Jahr weiter
und wie Sie wissen, werden solche Maßnahmen im
Gesundheitsministerium vorbereitet. Auch im Hinblick
auf die Verbesserung der Situation der Menschen in Ent-
wicklungsländern, die Sie ebenfalls vermissen, sind wir
inzwischen weiter. Wir unterstützen sowohl die For-
schung zur Sicherung der weltweiten Ernährung als
auch die Forschung zur Bekämpfung von vernachlässig-
ten und armutsassoziierten Erkrankungen.

Für das Gesundheitsforschungsprogramm stehen im
Zeitraum 2011 bis 2014 über 5,5 Milliarden Euro zur

Verfügung. Ich bin davon überzeugt, dass diese Mittel
gut angelegt sind. Die Patienten stehen im Mittelpunkt.
Partner der Bundesregierung sind in erster Linie die
Forschungseinrichtungen. Aber wir haben auch ein
ungestörtes Verhältnis zu den Unternehmen als Partner
bei der Lösung so außerordentlich komplizierter Vorha-
ben. Ich meine, wir sollten das Programm jetzt nicht
überarbeiten, sondern wir sollten es sich entfalten las-
sen. Ihren Antrag lehnen wir deshalb ab.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717232000

Vor etwa einem Jahr haben wir hier im Plenum des

Bundestages das neue Gesundheitsforschungspro-
gramm diskutiert. Alle Oppositionsfraktionen kritisier-
ten dessen Kürze und Unkonkretheit. Viele der bereits
bestehenden Förderinstrumente und -programme wer-
den in diesem kurzen Text anschaulich erklärt. Zudem
definiert die Bundesregierung sechs Aktionsfelder, die
auf die großen Herausforderungen im Gesundheitsbe-
reich reagieren. Diese Felder sind durchaus richtig be-
nannt, es fehlt jedoch die eigentliche programmatische
Aussage. Wie will die Bundesregierung diese Herausfor-
derungen konkret meistern? Nun, mehr als ein Jahr nach
Beschluss und Debatte des Programms, zeigen sich die
großen Schwächen eines solchen missionsorientierten
Rahmenprogramms. Niemand, nicht mal wir Profis,
kann anhand der uns zugänglichen Informationen nach-
vollziehen, wie das Rahmenprogramm mit Leben gefüllt
wird.

Wir kennen die enorme Zahl von etwa 1,2 Milliarden
Euro, die für Gesundheitsforschung verausgabt werden
sollen. Aber welche Schwerpunkte Sie in Zukunft setzen
wollen, wofür ein Großteil des Geld ausgegeben werden
soll – diese wichtigen Prioritätensetzungen sind für uns
Parlamentarier kaum nachvollziehbar, geschweige denn
für Ottilie Normalbürgerin. Das neue Rahmenpro-
gramm Gesundheitsforschung ist in Sachen Transpa-
renz, verglichen mit der Vorgängerin, der Roadmap
Gesundheitsforschung, und verglichen mit den diesbe-
züglichen Debatten von 2007 ein großer Schritt zurück.

Die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat einmal ver-
sucht, am Beispiel der Tuberkuloseforschung festzustel-
len, wie intensiv sich Deutschland an der Lösung großer
internationaler Probleme der Gesundheitsversorgung
beteiligt. Die Kolleginnen und Kollegen mussten auf-
wendige Expertengespräche mit diversen Beteiligten
aus Ministerien, Forschungsorganisationen und Hoch-
schulen führen, um einen auch nur halbwegs aussage-
kräftigen Überblick über die Tuberkuloseforschung zu
bekommen. Und selbst dieser, so die Selbsteinschätzung,
sei noch mit Unwägbarkeiten verbunden. Transparenz,
liebe Kolleginnen und Kollegen, sieht anders aus.

Seitens des Forschungsministeriums wird stets darauf
verwiesen, dass man sich ja auf ihrer Seite die Informa-
tionen holen könne. Nun ja. Auch das ist ein wenig mü-
hevoll, denn so gut ist die Suchfunktion der ministeriel-
len Seiten nicht. Wie auch immer, mit zielstrebiger Suche
kann man sich über manches im Nachhinein informie-
ren. So habe ich nach den geförderten Projekten in der
Präventionsforschung gesucht. Immerhin lassen sich die

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)


vergleichsweise lächerlichen Gesamtsummen von etwa
4 bis 6 Millionen Euro jährlich in diesem Bereich rekon-
struieren. Aber nicht genug, dass diese extrem niedrig
angesetzt sind, enden diese Förderungen alle im ersten
Halbjahr 2012. Was das Ministerium zukünftig in die-
sem Bereich fördern will, darüber haben wir keine Infor-
mationen erlangen können.

In der Versorgungsforschung, die immerhin als soge-
nannter Schwerpunkt gilt, sieht es etwas besser aus.
Hier lassen sich Informationen über die bis 2014 gelten-
den Förderausschreibungen abrufen. Volle 10 Millionen
Euro stehen dafür zur Verfügung. Das sind etwa zwei
Tausendstel der Gesamtförderung für die Gesundheits-
forschung – beileibe nicht das, was einen Schwerpunkt
bzw. ein Aktionsfeld ausmachen sollte.

An diesen Zahlen zeigt sich: Erst durch eine offene
und transparente Debatte über Prioritäten und Posteri-
oritäten, also nachgelagerte Schwerpunkte, über kon-
krete Fördervorhaben kann das blumige Rahmenpro-
gramm Gesundheitsforschung mit Inhalt füllen.

Gerade aus dem Pharma- und Biotechbereich sowie
die Medizintechnik, in denen die Mammutausgaben der
Forschungsförderung erfolgen, haben wir weder über
Projekte noch über Adressaten zufriedenstellende Infor-
mationen. Es ist geradezu symptomatisch, dass vor ei-
nem Jahr Abgeordnete der Regierungsfraktionen auf
Nachfrage keine konkreten neuen Fördervorhaben in
der Gesundheitsforschung, geschweige denn Zahlen
dazu nennen konnten. Ministerin Schavan argumentierte
in der damaligen Debatte, niemand könne angesichts
schnelllebiger wissenschaftlicher Entwicklung die För-
derbedarfe voraussehen. Dem muss ich entgegenhalten,
dass zumindest ein Zeitraum der kommenden fünf Jahre
nicht unüberschaubar ist. Zudem haben auch Förder-
ausschreibungen lange Vorläufe im Ministerium und de-
cken in der Förderperiode mehrjährige Zeiträume ab.
Eine offene Darstellung der Förderplanung sollte in sol-
chen Zeiträumen in jedem Fall möglich sein.

Es erscheint eher so, als dass sich das Forschungsmi-
nisterium hier Handlungsfreiheit und eine gewisse Ab-
schottung gegenüber lästigen Nachfragen aus Parla-
ment und Zivilgesellschaft schaffen möchte. Fakt ist:
Der Forschungsbereich ist in Bezug auf die Finanzen ei-
nes der intransparentesten Politikfelder. Wir leben je-
doch in Zeiten offener Daten – diese müssen auch in der
Forschungsförderung Einzug halten. Es darf nicht sein,
dass immer mehr Fördergelder mit immer weniger
Transparenz einhergehen.

Unser ehemaliger Kollege Wolfgang Wodarg fordert
heute in der „taz“ pointiert ein Register für Forschungs-
ausgaben. Auch meine Fraktion hat eine solche Platt-
form und eine Offenlegung des ministeriellen Informa-
tionsstandes immer wieder angemahnt. Dabei geht es
insbesondere um die Verknüpfung der quasi unüber-
schaubaren Fördervielfalt in Projekten, außeruniversi-
tären Instituten und bei Drittmittelförderern wie der
DFG.

Innovationsprozesse dürfen zukünftig nicht mehr
ohne die Zivilgesellschaft, ohne betroffene Patientinnen

und Patienten, ohne gesundheitsökonomische Expertise
und Akteure aus Versorgung und Forschung vorbe-
stimmt werden. Dies gilt sowohl für den privaten wie den
öffentlichen Bereich. Wenn darüber hinaus mit Steuer-
mitteln gefördert wird, muss das Gemeinwohlinteresse
in besonderer Weise im Vordergrund stehen. Diesem An-
satz wird die Bundesregierung mit ihrer Förderpolitik
nur unzureichend gerecht.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717232100

Im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der

Bundesregierung sehen wir Grüne positive, aber auch
eine Reihe kritischer Aspekte. Positiv hervorzuheben ist,
dass die Bereiche Prävention, Versorgung sowie globale
Herausforderungen – und hierunter auch das Thema
vernachlässigte Krankheiten – aufgerufen und als wich-
tige Aktionsfelder der Gesundheitsforschung identifi-
ziert werden. Angesichts ihrer finanziellen Ausstattung
muss man andererseits allerdings auch feststellen: Um
eine angemessene und echte Fokussierung auf diese Fel-
der handelt es sich dabei noch nicht. Das ist ausbaufä-
hig und sollte weiter vorangebracht werden.

Noch unterbelichtet sind im Rahmenprogramm bis-
lang Forschungsperspektiven, die sozial-medizinische
Dimensionen von Krankheit und Gesundheit in den
Blick nehmen. Ich denke da an Beiträge, die die
Forschung dazu leisten kann, um bei Prävention und
Versorgung mehr Zugangs- und Teilhabegerechtigkeit zu
gewährleisten. Wie können Prävention, rehabilitative
Ansätze und Versorgungsansätze beispielsweise so ver-
bessert werden, dass davon nicht allein Menschen aus
der Mittelschicht profitieren, dass sie auch Bedürfnisse
und Lebenslagen von Menschen berücksichtigen, für die
gesunde Lebensweise oder die Inanspruchnahme von
Unterstützungsangeboten weniger selbstverständlich
sind? Das sind wichtige Forschungsfragen.

Wie wären aber auch partizipative Gestaltungs-
prozesse, also Verfahren, bei denen Nutzerinnen und
Nutzer bzw. Patientinnen und Patienten in der Entwick-
lung von medizinischen Produkten und Dienstleistungen
einbezogen werden, im Bereich der Gesundheitsfor-
schung besser zu integrieren? Oder: Wie kann altersspe-
zifische Aufklärung gelingen? Wie können Erkenntnis-
potenziale der Genderforschung im Gesundheitsbereich
besser genutzt werden?

Ein differenziert ausgearbeiteter inklusiver und parti-
zipativer Anspruch mit Ideen für ambitionierte Konzepte
fehlt dem Rahmenprogramm zur Gesundheitsforschung
leider gänzlich.

Unterbelichtet sind im Rahmenprogramm nicht zu-
letzt Schmerz- und Pflegeforschung. Die älter werdende
Gesellschaft, die Zunahme von chronisch Erkrankten,
Pflegebedürftigkeit, Multimorbidität im Alter und De-
batten um mehr Lebensqualität in all diesen Situationen
erfordern, dass wir die Anstrengungen hier verstärken.
Die Zahl pflegebedürftiger Menschen könnte sich bis
zum Jahr 2050 mehr als verdoppeln. Das macht den
Handlungsdruck, unter dem wir stehen, deutlich. Die
meisten Menschen möchten auch im Pflegefall ein
Höchstmaß an Selbstbestimmung und Selbstständigkeit.

Zu Protokoll gegebene Reden





Krista Sager


(A) (C)



(D)(B)


Ich finde, das ist nicht zu viel verlangt. Und dem sollte
auch die strategische Ausrichtung des Rahmen-
programms zur Gesundheitsforschung Rechnung tra-
gen. Dabei ist die Frage, wie der aktuelle wissenschaft-
liche Erkenntnisstand auch in die Qualifizierung und
Weiterbildung des Fachkräftepotenzials integriert wer-
den kann, von besonderer Bedeutung.

Der größte Anteil der finanziellen Mittel für das Ge-
sundheitsforschungsrahmenprogramm fließt in die soge-
nannten Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung,
DZG. Ich wiederhole, was ich in den zurückliegenden
Beratungen dazu betont habe: Die Schwerpunktsetzung
auf die großen Volkskrankheiten und Bündelung von
Kräften und Ressourcen, um die translationale For-
schung zu verbessern, ist prinzipiell richtig. Die DZG
werfen strukturell aber weiterhin Probleme, Fragen und
Konflikte auf, die bis heute nicht gelöst werden konnten.

So stellt sich angesichts des starken Top-Down-
Ansatzes, der bei den DZG verfolgt wurde, prinzipiell
die Frage: Haben sich die Partner in den Netzwerken
tatsächlich zusammengefunden mit dem Ziel, ihre For-
schungskooperationen personell und inhaltlich aus-
zubauen und durch den Austausch qualitativ bessere Be-
dingungen für die Translation zu schaffen? Oder führen
sie im Wesentlichen genau das fort, was sie auch ohne
das Netzwerk getan haben? Geht es den Beteiligten also
primär um die pragmatische Erschließung zusätzlicher
Forschungsgelder, zu denen die Partner einzeln keinen
Zugang hätten, und weniger um echte Forschungs-
kooperation? Die Antwort darauf ist entscheidend für
die Frage, ob die geförderten Netzwerke tatsächlich zu
einem forschungspolitischen Mehrwert führen.

Darüber hinaus sind Zweifel angebracht, ob der
hehre Anspruch der Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“
und zu „fairen“ Bedingungen tatsächlich in der Praxis
umgesetzt und durchgehalten wird. Denn es besteht die
Gefahr, dass die Helmholtz-Zentren angesichts ihrer
Doppelrolle als potenzielle Geldgeber und Beteiligte die
Zentrenpartner, insbesondere die universitären, domi-
nieren. In jedem Fall birgt der Top-Down-Ansatz die
Tendenz zu spannungsanfälligen Hierarchisierungen.
Dies würde sich aber gerade im Feld Translation kon-
traproduktiv auswirken. Denn die translationale
Forschung kann nur in enger und fairer Kooperation mit
den Universitäten und der klinischen Praxis funktionie-
ren. Insbesondere den Universitätskliniken kommt eine
Schlüsselrolle zu: bei der schnelleren Überführung
medizinischer Forschungsergebnisse in die klinische
Praxis wie auch bei der Rückkopplung klinischer Frage-
stellungen in die Forschung.

Offen ist ferner die Frage, welche langfristigen Fol-
gen es für die Exzellenzentwicklung im Forschungsfeld
Translation hat, dass die Helmholtz-Zentren von vornhe-
rein als Partner der DZG gesetzt waren. Sie mussten
sich nicht in gleicher Weise wie die anderen Partner
einer Hinterfragung ihrer Exzellenz und einem wissen-
schaftsgeleiteten Wettbewerb um eine Beteiligung in den
DZG stellen.

Außerdem bestehen Befürchtungen, es könnte zu ei-
nem Braindrain des besonders guten wissenschaft-

lichen Nachwuchses von den Universitäten und Univer-
sitätskliniken zu den Helmholtz-Zentren kommen. Dabei
geht es aber auch um Detailfragen wie: Welchen Part-
nern werden die aus den DZG hervorgehenden gemein-
samen Forschungsleistungen am Ende überhaupt zuge-
rechnet? Publikationen spielen für die wissenschaftliche
Reputation von Personen und Einrichtungen nun mal
eine zentrale Rolle. Wer erscheint aber in der Autoren-
liste künftig als Erster bei Veröffentlichungen in renom-
mierten Zeitschriften mit hohem Impact-Faktor? Um
abzusehen, ob ein produktives Verhältnis zwischen
Helmholtz und ihren Partnern, insbesondere den univer-
sitären Partnern bzw. den Universitätskliniken, gelingt,
brauchen wir eine frühzeitige unabhängige Evaluation
sowohl der Leistungen als auch der Folgen und Risiken
der neuen Strukturen.

Eine solche kritische Überprüfung ist vor allem unter
Nachhaltigkeitsgesichtspunkten wichtig: Schließlich
macht es keinen Sinn, so viel Geld in eine so umstrittene
und wenig erprobte Struktur zu geben, wenn diese sich
am Ende als ein problematischer Pfad herausstellen
könnte, aber dann kaum noch korrigiert werden kann
nach dem Motto: Wo schon so viel Geld in den Aufbau
von neuen Forschungsstrukturen geflossen ist, kann die
Förderung nicht mehr eingestellt werden.

Daher plädieren wir nachdrücklich dafür, die DZG-
Strukturen beizeiten zu evaluieren.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717232200

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9143, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/5364 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Becker, Gerd Bollmann, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Rücknahmepflicht der Händler für Alt-Ener-
giesparlampen durchsetzen

– Drucksache 17/9058 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
diese Reden zu Protokoll.


Michael Brand (CDU):
Rede ID: ID1717232300

Die heutige Debatte ist die Fortsetzung einer gewis-

sen Grundsatzdebatte, in der wir uns insgesamt noch
nicht verständigt haben.

Im Kern geht es um die Frage, in welcher Form wir
zum Schutz von Ressourcen, und nicht zunächst zur Ab-





Michael Brand


(A) (C)



(D)(B)


wendung von gesundheitlichen Risiken, die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher sowie die Wirtschaft und die
Kommunen per Zwang zur Einhaltung möglichst opti-
maler Umweltziele anhalten bzw. veranlassen wollen.

Wie bei den Energiesparlampen, so geht es auch bei
den nicht minder diskutierten Themen Mehrweg und
Einweg, Mobiltelefone und vielen anderen Konsumgü-
tern bzw. deren Zuleitung in die Kreislaufwirtschaft
nach der Verwendungsphase um die Frage: Was schrei-
ben wir zwingend vor? Wie stark erzeugen wir Druck auf
die Beteiligten? Und, nicht weniger bedeutsam: Mit wel-
cher Strategie erzielen wir die besten Rahmenbedingun-
gen zu ressourcenschonendem Verhalten? Mit welchen
Vorgaben schützen wir die Umwelt und die Gesundheit
der Menschen, die mit Produkten oder Abfällen in Be-
rührung kommen?

Beim Thema Energiesparlampen gibt es, nach meinen
privaten wie politischen Erfahrungen, eine zusätzliche
Komponente: Die Energiesparlampen sind nicht wirk-
lich so akzeptiert bei den Verbraucherinnen und Ver-
brauchern, auch nicht bei vielen Umweltorganisationen
und Testern, wie uns die Protagonisten der neuen Be-
leuchtungsära hatten glauben machen wollen. Offen an-
gesprochen: Es gibt auch Stimmen, die von einer Fehl-
entwicklung sprechen, von den im Vergleich zur alten
Glühbirne und zur im Kommen befindlichen LED-
Lampe viel zu hohen Gesundheitsrisiken für Familien
und Betriebe, wenn es um möglichen Bruch der Energie-
sparlampen geht.

Wer einmal selbst – wie auch ich – einen Glasbruch
bei einer Energiesparlampe im Wohnraum, zum Beispiel
durch spielende Kinder, erlebt und den beißenden Ge-
ruch des Gases nach dem Austritt von Schadstoffen ge-
rochen hat, der wird sich zumindest um die lieben Klei-
nen etwas Sorgen machen.

Das Gleiche gilt natürlich auch für die Menschen bei
den Recyclern, die mit diesen Energiesparlampen umzu-
gehen haben. Der entscheidende Unterschied zwischen
dem Transport zum Kunden vor der Nutzung und dem
Umgang mit Energiesparlampen als Abfall ist ja, dass
die schützende Verpackung bzw. die Fixierung im Ge-
winde fehlt.

Dadurch – das spielt bei diesem Antrag eine nicht zu
unterschätzende Rolle in der Praxis – ist der Bruch die-
ser in der Tat hauchdünnen Ummantelung ein immanen-
tes Risiko. Wir haben es hier nicht mit Glas im herkömm-
lichen Sinne zu tun, sondern mit einer hochfeinen und
hochbruchgefährdeten Ummantelung, aus der im Scha-
densfall beißendes Gas austritt.

Diese besondere Kombination bzw. Konsistenz aus
bruchgefährdeter Ummantelung und Austritt giftigen
Gases macht die Frage der Rücknahme von Energie-
sparlampen im Handel zu einer deutlich anderen Frage
als beispielsweise die Rücknahme von Batterien, Pfand-
flaschen oder anderen Dingen. Es ist völlig klar, dass die
Rückführung des Materials in geordneter und besonders
vorsichtiger Form zu erfolgen hat. Es ist deshalb auch
völlig klar, dass diese Energiesparlampen angesichts
der bekannt gefährlichen Stoffe nun gar nichts in der

Abfalltonne und auch nichts im Altglascontainer zu su-
chen haben.

Allerdings haben diese mit giftigen Stoffen befüllten
Energiesparlampen auch nicht so einfach etwas im Ein-
zelhandel zu suchen. Denn sonst wäre die Folge: Es
müssten nicht nur Tausende Beschäftigte mit diesen nie-
dergefährlichen Stoffen umgehen und wären dem Ge-
sundheitsrisiko ausgesetzt, sondern es wären auch, ge-
rade wegen des extrem hohen Bruchrisikos, besondere
Vorrichtungen und Einrichtungen im stationären Handel
erforderlich, die an anderer Stelle bereits vorgehalten
werden. Wer das Elektrogesetz und die WEEE-Richtlinie
der EU über den Umgang mit Elektro- und Elektronikge-
räteabfall richtig betrachtet und richtig umsetzt, dem
fallen deutlich bessere Wege und Verfahren auf, als es
der typisch kurzatmige Ansatz dieses Antrages versucht:
Die Recyclingprofis müssen sich mit dieser relativ neuen
und relativ gefährlicheren Art von Lampe befassen.

Im Übrigen gelten Regeln analog inzwischen natür-
lich auch für den internetgestützten Fernabsatz. Auch
hier ergeben sich seltene Probleme, wenn hochbruchge-
fährdetes Glas nun auf den Rückweg zum Händler ge-
bracht werden soll.

Die Verweise im SPD-Antrag sind unzureichend:
Finnland ist in punkto Recycling und Erfassung solcher
Energiesparlampen ebenso wenig mit unserer stark
kommunal und mittelständisch geprägten Struktur zu
vergleichen wie zum Beispiel unser Nachbar Frank-
reich. Und dass bereits die Absicht einer – aus unserer
Sicht falschen – Pfandpflicht der in diesen Fragen nicht
immer nur vorbildlichen schwedischen Partner herhal-
ten muss, um SPD-ähnliche Forderungen in Europa aus-
zumachen, dokumentiert auch, dass diese Frage nicht so
einfach und nicht einheitlich zu beantworten ist.

In der Tat allerdings ist festzuhalten: Die herstellende
Industrie hat noch zu wenig getan, um ihrer Produzen-
tenverantwortung im vollen Maße gerecht zu werden. In-
sofern muss die Kritik am nicht ausreichenden Aufbau
der Rücknahmesysteme, und hier auch konkret von
Lightcycle, ernst genommen und die Industrie aufgefor-
dert werden, jenseits von Internetpräsentationen auch in
der Realität mehr zu tun, um die gefahrlose Rücknahme
zu unterstützen. Dass dies mit Kosten verbunden ist,
steht außer Frage. Allerdings stehen vor den Entsor-
gungskosten bekanntlich Umsatz und Ertrag aus dem
Absatz der im Übrigen auch auf massive Veranlassung
der Industrie durch Verbot der Konkurrenzprodukte in-
direkt geförderten Energiesparlampen. Hier sind kon-
kret Milliarden an Investitionen der Konsumenten in
Gang gesetzt worden; aus diesen Umsätzen ist nach dem
Prinzip der Produzentenverantwortung auch das Ende
des Produktzyklus zu finanzieren.

Insgesamt ist also Nachholbedarf und hier und da
auch Korrekturbedarf gegeben. Was aber gar nicht geht,
ist, die im SPD-Antrag zu Recht genannte Gefährdung
der Beschäftigten in den Wertstoffhöfen als so stark an-
zusehen, dass diese, und das zu Recht, auf toxische Ein-
wirkungen durch Energiesparlampenbruch untersucht
werden sollen – während im selben Antrag der kleine
und mittelständische Händler oder Versender, der dem

Zu Protokoll gegebene Reden





Michael Brand


(A) (C)



(D)(B)


Fachbetrieb im Umgang weit unterlegen ist, dem Risiko
ausgesetzt wird.

Eines ist auch klar: Wer diese Vorschrift tatsächlich
umsetzen wollte, der würde den Konzentrationsprozess
im Handel befördern. Denn den aus Gesundheits- wie
aus Logistikgründen zweifelsfrei erforderlichen zusätzli-
chen Platzbedarf für das Handling dieser toxischen Ab-
fälle würden die großen Händler mit ihren Großflächen
natürlich besser einrichten können als der kleine Einzel-
handel vor Ort. Ob das alles von den antragstellenden
Kolleginnen und Kollegen bedacht wurde, da sind auch
laute Zweifel anzubringen.

Also kommen wir zum Fazit und zur Bewertung des
Antrages. Die konkrete Prüfung und der Praxistest zei-
gen: Es muss den Antragstellern und anderen – uns
eventuell auch – noch das eine oder andere Licht aufge-
hen, bis wir einen optimierten Weg zur Entsorgung der
Energiesparlampen erreichen. Daran müssen wir weiter
arbeiten – allerdings liegt der Weg sicher mehr im Be-
reich der vor allem mittelständischen Recyclingexperten
gemeinsam mit den kommunalen Strukturen wie den
fachlich gut aufgestellten Abgabestellen in kommunalen
oder privaten Entsorgungseinrichtungen.

Eine konkrete Entwicklung der letzten Zeit ist aber
vor allem zu begrüßen und gegebenenfalls zu unterstüt-
zen: der möglichst rasche Ersatz dieser riskanteren Be-
leuchtungsmittel durch energieeffizientere, wesentlich
besser zu recycelnde Beleuchtung wie unter anderem die
neuartigen Halogen-Xenon-Glühbirnen und mehr noch
durch LED-Leuchtmittel – die im Übrigen auch ein
Lichtspektrum realisieren, das dem menschlichen Wohl-
befinden erheblich mehr entspricht als die doch auch
von vielen als dumpf empfundene Lichtausbeute der
Energiesparlampen.

Die Entwicklung geht rasant voran und das Thema
ESL wird uns womöglich nicht so lange aufhalten, wie
dies vor wenigen Jahren noch geglaubt bzw. befürchtet
wurde. Bis dahin ist an der einen oder anderen Stelle
noch anzupacken – aber bitte in der richtigen Art und
Weise und nicht mit Vorschlägen, die als gefährliche Ne-
benwirkung die Gesundheitsgefährdung der Beschäftig-
ten im Einzelhandel mit sich bringen. Eine ordentliche
Beratung sollte uns zu besseren Ergebnissen bringen.
Wir als CDU/CSU bleiben für die fachliche Erörterung
offen und der Bundesumweltminister mit uns.


Gerd Bollmann (SPD):
Rede ID: ID1717232400

Viele Menschen haben in der Vergangenheit aus den

unterschiedlichsten Gründen Energiesparlampen ab-
gelehnt. Einer dieser Gründe war die Angst vor dem
Quecksilber aus zerbrochenen Energiesparlampen. Die
Gefahr einer Gesundheitsgefährdung durch eine
einzelne in unserer Wohnung zerbrochenen Energie-
sparlampe ist absolut gering. Von der einzelnen Ener-
giesparlampe geht weder in der Wohnung noch in der
Mülltonne eine Gesundheitsgefährdung aus. Bei einem
ordnungsgemäßen Umgang geht von Energiesparlam-
pen weder im Gebrauch noch bei der Entsorgung eine
Gefahr aus. Damals wurden Ängste geschürt, um Stim-
mung gegen die Energiesparlampe zu machen.

Die Situation sieht inzwischen anders aus. Die Um-
setzung der EU-Verordnung Nr. 244/2009 der Kommis-
sion vom 18. März 2009 zur Durchführung der Richt-
linie 2005 32/EG des Europäischen Parlamentes und
des Rates ist inzwischen weit fortgeschritten. Inzwischen
sind zum Beispiel Glühlampen mit mehr als 40 Watt
nicht mehr im Handel erhältlich. Seitdem ist die Anzahl
der verkauften Energiesparlampen stark angestiegen.
Diese Entwicklung begrüße ich. Sie hilft, Energie einzu-
sparen. Gleichzeitig stellt sich die Frage der Entsorgung
von Altenergiesparlampen angesichts dieser aus meiner
Sicht positiven Entwicklung erneut.

Schauen wir uns die derzeitige Situation bei der Ent-
sorgung von Altenergiesparlampen an. Wie alle anderen
Elektro- und Elektronikaltgeräte müssen die Altenergie-
sparlampen zu den kommunalen Wertstoffhöfen ge-
bracht werden. Dies ist die Rechtslage. Die Realität
sieht aber anders aus. Genaue Untersuchungen über
den Verbleib der alten Energiesparlampen gibt es in
Deutschland nicht. Die wenigsten Bürger bringen
jedoch ihre Altenergiesparlampen zum kommunalen
Wertstoffhof. Vielmehr werden sie aus Bequemlichkeit in
die Restmülltonne geworfen oder in den Glascontainern
entsorgt.

Im Gegensatz zu Deutschland wurde in Skandinavien
inzwischen der Verbleib der gebrauchten Energiespar-
lampen untersucht. Diese Untersuchungen in Finnland
und Schweden haben ergeben, dass rund die Hälfte der
Altenergiesparlampen im Hausmüll oder Glascontai-
nern landen, und dies trotz Aufklärungskampagnen. Ich
vermute, dass der Anteil falsch entsorgter Energiespar-
lampen in Deutschland noch höher liegt. In Skandina-
vien ist man zu der Erkenntnis gekommen, dass millio-
nenfach falsch entsorgte Energiesparlampen zu einer
Gesundheitsgefährdung führen können. Insbesondere
die Beschäftigten in der Entsorgungsbranche, und hier
wiederum die Beschäftigen beim Glasrecycling, sind
durch Quecksilber gefährdet. Diese Erkenntnisse haben
in Schweden zu einer intensiv geführten Diskussion über
die ungefährliche Entsorgung von Energiesparlampen
geführt. Im Schweden wird sogar über die Einführung
einer Pfandpflicht nachgedacht.

Und was geschieht in Deutschland? Die Bundes-
regierung hat es mehrfach abgelehnt, weitergehende
gesetzliche Regelungen für die Entsorgung von Altener-
giesparlampen umzusetzen. Begründet wird dies mit
angeblich gut funktionierenden freiwilligen Rücknahme-
systemen. Konkret verweist das Bundesumweltministe-
rium auf Lightcycle. Bei meinen Anfragen wurde beson-
ders auf die stetige Zunahme von Teilnehmern an diesem
Rücknahmesystem verwiesen. Aber schauen wir uns das
doch mal genauer an. Klicken Sie auf die Internetseite
von Lightcycle und geben Sie ihre Heimatstadt an. Wenn
Sie Glück haben, gibt es in 10 bis 20 Kilometer Entfer-
nung fünf oder sechs Geschäfte, welche alte Energie-
sparlampen zurücknehmen. In vielen Kommunen oder
Kreisen ist es aber auch nur eine Rücknahmestelle, und
diese ist über 20 Kilometer entfernt.

Auch wenn die Zahl der freiwilligen Rücknahmestel-
len zugenommen hat, wird doch wohl niemand behaup-

Zu Protokoll gegebene Reden





Gerd Bollmann


(A) (C)



(D)(B)


ten, dass dies ein gut funktionierendes System ist. Light-
cycle ist nicht mit der freiwilligen Rücknahme bei
Altbatterien zu vergleichen. Es ist zu umständlich, zu
lückenhaft. Auch bei einer weiteren Zunahme der Zahl
der Rücknahmestellen ist durch Freiwilligkeit kein
Entsorgungssystem zu schaffen, das eine sichere,
Gesundheitsgefährdung ausschließende Entsorgung er-
möglicht.

Meine Damen und Herren von Union und FDP, damit
gefährden Sie die Akzeptanz von Energiesparlampen.
Sie ignorieren die Gesundheitsgefährdung der Beschäf-
tigten. So kann es nicht weitergehen. Es muss eine Rück-
nahmepflicht des Handels geben. Ohne Internetrecher-
che, ohne lange Wege muss die Entsorgung für den
Endverbraucher einfach sein: Dort, wo ich Energiespar-
lampen kaufe, kann ich die alten zurückgeben.


Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1717232500

Vor zwei Monaten hat das EU-Parlament in zweiter

Lesung die sogenannte WEEE-Richtlinie beschlossen.
Diese wird wahrscheinlich Mitte 2012 offiziell im Amts-
blatt verkündet werden. Gegenstand der Richtlinie sind
unter anderem eine sehr begrüßenswerte Verschärfung
der Exportregeln für gebrauchte Elektrogeräte und die
erweiterte Rücknahmepflicht des Einzelhandels. Inwie-
weit diese Rücknahmepflicht auch für Energiesparlam-
pen gelten wird, ist noch offen.

Der Antrag der SPD knüpft hieran an. Sie fordert eine
Rücknahmepflicht an allen Verkaufsstellen, eine Infor-
mationspflicht für die Produzenten der Energiesparlam-
pen und die Erstellung einer Studie hinsichtlich der
Gesundheitsgefährdungen der Beschäftigten in der
Recyclingindustrie bei zu Bruch gegangenen Energie-
sparlampen.

Mir missfällt der Antrag aus drei Gründen:

Erstens wird behauptet, das freiwillige Rücknahme-
system sei wieder einmal gescheitert. Ich habe den Ein-
druck, die SPD unterstellt ganz generell jedem freiwilli-
gen System das Scheitern. Nur der staatliche Zwang
führt angeblich zum Erfolg. Angesichts der Missstände
beispielsweise bei der staatlichen Vollziehung der Ver-
packungsverordnung oder auch anderer Gesetze wäre
ich vorsichtig mit solchen Behauptungen. Den staat-
lichen Behörden immer neue und weitere Aufgaben zu-
kommen zu lassen, funktioniert nur dann, wenn ich für
diese Aufgaben auch die entsprechenden Personalstel-
len schaffe. Und wir wissen alle: Hierfür fehlt es fast
überall an Mitteln. Im Klartext: Wenn Sie jeden Kleinst-
laden – und das will die SPD in ihrem Antrag – zur
Rücknahme von Energiesparlampen verpflichten, brau-
chen Sie jemanden, der das kontrolliert. Sonst haben Sie
die schwarzen Schafe, die aus illegalem Vorgehen Wett-
bewerbsvorteile ziehen. Denken Sie an die Verpackungs-
verordnung: Nur zwei Drittel der Hersteller lizensieren
und zahlen für die Entsorgung ihrer Verpackungen.
Gerade in SPD-geführten Ländern wie Berlin wird die
Verordnung faktisch nicht vollzogen. Darum empfehle
ich gerade Ihnen ganz besonders, freiwillige Rücknah-
mesysteme etwas differenzierter zu betrachten.

Ein zweiter Aspekt ist der Zeitpunkt Ihres Antrags.
Wie ich schon ausgeführt habe, ist die Richtlinie, die
Grundlage für die Novellierung des Elektro- und Elek-
troaltgerätegesetzes sein wird, bisher noch nicht einmal
verkündet. Und es geht beileibe nicht nur um Energie-
sparlampen, sondern um die Gesamtheit der Elektroalt-
geräte. Wie Sie aus eigener Erfahrung wissen sollten,
sind auch die Kapazitäten der Bundesministerien nicht
unendlich. Wenn man – wie die Koalition – eine Novel-
lierung des gesamten Gesetzes anstrebt, benötigt man
für seriöse Gesetzgebung auch ein entsprechendes Zeit-
fenster. Sie wollen offenkundig den Teilbereich der Ener-
giesparlampen vorziehen und im Anschluss die ohnehin
zwingende Novellierung für die Umsetzung der Richt-
linie vornehmen. Mit Verlaub: Das ist nicht sehr clever
und uneffektiv.

Drittens ist Ihr Rundumschlag gegenüber freiwilligen
Rücknahmesystemen in der Sache falsch und in der
Schlussfolgerung zu undifferenziert. Mich stört nicht,
dass Sie eine Rücknahmepflicht für alle Geschäfte for-
dern. Das dürfen Sie, auch wenn Sie in meinen Augen
über das Ziel hinausschießen. Was mich allerdings
ärgert, ist Ihre überzogene Kritik an dem Versuch, das
Recycling von Energiesparlampen zu verbessern. Auch
das ist natürlich noch verbesserungsfähig. Sie unter-
schlagen aber alle Positivmeldungen. Ich möchte Ihnen
das einmal mit Zahlen belegen: Vor Gründung des nicht
gewinnorientierten freiwilligen Rücknahmesystems
„Lightcycle“ wurden in Baden-Württemberg 168 Ton-
nen Lampen gesammelt. Im Jahr nach der Gründung
war es mit 355 Tonnen mehr als das Doppelte. Bereits im
Jahr 2010 lag die Zahl bei 411 Tonnen. Mit 4 300 Klein-
sammelstellen und 400 Großsammelstellen ist bundes-
weit ein großes flächendeckendes Netz an Rücknahme-
stellen aufgebaut worden.

Was ist jetzt die Schlussfolgerung? In meinen Augen
ist es sinnvoll, dieses Netz weiter auszubauen – auch mit
einer Ausweitung der Rücknahmepflicht. Aber nicht für
jede Verkaufsstelle! Gerade in kleineren Ladengeschäf-
ten mit geringerem Umsatz ist ein schneller Abholrhyth-
mus logistisch und ökonomisch nicht sinnvoll. Das heißt
aber im Umkehrschluss, dass die Tonnen mit den queck-
silberhaltigen Energiesparlampen über einen längeren
Zeitraum im Ladengeschäft stehen. Ich sehe darin eine
nicht unerhebliche Belastung für die Gesundheit der
Beschäftigten und der Kunden. Nur in größeren Ge-
schäften und Großmärkten sind Abläufe denkbar, die
eine regelmäßige und sichere Abholung gewährleisten.
Dabei kann bei der Rücknahmepflicht, wie auch in der
WEEE-Richtlinie erfolgt, an die Größe des Laden-
geschäfts angeknüpft werden. Der Antrag schießt an
dieser Stelle über das Ziel hinaus.

Abschließend noch ein Wort zur Energiesparlampe im
Allgemeinen. Die heutige Diskussion zeigt wieder ein-
mal, dass gerade die Entsorgung der quecksilberhalti-
gen Lampen Probleme bereitet. Hier ist sowohl auf euro-
päischer wie auch nationaler Ebene ein Umdenken
erforderlich. Es bringt uns doch nichts, die ehrwürdige
alte Glühbirne einzudampfen und sich mit der Quecksil-
berbelastung ein überflüssiges Problem heranzuzüch-
ten. Für mich liegt die Zukunft nicht in der quecksilber-

Zu Protokoll gegebene Reden





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


haltigen Energiesparlampe. Es muss gelingen, derartige
Stoffe aus Artikeln herauszubekommen, die jeder Haus-
halt nutzt. Dann – aber auch nur dann – steht einer
Rücknahmepflicht der kleineren Läden nichts mehr ent-
gegen.


Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717232600

Rund 2 Tonnen hochgiftiges Quecksilber landen mitt-

lerweile jedes Jahr mit alten und verbrauchten Energie-
sparlampen im Hausmüll. Der Grund: Es gibt kaum ge-
eignete Möglichkeiten der Entsorgung. Kommunale
Sammelstellen sind schwer erreichbar, und der Handel
verweigert meist die Rücknahme. Ein Teil des Giftes rei-
chert sich deshalb in Luft, Wasser und Boden an und fin-
det den Weg zurück zum Menschen. Das ist nicht hin-
nehmbar. Energiesparen darf nicht der Gesundheit
schaden. Schon 5 Millionstel Gramm im Körper gelten
als gesundheitsbedenklich.

Und das Problem und die Gefahr wachsen. Mit der
europaweiten Abschaffung der Glühbirne nimmt die
Zahl der quecksilberhaltigen Leuchtmittel zu. Die Her-
steller sind dennoch nicht bereit, den Gehalt des hoch-
giftigen Stoffes deutlich zu verringern.

Die Linke fordert deshalb, endlich das Verursacher-
prinzip anzuwenden: Wer Produkte auf den Markt
bringt, die Schadstoffe beinhalten, der muss sie nach
Gebrauch auf seine Kosten wieder einsammeln und ent-
sorgen.

Bereits im Juni 2010 hatte die Linke mit einem Antrag
eine „verbraucherfreundliche Rücknahmepflicht des
Handels für Energiesparlampen“ gefordert. CDU/CSU
und FDP lehnten ihn mit der Begründung ab, es gebe
eine Aufklärungskampagne der Hersteller und Sonder-
müllsammelstellen. Es sei ausreichend, die fachgerechte
Entsorgung „besser zu kommunizieren“.

Die Untätigkeit der Bundesregierung hat das Pro-
blem inzwischen noch verschärft. Noch immer werden
neun von zehn Energiesparlampen über die Hausmüll-
tonnen entsorgt, und die Menge des quecksilberhaltigen
Mülls steigt drastisch an. Das Verhalten von Schwarz-
Gelb kann nur als gesundheitsschädlich betrachtet wer-
den.

Wir, die Linke, begrüßen deshalb, dass die SPD das
Thema erneut auf die Tagesordnung gesetzt hat. Die
Bundesregierung erhält damit noch einmal die Gelegen-
heit, einen gravierenden Fehler zu beheben.

Die Linke fordert, dass der Handel zur Rücknahme
der quecksilberhaltigen Lampen verpflichtet wird. Hier
muss endlich das Verursacherprinzip angewendet wer-
den. Die Hersteller müssen mit dem Verkauf eine dichte
und leicht verschließbare Rückgabeverpackung mitlie-
fern. So wird sichergestellt, dass auf dem Rückweg zum
Verursacher kein Quecksilber austreten kann.

Die Bundesregierung muss den Herstellern die Ver-
ringerung des Quecksilberanteils in den Lampen ins
ökologische Hausgabenheft diktieren. Auch sinnvolle
Alternativen wie die LED-Leuchten sind kostengünsti-
ger anzubieten. Es reicht nicht, den Verbraucherinnen

und Verbrauchern sowie den klammen Kommunen das
Problem überzustülpen und den Schwarzen Peter zuzu-
schieben.


Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717232700

Wir begrüßen den heute vorgelegten Antrag der SPD

ausdrücklich und können ihm aus voller Überzeugung
zustimmen.

Das Thema Rücknahme von Energiesparlampen ist ja
nicht neu. Wir haben es bereits in dieser Legislaturpe-
riode und auch in der davor beraten. Doch trotz aller
Willensbekundungen und aller freiwilligen Initiativen
und Aufklärungsaktionen werden bisher kaum Energie-
sparlampen zurückgenommen. Schon vor knapp zwei
Jahren haben wir Grüne die Bundesregierung in unse-
rem Antrag „Bürgerfreundliches Rücknahmesystem für
gebrauchte Energiesparlampen im Handel einrichten“
auf das Problem deutlich hingewiesen. Damals haben
wir gefordert, einen gesetzlichen Rahmen für ein verbes-
sertes Angebot an Rücknahmestellen für gebrauchte
Energiesparlampen im Handel zu schaffen. Doch was ist
passiert? Natürlich nichts – bei dieser Regierung!

Die Koalition lehnte unseren Antrag nach lang an-
dauernden Beratungen ab. Die FDP setze damals, wie in
der Beschlussempfehlung des Umweltausschusses nach-
zulesen ist, auf „Überzeugung und Einsicht“ der Unter-
nehmer und Verbraucher, die CDU/CSU-Fraktion auf
Gesprächsrunden mit allen Beteiligten und Öffentlich-
keitsarbeit und das Bundesumweltministerium auf den
„gut laufenden freiwilligen Prozess“.

So gut ist dieser Prozess aber scheinbar doch nicht
gelaufen, denn verbessert hat sich kaum etwas. Stolz
wird regelmäßig beispielsweise von Lightcycle verkün-
det, wie stark sich die Sammelzahlen erhöht hätten. Setzt
man dies aber in Relation mit der stark zunehmenden
Zahl der in Umlauf befindlichen Lampen, bleibt nicht
viel übrig vom Erfolg. Die Rücknahmequoten sind wei-
terhin sehr bescheiden, und die Rücknahmestellen, ins-
besondere im ländlichen Raum, muss man mit der Lupe
suchen. Wenig überraschend wird häufig der Weg in die
Schublade oder im Zweifel in die Restmülltonne ge-
wählt, mit den bekannten negativen Folgen für die Um-
welt.

Dabei liegt die einfache Lösung auf dem Tisch. Wir
möchten uns der Forderung der SPD an die Bundesre-
gierung anschließen, endlich einen Gesetzentwurf vor-
zulegen, der den Einzelhandel verpflichtet, gebrauchte
Energiesparlampen zurückzunehmen, und zwar unent-
geltlich und verbraucherfreundlich.

Dass so eine Rücknahme machbar ist, zeigen die we-
nigen Vorreiter im Einzelhandel, die schon jetzt verbrau-
cherfreundliche Rücknahmesysteme anbieten. Auch das
Europäische Parlament und der Europäische Rat erwä-
gen mittlerweile, entsprechende Rücknahmepflichten
einzuführen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Ko-
alitionsfraktion und insbesondere Sie, Minister Röttgen,
falls Sie überhaupt noch Zeit zur Beschäftigung mit
solch speziellen umweltpolitischen Fragen haben vor

Zu Protokoll gegebene Reden





Dorothea Steiner


(A) (C)



(D)(B)


lauter Wahlkampf, geben Sie sich doch einmal einen
Ruck, schauen Sie sich die Rücknahmezahlen doch ein-
mal genauer an, und denken Sie dann noch einmal neu
über das Thema nach!

Kommen Sie bitte nicht wieder, wie beim letzten An-
trag zum Thema Energiesparlampen, mit der immer
gleichen Parole von Überzeugung und Einsicht, von der
Kraft der Freiwilligkeit und des ach so gut laufenden
Dialogs. Das nimmt Ihnen wirklich keiner mehr ab. Las-
sen Sie sich nicht weiter von angeblichen Erfolgen, die
nur auf den ersten Blick als solche erscheinen, blenden,
und denken Sie ernsthaft darüber nach, ob etwas mehr
Rücknahmepflicht hier nicht der bessere Weg ist, um das
gemeinsame Ziel, mehr Schutz für die Umwelt, zu errei-
chen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717232800

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9058 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Sicherung bezahlbarer Mie-
ten und zur Begrenzung von Energiever-
brauch und Energiekosten

– Drucksache 17/6371 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/8953 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Ingo Egloff
Stephan Thomae
Halina Wawzyniak
Ingrid Hönlinger

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch diese Reden zu Protokoll.


Dr. Jan-Marco Luczak (CDU):
Rede ID: ID1717232900

Wir behandeln heute den Entwurf eines Gesetzes zur

Sicherung bezahlbarer Mieten und zur Begrenzung von
Energieverbrauch und Energiekosten – eingebracht von
der Fraktion Die Linke. Ich kann mich an dieser Stelle
recht kurz halten, denn über diesen Gesetzentwurf haben
wir bereits im Sommer letzten Jahres hier im Plenum in
erster Lesung debattiert.

Ich habe damals deutlich gemacht, dass der Entwurf
nicht nur wortwörtlich von einer Bundesratsinitiative
des Landes Berlin abgeschrieben, sondern vor allem
auch handwerklich schlecht gemacht ist und sogar die
selbstgesetzten Ziele verfehlt. Wir haben den Entwurf
daher abgelehnt.

An dieser Einschätzung hat sich seitdem nichts geän-
dert. Die Linke ignoriert bei ihrem Gesetzentwurf
wieder einmal, dass sich die Welt zwischenzeitlich wei-
tergedreht hat. Bei ihren mietrechtlichen Forderungen
nimmt sie schlicht nicht zur Kenntnis, dass wir damals
wie aktuell über einen konkreten Gesetzentwurf zur
Novellierung des Mietrechts diskutieren. Statt inhaltlich
und konstruktiv auf die dortigen Vorschläge und Forde-
rungen einzugehen, beraten wir heute in zweiter und
dritter Lesung alte und nicht mehr dem aktuellen Dis-
kussionsstand entsprechende Bundesratsinitiativen.
Konstruktive Oppositionsarbeit sieht wirklich anders
aus!

Im Gesetzentwurf der christlich-liberalen Koalition
wägen wir jeden Eingriff in das Mietrecht sorgfältig ab.
Denn nur so kann der gebotene Ausgleich der unter-
schiedlichen gesellschaftlichen Interessen gewährleistet
bleiben. Das ist auch notwendig, denn das Mietrecht
betrifft fast alle: Es gibt rund 24 Millionen Mietwohnun-
gen in Deutschland, und viele andere Menschen in unse-
rem Land sind Vermieter. Ein ausgewogenes und sozia-
les Mietrecht hat für viele Menschen daher eine
existenzielle Bedeutung. Die Wahrung der sozialen
Ausgewogenheit des Mietrechts ist daher eine Selbst-
verständlichkeit für uns.

Das, was uns hingegen die Linke präsentiert, wird der
notwendigen gesellschaftlichen Ausgewogenheit in kei-
ner Weise gerecht. Die Linke schafft es gerade nicht,
dem eigenen Anspruch zu genügen, einen gerechten In-
teressenausgleich zwischen den Beteiligten zu erreichen.
Im Gegenteil: Die geforderten Änderungen im Mietrecht
führen zur einseitigen Belastung der Vermieter.

So will die Linke etwa die Umlagemöglichkeiten von
Modernisierungskosten erschweren. Dazu soll die Um-
lagefähigkeit von 11 auf 9 Prozent reduziert werden.

Aber was hat das zur Folge? Wirtschaftlich stehen
hinter der Errichtung und der Bewirtschaftung von
Mietwohnraum erhebliche Investitionen und dauerhaf-
ter finanzieller Aufwand. Wenn nun Anreize für Vermie-
ter gesenkt werden, Modernisierungen vorzunehmen,
weil sie die Kosten nurmehr eingeschränkt umlegen kön-
nen, werden diese nicht mehr sondern weniger investie-
ren. Das aber gefährdet den Erhalt eines qualitativ
hochwertigen Wohnungsbestandes. Als wäre das nicht
schon schlimm genug, wird damit auch das – von uns al-
len sicherlich geteilte – Ziel des Klimaschutzes ge-
fährdet. Denn auch energetische Sanierungen werden so
unattraktiver. Das Klima schützen wir mit Ihren
Anträgen daher nicht. Im Gegenteil: Wollen wir Eigen-
tümer zu den notwendigen, aber teuren Modernisie-
rungsmaßnahmen motivieren, müssen diese für Vermie-
ter auch wirtschaftlich tragbar sein. Deswegen bedarf
es wirtschaftlicher Anreize dafür und nicht zusätzlicher
Hürden!

Allerdings: Angesichts erheblicher Mietsteigerungen
gerade in den Ballungszentren wie Berlin, München
oder Hamburg soll es auch dabei bleiben. Mehr als
11 Prozent Kostenumlage wird es nicht geben, denn wir
wollen diese Situation für Mieter nicht noch zusätzlich
verschärfen.





Dr. Jan-Marco Luczak


(A) (C)



(D)(B)


Der Gesetzentwurf der Linken enthält noch so man-
chen wirtschaftlichen Unsinn. Ich erspare Ihnen die
Details. Darüber haben wir ja auch schon diskutiert.
Hinweisen möchte ich aber noch darauf, dass die von
Ihnen vorgeschlagenen Regelungen Mieter zum Teil so-
gar schlechter stellen, als es nach geltendem Recht bzw.
nach unseren Vorschlägen der Fall ist. Offenbar haben
Sie vieles in Ihrem Antrag nicht zu Ende gedacht.

Wenn Sie zum Beispiel in Bezug auf die gewerbliche
Wärmelieferung das Contracting fordern, dass die an-
fallenden Kosten dafür die bisherigen Heizkosten nicht
übersteigen dürfen, hätten Sie den Gesetzentwurf der
Koalition zum Mietrecht lesen sollen. Denn da ist Ihre
Forderung nach Kostenneutralität längst erfüllt.

Tatsächlich geht unser Gesetzentwurf sogar noch
weiter. Bei uns gilt strikt und ohne Ausnahme, dass die
Betriebskosten nach der Umstellung aufs Contracting
nicht höher sein dürfen als vorher. Bei Ihnen kann das in
bestimmten Fällen sehr wohl erlaubt sein. Sie bleiben
also hinter Ihrem selbstgesteckten Ziel des Mieterschut-
zes zurück.

Und weiter: Sie fordern, dass ein Mietvertrag erst
dann wirksam zustande kommt, wenn dem Mieter ein
Energieausweis ausgehändigt wurde. In der Konsequenz
führt das dazu, dass bei einem Verstoß des Vermieters
gar kein wirksamer Mietvertrag zustande kommt. Wenn
es schlecht läuft, kann sich der Mieter wieder auf
Wohnungssuche begeben. Sie greifen mit Ihrer Forde-
rung auch willkürlich ein Kriterium heraus, nach dem in
der Praxis keiner fragt. Das geht nicht nur an den
Menschen, die Sie angeblich im Blick haben, völlig vor-
bei, sondern im Ergebnis verkürzen Sie Mieterrechte
damit sogar. Solche absurden Forderungen machen wir
nicht mit.

Die christlich-liberale Koalition hat anders als die
Linke einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sehr ausgewo-
gen ist. Wir befördern die energetische Sanierung, um
dem gesamtgesellschaftlichen Ziel des Klimaschutzes
Rechnung zu tragen. Wir berücksichtigen dabei die be-
rechtigten Interessen der Mieter und verhindern, dass
sich die Mietpreisspirale weiter dreht. Das war mir als
Berliner Abgeordneter – Berlin ist ja bekanntlich eine
Mieterstadt – sehr wichtig. Gleichzeitig übervorteilen
wir aber auch nicht die Vermieter. Ohne sie gibt es keine
Investitionen – und die brauchen wir zum Erhalt und zur
Modernisierung unseres Wohnungsbestandes und damit
letztlich für den Schutz unseres Klimas.

Mein Fazit zum Gesetzentwurf der Linken lautet da-
her nach wie vor: Er ist abgeschrieben, handwerklich
schlecht gemacht und verfehlt die selbstgesteckten Ziele.
Wir werden ihn daher ablehnen.


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1717233000

Es freut mich sehr, dass sich bei der Bundesregierung

die Einsicht durchgesetzt hat, dass der Klimawandel
nicht ohne politischen Einsatz und Engagement vollzo-
gen werden kann. Die Einhaltung der Klimaschutzziele
erfordert neben einer gesellschaftlichen Bewusstseins-
veränderung nicht zuletzt auch gesetzgeberische Maß-

nahmen. Zur Umsetzung der klimapolitisch notwenigen
Gebäudesanierung wird die Bundesregierung voraus-
sichtlich im Mai 2012 das sogenannte Mietrechtsände-
rungsgesetz vorlegen. Dieses Gesetz ist bereits vor
Einbringung in den Bundestag auf massive Kritik gesto-
ßen – und dies zu Recht!

Dieser Gesetzentwurf ist sozialpolitisch fehlgeschla-
gen und im höchsten Maße unsozial: Die Gebäudesanie-
rung soll ausschließlich durch die Mieter und Mieterin-
nen finanziert werden. Vermieter und Vermieterinnen
sowie staatliche Subventionen bleiben weitestgehend
außen vor. Nachdem die staatliche Förderung durch die
KfW-Bank in den vergangenen Jahren gedrosselt wurde,
soll nun nach dem Willen der Bundesregierung die Fi-
nanzierung der energetischen Häusersanierung durch
Mieterhöhungen an die Mieterschaft weitergegeben
werden. Dieses Vorgehen ist für uns Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten nicht tragbar! In
Deutschland leben 53 Prozent der Menschen in Miet-
wohnungen. Der deutsche Mietwohnungssektor ist einer
der größten Europas. Daneben bietet der deutsche
Mietraumsektor eine weitere Superlative, die besorgnis-
erregend ist: Die Wohnkosten in Deutschland gehören
im europaweiten Vergleich zu den höchsten. Im Durch-
schnitt müssen Mieter knapp 30 Prozent ihres Nettoein-
kommens auf die monatliche Miete verwenden.

Das Mietrecht hat eine soziale Funktion, und die Vor-
schläge der Bundesregierung werden diesem Anspruch
in keinster Weise gerecht. Daher fordern wir, die Höhe
der Umlage, die die Vermieter und Vermieterinnen auf
die Miete legen können, von 11 auf 9 Prozent zu begren-
zen. Dahin gehend verfolgt der hier zur Debatte
stehende Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke das
richtige Ziel.

Fest steht: Eine Beteiligung des Mieters an der Fi-
nanzierung der Sanierungskosten darf nicht in einer ver-
steckten Mieterhöhung münden. Genau das wird aber
passieren, da die schwarz-gelbe Bundesregierung dem
Vermieter das Recht einräumen will, zeitlich unbegrenzt
die Umlage einzufordern. Konkret bedeutet das: Der
Mieter zahlt auch nach Amortisierung der Sanierungs-
kosten, und das ist unstrittig eine Form der Mieterhö-
hung. Nicht ohne Grund begrenzt das Mietrecht die
Möglichkeit, die Miete nach Belieben zu erhöhen, und
knüpft für die Zulässigkeit einer Mieterhöhung an
strenge Voraussetzungen.

Geht es nach der Bundesregierung, droht den Mietern
im schlimmsten Fall eine doppelte Mieterhöhung: Der
Vermieter kann die Kosten seiner energetischen Sanie-
rung auf den Mieter abwälzen und zusätzlich noch von
dem regulären Recht der Mieterhöhung in Höhe von
20 Prozent Gebrauch machen. Dies kann nicht sein! Vor
dem Hintergrund, dass Mietverhältnisse in Deutschland
der Regelfall sind, müssen Mieten bezahlbar bleiben.

Als Berliner Abgeordnete erlebe ich regelmäßig die
tiefe Sorge der Menschen, dass ihr Einkommen in naher
Zukunft nicht mehr für die Finanzierung ihrer Wohnun-
gen reichen wird. Die Menschen haben Angst, aus ihren
Kiezen in die Randbezirke verdrängt zu werden und
damit ihr vertrautes Wohn- und Arbeitsumfeld zu verlie-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)


ren. Das ist, was die Menschen in ihrem Alltag wirklich
beschäftigt. Gerade in Berlin sind in den letzten Jahren
die Mieten für Wohnraum in attraktiven städtischen
Lagen rasant gestiegen. Wir erleben eine Entwicklung,
die zur massiven Verdrängung der alten Mieter führt und
längerfristig die Gefahr von sozialen Unruhen birgt. Als
Gesetzgeber sind wir gefordert, soziale Ausgrenzung zu
verhindern.

In Großstädten wie Berlin, Hamburg oder Köln, die
eine starke Mieterfluktuation aufweisen, brauchen wir
dringend eine Deckelung der Miethöhen bei Wiederver-
mietung. Denn mit jedem neuen Mietvertrag kann der
Vermieter unbegrenzt die Miete anheben.

Zudem müssen wir dem Phänomen der Ferienwoh-
nungen in Wohngebieten entgegentreten. Der Wohn-
raummangel darf in zentralen Innenstadtlagen nicht
auch noch durch die Ferienwohnungen verschärft wer-
den. Gerade in den Berliner Innenbezirken hat die Nut-
zung von Wohnfläche zum Zwecke der Beherbergung
von Touristen Hochkonjunktur. Die Landesregierungen
müssen ermächtigt werden, nicht nur für Gemeinden,
sondern auch für einzelne Bezirke individuell ange-
passte Genehmigungspflichten einzuführen.

Wohnraum darf kein Luxus sein!


Michael Groß (SPD):
Rede ID: ID1717233100

Die Entwicklung in Deutschland zeigt zwei klare Ten-

denzen auf: In Ballungsräumen prosperiert die Wirt-
schaft, der Wohnungsmarkt boomt, die Mietpreise stei-
gen, und viele können bei nur gering steigendem
Einkommen Miete und Energiekosten kaum bezahlen.
Auf der anderen Seite stehen Abwanderungsgebiete mit
steigender Arbeitslosigkeit, Sanierungsrückzug und
Mehrbedarf an altersgerechtem und barrierefreiem
Wohnraum aufgrund demografischer Veränderungen.
Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der gesellschaftli-
chen Teilhabe und das tatsächliche Erleben unserer De-
mokratie entscheiden sich in den Stadtteilen und Wohn-
quartieren. Das verfügbare Einkommen bestimmt die
Auswahlchancen und Auswahlentscheidungen auf dem
Wohnungsmarkt, entscheidet über gute und schlechte
Adressen und Lebensperspektiven. Hier muss Politik
– müssen wir – handeln!

Es gilt, unseren Wohnraum zukunftsfähig zu gestal-
ten – bezahlbar, umweltschonend, ökonomisch sinnvoll
und barrierearm.

Im Gebäudebestand müssen wir die energetische Sa-
nierung voranbringen, wenn wir unsere Klimaschutz-
ziele erreichen wollen. Mehr Sanierung bedeutet mehr
CO2-Einsparung. Aber hier sind nicht einzelne Leucht-
turmprojekte die Beschleuniger, sondern Maßnahmen in
der Breite. Investitionen in die energetische Gebäudesa-
nierung müssen wesentlich stärker als zu den jetzigen
Zeiten einer schwarz-gelben Koalition gefördert und an-
geregt werden.

Jeder über die KfW-Programme zur energetischen
Sanierung geförderte Euro löst mehr als das Sechsfache
an weiteren Investitionen aus. Dies kommt besonders
der regionalen Wirtschaft zugute. Wer sein Haus an-

packt und energetisch effizient gestaltet, spart nicht nur
klimaschädliche Emissionen, sondern auch Energiekos-
ten ein. Aber wir wissen auch, dass jemand, der wirt-
schaftlich denkt, nicht nur energetisch saniert, sondern
gleichzeitig auch alters- und familiengerecht umbaut.
Die Eigentümer orientieren sich an der Lebensdauer
von Heizungsanlagen und Bauelementen, um insgesamt
eine Verbesserung der Wohnqualität zu erreichen. Somit
geht die schlichte Rechnung, dass Mieter und Eigentü-
mer automatisch profitieren, nicht auf. Die Einsparun-
gen bei den Energiekosten kompensieren meist nicht die
durch Sanierungskosten steigenden Mieten. Und regio-
nal sehr unterschiedlich stellt sich der Mehrwert für die
Immobilie durch die Sanierung dar.

SPD-Politik heißt, explodierenden Mieten in Wachs-
tumsregionen entgegenzuwirken, energetische Sanie-
rungen regional spezifisch und qualifiziert zu unterstüt-
zen und voranzubringen. Bezahlbarer Wohnraum und
bezahlbare Energiepreise – keine Überforderung des
Einzelnen! Nicht erst, wenn Mieter sich ihre energetisch
sanierten Wohnungen nicht mehr leisten können und aus
den Quartieren verdrängt werden, wenn die Kosten der
energetischen Sanierung den Wert der Immobilie über-
steigen, müssen wir handeln, sondern jetzt!

Die Lebensbedingungen und -chancen entstehen in
unseren Quartieren. Es geht letztendlich um unser Zu-
sammenleben, eine stabile Nachbarschaft und um ein
lebenswertes Wohnquartier. Stadtsanierung, Energiege-
winnung und Energieversorgung müssen im Zusammen-
hang gesehen und in einem Quartiers- und Regionalbe-
zug umgesetzt werden.

Das Mietrecht darf nicht zulasten der Mieter verän-
dert und seine soziale Funktion darf nicht ausgehöhlt
werden.


Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1717233200

Ziel der Linksfraktion ist es, mithilfe des vorliegenden

Gesetzentwurfes die Mieten bezahlbar zu halten, Ener-
gie einzusparen und Energiekosten zu senken. Ich bin
der Überzeugung, dass Sie Ihr Ziel mit dem Vorschlag
nicht erreichen können. Lassen Sie mich an einigen
Punkten erklären, weshalb die FDP-Bundestagsfraktion
Ihren Antrag ablehnt. Der erste Punkt betrifft das
Thema Energieausweis. Der Entwurf der Linken sieht
vor, dass ein Mietvertrag über Wohnraum nur wirksam
ist, wenn der Vermieter bei Abschluss des Vertrags dem
Mieter einen Energieausweis für den Wohnraum vorlegt.
Eine solche Regelung hätte aber im Umkehrschluss zur
Folge, dass immer dann, wenn bei Abschluss des Ver-
trags kein Energieausweis vorgelegt wird, auch kein
wirksamer Mietvertrag zustande kommt. Man muss sich
einmal überlegen, was das für die Altfälle, also für die
schon bestehenden Mietverträge, bedeutet. Muss dann
der Energieausweis nachgereicht werden? Welche Kon-
sequenzen stehen den Parteien bevor, wenn kein Ener-
gieausweis nachgereicht wird? Das ist ein Punkt, der zu-
mindest bei der Übergangsregelung zu bedenken wäre.
Dazu sagt Ihr Entwurf aber nichts.

Der zweite Punkt betrifft faktische Mietverhältnisse,
also solche Fälle, in denen bei Eingehung des Mietver-

Zu Protokoll gegebene Reden





Stephan Thomae


(A) (C)



(D)(B)


trags ein Energieausweis nicht vorgelegt wird, weil die
Parteien es nicht bedenken, die Vorschriften nicht ken-
nen, sie ihnen gleichgültig sind oder keiner von beiden
Wert darauf legt. Kommt es dann zu einem Rechtsstreit
zwischen Mieter und Vermieter, wäre der Mieter durch
den Antrag der Linken faktisch rechtlos, weil er im Falle
des Beendigungswunsches des Vermieters auf keinen
wirksamen Mietvertrag zurückgreifen kann. Die Linke
verfehlt nicht nur ihr Ziel, die Rechte der Mieter zu stär-
ken. Sie verkehrt es durch den Antrag sogar ins Gegen-
teil, indem sie für eine Vielzahl von Mietverhältnissen
eine erhebliche Rechtsunsicherheit herbeiführt.

Der dritte Punkt betrifft die Vorschläge der Links-
fraktion zu Contracting-Verträgen. Wir halten es für
sehr erstaunlich, dass Ihr Entwurf es zulässt, dass dem
Mieter für Wärme-Contracting höhere Nebenkosten ent-
stehen dürfen.

Da verfolgt die Koalition andere Ziele. Wir wollen er-
reichen, dass sich der Vertrag beim Wärme-Contracting
für den Mieter kostenneutral auswirkt. Die Linke for-
dert, dass im Rahmen von Energie-Contracting-Verträ-
gen der Primärenergiebedarf um mindestens 15 Prozent
sinken muss und dass bei größeren Mietobjekten die
Hälfte der Mieter zustimmen muss. Solche apodiktischen
Voraussetzungen würden jedoch den Modernisierungs-
anreiz mindern. Im Ergebnis bestünde dadurch sogar die
Gefahr, dass genau das verhindert wird, was wir wollen:
die energetische Sanierung des Wohnraums in Deutsch-
land.

Ein weiteres Problem ist für die FDP-Bundestags-
fraktion der Vorschlag der Linken zur Kappungsgrenze.
Bislang darf die Miete innerhalb von drei Jahren um
maximal 20 Prozent erhöht werden. Die Linke will, dass
die Miete innerhalb von vier Jahren um maximal 15 Pro-
zent erhöht werden darf. In diesem Zusammenhang muss
man sich vergegenwärtigen, was auf dem Mietmarkt ge-
schieht. Die Anschaffung von Wohnungsmietraum in
Form einer Immobilie ist für den Vermieter zunächst
eine Geldanlage. Diese Geldanlage gilt im Vergleich zu
anderen Anlageformen zwar als sicher, aber eher als
renditeschwach. Wir müssen in diesem Zusammenhang
bedenken, dass diese Anlageform mit anderen Anlage-
formen konkurrieren muss. Und wir müssen bedenken,
dass Gewinnerzielung nichts Illegitimes ist. Die Linke
will die Obergrenze der Mieterhöhung ändern. Wir sa-
gen: Eine wirksame Begrenzung der Mieten findet über
den Markt statt. In vielen Regionen Deutschlands gibt
der Mietmarkt sogar viel weniger her als die gesetzlich
erlaubte Erhöhung. Das ist nur eine Obergrenze. Die ei-
gentliche Obergrenze für Mieterhöhungen bildet aber
der Markt. Wenn der Vermieter die Miete zu stark er-
höht, riskiert er Mietleerstand und Mietausfälle gerade
in Gegenden fernab der Innenstädte großer Städte. Die-
ses Risiko trägt der Vermieter ebenfalls. Das ist als ei-
gentliche Kappungsgrenze anzusehen.

Der letzte Punkt sind die Modernisierungskosten.
Derzeit können bis zu 11 Prozent dieser Kosten auf die
Jahresmiete umgelegt werden. Die Linke will den Anteil
auf 9 Prozent senken. An dieser Stelle muss man sich vor
Augen halten, was die Miete wirtschaftlich betrachtet

ist. Die Miete ist eine Abzinsung, die der Mieter auf die
Anschaffungskosten des Vermieters entrichtet. Deswe-
gen heißt es auch Mietzins. Der Vermieter schafft Eigen-
tum an, das er finanzieren muss. Er hat Kapitalkosten,
muss Zinsen zahlen sowie Investitionskosten und viel-
leicht auch Kosten für Instandhaltung und Instandset-
zung tragen. Wenn Reparaturen an der Wohnung nötig
werden, trägt der Vermieter zusätzlich das Risiko, dass
der Mieter die Miete mindert. Darüber hinaus trägt der
Vermieter auch das Mietausfallrisiko, wenn der Mieter
kündigt oder zahlungsunfähig wird. Diese Aufwendung
darf der Vermieter refinanzieren. Wenn wir diese Mög-
lichkeiten beschneiden, riskieren wir, dass immer weni-
ger Eigentümer bereit sind, in Wohnraum zu investieren.
Dies würde zu einer Verschärfung der Lage auf dem
Mietmarkt führen und kann daher nicht im Interesse der
Mieter sein.

Aus diesen Gründen lehnt die FDP-Bundestagsfrak-
tion den Entwurf der Linken ab.


Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717233300

Seit der ersten Lesung des hier zu behandelnden An-

trags am 7. Juli vorigen Jahres haben sich die Um-
stände, die den Anlass für diesen Antrag gaben, keines-
wegs verbessert. Im Gegenteil: Wohnen ist in vielen
deutschen Großstädten zum Luxusgut geworden. Selbst
„Normalverdiener“ können es sich in Städten wie Mün-
chen, Hamburg, Düsseldorf, Potsdam und zunehmend
auch in Berlin nicht mehr leisten, in diesen Städten, nah
bei Ihrer Arbeit, zu wohnen.

Das Problem der Verdrängung aus traditionell guten
Wohnlagen ist zum Beispiel in Berlin längst nicht mehr
nur eins in Mitte oder im Prenzlauer Berg. Nein, auch
sogenannte gutbürgerliche Gegenden wie Wilmersdorf
oder Charlottenburg und die dort seit langem lebenden
und sozial verwurzelten Mieterinnen und Mieter sind
davon betroffen.

Da hilft kein regierungsamtlicher Verweis auf die ge-
wachsene Zahl von Baugenehmigungen im letzten Jahr.
Man muss schon hinsehen, was gebaut wird und für wen,
vor allem in den Großstädten: 80 Prozent des Woh-
nungsneubaus erfolgen nämlich im Luxussegment. Hier
zeigt sich einfach „eine Flucht ins Betongold“ oder, wie
es der Präsident des Deutschen Mieterbundes aus-
drückt: „Reich baut für reich.“

Die Forderung nach Wohnen zu bezahlbaren Mieten,
die Furcht, sich die „eigenen vier Wände“ in der ge-
wohnten Umgebung nicht mehr leisten zu können, sind
mitten in der Gesellschaft angekommen. Für Menschen
mit niedrigen Einkommen oder für die, die auf Transfer-
leistungen angewiesen sind, wird Wohnen gar zu einem
Armutsrisiko. 40, 50 Prozent des Haushaltseinkommens
oder sogar mehr für Wohnkosten aufwenden zu müssen,
ist längst keine Seltenheit mehr in unserem Land. Nach
Recherchen einer aktuellen Studie des Pestel Instituts
Hannover, die dort im Auftrag der Kampagne „Impulse
für den Wohnungsbau“ erstellt wurde, sind circa 44 Pro-
zent der deutschen Mieterhaushalte davon betroffen.
Und diese Haushalte haben keine Reserven. Was sie für

Zu Protokoll gegebene Reden





Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)


Wohnkosten aufwenden, müssen sie sich von anderen
notwendigen Ausgaben absparen.

Neue Wohnungsnot und zunehmende Armut sind
keine links erfundenen Horrorszenarien, sondern sie
hängen zusammen und sind eine sich ausbreitende ge-
sellschaftliche Realität. Die erwähnte Studie bezeichnet
die Tatsache, dass immer mehr Haushalte – selbst mit
mittleren Einkommen – einen immer größeren Anteil da-
von fürs Wohnen ausgeben müssen, als dramatisch – und
das, obwohl die Bruttokaltmieten in den meisten ländli-
chen Regionen gar nicht gestiegen sind.

Die flächendeckende Erhöhung der Wohnkosten in
den letzten Jahren, selbst dort, wo hoher Wohnungsleer-
stand herrscht, ist überwiegend auf eine starke Steige-
rung der Energiekosten zurückzuführen. Wenn jetzt auch
noch nach energetischen Sanierungsmaßnahmen, die
grundsätzlich ja zu begrüßen sind, die Kosten dafür voll-
ständig auf die Mieter abgewälzt werden sollen, sprengt
das deren finanzielle Leistungsfähigkeit vollends.

Da hilft auch kein „Gesetz über die energetische Mo-
dernisierung von vermietetem Wohnraum und über die
vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln“, wie
das die Regierungskoalition plant. Das geht völlig an
der Realität vorbei und treibt unnötig einen Keil zwi-
schen Vermieter und Mieter.

Was wir in Deutschland wirklich brauchen, ist eine
zukunftsorientierte und bedarfsgerechte finanzielle Aus-
stattung des sozialen Wohnungsbaus durch Bund und
Länder, eine aufgabengerechte öffentliche Förderung
der energetischen Sanierung und des klimaschonenden
Wohnungsneubaus ohne Überforderung von Vermietern
und Mietern und ein ausgewogenes Mietrecht, das Ver-
mieter- und Mieterinteressen gleichermaßen schützt,
statt sie gegeneinander auszuspielen.

Dazu soll dieser Antrag einen Beitrag leisten. Er geht
auf eine Bundesratsinitiative des Landes Berlin aus der
Regierungszeit von SPD und Linken im Jahr 2010 zu-
rück. Das ist ja auch der SPD-Bundestagsfraktion nicht
entgangen, die diesen von ihren Genossen im Berliner
Abgeordnetenhaus mit verfassten Antrag im Verkehrs-
ausschuss noch beargwöhnt, ihm im Rechtsausschuss
aber schon zugestimmt hat. Weiter so!

Und wenn auch Bündnis 90/Die Grünen sich zu ihren
eigenen Anliegen konsequent verhalten, dann könnten
der Untätigkeit der Bundesregierung oder ihrem Agie-
ren in die falsche Richtung wirksame Alternativen entge-
gengesetzt werden.


Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717233400

Die Lage der Wohnungsmärkte in wachsenden Regio-

nen spannt sich zunehmend an. Das belegt auch der
Wohngeld- und Mietenbericht 2010. Die Anzahl der
Kreise mit hohen Mietsteigerungen nimmt seit 2009 zu,
und eine neue Dynamik ist feststellbar. Wir haben in
diesen Wohnungsmärkten Verknappungstendenzen, die
einkommensschwachen Haushalten den Zugang zu
Wohnraum erschweren. Die Bundesregierung hat auf
diese drängenden Fragen keine Antworten. In ihrem
vorgelegten Referentenentwurf für eine Mietrechtsno-

velle ignoriert sie diese Thematik sogar völlig. Dabei ist
bezahlbares und klimafreundliches Wohnen möglich.

Die Fraktion Die Linke hat mit ihrem Gesetzentwurf,
der auf einer Bundesratsinitiative des Landes Berlin
basiert, versucht, Antworten zu finden.

Doch bevor ich auf die einzelnen Forderungen ein-
gehe, möchte ich kurz meine Verwunderung über das un-
einheitliche Abstimmungsverhalten der SPD-Bundes-
tagsfraktion in den Ausschüssen zum Ausdruck bringen.
Im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat
sie sich enthalten, und im federführenden Rechtsaus-
schuss hat die SPD zugestimmt. Ich bin guter Hoffnung,
dass wenigstens die SPD künftig zu einer einheitlichen
Positionierung im Mietrecht findet.

Die Fraktion Die Linke hat leider mehrere und sich
widersprechende mietrechtliche Forderungen in dieser
Wahlperiode ins parlamentarische Verfahren einge-
bracht.

Nun zu den einzelnen Forderungen im Antrag sowie
zur Begründung unseres Abstimmungsverhaltens. Den
Vorschlägen zur Änderung von § 5 Wirtschaftsstrafge-
setz stimmen wir zu. Zusätzlich wollen auch wir, dass
Energieausweis an Bedeutung gewinnt. Darüber hinaus
soll er, flächendeckend für alle Gebäude eingeführt, bei
Vermittlung sowie Verkauf verpflichtend vorgelegt wer-
den. Auch in der Weiterentwicklung des Contracting-
marktes sehen wir eine Chance, die energetische Gebäu-
desanierung weiter voranzutreiben.

An anderen Stellen hingegen sind die Linke und auch
die SPD des Landes Berlin inkonsequent. Die Bundes-
tagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen geht hingegen ent-
schieden in Richtung Bezahlbarkeit und Klimaschutz.
Zum Bespiel reicht es nach unserer Einschätzung nicht
aus, die Modernisierungsumlage einfach von 11 auf
9 Prozent abzusenken. Wir wollen sie auch auf die ener-
getische Sanierung und den altersgerechten Umbau
konzentrieren. Auch bei den Vorschlägen zur ortsübli-
chen Vergleichsmiete wird lediglich vorgeschlagen, die
Kappungsgrenze von 20 auf 15 Prozent abzusenken so-
wie den Schonungszeitraum von drei auf vier Jahre zu
verlängern. Auch wir schlagen eine Absenkung der Kap-
pungsgrenze vor; aber wir wollen auch, dass die energe-
tische Gebäudebeschaffenheit als Vergleichsvariable in
die ortsübliche Vergleichsmiete aufgenommen wird.

Das sind für uns zentrale mietrechtliche Stellschrau-
ben, mit denen die unbedingt notwendige energetische
Sanierung vorangetrieben, die Bezahlbarkeit des Woh-
nens aber gleichsam erhalten werden kann. Deswegen
haben wir uns beim Antrag der Linken in den Ausschuss-
beratungen enthalten und werden das auch heute tun.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717233500

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/8953, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/6371 abzulehnen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abge-





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Hans-Joachim Hacker, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Sicherheit auf Kreuzfahrtschiffen verbessern

– Drucksache 17/9158 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch diese Reden zu Protokoll.


Hans-Werner Kammer (CDU):
Rede ID: ID1717233600

In diesen Tagen jährt sich zum 100. Mal der Unter-

gang der „Titanic“. Dieser schreckliche Unfall hat
– wie kaum ein anderes Unglück – die Menschen für die
Grenzen der Technik sensibilisiert. Wir gedenken heute
hier der mehr als 1 500 Opfer.

Sie sind bis heute für uns eine ständige Mahnung, die
Sicherheit auf See immer weiter zu verbessern. Bei den
Bemühungen um die Sicherheit auf See darf es niemals
Stillstand geben. Die Sicherheit auf See muss dem tech-
nischen Fortschritt immer wieder angepasst werden.
Dabei werden wir niemals nachlassen!

Die Havarie der „Costa Concordia“ am 13. Januar
dieses Jahres hat die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
– völlig zu Recht – auf die Sicherheit von Kreuzfahrt-
schiffen gelenkt. Weltweit verkehren circa 500 Kreuz-
fahrtschiffe auf den Ozeanen. Alle Experten gehen da-
von aus, dass sich diese Zahl in den nächsten Jahren
noch erhöhen wird.

Nicht nur die Zahl der Schiffe hat zugenommen, son-
dern auch ihre Größe: Die „Costa Concordia“ gehört
mit circa 5 000 Personen an Bord noch nicht einmal zu
den größten Kreuzfahrtschiffen. Derzeit gibt es schon
Schiffe, die fast 8 500 Personen an Bord haben. Damit
ist aber noch nicht genug: In Planung befinden sich
schon wahre Giganten der Meere, die circa 10 000 Per-
sonen an Bord haben werden. Dies entspricht der Bevöl-
kerung einer Kleinstadt.

Es ist völlig klar, dass diese Dimensionen ein völlig
neues Denken erfordern. Dies gilt nicht nur für die
Verhinderung von Unfällen, sondern auch für die Ver-
sorgung der Opfer im Falle eines Unglücks. Sogar die
hervorragend ausgebaute Infrastruktur eines Industrie-
landes wäre mit mehreren Tausend Opfern an einem ein-
zigen Punkt überfordert. Wie dies in weniger privilegier-
ten Teilen dieser Welt wäre, mag man sich gar nicht
vorstellen.

Sie sehen, dass die Sicherheit auf See ein in seiner
Bedeutung kaum zu überschätzendes Thema ist. Bundes-

verkehrsminister Dr. Ramsauer hat daher auf interna-
tionaler Ebene schon bemerkenswerte Initiativen ergrif-
fen. Ich selbst stehe deshalb schon seit einiger Zeit in
Kontakt mit den Spitzenvertretern des Verbands der
Deutschen Reeder. Bei so vielen Aktivitäten der Union
zugunsten der Schiffssicherheit sahen auch die Sozialde-
mokraten die Notwendigkeit, einen Antrag zu diesem
Thema in letzter Minute mit heißer Nadel zu stricken. So
ist er dann auch geworden.

Dagegen hebt sich das langfristige und strategische
Vorgehen unseres Verkehrsministers doch wohltuend ab:
Auf dem Weltverkehrsforum in Leipzig Anfang Mai und
bei der Tagung der Internationalen Seeschifffahrts-
Organisation Mitte Mai dieses Jahres wird er außerdem
ein Maßnahmenpaket vorstellen, um möglichst schnell
zu einem neuen, weltweiten Sicherheitsstandard für
Kreuzfahrtschiffe zu kommen. Peter Ramsauer ist klar,
dass wir nicht auf dem Sicherheitsstandard von 1980
verharren dürfen!

Deutschland bringt sich schon seit langem mit seiner
maritimen Kompetenz in die Internationale Seeschiff-
fahrts-Organisation ein. Die Internationale Seeschiff-
fahrts-Organisation entwickelt in einem ganzheitlichen
Ansatz Regelungen für die Sicherheit von Fahrgastschif-
fen. Die Vorschriften zur baulichen Beschaffenheit für
den Brandschutz sowie zur Dauer der Schwimmfähigkeit
nach einem Wassereinbruch wurden bereits angepasst.

Derzeit entwickelt die Internationale Seeschifffahrts-
Organisation unter anderem neue Vorschriften für
Evakuierungsmöglichkeiten, Rettungsmittel und die
Zuverlässigkeit aller technischen Komponenten.

Dies lässt hoffen, ist aber bei weitem noch nicht ge-
nug. Maßnahmen, die die bauliche Beschaffenheit von
Schiffen betreffen, wirken sich nur auf neue Schiffe aus.
Schiffe, die sich bereits in Betrieb befinden, genießen
Bestandsschutz.

Bauliche Maßnahmen greifen also nur langfristig.
Das hat niemand klarer erkannt als Peter Ramsauer. Er
macht sich daher in seinem Maßnahmenpaket für die
Verbesserung von operativen Maßnahmen an Bord auch
von solchen Schiffen, die sich schon in Betrieb befinden,
stark. Das ist praktizierte Verantwortung für die Men-
schen.

Peter Ramsauer fordert die Simulation von Evakuie-
rungsszenarien. Was bei Flugzeugen und Großveran-
staltungen selbstverständlich ist, muss auch für Kreuz-
fahrtschiffe verbindlich werden. So können schon im
Vorfeld Schwachstellen erkannt und im Interesse der
Menschen an Bord beseitigt werden.

Dies gilt auch für die an Bord befindlichen Rettungs-
mittel. Hier wurden die Vorschriften seit mehr als
30 Jahren dem technischen Fortschritt nicht angepasst.
Dies kann nicht so bleiben. Neuartige Rettungskonzepte,
die der Größe und dem Einsatz von Kreuzfahrtschiffen
entsprechen, werden benötigt. Entscheidendes Krite-
rium muss dabei die möglichst schnelle Rettung einer
möglichst großen Anzahl von Personen mit Rettungs-
mitteln, die der jeweiligen Weltregion entsprechen, sein.





Hans-Werner Kammer


(A) (C)



(D)(B)


Besonderen Wert legt unser Bundesverkehrsminister
auch auf die Fortentwicklung von elektronischen See-
karten, da sie die Sicherheit des Schiffsverkehrs ent-
scheidend erhöhen können. Hier ist nicht die Ausrüstung
der Schiffe das Problem, sondern das Vorhandensein
von elektronischen Seekarten für Gegenden abseits der
Hauptschifffahrtsrouten.

Diese und andere Vorschläge wird er auf der 90. Sit-
zung des Schiffssicherheitsausschusses der Internatio-
nalen Seeschifffahrts-Organisation, die das Thema
Kreuzfahrtschiffssicherheit noch kurzfristig auf ihre
Tagesordnung gesetzt hat, präsentieren. Das ist ein
Beispiel für konstruktive Politik zugunsten der Men-
schen an Bord.

Doch was macht die Sozialdemokratie aus diesem
ernsten Thema? Sie frönt ihrem Lieblingsthema: der Re-
gulierung. Da soll die Bundesregierung doch tatsächlich
zusammen mit den Gewerkschaften den Reedereien vor-
schreiben, welche Menschen sie nach welchen Kriterien
in Führungspositionen berufen. Mir ist durchaus klar,
dass es ein alter Traum der Sozialdemokratie ist, priva-
ten Unternehmen vorzuschreiben, welche Leute sie ein-
stellen und welche sie entlassen sollen. Wie spätestens
seit dem Untergang der DDR klar ist, hat das auf Land
nicht geklappt.

Doch dies ist für unsere sozialdemokratischen
Freunde kein Grund zur Einsicht. Jetzt versuchen sie es
auf unseren Schiffen. Das würde in kurzer Zeit auch ei-
nen bemerkenswerten Erfolg bringen: das vollständige
Verschwinden unserer Handelsmarine.

Noch vor der Unterschrift des Bundespräsidenten
unter eine solche Regelung hätten sich die deutschen
Reeder nicht nur an den Kopf gefasst, sondern auch alle
ihre Schiffe ausgeflaggt. Dies ist ein Beispiel dafür, dass
nicht nur die Sicherheitsvorschriften auf hoher See an-
gepasst werden müssen, sondern – noch viel schneller –
das wirtschaftliche Verständnis der Sozialdemokraten.

Ich bin der Erste, der eine verstärkte Rückflaggung
von Kreuzfahrtschiffen nach Deutschland begrüßen
würde. Die geeignetste Maßnahme dafür brauche ich
nicht zu prüfen, die kenne ich schon jetzt: die Überant-
wortung solcher sozialdemokratischer Forderungen an
den nächsterreichbaren Papierkorb.

Das wirtschaftliche Unverständnis der Sozialdemo-
kratie zeigt sich auch an der Forderung, eine Werbe-
kampagne zugunsten der Berufe der Seeschifffahrt in
der Öffentlichkeit zu starten und so das Image der Bran-
che zu verbessern. Was soll denn der Staat noch alles
tun? Wenn der Staat heute den Beruf des Kapitäns be-
wirbt, muss er – schließlich gilt gleiches Recht für alle –
morgen den Beruf des Arztes, übermorgen den des Ge-
werkschaftssekretärs und am Ende der Woche die
Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemo-
kratischer Frauen bewerben. Bei der Vielfalt der Berufe
in unserem Land ist davon auszugehen, dass dieser wun-
derbare Vorschlag dazu führen würde, dass alle
147 Jahre ein Tag für die Imagekampagne zugunsten der
Berufe der Seeschifffahrt zur Verfügung stünde. Das ist

ein wirklich sensationeller Fortschritt. Solche Vor-
schläge braucht das Land – ganz gewiss nicht!

Ein wesentlicher Bestandteil sozialdemokratischer
Folklore ist auch die ständige Forderung nach Subven-
tionen für Branchen, in denen sie Wähler vermutet. Als
konservativer Traditionalist freue ich mich, dass die
Damen und Herren von der Opposition auch in diesem
Antrag nicht darauf verzichtet haben und zum Schluss
nach Staatsknete schreien.

Als Mensch, der aus der Wirtschaft kommt, schreie
ich ob dieser Uneinsichtigkeit. Subventionen sind wie
hochdosierte Medikamente: Im akuten Ernstfall mögen
sie helfen; die dauernde Anwendung führt jedoch zu
unkalkulierbar Nebenwirkung und schweren gesund-
heitlichen Schäden. Fragen Sie Herrn Lauterbach, der
wird Ihnen das bestätigen!

Peter Ramsauer dagegen wird Ihnen bestätigen, dass
seine Politik der konstruktiven Schritte mehr zur Sicher-
heit der Passagiere auf Kreuzfahrtschiffen beiträgt als
ein Imagetag für Kapitäne.

Wir von der Union blicken bei diesem ernsten Thema
nicht auf die partikularen Interessen einzelner sozial-
demokratischer Ortsvereine, sondern möchten die
Sicherheit auf See erhöhen, möchten Unfälle verhüten
und Leben retten.


Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1717233700

Uns allen werden sicherlich die Bilder vom havarier-

ten Kreuzfahrtschiff Costa Concordia nicht aus dem Ge-
dächtnis gehen. Auf diesem schmucken Schiff haben
mehrere Tausend Menschen die schönste Zeit des Jah-
res, ihren Urlaub, verbracht – und von einer Stunde zur
anderen wurde aus schönster Urlaubserholung ein
grauenhaftes Schrecken. Über 30 Menschen haben ihr
Leben verloren. Noch wissen wir nicht genau, wie es zu
diesem Unglück gekommen ist. Dies werden die italieni-
schen Behörden jetzt detailliert untersuchen. Aber trotz
dieses schrecklichen Unglücks müssen wir auch feststel-
len: Die Kreuzfahrtschifffahrt ist und bleibt eine attrak-
tive und sichere Reiseform.

Urlaube auf Kreuzfahrtschiffen, sei es auf hoher See
oder auf größeren Flüssen, erfreuen sich steigender Be-
liebtheit. Im vergangenen Jahr machten 1,8 Millionen
Bundesbürger eine Kreuzfahrt, das war ein Zuwachs um
12 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dies zeigt zugleich,
dass die Kreuzfahrten längst aus der Ecke des elitären
Luxusurlaubs herausgekommen sind. Das ist auch gut
so, und ich möchte die Reeder nur ermuntern, diesen er-
folgreichen Weg fortzusetzen.

Kreuzfahrten sind auch sicher: Bei 200 Millionen
Übernachtungen auf Kreuzfahrtschiffen seit dem Jahr
2000 hat es insgesamt 40 Todesfälle gegeben, in den vo-
rangegangenen sechs Jahren vor dem Unglück der
Costa Concordia keinen einzigen Todesfall. Deshalb
sollten wir uns auch davor hüten, nach einem Unglück
– so schrecklich es auch ist – Panik zu verbreiten. Bevor
nicht die italienischen Behörden ihre Auswertung vorge-
legt haben, wird man keine abschließenden Konsequen-
zen aus diesem Unglück ziehen. Immerhin gibt es erste

Zu Protokoll gegebene Reden





Ingbert Liebing


(A) (C)



(D)(B)


Hinweise auf menschliches Fehlverhalten. Dagegen hel-
fen kaum die besten Sicherheitsvorkehrungen. Dennoch
beschäftigen sich die Reeder mit dem Thema Sicherheit,
und das auch aus eigenem Interesse. Sie kommen ihrer
Verantwortung nach. Vor wenigen Tagen haben wir auf
einem Parlamentarischen Abend in der Hamburger Lan-
desvertretung viel gehört, wie sich Reeder dieser Verant-
wortung stellen.

Und auch die Bundesregierung handelt. Bundesver-
kehrsminister Ramsauer hat unabhängig vom konkreten
Fall der Costa Concordia das Thema Sicherheit bei der
internationalen Meeresorganisation IMO angemeldet:
Der Schiffssicherheitsausschuss wird sich im Mai mit
diesem Thema befassen.

Die Kreuzfahrtschiffe werden immer größer. Dem-
nächst werden Schiffe mit mehr als 10 000 Personen an
Bord auf dem Wasser verkehren. Dies ist allemal Anlass,
Sicherheitsstandards zu überprüfen. Es geht um Ret-
tungsmittel. Die SOLAS-Bestimmungen sollen überprüft
werden.

Es geht um Evakuierungsszenarien: Die Simulation
von Evakuierungen soll zur Pflicht werden. Aber es ist
zweifelhaft, ob die schon diskutierte Verpflichtung, Eva-
kuierungen real zu üben, wirklich zielführend wäre.
Schließlich haben wir bei Kreuzfahrten auch regelmäßig
wechselnde Gäste. Schließlich üben wir auch nicht in
Krankenhäusern oder Flugzeugen reelle Evakuierun-
gen, obwohl im Katastrophenfall auch hier schnelle
Evakuierungen notwendig sind. Entscheidend kommt es
darauf an, dass die baulichen Voraussetzungen für
schnelle Evakuierungen vorhanden sind und dass das
Personal mit den Situationen angemessen umgehen
kann.

Und es geht auch um die Fortentwicklung elektroni-
scher Seekarten, eine wichtige Hilfe für die Navigation.
Dies gilt insbesondere für entlegene Routen, zum Bei-
spiel in der Antarktis oder der Arktis.

Diese Beispiele zeigen, dass die Bundesregierung ih-
rer Verpflichtung nachkommt, sie handelt, aber mit Be-
dacht, nicht mit Schnellschüssen, die nur einen falschen
Eindruck erwecken würden. Vor diesem Hintergrund er-
scheint der Antrag der Sozialdemokraten genau ein sol-
cher Schnellschuss zu sein. Schnell ein Thema besetzen,
schnell etwas zusammenschreiben, auf den Inhalt kommt
es ja nicht an. Der Antrag enthält viele Selbstverständ-
lichkeiten, die bei der Bundesregierung bereits längst in
guten Händen sind, und es ist eine Vielzahl von Punkten
aus dem Zettelkasten früherer Anträge aufgenommen,
die mit dem Thema Sicherheit der Kreuzfahrtschiffe nur
am Rande zu tun haben. Natürlich haben auch wir ein
Interesse an der Fortführung des maritimen Bündnisses,
und wir haben dazu im Haushalt 2012 auch eine wesent-
liche Grundlage gelegt.

Gestern haben wir im Tourismusausschuss auch über
dieses Thema diskutiert. Dort hat der Kollege Hacker
von der SPD ausdrücklich gesagt, vor Abschluss der ita-
lienischen Untersuchungen könne man keine Konse-
quenzen ziehen. Sie haben auch von Schnellschüssen ab-
geraten. Aber warum kommen Sie dann heute mit diesem

Antrag? Das ist doch genau so ein Schnellschuss, ohne
die Untersuchungsergebnisse abzuwarten.

Meine eindringliche Bitte zum Abschluss ist: Bei al-
lem gemeinsamen Bemühen um Sicherheit in der Kreuz-
fahrtschifffahrt sollten wir nichts tun, was unnötige Ver-
unsicherung erzeugt. Unsere Kreuzfahrtschiffe sind ein
sicheres Reisemittel und bieten den Menschen heute und
in Zukunft eine großartige Möglichkeit für schöne Ur-
laubserlebnisse.


Uwe Beckmeyer (SPD):
Rede ID: ID1717233800

Wir brauchen einen klaren Kurs für mehr Sicherheit in

der Kreuzfahrtschifffahrt. Nach der Havarie der Costa
Concordia gehören die Sicherheitsabläufe und -standards
auf den Prüfstand. Die SPD hat dazu aktuell einen For-
derungskatalog vorgelegt, der helfen soll, die Sicherheit
für Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord der
Schiffe zu erhöhen. Dies ist vor dem Hintergrund der
dynamischen Entwicklung der Branche sprichwörtlich
von existenzieller Bedeutung. Denn die Größe moderner
Kreuzfahrtschiffe nimmt zu, und auch die Zahl der Pas-
sagiere und der Besatzung an Bord wächst stetig. Hinzu
kommt, dass sich die Kreuzfahrt als eines der am stärks-
ten wachsenden Segmente der Tourismuswirtschaft
durch einen extrem hohen Wettbewerbsdruck auszeich-
net. Zunehmende Konkurrenz darf aber nicht zulasten
der Sicherheit gehen.

Das offenkundig miserable Notfallmanagement auf
der havarierten Costa Concordia hat zahlreichen Men-
schen das Leben gekostet. Jetzt muss es darum gehen,
alles dafür zu tun, dass sich ein solches Unglück nicht
wiederholt. Die Tragödie hat insbesondere die Sicher-
heitsabläufe an Bord und das Krisenmanagement der
Besatzungen in den Blick gerückt. Die ständige Einhal-
tung der Vorschriften und die Weiterentwicklung der
Sicherheitsprozeduren stellt die Grundlage für einen
unfallfreien und sicheren Schiffsbetrieb dar. Im Bereich
der Sicherheitsübungen in der internationalen See-
fahrt wurden bereits Änderungen umgesetzt, sodass die
Einweisungen in Rettungswege und Rettungsmittel inzwi-
schen generell vor dem Auslaufen erfolgen. Doch alle
Sicherheitsregelungen helfen nur dann, wenn sie auch
richtig und rechtzeitig angewendet werden.

Bei mehr als 75 Prozent aller Schiffsunglücke welt-
weit ist menschliches Versagen im Spiel. Zu diesem
Ergebnis kommt eine aktuelle Studie über die vergange-
nen 100 Jahre Schifffahrt. Der Unfall der Costa Concor-
dia hat gezeigt: Das Risiko reist mit. Sicherheit von
Schiffen ist nicht allein mit Hightech zu gewährleisten.
Menschliches Versagen ist ein wesentlicher Risikofaktor,
und hier müssen alle weiteren Maßnahmen zur Optimie-
rung der Sicherheit ansetzen.

Die Hauptverantwortung für die Sicherheit an Bord
obliegt dem Kapitän. Er muss in der Lage sein, Gefah-
rensituationen zu erkennen und im Notfall rasch zu
reagieren und für eine zügige Evakuierung des Schiffes
zu sorgen. Dies kann er aber nur dann leisten, wenn er
insbesondere in der Führung von großen Menschenmen-
gen, aber auch in den Bereichen Fahrgastsicherheit,
Krisenbewältigung und sozialer Kompetenz hervorra-

Zu Protokoll gegebene Reden





Uwe Beckmeyer


(A) (C)



(D)(B)


gend und auf dem aktuellsten Niveau geschult ist. Not-
wendig ist daher zum einen eine regelmäßige Überprü-
fung und Schulung der Kapitäne und eine optimierte
Selbstkontrolle der Reedereien in Bezug auf die Schiffs-
sicherheit.

Die SPD fordert die Bundesregierung in diesem
Zusammenhang auch auf, gemeinsam mit den Sozial-
partnern Handlungsempfehlungen für die Reedereien zu
formulieren, um künftig einheitliche Kriterien bei der
Personalauswahl für die Schiffsführung zu schaffen.
Diese muss sorgfältig, transparent und an objektiven
Kriterien ausgerichtet erfolgen. Dazu gehört aber zum
anderen auch eine hochwertige Ausbildung der Kapi-
täne und Schiffsoffiziere in Deutschland. Um diese
sicherzustellen, brauchen wir eine angemessene finan-
zielle und personelle Ausstattung der Ausbildungsstät-
ten – Fachhochschulen und Seefachschulen – und ein
verstärktes Engagement der Schifffahrtsunternehmen im
Bereich der Ausbildung.

In dem Wettbewerbsumfeld, in dem die Kreuzfahrt-
branche derzeit agiert, wird die Konkurrenz um Passa-
giere zunehmend über den Preis entschieden – und der
wird nicht zuletzt auch über die Löhne der Seeleute
bestimmt. Doch nur motiviertes, gut geschultes und gut
bezahltes Personal ist in der Lage, die hohen Anforde-
rungen in Bezug auf Sicherheitsstandards zu erfüllen.
Wir dürfen daher nicht zulassen, dass an dieser Stelle an
der Sicherheit gespart wird. Deshalb muss die Bundes-
regierung endlich den bereits für 2011 angekündigten
Entwurf eines neuen Seearbeitsgesetzes vorlegen, um
das internationale Seearbeitsübereinkommen noch in
diesem Jahr in deutsches Recht umzusetzen, das welt-
weit geltende Mindeststandards zur Verbesserung der
Arbeitsbedingungen an Bord der Schiffe vorschreibt.
Angesichts wachsender Schiffsgrößen kommen Praxis-
tests für die Evakuierung von Kreuzfahrtschiffen eine
große Bedeutung zu. Entscheidend sind eine realistische
Evakuierungsanalyse und eine konsequente Evakuie-
rungsplanung.

Wir als SPD fordern klare Standards für den Einsatz
von Simulationsprogrammen im Bereich der Kreuzfahrt-
schifffahrt. Mithilfe dieser Programme ist es möglich,
Schwachstellen bei Neubauten zu identifizieren und die
Dauer einer Evakuierung der Kreuzfahrtschiffe zu
berechnen. Diese modernen Methoden helfen, die
Sicherheitsstandards weiter zu erhöhen. Die Passagiere
sollen mit dem Gefühl an Bord gehen: Es wird mit
Sicherheit eine gute Reise.


Torsten Staffeldt (FDP):
Rede ID: ID1717233900

Eine Schiffshavarie ist immer eine schreckliche Sa-

che. Und natürlich muss immer alles getan werden, um
eine solche gar nicht erst geschehen zu lassen. Nur so
kann man Menschenleben retten und Passagieren, Be-
satzungen und Angehörigen viel Leid und Schmerz er-
sparen. Es wird jetzt aber auch abzuwarten sein, was die
endgültigen Ursachen für die letzten Havarien waren.
Die Untersuchungen laufen. Aber unabhängig davon,
was dabei als Ergebnis stehen wird, bleibt es dennoch
Aufgabe und Pflicht von Politik und Behörden, immer

wieder zu hinterfragen, wie so etwas verhindert werden
kann, und zwar regelmäßig und nicht erst, wenn ein Un-
fall geschehen ist. In diesem Zusammenhang kann ich
feststellen, dass dies in Deutschland auch erfolgreich
geschieht. Daher mutet der Antrag der SPD schon nach
schneller Effekthascherei auf dem Rücken der Betroffe-
nen an. Dies wird insbesondere dadurch unterstrichen,
dass Sie schon im beschreibenden Teil fragwürdige Be-
hauptungen aufstellen. So wird von Ihnen zum Beispiel
die Situation an den nautischen Fachhochschulen völlig
falsch dargestellt. Das Problem besteht doch nicht im
fehlenden nautisch geschulten Personal. Es ist genü-
gend da, auch deutsches. Es ist bloß zu teuer, weshalb
die Absolventen nicht zum Zuge kommen. Aber so richtig
deutlich wird das Ganze erst im Forderungsteil. Hier
wird ein großer bunter Strauß an Forderungen unter-
schiedlicher Art aufgestellt. Diese reichen von platten
Selbstverständlichkeiten wie der regelmäßigen Über-
prüfung der geltenden Sicherheitsbestimmungen bis hin
zu äußerst fragwürdigen Forderungen wie den Hand-
lungsempfehlungen für die Führungskräfteauswahl oder
die Überprüfung der sozialen Kompetenz. Ich wage zu
bezweifeln, dass dies wirklich hilfreich ist. Aber vermut-
lich werden Sie uns das ja noch ausführlich erläutern.

Ich denke, darüber wird in den jetzt anstehenden Be-
ratungen intensiv zu reden sein. Wir werden heraus-
finden müssen, was notwendig, was sinnvoll und was
weniger geeignet ist, um die Sicherheit in der Kreuz-
fahrtschifffahrt tatsächlich zu erhöhen. In diesem Sinne
wünsche ich uns allen gute Beratungen.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717234000

Bereits im Jahr 2007 beschäftigte sich der Bundestag

mit dem Thema Kreuzfahrtschifffahrt. Grundlage war
ein Antrag von CDU/CSU und SPD „Kreuzfahrttouris-
mus und Fährtourismus in Deutschland voranbringen“,

(Drucksache 16/5957). Das Thema Sicherheit spielte in

dem Antrag vor fünf Jahren keine herausgehobene
Rolle, obwohl ich in meiner Rede am 20. September
2007 durchaus auf einige kritische Konsequenzen aus
dem so rasant wachsenden Tourismussektor hinwies.
Dazu gehörte der Verweis auf die Löhne und Arbeitsbe-
dingungen der Crewmitglieder. Bereits damals verwies
die Linke auf einen Bericht aus der Bundeszentrale für
politische Bildung, laut dem unabhängige Arbeitsver-
mittler das billige und willige Personal für die Kreuz-
fahrtschifffahrt vor allem aus den verarmten Ländern
des Südens und des Ostens besorgen. Untersuchungen
der Arizona State University zufolge war es nicht unge-
wöhnlich, wenn die bis zu tausendköpfige Besatzung ei-
nes Luxusliners aus mehr als 40 verschiedenen Nationen
stammt. Weil aufgrund dieser Völker- und Sprachenviel-
falt an Bord keine effektive gewerkschaftliche Arbeit-
nehmervertretung möglich sei, ließen sich sehr niedrige
Löhne bei gleichzeitig sehr langen Arbeitszeiten und
fragwürdigen Lebensbedingungen an Bord durchsetzen.
Diese Strategie zur Gewinnmaximierung führt auch zu
niedrigen Standards bei der Sicherheit und erhöht die
Gefahr für Leib und Leben bei Havarien. An dieser Si-
tuation hat sich bis heute nichts geändert.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


Nun zeigt sich die SPD wiederholt als Experte für den
Kreuzfahrtschifffahrtstourismus. Sicher stehen ihr dabei
der Kapitän und die Besatzung der unter portugiesi-
scher Flagge fahrenden MS Princess Daphne zur Seite,
welche ihre Reisen beim SPD-Reiseservice verkauft. Si-
cher wird niemand im Bundestag dagegen sein, mehr für
die Sicherheit der Passagiere und Besatzungsmitglieder
sowie für die von der Kreuzfahrtschifffahrt betroffenen
Anrainer und deren Umwelt zu tun, auch die Linke nicht.
Zustimmung von mir gibt es sowohl zu dem Punkt 2, wo
es um den Schutz und die Sicherheit für Passagiere mit
Behinderungen geht, als auch für viele weitere einzelne
Forderungen. Ob aber Ursachenbenennung, Schlussfol-
gerungen und alle Maßnahmen, welche die Bundesre-
gierung laut diesem Antrag ergreifen soll, die richtigen
sind, stelle ich infrage. Das fängt mit der Frage an, ob
die sich seit mehreren Jahren vollziehende Entwicklung
in diesem Tourismussektor „gottgegeben“ ist und ob
man als Politik in diesen Prozess noch beschleunigend
eingreifen muss, wie es CDU/CSU und SPD bereits vor
fünf Jahren schon forderten. Müssen mit unseren Steu-
ern immer mehr und größere Kreuzfahrtschiffe und die
dafür nötige Infrastruktur gefördert werden, während
für die Förderung von Kinder- und Jugendreisen, für die
Schaffung einer barrierefreien touristischen Infrastruk-
tur sowie für sozial, ökologisch, arbeitsmarktpolitisch
und bildungspolitisch wertvolle Inlandsreisen meist das
Geld fehlt?

Und man muss auch mal über den Tellerrand
schauen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
Wenn Sie in ihrem Antrag schreiben, dass sich der
Kreuzfahrtmarkt durch einen hohen Wettbewerbsdruck
auszeichnet und Sie dann weiter ausführen, „zunehmen-
der Wettbewerb darf jedoch nicht zu Lasten von Sicher-
heit gehen. Das gilt insbesondere für die Kreuzschiff-
fahrt“, dann muss ich Ihnen entgegnen, dass dies
typische Merkmale für alle Bereiche einer kapital- bzw.
profitorientierten Wirtschaft sind. Wettbewerbsdruck
und Gigantismus und damit auch das Risiko von
menschlichem oder technischem Versagen mit zuneh-
mend gravierenderen Auswirkungen für Mensch und
Natur haben wir in allen anderen Bereichen des Perso-
nenverkehrs, haben wir beim Handel, in der Nahrungs-
mittelindustrie und auch in so sensiblen Bereichen wie
den Atomkraftwerken. Ähnliche Verantwortung wie der
Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes haben auch die Kapi-
täne von Flugzeugen oder die Fahrerinnen und Fahrer
von Eisenbahnzügen, U-Bahnen und Bussen.

Deswegen unterstützt die Linke einerseits eine Reihe
von Forderungen aus dem Antrag, fordert aber anderer-
seits, sich beim Thema Tourismus einschließlich der
Branche Kreuzfahrttourismus umfassend mit den damit
verbundenen wirtschaftspolitischen, ökologischen und
sozialen Fragen und Problemen – dabei sind die Fragen
der Sicherheit eingeschlossen – auseinanderzusetzen.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717234100

Am 13. Januar dieses Jahres kollidierte das italieni-

sche Kreuzfahrtschiff Costa Concordia mit einem Felsen
vor der Insel Giglio in Italien. Die Folgen waren
schwerwiegend, da das Schiff binnen kurzer Zeit auf

Grund lief. Eine Umweltkatastrophe konnte im letzten
Moment noch verhindert werden. Über die Gründe des
Unfalls kann nur spekuliert werden, solange die Seeun-
falluntersuchung noch nicht abgeschlossen ist. Den Pas-
sagieren, die zu diesem Zeitpunkt an Bord waren,
möchte ich an dieser Stelle meine Anteilnahme ausdrü-
cken. Bei dem Unglück verloren wohl 32 Menschen ihr
Leben. Alle anderen Reisenden mussten ihre Urlaubs-
reise abbrechen und fuhren mit den schrecklichen Erleb-
nissen wieder nach Hause. Nicht nur die Reederei des
Unglücksschiffes, sondern die gesamte Kreuzfahrtbran-
che hat seitdem mit starken Imageverlusten zu kämpfen.

In den vergangenen Jahren hat sich die Kreuzfahrt-
schifffahrt zu einem großen Markt entwickelt. Kaum ein
anderer Tourismussektor legte ein solch rasches Wachs-
tum hin. Allein in Europa gab es zwischen den Jahren
2005 und 2010 eine Steigerung der Passagierzahlen um
fast 100 Prozent, damit sogar eine deutlich stärkere Ent-
wicklung als weltweit. Durch den rasanten Anstieg an
Passagieren verstärkt sich auch die Konkurrenz zwi-
schen den einzelnen Unternehmen: Der Kostendruck
wird größer, die Vorteile der Economies of Scale wirken
sich entsprechend aus. Das heißt, je größer die Schiffe
sind, desto niedriger sind die Kosten des Reiseveranstal-
ters pro Fahrgast. Die Schiffsgrößenentwicklung ging
daher unbegrenzt weiter. Die Entwicklung der Schiffs-
größe legt den Verdacht nahe, dass Sicherheitsbestim-
mungen nicht ausreichend angepasst wurden in der
Kürze der Zeit. So gibt es für die Evakuierung von Fähr-
schiffen aktuellere Simulationsmodelle als für die in den
letzten Jahren ständig größer werdenden Kreuzfahrt-
schiffe. Dies passt so nicht zusammen, und die Vorschrif-
ten für die Kreuzfahrtschifffahrt müssen dringend ange-
passt werden.

Reiseveranstalter und Werften überboten sich beim
Bau neuer Kreuzfahrtriesen. Schiffe mit 8 000 Menschen
an Bord sind inzwischen auf den Weltmeeren unterwegs.
Dies erfordert sehr gute Managementsysteme und be-
deutet eine große Anforderung für die Besatzung an
Bord.

Lösungsvorschläge für eine sichere Kreuzfahrtschiff-
fahrt sind:

Vorziehen der Sicherheitsübungen an Bord bereits
vor Ablegen des Schiffes; für den Ablauf der Evakuie-
rungsmaßnahmen müssen die Simulationsprogramme
entsprechend auch für Kreuzfahrtschiffe aktualisiert
werden; Verschärfung der Sicherheitsvorschriften für
Rettungsmaßnahmen und -ausrüstung beim Neu- und
Umbau zukünftiger Kreuzfahrtschiffe.

Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion zieht keine
vorzeitigen Schlüsse aus dem Unfall der Costa Concor-
dia, sondern zählt die Schwachstellen der in den letzten
Jahren anscheinend zu schnell gewachsenen Branche
auf. Auf allen Ebenen, also von nationaler Gesetzge-
bung über die europäische Ebene bis zur Internatio-
nalen Seeschifffahrts-Organisation, IMO, muss nach
Lösungen gesucht werden, um die Kreuzfahrtschifffahrt
frühestmöglich sicherer zu gestalten.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)


Aus der Katastrophe von Giglio müssen nach Be-
kanntwerden der Seeunfalluntersuchung die richtigen
Schlüsse gezogen werden. Aber schon jetzt ist klar, dass
die Kreuzfahrtschifffahrt vor neuen Aufgaben steht und
sich in puncto Sicherheit dringend neu aufstellen muss.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717234200

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9158 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Unverzügliche Ratifizierung des Seearbeits-
übereinkommens der Internationalen Arbeits-
organisation

– Drucksache 17/9066 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1717234300

Ich stelle mit Erstaunen, aber auch mit Freude fest,

dass die Fraktion Die Linke immer häufiger – wenn
auch noch in deutlich ausbaufähigem Umfang – Themen
auf den Plan ruft, die sich mit den Interessen der Koali-
tion durchaus decken. Sie kommen zwar mit Ihren For-
derungen, auf die ich gleich noch näher eingehen werde,
etwas verspätet. Nichtsdestotrotz sollte man positive
Bemühungen ja auch mit der ihnen angemessenen Wür-
digung erwähnen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren der Links-
fraktion, Sie fordern die Bundesregierung in Ihrem
Antrag auf, ein neues Seearbeitsgesetz vorzulegen, das
das bisherige Seemannsgesetz ablösen solle. Das See-
arbeitsübereinkommen der Internationalen Arbeitsorga-
nisation, das im Jahre 2006 verabschiedet wurde, soll
damit umgesetzt werden. Die Lebens- und Arbeitsbedin-
gungen von Seeleuten auf Schiffen sind zum Teil recht
hart. Es ist uns in der Union ein wichtiges Anliegen, für
diese Menschen angemessene Mindeststandards für die
von ihnen zu verrichtende schwere körperliche und
manchmal auch psychische Arbeit zu schaffen. Mit dem
derzeit gültigen Seemannsgesetz besteht bisher eine gute
Regelungsgrundlage für die Seeleute, die auf einem
Schiff unter deutscher Flagge fahren. Es schreibt unter
anderem vor, welche Voraussetzungen Seeleute für eine
Tätigkeit an Bord erfüllen müssen, und trifft unter
Berücksichtigung der besonderen Bedingungen der
Arbeit auf hoher See fernab der Heimat insbesondere

Regelungen über die Begründung und Beendigung des
Heuerverhältnisses, die Vergütung, die Mindestanforde-
rungen an Verpflegung, Unterbringung und medizini-
sche Versorgung, über Urlaub und Landgang, Höchst-
arbeitszeiten und Mindestruhezeiten sowie über den
Arbeitsschutz.

Darüber hinaus hat Deutschland die überwiegende
Zahl der Einzelübereinkommen aus den Jahren 1920 bis
1997, aus denen sich das Seearbeitsübereinkommen
zusammensetzt, ratifiziert. Der Änderungsbedarf im
Zuge der Umsetzung hält sich deshalb in Grenzen, wenn
auch noch ein paar Lücken aus der Vergangenheit beste-
hen, die jetzt im Umsetzungsverfahren geschlossen wer-
den müssen. Diese Lücken resultieren insbesondere aus
der Zeit, als Deutschland der Internationalen Arbeits-
organisation, abgekürzt ILO, nicht angehörte, also zwi-
schen dem Austritt im Jahre 1935 und dem Wiederein-
tritt im Jahre 1951.

Die Fachleute im Bundesarbeitsministerium befinden
sich bereits mitten in den Vorbereitungen eines Gesetz-
gebungsverfahrens, in dem ein neues Gesetz das bishe-
rige Seemannsgesetz ablösen soll. Die Bestimmungen
des Seearbeitsübereinkommens können damit umgesetzt
werden. Sie sehen also, meine sehr verehrten Damen
und Herren der Linksfraktion, dass die Bundesregierung
einen Schritt weiter ist als Sie.

Fairer Wettbewerb und angemessene Arbeitsbedin-
gungen haben und hatten schon immer einen hohen Stel-
lenwert für die Union. Dafür setzen wir uns ein, was Sie
an diesem Beispiel einmal mehr erkennen können. Mit
der alsbaldigen Ratifizierung des Seearbeitsüberein-
kommens werden dann die Weichen dafür gestellt, dass
diese Arbeitnehmerrechtecharta in Kraft treten und
weltweite Geltung erlangen kann. Auf 65 000 Handels-
schiffen werden in Zukunft 1,2 Millionen Seeleute unter
global festgeschriebenen und vereinheitlichten Mindest-
standards arbeiten. Wie diese meiner Auffassung nach
aussehen könnten, möchte ich Ihnen gerne näher an
einigen Beispielen erläutern.

Zu begrüßen wären beispielsweise übersichtlichere
Regelungen im Bereich des Arbeitszeit- und Ruherechts.
Zwar wurden hier erst im Jahre 2002 einige Bestimmun-
gen an das Seearbeitsübereinkommen angepasst. Den-
noch finden sich nach wie vor an den unterschiedlichsten
Stellen im Seemannsgesetz zahlreiche Sondervorschrif-
ten für bestimmte Schiffskategorien, die gebündelt wer-
den müssten. Damit schafft man eine bessere Übersicht
und klarere Abgrenzungen.

Ich würde mir auch wünschen, dass für diejenigen
Seeleute, die aus persönlichen, beruflichen oder gesund-
heitlichen Gründen aus dem Dienst ausscheiden, eine
Regelung gefunden wird, unter welchen zeitlichen,
finanziellen und organisatorischen Bedingungen diese
Personen in ihre Heimat zurückkehren können.

Ferner könnte man bei der Entgeltfortzahlung im
Krankheitsfall, also der sogenannten Heuerfortzahlung,
eine Lücke schließen und diese auch auf die nicht ver-
sicherten Seeleute erstrecken. Ein solcher Anspruch
ergibt sich aus der ILO-Konvention 55 über die Ver-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


pflichtung des Reeders bei Krankheit, Unfall oder Tod
von Schiffsleuten. Aufgrund der vorhin erwähnten Zeit-
spanne von 16 Jahren, in denen Deutschland nicht der
Internationalen Arbeitsorganisation angehörte, wurde
die während dieser Zeit verabschiedete Konvention
noch nicht von Deutschland ratifiziert. Dieses Versäum-
nis könnte nun nachgeholt werden.

Mit der von den Linken – aufgrund der Vorarbeiten
der Bundesregierung – überholten Forderung nach
einer Ratifizierung des Seearbeitsübereinkommens wer-
den zwei weitere wichtige Neuerungen erfolgen. Es wird
im Bereich der seeverkehrsrechtlichen Überwachung
eine grundlegende Neuerung geben. Die Staaten, die das
Seearbeitsübereinkommen ratifiziert haben, verpflichten
sich nämlich dazu, die Einhaltung des ILO-Abkommens
auf den Schiffen unter ihrer Flagge zu überprüfen und
deren Erfüllung zu bescheinigen. Dies wird als Flaggen-
staatkontrolle bezeichnet.

Hierzu ergänzend ist die Hafenstaatkontrolle zu nen-
nen. Diese stellt sicher, dass Schiffe aus Drittstaaten,
also aus Ländern, die das Seearbeitsübereinkommen
nicht ratifiziert haben, an den Anforderungen des See-
arbeitsübereinkommens gemessen werden. Jedes aus-
ländische Schiff, das den Hafen eines Staates anläuft,
der das ILO-Abkommen ratifiziert hat, wird auf die Ein-
haltung der ILO-Vorschriften überprüft. Es soll dadurch
ausgeschlossen werden, dass Schiffe aus Nichtvertrags-
staaten günstiger behandelt werden als Schiffe aus Ver-
tragsstaaten.

Unser Beitrag, der Beitrag unserer Bundesregierung,
wird folglich dazu beitragen, dass die Mindestarbeits-
und -lebensbedingungen des Seearbeitsübereinkommens
weltweite Anwendung finden und ein Unterschreiten
dieses Normenwerkes durch Schiffe in der internationa-
len Fahrt nicht mehr möglich sein wird.

Ihr Antrag, meine verehrten Kollegen der Linksfrak-
tion, in allen Ehren – er ist vom Ansatz her nicht
schlecht, aber er kommt eindeutig zu spät und kann
infolgedessen nur abgelehnt werden.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1717234400

Wir debattieren heute den Antrag der Fraktion Die

Linke: „Unverzügliche Ratifizierung des Seearbeits-
übereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisa-
tionen“. Sehr geehrte Damen und Herren der Linken,
mit diesem Antrag und Ihrer damit verbundenen Forde-
rung nach einem Gesetzentwurf zur Ratifizierung des
Seearbeitsübereinkommens der Internationalen Arbeits-
organisation, ILO, vom 23. Februar 2006, Ihrer Forde-
rung nach einem Gesetzentwurf für ein neues See-
arbeitsgesetz sowie Ihrer Forderung nach einem Einsatz
der Bundesregierung zur umgehenden Umsetzung der
Ratifizierung gegenüber Drittstaaten rauben Sie diesem
Hohen Haus einmal mehr mit einem weder zielführen-
den noch notwendigen Antrag seine kostbare Zeit. Denn,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke,
ich darf Sie an dieser Stelle beruhigen und Ihnen mittei-
len, dass die Bundesregierung bereits mit Hochdruck an
der Fertigstellung des Artikelgesetzes zur Umsetzung
des Seearbeitsübereinkommens 2006, Maritime Labour

Convention – MLC, arbeitet und das Gesetz noch diesen
Sommer vom Kabinett verabschiedet werden und auch
noch dieses Jahr in Kraft treten soll.

Das Seearbeitsübereinkommen, SAÜ, der Internatio-
nalen Arbeitsorganisationen, ILO, ist am 23. Februar
2006 angenommen worden. Es fasst nahezu alle das ma-
ritime Arbeitsrecht betreffenden Instrumente der ILO zu-
sammen und entwickelt diese fort. Das Übereinkommen
regelt die Mindestanforderungen für die Arbeit von See-
leuten auf Schiffen, Beschäftigungsbedingungen, Rege-
lungen für Unterkunft, Freizeiteinrichtungen, Verpfle-
gung und Bedienung, Gesundheitsschutz, medizinische
und soziale Betreuung, Gewährleistung der sozialen Si-
cherheit sowie die Erfüllung und Durchsetzung dieser
Anforderungen. Letztere sollen sicherstellen, dass die
Vorschriften des Übereinkommens auch eingehalten
werden. Über die Nichtbegünstigungsklausel kann der
Hafenstaat selbst dann gegen Schiffe vorgehen, die die
Mindestanforderungen des Übereinkommens unterlau-
fen, wenn der Flaggenstaat diesem nicht beigetreten ist.

Das Abkommen tritt in Kraft, wenn es von 30 Ländern
ratifiziert wurde, die mindestens ein Drittel der Weltton-
nage in der Handelsschifffahrt repräsentieren. Laut ILO
wurde es bisher von 25 Ländern ratifiziert, zuletzt am
11. August 2011 vom Inselstaat Antigua und Barbuda,
unter dessen Billigflagge viele deutsche Schiffe unter-
wegs sind.

Deutschland gehört zu den größten und erfolgreichs-
ten Schifffahrtsstandorten der Welt, und wir von der
christlich-liberalen Koalition setzen alles daran, dass
das so bleibt. Um dies zu erreichen, wollen wir den Be-
ruf des Seemannes attraktiv gestalten. Die Bundesregie-
rung plant daher trotz knapper Haushaltsmittel bei der
Neuausrichtung der maritimen Förderpolitik die Ausbil-
dungsplatzförderung als bewährtes Instrument beizube-
halten. Um den künftigen Ausbildungsbedarf abdecken
zu können, ist zudem eine weitere Steigerung der Aktivi-
täten im Ausbildungssektor bzw. im Übergang von der
Ausbildung ins Berufsleben notwendig.

Ein wesentlicher Meilenstein ist das hier zu debattie-
rende Seearbeitsübereinkommen, mit dessen Hilfe welt-
weit einheitlich geltende Mindeststandards die Arbeits-
und Lebensbedingungen der über 1,2 Millionen Seeleute
verbessert werden sollen, um hierdurch die Sicherheit
auf Schiffen zu verstärken. Die Umsetzung des Seear-
beitsübereinkommens wird in Deutschland dazu führen,
dass – auch aufgrund der grundlegenden Veränderung
des Seemannsberufes – eine Vielzahl von Gesetzen und
Verordnungen angepasst und aktualisiert werden müs-
sen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken,
die unionsgeführte Bundesregierung arbeitet bereits an
der Fertigstellung des Gesetzes zur Umsetzung des See-
arbeitsübereinkommens und nimmt diesen Prozess zum
Anlass, das existierende Seemannsrecht insgesamt
gründlich zu überarbeiten und zu modernisieren – ganz
bewusst auch unter dem Gesichtspunkt der Entbürokra-
tisierung. Neuer zentraler Bezugspunkt des nationalen
Seemannsrechts wird ein neues Seearbeitsgesetz sein,
welches das alte aus den frühen 50er-Jahren stammende

Zu Protokoll gegebene Reden





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


Seemannsgesetz ersetzt. Dieses wird strukturell an der
MLC ausgerichtet sein. Zugleich werden die bestehen-
den Verordnungen im Bereich des Seearbeitsrechts über-
arbeitet. Das deutsche Recht wird an die verbindlichen
Anforderungen der MLC zur Herstellung verbindlicher
arbeits- und sozialrechtlicher Mindeststandards für See-
leute in der Schifffahrt angepasst.

Des Weiteren sollen diese Mindeststandards durch
Hafenstaatkontrollen auch auf Schiffe von Drittstaaten
angewandt werden, die die MLC nicht ratifizieren. Hier-
durch soll Sozialdumping unterbunden und ein fairer
Wettbewerb gewährleistet sein.

Vor diesem Hintergrund, meine sehr geehrten Damen
und Herren der Fraktion Die Linke, hätte es Ihrer Anre-
gungen nicht bedurft.


Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1717234500

Ich verfolge seit langem die Arbeit der Internationa-

len Arbeitsorganisation. Erst im vergangenen Jahr wa-
ren wir vom Ausschuss für Arbeit und Soziales auf einer
Ausschussreise bei der Internationalen Jahreskonferenz
in Genf. Auch die Bundeskanzlerin hat dort eine Rede
gehalten und sich feiern lassen – als erste deutsche
Regierungschefin überhaupt. Es ist schön, dass die Bun-
desregierung die ILO offensichtlich so wichtig findet,
dass sich die Kanzlerin dort in Szene setzt. Umso be-
schämender ist es, wenn man sieht, dass die Ratifizie-
rung der Übereinkommen der ILO bei der Bundesregie-
rung keinen besonders hohen Stellenwert hat.

Das Seearbeitsübereinkommen ist ein Paradebeispiel
dafür: 2006 wurde es von der ILO beschlossen. Die zu-
ständigen, damals SPD-geführten Bundesministerien,
nämlich das Ministerium für Arbeit und Soziales und
das Verkehrsministerium, hatten 2006 angekündigt, dass
die Ratifizierung zügig eingeleitet wird. Gewerkschafter,
Reeder und Politik haben damals an einem Strang gezo-
gen: Das Übereinkommen solle zügig ratifiziert werden,
da dadurch Lohn- und Sozialdumping von Seeleuten und
die zunehmende Ausflaggung von Schiffen bekämpft
werden können. Seit dem Regierungswechsel zu
Schwarz-Gelb passiert jedoch nicht mehr viel. Schon
mehrfach hat die Bundesregierung uns versprochen,
dass endlich das Verfahren zur Ratifikation eingeleitet
sowie der Entwurf für ein neues Seearbeitsgesetz ins
Parlament eingebracht wird. Wir haben das sogar
schriftlich in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage vom
Januar 2011. Da sagt die Bundesregierung, dass im
Frühjahr 2011 ein Gesetzentwurf vorliegen solle. Das ist
nachweislich nicht geschehen! Liebe Kolleginnen und
Kollegen von Union und FDP, sorgen Sie endlich dafür,
dass Ihre Regierung das einhält, was sie öffentlich ver-
spricht, und hier nicht andauernd verzögert!

Ich weiß nicht, wer genau in der Regierung das See-
arbeitsübereinkommen blockiert. Die FDP hat sich in
der Vergangenheit ja gerne an maritimen Metaphern be-
dient. Jeder von uns erinnert sich an die Worte von
Guido Westerwelle: „Auf jedem Schiff, das dampft und
segelt, gibt's einen, der die Sache regelt. Und das bin
ich.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, of-
fensichtlich ist Ihnen ja bekannt, dass man auf Schiffen

klare Regeln braucht. Dazu gehören auch klare Regeln
zu Arbeits- und Sozialbedingungen von Seeleuten. Lei-
der setzt sich die FDP aber trotz der Freude an Meta-
phern mit Schiffen nicht dafür ein, dass klare Regeln für
Matrosen und Kapitäne geschaffen werden. Das gilt im
Übrigen nicht nur für das Seearbeitsübereinkommen,
sondern auch für das Maritime Bündnis, dem die Bun-
desregierung massiv die Gelder gekürzt hat und wo
keine fortschrittliche maritime Politik mehr gemacht
wird. Kurz und gut: Die ganze Politik für die See liegt
brach. Ich appelliere daher an meine Kolleginnen und
Kollegen von der FDP: Sorgen Sie dafür, dass klare Re-
geln für alle deutschen Schiffe kommen und nicht mehr
nur für Ihr eigenes sinkendes FDP-Schiff!

Das Seearbeitsübereinkommen ist die Grundlage für
einen fairen Wettbewerb im Bereich der Schifffahrt und
ein Meilenstein für die Arbeits- und Sozialrechte von
1,2 Millionen Seeleuten weltweit. Denn wir beobachten
im maritimen Sektor die gleichen Entwicklungen wie in
der gesamten Wirtschaft: Der Wettbewerb wird zuneh-
mend auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen.
Einige Arbeitgeber versuchen, die Löhne und die
Arbeitsbedingungen so zu drücken, dass sie dadurch
günstiger als ihre Konkurrenz sind. Andere anständige
Reeder, die gerne faire Lohn- und Arbeitsbedingungen
bieten wollen, sind durch die Konkurrenz in eine Ab-
wärtsspirale gezwungen. Ich kämpfe an Land und auf
See dafür, dass diesem unlauteren Wettbewerb auf dem
Rücken der Beschäftigten endlich ein Riegel vorgescho-
ben wird. Wir brauchen stattdessen einen Wettbewerb,
der auf Innovation und besseren Produkten beruht, nicht
aber auf Lohndumping!

Nicht weniger als das Schaffen von menschenwürdi-
ger Arbeit auf See ist das Ziel des Seearbeitsüberein-
kommens. So werden Regelungen zu Nachtarbeit,
Mindestalter, Beschäftigungsverträgen, Schiffssicher-
heit, Höchstarbeitszeit, Kündigungsregeln, Ruhezeiten,
Gesundheitsschutz, Unfallverhütung, Heimschaffung,
Unterkunft und vieles mehr getroffen. Das Übereinkom-
men ist ein Musterbeispiel dafür, wie wir auf internatio-
naler Ebene dafür sorgen können, dass weltweit faire
Arbeitsbedingungen vorherrschen. Denn nicht nur die
Anforderungen sind fortschrittlich, sondern es ist auch
geregelt, wie diese neuen Vorschriften eingehalten und
überprüft werden. Diese Kontrollmechanismen sollten
beispielgebend für weitere ILO-Übereinkommen sein.
Denn es gilt sowohl das Flaggstaatsprinzip als auch das
Hafenstaatsprinzip. Das bedeutet, dass die Einhaltung
der Arbeitsbedingungen nicht nur von dem Staat, in dem
das Schiff geflaggt ist, kontrolliert wird, sondern auch in
den Häfen, die das Schiff anläuft. Jedes Land muss
damit ein wirksames System für die Überprüfung der
Arbeitsbedingungen einrichten.

Hervorheben möchte ich auch, dass die Ratifizie-
rungsregelungen bei diesem Übereinkommen sehr fort-
schrittlich geregelt sind. Das Übereinkommen tritt in
Kraft, wenn 30 Staaten die Ratifizierung vorgenommen
haben und diese Staaten über mindestens 33 Prozent der
Welthandelstonnage verfügen. Die Anforderung der
Tonnage ist mit den Staaten, die das Abkommen bisher
ratifiziert haben, schon gegeben. Noch in diesem Jahr

Zu Protokoll gegebene Reden





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


werden weitere Staaten das Abkommen ratifizieren, so-
dass auch das Kriterium der 30 Staaten erfüllt sein wird.
Wenn das geschehen ist, gilt das Seearbeitsübereinkom-
men sowieso auch für Deutschland. Wir haben also zwei
Möglichkeiten: Entweder ratifizieren wir schnell das
Übereinkommen, setzen es in nationales Recht um und
springen noch auf den fahrenden Zug – oder besser
gesagt das auslaufende Schiff – auf. Oder wir machen
uns dadurch ein bisschen zum Gespött der internationa-
len Seewelt, dass wir es offensichtlich nicht schaffen,
das Übereinkommen zu ratifizieren. Die Anforderungen
gelten so oder so auch für unser Land, von daher ist hier
dringendes Handeln geboten! Auch die Reeder haben im
Übrigen Bedenken, wenn wir nicht ratifizieren: Sie
fürchten, dass sie dann an einigen Häfen besonders ge-
nau kontrolliert werden, weil das Übereinkommen in
Deutschland noch nicht umgesetzt wurde. Das verzögert
die Fahrt von Schiffen unter deutscher Flagge und stört
den Handel unserer Reeder.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
daher appelliere ich an Sie: Treten Sie Ihrer Regierung
auf die Füße, damit hier endlich etwas geschieht! Es
kann nicht sein, dass die ILO nur zur Inszenierung der
Kanzlerin genutzt wird und bei der Umsetzung der
Übereinkommen hier in Deutschland verzögert wird, wie
es nur geht!


Torsten Staffeldt (FDP):
Rede ID: ID1717234600

Deutschland besitzt eines der detailliertesten und

ausführlichsten Arbeitsrechte der Welt. Dies gilt an
Land wie auf See. Darum hat sich Deutschland auch in-
tensiv in die Verhandlungen bei der Internationalen
Arbeitsorganisation eingebracht. Unsere guten Stan-
dards sollen auch für andere gelten – und vor allem soll
Sozialdumping auf See verhindert werden.

Das ILO-Übereinkommen zum Internationalen See-
arbeitsrecht ist darum ein Meilenstein für die Durch-
setzung besserer Arbeitsbedingungen von Seeleuten
weltweit. Eben weil wir in Deutschland ein weit ausdif-
ferenziertes Arbeitsrecht haben, dauern die Anpassun-
gen des deutschen Rechts an das Übereinkommen und
die Ratifizierung dessen noch an.

Es ist zwar bedauerlich, dass die nationale Umset-
zung sich jetzt schon Jahre hinzieht, aber das Problem
ist nicht durch solche überflüssigen Anträge wie jetzt der
von den Linken vorliegende zu lösen. Erforderlich ist
eine konsequente Facharbeit in den betroffenen Ministe-
rien. Deshalb wurde die Arbeit an der Umsetzung in die-
ser Legislaturperiode intensiviert. Ein Referentenent-
wurf ist fast fertig, und demnächst wird es die üblichen
Anhörungen der betroffenen Sozialpartner und Ver-
bände geben. Ein Kabinettsentwurf soll noch vor der
Sommerpause erfolgen, was bedeutet, dass eine Ratifi-
zierung bzw. Umsetzung in nationales Recht noch vor
dem 1. Januar 2013 realisiert werden kann. Und darauf
kommt es an.

Wir werden die Ratifizierung und den Gesetzentwurf
nutzen, um notwendige Modernisierungen und Anpas-
sungen vorzunehmen, ob das nun Regelungen aus der
Zeit der Frachtsegler angeht oder die Seediensttaug-

lichkeitsuntersuchungen. Dies ist gleichzeitig die
Chance für Deutschlands Seeleute und Reeder, in diesem
besonderen Bereich der Schifffahrt für Bürokratieabbau
zu sorgen.

In dem Zusammenhang muss darauf hingewiesen
werden, dass die Fraktion Die Linke offensichtlich nicht
über die nötige Sachkompetenz verfügt, die Ratifizie-
rung Deutschlands im Gesamtzusammenhang richtig
einzuschätzen.

Es ist richtig, dass 30 Staaten mit mindestens 33 Pro-
zent der weltweiten Tonnage über 200 BRZ zustimmen
müssen. Das Tonnagekriterium ist im Übrigen bereits
übererfüllt. Es ist aber ein Zeichen von Unwissenheit,
wenn die Fraktion Die Linke in der Begründung behaup-
tet, dass Deutschland „mit circa 3 768 Schiffen über die
größte Handelsflotte der Welt“ verfüge, „wovon jedoch
lediglich 542 Schiffe im Deutschen Schiffsregister einge-
tragen sind.“ Weder hat Deutschland die „größte Han-
delsflotte der Welt“, noch sind die 3 768 deutsch beree-
derten Schiffe unter deutscher Flagge. Weniger als die
genannten 542 Schiffe sind es derzeit. Die anderen sind
bei unterschiedlichen Flaggenstaaten beheimatet.

Es wird daher niemanden verwundern, wenn wir ei-
nem solch mangelhaft begründeten Antrag nicht zustim-
men wollen.


Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717234700

Seeleute sind unverzichtbar. Sie reisen mit allen mög-

lichen Gütern um die Welt, von Bananen über Öl, Gas
und Baumaterialien bis hin zu Textilien, Getreide und
tiefgekühltem Fleisch. Als Arbeitnehmer sind sie prak-
tisch unsichtbar. Was auf See passiert, entzieht sich fast
immer den Blicken der Ordnungsbehörden, sodass sich
die Reeder gefahrlos, ohne Angst vor Entdeckung, über
die Rechte der Seeleute hinwegsetzen können. Sie arbei-
ten häufig sieben Tage in der Woche, sind monatelang
auf See und haben kaum Kontakt zu ihren Familien. Sie
leben an Bord auf engstem Raum, meistens ohne ihre ge-
wohnte kulturelle Umgebung und Sprache.

Damit menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und
Menschenrechte durchgesetzt werden können und gleich-
zeitig die Reeder vor Dumpingkonkurrenz geschützt wer-
den, haben Gewerkschaften und Reederverbände ver-
handelt. Sie haben den Inhalt von 45 unterschiedlichen
Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisa-
tion, ILO – das ist eine Sonderorganisation der Verein-
ten Nationen –, und Empfehlungen für die Schifffahrt in
einem einzigen Übereinkommen zusammengefasst. Die-
ses Werk wurde vor sechs Jahren von der ILO ohne Ge-
genstimmen beschlossen. Wir fordern die umgehende
Ratifizierung des Abkommens. Wir fordern von der Bun-
desregierung, dass sie dem Deutschen Bundestag spä-
testens bis zum 30. Juni 2012 einen Gesetzentwurf für
ein neues Seearbeitsgesetz vorlegt.

Auf hoher See gelten auf den Schiffen die Arbeitsbe-
dingungen des Staates, unter dessen Flagge sie fahren.
Deutschland verfügt mit rund 3 800 Schiffen über die
größte Handelsflotte der Welt, Stand November 2011,
doch davon fährt kaum eines unter deutscher Flagge.





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)


Lediglich 542 Schiffe sind im Deutschen Schiffsregister
eingetragen. Nur auf diesen Schiffen hat die Besatzung
Anspruch auf das nationale Arbeitsrecht und auf Ar-
beitsbedingungen nach Tarifverträgen. Ein großer Teil
der Flotte der deutschen Reeder ist in Ländern wie Pa-
nama, Liberia, den Marschallinseln oder den Bahamas
registriert. Für sie gelten die Regelungen ihrer Heimat-
länder. Der Ecklohn für einen Seemann unter Billig-
flagge liegt mit einem Tarifvertrag der Internationalen
Transportarbeiterföderation, ITF, bei 1 577 Dollar im
Monat. Ohne Tarifvertrag sind es gelegentlich kaum
mehr als 500 Dollar.

Internationale Organisationen wie die IMO, die In-
ternationale Seeschifffahrts-Organisation, oder die ITF
versuchen, dagegen anzugehen, können jedoch erst
dann tätig werden, wenn Missstände oder menschen-
unwürdige Arbeitsbedingungen offenkundig werden.
Alljährlich treiben ITF und die ihr angeschlossenen
Gewerkschaften im Namen von Seeleuten Heuernach-
zahlungen und Abfindungen für Unfälle mit Todesfolge
oder Personenschäden in Millionenhöhe ein. Diese Ar-
beitsbedingungen müssen verschwinden. Und sie kön-
nen verschwinden, wenn das Seearbeitsrechtsüberein-
kommen in Kraft treten kann – und zwar weltweit.

In Deutschland wurde immer wieder angekündigt,
dass sowohl die Ratifizierung als auch die Umsetzung
schon seit langem geplant seien. Erst hieß es Ende 2009,
dann sollte es im Jahr 2010 ratifiziert werden. Diese
sechsjährige Hängepartei ist völlig untragbar. Wir for-
dern Sie auf, sich auch gegenüber Staaten, die das See-
arbeitsübereinkommen noch nicht ratifiziert haben, für
eine umgehende Ratifizierung und Umsetzung einzuset-
zen. Wenn Sie dies nicht tun, verhindert das Land mit der
größten Handelsflotte der Welt weiterhin, dass Mindest-
standards für die Arbeits- und Lebensbedingungen für
über 1,2 Millionen Seeleute nicht wirksam werden kön-
nen und einheitliche Wettbewerbsbedingungen in der
Schifffahrt geschaffen werden.

Die Linke will, dass auf Schiffen menschliche Arbeits-
bedingungen herrschen und Löhne bezahlt werden, von
denen Besatzungen leben können. Sechs Jahre lang
schon müssen Seeleute darauf warten. Das muss jetzt ein
Ende haben. Handeln Sie jetzt!


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Schifffahrtsindustrie gehört zu den wenigen wirk-
lich globalen Industriezweigen der Welt. 1,2 Millionen
Seeleute aus der ganzen Welt transportieren Tag für Tag
Waren über Ozeane und über Landesgrenzen hinweg.
Die Schiffe liegen in der Regel nur wenige Stunden oder
Tage in Häfen, bis die Ladungen gelöscht und die Schiffe
wieder beladen werden. Nur in dieser Zeit können die
Seeleute an Land gehen, ihre Freizeit nutzen und genie-
ßen. Die meiste Zeit jedoch sind die Schiffe auf hoher
See. In dieser Zeit sind die Seeleute auf die Unterkünfte,
Freizeiteinrichtungen und die medizinische Betreuung
auf den Schiffen angewiesen. Sie müssen die Arbeitsbe-
dingungen und die soziale Infrastruktur an Bord hinneh-
men, wie sie sind. Die Arbeits- und Lebensbedingungen

sind aber von Schiff zu Schiff verschieden und sehr un-
terschiedlich ausgestaltet. Deswegen war es dringend
notwendig, dass weltweit gültige Arbeitsnormen und
Mindestanforderungen an Beschäftigungsbedingungen
und die Infrastruktur an Bord geschaffen wurden.

Am 23. Februar 2006 war es endlich so weit. Das
Seearbeitsübereinkommen der Internationalen Arbeits-
organisation, ILO, wurde in Genf ohne Gegenstimmen
angenommen. Es ist ein Meilenstein. Endlich erhalten
die Seeleute weltweit verbindliche soziale Rechte. Es
fasst mehr als 60 geltende Rechtsinstrumente zusam-
men, die seit 1920 von der ILO verabschiedet wurden.
Mit dem Übereinkommen sollen weltweite Mindeststan-
dards geschaffen werden, die die Arbeits- und Lebensbe-
dingungen für Seeleute erhöhen, die Sicherheit steigern
und dem Lohn- und Sozialdumping einen Riegel vor-
schieben. Allerdings nützen die besten Normen nichts,
wenn sie nicht in Kraft sind. Es ist nicht verständlich,
dass es weder die CDU/CSU, die seit 2006 durchgängig
an der Bundesregierung beteiligt ist, noch die FDP ge-
schafft haben, das Seearbeitsübereinkommen zu ratifi-
zieren. Die Untätigkeit ist auch deshalb unverständlich,
weil die ILO-Übereinkommen von Regierungen, Ge-
werkschaften und Arbeitgebern gleichermaßen und so-
mit in breitem Konsens verhandelt werden. Bisher haben
lediglich 23 Staaten das Übereinkommen ratifiziert. Da-
mit das Übereinkommen in Kraft treten kann, muss es
aber von mindestens 30 Staaten ratifiziert werden, die
zusammen über eine Bruttoraumzahl, BRZ, von mindes-
tens 33 Prozent der Welthandelstonnage verfügen. Des-
wegen fordern wir – wie die Fraktion Die Linke – die
Bundesregierung auf, endlich tätig zu werden. Sie muss
ihrer Verantwortung für die Seeleute gerecht werden und
vor allem auch ein Vorbild in der Welt sein.

Statt die Ratifizierung von Jahr zu Jahr zu verschlep-
pen, sollte sich die Bundesregierung vielmehr in der Eu-
ropäischen Union und bei den wichtigsten Handelspart-
nern für die Ratifizierung des Übereinkommens
einsetzen. Die Staaten, insbesondere Deutschland, müs-
sen den 1,2 Millionen Seeleuten endlich die verdiente
Wertschätzung entgegenbringen. Ohne sie würde der
Welthandel zum Erliegen kommen, die mittlerweile stark
ausdifferenzierte internationale Arbeitsteilung zusam-
menbrechen und globale Wertschöpfungsketten ausei-
nandergerissen.

Wir fordern alle an der maritimen Wirtschaft beteilig-
ten Akteure auf, sich an einem maritimen Bündnis aktiv
zu beteiligen. Sie müssen dafür sorgen, dass das Seear-
beitsübereinkommen in Deutschland erfolgreich umge-
setzt und auf alle über 3 000 in deutschem Besitz befind-
lichen Schiffe, von denen derzeit nur circa 500 unter
deutscher Flagge fahren, angewendet wird. Darüber hi-
naus müssen die Ausflaggung erschwert, Einflaggung
erleichtert und Anreize geschaffen werden, Schiffe um-
weltfreundlicher und ökologischer zu betreiben.

Wir befürworten ebenfalls die Schaffung eines Seear-
beitsgesetzes, das das bestehende Seemannsgesetz ab-
löst und das Seearbeitsübereinkommen in nationales
Recht umsetzt. Im Zuge der Einführung des Gesetzes
müssen die betreffenden Verordnungen an den neuen

Zu Protokoll gegebene Reden





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)


Gesetzestext angepasst werden. Und selbstverständlich
muss dieser Prozess in enger Abstimmung mit den Tarif-
partnern gestaltet werden. Das ILO-Übereinkommen
darf nicht weiter ignoriert werden.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717234800

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9066 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Ulla
Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Schlecker-Verkäuferinnen unterstützen – Ar-
beitsplätze und Tarifverträge erhalten – Ein-
fluss der Beschäftigten stärken

– Drucksachen 17/8880, 17/9131 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Johannes Vogel (Lüdenscheid)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1717234900

Der vorliegende Antrag der Linken zeigt in sehr deut-

licher Art und Weise die politische Sicht und das wirt-
schaftliche Verständnis der Linken. Zusammenfassend
fordern die Linken die Enteignung von Firmen, zumin-
dest ab einer bestimmten Größenordnung und Überfüh-
rung in die Hand der Betriebsmitarbeiter. Man hat den
Eindruck, die Linken haben aus der Vergangenheit der
DDR nicht das Geringste gelernt.

Der Fall Schlecker hat uns in unserem Ausschuss
schon häufiger beschäftigt, weniger die wirtschaftlichen
Entscheidungen der Firmenleitung als die Personalfüh-
rung, und wir waren uns alle darin einig, dass die Me-
thoden – Drehtüreffekt –, die angewandt wurden, nicht
zulässig sind. Dass das Schlecker-Management Fehler
gemacht hat, ist allen offensichtlich. Deshalb aber
unsere bewährte soziale Marktwirtschaft durch Staats-
wirtschaft zu ersetzen, kann auch nur den SED-Nachfol-
gern einfallen.

Es ist schlimm, wenn bei einer Firmeninsolvenz über
11 000 Arbeitsplätze verloren gehen. Wichtig ist, dass
die bisherigen Schlecker-Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter so schnell wie möglich eine neue Arbeit finden.
Aber das gelingt nicht dadurch, dass wir unser erfolgrei-
ches Wirtschaftssystem aufgeben. Unverfroren halte ich
den Hinweis der Linken, der Nachfolgepartei der SED,
dass sich die Suche nach dem Vermögen von Anton
Schlecker lohnen würde. Lohnender erscheint mir die
Suche nach dem SED-Vermögen, dass Ihre Vorgänger-
partei hat verschwinden lassen und bei deren Aufklä-
rung Sie, vorsichtig formuliert, nicht gerade geglänzt
haben, sondern untergetaucht sind.

Das Insolvenzverfahren bei uns in Deutschland hat
sich bewährt. Ein erfahrener Konkursverwalter ist
dabei, zumindest große Teile des Einzelhandelsimpe-
riums zu sanieren und wieder flottzumachen. Die Chan-
cen sind derzeit nicht schlecht. Ob es gelingen wird, eine
Auffanggesellschaft zu gründen und damit die Arbeits-
losigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu ver-
hindern, ist offen. Es wäre jedoch zu begrüßen, wenn
alle Bundesländer an einem Strang ziehen und es zu
einer gemeinsamen Lösung zugunsten der Schlecker-
Mitarbeiter käme. Die von den Linken vorgeschlagene
Beteiligung ist kontraproduktiv.

Dass Sie unser Wirtschaftssystem bis heute nicht ver-
standen haben und Sie in Ihrem kommunistischen Den-
ken weiterhin verhaftet sind, wird deutlich durch Ihre
Aussagen, dass der Einzelhandel „auf Kosten der
Beschäftigten ein enormes Vermögen angehäuft“ hat. Im
Rahmen unserer sozialen Marktwirtschaft ist es vielen
deutschen Familienunternehmen gelungen, im Nach-
kriegsdeutschland ein Firmenimperium aufzubauen.
Diese Pionierleistung konnte nur gelingen, weil auf der
einen Seite weitsichtige Persönlichkeiten etwas gewagt
haben und auf der anderen Seite die Beschäftigten mit
ihrem Fleiß den Erfolg ermöglicht haben. Heute würde
man von einer Win-win-Situation sprechen. Unterneh-
mer, Angestellte und unsere Gesellschaft haben davon
profitiert. Und viele dieser Pioniere der Nachkriegszeit
haben sich sozialen Projekten gewidmet. Hierzu gehört
Schlecker leider nicht.

Ebenfalls in der Nachkriegszeit hat die SED die
Bevölkerung der DDR unterdrückt und die Wirtschaft in
den Sand gesetzt. Aber scheinbar wollen Sie wieder
dahin zurück, wie sonst ist Ihre Forderung zu verstehen,
dass für „Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten
– unabhängig von der Rechtsform – zwingend eine echte
paritätische Mitbestimmung vorgeschrieben werden“
soll. Das ist eine kalte Enteignung. Es ist schade, dass
Sie aus Ihrer diktatorischen Vergangenheit nichts
gelernt haben. Dies zeigt sich auch in Ihrer Aussage,
dass aus Ihrer Sicht „Konkurrenz innerhalb der Branche
… ganz offensichtlich zu ihrer Destabilisierung“ bei-
trägt. Ich sage Ihnen: Das Gegenteil ist der Fall! Kon-
kurrenz belebt das Geschäft und inspiriert zu Höchst-
leistungen.

Das bisherige System aus Mitbestimmungsgesetz, Drit-
telbeteiligungsgesetz, Montan-Mitbestimmungsgesetz und
Mitbestimmungsergänzungsgesetz hat sich bewährt.
Auch die Kommission zur Modernisierung der deut-
schen Unternehmensmitbestimmung – Biedenkopfkom-
mission 2006 – hat trotz intensiver Beratungen keine
Änderung der Schwelle für das Eingreifen der paritäti-
schen Mitbestimmung vorgeschlagen. Die wissenschaft-
lichen Mitglieder der Kommission haben dafür votiert,
im Grundsatz am bestehenden System festzuhalten.

Meine lieben Kollegeninnen und Kollegen von den
Linken, tun Sie sich und uns allen einen kleinen Gefallen
und schmeißen Sie Ihren antiquierten Antrag in die
Tonne, und arbeiten Sie mit uns konstruktiv am Ausbau
der sozialen Marktwirtschaft und der Schaffung von vie-
len Arbeitsplätzen.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1717235000

„Ihr Antrag geht an dem Anliegen der Beschäftigten

vorbei“. Meine Damen und Herren von den Linken, so
lautete einstimmig das Urteil aller anderen Fraktionen
im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen
Bundestages am 21. März. Auch in der Diskussion dort
wurde deutlich, dass es Ihnen nicht wirklich ernsthaft
um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schlecker-
Gruppe geht. Sie waren auf der Suche nach einem
Aufhänger, unter anderem für den Weltfrauentag. Sie
verraten sich schon im ersten Satz Ihres Antrags, meine
Damen und Herren von den Linken. Dort heißt es – ich
zitiere –: „Der Deutsche Bundestag unterstützt gerade
und besonders am Internationalen Frauentag den
Kampf der mehrheitlich weiblichen Schlecker-Beschäf-
tigten um ihre Arbeitsplätze.“ Meine Damen und Herren
von den Linken, was wäre eigentlich gewesen, wenn die
Mitarbeiterschaft bei Schlecker in der Hauptsache
männlich gewesen wäre? Oder der Internationale Frau-
entag schon gewesen wäre? Für die Union sage ich sehr
deutlich, dass uns die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer in diesem Land – egal ob sie weiblich oder
männlich sind, egal bei welchem Unternehmen sie
arbeiten – für uns nicht nur an Gedenktagen von Bedeu-
tung sind. Diese können sich auf uns verlassen, nicht
erst seit der Eröffnung der Insolvenz.

Ein solcher Antrag wurde am 23. und 26. Januar
2012 beim Amtsgericht Ulm für die Anton Schlecker
e. K., die Schlecker XL GmbH, die Schlecker Home
Shopping GmbH und die „Ihr Platz“ GmbH + Co KG
gestellt. Davon betroffen sind circa 33 000 Mitarbeiter
in der Unternehmenszentrale in Ehingen und 7 000 Fi-
lialen deutschlandweit. Vor Anton Schlecker gab es nur
in größeren Städten kleine Sortimente zu hohen Preisen.
Mit Kleinstfilialen im ländlichen Raum entstanden zwar
Tausende neuer Arbeitsplätze. Dieses Flächenwachstum
ohne Rücksicht auf Deckungsbeiträge und Erträge war
dann aber auch das Verhängnis. In den letzten drei Jah-
ren wurden wegen sinkender Umsätze bereits mehr als
1 000 Filialen geschlossen. Jetzt steht die Entlassung
von vielen Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
an. Diese ist für die Betroffenen dramatisch.

Auf die unternehmerischen Entscheidungen von
Schlecker hatte die Bundesregierung keinen Einfluss.
Aber uns beschäftigte und beschäftigt die Frage, wie
den vom Personalabbau bei Schlecker betroffenen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer schnell geholfen
werden kann. Hierzu steht das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales in engem Kontakt mit der Bundes-
agentur für Arbeit, BA. Die BA hat bereits die notwendi-
gen Vorkehrungen getroffen. So wurden umfassende
Informationsmaterialien für Veranstaltungen mit Be-
triebsräten und Mitarbeitern der Schlecker- und „Ihr
Platz“-Filialen zur Verfügung gestellt. Die BA steht in
intensivem Kontakt mit der Insolvenzverwaltung, Be-
triebsräten und Gewerkschaften. Die Agentur für Arbeit
Ulm ist vorbereitet, eine Koordinierungs- und Vermitt-
lungsagentur in der Schlecker-Zentrale einzurichten.
Ziel ist die schnelle Hilfe vor Ort durch Bearbeitung des
Insolvenzgeldes und – für den Fall von Kündigungen –
die individuelle Beratung und Vermittlung der Betroffe-

nen. Handel und Dienstleistungen sind nach Aussage
der BA aufnahmefähige Branchen am Arbeitsmarkt. In-
sofern sind strukturelle Auswirkungen in keiner Region
Deutschlands zu erwarten. Die BA kann bei der Vermitt-
lung auf gute Geschäftsbeziehungen zum Handel zu-
rückgreifen.

Es ging weiter um die Frage, ob eine Transfergesell-
schaft finanziert werden kann, in der die Betroffenen bei
der Suche nach einer neuen Beschäftigung unterstützt
und qualifiziert werden. Nicht geklärt war die Finanzie-
rung. Die Insolvenzverwaltung hatte den Finanzbedarf
für eine sechsmonatige Transfergesellschaft auf circa
70 Millionen Euro geschätzt. Ich hatte Ihnen gesagt,
dass wir uns dafür einsetzen werden, dass der Bund die
finanziellen Mittel für eine Transfergesellschaft zur Ver-
fügung stellen wird. Dazu war und ist der Bund bereit,
und zwar über die KfW. Die einzige Bedingung war: Es
müssen Bürgschaften der Länder vorliegen. Dies ent-
spricht einer Praxis im Umgang mit Finanzierungsan-
fragen von Filialunternehmen, die in der Vergangenheit
regelmäßig so zwischen Bund und Ländern geübt wurde.
Es gibt klare Absprachen zwischen Bund und Ländern:
An erster Stelle ist das jeweilige Sitzland des Unterneh-
mens gefordert, Hilfestellung zu leisten. Da Schlecker
seinen Sitz in Baden-Württemberg hat, liegt die Verant-
wortung beim Land Baden-Württemberg, das ja auch in
der Vergangenheit von Steuereinnahmen profitiert hat.
Es lag bzw. liegt bei den Ländern, vorneweg beim Land
Baden-Württemberg, dass eine Auffanglösung zustande
kommt. Leider erreichte uns heute die Nachricht, dass
diese Lösung gescheitert ist. Ich bedaure auch im
Namen meiner Fraktion sehr, dass das Land Baden-
Württemberg nicht gestanden hat, als es zum Schwur
kam.

Über alle diese oder andere Maßnahmen steht in Ih-
rem Antrag, meine Damen und Herren von den Linken,
nichts. Die Bereitstellung von Krediten wird in einem Ne-
bensatz erwähnt. Ihr Antrag hilft also wirklich nieman-
dem. Aber darauf kommt es Ihnen auch offensichtlich
nicht an. Sie suchten einen weiteren Aufhänger, und zwar
für den sozialistischen Umbau unserer Gesellschaft. So
wollen Sie einen Gewaltritt durch das Mitbestimmungs-
recht. Sie fordern in Ihrem Antrag die Einführung der
paritätischen Mitbestimmung für Unternehmen ab
100 Beschäftigten. Sie zeigen damit einen bedenklichen
Realitätsverlust. Das bisherige System aus Mitbestim-
mungsgesetz, Drittelbeteiligungsgesetz, Montan-Mitbe-
stimmungsgesetz und Mitbestimmungsergänzungsgesetz
hat sich bewährt. Auch die Kommission zur Modernisie-
rung der deutschen Unternehmensmitbestimmung, die
sogenannte Biedenkopfkommission, hat trotz intensiver
Beratungen keine Änderung der Schwelle für das Ein-
greifen der paritätischen Mitbestimmung vorgeschlagen.
Die wissenschaftlichen Mitglieder der Kommission ha-
ben dafür votiert, im Grundsatz am bestehenden System
festzuhalten. Es wäre gut gewesen, wenn Sie sich vor
Antragstellung die Mühe gemacht hätten, sich besser zu
informieren. Aber Sie haben sich offensichtlich damit
begnügt, einfach aus einem Ihrer Vorgängeranträge zu
kopieren.

Zu Protokoll gegebene Reden





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)


Auch Ihre Forderung, meine Damen und Herren von
der Linken, einen Katalog zustimmungsbedürftiger Ge-
schäfte gesetzlich festzuschreiben, ist nicht neu. Seit
Einführung des Mitbestimmungsgesetzes im Jahre 1976
wird diese Diskussion geführt. Das Aktiengesetz wurde
mehrfach geändert. Heute muss der Aufsichtsrat oder
die Satzung bestimmen, dass bestimmte Arten von Ge-
schäften nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats vorge-
nommen werden dürfen. Dies sind in der Regel wichtige
und zentrale Entscheidungen, wie zum Beispiel Investi-
tionsplanungen oder Kreditaufnahmen. Hierdurch be-
steht auch für den Aufsichtsrat selbst die Möglichkeit,
sachgerecht auf die Führung der Geschäfte der Gesell-
schaft durch den Vorstand Einfluss zu nehmen. Dabei
kann ein individueller, auf die jeweilige Gesellschaft zu-
geschnittener Katalog festgelegt werden. Die bei der jet-
zigen Gesetzeslage mögliche Berücksichtigung der un-
terschiedlichen Bedingungen wie zum Beispiel Größe,
Branche oder Struktur der verschiedenen Gesellschaften
wäre bei einer gesetzlichen Festlegung eines bestimmten
Kataloges zustimmungsbedürftiger Geschäfte nicht mehr
realisierbar. Angesichts der unterschiedlichen Bedürf-
nisse verschiedener Unternehmen ist eine sachgerechte,
für alle Gesellschaften anwendbare Formulierung nur
schwerlich möglich. Auch die wissenschaftlichen Mit-
glieder der Biedenkopfkommission hatten bewusst keine
Empfehlung ausgesprochen, einen bestimmten Katalog
zustimmungsbedürftiger Geschäfte festzulegen.

Auch Ihre Forderung nach einer Verlagerung der
Entscheidungskompetenz vom Aufsichtsrat auf die Be-
legschaft zeugt von mangelndem Sach- und Rechtsver-
ständnis. Die Aufsichtsratsmitglieder werden von den
Wahlberechtigten regelmäßig in einer demokratischen
Wahl ermittelt und erhalten ihr Mandat für eine be-
stimmte Zeit. Sie sind dem Unternehmensinteresse und
damit auch dem Belegschaftsinteresse verpflichtet. Die
Verlagerung der Entscheidungskompetenz in bestimm-
ten Fällen auf die Belegschaft würde für die Arbeitneh-
mer möglicherweise harte, aber im Unternehmensinte-
resse sachlich gebotene Entscheidungen unmöglich
machen. Die geforderte Zweidrittelmehrheit würde zu-
dem auf ein rechtlich problematisches Vetorecht der
Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat hinauslaufen. Die In-
teressenvertretung der Arbeitnehmer über gewählte Ver-
treter hat sich – gerade in Krisenzeiten – bewährt; der
Einführung von – ich zitiere – „mehr Basisdemokratie
im Unternehmen“ bedarf es nicht.

Mit Ihrer Forderung nach einem erzwingbaren Mit-
bestimmungsrecht des Betriebsrates in wirtschaftlichen
Fragen zeigen Sie einmal mehr Ihr mangelhaftes
Rechtsbewusstsein, meine Damen und Herren von den
Linken. Bereits nach geltendem Recht stehen Betriebsrat
und Wirtschaftsausschuss umfangreiche Beteiligungs-
rechte in wirtschaftlichen Angelegenheiten zu. Ich nenne
nur beispielhaft das Beratungsrecht des Wirtschaftsaus-
schusses nach § 106 Betriebsverfassungsgesetz, die Ver-
pflichtung des Unternehmers, bei einer geplanten Be-
triebsänderung über einen Interessenausgleich mit dem
Betriebsrat zu verhandeln – § 111 BetrVG –, und das
zwingende Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats hin-
sichtlich eines Sozialplans, § 112 BetrVG. Eine beliebige

Erweiterung der Beteiligungsrechte in wirtschaftlichen
Angelegenheiten ist aber wegen des damit verbundenen
Eingriffs in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit
aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich.
Dies gilt auch für die Forderung, dass Betriebsschlie-
ßungen und Verlagerungen des Betriebs oder von Be-
triebsteilen der Zustimmung des Betriebsrats bedürfen.

Was halten Sie von einem Intensivseminar in den
Rechtswissenschaften, meine Damen und Herren von
den Linken? Dann wüssten Sie, dass die geltenden recht-
lichen Rahmenbedingungen schon heute eine – ich zi-
tiere – „Fortführung von Unternehmen bzw. von Unter-
nehmensteilen in Belegschaftshand“ uneingeschränkt zu
lassen. Rechtsformen für – ich zitiere – „eine gemein-
schaftliche Übernahme von Betrieben durch die
Beschäftigten“ mit dem Ziel einer Unternehmensfort-
führung stehen mit den im Gesetz vorgesehenen Gesell-
schaftsformen wie Handelsgesellschaften mit und ohne
Rechtspersönlichkeit sowie mit der Rechtsform der Ge-
nossenschaft in großer Zahl zur Verfügung. Nach Eröff-
nung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des
insolvent gewordenen Rechtsträgers lässt sich eine Un-
ternehmensfortführung durch die Belegschaft insbeson-
dere im Wege einer sogenannten übertragenden Sanie-
rung erreichen. Das Unternehmen, dessen Rechtsträger
insolvent geworden ist, wird dann ganz oder in Teilen
durch Arbeitnehmer über einen von diesen bereitgestell-
ten Rechtsträger fortgeführt. Hätten Sie doch Ihre Haus-
aufgaben gemacht, meine Damen und Herren von den
Linken.

So bleibt der Befund: Ihr Antrag ist nicht nur recht-
lich dilettantisch, sondern menschlich verwerflich. Denn
Ihnen dient die Insolvenz der Schlecker-Gruppe, die per-
sönliche Betroffenheit von vielen Tausend Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern nur zur Selbstinszenierung. Ihr
Antrag hilft niemandem. Deshalb lehnen wir diesen ab.


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1717235100

Der Antrag der Fraktion Die Linke ist der Versuch,

aus der Insolvenz der Drogeriekette Schlecker und dem
damit drohenden Arbeitsplatzverlust der Beschäftigten
Aufmerksamkeit für die eigene Fraktion zu erheischen.
Leider ist der Antrag nicht an der Lösung der Probleme
orientiert und damit nicht in der Lage, den vor dem
Verlust ihrer Arbeitsplätze stehenden Beschäftigten zu
helfen. Die Fraktion Die Linke unterbreitet dem Deut-
schen Bundestag Vorschläge, die keinen Beitrag zur
Lösung des konkreten Problems bieten.

Zu allererst hätte die Finanzierung der Transferge-
sellschaft geklärt werden müssen. Die Bundesregierung
ist durch ihr zögerliches Verhalten und die Weigerung
des Wirtschaftsministers, konstruktiv an einer Lösung
für das Gesamtunternehmen Schlecker mitzuarbeiten,
ihrer Mitverantwortung für die über 25 000 Arbeitneh-
merwinnen und Arbeitnehmer nicht gerecht geworden.
Auch die Linke machte hier keinen konkreten Versuch,
zur Lösung des Problems beizutragen. Der Insolvenz-
verwalter und die Länder haben eine gemeinsame Lö-
sung zur Absicherung einer Transfergesellschaft für die

Zu Protokoll gegebene Reden





Ottmar Schreiner


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(D)(B)


bereits gekündigten Schlecker-Beschäftigten gesucht.
Diese ist heute gescheitert.

Die Fraktion der Linken verlangt in ihrem Antrag von
der Politik, ein Zukunftskonzept für das Unternehmen
Schlecker zu erarbeiten. Auch wenn man der Bundesre-
gierung vorwerfen muss, ihrer Verantwortung für die
Weiterqualifizierung und -bildung von Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmern nicht gerecht zu werden, so gilt
doch, dass es nicht Aufgabe der Politik ist, ein unterneh-
merisches Konzept für eine Einzelhandelskette auszu-
arbeiten. Sie wäre damit wohl auch überfordert.

Die Linke fordert in ihrem Antrag weiter die Auswei-
tung der paritätischen Mitbestimmung und die Einrich-
tung von Aufsichtsräten ab einer Betriebsgröße von
100 Beschäftigten. Wir brauchen in der Tat mehr demo-
kratische Teilhabe von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern in ihren Unternehmen. Die SPD-Bundestags-
fraktion hat daher den Antrag „Demokratische Teilhabe
von Belegschaften und ihren Vertretern an unternehme-
rischen Entscheidungen stärken“, Drucksache 17/2122,
schon am 16. Oktober 2010 vorgelegt, der den Schwel-
lenwert für das Mitbestimmungsgesetz auf 1 000 Be-
schäftigte verringert. Die Linke hat im Ausschuss für
Arbeit und Soziales für unseren Antrag gestimmt. Hier
fordern Sie nun den Schwellenwert auf 100 Beschäftigte
zu legen. Eine belastbare Begründung dafür liefert sie
nicht. Sinnvoller scheint es mir hier, die Möglichkeiten
der Betriebsräte und ihrer Wirtschaftsausschüsse in mit-
telständischen Unternehmen auszuweiten.

Die Linke fordert einen Mindestlohn von 10 Euro die
Stunde. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche
Institut, WSI, der Hans-Böckler-Stiftung des DGB for-
dert in seinen Studien einen Mindestlohn von 8,50 Euro.
Von einem allgemeinen Mindestlohn in dieser Höhe
würden 15,8 Prozent aller Beschäftigten profitieren.
Wenn das DGB-eigene Institut einen Mindestlohn in die-
ser Höhe fordert, kann man natürlich trotzdem politisch
einen höheren fordern, setzt sich jedoch dem Verdacht
aus, einen Betrag zu nennen, der mehr an den Interessen
der eigenen Fraktion orientiert ist als an denen der circa
5 Millionen Betroffenen.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1717235200

Der Antrag der Linken unter dem Titel „Schlecker-

Verkäuferinnen unterstützen – Arbeitsplätze und Tarif-
verträge erhalten – Einfluss der Beschäftigten stärken“
befasst sich mit einem Thema, das wir ja auch tages-
aktuell in allen Medien finden. Das ist aber auch das
einzig Positive, was über den Antrag zu sagen ist. Ich
kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie mit
durchschaubaren Absichten den Fall des Unternehmens
Schlecker und der vielen Beschäftigten zur Grundlage
genommen haben, um Forderungen aufzustellen, die Sie
schon lange in den Schubladen haben und immer wieder
gerne hervorholen, die aber nichts mit dem konkreten
Fall zu tun haben.

Die Forderungen in Ihrem Antrag zielen auf eine Än-
derung des Betriebsverfassungsgesetzes und des Mitbe-
stimmungsrechts in Betrieben. Mit Ausnahme von zwei
Forderungen, bei denen wir inhaltlich allerdings auch

anderer Meinung sind, befasst sich Ihr Antrag über-
haupt nicht mit der Situation bei Schlecker. Sie machen
hier Schaufensterpolitik, indem Sie ein aktuelles Thema
aufgreifen, aber keine Lösungen anbieten.

Wohl kein zweites Unternehmen hat uns in unserem
Arbeitsbereich in dieser Legislaturperiode so sehr be-
schäftigt wie das Unternehmen Schlecker. Immer wieder
haben wir von Schikanen gegenüber Mitarbeitern ge-
hört und vor allem von Problemen im Umgang mit den
Betriebsräten. 2010 hat uns dann das Thema der Zeitar-
beit bei Meniar, einer Tochtergesellschaft von Schlecker,
beschäftigt. Diese fragwürdige und politische nicht ge-
wollte Konstruktion, bei der Mitarbeitern von Schlecker
gekündigt wurde, um sie dann zu einem niedrigeren
Lohn bei Meniar anzustellen und wieder an Schlecker zu
verleihen, hat diese christlich-liberale Koalition gesetz-
lich unterbunden.

Schlagzeilen machte Schlecker auch immer wieder
wegen Überfällen auf die Filialen. Die Geschäfte hatten
lange Zeit aus Spargründen nicht mal ein Telefon, bis
bei einem vereitelten Diebstahl eine Verkäuferin starb,
weil sie niemanden zu Hilfe rufen konnte.

All dies führt mich zu meiner Einschätzung, dass
Anton Schlecker zwar sein Unternehmen als eingetrage-
ner Kaufmann führte, aber sicher kein ehrbarer
Kaufmann war. Und es gehört zu einer sozialen Markt-
wirtschaft dazu, dass Unternehmen, die nicht erfolg-
reich sind, nicht dauerhaft bestehen. Schlecker hat sich
in den vergangenen Jahren durch sein Geschäftsmodell
selbst in Verruf gebracht, und die Menschen in unserem
Land wollten dieses Geschäftsmodell nicht mehr unter-
stützen und haben bei anderen Unternehmen eingekauft.
Das ist Marktwirtschaft.

Zur sozialen Marktwirtschaft gehört aber auch, dass
wir uns um die Beschäftigten von Schlecker kümmern.
Sie können nichts für die unternehmerischen Fehler und
sind jetzt die Leidtragenden. Die Verhandlungen über
eine Kreditbürgschaft der Länder zur Errichtung einer
Transfergesellschaft für die Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter von Schlecker sind heute Nachmittag erfolglos be-
endet worden. Die Kollegen aus den Ländern Bayern,
Niedersachsen und Sachsen haben dafür gewichtige
Gründe vorgetragen. Vielfach wurde die mangelnde
Transparenz des Insolvenzverwalters angesprochen. Es
ist richtig, mit Steuergeldern sorgsam umzugehen, zumal
die Fälle Holzmann und Quelle gezeigt haben, dass eine
staatliche Unterstützung nicht automatisch erfolgver-
sprechend ist.

Roland Pichler schreibt dazu heute in der „Stuttgar-
ter Zeitung“ sehr treffend: „Zu einfach macht es sich die
Landespolitik, wenn sie den Bundeswirtschaftsminister
und die Länder mit FDP-Beteiligung als Buhmänner
brandmarkt. Diejenigen, die mit dem Scheck winken,
sind nicht automatisch die Guten. Hehre Motive helfen
bei Schlecker nicht weiter. An Bürgschaften müssen
hohe Anforderungen gestellt werden. Es geht dabei
schließlich um das Geld der Steuerzahler. Dass Schle-
cker im Rampenlicht steht, verdankt die Kette allein ih-
rer Größe. Bei kleinen Einzelhändlern und Handwerks-
betrieben, von denen jeden Tag viele dichtmachen

Zu Protokoll gegebene Reden





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


müssen, schaut der Wirtschaftsminister nicht vorbei. Zur
Ordnungspolitik gehört die Gleichbehandlung. Nicht die
Großunternehmen schaffen die meisten Arbeitsplätze,
sondern der Mittelstand. Deshalb ist es falsch, die Gro-
ßen ständig zu bevorzugen.“ Dieser Analyse schließe
ich mich uneingeschränkt an.

Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Schle-
cker möchte ich sagen, dass eine Transfergesellschaft
nicht die beste Alternative für sie ist. Hilmar Schneider,
der Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit, hat
gestern auf eine Studie seines Instituts verwiesen, die be-
sagt, dass Transfergesellschaften keine besseren Ver-
mittlungsperspektiven bieten als die Bundesagentur für
Arbeit. Vielmehr würde die Bundesagentur eine schnelle
und kompetente Vermittlung in Arbeit gewährleisten,
weswegen er den Schlecker-Mitarbeitern rate, nicht in
eine Transfergesellschaft zu gehen. Zudem hat das Vor-
standsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, Raimund
Becker, heute erst wieder bestätigt, dass es gute Vermitt-
lungschancen für die Schlecker-Beschäftigten gibt.
Derzeit gibt es nach Angaben der BA bundesweit
125 000 offene Stellen für Verkäufer und Verkäuferin-
nen. Allein im letzten Jahr sind 60 000 neue Stellen in
der Branche geschaffen worden.

Ich bin mir im Klaren darüber, welche Belastung die
derzeitige Situation für die Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter von Schlecker darstellt, und bedauere dies sehr.
Der Antrag der Linken würde Ihnen aber auch nicht
dienlich sein. Als FDP setzen wir vielmehr auf eine
wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik, die Arbeits-
plätze entstehen lässt. So entstehen auch für die Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter von Schlecker Perspektiven.
Ihnen wünsche ich alles Gute.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717235300

Was wir in den letzten Tagen und Wochen im Fall

Schlecker erlebt haben, ist kaum in Worte zu fassen.
Nachdem die Politik es zugelassen hat, das ein Großun-
ternehmen wie eine Würstchenbude geführt wird und so
für die Schlecker-Pleite mitverantwortlich ist, wurden
die Schlecker-Beschäftigten von der Bundesregierung
und den meisten Landesregierungen hingehalten. Am
Ende wurde ihnen die Hilfe verweigert. Das ist ein Ar-
mutszeugnis. Milliarden flossen für die Banken, der Ex-
bundespräsident Christian Wulff erhält bis an sein Le-
bensende einen Ehrensold, aber die Politik schafft es
nicht, einen Kredit von 70 Millionen Euro zur Verfügung
zu stellen. Die Bundesregierung mit einer Frau an der
Spitze der Regierung und des verantwortlichen Ministe-
riums hat sich geweigert, die staatseigene Kreditanstalt
für Wiederaufbau anzuweisen, eine Bürgschaft für die
Transfergesellschaft zu übernehmen. Damit stellt die
Bundesregierung unter Beweis, dass ihr Frauenarbeits-
plätze in den Dienstleistungsberufen weniger wert sind.

Es geht hier nicht um Anton Schlecker. Er und seine
Familie fallen weich. Zehntausende Beschäftigte, die für
diese Familie den Rücken krumm gemacht haben, müs-
sen um ihre Existenz bangen. Die Bundesregierung be-
hauptet, dass die Schlecker-Frauen gute Chancen auf
dem Arbeitsmarkt haben, und verweist auf 25 000 offene

Stellen in den Verkaufsberufen. Sie verschweigt, dass in
dieser Berufssparte zugleich bereits über 300 000 Men-
schen arbeitslos gemeldet sind.

Die Bundesregierung behauptet, dass es keinen Sinn
macht, mit öffentlichen Geldern die Arbeitsplätze bei
Schlecker zu fördern. Sie verschweigt aber, dass auch
Arbeitslosigkeit die Gesellschaft Geld kostet. Bis zu
113 Millionen Euro können es sein, unterstellt man, dass
jede zweite Beschäftigte, die bei Schlecker ihren Arbeits-
platz verliert, keinen neuen Job findet. Die dreisteste
Lüge, die Vertreter von FDP und Union verbreiteten, ist,
die Politik habe mit der Schlecker-Pleite nichts zu tun;
sie sei ein Ergebnis der Marktwirtschaft.

Die Wahrheit ist: Die Politik hat die gesetzlichen Re-
gelungen zu verantworten, nachdem Anton Schlecker
ein Unternehmen mit Zehntausenden Beschäftigten wie
eine Würstchenbude führen konnte. Schlecker meldete
sein Unternehmen als „eingetragener Kaufmann“ an.
So konnte er die für Großunternehmen sonst üblichen
Vorschriften zur Rechungsführung und einer Kontrolle
durch einen Aufsichtsrat umgehen. Als „eingetragener
Kaufmann“ war Anton Schlecker auch nicht verpflich-
tet, Insolvenz anzumelden, und kann nicht für eine Insol-
venzverschleppung strafrechtlich belangt werden. Das
alles hat die Politik zu verantworten, denn sie macht die
Gesetze. Auch deshalb steht sie in einer besonderen
Pflicht, sich für den Erhalt der Arbeitsplätze einzuset-
zen.

Unsere Forderungen sind klar. Erstens. Der Gesetz-
geber ist gefordert, alle Schlupflöcher zu schließen, mit
denen Großunternehmen einer umfassenden Transpa-
renzpflicht und Kontrolle entgehen können. Dazu muss
auch eine Stärkung der Mitbestimmung der Beschäftig-
ten gehören. Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftig-
ten müssen zwingend einen Aufsichtsrat einrichten, der
zur Hälfte aus Vertretern der Beschäftigten besteht.

Zweitens. Nach dem Scheitern der Transfergesell-
schaft brauchen wir ein alternatives Zukunftskonzept für
Schlecker, das zusammen mit den Beschäftigten und be-
teiligten Akteuren wie zum Beispiel den Kommunen ent-
wickelt werden kann. Statt Kahlschlag zu betreiben,
muss es darum gehen, möglichst viele Filialen und Ar-
beitsplätze zu erhalten. Ein mögliches neues Unterneh-
mensmodell ist auch mit staatlichen Geldern zu unter-
stützen, sofern die Belegschaft Einfluss auf die
Geschäftspolitik bekommt. Es geht bei der Unterneh-
mensrettung um Zehntausende Beschäftigte und ihre Fa-
milien, nicht um Anton Schlecker.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717235400

Die FDP hat null Erfolg bei Wahlen und schafft es

nicht mehr in die Parlamente, aber da, wo sie noch
mitzureden hat, exekutiert sie mit letzter Kraft eine bra-
chiale Marktwirtschaft und verhindert die Einrichtung
einer Transfergesellschaft für die entlassenen Schlecker-
Beschäftigten. Das ist unterlassene Hilfeleistung. Ich
finde es skandalös, dass die Union nicht eingegriffen hat
und die FDP auf den Pfad der Tugend zurückgeführt
hat.

Zu Protokoll gegebene Reden





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)


Anfang März war in der „Süddeutschen Zeitung“ zu
lesen, dass Bundesarbeitsministerin von der Leyen „bis
Ende der Woche“ – das war vor drei Wochen – Klarheit
über die Einrichtung einer Transfergesellschaft schaffen
will. Frau Connemann von der CDU-Fraktion hat in der
Plenardebatte hier im Bundestag am 8. März gesagt:
„Wir in der Union werden dafür sorgen, dass Gelder für
diese Transfergesellschaft bereitstehen.“ Und auch Herr
Seehofer hat immer wieder dicke Backen gemacht und
Unterstützung angekündigt. Aber offenbar ist verlassen,
wer sich auf die Union verlässt.

Ich frage mich: Warum haben die CDU-Minister-
präsidenten aus Niedersachsen und aus Sachsen dem
Marktradikalentreiben ihrer FDP-Wirtschaftsminister
keinen Riegel vorgeschoben, warum hat Bundesarbeits-
ministerin von der Leyen nicht ernsthaft interveniert, und
warum hat sich Bundeskanzlerin Merkel nicht vor die
Schlecker-Frauen gestellt, so wie vor die Opel-Männer?

Wer es auch nur im Entferntesten ernst meint mit
Gerechtigkeit und mit der sozialen Marktwirtschaft, der
hätte die Opfer der Schlecker-Pleite mit aller Kraft
unterstützen und zusätzliche Qualifizierungsoptionen
für sie schaffen müssen. Genau dafür wäre die Einrich-
tung von Transfergesellschaften ein wichtiger Baustein
gewesen, auch wenn sie natürlich kein Allheilmittel sind.
Es ging nicht darum, das miserable Geschäftsmodell des
Schlecker-Patriarchen zu retten, sondern es ging darum,
neue Chancen für diejenigen zu eröffnen, die all die
Jahre unter dem Missmanagement gelitten haben und
die jetzt vor dem Nichts stehen. Für sie hätte die Politik
mit Bürgschaften für einen Massekredit in die Bresche
springen müssen. Und es ist übrigens nicht so, dass
Beschäftigte in mittelständischen Unternehmen keine
öffentliche Unterstützung bekommen. Ich erinnere hier
nur an das Programm WeGebAU, mit dem vor allem die
Qualifizierung von Beschäftigten in kleinen und mittel-
ständischen Betrieben gefördert wird.

Bei der Hilfe für die Schlecker-Frauen ging es um
eine Bürgschaft in Höhe von circa 70 Millionen Euro.
Das ist kein Pappenstiel, und bei der Verwendung von
Geldern der Steuerzahler müssen Kosten und Nutzen
selbstverständlich sorgfältig abgewogen werden. Aber:
Diese 70 Millionen sind nur ein Bruchteil dessen, was
an Kohlesubventionen für den Bergbau, als Abwrack-
prämie zur Unterstützung der Autobauer oder für die
Bankenrettung verausgabt wurde. Wohlgemerkt, ich
finde diese staatlichen Unterstützungsmaßnahmen nicht
alle falsch; sie waren aber auch nicht alle richtig. Schon
gar nicht waren oder sind sie vereinbar mit einer Ideolo-
gie des freien Spiels der Märkte.

Daher ist es aus meiner Sicht in keiner Weise verhält-
nismäßig, wenn bei drohendem Verlust von Männer-
arbeitsplätzen in den Industriebranchen mit Milliarden-
summen eingegriffen wird, aber wenn es um Frauenjobs
im Dienstleistungssektor geht, ein Riesengezänk um die
reine Lehre des Wettbewerbs losgeht mit dem Ergebnis,
dass man die Frauen, die jetzt ihren Arbeitsplatz verlie-
ren, eiskalt abserviert. Das ist nicht gerecht und tenden-
ziell diskriminierend. Darum fordere ich, dass es in

Deutschland nicht nur den gleichen Lohn für gleiche
Arbeit geben muss, sondern auch die gleiche Hilfestel-
lung für Männer und Frauen, wenn es um den Erhalt von
Arbeitsplätzen geht.

Jetzt hat sich die FDP-Männerriege gegen die Ver-
käuferinnen durchgesetzt. Diese Männer kämpfen im
Sinne einer falsch verstandenen Marktwirtschaft um die
letzten Wählerstimmen und ignorieren dabei vollkom-
men die Sorgen und Nöte der Menschen. Damit muss
Schluss sein. Der Politikwechsel für mehr Gerechtigkeit
ist überfällig.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717235500

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/9131, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/8880 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Steffen Bockhahn, Halina Wawzyniak,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Ausverkauf staatlichen Eigentums stoppen –
Keine Privatisierung der TLG-Wohnungen

– Drucksache 17/9150 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss

Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu
geben.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vor-
lage auf Drucksache 17/9150 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich bedanke mich recht herzlich für die gute Zusam-
menarbeit bei den letzten Tagesordnungspunkten.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 30. März 2012, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.