1) Anlage 13
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20419
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
lung des Europarates
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechts-
rahmens für Strom aus solarer Strahlungs-
energie und zu weiteren Änderungen im Recht
der erneuerbaren Energien (Tagesordnungs-
punkt 7 a)
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ich werde das
oben genannte Gesetz ablehnen und mit Nein stimmen.
Zwar sind nach den Formulierungshilfen zum Ent-
wurf des Gesetzes, den zahlreichen Berichterstatter-
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Bär, Dorothee CDU/CSU 29.03.2012
Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.03.2012
Brinkmann (Hildesheim),
Bernhard
SPD 29.03.2012
Buschmann, Marco FDP 29.03.2012
Claus, Roland DIE LINKE 29.03.2012
Ehrmann, Siegmund SPD 29.03.2012
Freitag, Dagmar SPD 29.03.2012
Dr. Friedrich (Hof),
Hans-Peter
CDU/CSU 29.03.2012
Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 29.03.2012
Groth, Annette DIE LINKE 29.03.2012*
Günther (Plauen),
Joachim
FDP 29.03.2012
Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 29.03.2012
Keul, Katja BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.03.2012
Kramme, Anette SPD 29.03.2012
Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.03.2012
Kunert, Katrin DIE LINKE 29.03.2012
Dr. Lauterbach, Karl SPD 29.03.2012
Möhring, Cornelia DIE LINKE 29.03.2012
Möller, Kornelia DIE LINKE 29.03.2012
Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.03.2012
Dr. Neumann (Lausitz),
Martin
FDP 29.03.2012
Nietan, Dietmar SPD 29.03.2012
Nink, Manfred SPD 29.03.2012
Nord, Thomas DIE LINKE 29.03.2012
Dr. Pfeiffer, Joachim CDU/CSU 29.03.2012
Roth (Augsburg),
Claudia
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.03.2012
Rupprecht
(Tuchenbach),
Marlene
SPD 29.03.2012*
Schäfer (Saalstadt),
Anita
CDU/CSU 29.03.2012
Schlecht, Michael DIE LINKE 29.03.2012
Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 29.03.2012
Simmling, Werner FDP 29.03.2012
Ulrich, Alexander DIE LINKE 29.03.2012
Wicklein, Andrea SPD 29.03.2012
Wieczorek-Zeul,
Heidemarie
SPD 29.03.2012
Dr. Wilms, Valerie BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.03.2012
Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.03.2012
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Anlagen
20420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
gesprächen und den in der Fraktionssitzung am 27. März
2012 vorgestellten Änderungen Schritte in die richtige
Richtung erkennbar, aber für meine Zustimmung zum
Gesetz sind diese nicht ausreichend.
Verbraucher, Photovoltaikindustrie und Wirtschaft
erwarten von der Politik Planungssicherheit und Verläss-
lichkeit. Das jetzt vorgelegte Gesetz erfüllt diese Anfor-
derungen nur teilweise.
Der Solarbranche, die – unter anderem – bei Solar-
world mit über 1 500 Arbeitsplätzen sowie zahlreichen
Ausbildungs- und Studienplätzen, Innovations- und
Logistikzentren in meinem Wahlkreis ein wichtiger
Wirtschaftsfaktor ist, muss gegenüber der weltweiten
Wettbewerbsverzerrung durch chinesische Subventio-
nierung von Solarprodukten geholfen werden, ihren
Technologievorsprung auszubauen. Da es die Bundes-
regierung versäumt hat, entsprechend mit Richtlinien
und Verordnungen – zum Beispiel Elektronikschrottver-
ordnung – eine Art Schutzwall für den europäischen
Markt vor einer besonderen Art einer feindlichen Über-
nahme des Marktes durch chinesische Wettbewerbsver-
zerrung einzuziehen, müsste Deutschland nunmehr mit
einer Local-Content-Regelung – zum Beispiel einem
zehnprozentigen Vergütungsaufschlag auf deutsche Pro-
dukte – nachsteuern. Auf vergleichbare Regelungen in
anderen Branchen in Italien, Frankreich, der Türkei oder
beispielsweise die Quotenregelung für chinesische Tex-
tilien oder amerikanische Strafzölle wird verwiesen.
Des Weiteren ist im Gesetz eine angemessene Vergü-
tung für eine Anlage in der Größenklasse von 10 bis 50
oder 100 Kilowatt nicht vorgesehen. Anlagen von
1 Megawatt bis 10 Megawatt hingegen erhalten die volle
Vergütung aus dem EEG. Das ist eine ungerechtfertigte
Ungleichbehandlung kleiner und mittlerer Anlagen, auf
deren Modulbauteilproduktion sich deutsche Hersteller
spezialisiert haben. Sie wirkt im Hinblick auf die Ziel-
setzungen der Energiewende oder einer dezentralen
Stromeigenproduktion absolut kontraproduktiv. Es ist
bekannt, dass sich Anlagen in der Größenordnung von
1 bis 10 Megawatt vornehmlich in Bayern und Baden-
Württemberg befinden bzw. dort geplant sind.
Schließlich entfällt mit dem Wegfall des Eigenver-
brauchsbonus jeglicher Anreiz zum Einsatz von Energie-
speichern, ob von Batterien oder anderweitigen Spei-
chersystemen. Der Eigenstrombonus sollte in der Form
beibehalten werden, die ihn an den Einsatz von Spei-
chern koppelt.
Im Übrigen hoffe ich, dass insbesondere die ostdeut-
schen Bundesländer unter Führung von Sachsen und
Sachsen-Anhalt im Vermittlungsausschuss durch die
bereits vorgelegte Bundesratsinitiative insbesondere in
vorgenannten Positionen Verhandlungsfortschritte erzie-
len, damit ich bei erneuter Beschlussfassung zustimmen
kann.
Josef Göppel (CDU/CSU): Ich kann dem Gesetz-
entwurf zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom aus
solarer Strahlungsenergie – Drucksache 17/8877 – nicht
zustimmen. Die aktuelle Novellierung des EEG besteht
aus Einschnitten und Kürzungen, die nicht mit einer
konzeptionellen Weiterentwicklung der solaren Strom-
erzeugung verbunden sind.
Erstens. Die vorgesehene Kürzung der vergüteten
Strommenge wird dem Anspruch der Marktintegration
nicht gerecht. Es fehlen Mechanismen zum Markt-
zugang für alle Anlagen, die zu groß oder nicht geeignet
für den Eigenverbrauch und zu klein für den Börsen-
zugang sind.
Zweitens. Der Gesetzentwurf gibt keine Antwort auf
einen Systemfehler der Strompreisfindung. Große Men-
gen erneuerbaren Stroms senken den Großhandelspreis
an der Börse. Darauf haben die mit der steigenden EEG-
Umlage belasteten Kleinverbraucher jedoch keinen Zu-
griff. Großverbraucher hingegen werden auch noch von
der Umlage befreit, auf die ihr eigener Preisvorteil zu-
rückzuführen ist.
Drittens. Es fehlt ein Speicheranreiz, der die Rege-
lung zum Eigenverbrauch mit der Anschaffung netzge-
steuerter Speichereinheiten koppelt. Gerade die man-
gelnde Speicherfähigkeit erneuerbaren Stroms wird von
Kritikern der Energiewende ständig beklagt. Gleich-
zeitig wurden jedoch wirksame Schritte zur Lösung die-
ses Problems verhindert.
Dieser Gesetzentwurf liefert keinen Beitrag zur
weiteren Umstellung der Stromversorgung auf erneuer-
bare Energien. Trotz intensiver Bemühungen gelang es
während der Gesetzesberatung nicht, über die Zubaube-
grenzung hinaus positive Elemente zur Systemtrans-
formation des Stromsektors zu verankern. Stattdessen
fielen immer wieder Bemerkungen wie „Solarabzocker“
oder „Das Fallbeil muss fallen“. Die kleinteilige Strom-
erzeugung wird von Teilen der Koalition als System-
gefahr betrachtet, der Eigenverbrauch als „Schädigung
der Solidargemeinschaft“. Diese Haltung konserviert
technologisch überlebte Strukturen. Sie bremst die Ver-
lagerung der Wertschöpfung auf breite Bevölkerungs-
schichten und nimmt unseren Bekenntnissen zur Ener-
giewende die Glaubwürdigkeit.
Ich werde den Gesetzentwurf deshalb ablehnen.
Frank Heinrich (CDU/CSU): Ich stimme dem
Gesetzentwurf zu, obwohl ich noch einige Bedenken
habe. Ich bin ein großer Befürworter der erneuerbaren
Energien. Bei der Abstimmung über die Verlängerung
von AKW-Laufzeiten habe ich mich meiner Partei nicht
angeschlossen und habe gegen die Verlängerung
gestimmt.
Die in dem Gesetzentwurf getroffene Neuregelung
übt noch nicht den notwendigen Druck auf die Betreiber
und Anbieter von Photovoltaikanlagen aus, Strom dann
zur Verfügung zu stellen, wenn er tatsächlich benötigt
wird. Aber ich bin der Auffassung, dass Planungssicher-
heit und Verlässlichkeit sowohl für die Photovoltaikin-
dustrie als auch für die Wirtschaft wichtig sind. Ich
denke, dass die massive Kürzung der Solarförderung mit
einer kurzen Ankündigungsfrist aufgrund bestehender
Verordnungen des Baurechts nicht realistisch ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20421
(A) (C)
(D)(B)
Deshalb sollten angemessene Übergangsfristen ver-
einbart werden, damit bereits im Bau befindliche Anla-
gen noch nach den momentan geltenden Vergütungssät-
zen abgerechnet werden.
Außerdem fehlt meines Erachtens nach ein Speicher-
anreiz, der die Regelung zum Eigenverbrauch mit der
Abschaffung netzgesteuerter Speichereinheiten koppelt.
Die Kritiker beklagen gerade die mangelnde Speicherfä-
higkeit erneuerbaren Stroms.
Weiterhin wird kein Beitrag durch diesen Gesetzent-
wurf zur weiteren Umstellung der Stromversorgung auf
erneuerbare Energien geliefert. Ich unterstütze dennoch
die in diesem Gesetz getroffenen Neuregelungen und
hoffe sehr, dass damit eine Verbesserung gegenüber dem
gegenwärtigen Stand erreicht wird. Die Belastung der
Stromkunden durch Garantiezusagen hinsichtlich der
Einspeisevergütung für in Photovoltaikanlagen erzeug-
tem Strom wird so gegenüber dem Status quo stärker
begrenzt.
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Ich enthalte mich
bei der Abstimmung zu diesem Gesetzentwurf, weil ich
die darin enthaltene Förderung der Energiegewinnung in
Photovoltaikanlagen über eine Einspeisevergütung, die
unabhängig davon gezahlt wird, ob der erzeugte Strom
bei Energieverbrauchern absetzbar ist, ablehne. Damit
kann das auch von mir unterstützte Ziel, eine Alternative
zur Nutzung der endlichen fossilen Energieträger zu ent-
wickeln, nicht erreicht werden. Auch die in dem Gesetz-
entwurf getroffene Neuregelung übt nicht den notwendi-
gen Druck auf die Betreiber und Anbieter von
Photovoltaikanlagen aus, Strom dann zur Verfügung zu
stellen, wenn er tatsächlich benötigt wird. Eine Stromer-
zeugung unabhängig vom Bedarf ist aber keine Alterna-
tive zur Nutzung fossiler Energieträger, da so ein Indus-
trieland nicht zuverlässig und kostengünstig mit Strom
zu versorgen ist. Ich unterstütze die in diesem Gesetz ge-
troffenen Neuregelungen nicht, da mit ihnen keine aus-
reichende Verbesserung gegenüber dem gegenwärtigen
Stand erreicht wird. Die Belastung der Stromkunden
durch Garantiezusagen hinsichtlich der Einspeisevergü-
tung für in Photovoltaikanlagen erzeugten Strom wird so
gegenüber dem Status quo nicht begrenzt.
Im Jahr 2011 wurden circa 7 500 Megawatt Photovol-
taikleistung in Deutschland installiert, die Fertigungska-
pazitäten für Photovoltaikmodule in Deutschland betra-
gen jedoch circa 3 200 Megawatt. Dieser Widerspruch
wird vom Gesetzentwurf nicht ausreichend gewürdigt.
Die gegenwärtige, schwierige Lage der deutschen Pho-
tovoltaikbranche besteht unabhängig vom Fördermecha-
nismus im EEG.
Ebenso lehne ich die im Zusammenhang mit diesem
Gesetzentwurf stehende Lösung des „50,2-Hertz-Pro-
blems“ als nicht marktwirtschaftlich ab. Die Übernahme
der Kosten für die notwendige Nachrüstung der betroffe-
nen Photovoltaikanlage soll gemäß einem Verordnungs-
entwurf von den Verbrauchern getragen werden. Dies ist
eine Abkehr vom Verursacherprinzip und schafft einen
gefährlichen Präzedenzfall für künftigen Nachrüstbe-
darf.
Maria Michalk (CDU/CSU): Ich stimme dem Ge-
setzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Änderung des
Rechtsrahmens für Strom aus solarer Strahlungsenergie
und zu weiteren Änderungen im Recht der erneuerbaren
Energien zu, weil es am Grundsatz des Ausbaus erneuer-
barer Energie festhält und zeitgleich auf die Überschrei-
tung des geplanten Ausbaukorridors beim Zubau von
Photovoltaikanlagen von 3 500 Megawatt mit 7 500 Me-
gawatt im Jahr 2011 reagiert. Die Vergütungssätze sind
im Vergleich zu den gesunkenen Systempreisen zu hoch.
Das belastet sowohl die Bürgerschaft als auch die Wirt-
schaft im Industrie- und Dienstleistungsbereich. Deshalb
ist die Korrektur des Ausbaupfades der Photovoltaikan-
lagen geboten und gerechtfertigt.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Manfred Grund, Dr. Thomas
Feist, Dr. Michael Luther, Michael Stübgen und
Arnold Vaatz (alle CDU/CSU) zur namentlichen
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom
aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren
Änderungen im Recht der erneuerbaren Ener-
gien (Tagesordnungspunkt 7 a)
Ich stimme dem Gesetzentwurf zu, obwohl ich die da-
rin enthaltene Förderung der Energiegewinnung in Pho-
tovoltaikanlagen über eine Einspeisevergütung, die un-
abhängig davon gezahlt wird, ob der erzeugte Strom bei
Energieverbrauchern absetzbar ist, ablehne. Damit kann
das auch von mir unterstützte Ziel, eine Alternative zur
Nutzung der endlichen fossilen Energieträger zu entwi-
ckeln, nicht erreicht werden. Auch die in dem Gesetzent-
wurf getroffene Neuregelung übt nicht den notwendigen
Druck auf die Betreiber und Anbieter von Photovoltaik-
anlagen aus, Strom dann zur Verfügung zu stellen, wenn
er tatsächlich benötigt wird. Eine Stromerzeugung unab-
hängig vom Bedarf ist aber keine Alternative zur Nut-
zung fossiler Energieträger, da so ein Industrieland nicht
zuverlässig und kostengünstig mit Strom zu versorgen
ist. Ich unterstütze dennoch die in diesem Gesetz getrof-
fenen Neuregelungen, da mit ihnen eine Verbesserung
gegenüber dem gegenwärtigen Stand erreicht wird. Die
Belastung der Stromkunden durch Garantiezusagen hin-
sichtlich der Einspeisevergütung für in Photovoltaikan-
lagen erzeugten Strom wird so gegenüber dem Status
quo stärker begrenzt.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten der Abgeordneten Dr. Peter
Danckert, Iris Gleicke, Wolfgang Gunkel,
Hans-Joachim Hacker, Dr. Eva Högl, Daniela
Kolbe (Leipzig), Angelika Krüger-Leißner,
Steffen-Claudio Lemme, Burkhard Lischka,
Mechthild Rawert, Silvia Schmidt (Eisleben),
Swen Schulz (Spandau), Rolf Schwanitz, Sonja
Steffen, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Wolfgang
20422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
Tiefensee, Dr. Marlies Volkmer, Waltraud Wolff
(Wolmirstedt) und Dagmar Ziegler (alle SPD)
zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Rechtsrahmens
für Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu
weiteren Änderungen im Recht der erneuerbaren
Energien (Tagesordnungspunkt 7 a)
Wir – die Unterzeichner dieser Erklärung – lehnen die
von CDU, CSU und FDP zur Abstimmung gestellten
drastischen Sonderkürzungen bei der Solarförderung so-
wie die weiteren Instrumente zur Zubaubegrenzung ab.
Dies tun wir auch, weil diese konzeptlose Kurz-
schlussreaktion der Bundesregierung und der sie tragen-
den Koalitionsfraktionen ein wirtschaftlich vertretbares
Maß vermissen lassen. Die Kürzungen sind ein Angriff
auf die Verlässlichkeit, Planbarkeit und Investitionssi-
cherheit der Solarförderung. Durch die wiederholt ab-
rupten Sonderkürzungen werden einerseits Zubau-Ral-
lyes mit der damit verbundenen Marktüberhitzung
ausgelöst. Auf der anderen Seite wird der Solarbranche
gerade auch in Ostdeutschland der Boden für eine nach-
haltige wirtschaftliche Entwicklung entzogen. Wir wol-
len hingegen alles dafür tun, um die Zukunftsfähigkeit
der ostdeutschen Solarcluster zu erhalten und dabei die
Forschungs- und Entwicklungsstrukturen sowie die Viel-
zahl der vorhandenen Arbeitsplätze zu sichern und aus-
zubauen.
Dies kann einerseits nur vor einer verlässlichen und
planbaren Förderkulisse gelingen. Andererseits ist es un-
erlässlich, dem unfairen Wettbewerb und Preisdumping,
insbesondere der chinesischen Konkurrenz, den Kampf
anzusagen. Daher müssen wir gegen diese Wettbewerbs-
nachteile im europäischen Interesse vorgehen und bis
dahin durch eine Local-Content-Lösung die Wettbe-
werbsfähigkeit der deutschen Solarbranche stärken.
Bedauerlicherweise ist festzustellen, dass CDU, CSU
und FDP sowie die Bundesregierung nichts zur Stärkung
der hochinnovativen deutschen Solarindustrie und der
geschaffenen Arbeitsplätze unternehmen, sondern sich
auf einseitige Förderkürzungen beschränken, die vor al-
lem den Standort (Ost-)Deutschland zusätzlich gefähr-
den.
Anlage 5
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des
Achten Buches Sozialgesetzbuch – Aufhebung
der Ankündigung eines Betreuungsgeldes (Ta-
gesordnungspunkt 8 b)
Sylvia Canel (FDP): Als Berichterstatterin für früh-
kindliche Bildung weiß ich, wie wichtig der Besuch von
Kindereinrichtungen für Kinder ist. Die Einführung ei-
nes Betreuungsgeldes schafft ein falsches Anreizsystem.
Miriam Gruß (FDP): Aus meiner Sicht sprechen un-
ter anderem starke bildungs-, gleichstellungs- und haus-
haltspolitische Gründe gegen die Einführung eines Be-
treuungsgeldes.
Aus bildungspolitischer Sicht habe ich Sorge, ob die
Einführung des Betreuungsgeldes im Interesse der Kin-
der ist. Denn unter Umständen würde ein Betreuungs-
geld eher als Anreiz gesehen, Kinder nicht in Bildungs-
und Betreuungseinrichtungen zu geben. Dabei profitie-
ren Kinder nachweislich von frühkindlicher Bildung in
diesen Einrichtungen.
Unter gleichstellungspolitischen Gesichtspunkten ist
das Betreuungsgeld ebenfalls kritisch zu sehen. Es ver-
festigt das tradierte Rollenbild, indem es einen Anreiz
dafür bietet, den beruflichen Wiedereinstieg von Frauen
nach der Geburt eines Kindes hinauszuzögern. Auch vor
dem Hintergrund des wachsenden Fachkräftemangels ist
das ein weiterer Fehlanreiz.
Die aktuellen Haushaltszahlen sprechen zudem eine
deutliche Sprache: Deutschland gibt rund 185 Milliarden
Euro jährlich für ehe- und familienpolitische Leistungen
aus – und trotzdem verzeichnen wir eine der geringsten
Geburtenraten in Europa. Die Evaluation der ehe- und
familienpolitischen Leistungen wird für 2013 erwartet.
Im Vorfeld dessen eine neue milliardenschwere famili-
enpolitische Leistung einzuführen, halte ich im Sinne ei-
ner nachhaltigen, zukunfts- und generationengerechten
Haushaltspolitik für unverantwortlich.
Außerdem ist derzeit nicht in Sicht, dass bis August
2013, wenn der Rechtsanspruch auf einen Betreuungs-
platz U3 greift, die für den Anspruch erforderlichen Be-
treuungsplätze vorhanden sein werden. Die Einführung
des Betreuungsgeldes könnte als Anreiz verstanden wer-
den, diesen Ausbau nicht mit dem nötigen Hochdruck
von kommunaler und landespolitischer Seite zu beglei-
ten.
Die konkrete und vor allem verfassungsgemäße Aus-
gestaltung des Betreuungsgeldes ist obendrein derzeit
absolut unklar. Aus all diesen Gründen werde ich mich
bei der Abstimmung zum Tagesordnungspunkt 8 a, b
und c enthalten.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Einfüh-
rung eines Betreuungsgeldes für diejenigen Eltern, die
ihre Kinder im Alter zwischen einem und drei Jahren
nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen, wird in
der Öffentlichkeit unter verschiedenen Gesichtspunkten
diskutiert.
Die Freiheit der Eltern, ihre Kinder selbst zu betreuen
oder qualifiziert betreuen zu lassen, muss erhalten blei-
ben. Eltern, die ihre Kinder selbst betreuen wollen,
haben das Recht, dies zu tun. Es ist jedoch eine grund-
sätzlich andere Frage, ob dies auch vom Staat zu finan-
zieren ist.
Gute frühkindliche Betreuung hat einen sehr hohen
Stellenwert für die Entwicklung von Kindern. Mit der
Finanzierung eines Betreuungsgeldes setzt der Staat
einen Anreiz für Eltern, auf die Annahme frühkindlicher
Betreuungsangebote zu verzichten. Gleichzeitig werden
damit finanzielle Ressourcen gebunden, die für den Auf-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20423
(A) (C)
(D)(B)
bau von Kinderbetreuung für Eltern, die beide ihren
Beruf ausüben wollen, nicht zur Verfügung stehen.
In der Studie „Emanzipation oder Kindergeld?“ aus
dem Jahr 2008, die von der Robert-Bosch-Stiftung ge-
fördert wurde, wird aufgezeigt, dass in den Ländern
Europas, in denen mehr Frauen berufstätig sind, mehr
Kinder geboren werden. Dazu tragen auch gute Betreu-
ungseinrichtungen bei sowie ein hoher Anteil an Frauen
mit guten Bildungsabschlüssen. In Deutschland ist der
Anteil von Frauen in Führungspositionen sehr gering.
Eine Ursache dafür ist ebenfalls die geringe Verfügbar-
keit von Einrichtungen zur Kinderbetreuung. Mit dem
Betreuungsgeld wird diese Situation nicht verbessert.
Deutschland gibt rund 185 Milliarden Euro jährlich
für familienpolitische Leistungen aus. In 2013 soll eine
Evaluation dieser Leistungen erfolgen. Es ist nicht ver-
antwortbar, vor dem Vorliegen der Evaluation eine neue
familienpolitische Leistung einzuführen.
Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für
Kinder unter drei Jahren gilt ab August 2013. Die Ein-
führung eines Betreuungsgeldes könnte dazu führen,
dass die Einrichtung von Betreuungsplätzen nicht im
erforderlichen Maß vorangetrieben wird.
Eine verfassungsgemäße Ausgestaltung des Betreu-
ungsgeldes ist zurzeit offen.
Die Anträge der Opposition zielen auf die Vereinba-
rungen im Koalitionsvertrag und die Kritik, die Frauen
aus den Koalitionsfraktionen daran geübt haben. Dies ist
mir bewusst. Ich werde daher die Anträge ablehnen. Ich
erwarte aber, dass in der Frage der Wertschätzung
frühkindlicher Bildung, der Förderung der faktischen
Gleichstellung von Frauen, der verfassungsgemäßen
Ausgestaltung familienpolitischer Leistungen und unter
Berücksichtigung der Evaluation dieser bisherigen Leis-
tungen über weitere familienpolitische Maßnahmen ent-
schieden wird.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen:
– Für einen Hochschulpakt Plus – Zusätzliche
Studienplätze schaffen und Masterangebot
ausbauen
– Hochschulpakt 2020: Für mehr Studien-
plätze und gute Arbeitsbedingungen – Hoch-
schulen sozial öffnen
– Den Hochschulpakt weiterentwickeln: Mehr
Studienplätze, bessere Studienbedingungen
und höhere Lehrqualität schaffen
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen:
– Gute Lehre an allen Hochschulen garantie-
ren – Eine dritte Säule im Hochschulpakt
verankern und einen Wettbewerb für he-
rausragende Lehre auflegen
– Qualitätsoffensive für die Lehre starten –
Einheit von Forschung und Lehre sichern
(Tagesordnungspunkt 12 a und b)
Monika Grütters (CDU/CSU): Die Opposition hat
sich darauf verständigt, ihren Debattenplatz im Plenum
mit aufgewärmter Ware, mit alten Anträgen zu füllen.
Das ist so wenig originell wie überraschend. Wenn Ihnen
gar nichts mehr einfällt, wiederholen Sie sich halt. Be-
reits vor sechs Monaten haben wir die nun erneut zur
Debatte stehenden Anträge der Opposition zum Hoch-
schulpakt hier im Plenum und auch im Ausschuss disku-
tiert. Alle drei alten Anträge der Opposition aus dem Ok-
tober 2011 bestehen im Wesentlichen aus einer Liste von
Wunschvorstellungen, deren Finanzierung nicht einmal
im Ansatz dargestellt wird. Das ist das klassische Ritual
der Opposition: Jeder Wählergruppe wird das Maximum
versprochen. Man steht ja nicht in der Pflicht, diese
Wohltaten auch finanzieren zu müssen. Mich würde aber
schon interessieren, ob zumindest die Damen und Her-
ren von der SPD ihre Vorstöße wenigstens mit ihren Mi-
nisterpräsidenten abgesprochen haben. Denn Bildung ist
und bleibt trotz allem die Kernaufgabe der Bundeslän-
der. Eben deshalb haben wir mit dem Hochschulpakt ein
System geschaffen, in dem Bund und Länder gemeinsam
die Finanzierung neuer Studienplätze sicherstellen. Jede
Veränderung des Paktes hätte damit auch unmittelbare
Auswirkungen auf die Haushalte aller Bundesländer.
Dieser Idee liegt auch das von Bund und Ländern ge-
meinsam vereinbarte System zur Finanzierung des
Hochschulpaktes zugrunde. Dieser wird nach zwei Jah-
ren nachlaufend finanziert, weil dann die Immatrikula-
tionszahlen feststehen und Mittel nicht aufgrund von
Schätzungen verteilt werden müssen.
Der Hochschulpakt I hat seinen Lackmustest im Übri-
gen eindrucksvoll bestanden. 90 000 Studienplätze wa-
ren geplant, mehr als das Doppelte, 82 000, wurden fi-
nanziert. Wir haben mit diesem flexiblen und atmenden
System einen Weg gefunden, mit den Unwägbarkeiten
bei der Finanzierung neuer Studierendenzahlen umzuge-
hen. Derzeit ist noch gar nicht abzusehen, dass die
335 000 zusätzlichen Studienplätze vor 2014 überschrit-
ten werden. Aufgrund bisheriger Berechnungen der
KMK ist zwischen Bund und Ländern ein Gesamtdeckel
vereinbart worden. Sollte dieser erreicht werden, müss-
ten beide Seiten neu verhandeln. Vorher aber müssen
alle Länder nachweisen, dass sie die Hochschulpaktmit-
tel auch tatsächlich für neue Studienplätze eingesetzt ha-
ben.
Ich darf Sie daran erinnern, dass diese Regierung den
Etat des BMBF um satte 54 Prozent gesteigert hat. Wir
unterstützen die Studierenden in Deutschland bei der Fi-
nanzierung ihres Studiums in diesem Jahr mit mehr als
1,7 Milliarden Euro. Damit haben wir die Förderung in
diesem Bereich im Vergleich zu Rot-Grün im Jahr 2005
um mehr als 53 Prozent ausgebaut. Wir arbeiten am Er-
reichen des 10-Prozent-Ziels und an der Weiterentwick-
20424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
lung Deutschlands zu einer Bildungsrepublik, die jeder
bzw. jedem gerecht wird.
Die Ergebnisse können sich sehen lassen: nicht nur
mit Rekorden bei den Studienanfängerzahlen und bei der
Studierquote, sondern auch und gerade bei jungen Men-
schen aus bildungsfernen Schichten. Die letzte Studie
des HIS hat gezeigt, dass die Studierquote in dieser
Gruppe um 6 Prozent überproportional angestiegen ist,
während die Studierquote bei Kindern aus bildungsna-
hen Schichten „nur“ um 3 Prozent stieg.
Nun hat gerade die SPD sich in der vergangenen Zeit
mit wenig kreativen Versuchen hervorgetan, den SPD-
Finanzministern in den Bundesländern neue Einnahme-
quellen zu verschaffen. Ich darf Ihnen zwei Beispiele
nennen. Im Antrag 17/4187 hat die SPD verlangt, dass
der Bund von geschätzten 20 Milliarden Euro zur Errei-
chung des 10-Prozent-Zieles ab 2015 zugunsten der
Kommunen und Länder mindestens 10 Milliarden zu-
sätzlich übernimmt. Das alles aber „unbeschadet der fö-
deralen Zuständigkeiten“. Mit dieser Initiative ist die
SPD natürlich prompt gescheitert. An ihrem wirklich
durchsichtigen Manöver, die Bildungspolitik als Vehikel
für einen neuen Finanzausgleich zu nutzen, hat sich aber
nichts geändert. Dafür hat sich ja sogar ihr Fraktionsvor-
sitzender hergegeben. Die SPD bewegt offenbar nur eine
Frage: „Wie bekommen wir mehr Geld vom Bund in die
Länder?“, und nicht etwa „Wie schaffen wir ein ver-
gleichbares, leistungsstarkes und gerechtes Bildungssys-
tem in Deutschland?“ Lieber basteln Sie an einem neuen
Art. 104 c, anstatt die Probleme und Ungerechtigkeiten
in der Bildungspolitik zu beseitigen. Mit einem solchen
Artikel wird jedenfalls kein Impuls gesetzt, die Länder
dazu zu bringen, endlich für gemeinsame Standards,
mehr Mobilität und mehr Vergleichbarkeit, letztlich also
für mehr Gerechtigkeit in der Bildungspolitik zu sorgen.
Und nur Bundesgelder in SPD-geführte Länder zu flu-
ten, die mit ihrer Unfähigkeit aufgefallen sind, einen ver-
fassungsgemäßen Haushalt vorzulegen, das ist bildungs-
politisch dann doch ein bisschen wenig.
Kollege Schultz, der Vertreter des Landes Schleswig-
Holsteins, hat im Fachgespräch zur Bund-Länder-Ko-
operation auf die Bedeutung von Bildungsmindeststan-
dards hingewiesen, und auch Professor Prenzel hat es in
der Anhörung deutlich gesagt: „Die durchschnittlichen
Abstände zwischen den Ländern in Deutschland haben
sich seit 2000 nicht verringert. Dies gilt auch für Länder-
vergleiche der an den Gymnasien erzielten Leistungen.
Im Extremfall erreichen die Abstände eine Größenord-
nung von durchschnittlich ein bis eineinhalb Schuljah-
ren.“ Er hat auch auf die extreme Bedeutung von Stan-
dards und Vergleichbarkeit hingewiesen, wenn es um die
Verbesserung des Bildungssystems geht: „Vielmehr fin-
den sich Hinweise darauf, dass die deutlich früher
erfolgte Einführung von Maßnahmen zur Qualitätssiche-
rung, zum Beispiel Bildungsstandards, Vergleichsarbei-
ten, Schulevaluationen, das Qualitätsbewusstsein an
Schulen geschärft und Aufmerksamkeit auf die Förde-
rung schwächerer Schülerinnen und Schüler gerichtet
hat.“ Aber die SPD ignoriert diese Probleme und glaubt,
mit der trivialen Forderung nach mehr Geld für die Län-
der dieses Defizit an bildungspolitischem Durchblick
einfach zuschütten zu können.
Wir wollen unsere Bildungspolitik verantwortungs-
voll und nachhaltig gestalten und uns nicht in ideologi-
schen Debatten und dem Auftun neuer Geldquellen für
marode Landeshaushalte erschöpfen. Noch nie gab es so
viele junge studierende Menschen in Deutschland. Noch
nie wurden so viele vom Bund und von den Ländern ge-
fördert, und das ist auch gut so.
Florian Hahn (CDU/CSU): Gerne und unermüdlich
beziehen wir nun zum wiederholten Male Stellung zu
den Anträgen der Opposition zum Thema Hochschul-
pakt Plus.
Die Schaffung von mehr Studienplätzen liegt nicht nur
der SPD am Herzen, sondern auch der CDU/CSU. Dass
die Regierung so viel wie noch keine andere Regierung
zuvor für die Bildung in unserem Land getan hat, liegt auf
der Hand. Noch nie gab es so viele junge studierende
Menschen in Deutschland. Und noch nie wurden so viele
gemeinsam von Bund und Ländern gefördert. Für Bayern
bedeutet dies konkret, dass die Zahl von 49 000 Studien-
berechtigten im Jahr 2007 auf 83 000 Studienberechtigte
im Jahr 2011 gestiegen ist.
Wir haben einen Rekordetat für den Bildungsbereich
möglich gemacht: Wir sind auf dem besten Weg, das
10-Prozent-Ziel zu erreichen. Wir haben dem Qualitäts-
pakt für die Lehre zusätzliche 2 Milliarden Euro an Bun-
desgeldern zugeführt.
Mit all diesen Punkten verbessern wir auch die Situa-
tion der Studierenden und der Universitäten nachhaltig.
Und vor allem etablieren wir unser Land als Bildungsre-
publik.
Mit dem Hochschulpakt wurden in der ersten Pro-
grammphase von 2007 bis 2010 182 000 neue Studien-
möglichkeiten geschaffen – das sind doppelt so viele wie
ursprünglich geplant.
Dieser Erfolg – das belegen die Daten des Statisti-
schen Bundesamts – setzt sich in der zweiten Programm-
phase fort. Denn auch im Studienjahr 2011 konnte dank
des Hochschulpakts ein Einschreiberekord an deutschen
Hochschulen verzeichnet werden. Insgesamt nahmen
rund 516 000 junge Menschen ein Studium auf.
Die Bundesregierung hat gezeigt, dass sie flexibel
und handlungsfähig ist und auch auf Herausforderungen,
die gebündelt auftreten, wie die doppelten Abiturjahr-
gänge und die Aussetzung der Wehrpflicht, reagieren
kann.
Auch für die zweite Programmphase haben Bund und
Länder vereinbart, ein bedarfsgerechtes Studienangebot
zu schaffen. Auf der Basis der Zahlen von der KMK
wurden bis zu 335 000 zusätzliche Studienplätze bis
zum Jahr 2015 zugesichert. Dabei stehen für jeden Stu-
dienplatz sogar 4 000 Euro mehr zur Verfügung als in
der ersten Programmphase. Mit dieser Erhöhung leistet
der Bund erneut einen wichtigen Beitrag zur Verbesse-
rung der Qualität der Lehre.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20425
(A) (C)
(D)(B)
Die Forderung der SPD, die Deckelung des aktuellen
Hochschulpakts aufzuheben und einen Hochschulpakt
Plus einzuführen, halte ich deshalb nicht für sinnvoll und
schon gar nicht für durchführbar.
Ich möchte noch einmal wiederholen, dass wir in der
ersten Programmphase doppelt so viele Studienplätze
geschaffen haben, als geplant waren. Die Regierung hat
somit eindrucksvoll bewiesen, dass sie in kürzester Zeit
ein Vielfaches an neuen Plätzen zur Verfügung stellen
kann.
Genau so, wie wir das in der ersten Phase gemeistert
haben, werden wir das auch in der zweiten Phase lösen.
Wir haben immer gesagt: Wenn es mehr Studienplätze
bedarf, finanzieren wir diese auch. Dies ist aber noch
nicht der Fall. Ich bitte Sie deshalb, nicht im Vorfeld die
Pferde scheu zu machen und Lösungen für Probleme zu
suchen, die so noch gar nicht existent sind.
Außerdem: Selbst wenn wir uns über verfassungs-
rechtliche Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern
hinwegsetzten und einen „Hochschulpakt Plus“ verab-
schiedeten, vermute ich, dass vor allem die hoffnungslos
verschuldeten Landesregierungen der SPD überfordert
wären. Diese müssten ja schließlich die Studienplätze
zur Hälfte mitfinanzieren.
Die Forderungen der SPD werden nur noch von den
Grünen getoppt, die einen äußerst bunten Strauß an
politischen Wünschen in ihrem Antrag zusammenge-
schrieben haben. Diese reichen vom Ausbau der Master-
studiengänge bis zur didaktischen Weiterbildung des
wissenschaftlichen Lehrpersonals, natürlich alles von-
seiten des Bundes. Sinnvolle Finanzierungsvorschläge
oder auch nur die Beachtung des föderalen Systems un-
seres Landes habe ich in dem Antrag vergeblich gesucht.
Ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal an die
Beschlüsse von Bologna erinnern: Wie Sie alle wissen,
betont die Bologna-Reform ausdrücklich, dass in einem
System gestufter Studiengänge der Bachelorabschluss als
erster berufsqualifizierender Abschluss den Regelab-
schluss darstellt und somit für die Mehrzahl der Studie-
renden direkt in die Arbeitswelt führen soll. Der Master-
abschluss muss als zusätzlicher, jedoch nicht als regulärer
Abschluss betrachtet werden.
Abgesehen davon haben die Länder, laut BMBF,
durch Erhebungen festgestellt, dass rechnerisch für je-
den interessierten Bachelor heute ein Masterstudienplatz
zur Verfügung steht.
Den Anträgen der Opposition kann ich daher nicht
zustimmen.
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Wir Sozialdemokra-
tinnen und Sozialdemokraten haben bereits im Oktober
des letzten Jahres ein Konzept für einen Hochschulpakt
Plus vorgelegt. Wir wollen den bestehenden Hochschul-
pakt ausbauen und fortentwickeln. Denn es ist offen-
sichtlich, dass der Hochschulpakt, den wir vor einigen
Jahren gemeinsam mit der Union verabschiedet haben,
gewissermaßen von seinem eigenen Erfolg überrollt
wird. Es gibt viel mehr Studieninteressierte, viel mehr
Nachfrage nach Studienplätzen, als die Länder an Ange-
bot finanzieren können. Darum schlagen wir in unserem
Konzept vor, dass kurzfristig mindestens 50 000 zusätz-
liche Studienplätze finanziert werden müssen.
Zudem wollen wir, dass bereits jetzt die nächste
Phase des Hochschulpaktes ab 2016 zwischen Bund und
Ländern vereinbart wird, damit die Hochschulen und die
wissenschaftlich Beschäftigten Planungssicherheit erhal-
ten. Denn Studienplätze, die dafür nötigen Investitionen
und Personalkapazitäten lassen sich nicht von heute auf
morgen schaffen.
Für diese nächste Phase wollen wir auch einige Struk-
turänderungen in den Pakt einbauen. Das ist das Plus,
das wir zur Diskussion stellen. Die zwei wichtigsten
Punkte will ich hier benennen.
Wir sehen, dass es immer größere Schwierigkeiten
nicht nur beim Angebot für Studienanfänger, sondern
auch bei Masterstudienplätzen gibt – und künftig noch
mehr geben wird. Wir wollen aber nicht eine Verengung
auf wenige Elite-Master, sondern allen Bachelorabsol-
venten muss der Weg zum Master offenstehen.
Und wir wollen einen Anreiz für gute Lehre geben.
Bislang finanzieren wir ja lediglich die neuen Studieren-
den. Was dann nach dem Studienantritt passiert, ob sie
schnell scheitern oder erfolgreich zum Abschluss geführt
werden – das liegt außerhalb des Paktes. Das wollen wir
ändern. Es muss auch in finanzieller Hinsicht einen
Unterschied machen, ob die Studierenden gut betreut
werden, ob sich die Hochschulen um gute Lehre bemü-
hen oder nicht. Darum wollen wir einen Abschlussbonus
einführen, den alle Hochschulen für jeden erfolgreichen
Abschluss erhalten. Das setzt dann auch zusätzliche
Mittel frei, mit denen die Lehre weiter verbessert werden
kann.
Was hat nun die Koalition aus CDU/CSU und FDP
mit unserem Antrag gemacht? Ich habe ja nun nicht er-
wartet, dass die Koalition mit Begeisterung zustimmt.
Aber wenigstens als Denkanstoß hätte sie unser Konzept
behandeln sollen. Stattdessen heißt es immer wieder be-
schwichtigend, dass doch alles in Ordnung sei und man
nichts tun müsse. Das war schon der Umgang mit unse-
rem Antrag zur Reaktion auf die Aussetzung der Wehr-
pflicht, und das ist jetzt wieder der Fall.
Die tatsächliche Entwicklung jedoch gibt uns recht –
und zwingt die Bundesregierung dann doch, auf die
Schnelle Maßnahmen zu ergreifen. Auch das war bei der
Frage Wehrpflicht so, und das ist auch hier der Fall.
Inzwischen nämlich liegt eine neue Studienanfänger-
prognose der Kultusministerkonferenz vor, die unsere
Grundaussage, dass der Hochschulpakt ausgeweitet wer-
den muss, bestätigt. Die Koalition lehnt unseren Antrag
ab. Aber die Bundesregierung wird sich gleichwohl dem
Gedanken neuer Verhandlungen mit den Ländern nähern
müssen. Ein ums andere Mal muss man Frau Schavan
zum Jagen tragen!
Das Problem dabei ist, dass die eingetretene Verspä-
tung erhebliche Verunsicherung der Hochschulen, des
wissenschaftlichen Personals und der Studieninteressier-
ten schafft. Kurzfristige Finanzierungen sind nicht
20426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
immer optimal; besser zur Zielerreichung ist die ange-
sprochene Planungssicherheit.
Zudem verhindert die Realitätsverweigerung mit an-
schließender Hektik des Nachbesserns natürlich, dass
auch über Strukturprobleme in Ruhe und zielgerichtet
gesprochen werden kann. Die Aktivitäten der Bundes-
regierung bleiben Stückwerk.
Aber es gibt noch ein weiteres, ein fundamentales
Problem: Frau Schavan hat einfach nicht genügend
Geld. Finanzminister Schäuble stellt es nicht zur Verfü-
gung. Die mittelfristige Finanzplanung kann gerade so
die gröbsten Löcher beim Hochschulpakt stopfen. Doch
sie sieht keine Vorsorge für eine ordentliche Ausweitung
des Hochschulpaktes vor. Nach dem Wahljahr 2013 soll
gar nichts mehr dazukommen. Das Problem kippt sie
dann denen, die danach regieren, vor die Füße. Gleich-
zeitig hat die Koalition übrigens just heute eine Steuer-
entlastung vornehmlich für Spitzenverdiener in Höhe
von 6 Milliarden Euro beschlossen!
Wir haben nicht nur das Konzept für einen Hoch-
schulpakt Plus, sondern auch für die Finanzierung von
zusätzlichen Investitionen in Bildung, alleine vom Bund
im Umfang von 10 Milliarden Euro. Mithilfe dieses
Konzeptes können und werden wir dann gemeinsam mit
den Ländern einen ausgeweiteten und verbesserten
Hochschulpakt verwirklichen.
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Um noch ein-
mal daran zu erinnern: Der Bund finanziert die Bildung
in Deutschland zu 16 Prozent, die Kommunen zu 20 Pro-
zent und die Länder zu 64 Prozent. Ebendiesen beiden
Hauptfinanziers von Bildung, den Ländern und den
Kommunen, wollen Sie mit ihrem Steuerentlastungs-
gesetz einmal mehr die Milliarden Euro entziehen, die
wir in der Debatte um mehr Bildung, gleiche Bildungs-
chancen und gleiche Bildungszugänge in Deutschland so
dringend brauchen. Ihr Steuerentlastungsgesetz entzieht
den Ländern glatte 2,5 Milliarden Euro. Kein Wunder,
dass die Länder hier gegenhalten, wenn sie doch gleich-
zeitig die Verantwortung für die Studienbedingungen ge-
nauso wie auch für die Schulbedingungen ernstnehmen
sollen und wollen, wie wir es uns alle hier wünschen.
Weil man es nicht häufig genug sagen kann, will ich
es hier noch einmal wiederholen: 50 000 zusätzliche
Studienanfängerplätze erfordern 1,3 Milliarden Euro
durch Bund und Länder. Auch deshalb ist es gut, wenn
sich die Länder dagegen wehren, jetzt eine Steuersen-
kung auf Pump zu finanzieren, wo sie die Mittel, die
damit zusätzlich für die Zinsen ausgegeben werden
müssen, jetzt doch so dringlich für die Studienanfänger-
plätze und die bessere Ausstattung der Hochschulen
brauchen könnten. Das ist Politik paradox, was Sie hier
veranstalten.
Dieses Verhalten von CDU/CSU und FDP ist auch
deshalb umso unverantwortlicher, weil wir doch gemein-
sam feststellen müssen, dass sich die staatlichen Stellen
wie die Kultusministerkonferenz oder auch der Wissen-
schaftsrat in Bezug auf den Bedarf an Studienanfänger-
plätzen gewaltig verschätzt haben. Nicht, dass wir dieses
beklagen wollten; denn es ist gut, wenn wir in Deutsch-
land keine Stimmen mehr hören, die von einer Studie-
rendenschwemme sprechen, sondern im Gegenteil alle
verantwortlichen Politiker, die übrigen Kräfte in Wirt-
schaft, bei Gewerkschaften und an den Hochschulen
froh darüber sind, dass sich so viele junge Menschen für
ein Studium entscheiden. Aber die Kultusministerkonfe-
renz und die Wissenschaft haben sich in ihren Prognosen
so massiv zusammen mit dem Bund verschätzt, dass da-
raus jetzt auch Konsequenzen zu ziehen sind.
Ganz konkret, so wie wir es in unserem Antrag gefor-
dert haben: Bund und Länder müssen die Finanzierung
der Studienplätze neu kalkulieren. Nach den neuesten
Prognosen werden bis 2025 weit mehr als 400 000 Stu-
dienanfänger zu versorgen sein. Das ist auch deshalb ein
fundamentaler Unterschied, weil bis dahin die verant-
wortlichen Stellen davon ausgegangen waren, dass der
Studierendenandrang lediglich bis 2015, also bis zur
zweiten Phase des Hochschulpaktes, anhalten werde und
danach ein rapider Rückgang die Hochschulen entlasten
könnte. Dieses wird nicht geschehen.
Ganz im Gegenteil: Es zeichnen sich neue Rekord-
zahlen ab. 2011 wurden rund 515 000 Studienanfänger
gezählt. 2013 sollen es rund 490 000 sein. 2016 wird mit
rund 470 000 gerechnet. Bis 2019 soll danach das Ni-
veau lediglich auf 450 000 absinken. Mit einem Absin-
ken auf die Zahl, die im Jahr 2010 angenommen wurde,
nämlich rund 440 000, sei dagegen frühestens 2020 zu
rechnen.
Damit kommt aber nicht nur auf die Länder und den
Bund in gemeinsamer Verantwortung, sondern auch auf
die Hochschulen eine gewaltige Dauerleistung zu.
An dieser Stelle ist seitens der SPD-Bundestagsfrak-
tion den Hochschulen, allen Hochschullehrerinnen und
-lehrern und den übrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
tern ausdrücklich eine hohe Anerkennung auszuspre-
chen, denn es ist nicht zuletzt ihre Leistung, die wach-
senden Studierendenzahlen dennoch unter sehr
schwierigen Bedingungen so gut es eben geht zu bewäl-
tigen und gleichzeitig auch möglichst vielen Studieren-
den einen guten Studienverlauf, eine gute Qualität, einen
Studienabschluss und insgesamt eine befriedigende Stu-
dienzeit zu ermöglichen. Nur, umso mehr sind wir jetzt
seitens der politisch Verantwortlichen verpflichtet, uns
auf diese neuen Bedingungen an den Hochschulen mit
einzustellen und das Notwendige zu veranlassen.
Diese Notwendigkeiten will ich gerne in den folgen-
den Punkten präzisieren, ganz in der Linie des von uns
bereits im Oktober 2011 eingebrachten Antrages „Für ei-
nen Hochschulpakt Plus“.
Erstens. Der Bund muss alles tun, damit die Länder
auskömmlich finanziert bleiben und ihren Beitrag zum
Hochschulpakt und der 50-prozentigen Finanzierung der
26 000 Euro pro Studienanfängerplatz mit leisten und
auch zusätzliche Kapazitätsverbesserungen im Personal
wie in den Bedingungen bis hin zur Ausstattung und zu
den Baulichkeiten vornehmen können. Ohne starke Län-
derfinanzen gibt es auch keine starken und guten Hoch-
schulen. Dabei ist es nur vernünftig, wenn die Studien-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20427
(A) (C)
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anfängerzahlen entsprechend wachsen. Hier sollte man
von der ursprünglichen Platzkalkulation abgehen und die
Mittel aus dem Hochschulpakt so vorziehen, dass diese
Studienanfängerplätze zeitnah entstehen können.
Zweitens. Niemand sollte sich allerdings vormachen,
dass es zu einem schnellen Rückgang von Studienanfän-
gerbedarfen kommen kann. Deshalb muss bei den jetzt
beginnenden Verhandlungen zum Hochschulpakt III ein
hohes Studierendenanfängerpotenzial auch bis zum
Jahre 2020 objektiv eingerechnet werden.
Die Verhandlungen zu diesem Hochschulpakt III
haben im Übrigen unverzüglich zu beginnen, weil alle
wissen, dass solche Pakte ihre Vorläufe brauchen und die
Verhandlungen in der Gesamtgemengelage sehr schwie-
rig werden können. Gleichzeitig brauchen die Studieren-
den, ihre Familien wie die Hochschulen Vertrauen, was
nach dem Abschluss der zweiten Phase geschieht. Denn
nur mit Vertrauen auf Stabilität und mehr Unterstützung
für die Hochschulen lässt sich die absehbare Höchstleis-
tung, die von den Hochschulen insgesamt erwartet wird,
auch erbringen.
Drittens. Wenn das Kriterium der Studienanfänger-
plätze in der beginnenden Expansion der Studienan-
fängerzahlen das Richtige war, so kommt in der nächsten
Phase des Hochschulpaktes entscheidend dazu, auch den
wachsenden Bedarf an Masterstudienplätzen abzubilden
und insgesamt den ganzen Studienverlauf in die Förde-
rung einzubeziehen. Die SPD kann nur noch einmal
nachdrücklich fordern, dass die Hochschulen und die
Landesregierungen sich einen sehr genauen, sehr objek-
tiven Überblick verschaffen, wie der Übergang in den
Masterstudiengang tatsächlich genutzt wird und was
alles getan werden muss, um hier den Rechtsanspruch
auf einen Zugang zu einem Masterstudienplatz bei
jedem interessierten Studierenden auch zu ermöglichen.
Damit ist ganz klar gesagt: Es soll einen Rechtsanspruch
auf eine Fortsetzung des Studiums aus dem Bachelor in
den Master hinein geben, nicht aber einen Rechtsan-
spruch, einen ganz bestimmten Studiengang an jeder
beliebigen Hochschule der eigenen Wahl fortsetzen zu
können.
Viertens. 26 000 Euro sind ein guter Durchschnitts-
wert, der ganz verschiedene Studienanfängerplätze in
sich einschließt. Wir erwarten für die Verhandlungen
zum Hochschulpakt III, dass die Bedarfssätze hierbei
auch Differenzierungen mit zulassen, damit Hochschu-
len davon abgehalten werden, aufwendigere Studien-
gänge, zum Beispiel im Bereich der Medizin oder auch
der Ingenieurwissenschaften, bei denen hohen Labor-
kosten anfallen können, zurückzustellen. Denn gerade in
diesen beiden Fachgebieten würde sonst ein Fachkräfte-
mangel in der Zukunft besonders dramatisch eintreten.
Fünftens. Mehr Studienanfänger und mehr Studie-
rende heißt auch ein höherer Bedarf an Hochschulbau-
ten – die offene Frage aus der Föderalismusreform 2006,
in welchem Umfang die Hochschulbauten weiter geför-
dert werden, kann im Interesse der Studierenden nur so
beantwortet werden, dass die Mittel für den Hochschul-
bau keinesfalls kurzfristig unter das aktuelle Niveau von
695 Millionen Euro sinken dürfen, wenn wir uns die
Phase bis 2020 ansehen, zunächst einmal aus Kapazitäts-
gründen und dann auch aus Qualitätsgründen. Die
Bundesregierung ist hier nachdrücklich aufgefordert, ge-
genüber den Ländern nicht zu mauern, sondern dafür
Sorge zu tragen, dass es ein hohes weiteres Finanzie-
rungsniveau für den Hochschulbau gibt und Mittel, die
an die Länder gehen, in diesen auch vorrangig für den
Hochschulbau mit eingesetzt werden.
Sechstens. Bei der Einbringung des SPD-Antrages
wurde in der Debatte speziell vonseiten der konservati-
ven Abgeordneten mit großer Skepsis aufgenommen,
dass die SPD auch die Förderung von Abschlüssen als
eine Berechnungsgröße in den neu zu verhandelnden
Hochschulpakt mit einbeziehen wollte. Wir haben mitt-
lerweise feststellen können, dass dieser Vorschlag durch-
aus auch aus den Hochschulen und der Wissenschaft
selbst Unterstützung erfährt. Nicht als alleiniges Krite-
rium, sondern als ein Mischkriterium, so wie es wichtig
ist, dass möglichst viele junge Leute studieren können,
aber auch von diesen möglichst viele zu einem erfolgrei-
chen Abschluss gebracht werden. Wir können die Bun-
desregierung nur noch einmal ausdrücklich auffordern,
diese komplexere Steuerungsgröße auch in die Verhand-
lungen für einen Hochschulpakt III mit einzubringen.
Denn es ist doch im Interesse aller, wenn die Abbruch-
quote von rund 25 Prozent über eine solche Steuerungs-
größe, aber auch über eine Verbesserung der Lehre und
auch eine verbesserte Beratung und solide Begleitung
der Studierenden energisch in Angriff genommen wird.
Siebtens. Mehr Studierende heißt auch mehr soziale
Bedarfe, angefangen vom BAföG über den Ausbau von
Studierendenwohnungen bis hin zur Studienberatung.
Die SPD hat hierzu schon an anderer Stelle Anträge ein-
gebracht und kann nur die steten Hinweise des Deut-
schen Studentenwerkes, aber auch der Studierendenver-
einigungen und der Asten nachdrücklich unterstreichen,
die einen Hochschulpakt Plus, einen wirklichen Pakt für
die Studierenden, durch eine soziale Absicherung und
eine soziale Unterstützung begleitet sehen wollen. Wer
hier spart und sein Profil alleine in dem Aufbau eines
minimalen Deutschlandstipendiums sucht, wie es leider
bei CDU, CSU und FDP der Fall ist, hat nicht begriffen,
was Studium heißt und welche Sorgen auch zunehmend
die Studierenden aus diesen sozialen und persönlichen
Gründen haben.
Das Fazit also ist: Wir haben in Deutschland in den
Ländern und beim Bund mit der Sicherung der Hoch-
schulen in ihrer Fähigkeit, der wachsenden Zahl von
Studierenden ein gutes Studium zu ermöglichen, für die
nächsten zehn Jahre eine wirkliche Herkulesaufgabe vor
uns. Diese sollte sich dann allerdings auch in den
Finanzplanungen der Bundesregierung widerspiegeln.
Hier ist jedoch lauter Alarm angesagt. Wenn Sie sich
die bekannt gewordenen Eckwerte für den Haushaltsplan
2013 und vor allem für die Haushaltspläne 2014, 2015
und 2016 in der mittelfristigen Finanzplanung ansehen,
dann muss Ihnen allen klar sein: So wie die Bundesre-
gierung aktuell vorgeht, werden die Hochschulen und
die Bildung insgesamt in der Zukunft vollkommen al-
leingelassen. Zwar soll der Haushalt im Jahr 2013 noch
20428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
einmal wachsen, um dann aber in den Jahren 2014, 2015
und 2016 bei Bildung und Forschung deutlich zu sinken,
nämlich um rund 150 Millionen im Jahr.
Wie dieses mit den zusätzlichen Anforderungen durch
wachsende Studierendenzahlen, durch einen auskömm-
lich finanzierten Hochschulpakt und durch eine nachhal-
tige Qualitätsverbesserung an den Hochschulen zusam-
menpassen kann, das wird sich keinem ernsthaften
Betrachter erschließen. CDU/CSU und FDP wollen in
der nächsten Legislaturperiode offensichtlich Bildung
und Forschung rasieren und damit einen Abbau von Bil-
dung und Forschung vorantreiben.
Im Gegenteil: Wenn man weiß, wie viele Mittel zum
Beispiel durch die große Position im Haushalt wie die
Exzellenzinitiative bis zum Jahr 2017, den Pakt für
Forschung und hier die Leistungen an die großen For-
schungsorganisationen mit jährlichen Steigerungsraten
von 5 Prozent auf deren Gesamtvolumen von aktuell
4,2 Milliarden Euro und eben auch die steigenden Mittel
für den Hochschulpakt und das BAföG gebunden sind,
der kann nur voller Sorge sagen: Mehr Aufgaben und
mehr unabdingbare Anforderungen bei geringeren Mit-
teln, das fährt die Bildungspolitik des Bundes und hier
insbesondere die Hochschulpolitik vollkommen gegen
die Wand. Wir können Sie nur warnen: Halten Sie inne
bei dieser Politik von geplantem Bildungsabbau. Wir
von der SPD haben nicht umsonst ein zusätzliches Volu-
men von 20 Milliarden Euro bei Bund und Ländern für
Bildung und 3 Milliarden Euro für Forschung und Infra-
struktur eingeplant.
Oder kündigen CDU/CSU und FDP hier schon
Eingriffe in das BAföG, Einschränkungen in der Pro-
grammförderung und eine Reduzierung der Mittel für
die notwendigen Studienanfängerplätze und die notwen-
digen Hochschulbauten an? Die Finanzplanung dieser
Bundesregierung jedenfalls zeigt auf, dass sich diese Re-
gierung nur noch bis zum Wahltag hinwegretten will,
aber den vielen Hunderttausend Studierenden und ihren
Familien und auch den Hochschulen keine sichere lang-
fristige Antwort mehr geben kann und geben will.
Dr. Peter Röhlinger (FDP): Bildung und Forschung
sind für unser Land Zukunftsthemen. Wir müssen in
Köpfe investieren; das ist unser wesentlicher Rohstoff.
Wir brauchen Fachkräfte. Im Unterschied zu SPD und
Grünen belässt es die Koalition nicht bei warmen Wor-
ten, sondern sie handelt. Wir haben Jahr für Jahr unsere
Ausgaben für Bildung und Forschung gesteigert. Der
Etat des Einzelplans 30 ist von 2009 auf 2010 um
701 Millionen Euro aufgewachsen, von 2010 auf 2011
um 783 Millionen Euro und nun für das Jahr 2012 erneut
um 454 Millionen Euro. Wir hatten uns vorgenommen,
in dieser Legislaturperiode 12 Milliarden Euro mehr in
Bildung und Forschung zu investieren. Dieses Ziel wer-
den wir nicht nur erreichen, sondern wir werden es deut-
lich überschreiten. Wenn man sich im Vergleich dazu die
Kennzahlen der Regierung Schröder vor Augen hält,
kann man sich nur wundern. Sie haben Grund, sich zu
schämen.
In den Ländern sieht es nicht besser aus. Schaut man
nach NRW, so stellt man fest, dass Frau Krafts Schul-
denberg keineswegs aufgrund zusätzlicher Investitionen
in den Hochschulbereich anwächst. Im Gegenteil: Rot-
Grün lässt die Hochschulen zwischen Aachen und Biele-
feld regelrecht ausbluten. Weniger Seminare, weniger
Tutorien, eingeschränkte Bibliotheksöffnungszeiten sind
Handschrift und Markenzeichen der Wissenschafts-
ministerin. Ähnliches erleben wir zwischen Konstanz
und Mannheim. Grün-Rot will ein neues Bildungssys-
tem, aber zu sehen ist ein Debakel. Hü und Hott beim
neunjährigen Gymnasium, sang- und klanglose Abwick-
lung der beruflichen Gymnasien, floppende Einheits-
schulexperimente, Demontage der Werkrealschulen, gra-
vierende Einnahmeausfälle an den Hochschulen wegen
unzureichender Kompensationsmittel. Dafür dürfen Ba-
den-Württembergs Studierende demnächst mit Zwangs-
beiträgen eine eigene verfasste Studierendenschaft fi-
nanzieren. Damit kann sich das Land, dessen Einwohner
alles können außer Hochdeutsch, demnächst zwischen
den Bildungsleuchten Berlin und Bremen einreihen.
Doch gerade heute ist Handeln notwendig. Der Druck
auf die Hochschulen wächst. Die Zahl der Studierenden
steigt stetig. Der demografisch bedingte Rückgang der
Zahl der Schulabgänger wird in den nächsten Jahren an
den Hochschulen kaum Entlastung bringen, weil die
Hochschulzugangsquote kontinuierlich steigt. Noch nie
war ein Hochschulstudium so attraktiv wie heute. Im Er-
gebnis ist das ausgesprochen erfreulich. Doch dieser
Umstand erfordert umsichtiges Handeln. Wir sehen die
Notwendigkeit, die Länder beim Ausbau der Hochschu-
len und bei der Verbesserung der Hochschullehre zu un-
terstützen. Die Bundesregierung übernimmt Verantwor-
tung. Mit dem Hochschulpakt und dem Qualitätspakt
Lehre fließen seit Jahren Milliardenbeträge in den tertiä-
ren Bildungssektor. Das ist richtig und notwendig. Wenn
Bund und Länder die Finanzierung der Hochschulen ge-
meinsam bewältigen, wenn sie gemeinsam Kapazitäten
schaffen und die Betreuung verbessern, so ist dies kon-
sequent und richtig. Denn am Ende profitieren Länder
und Bund gleichermaßen von dieser Kraftanstrengung.
Allerdings regt sich Empörung, wenn Länder wie
NRW und Baden-Württemberg zuerst den Hochschulen
die Einnahmen zusammenstreichen und dann mit dem
Finger auf Berlin zeigen, um noch mehr Geld zu fordern.
Mit ihren Anträgen haben Rot und Grün ihre Wunschlis-
ten überreicht: mehr Geld, mehr Studienplätze, keine
Zulassungsbeschränkungen für Studierwillige, keine
Studiengebühren, bessere Studienbedingungen, mehr
Masterstudienplätze, mehr Personal an den Hochschulen
für Lehre und Betreuung und so weiter und so fort. Aber
die Rechnung sollen andere begleichen. Das geht so
nicht.
Die Bundesregierung hat zugesagt, die benötigten
Studienplätze für das inzwischen beendete WS 2011/
2012 und darüber hinaus mitzufinanzieren. Wir brau-
chen Fachkräfte, und wir wollen sie ausbilden. Aber
auch die Länder müssen ihren Teil dieser Aufgabe erle-
digen. Das gilt sowohl im Hinblick auf den Ausbau von
Studienplatzkapazitäten als auch im Hinblick auf Ver-
besserungen bei der Personalausstattung für Lehre und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20429
(A) (C)
(D)(B)
für die Betreuung der Studierenden. Mit dem Hoch-
schulpakt und mit dem Qualitätspakt Lehre sind wir auf
einem sehr gutem Weg. Den bunten Strauß an Forderun-
gen der versammelten Opposition unterstützen wir nicht.
Nicole Gohlke (DIE LINKE): Ein paar Häuser-
blöcke entfernt sitzt die Studierendenvertretung der
Humboldt-Universität, der sogenannte ReferentInnen-
Rat, und heute wie jeden Donnerstag beraten dort zwi-
schen 12 und 15 Uhr Studierende Bewerberinnen und
Bewerber, die keinen Studienplatz erhalten haben. Im
letzten Sommer haben sich 29 000 Menschen an der HU
beworben. Studienplätze gibt es gerade einmal 3 316.
Der Studienplatzmangel ist in Berlin besonders drän-
gend, aber er ist kein Berliner Phänomen. Bundesweit
stehen Jahr für Jahr Zehntausende vor den verschlosse-
nen Türen der Hochschulen.
Die Beraterinnen und Berater in der Humboldt-Uni
empfehlen den erfolglosen Bewerbern eine Studienplatz-
klage. Das funktioniert häufig auch, denn ein Studium
aufzunehmen, ist ein Grundrecht, das man eigentlich
nicht so einfach einschränken darf. Eigentlich. In der
Realität sind die Zulassungsverfahren längst nicht mehr
nur dafür da, mit einer lokalen Übernachfrage klarzu-
kommen oder statistische Ausreißer zu bewältigen. Im
Gegenteil: Die Hochschulen sind chronisch unterfinan-
ziert, es gibt einen strukturellen Studienplatzmangel, und
den gibt es bundesweit.
Nach heftigen Protesten von Schülerinnen und Schü-
lern und Studierenden hat sich dann auch die Bundesre-
gierung mit dem Hochschulpakt ein Stückchen bewegt.
Aber auf halber Strecke sind Sie stehen geblieben.
275 000 Studienplätze – oder 334 000 inklusive Ausset-
zung der Wehrpflicht – wollen Sie bis 2015 schaffen.
Dass das nicht reicht, hat im Januar sogar die KMK
bemerkt. Nun haben Sie letzte Woche im Kabinett noch
einmal auf circa 300 000 nach oben korrigiert. Aber wir
alle wissen doch, dass an den Hochschulen de facto über
500 000 Studienplätze fehlen. Sie müssten also in den
nächsten acht Kabinettssitzungen noch einmal die glei-
chen Beschlüsse fassen, dann würde es am Ende reichen.
Wir fordern in unserem Antrag: Lassen Sie die jetzi-
gen Schulabgängerjahrgänge nicht im Regen stehen, und
stocken Sie den Hochschulpakt sofort auf mindestens
500 000 neue Studienplätze auf! Fangen Sie endlich an,
realistisch zu rechnen!
Sie alle fordern in Sonntagsreden bessere Studien-
bedingungen. Aber wo soll die Qualität in der Lehre
herkommen unter Bedingungen von jahrelanger Unter-
finanzierung? In den vergangenen 15 Jahren wurden
rund 1 500 Professuren abgewickelt. Der Betreuungs-
schlüssel zwischen Hochschullehrerinnen und Hoch-
schullehrern und Studierenden liegt bei 1 zu 60. Qualifi-
zierte Stellen werden mehr und mehr abgebaut und
durch schlechtbezahlte und befristete Lehrbeauftragten-
stellen ersetzt. Unter diesen Bedingungen kann keine
gute Lehre stattfinden. Die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler müssen dringend raus aus den prekären
Beschäftigungsverhältnissen; ihnen muss die Möglich-
keit gegeben werden, ihr Leben planen zu können und
nicht von einem Vertrag zum nächsten bangen zu müs-
sen.
Wir brauchen dringend mehr Geld für die Grund-
finanzierung der Hochschulen. Bringen Sie also endlich
mehr Geld ins System und nicht nur schöne Worte in
Ihre Sonntagsreden!
Und hören Sie auf, die Verantwortung an die Länder
abzuschieben! Die Länder alleine werden das nicht
schaffen; das wissen Sie ganz genau. Der Ausbau der
Hochschulen ist nur zu bewältigen, wenn Bund und Län-
der an einem Strang ziehen. Heben Sie endlich das
Kooperationsverbot in der Bildung auf, und machen Sie
den rechtlichen Weg frei für eine dauerhafte Förderung
der Hochschulen, indem Sie Ihre unselige Föderalismus-
reform von 2006 wieder zurückdrehen!
Die Grundgesetzänderung, die Sie sich im Koalitions-
ausschuss überlegt haben, bringt an dieser Stelle über-
haupt nichts. Sie wollen nur Einrichtungen an Hoch-
schulen fördern, nicht die Hochschulen selbst. Damit
verstetigen Sie die Exzellenzinitiative und das Auseinan-
derdriften der Hochschullandschaft in wenige Elite-
leuchttürme und den unterfinanzierten Rest – die Stu-
dierenden haben rein gar nichts davon. Einer solchen
Änderung wird die Linke auf keinen Fall zustimmen.
Sie sind als Bundesregierung noch an einem zweiten
Punkt am Zug. Denn die Hochschulzulassung selbst liegt
in der Hand des Bundes. Das Zulassungschaos ist Pro-
dukt Ihrer Untätigkeit, weil die Regierung sich weigert,
einen Gesetzentwurf vorzulegen. Raffen Sie sich endlich
einmal aus Ihrer Untätigkeit auf! Hier geht es nicht um
irgendetwas, hier geht es um die Perspektiven der jungen
Generation!
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
heutige Debatte ist notwendig, weil die Hochschulen in
der vermeintlichen Bildungsrepublik Deutschland drin-
gend stärker als bisher ausgebaut werden müssen.
Die neue Studienanfängerinnen- und Studienanfän-
gerprognose der Kultusministerkonferenz, KMK, vom
24. Januar dieses Jahres ist hochschulpolitisch erfreulich
und alarmierend zugleich: Allein in den kommenden
drei Jahren – also innerhalb der aktuellen Laufzeit des
Hochschulpakts bis 2015 – erwartet die Kultusminister-
konferenz 357 000 Studienanfänger mehr als bisher
angenommen. Diese 357 000 Lebens-, Zukunfts- und
Bildungschancen sind in den Hochschulpaktplanungen
weder vorgesehen noch ausfinanziert. Dabei ist mehr als
eine Verdopplung der bisherigen Zahlen notwendig –
sowohl bei den Studienanfängerinnen und Studienanfän-
gern als auch beim Volumen des Hochschulpaktes.
Die KMK hat zudem klargemacht: Aus dem oft be-
schriebenen kurzzeitigen „Studierendenberg“ entwi-
ckelt sich ein dauerhaftes „Studierendenhochplateau“.
Der zwischen Bund und Ländern vereinbarte Hochschul-
pakt ist dafür nicht ausgerüstet, sondern benötigt eine
kräftige Aufstockung. Diese Herausforderung muss die
Bundesregierung zügig angehen und endlich Vorsorge
fürs Hochplateau treffen. Andernfalls droht der Hoch-
schulpakt zum Mangelverwaltungspakt zu verkommen.
20430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
Dynamisierung nach oben statt Deckelung auf zu niedri-
gem Niveau – das ist das Gebot der Stunde, um derzeiti-
gen und kommenden Studienberechtigtengenerationen
einen Studienplatz bereitzustellen.
Darüber hinaus ist es unser Ziel und gehen wir davon
aus, dass aus Studienanfängerinnen und Studienanfän-
gern keine Studienabbrecherinnen und Abbrecher, son-
dern Bachelorabsolventinnen und -absolventen und
mehrheitlich Masterstudierende werden. Daher braucht
der Hochschulpakt endlich eine Langfristperspektive.
Dies bedeutet einerseits, den Pakt um eine Masterkom-
ponente zu ergänzen, und andererseits, eine Verlässlich-
keit und finanzielle Planungssicherheit über 2015 hinaus
herzustellen. Beides fehlt bisher und macht noch offen-
sichtlicher, dass der bisher verabredete Hochschulpakt
hinten und vorne nicht ausreicht, er zu kurz springt und
massiv unterfinanziert ist.
Doch was tut die Bundesregierung, um den Hoch-
schulpakt gemeinsam mit den Ländern so auszurichten,
dass alle Studienberechtigten einen Studienplatz bekom-
men? Traurige Antwort: nichts. Diese schwarz-gelbe
Verweigerungshaltung muss die junge Generation aus-
baden.
Damit führt die Bundesregierung die Ziele des Hoch-
schulpakts ad absurdum, gefährdet Studienchancen,
blockiert die Ausbildung des wissenschaftlichen Nach-
wuchses und schadet unserer Innovationskraft. Schwarz-
gelbe Verweigerungshaltung verfestigt Studienplatzman-
gel – das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Bundesbildungsministerin Schavan hat den Hoch-
schulpakt als „atmendes System“ bezeichnet, welches
sich an den Bedarf anpasst. Nur gibt es keine Anzeichen,
dass die schwarz-gelbe Bundesregierung zu ihrem Wort
steht. Der jetzt vorliegende Eckwertebeschluss des
Haushalts 2013 verdeutlicht das. Für den Hochschulpakt
sollen demnach keine zusätzlichen Mittel bereitgestellt
werden.
Die Bundesregierung scheint zwar einen Mehrbedarf
anzuerkennen, verschiebt aber nur Mittel aus den Jahren
2015 und 2016 ins Jahr 2013. Das ist nicht mehr als ein
Taschenspielertrick. Dass dieses Geld 2015 und 2016
fehlen wird, nimmt Schwarz-Gelb gerne in Kauf. Dann
hat man für die Jahre auch gleich eine Oppositionsstrate-
gie im Ärmel.
Ab dem nächsten Jahr werden die Hochschulpakt-
mittel erschöpft sein. Dann stehen die Länder alleine vor
der Aufgabe, das Studierendenhochplateau zu finanzie-
ren. Die Länder sind aber kaum in der Lage, mehr als
doppelt so viele Studienplätze wie geplant aufzubauen,
zumal sie sich nicht sicher sein können, dass der Bund
zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Nachfinanzierung
bereit ist. Die Strategie der schwarz-gelben Bundesregie-
rung ist klar: Sie will den Hochschulpakt nicht zum
Atmen bringen. Im Gegenteil: Sie will das Studierenden-
hochplateau im Keim ersticken.
Seien Sie sich sicher: Die Studierenden, Hochschulen
und die Opposition in diesem Hause werden weiter für
einen Ausbau kämpfen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
der Siebten Änderung des Übereinkommens
über den Internationalen Währungsfonds
(IWF) (Tagesordnungspunkt 13)
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Mit der heutigen
abschließenden Plenarbefassung und Abstimmung zum
Gesetz zur Siebten Änderung des IWF-Übereinkom-
mens beschäftigen wir uns vom Umfang her mit einem
relativ kurzen Gesetz. Es besteht lediglich aus zwei Arti-
keln. Diese beinhalten zum einen, dass Deutschland der
Siebten Änderung des IWF-Übereinkommens zustimmt,
und zum anderen, dass die Änderungen mit einer amt-
lichen deutschen Übersetzung veröffentlicht werden. Bei
der Änderung des IWF-Übereinkommens handelt es sich
um die Änderung eines völkerrechtlichen Vertrages.
Daher ist es auch folgerichtig, dass der Deutsche Bun-
destag zustimmen muss – das ist im Übrigen im Grund-
gesetz so geregelt. Das Gesetz selbst ist also grundsätz-
lich unstrittig. Was genau verbirgt sich nun hinter den
eigentlichen Änderungen des Übereinkommens?
Konkret geht es um die Zusammensetzung des Exe-
kutivdirektoriums des IWF. Das Exekutivdirektorium
besteht aus 24 Exekutivdirektoren, die für die laufende
Geschäftsführung des Fonds verantwortlich sind. Die
Direktoren wurden bislang von den einzelnen 187 Mit-
gliedsländern, die dem IWF angehören, ernannt bzw.
wurden durch einzelne oder in Stimmrechtsgruppen
zusammengeschlossene Mitgliedsländer gewählt. Dabei
war es so, dass die fünf größten Anteilseigner des Fonds
– bis dato die USA, Japan, Deutschland, Frankreich und
Großbritannien – ihren Exekutivdirektor ernennen konn-
ten und alle anderen Exekutivdirektoren gewählt wur-
den. Zukünftig soll diese Regelung für die fünf größten
Anteilseigner aufgehoben werden, sodass dann alle Exe-
kutivdirektoren des IWF-Direktoriums gewählt werden
müssen. Diese Änderung ist aus Gründen der Gleich-
behandlung der Mitgliedstaaten gerechtfertigt, auch
wenn Deutschland dadurch sein direktes Benennungs-
recht verliert. Gleichwohl gehe ich davon aus, dass
Deutschland aufgrund seines Stimmgewichtes auch wei-
terhin dauerhaft im Exekutivdirektorium vertreten sein
wird.
Des Weiteren werden zwei bisher von Europäern
besetzte Stellen im Exekutivdirektorium in Zukunft von
aufstrebenden Schwellenländern besetzt werden. Europa
wird dann mit 7 von 24 Mitgliedern im Exekutivdirekto-
rium vertreten sein. Dieser Verlust mag schmerzhaft
sein. Er ist aber eine zwangsläufige Folge der wirtschaft-
lichen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten. Die
wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse haben sich in den
letzten 60 Jahren stark verschoben. Die beschlossenen
Veränderungen im Exekutivdirektorium bedeuten daher
auch eine notwendige Stärkung der Legitimität und
Glaubwürdigkeit des IWF.
Die Änderung bei der Zusammensetzung des IWF-
Exekutivdirektoriums ist zudem Voraussetzung für das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20431
(A) (C)
(D)(B)
Inkrafttreten der ebenfalls vom IWF-Gouverneursrat
beschlossenen deutlichen Erhöhung und Umverteilung
der sogenannten Quoten. Alle IWF-Mitgliedstaaten zah-
len bei Beitritt zum IWF eine bestimmte Geldsumme als
eine Art kreditgenossenschaftliche Einlage – die soge-
nannte Quote – und halten somit Anteile am Fondskapi-
tal. Diese Quoten bedingen nicht nur die Einzahlungs-
verpflichtungen und möglichen finanziellen Hilfen, die
Mitgliedstaaten vom Fonds in Krisenzeiten erhalten kön-
nen, sondern auch die Stimmrechte der einzelnen Län-
der. Gestützt auf die relative Größe jedes Mitgliedslan-
des setzt der IWF anhand einer Untersuchung des
Wohlstands und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
die Quote eines jeden Landes fest. Die Quoten werden in
regelmäßigen Abständen überprüft und gegebenenfalls
geändert. Denn auch die wirtschaftlichen Leistungs-
fähigkeiten der einzelnen Länder ändern sich im Laufe
der Zeit. Die Erhöhung und Umverteilung der Quoten ist
Folge einer von den G 20 im Herbst 2010 beschlossenen
Reform des IWF. Ziel war insbesondere, dass sich die
Bedeutung der boomenden und aufstrebenden Schwel-
len- und Entwicklungsländer stärker in der Führungs-
struktur des IWF widerspiegelt, als das bisher der Fall
gewesen ist. Wie bereits eingangs erwähnt, sind aktuell
die größten Anteilseigner immer noch die USA, Japan,
Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Dabei sind
die dynamischen Schwellenländer wie Indien oder China
noch nicht entsprechend berücksichtigt. Mit der Reform
erfolgt nun eine allgemeine Stärkung der regulären
Finanzmittel des IWF. Vor allen Dingen findet aber auch
eine Umverteilung der relativen Kapitalanteile und somit
der Mitspracherechte von den Ländern, die angesichts
ihrer aktuellen weltweiten Wirtschaftskraft im Fonds
überrepräsentiert sind, zugunsten der bisher unterreprä-
sentierten Länder wie China statt. China wird demnach
Deutschland künftig als drittgrößter Anteilseigner ab-
lösen. Die G-20-Reformen wurden vom IWF-Gouver-
neursrat durch Resolutionen beschlossen und sind nun
bis Ende 2012 durch die Mitgliedsländer umzusetzen.
Dazu gehört auch die geänderte Zusammensetzung des
IWF-Exekutivdirektoriums, worüber wir hier heute
befinden.
Lassen Sie mich abschließend noch einige Worte zur
Rolle des IWF allgemein sagen. Traditionell vergibt der
IWF unter bestimmten Bedingungen, wie zum Beispiel
unter Auflage von Strukturanpassungsprogrammen,
befristete Kredite an Länder, die wirtschaftliche Pro-
bleme haben. Solche Programme können beispielsweise
die Kürzung von Staatsausgaben, die Privatisierung von
öffentlichen Einrichtungen oder Ähnliches vorsehen.
Die Kreditvergabe und Entwicklungszusammenarbeit
sind an Bedingungen der sogenannten Good Gover-
nance, also etwa Korruptionsbekämpfung, und der Libe-
ralisierung gebunden. In der Vergangenheit waren häufig
Entwicklungsländer Empfänger dieser Kredite. Mittler-
weile hat sich das Blatt enorm gewendet. Der IWF ist
sehr stark in die aktuelle Staatsschuldenkrise eingebun-
den und leistet einen großen Beitrag zur Unterstützung
von in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratenen Län-
dern. Die derzeit größten Schuldner sind daher nicht
mehr afrikanische oder südamerikanische Staaten, son-
dern Portugal, Griechenland und Irland. Neben dem fi-
nanziellen Beitrag ist die Bedeutung des IWF als unab-
hängiger Berater und Beobachter nicht zu unterschätzen.
Der IWF hat sich gerade jetzt in diesen Zeiten der Fi-
nanz- und Staatsschuldenkrise als unverzichtbar und als
stabilisierender Faktor erwiesen. Es ist gut und wichtig,
dass der IWF diese Rolle eingenommen hat. Daher gilt
es auch, den IWF weiterhin in seiner Arbeit zu unterstüt-
zen.
Alles in allem denke ich, dass wir hier einen relativ
unstrittigen Gesetzentwurf vorliegen haben. Auch die
anderen Fraktionen – mit Ausnahme der Linken, die sich
enthalten wollen – haben signalisiert, dass sie dem
Gesetzentwurf zustimmen möchten.
Peter Aumer (CDU/CSU): Der Internationale Wäh-
rungsfonds spielt bereits seit vielen Jahren eine wichtige
Rolle. Seit seiner Gründung im Jahr 1944 ist er um die
Sicherung des globalen Finanzsystems, die Förderung
und Überwachung der internationalen Geldpolitik und
die Ausweitung des Welthandels bemüht. Mittlerweile
sind ihm 187 Staaten beigetreten. In den vergangen Jah-
ren gewann er durch sein Engagement im Rahmen der
internationalen Finanzkrise und der europäischen Staats-
schuldenkrise gerade für uns in Europa und Deutschland
stark an Bedeutung. Durch seine umfangreiche Beteili-
gung an den bisherigen Rettungsprogrammen trug er ei-
nen wichtigen Teil zur Beruhigung der Finanzmärkte
und Stabilisierung der Finanzierungssituation in den
Krisenländern bei.
Der IWF ist heute eine international angesehene Or-
ganisation, die auch für Entwicklungs- und Schwellen-
länder eine große Bedeutung spielt. Letztere gewannen
vor allem in der vergangenen Dekade an wirtschaftlicher
und politischer Bedeutung auf dem internationalen Par-
kett. So stieg der Anteil dieser Länder an der Weltwirt-
schaft in den letzten Jahren stark an. Auch Deutschland
profitiert von diesem Aufstieg in hohem Maße; denn die
Schwellenländer sind mittlerweile unverzichtbare Han-
delspartner für unsere Exportwirtschaft geworden. Nach
einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in
Köln erhöhte sich der Anteil der Schwellenländer am
deutschen Exportwachstum in den letzten Jahren dras-
tisch. Ging im Zeitraum von 1995 bis 2000 nur etwa ein
Fünftel des Wachstums auf diese Länder zurück, ging
bereits im Zeitraum von 2000 bis 2007 mehr als ein Drit-
tel auf das Konto der Schwellenländer. Auch während
der Finanz- und Weltwirtschaftskrise ist der Anteil
dieser Märkte am deutschen Export weiter gewachsen.
Deutschland profitiert von diesem Wandel der Weltwirt-
schaft als Exportnation von Investitionsgütern im inter-
nationalen Vergleich besonders stark von dem hohen
Wachstum der Schwellenländer. Experten gehen davon
aus, dass dieser Trend auch in den nächsten Jahren
anhalten wird.
Die Schwellenländer haben in Deutschland und in der
ganzen Welt in den letzen Jahren stark an wirtschaft-
lichem und politischem Ansehen hinzugewonnen. Nun
gilt es, dieser wachsenden Bedeutung auch in internatio-
nalen Gremien und Organisationen gerecht zu werden.
Im Herbst 2010 beschlossen daher die Finanzminister
20432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
und Notenbankchefs der führenden 20 Industrie- und
Schwellenländer eine umfassende Reform des IWF. Die-
ser wurde am 15. Dezember durch den Gouverneursrat
des IWF bestätigt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Zusam-
menarbeit des Exekutivdirektoriums des IWF zur Stär-
kung der Legitimation, Gleichbehandlung und Anpas-
sungsfähigkeit des Direktoriums reformiert werden.
Nach den Vereinbarungen, die auf G-20-Ebene ge-
troffen wurden, sollen künftig alle Exekutivdirektoren
gewählt werden. Damit wird das bislang geltende Recht
der fünf größten Anteilseigner des IWF verändert, da-
runter auch die Bundesrepublik, ihren Exekutivdirektor
zu ernennen, während die restlichen Exekutivdirektoren
durch einzelne oder in Stimmrechtsgruppen zusammen-
geschlossene Mitgliedsländer gewählt werden. Dem
IWF wird es nun ermöglicht, sich an die verändernden
weltwirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Damit
ist die Basis geschaffen, eine Erhöhung der regulären
Finanzmittel des IWF durch Verdoppelung der Quoten-
einzahlung seiner Mitgliedschaft zu erreichen. Die
Quoten der Länder, die die Hauptquelle der verfügbaren
Finanzmittel des IWF darstellen, bestimmen sich dabei
im Allgemeinen aus ökonomischen Größen wie zum
Beispiel dem Bruttoinlandsprodukt und dem Anteil am
Welthandel.
Durch diese Reform stärken wir vor allem die Posi-
tion von Schwellenländern wie Brasilien, China und
Indien, die in den vergangenen Jahren deutlich an Be-
deutung auf den globalen Handels- und Finanzmärkten
gewannen. Die Änderung ist für diese Länder nun ein
bedeutender Schritt hin zu einer angemesseneren Inte-
gration in die internationale Gemeinschaft. So gehen die
Quotenerhöhungen mit einer Anpassung der relativen
Positionen der einzelnen Mitgliedsländer an ihre jewei-
lige ökonomische Bedeutung einher. Gerade die dynami-
schen Schwellenländer werden damit künftig einen weit-
aus größeren Kapitalanteil am IWF bereitstellen und
erhalten demgegenüber mehr Mitspracherecht im Direk-
torium. Damit spiegelt sich nun ihre wachsende welt-
wirtschaftliche Bedeutung auch in der Führungsstruktur
des IWF wider. Die Quotenerhöhung an sich bedarf
jedoch keiner nationalen Umsetzung. Ihr Inkrafttreten ist
aber an das Inkrafttreten der siebten Änderung des
IWF-Übereinkommens zur Reform des Exekutivdirekto-
riums gebunden.
Mit diesem Gesetz setzen wir eine der größten Refor-
men des IWF seit jeher um. Wir werden damit der wach-
senden Bedeutung der Schwellenländer, die für uns zu
unverzichtbaren Handelspartnern geworden sind, ge-
recht. Ich bitte Sie daher, dem Gesetzentwurf zuzustim-
men. Vielleicht sind heute auch die Kollegen der Linken
überzeugt und stimmen dem Entwurf zu.
Manfred Zöllmer (SPD): Es geht in dem vorliegen-
den Gesetzentwurf um eine internationale Organisation,
den IWF und seine Struktur. Der Internationale Wäh-
rungsfonds wurde 1944 auf der Konferenz in Bretton
Woods gegründet. Seine Ziele sind die Förderung der in-
ternationalen Zusammenarbeit in der Währungspolitik,
die Ausweitung des Welthandels und die Stabilisierung
von Wechselkursen. Zurzeit hat der IWF 187 Mitglied-
staaten; die Stimmrechte orientieren sich am Kapital-
anteil. Der IWF ist damit eine international und global
agierende Institution im Rahmen des Systems der Ver-
einten Nationen.
Seine Geschichte ist indes mehr als wechselvoll. Er
diente zuerst als institutioneller Rahmen für ein System
fester Wechselkurse. Dieses System brach 1973 zusam-
men. Danach wurde der Fonds eine Einrichtung zur Ver-
meidung und Bewältigung von Finanzkrisen der Mit-
gliedstaaten. Er berät einzelne Staaten und leistet im
Bedarfsfall Hilfe. Diese Hilfe kann sehr unterschiedlich
ausgestaltet sein. In der Regel werden Kredite vergeben.
Diese Kreditvergabe ist an Konditionen, also Auflagen,
geknüpft.
Es hat viel Kritik am IWF und seinem Handeln gege-
ben. Die beiden zentralen Kritikpunkte sind: Es muss
eine wirksamere Armutsbekämpfung durch die Aktivitä-
ten des Fonds geben und eine stärkere Demokratisierung
der Institution. Bei unserer heutigen Debatte geht es um
den zweiten Teil. Das Stimmrecht der einzelnen Länder
ist abhängig von ihrem Kapitalanteil. So verfügen zum
Beispiel die USA über 16,7 Prozent Anteil. Beschlüsse
des IWF müssen allerdings mit einer Mehrheit von
85 Prozent getroffen werden. Die USA haben damit real
eine Vetoposition – eine Sperrminorität. Deutschland hat
einen Anteil von knapp 6 Prozent.
Die Stimmrechtsanteile repräsentierten lange Zeit
die Nachkriegsordnung. Aufstrebende wirtschaftsstarke
Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien spiel-
ten lange Zeit keine Rolle. Erst im Jahr 2010 änderte
sich dies. Der damalige Chef des IWF, Dominique
Strauss-Kahn, setzte eine Reform durch, die den Schwel-
lenländern mehr Einfluss verschaffte. Jetzt soll sich auch
etwas im Bereich der Organisation des IWF ändern,
noch nicht an der Spitze. Informell ist der Direktor des
IWF immer ein Europäer, der erste stellvertretende
Direktor immer ein Amerikaner. Man kann sich un-
schwer vorstellen, dass es eine Reihe von Ländern gibt,
die darüber not amused sind, völlig zu Recht. Dies be-
sonders auch vor dem Hintergrund des hohen finanziel-
len Engagements des IWF im Rahmen der Euro-Krise.
Wir Sozialdemokraten haben die angesprochenen Or-
ganisationsstrukturen des IWF schon seit längerem kriti-
siert. Die Liste der „globalen öffentlichen Güter“ wird im-
mer länger. Eine institutionelle Modernisierung der
multilateralen UN-Institutionen ist insoweit dringend
erforderlich. Diese Institutionen benötigen mehr Wirk-
samkeit, mehr Effizienz, mehr Transparenz. Dies ist eine
wichtige Zukunftsaufgabe globaler Politik. Wir begrüßen
deshalb, dass nun eine kleine, aber feine Reform dies fest-
schreibt, nämlich dass zukünftig alle Exekutivdirektoren
– sozusagen die zweite Führungsebene – von allen ge-
wählt werden. Das bisher geltende Recht der fünf größten
Anteilseigner, ihren Exekutivdirektor zu ernennen, entfällt
damit. Man sollte diesen Schritt nicht zu gering achten. Er
beschneidet deutlich den Einfluss der großen Anteilseig-
ner, also der traditionellen Industrieländer, und sorgt da-
mit für mehr demokratische Partizipation kleinerer Län-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20433
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(D)(B)
der. Es spiegelt stärker die multilaterale Struktur unser
globalisierten Welt. Dies ist ein scheinbar kleiner, aber im
Grunde bedeutender und richtiger Schritt. Ihm werden
noch viele andere folgen müssen.
Holger Krestel (FDP): Im Rahmen des hier vorlie-
genden Entwurfs wird die Berufung von Exekutivdirek-
toren, welche einzelne Länder oder Ländergruppen re-
präsentieren, in die Führung des Internationalen
Währungsfonds überarbeitet. Anstatt dass die fünf größ-
ten Kapitalgeber, bestehend aus den USA, Japan,
Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten König-
reich, diese wie bisher einfach benennen, sollen diese
von nun an entsprechend der vom gegebenen Kapital ab-
hängigen Stimmanteile der Mitgliedsländer gewählt
werden. Diese Änderung ist neben weiteren technischen
Details gerade im Zusammenhang mit der Euro-Krise
ein wichtiger Schritt zur Einbindung aller Mitgliedstaa-
ten in die Entscheidungsprozesse und die gleichzeitigen
Aktivitäten zur Problemlösung. Damit wird eine stärkere
Legitimation geschaffen, was unabdingbar ist, da schon
mit 15 Prozent der Stimmen Entscheidungen blockiert
werden können, eine funktionierende Zusammenarbeit
aber die Wurzel für eine erfolgreiche Bewältigung der
aktuellen Situation ist. Die Troika aus IWF, Weltbank
und EZB bildet ein auf drei Säulen ruhendes Fundament
der Stabilität und ermöglicht einen festen Rückhalt, um
die Krise gemeinsam überwinden zu können. Schon ein
teilweiser Rückzug des IWF würde für so viel Unruhe
und Verunsicherung weiterer Gläubiger sorgen, dass eine
schrittweise und stabile Aufarbeitung der strukturellen
Probleme deutlich erschwert werden würde. Es kann da-
her unmöglich auf die volle Unterstützung des IWF ver-
zichtet werden, wenn wir eine geregelte Lösung der Tur-
bulenzen in den Euro-Staaten, die in Schieflage geraten
sind, anstreben.
Es ist nachvollziehbar, dass viele aufstrebende Staa-
ten und Schwellenländer, die Mitglied im IWF sind, kein
Verständnis dafür haben, wenn eine kleine Gruppe über
ihre Köpfe hinweg Personalentscheidungen trifft, sie da-
raufhin aber zur Stabilisierung von Staaten herangezo-
gen werden, die lange Zeit über ihre Verhältnisse und
zum Teil auf einem höheren Standard als viele Geberlän-
der gelebt haben. Dieser Perspektivwechsel verdeutlicht
um so mehr, warum es auch eine Frage der Gerechtigkeit
und Gleichbehandlung ist, den Findungsprozess der
Exekutivdirektoren zu demokratisieren. Die Strategie,
sich rasant entwickelnde Nationen wie Indien oder Bra-
silien, die in der Zukunft großen Einfluss auf die Finanz-
märkte der Welt haben werden, so lange an der kurzen
Leine zu halten, bis sie sich mit neuer und vor allem
selbstgewonnener Stärke befreien, ist keine gute Basis
für eine funktionierende globale Finanzpolitik der Zu-
kunft.
Durch ihren hohen Kapitalanteil und ihre politische
Rolle in Europa und der Welt wird die Bundesrepublik
Deutschland nach wie vor ein hohes Gewicht in den Ent-
scheidungen des Währungsfonds haben. Aber gerade bei
der Personalentscheidung über die Exekutivdirektoren,
welche speziell die Mitgliedsländer repräsentieren, nur
eine kleine Gruppe entscheiden zu lassen und nicht die
zu vertretenden Staaten, entbehrt einer angemessenen
Legitimation, die für den vollen Rückhalt innerhalb der
Gemeinschaft sehr wichtig ist. Dieser Rückhalt ist im
Kontext der heutigen finanzpolitischen Weltlage und ge-
rade für Europa ein Gut, das nicht aufs Spiel gesetzt wer-
den sollte.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Das vorliegende
Gesetz soll die unübersehbare Schieflage in der Zusam-
mensetzung des IWF-Führungsgremiums korrigieren.
Gemessen am Demokratiedefizit des IWF ist es jedoch
unzureichend. Der IWF hat sich in vergangenen Finanz-
krisen, insbesondere der Asienkrise, mit fatalen Struk-
turanpassungsprogrammen einen verheerenden Ruf
erworben. Zahlreiche Staaten, besonders die Schwellen-
länder, haben sich danach von der Institution abgewandt.
Von seiner Legitimitätskrise hat sich der IWF nach wie
vor nicht erholt. Grund für das Scheitern war nicht nur
die neoliberale Dogmatik, sondern auch die Dienst-
barkeit gegenüber den tonangebenden Industriestaaten.
Eine Reform der Quoten und Führungsstrukturen war
daher unumgänglich.
Die Bundesregierung fordert eine höhere Kapitalaus-
stattung des IWF. Deswegen wird ihr auch in der
Zukunft nichts anderes übrig bleiben, als den kapital-
gebenden Schwellenländern weitere Zugeständnisse zu
machen. Die nun zu beschließenden Änderungen reflek-
tieren jedoch lediglich die veränderten Machtverhält-
nisse. Sie sind nicht von der Einsicht geprägt, wirklich
etwas an den überkommenen Strukturen des weltweiten
Finanzsystems verändern zu wollen.
Zum Gesetz. Die Europäer stellen bisher ein Drittel
der Sitze im IWF-Exekutivdirektorium. Dies ist sowohl
von der Bevölkerungszahl als auch von der Wirtschafts-
kraft Europas her nicht zu rechtfertigen. Europa wird im
Zuge der Governance-Reform also zwei Sitze abgeben.
Weiterhin konnten die Staaten mit den fünf höchsten
Quoten bisher direkt eine Stelle im Exekutivdirektorium
besetzen. Diese nationalen Erbhöfe entfallen in Zukunft.
Was bedeutet das? Europa bleibt dennoch überrepräsen-
tiert. Deutschland verliert den direkten Zugriff auf einen
Sitz, wird aber weiterhin ein starkes Mitspracherecht
haben. Allerdings spiegelt die Sitzverteilung nur die
halbe Wahrheit wider: Die wahren Machtverhältnisse
hängen von den mit den Sitzen verbundenen Stimmrech-
ten ab. Diese hängen wiederum im Wesentlichen von
wirtschaftlichen Faktoren ab. Die jüngste Quotenreform
ist aber nur ein Reförmchen. Die europäischen Exekutiv-
direktoren haben weiterhin zusammen eine klare Veto-
macht, ebenso der einzelne Direktor der USA. Ein riesi-
ges Land wie Indien wird auch nach Inkrafttreten der
Stimmrechtsreform weniger Stimmen haben als die Be-
neluxstaaten. Deutschland allein wird eine Stimmkraft
haben wie ganz Afrika.
Industriestaaten haben darüber hinaus einen ver-
gleichsweise einfachen Zugriff auf die Mittel des IWF.
Entwicklungsländer haben nicht nur wenig Einfluss auf
die IWF-Geschäftsführung, sondern auch einen relativ
geringen sowie kostspieligen Zugang zu den Mitteln des
Fonds. Der IWF hat sich in der Vergangenheit weniger
20434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
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als Krisenbewältigungsinstanz bewiesen, sondern als
Sachwalter der Gläubiger. Die laufenden Reformen sind
weit davon entfernt, die nötigen strukturellen und politi-
schen Konsequenzen zu ziehen.
Zum Schluss eine kurze Bemerkung zur aktuellen
Lage. Die Einbeziehung des IWF in die Euro-Krise war
finanziell nicht notwendig. Es ist aber schon bezeich-
nend, wenn der IWF, der sich durch krisenverschärfende
neoliberale Sparprogramme den Ruf verdorben hat, nun
in der Euro-Krise gegenüber Kommission und EZB als
vergleichsweise mäßigende Kraft auftritt. Ein schwin-
dender europäischer Einfluss auf den IWF ist wegen der
ideologischen Denkblockaden der europäischen Eliten
derzeit nicht nur im Interesse der Weltbevölkerung, son-
dern auch im Interesse Europas.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist
unter uns weitgehend unstrittig, dass das Exekutivdi-
rektorium des Internationalen Währungsfonds, IWF,
reformiert werden muss und dass es ein begrüßenswer-
ter Schritt in die richtige Richtung ist, dass künftig alle
– wirklich alle – Exekutivdirektoren gewählt werden sol-
len. Es ist gut, dass die ehemals fünf größten Anteilseig-
ner – die USA, Japan, Deutschland, Großbritannien und
Frankreich – bereit sind, auf das Privileg zu verzichten,
jeweils einen Exekutivdirektor selbst zu ernennen, Ver-
zicht auf Privilegien im Sinne von mehr Gleichbehand-
lung und Partizipation – eine Einsicht, die ich mir auch
von den Vetomächten im Weltsicherheitsrat wünschen
würde; aber zunächst geht es jetzt mal um den IWF.
Die Reform des Exekutivdirektoriums, der wir heute
mit der breiten Zustimmung zum von der Bundesregie-
rung vorgelegten Gesetzentwurf den Weg ebnen, ist die
logische Konsequenz aus der Umverteilung von 6,4 Pro-
zent der Anteile des Fonds und der damit einhergehen-
den Stimmrechtsverschiebung zugunsten von China,
Indien und Brasilien. Der Aufstieg dieser Schwellenlän-
der geht mit einer Machtverschiebung einher, die sich
jetzt nach und nach überall bemerkbar macht. Die G 20
haben in ihrer Bedeutung die G 8 abgelöst – und im IWF
und bald auch in der Weltbank verschieben sich die
Gewichte. Die Dominanz der westlichen Industrienatio-
nen wird geringer und aus einer globalen Perspektive
heraus gesehen ist dies auch zu begrüßen.
Was dies nun konkret für den IWF bedeuten wird, ist
noch unklar. Einerseits hat der IWF in Bezug auf Grie-
chenland für relativ milde und relativ ausgewogene Kon-
ditionen plädiert – nicht zu vergleichen mit den brutalen
Strukturanpassungsmaßnahmen, die der IWF in den
80er- und 90er-Jahren verschuldeten Entwicklungslän-
dern aufgezwungen hat – und auch ein deutlich weiche-
rer Kurs als in der Argentinien- und der Asienkrise. Aber
genau das sehen nun manche Entwicklungs- und
Schwellenländer mit Argwohn und werfen dem IWF
vor, mit zweierlei Maß zu messen. Und deshalb werden
die nun innerhalb des IWF aufgewerteten Schwellenlän-
der sehr zurückhaltend sein, was die Kreditvergabe an
europäische Länder angeht. „Die Europäer sollen sich
erst einmal selber helfen“, argumentieren Vertreter aus
China, Indien und Brasilien mit Blick auf die Wirt-
schaftskraft Deutschlands. Und völlig aus der Luft
gegriffen ist dieses Argument ja nicht.
Wie gesagt, die Reform des Exekutivdirektoriums des
IWF ist ein Schritt in die richtige Richtung. Doch er
allein reicht längst nicht aus, um zu einer besseren Glo-
bal Governance zu kommen. Dazu wäre eigentlich ein
großer Wurf nötig, der das Kernproblem angeht: die
nicht vorhandene Kohärenz in der Global Governance.
IWF und Weltbank gelten zwar als Sonderorganisatio-
nen der Vereinten Nationen, führen aber praktisch ein
Eigenleben ohne direkte Verbindungslinien zum VN-Sys-
tem. Die WTO, zurzeit ohnehin in der Sackgasse, hat mit
den Vereinten Nationen überhaupt nichts tun. Und dann
gibt es noch die sogenannte Club-Governance in den
exklusiven informellen Formaten G 8 und G 20,
Parallelstrukturen, die viele Widersprüche produzieren
und verhindern, dass die internationale Gemeinschaft in
der Lage wäre, auf die globalen Herausforderungen mit
einer abgestimmten und in sich stimmigen Strategie zu
antworten.
In den letzten Jahren hat es immer wieder Versuche
gegeben, zu mehr Kohärenz in der Global Governance
zu kommen und dabei die Rolle der Vereinten Nationen
zu stärken. Sowohl VN-Generalsekretär Kofi Annan als
auch sein Nachfolger Ban Ki-moon haben hochrangige
Expertenkommissionen damit beauftragt, Reformvor-
schläge auf den Tisch zu legen – und das haben diese
Kommissionen auch getan. Fast allen Vorschlägen
gemeinsam ist die Forderung nach einem demokratisch
legitimierten Organ, das über allen VN-Agenturen, -Pro-
grammen und -Sonderorganisationen sowie der WTO
steht und Leitlinien für eine menschenrechtsbasierte glo-
bale nachhaltige Entwicklung entwirft – Leitlinien, an
denen sich dann auch IWF und Weltbank orientieren
müssten.
Die Gründungsväter und -mütter der Vereinten Natio-
nen hatten dem VN-Weltwirtschafts- und Sozialrat,
ECOSOC, eigentlich diese Rolle zugedacht, die dieser
aber bisher nie ausfüllen konnte, weil wichtige Industrie-
nationen den ECOSOC bewusst kleingehalten haben. Im
Vorfeld der Rio+20-Konferenz wird nun die Bildung ei-
nes VN-Rates für nachhaltige Entwicklung diskutiert,
der allerdings keine überwölbende Stellung haben soll –
der also für IWF und Weltbank nicht gefährlich werden
kann. Auch wenn ein solcher Rat vielleicht ein kleiner
Fortschritt sein kann, zielführender wäre es meiner Mei-
nung nach, endlich den ECOSOC zu reformieren, mit
der Nachhaltigkeitsagenda zu beauftragen und kräftig
aufzuwerten.
Und schließlich gilt es für die internationale Gemein-
schaft, noch unerledigte Hausaufgaben anzupacken. Auf
einer hochrangigen VN-Sondergeneralversammlung
2009 wurde von den vielen Vorschlägen der sogenannten
Stiglitz-Kommission nur ein einziger aufgegriffen – aber
immerhin. Man sprach sich einstimmig dafür aus, auf
der VN-Ebene wohlwollend die Einrichtung eines
Panels on Systemic Risks zu prüfen – eines interdiszipli-
nären Wissenschaftlergremiums, das die Weltwirt-
schaftslage analysieren, sich mit verschiedenen
Zukunftsszenarien beschäftigen und als Frühwarnsystem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20435
(A) (C)
(D)(B)
fungieren soll. Man wollte damit eine Lehre ziehen aus
der angeblich so plötzlich hereingebrochenen Finanzkrise,
die viele nicht auf dem Schirm gehabt hatten – auch der
IWF nicht –, zwar nur ein internationales Wissenschaft-
lergremium, ein Think Tank, ein Frühwarnsystem – aber
mit dem ausdrücklichen Auftrag, die Weltwirtschafts-
lage ganzheitlich zu betrachten, also auch unter Men-
schenrechts- und Nachhaltigkeitsgesichtspunkten, und
Vorschläge für ein kohärentes Vorgehen auszuarbeiten,
mit denen sich IWF und Weltbank zumindest beschäfti-
gen müssten. Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz
verband und verbindet mit diesem Vorschlag die Hoff-
nung, dass ein solches Panel on Systemic Risks bei guter
Zusammensetzung und guter Arbeit eine ähnliche Auf-
merksamkeit und Wirkung erzielen könnte wie der Welt-
klimarat IPCC für die Klimaschutzdebatte.
Wir erwarten von einer Bundesregierung, deren
Kanzlerin vor ein paar Jahren vollmundig eine UN-
Charta für nachhaltiges Wirtschaften und eine starke
Wirtschafts-UNO gefordert hat, dass sie sich zumindest
für dieses Panel on Systemic Risks einsetzt. Denn nur
wenn VN-Mitgliedstaaten auf den VN-Beschluss von
2009 positiv reagieren und konkrete Anträge für die Ein-
richtung und Mandatierung dieses Panels ausarbeiten
und einbringen, kann es in dieser Frage Fortschritte
geben.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Demokratie durch Transparenz stärken –
Deklassifizierung von Verschlusssachen ge-
setzlich regeln
– Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfahrens-
akten des Bundesverfassungsgerichtes stär-
ken
(Tagesordnungspunkt 14 a und b)
Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): VS –
dieser Stempel findet sich auf so manchem Dokument
wieder, das wir als Bundestagsabgeordnete aus den
Ministerien oder aus Bundesbehörden zugeschickt be-
kommen. VS heißt Verschlusssache – etwas, das unter
Verschluss bleibt, der Öffentlichkeit nicht zugänglich ge-
macht wird. Dies geschieht im öffentlichen Interesse und
dient der Gefahrenabwehr. Gerade weil Deutschland bei-
spielsweise beliebtes Spionageziel ist, brauchen wir die
Verschlusssachenklassifizierung. Wir wollen damit aber
auch verhindern, dass extremistische und kriminelle Or-
ganisationen zu viel über die Bekämpfungsstrategien un-
serer Sicherheitsorgane erfahren. Vertraulichkeit ist in
manchen Lebenssituationen unerlässlich, so eben auch
im staatlichen Handeln manchmal notwendig. Klar muss
aber auch sein, dass nur die Vorgänge den Stempel VS
erhalten, bei denen dies wirklich sinnvoll ist. Unsere De-
mokratie und Rechtsstaatlichkeit lebt von so viel wie
möglich Transparenz und so wenig wie nötig Kontrolle;
anders kann sie nicht funktionieren. Dies wird im höchs-
ten Maße umgesetzt: Wir haben sehr transparente
Strukturen und nur ein unumgängliches Mindestmaß an
Vertraulichkeit. Dafür steht das Parlamentarische Kon-
trollgremium.
Im Untersuchungsausschuss zu den NSU-Morden ha-
ben wir bereits darüber diskutiert, wie ein guter Mittel-
weg zwischen Transparenz und Vertraulichkeit erzielt
werden kann. Wir wollen dort aufklären, warum die Zwi-
ckauer Gruppe jahrelang unbescholten ihr Unwesen trei-
ben konnte. Es besteht ein berechtigtes Interesse der Öf-
fentlichkeit, dass Ermittlungsfehler genauso aufgedeckt
werden wie Pannen im Informationsfluss oder fehlende
Kooperationsbereitschaft der verschiedenen Ermittlungs-
behörden. Gleichzeitig laufen aber die Ermittlungen
noch – und die Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass
möglichst viele Mittäter und Unterstützer gefasst werden.
Der Untersuchungsausschuss als solcher soll ja Transpa-
renz herstellen, letztendlich ist dies sein Zweck! Es will
aber auch keiner, dass dadurch laufende Ermittlungen ge-
fährdet werden. Das ist ein schwieriger Balanceakt, und
ich bin sehr froh darüber, dass die Mitglieder des Unter-
suchungsausschusses sich ihrer Verantwortung in Bezug
auf Verschlusssachen bewusst sind. Gerade auch vor die-
sem Hintergrund irritiert es mich, dass Sie in Ihrem An-
trag gleich zu Beginn das Aktengeheimnis in Bausch und
Bogen verdammen. Ein bisschen differenzierter darf es
schon sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Lin-
ken.
Neben dem demokratischen Ansinnen nach Transpa-
renz und Kontrolle gibt es auch ein zeitgeschichtliches
Interesse an Verschlusssachen. Das Interesse von Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftlern an Dokumenten
aus der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland ist
berechtigt. Nicht veröffentlichte Akten verbergen so
manche überraschende Erkenntnis zur Zeitgeschichte;
das ist schon oft bewiesen worden. Übrigens, sehr ge-
ehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken, nicht
alle Projekte haben die Aufarbeitung der NS-Vergangen-
heit zum Forschungsgegenstand. Spannend finde ich
beispielsweise Fragen rund um die Westanbindung der
noch jungen Bundesrepublik, um ihre Rolle im Kalten
Krieg, ihr Verhältnis zur DDR. Auch dazu gibt und gab
es Forschungsprojekte, und auch diese Forscher wollen
Bundesakten einsehen. Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftler, die sich die Mühe machen, die alten Akten
zu sichten und zu interpretieren, verdienen großen Re-
spekt. Der berühmte Aktenberg im verstaubten Keller ist
zwar ein reichlich oft bemühtes Bild, aber gerade deswe-
gen nicht weniger wahr. In gut funktionierenden Behör-
den entstehen zahllose Dokumente. Sie dokumentieren
die Arbeit der Verwaltung, und sind deshalb notwendig
für einen funktionierenden Rechtsstaat. So etwas zu
sichten, macht eine Menge Arbeit.
Im vorliegenden Antrag beklagen die Linken, dass
das Bundesministerium des Innern eine Verwaltungsvor-
schrift über Verschlusssachen so verändert habe, dass
keine automatische Freigabe mehr erfolge. Diese Aus-
sage kann ich so nicht stehen lassen. Im Jahr 2009 hat
das Bundeskabinett Eckpunkte beschlossen, nach denen
Verschlusssachen innerhalb festgelegter Zeiträume hin-
sichtlich einer Offenlegung zu prüfen sind. Die Rege-
20436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
lung sieht vor, dass bis zum Januar 2013 die Geheimak-
ten aus den Jahren 1949 bis 1959 für die Öffentlichkeit
zugänglich gemacht werden. Die Dokumente aus der
Zeit bis 1994 sollen dann schrittweise bis 2025 freigege-
ben werden. Der Beschluss sieht vor, dass jährlich drei
weitere Jahrgänge eingesehen werden können. Für die
Akten, die ab 1995 verfasst wurden, gilt eine Sperrfrist
von 30 Jahren. Das ist aus meiner Sicht ein guter und
gangbarer Weg, den widerstreitenden Interessen von
Vertraulichkeit und Transparenz gerecht zu werden. Sie
schlagen hingegen eine automatische Deklassifizierung
von Verschlusssachen nach nur 20 Jahren vor. 20 Jahre,
das ist ein sehr kurzer Zeitraum, gerade in der nachrich-
tendienstlichen oder polizeilichen Arbeit. Nehmen Sie
das Beispiel Bad Kleinen: Auch heute ließen sich aus
den Unterlagen zum GSG-9-Einsatz, der fast 20 Jahre
zurückliegt, noch Rückschlüsse auf die Arbeit von Er-
mittlern und Einsatzkräften ziehen. Das ist auch noch
nach 19 Jahren interessant für Terroristen. Insofern ist
die von Ihnen beantragte automatische Deklassifizierung
sicherheitsfachlich nicht nachvollziehbar und einfach
auch weltfremd.
Ich habe in den zweieinhalb Jahren, die ich nun Bun-
destagsabgeordneter bin, schon viele Debatten erlebt. Da
bleibt es nicht aus, dass einem einmal die eine oder an-
dere Stunde hier überflüssig erscheint. Dieser Fall ist ein
Musterbeispiel dafür: Ihr Antrag zur gesetzlichen Rege-
lung der Deklassifizierung von Verschlusssachen ist
nicht nur ohne fachliche Substanz, er ist auch noch über-
holt. Daher meine Bitte an Sie: Ziehen Sie den Antrag
zurück! Er ist unnötig und bindet Zeit und Arbeitskraft
dieses Parlaments.
Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Der Gegen-
stand der heutigen Debatte sind zwei Anträge der Linken
zum Thema Transparenz. Zum ersten Antrag mit dem
schönen Titel „Demokratie durch Transparenz stärken –
Deklassifizierung von Verschlusssachen gesetzlich re-
geln“ hat der Kollege Schuster schon das Notwendige
gesagt.
Bevor ich auf den zweiten Antrag mit dem Thema
„Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfahrensakten des
Bundesverfassungsgerichtes stärken“ näher eingehe,
möchte ich Ihnen schon sagen, dass es nicht einer gewis-
sen Komik entbehrt, dass ausgerechnet die Erben von
SED und Stasi, die Meister der Konspiration waren, ver-
suchen, sich nunmehr als die großen Verfechter der
Transparenz auszugeben – eine interessante Kehrt-
wende.
Nun aber zu Ihrem Antrag. Er stammt aus dem Jahr
2010 und ist erkennbar nicht mehr taufrisch. Das sieht
man schon daran, dass die Antragsteller sich auf angebli-
che Pläne des Plenums des Bundesverfassungsgerichts
aus dem Jahr 2010 beziehen. Dem Bundesverfassungs-
gericht wird unterstellt, in seiner Geschäftsordnung eine
einheitliche Sperrfrist für die Gewährung von Aktenein-
sichts- und -auskunftsersuchen Dritter einzuführen und
diese auf 90 Jahre festzusetzen.
Bereits diese Behauptung ist blanker Unsinn. Wir
schreiben mittlerweile das Jahr 2012, und bislang ist
nichts Derartiges passiert. Sie hätten das auch wissen
können, weil Sie eine Kleine Anfrage zu dem Thema an
die Bundesregierung gerichtet hatten. In der Antwort der
Bundesregierung heißt es kurz und knapp: „Das Bundes-
verfassungsgericht hat mitgeteilt, dass solche Pläne nicht
bestehen.“
Was soll Ihr Antrag also? Es liegt die Vermutung
nahe, dass Sie sich den reißerischen Aufhänger offenbar
nicht durch die Wirklichkeit kaputtmachen lassen woll-
ten.
Die letzte Änderung der Geschäftsordnung des
BVerfG stammt aus dem Jahr 2002. Maßgeblich sind
dort im Wesentlichen zwei Regelungen, nämlich die
§§ 34 und 36.
In § 36 ist geregelt, dass die Verfahrensakten des Ge-
richts zu Senatsentscheidungen samt Voten frühestens
nach 10 Jahren an das Bundesarchiv abgegeben werden
können und frühestens 30 Jahre nach Verkündung der
Entscheidung verwertet werden dürfen.
In § 34 ist geregelt, dass Voten, Entscheidungsent-
würfe, Änderungs- oder Formulierungsvorschläge sowie
Notizen nicht Bestandteil der Verfahrensakten sind und
nicht der Akteneinsicht unterliegen.
Damit liegen im Prinzip bereits sachgerechte Rege-
lungen vor, und es bedarf Ihrer Vorschläge nicht. Gleich-
wohl ist es dem Vernehmen nach zutreffend, dass man
sich beim Bundesverfassungsgericht mit der Problema-
tik beschäftigt. Wie zu hören ist, gehen diese Überlegun-
gen aber in die Richtung einer größeren Öffnung der Ak-
ten des Gerichts und nicht in diejenige einer weiteren
Beschränkung. Gefordert sind jedenfalls differenzierte
Regelungen, die der besonderen Stellung des Bundesver-
fassungsgerichts als eigenständiges oberstes Verfas-
sungsorgan gerecht werden.
Gänzlich verfehlt sind deshalb die mit Ihrem Antrag
verbundenen Forderungen.
Die Forderung nach Unterordnung der Verfassungs-
gerichtsakten in das allgemeine Bundesarchivwesen ver-
kennt die besondere Stellung des Bundesverfassungsge-
richts als eigenständiges oberstes Verfassungsorgan. Der
Grundsatz des Respektes vor anderen Verfassungsorga-
nen verlangt Zurückhaltung bei der Bewertung von orga-
nisatorischen Maßnahmen und Entscheidungen. Nach
geltendem Recht entscheidet das Bundesverfassungsge-
richt deshalb selbst darüber, ob es Verfahrensakten noch
zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigt. Solange dies der
Fall ist, muss es diese dem Bundesarchiv nicht zur Über-
nahme anbieten. Zudem dient die vertrauliche Behand-
lung von Voten oder Ähnlichem dem Schutz des Bera-
tungsgeheimnisses.
Schon gar nicht angezeigt ist die Forderung nach Ver-
kürzung der allgemeinen Sperrfristen im Bundesarchiv-
gesetz um 20 Jahre. Die nach geltendem Recht vorgese-
hene Dauer von 30 Jahren – „Generationsspanne“ – ist
seit langem bewährt und trägt der Sensibilität von Daten
Rechnung, die Bestandteil dieser Akten sein können.
Insgesamt fragt man sich, wieso die Antragsteller aus-
gerechnet jetzt mit einem derart abseitigen Thema auf-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20437
(A) (C)
(D)(B)
schlagen. Worum es den Antragstellern in Wirklichkeit
geht, ergibt sich aus ihrer Kleinen Anfrage. Dort wird in
den Fragen 9 und 10 unvermittelt nach den Akten zum
KPD- und zum SRP-Verbot gefragt. Zusammen mit den
in dem von den Antragstellern erwähnten Presseartikel
enthaltenen Spekulationen über das Verhalten oder Vor-
leben einzelner Richter dieser Verfahren scheint es ihnen
darum zu gehen, weitere Legenden über die Entschei-
dungen des BVerfG in den frühen Jahren der Bundesre-
publik zu stricken. Dazu ist das Archivrecht nicht das
geeignete Mittel.
Kirsten Lühmann (SPD): Wir beraten heute in ers-
ter Lesung über zwei Anträge der Fraktion der Linken,
in denen die Antragstellerin besondere Aspekte bei der
Akteneinsicht in behördliche und gerichtliche Entschei-
dungen und Verfahrensprozesse regeln möchte. Die An-
träge fallen somit in den weiteren Anwendungsbereich
des IFG.
Für die SPD ist schon lange klar: Behördliche Ent-
scheidungen und staatliches Handeln müssen für die
Bürgerinnen und Bürger transparent und nachvollzieh-
bar sein. Deshalb waren es auch die Fraktionen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen, die damals das Informa-
tionsfreiheitsgesetz in den Bundestag einbrachten, das
schließlich mit Wirkung zum 1. Januar 2006 in Kraft
trat. Dies geschah im Übrigen gegen den erheblichen
Widerstand der Fraktion der CDU/CSU.
In diesem Zusammenhang möchte ich an dieser Stelle
daran erinnern, dass auch im Jahre 2008 auf Initiative
des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer eine
Gesetzesänderung durch den Bundesrat angestrebt
wurde, die die allgemeine Einsichtnahme in Akten der
Bankenaufsicht vom Recht auf Informationszugang aus-
nehmen sollte, ein, wie ich finde, gerade unter den
Aspekten der aktuellen Entwicklungen besonderer Vor-
gang, der wieder einmal aufzeigt, welche Denkweise
hinter dem Handeln der Kollegen und Kolleginnen von
der CDU und der CSU steht.
Bürger und Bürgerinnen sollen mit ihren Steuergel-
dern für den sogenannten Rettungsschirm geradestehen,
gleichzeitig aber vom Informationsfluss der Entscheidun-
gen hierzu abgeschnitten werden. Auch das durch die
Bundesregierung eingesetzte sogenannte Neunergre-
mium, das in seiner ursprünglich geplanten Form vom
Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt
wurde, hätte zur Folge gehabt, dass wichtige Entschei-
dungen völlig intransparent abgelaufen wären, denn hier
wäre sogar der Bundestag von den Entscheidungsprozes-
sen weitestgehend abgeschottet worden.
In beiden Fällen haben jedoch Sozialdemokraten der
CDU/CSU die Grenzen aufgezeigt und damit klarge-
stellt, dass eine intransparente und für die Bürger und
Bürgerinnen nicht nachvollziehbare Hinterzimmerpoli-
tik mit der SPD nicht zu machen ist.
Lassen Sie mich auf das IFG zurückkommen. Das
IFG befindet sich nunmehr im siebten Jahr seiner An-
wendung. Wir wollen das Gesetz auch weiterhin opti-
mieren und insbesondere auf die Probleme, aber auch
Bedürfnisse, die sich aus der praktischen Anwendung er-
geben haben, eingehen. Auch auf Drängen der SPD-
Bundestagsfraktion hin unterläuft das IFG daher einen
Evaluationsprozess durch das Deutsche Forschungsinsti-
tut für Öffentliche Verwaltung Speyer, dessen Ergeb-
nisse uns in Kürze vorliegen werden. Die Zeit, uns die
Empfehlungen anzuhören und sie anschließend zu disku-
tieren, sollten wir uns nehmen.
Danach werden wir die notwendigen Änderungen
vornehmen und dafür Sorge tragen, dass eine optimale
Transparenz weiterhin bestehen bleibt und dass dort, wo
noch Nachbesserungsbedarf besteht, auch entsprechend
nachgebessert wird.
Liebe Kollegen und Kolleginnen von der Fraktion der
Linken, das Gleiche trifft auch auf Ihren zweiten Antrag
zu. Wenngleich der Freigabe von Unterlagen und Doku-
menten aus der NS-Unrechtszeit eine überaus wichtige
Bedeutung zukommt, wäre es ein Fehler, sie zum jetzi-
gen Zeitpunkt isoliert zu betrachten. Lassen Sie uns den
Evaluationsprozess und dessen Ergebnis abwarten und
dann gemeinsam nachbessern. So können wir dann eine
optimale Anwendung des IFG sicherstellen.
Dr. Stefan Ruppert (FDP): Das Bundesverfassungs-
gericht genießt in der Bevölkerung höchste Anerken-
nung, und das aus gutem Grund. Wie wenige andere In-
stitutionen steht das Gericht für einen transparenten und
am Individuum ausgerichteten Rechtsstaat. Für die Fes-
tigung unserer Demokratie hat das Gericht deshalb einen
herausragenden Beitrag geleistet. Diese Leistung auch
zu historisieren, ist nach mehr als 60 Jahren des Beste-
hens eine wichtige Aufgabe, und dazu bedarf es eines
besseren Aktenzugangs.
Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes besagt, dass Kunst
und Wissenschaft, Forschung und Lehre frei sind. Für
den einzelnen Forscher und für den Wissenschaftsbe-
trieb als Ganzes ist diese verfassungsrechtlich geschützte
Freiheit das höchste Gut. Der Gesetzgeber garantiert
dem Wissenschaftler damit unter anderem die freie Wahl
über die Gestaltung seiner Forschungsprojekte und den
Umgang mit deren Ergebnissen. Gleichwohl können
Eingriffe in diese Freiheit aus verschiedenen Gründen
gerechtfertigt sein, beispielsweise wenn die Persönlich-
keitsrechte Dritter betroffen sind oder besondere
Geheimhaltungsinteressen bestehen.
Vor diesem Hintergrund müssen die Regelungen zur
Akteneinsicht beim Bundesverfassungsgericht im Span-
nungsfeld kollidierender Interessen betrachtet werden.
Das Interesse der Öffentlichkeit und der Wissenschaft ist
in Einklang zu bringen mit dem Schutz der Belange der
beteiligten Richter und anderen legitimen Geheimhal-
tungsinteressen. Die Frage des Aktenzugangs gewinnt
besondere Bedeutung im Zusammenhang mit rechtshis-
torischen Forschungsprojekten, für deren Ausgestaltung
nicht nur die veröffentlichte Entscheidung, sondern der
Prozess der Entscheidungsfindung der einzelnen Verfas-
sungsrichter von Interesse ist. So plädierte der Rechts-
historiker Michael Stolleis bei einer öffentlichen Anhö-
rung des Kulturausschusses im Februar 2012 für
besseren Aktenzugang und eine Historisierung. Er kon-
20438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
statierte, dass besonders auf dem Gebiet der „dissenting
votes“, der abweichenden Voten einzelner Richter bei
historisch wichtigen Entscheidungen des Bundesverfas-
sungsgerichts, großes Forschungsinteresse besteht.
Claudia Baumann hat auf Zeitgeschichte-online einen
interessanten Artikel zu dieser Problematik veröffent-
licht.
Allgemein müssen nach dem Bundesarchivgesetz
Gerichte, Behörden, Verfassungsorgane und andere
öffentliche Stellen Unterlagen an das Bundesarchiv oder
ein Landesarchiv abgeben, wenn sie nicht mehr benötigt
werden. In der Regel erhalten alle Bundesbürger nach
Ablauf einer Sperrfrist von 30 oder höchstens 60 Jahren
Zugriff auf das Archivgut. Eine der wichtigsten Ausnah-
men dieses Grundsatzes bildet Archivgut, das Persön-
lichkeitsrechte berührt. Hier beginnt die Frist von
30 Jahren mit dem Tod der Person. Weitere Ausnahmen
bestehen überwiegend aus Schutzinteressen der Bundes-
republik oder einem ihrer Länder, von Dritten oder
Geheimhaltungspflichten nach dem Strafgesetzbuch.
Es ist zu bedauern, dass gerade die Unterlagen des
Bundesverfassungsgerichts eine Ausnahme vom Grund-
satz des Bundesarchivgesetzes darstellen. Zwar werden
sie überwiegend vom Bundesarchiv aufbewahrt, gelten
aber nicht als Archivgut. Über Anträge auf Aktenein-
sicht entscheidet das Bundesverfassungsgericht selbst.
Die Voten – oder Entscheidungsvorschläge – werden als
„Nebenakten“ bezeichnet. Ob Wissenschaftlern der
Zugang zu bestimmten Akten gewährt wird oder nicht,
entscheidet das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall.
Weder gibt es gegen diese Entscheidungen Einspruchs-
rechte noch basieren die Entscheidungen auf klar de-
finierten, transparenten rechtlichen Grundlagen. Eine
Verletzung der Wissenschaftsfreiheit oder des Gleich-
behandlungsgrundsatzes bei der Ablehnung von Anträ-
gen auf Akteneinsicht kann dem Gericht keinesfalls
unterstellt werden, wie dies im Antrag der Linken
geschieht. Eine klarere gesetzliche Regelung würde die-
sen Verdacht aber endgültig ausräumen.
Mit dieser Problematik beschäftigte sich der 38. Deut-
sche Rechtshistorikertag im Jahr 2010, nachdem das
Thema in mehreren Artikeln in der FAZ thematisiert
worden war. In der FAZ vom 28. August 2010 war
behauptet worden, dass das Plenum des Bundesverfas-
sungsgerichts eine einheitliche Sperrfrist von 90 Jahren
in die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts
aufnehmen wollte. Dies wurde auf Auskunft der Bun-
desregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage
der Fraktion Die Linke (Bundestagsdrucksache 17/4073)
vom Bundesverfassungsgericht dementiert. Der heute
verhandelte Antrag der Fraktion Die Linke zu den
Akteneinsichtsrechten beim Bundesverfassungsgericht
(Bundestagsdrucksache 17/4037) basiert auf dieser
Annahme, die in der Zwischenzeit widerlegt wurde. In
dieser Richtung ist seit 2010 keine Initiative des Ple-
nums des Bundesverfassungsgerichts bekannt.
In Reaktion auf die Debatte zu den Sperrfristen stellte
der Ständige Ausschuss des 38. Rechtshistorikertages
die Forderung nach einer verbindlichen Regel auf, die
Verlässlichkeit im Umgang mit der Entscheidung auf
Akteneinsicht und somit mehr Planungssicherheit für die
Forschung bringen sollte. Die Regel sollte sich an den
Sperrfristen von 30 und höchstens 60 Jahren orientieren,
die sich mit dem Bundesarchivgesetz bewährt haben.
So gerechtfertigt in gewissen Fällen die Ablehnung
von Akteneinsicht aus Gründen des Beratungsgeheim-
nisses oder des Schutzes von Persönlichkeitsrechten sein
mögen, so lässt sich durchaus in Zweifel ziehen, ob sol-
che Begründungen noch heute für Verfassungsgerichts-
entscheide aus den 1950er-Jahren stichhaltig sind. Ver-
einzelt wurde von Rechtshistorikern auf die spezielle
Verfahrenspraxis des Bundesverfassungsgerichts in
Bezug auf die Nebenakten hingewiesen, so zum Beispiel
von Thomas Henne und Arne Riedlinger in ihrem Band
über das Lüth-Urteil.
Es wird zu prüfen sein, inwiefern der Gesetzgeber
aufgefordert ist, klare Regelungen für den Umgang mit
den Unterlagen des Bundesverfassungsgerichts zu schaf-
fen, wie sie für andere Bundeseinrichtungen mit dem
Bundesarchivgesetz gelten. Die öffentliche Anhörung im
Februar dieses Jahres hat klar ergeben, dass sowohl
Rechtshistoriker als auch der Leiter des Bundesarchivs
Michael Hollmann Handlungsbedarf sehen. Es ist wich-
tig, auch die relativ kleine Klientel der Wissenschaftler
zu hören, für deren Forschung die Einsicht in diese
Unterlagen essenziell ist.
Die Anträge der Fraktion Die Linke bieten keine ver-
nünftige Lösung an, sind veraltet und daher abzulehnen.
Jan Korte (DIE LINKE): Wir reden heute über zwei
Anträge der Fraktion Die Linke, die beide im Kern die
Demokratisierung und Nachvollziehbarkeit von politi-
schem Handeln fordern. Wir leben in einer Informations-
und Wissensgesellschaft, in der Informationen durch den
Einsatz von elektronischer Kommunikation und Medien
immer mehr zurückgehen. Die politische Entwicklung
hinkt dieser gesellschaftlichen Realität weit hinterher.
Das Informationsfreiheitsgesetz ist ein Schritt in die
richtige Richtung. In der Praxis jedoch sind die Informa-
tionsrechte und -pflichten nicht weitgehend genug, oder
es wird ihnen von behördlicher Seite nicht nachgekom-
men. Zudem verhindert eine Vielzahl gesetzlicher Ge-
heimhaltungsvorschriften bisher eine effektive Anwen-
dung des Informationsfreiheitsgesetzes und des
Bundesarchivgesetzes.
Diese Lage zu verbessern, ist unser Anliegen. Uns
geht es dabei aber nicht nur um die demokratische Kon-
trolle behördlicher Vorgänge. Der freie Zugang zu histo-
risch und politisch relevanten Informationen ist eine Vo-
raussetzung für eine kritische Auseinandersetzung mit
der eigenen Geschichte, für eine kritische Wissenschaft
und für das demokratische Selbstverständnis der Bun-
desrepublik. Statt diese konstruktive Auseinanderset-
zung mit unserer Geschichte zu fördern, wehren sich Be-
hörden – bis hin zum Bundesverfassungsgericht – mit
Händen und Füßen gegen die Veröffentlichung von Ak-
ten, die teilweise ein halbes Jahrhundert alt sind.
In unserem Antrag „Akteneinsichtsrechte Dritter in
Verfahrensakten des Bundesverfassungsgerichtes stär-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20439
(A) (C)
(D)(B)
ken“ fordern wir eine klare Regelung zur Aktenfreigabe.
Das Bundesverfassungsgericht ist in den letzten Jahr-
zehnten zu einem politischen Machtfaktor geworden.
Der Kurs der letzten Bundesregierungen, mit der Gesetz-
gebung regelmäßig und bewusst immer weiter an die
Grenzen unserer Verfassung zu stoßen und sie teilweise
zu überschreiten, macht das Gericht zum Raum politi-
scher Auseinandersetzungen. Gerade deshalb gibt es kei-
nen Grund, die Beweggründe des Verfassungsgerichts
im Geheimen zu halten, weder bei aktuellen Auseinan-
dersetzungen noch bei lange vergangenen Entscheidun-
gen. Die Kenntnis über vergangene Beratungsabläufe
wird die Unabhängigkeit zukünftiger Entscheidungen
nicht beeinflussen, erst recht nicht, wenn sie über fünfzig
Jahre zurückliegen. 1956 entschied das Bundesverfas-
sungsgericht, die KPD zu verbieten. Die Folge war nicht
nur die Illegalisierung einer politischen Kraft, sondern
auch ein hartes Vorgehen des Staates gegen Kommunis-
ten, Sympathisanten oder andere, die man dafür hielt.
Bis heute sind die Verfahrensakten in ihrer Gesamtheit
der Öffentlichkeit nicht zugänglich, weder für Journalis-
ten noch für Wissenschaftler, geschweige denn für inte-
ressierte Bürgerinnen und Bürger. Das kann man beim
besten Willen niemandem erklären.
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts las-
sen sich nicht alleine am Ergebnis, sondern vor allem in
Kenntnis des Entscheidungsfindungsprozesses aufarbei-
ten. Trotz der umfassenden Kompetenzen des Gerichts
und der politischen Konsequenzen von Urteilen, die ein
Höchstmaß an Transparenz bei der Entscheidungsfin-
dung erwarten lassen, stoßen Wissenschaft und Presse
nicht nur bei politisch besonders brisanten Entscheidun-
gen regelmäßig auf erhebliche und kaum überwindbare
Widerstände, wenn sie Akten teilweise oder vollständig
einsehen wollen. Deshalb fordern wir – da schließen wir
uns den Forderungen in der Resolution des Deutschen
Rechtshistorikertages in Münster an –, die Aktenein-
sicht- und Auskunftsrechte Dritter im Bundesverfas-
sungsgerichtsgesetz nach Vorbild des Bundesarchivge-
setzes zu konkretisieren und außerdem die Sperrfristen
im Bundesarchivgesetz um 20 Jahre zu verkürzen. Es ist
überfällig, dass wir uns im Bundestag mit diesem Thema
befassen, und ich hoffe, dass die substanziellen Vor-
schläge in unserem Antrag Grundlage für einen kon-
struktiv geführten interfraktionellen Dialog sein können.
Zum zweiten Antrag „Demokratie durch Transparenz
stärken – Deklassifizierung von Verschlusssachen ge-
setzlich regeln“. Ende letzten Jahres ging durch die
Presse, dass beim Bundesnachrichtendienst 1996 und
2007 offenbar 253 Personalakten aus der Nachkriegszeit
vernichtet worden sind, Akten von BND-Mitarbeitern,
die einst Mitglied der SS oder der Gestapo gewesen sind,
zu denen weder Geschichtswissenschaftler noch Journa-
listen bisher Zugang hatten, weil sie jahrzehntelang als
Verschlusssachen eingestuft waren und die auch der His-
torikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des
Geheimdienstes nun fehlen. Ich glaube, dass es nicht
sein kann, dass mehr als ein halbes Jahrhundert nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Aufarbeitung der
NS-Vergangenheit noch immer an als Verschlusssache
qualifizierten Unterlagen scheitert. Wir fordern daher,
die sofortige Deklassifizierung und Offenlegung aller
Akten und Unterlagen nach dem Vorbild des Nazi War
Crimes Disclosure Act des US-amerikanischen Kongres-
ses gesetzlich zu regeln. Dafür ist es allerhöchste Zeit.
Die Geheimhaltung von Akten betrifft nicht nur den
BND. Allein 6 Millionen Dokumente von Ministerien
und Behörden sind als Verschlusssache eingestuft, selbst
wenn sie schon Jahrzehnte alt sind. Diese Praxis stammt
aus vergangenen, vordemokratischen Zeiten, in denen
der Besitz und die Geheimhaltung von Informationen
klassisches Mittel des Machterhalts Einzelner waren.
Staatliches Handeln in einer Demokratie hat sich am Ge-
meinwohl zu orientieren und muss demokratisch legiti-
miert sein. Diese Legitimation ist nicht gegeben, wenn
es unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgt und Akten
zu Vorgängen in Behörden und Ministerien für etliche
Jahrzehnte unzugänglich sind. Wir fordern daher die au-
tomatische Deklassifizierung von Verschlusssachen nach
spätestens 20 Jahren ohne die Möglichkeit der Verlänge-
rung.
Für eine Demokratie – darin sollten wir uns alle einig
sein – stellt Wissen keine Gefahr dar. Im Gegenteil:
Transparenz und Offenheit stärken die Demokratie und
verhindern Lobbyismus, Korruption und Desinforma-
tion. In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung zu unse-
ren Vorschlägen.
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wir befinden uns mitten in einem historisch
bedeutsamen Paradigmenwechsel von der Amtsver-
schwiegenheit bzw. dem Prinzip der Geheimhaltung hin
zum Prinzip der Öffentlichkeit der Verwaltung. Es ist ein
zumindest in Teilen mühsamer Prozess. Es ist von
Widerständen in manchen Amtsstuben geprägt und auch
im Parlament trotz einer umfänglichen EU-Gesetzge-
bung sowie Informationsfreiheitsgesetzen in Bund und
Ländern – nach wie vor ein junger Prozess. Beredtes
Zeugnis über diesen Widerstreit legen insbesondere die
regelmäßig erscheinenden Tätigkeitsberichte des Bun-
des- sowie der Landesbeauftragten für Informationsfrei-
heit ab.
Es lohnt, sich zunächst die Hintergründe des notwen-
digen Wechsels zum Grundsatz der Öffentlichkeit der
Verwaltung zu vergegenwärtigen. Dieser bedeutet die
Konsequenz aus einem nahezu vollständig gewandelten
Verständnis von öffentlicher Verwaltung. „Bürokratische
Verwaltung ist ihrer Tendenz nach stets Verwaltung mit
Ausschluss der Öffentlichkeit“, hieß es noch bei Max
Weber. Für ihn musste das Wissen der Exekutive sich im
Kampf mit der Legislative zum Geheimnis verdichten,
um Machtinteressen und Kontrolle zu erhalten und Kri-
tik einzudämmen. Weitaus nüchterner gewendet könnte
auch argumentiert werden, dass eine bürokratische und
auf Recht und Gesetz fußende Verwaltung keinerlei
Öffentlichkeit braucht, weil sie effizienter ohne arbeitet:
Dahinter steht die Vorstellung eindeutig determinierter,
rechtlich festgelegter Entscheidungsprozesse.
Diese Vorstellung von Verwaltung passt heute – wenn
überhaupt je – nicht mehr. Die moderne Verwaltungspra-
xis hat sich unter dem Eindruck tiefgreifender gesell-
20440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
schaftlicher Veränderungen wie zum Beispiel dem Wan-
del zum Präventionsstaat grundlegend verändert. Die
Ablösung des rein hierarchischen und in einer durch-
gehenden demokratischen Legitimationskette stehenden
Gesetzesvollzuges durch weite, flexiblere Einschät-
zungs- und Entscheidungsspielräume bis hin zur Verwal-
tung als kooperierender Vertragspartner prägen heute das
Bild. Ohne eine grundlegende eigene demokratische
Absicherung lässt sich dieser Wandel nicht rechtfertigen.
Die Rückkopplung an den Volkswillen geschieht durch
Öffentlichkeit. Das Transparenzprinzip ist damit Grund-
voraussetzung der Legitimation moderner Verwaltung.
Ganz konkret führt dies auch zu einem individuellen und
voraussetzungslosen Auskunftsanspruch der Bürgerin-
nen und Bürger gegenüber öffentlichen Stellen. Es ist ihr
gutes Recht.
Der Antrag „Demokratie durch Transparenz stärken –
Deklassifizierung von Verschlusssachen gesetzlich re-
geln“ (Bundestagsdrucksache 17/6128) greift ein drän-
gendes Problem bei der Realisierung dieses Transpa-
renzprinzips in der Praxis auf. Er ist deshalb in seiner
Grundtendenz zu begrüßen. Denn die Aktenöffentlich-
keit als Teilausprägung des Transparenzprinzips schei-
tert in der Praxis durch eine Kombination von Faktoren:
Rein rechtlich betrachtet wurden zwar umfängliche
Rechtsgrundlagen für den Informationszugang geschaf-
fen. Diese werden jedoch in vielen Fällen durch ebenso
umfängliche Einschränkungen wieder zurückgenom-
men bzw. erheblich relativiert.
Eine dieser Einschränkungen liegt in § 3 Nr. 4 des
Bundesinformationsfreiheitsgesetzes. Werden Informa-
tionen auf der Grundlage behördeninterner Verwaltungs-
vorschriften als Verschlusssachen eingestuft, entfällt der
Informationsanspruch der Öffentlichkeit bzw. der Bürge-
rinnen und Bürger. Die dementsprechend maßgebliche
VS-Anweisung, VSA, des Bundes legt die Entscheidung
für eine Einstufung auf der Grundlage sehr abstrakter
und ausschließlich an Geheimhaltung orientierter
Begrifflichkeiten weitgehend in die Hände der Behör-
denmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Hier kommt der
zweite begrenzende Faktor für mehr Transparenz voll
zum Tragen, nämlich die nach wie vor sehr verbreitete
Grundeinstellung in den Köpfen, dass die Öffentlichkeit
außen vor zu bleiben habe. Die etablierte Arkankultur
der öffentlichen Verwaltung, wie sie vielfach von den
Informationsbeauftragten beschrieben und kritisiert
wird, steht einer weiteren Öffnung immer noch entge-
gen. Im Falle der Verschlusssachen besteht eine beson-
ders weitgehende Möglichkeit, das Wissen der Verwal-
tung insbesondere über sehr lange Zeiträume der
Wahrnehmung der Öffentlichkeit zu entziehen. Über-
greifend sind davon auch nach den Archivgesetzen
erfasste Bestände betroffen, die damit der historischen
Forschung, aber auch besonderen journalistischen Inte-
ressen grundsätzlich nicht offenstehen. Skandalös
erscheint dies vor dem Hintergrund der besonderen
geschichtlichen Verantwortung der Bundesrepublik
Deutschland ganz besonders im Zusammenhang mit der
Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.
Deshalb ist die Forderung des Antrags der Linksfrak-
tion nach einer Vergesetzlichung der VS-Anweisung
dann zutreffend, wenn auf diese Weise tatsächlich eine
am Ziel des Transparenzprinzips ausgerichtete Neufas-
sung bewirkt werden kann. Hinsichtlich der Einzelheiten
einer solchen Regelung ist es sicher sinnvoll, eine ein-
gehende parlamentarische Anhörung durchzuführen.
Fragen etwa wirft der Vorschlag des Antrags auf, eine
automatische Deklassifizierung nach 20 Jahren herbei-
zuführen. Angesichts der zum Teil sehr unterschiedlich
gelagerten, legitimen Einschränkungen des Transparenz-
prinzips wie zum Beispiel den Persönlichkeitsrechten,
aber auch besonderen Geheimhaltungspflichten, etwa
beim Informantenschutz, muss hier sehr genau hinge-
schaut werden. Wir sollten deshalb die nach der jetzigen
Rechtslage zum Teil sehr undifferenzierten Bereichsaus-
nahmen zum Nachteil des Transparenzprinzips nicht mit
gleichermaßen pauschalen Vorgaben zugunsten dieses
Prinzips beantworten. Sachgerechte Verbesserungen der
Transparenz sind hier anzustreben. Insgesamt greift auch
eine allein auf die Frage der Verschlusssachen angelegte
Reform deutlich zu kurz. Zahlreiche weitere Baustellen
im Bereich des Informationsfreiheitsgesetzes verpflich-
ten vielmehr zu einer umfassenderen Modernisierung
zugunsten von mehr Transparenz für die Bürgerinnen
und Bürger.
Klar ist ferner auch, dass eine Änderung der normati-
ven Grundlagen allein keine wirkliche Veränderung
bewirken kann. Eine verkürzte, allein juridische Sicht-
weise der Hindernisse auf dem Weg zu mehr Transpa-
renz würde verkennen, das auch das Selbstverständnis
und die Arkankultur in den Behörden selbst mit in den
Blick genommen und mit zusätzlichen Maßnahmen Ver-
änderungen angestoßen werden sollten.
Die von der Linksfraktion heute vorgenommene Ver-
bindung der Thematik der Verschlusssachen mit der
Frage der Zugänglichmachung von Akten des Bundes-
verfassungsgerichts ist dagegen keineswegs zwingend.
Denn als Teil der Judikative unterliegt das höchste deut-
sche Gericht durchaus anderen Transparenzmaßstäben
als die unter einem besonderen demokratischen Legiti-
mationsdruck stehende Verwaltung. Das ergibt sich nicht
zuletzt aus der besonderen verfassungsrechtlichen Stel-
lung, insbesondere der den Richtern gewährten richterli-
chen Unabhängigkeit und der zum Schutz dieser Unab-
hängigkeit bestehenden Regelungen, aber auch weil der
rechtliche Rahmen der Arbeit des Gerichts keine ver-
gleichbar grundlegenden Veränderungen erfahren hat
wie die Verwaltung.
Gleichwohl gilt auch hier, dass sich der gesellschaftli-
che Kontext, in dem das Gericht heute seine Entschei-
dung trifft, verändert und dementsprechend auch die an
das Gericht herangetragenen Prozesse. Kaum von der
Hand zu weisen ist insbesondere die gewachsene politi-
sche Bedeutung seiner Entscheidungen angesichts zu-
nehmender Entscheidungsdelegation durch die Politik.
Es ist deshalb naheliegend, dass heute ein weitaus
umfänglicheres, legitimes öffentliches Interesse der his-
torischen Forschung, zum Beispiel zur Entstehung der
besonders herausragenden und gesellschaftspolitisch
relevanten Entscheidungen des Gerichts, besteht. Dabei
können beispielsweise auch die bislang von Auskunfts-
ansprüchen nicht miterfassten Voten der Richter von
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20441
(A) (C)
(D)(B)
Interesse sein. Insgesamt macht es deshalb, im Aus-
tausch auch mit dem Bundesverfassungsgericht selbst,
Sinn, darüber nachzudenken, auf welche Weise Verbes-
serungen der Auskunftsrechte herbeigeführt werden
können, ohne das richterliche Beratungsgeheimnis
unverhältnismäßig einzuschränken.
Nach unseren Informationen ist es allerdings unzu-
treffend, dass das Gericht eine pauschale Sperrfrist von
90 Jahren für alle „Verfahrensakten“ anstrebt. Hier kön-
nen wir deshalb schon den Feststellungen des Antrags
nicht folgen. Hinsichtlich des Forderungsteils gilt: Es
bestehen derzeit differenzierende Regelungen, die nach
veröffentlichten und unveröffentlichten Entscheidungen
unterscheiden und die unseres Wissens nicht grundle-
gend verändert werden sollen. Die Akten unveröffent-
lichter Entscheidungen etwa können nach 30 Jahren ver-
nichtet werden, über ihre mögliche Umwidmung als
Archivgut – mit der dann entsprechenden Anwendbar-
keit des Bundesarchivgesetzes – entscheidet das Gericht
im Einvernehmen mit dem Bundesarchiv. Es gibt dem-
nach keine – uneingeschränkte – Angebots- und Überga-
bepflicht, wie im Antrag der Linken dargestellt. Die pau-
schale Forderung aber, die Sperrfristen im Archivgesetz
pauschal um 20 Jahre zu verkürzen, geht weit über den
im Antrag zugrunde gelegten Fall hinaus, und es fehlt
damit schon an einer hinlänglichen Begründung. Die
vielfältigen und bei der gesetzlichen Regelung zu
berücksichtigenden gegenläufigen Interessen erfordern
eine differenzierte Bewertung, die hier nicht einmal im
Ansatz erkennbar ist. So dürfte eine pauschale Verkür-
zung um 20 Jahre deutliche Veränderungen bei der
Betroffenheit von Persönlichkeitsrechten nach sich zie-
hen, die nicht einfach ignoriert werden dürfen.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
den Änderungen vom 30. September 2011 des
Übereinkommens vom 29. Mai 1990 zur Errich-
tung der Europäischen Bank für Wiederaufbau
und Entwicklung (Tagesordnungspunkt 15)
Norbert Schindler (CDU/CSU): Wir beschließen
heute in zweiter und dritter Beratung den Gesetzentwurf
zur Änderung der Aufgaben der Europäischen Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung, EBWE, in London. Mit
der Zustimmung zu diesem Gesetz soll der Beschluss
des Gouverneursrats der Bank, den Einsatzbereich der
EBWE auf die Länder des südlichen und östlichen
Mittelmeerraumes auszuweiten, auch von Deutschland
unterstützt werden.
Deutschland ist Gründungsmitglied der 1991 errichte-
ten multilateralen EBWE; insgesamt gibt es 65 nationale
und supranationale Anteilseigner, von denen Deutsch-
land mit einem Kapitalanteil von 8,5 Prozent neben
Frankreich, Italien, Großbritannien und Japan eines der
größten Mitglieder ist. Lediglich die USA halten mehr,
nämlich 10 Prozent des Kapitals.
Die Errichtung der EBWE war eine Reaktion auf die
historischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa
nach dem Fall der Berliner Mauer. Der politische Auf-
trag der Bank war die Förderung von Demokratie und
Marktwirtschaft in ihren 30 Einsatzländern in Mittel-,
Ost- und Südosteuropa, der Kaukasusregion, Zentral-
asien, Russland, Mongolei und der Türkei. Sie finanziert
dabei mittels Darlehen und Kapitalbeteiligungen Investi-
tionsprojekte insbesondere im privaten, aber auch im
öffentlichen Sektor. Hauptaugenmerk ist dabei die öko-
nomische Tragfähigkeit der Projekte und das Voranbrin-
gen der wirtschaftlichen Entwicklung der Länder.
Das Geschäftsvolumen der EBWE belief sich im Jahr
2011 auf circa 9 Milliarden Euro, das Gesamtportfolio,
Kredite und Beteiligungen, auf rund 35 Milliarden Euro.
Daneben unterhält die EBWE ein umfangreiches, von
Gebern gespeistes Fondsprogramm zur Bereitstellung
von fachlicher Beratung und Unterstützung von Investi-
tionen in den Einsatzländern. In den letzten 20 Jahren
verwaltete die Bank dafür über 200 bilateral und multi-
lateral gespeiste Fonds für technische Zusammenarbeit
im Gesamtvolumen von 1,7 Milliarden Euro. Prominen-
tes Beispiel sind sechs Nuklearsicherheits- und Still-
legungsfonds. Der größte davon ist für die Überführung
des zerstörten Reaktors in Tschernobyl in einen umwelt-
sicheren Zustand bestimmt. Die Verwaltung der Fonds
durch die Bank erfolgt mit der gleichen Sorgfalt wie das
normale Bankgeschäft. Die Kontrolle über die Verwen-
dung der Fondsmittel erfolgt grundsätzlich in regelmäßi-
gen Geberversammlungen.
Voraussetzung für ein Tätigwerden der Europäischen
Bank für Wiederaufbau und Entwicklung war und ist,
dass in den Ländern demokratische Grundsätze einge-
halten werden. Dies wird auch vom Gouverneursrat,
dem höchsten Beschlussorgan der Bank, dem Bundes-
finanzminister Dr. Wolfgang Schäuble als Vertreter der
Bundesrepublik Deutschland angehört, überprüft.
Ebenso werden dort grundsätzliche Entscheidungen für
die Aufgaben der 1 600 Mitarbeiter der Zentrale und der
Regionalbüros getroffen. So hat der Gouverneursrat am
30. September 2011 durch Resolution die Ausdehnung
des Mandats der EBWE auf die Staaten des südlichen
und östlichen Mittelmeerraums beschlossen. Voran-
gegangen war eine Initiative der G-8-Staaten zur Unter-
stützung des Demokratisierungsprozesses in diesen
Staaten, die auch eine finanzielle Hilfe durch internatio-
nale Finanzinstitutionen vorsieht. Diese Ausweitung soll
durch klare geografische Eingrenzung auf die unmittel-
bare Nachbarschaft den europäischen Charakter der
Bank bewahren, auch ohne die grundsätzliche Ausrich-
tung der EBWE zu verändern.
Bei der räumlichen Ausweitung des Mandats der
EBWE handelt es sich lediglich um eine Option, die
Finanzierungstätigkeit auch auf die Länder des südlichen
und östlichen Mittelmeerraus auszuweiten. Damit könn-
ten die Länder Ägypten, Algerien, Jordanien, Libanon,
Libyen, Marokko, Syrien, Tunesien sowie die palästi-
nensischen Gebiete, die zum Teil bereits Mitglied der
EBWE sind, unter der Voraussetzung, dass sie sich
Mehrparteiendemokratie und Pluralismus verpflichten,
gefördert werden. In einem ersten Schritt hat die EBWE
20442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
Maßnahmen der technischen Hilfe und ähnliche Aktivi-
täten mit sogenannten Kooperationsfonds gestartet, die
durch Gewinnzuweisungen sowie durch externe Geber
finanziert werden. Kredite und Beteiligungen können
daraus jedoch nicht finanziert werden.
Dies ist der Hauptgrund, warum ich die Mandatser-
weiterung nicht so kritisch betrachte wie einige Kolle-
ginnen und Kollegen der Opposition. Mir liegt am Her-
zen, dass neben der politischen Unterstützung des
arabischen Frühlings dieser auch mit finanziellen Mit-
teln im privaten und öffentlichen Sektor flankiert wird.
Denn der politische Umbruch in den arabischen Staaten
des Mittelmeerraums wird nur erfolgreich sein, wenn
damit ein wirtschaftlicher Erfolg einhergeht. Auf die
Risiken eines mangelnden wirtschaftlichen Erfolgs muss
ich hier wohl nicht näher eingehen.
Die mögliche Unterstützung durch die Europäische
Bank für Wiederaufbau und Entwicklung mit konkreten
Maßnahmen ist richtig und wichtig, denn auch hier ste-
hen wir vor einem ähnlichen Transformationsprozess
wie zu dem Zeitpunkt, als die Bank gegründet wurde.
Große politische Risiken, die durch Terrorismus, Migra-
tionsbewegungen und andere Aspekte immense Kosten
für die Europäische Union mit sich bringen würden,
können mit den geplanten Maßnahmen der EBWE zu-
mindest geschmälert werden.
Die von der Opposition angeführte zu wenig an den
Zielen des EU-Vertrags ausgerichtete Geschäftstätigkeit
kann ich nicht erkennen. Auch steht die EBWE nicht in
Konkurrenz mit bereits in der Region tätigen Institutio-
nen, sondern ergänzt diese. Da die Koordinierung der
internationalen Finanzinstitutionen, zum Beispiel Euro-
päische Investitionsbank, Afrikanische Entwicklungs-
bank, im Mittelmeerraum durch die G-8-Länder inner-
halb der sogenannten Deauville-Partnerschaft erfolgt, ist
eine Überschneidung der Aufgaben und der Tätigkeiten
auch nicht zu erwarten.
Der Forderung der Mitglieder des Finanzausschusses
nach einer Gesamtübersicht des Aufgabenspektrums der
international tätigen Entwicklungsbanken, an denen die
Bundesrepublik Deutschland beteiligt ist, schließe ich
mich ausdrücklich an. Auch sollte die Frage nach einer
besseren parlamentarischen Kontrolle dieser Banken
noch einmal debattiert werden.
Abschließend sei noch einmal betont: Das geplante
finanzielle Engagement der EBWE in den potenziellen
Empfängerländern, zunächst über einen Sonderfonds, ist
richtig und deckt sich mit den politischen Zielen der
Bundesrepublik Deutschland und der EU. Die Möglich-
keiten hierfür müssen sehr schnell geschaffen werden,
deshalb gilt es, die Voraussetzungen für die Ratifizie-
rung der Änderungen des Übereinkommens zur Errich-
tung der EBWE hier und heute im Parlament zu
beschließen. Damit dokumentieren wir unsere Unterstüt-
zung für die Staaten des Mittelmeerraums, die sich der
Mehrparteiendemokratie und dem Pluralismus verpflich-
tet haben, auch in multilateraler finanzieller Art und
Weise.
Manfred Zöllmer (SPD): Wir haben Ende der 80er-
und zu Beginn der 90er-Jahre mit den Umbrüchen in
Mittel- und Osteuropa eine der größten politischen Zäsu-
ren des 20. Jahrhunderts erlebt. Diese Umbrüche in der
Auflösung politischer Systeme und des kommunisti-
schen Blocks haben Europa nachhaltig verändert. Im
vergangenen Jahr haben wir in zuvor kaum vorstellbarer
Weise den sogenannten arabischen Frühling erlebt, in
dem sich die Menschen in verschiedenen arabischen
Ländern gegen ihre Diktatoren erhoben und für neue de-
mokratische Strukturen auf die Straße gingen, um sich
aus den autokratischen Fesseln zu befreien. Diese Trans-
formationsprozesse sind schwierig, bieten aber eine
große Chance, in zuvor autokratischen Ländern eine De-
mokratisierung und einen freien Wettbewerb und eine
freie Wirtschaft zu etablieren. Derartige Umbrüche ha-
ben auch einschneidende Folgen für die internationalen
Beziehungen und machen ein Umdenken in internationa-
len oder supranationalen Organisationen nötig. Diese
Prozesse brauchen unsere Hilfe und Unterstützung.
Die Errichtung der Europäischen Bank für Wieder-
aufbau und Entwicklung war eine Reaktion auf die histo-
rischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa Ende
der 80er-Jahre und eine sehr gute Initiative des damali-
gen französischen Präsidenten Mitterrand. Nicht zuletzt
vor dem Hintergrund des Mauerfalls wurde Deutschland
Gründungsmitglied der 1991 in London errichteten mul-
tilateralen europäischen Bank. Sie hat insgesamt 63 na-
tionale und supranationale Anteilseigner. Mit einem Ka-
pitalanteil von 8,5 Prozent ist Deutschland einer der
größten EBWE-Mitglieder.
Die Bank fördert mit ihren Projekten die demokrati-
sche Entwicklung und die Marktwirtschaft in 30 Einsatz-
ländern in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, der Kauka-
susregion, Zentralasien, Russland und der Türkei. Im
Detail finanziert die EBWE ausgewählte Investitions-
projekte sowohl im privaten wie im öffentlichen Sektor,
die ökonomisch tragfähig sein müssen, um die wirt-
schaftliche Entwicklung der jeweiligen Länder voranzu-
bringen. Dies geschieht in erster Linie durch Darlehen,
Garantien und Kapitalbeteiligungen. Dabei finanziert
und investiert die EBWE nur gemeinsam mit anderen In-
vestoren und Finanziers, sodass wir über ein stattliches
Gesamtvolumen von 179 Milliarden Euro sprechen kön-
nen.
Der Wert der EBWE-Projekte mit Beteiligung deut-
scher Unternehmen belief sich im Januar 2011 auf 16,8
Milliarden Euro. Die meisten Projekte mit deutscher Be-
teiligung erfolgten in Russland, Polen und Ungarn. Die
EBWE stellt Projektfinanzierungen für Banken, Indus-
trieunternehmen und Firmen bereit. Dies betrifft sowohl
Neugründungen als auch Investitionen in laufende Un-
ternehmen. Die Projekte werden den Bedürfnissen der
Kunden und der besonderen Lage des Landes, der Re-
gion oder des Sektors angepasst. Die Direktinvestitionen
der EBWE liegen in der Regel zwischen 5 und 230 Mil-
lionen Euro.
Inzwischen hat die EBWE 2 500 Projekte initiiert.
Um dies einmal anschaulich zu machen, will ich exem-
plarisch drei größere Projekte der letzten Zeit nennen:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20443
(A) (C)
(D)(B)
Im Januar dieses Jahres wurde die Ada-Brücke in Bel-
grad eröffnet, die die bisher relativ isolierten Teile der
serbischen Hauptstadt verbindet. Die neue Brücke dient
nicht nur der Verbindung oder als touristische Attrak-
tion, sondern verbessert als Verkehrsweg auch den natio-
nalen und internationalen Handel über den Fluss Sava.
Die Ada-Brücke wurde mit 130 Millionen Euro Kredit
der EBWE mitfinanziert.
Um kleine und mittelständische Unternehmen in Ar-
menien hin zu einer nachhaltigen Produktion zu fördern,
hat die EBWE nicht nur mit Finanzierungsmitteln, son-
dern auch bei der Verbesserung der Transparenz und
Corporate Governance geholfen. Dem Unternehmen
Saranist, einem der führenden Glas- und Flaschenherstel-
ler in Armenien, wurden Umwelt- und soziale Auswir-
kungsanalysen finanziert, damit Arbeits- und Umwelt-
standards etabliert werden konnten. Dies wurde mit
einem Darlehen in Höhe von knapp 6 Millionen Euro fi-
nanziert.
In Rumänien strebt die Regierung eine 20-prozentige
Energieeinsparung bis zum Jahr 2020 an. Um dieses Ziel
zu erreichen, hat die EBWE Energieeinsparprogramme
im öffentlichen Sektor in Rumänien unterstützt. Im Juli
2011 gewährte die EBWE einen Unternehmenskredit in
Höhe von 10 Millionen Euro dem landesweit größten
Elektrotechnikunternehmen für neue Netzverbindun-
gen. Mit dieser zehnjährigen Anleihe wird die Energie-
effizienz nachhaltig verbessert.
Diese Beispiele belegen sehr gut die Vielfältigkeit der
Projekte. Aber sie belegen auch, dass wir nicht in jedes
Projektdetail der EBWE eintauchen können, weil wir
sonst damit parlamentarische Kontrollrechte überstrapa-
zieren würden. Hierzu haben wir uns gestern im Finanz-
ausschuss bereits ausgetauscht.
Aufgrund der genannten neuen politischen und ge-
sellschaftlichen Umbrüche in den Ländern des südlichen
und östlichen Mittelmeerraums besteht zwischen den
63 Anteilseignern der Bank nunmehr Einvernehmen da-
rüber, das Mandat der Bank auszuweiten. Vorgesehen ist
eine Ausweitung der Finanzierungstätigkeit der Bank
auf Ägypten, Algerien, Jordanien, den Libanon, Libyen,
Marokko, Syrien, Tunesien sowie die palästinensischen
Gebiete. Dies ist richtig und findet unsere volle Unter-
stützung. Die Menschen erwarten als Ergebnis ihrer re-
volutionären Aktionen möglichst bald eine deutliche
Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation. Dies ist
nachvollziehbar, doch solche Entwicklungen brauchen
Zeit und Unterstützung. Die Europäische Bank für Wie-
deraufbau und Entwicklung kann zukünftig eine solche
Unterstützung leisten. Die Finanzierung soll über Son-
derfonds erfolgen. Wir begrüßen und unterstützen diesen
Prozess und wünschen diesen Ländern eine gute Zu-
kunft.
Holger Krestel (FDP): Die ursprünglich zur Förde-
rung demokratischer und marktwirtschaftlicher Struktu-
ren in den ehemaligen GUS-Staaten nach dem Fall des
Eisernen Vorhangs gegründete Europäische Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung, EBWE, hat ihr Tätig-
keitsfeld inzwischen signifikant erweitert. Die Anteils-
eigner, unter denen sich auch die Bundesrepublik
Deutschland befindet, haben sich im September letzten
Jahres einstimmig darauf geeinigt, ihre Finanzierungstä-
tigkeiten auf den südlichen und östlichen Mittelmeer-
raum auszuweiten, um den Ländern, welche im Rahmen
des sogenannten arabischen Frühlings große Fortschritte
in der Demokratisierung erreicht haben, oder erreichen
können, in diesem Prozess behilflich zu sein. Als Ände-
rung eines völkerrechtlichen Vertrags bedarf dieser Be-
schluss nunmehr der Ratifikation durch dieses Haus.
Nun ist es legitim, einzuwenden, warum eine europäi-
sche Förderbank Projekte in Nordafrika unterstützen
sollte. Dies genau geschieht im europäischen Interesse,
und die Förderung demokratischer und markwirtschaftli-
cher Entwicklungen ist als Ziel in den Statuten der EBWE
fest verankert. Durch die geografische Nähe der neuen
Mandatsgebiete bleibt der europäische Charakter der
Bank bewahrt. Eine gezielte Auswahl von Projekten er-
möglicht es der Bank, dort umweltverträgliche, energie-
effiziente und nachhaltige Technologien zu etablieren.
Volkswirtschaften mit solchen Zielen unterstützt die
EBWE in besonderer Weise. Das liegt nicht nur im Inte-
resse der Europäischen Union, sondern der ganzen Welt-
gemeinschaft.
Dies sind nicht die ersten Tätigkeiten der EBWE au-
ßerhalb der europäischen Union. Es befinden sich bereits
zahlreiche Projekte in der Türkei, Kasachstan oder Aser-
baidschan zur Förderung des Transformationsprozesses
hin zu demokratischen und marktwirtschaftlichen Struk-
turen in der Durchführung. Wichtig hierbei ist, dass mit
undemokratischen Regierungen wie in Weißrussland
oder Usbekistan keine Zusammenarbeit stattfindet. Statt-
dessen werden privatwirtschaftliche Anstrengungen un-
terstützt, welche direkt den Menschen im Lande zugute-
kommen. Hierbei handelt es sich jedoch ausdrücklich
nicht um Almosen. Basis bleibt die Vergabe von Kredi-
ten an private Initiativen und Unternehmen, welche ne-
ben einem Mehrwert für die Gemeinschaft auch Ge-
winne erzielen und stets eine Rückzahlung der Kredite
anstreben. Diese Hilfe zur Selbsthilfe ist die effektivste
Art für selbstbestimmten Fortschritt ohne langfristige
Abhängigkeit vom Geldgeber. Dass von einer Entwick-
lung, die allen Seiten hilft, auch deutsche Unternehmen
profitieren können, ist eine Selbstverständlichkeit.
Freilich darf man nicht der Illusion erliegen, dass die-
ser Prozess ein Selbstläufer wäre. Es gilt zahlreiche
Schwierigkeiten zu bewältigen. Aber gerade weil die
EBWE mit ihrer Betreuung der Transformationsprozesse
von den ursprünglich staatlich gelenkten Volkswirtschaf-
ten in Osteuropa und Zentralasien umfassendes Know-
how angesammelt hat, ist sie für ihre neuen Aufgaben
besonders prädestiniert und auf viele Komplikationen
bereits vorbereitet. So herrschen vor Ort ganz andere Be-
dingungen, was Infrastruktur, Kultur und Organisations-
grad angeht, als es in den entwickelten Volkswirtschaf-
ten Europas der Fall ist.
Diese Unterschiede müssen bereits im Voraus antizi-
piert werden. Dies gilt auch so für die unabdingbare
Koordination mit anderen Förderbanken und Entwick-
20444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
lungshilfeorganisationen, um Überschneidungen zu ver-
hindern.
Wichtig an diesem Gesetz ist vor allem, dass es
schnell Handlungsfreiheit schafft. Durch die Änderung
des Art. 18 des Übereinkommens wird es möglich, be-
reits mit Zustimmung von 75 Prozent der Anteilseigner
und 80 Prozent des Kapitals Sonderfonds zu schaffen,
bis die restlichen Mitglieder ebenfalls ihre Ratifizierung
abgeschlossen haben. Allerdings ist damit nicht vor dem
Jahr 2013 zu rechnen. Damit schnell vor Ort gehandelt
werden kann, bitte ich Sie daher, diesem Entwurf zuzu-
stimmen.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Es steht außer Frage,
dass die Menschen in den im Gesetz genannten Regio-
nen zusätzlicher Hilfe für eine weitere Entwicklung und
einen Wiederaufbau bedürfen. Gerade die Aufstände
gegen die Despoten des südlichen und östlichen Mittel-
meerraums wurden getragen von der Generation der
unter 30-Jährigen, die in den damals herrschenden Ver-
hältnissen keine Perspektive mehr hatte. Es wird höchste
Zeit, allen Bewohnerinnen und Bewohnern dieser Staa-
ten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Dazu
gehören ohne Zweifel die Wahrung der Menschenrechte
und eine pluralistische Mehrparteiendemokratie. Doch
ohne die Sicherstellung der Grundbedürfnisse der Men-
schen – ausreichende Versorgung mit Nahrung, saube-
rem Trinkwasser, medizinischer Versorgung und Bil-
dung − wird jede weitere Entwicklung in diese Richtung
weiter erschwert oder verhindert.
Gerade an dieser Stelle sehen wir in dem von der Bun-
desregierung vorgelegten Gesetz ein großes Problem.
Denn die Europäische Bank für Wiederaufbau und Ent-
wicklung hat mit ihren Projekten in Osteuropa einen nur
sehr überschaubaren Erfolg erzielen können. Die Kon-
zentration auf die Entwicklung der osteuropäischen Staa-
ten zu offenen Marktwirtschaften hat häufig zu krassen
Fehlentwicklungen geführt. Bei der Ausbeutung fossiler
Rohstoffquellen für den Export in Industriestaaten ist es
zu massiven Umweltzerstörungen gekommen. Das Bin-
den der Förderung öffentlicher Projekte an Bedingungen
wie der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen hat
lediglich zu einer stärkeren Umverteilung zugunsten der
neuen Eigentümer geführt. Eine Verbesserung der Quali-
tät und des Zugangs zu diesen ehemals öffentlichen
Dienstleistungen ist nicht messbar. Das Dogma, Märkte
seien grundsätzlich besser als staatliches Handeln, ist
keine Basis für eine Politik, die auf Wiederaufbau und
Entwicklung von Staaten abzielt. Nur durch eine starke
Fokussierung auf die sozialen und ökologischen Auswir-
kungen der zu fördernden Projekte kann eine nachhaltige
Entwicklungspolitik Erfolg haben.
Zudem ist bisher viel zu gering gewürdigt worden,
dass wir es bei der betroffenen Gruppe von Staaten nur
bedingt mit Demokratien zu tun haben. Selbst in den
Staaten, deren Diktatoren durch Aufstände entmachtet
wurden, sind die dahinterstehenden autoritären Regime
noch nicht vollständig beseitigt. Die zukünftige Ent-
wicklung dieser Staaten ist derzeit noch nicht absehbar.
In Staaten wie Marokko oder Algerien kann von Demo-
kratie gar keine Rede sein. Den Einfluss der dortigen
Machthaber durch die Aktivitäten der Europäischen
Bank für Wiederaufbau und Entwicklung zu stärken, ist
unverantwortlich, insbesondere weil in einigen dieser
Staaten derzeit noch militärische Konflikte existieren,
im Gegensatz zur Situation der osteuropäischen Staaten
nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Das Instru-
mentarium der Europäischen Bank für Wiederaufbau
und Entwicklung ist für derartige Situationen ungeeig-
net.
Aus diesen Gründen werden wir den vorliegenden
Gesetzentwurf ablehnen, weil eine Erweiterung der geo-
grafischen Geschäftstätigkeit der Europäischen Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung ohne eine grundsätz-
liche Reform ihrer Ziele und Instrumente in der jetzigen
Situation nur kontraproduktive Effekte haben wird.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir Bündnisgrünen begrüßen den Aufbruch in vielen
Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens, wie wir sie
seit dem Frühjahr 2011 beobachten. Die Demokratisie-
rungswelle war und ist von großen Hoffnungen beglei-
tet. Ihr Erfolg wird auch davon abhängen, welche wirt-
schaftlichen Perspektiven es für die Menschen in den
jeweiligen Ländern gibt. Politischen Initiativen wie der
vorliegenden, die diesen Reformprozess ökonomisch
begleiten und stützen möchten, stehen wir daher im
Grundsatz aufgeschlossen gegenüber.
Für mich als Finanzpolitiker, der sich intensiv mit
Finanzmärkten und Banken, aber weniger stark mit
Außenpolitik beschäftigt, wirft der vorliegende Gesetz-
entwurf allerdings einige Fragen bezüglich des Wie die-
ser Unterstützung auf, die in unseren Beratungen im
Ausschuss in der Kürze der Zeit nicht umfassend geklärt
werden konnten.
Eine dieser Fragen lautet: Wer tut eigentlich was? Sie
stellt sich, weil es mit der Europäischen Bank für Wie-
deraufbau und Entwicklung, der Europäischen Investi-
tionsbank und der Entwicklungsbank des Europarates
gleich drei Entwicklungsbanken mit Bezug zu Europa
bzw. seinen Nachbarn gibt. Zugegeben: Im Detail haben
diese drei Banken unterschiedliche Mandate, Einsatz-
gebiete und Anteilseigner. Es gibt aber unzweifelhaft
auch viele Überschneidungen. Das zeigt sich auch beim
vorliegenden Gesetzesvorhaben, das ja im Kern das
künftige Einsatzgebiet der EBRD auf Länder des soge-
nannten arabischen Frühlings ausweiten will.
So ist die Europäische Investitionsbank bereits seit
zehn Jahren mit dem Programm FEMIP in Ländern des
östlichen und südlichen Mittelmeerraumes unterwegs –
also genau dort, wo künftig mittels des vorliegenden Ge-
setzentwurfs die EBRD tätig werden soll. Auch bei den
bereits von der EIB dort genutzten Förderinstrumenten
– Darlehen, Beteiligungskapital und Technische Hilfe –
und den Förderzielen sowie den Begünstigten – Unter-
stützung des Privatsektors durch Kredite – bestehen
große Schnittmengen zu dem, was die EBRD in dieser
Region vorhat.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20445
(A) (C)
(D)(B)
Warum also nicht vorhandene Förderkapazitäten in
der Region genutzt, sondern neue aufgebaut und somit
Doppelstrukturen produziert werden, erschließt sich mir
hier nicht. Ich kann auch derzeit nicht recht nachvollzie-
hen, warum die Wahl auf die EBRD, nicht aber auf die
Weltbank gefallen ist: Nach welchen Kriterien werden
hier eigentlich Entscheidungen getroffen? Und stehen
wirklich – wie es nach meinem Dafürhalten sein muss –
die Bedürfnisse der Menschen und die Beseitigung von
Entwicklungshemmnissen vor Ort im Zentrum der Ent-
scheidung, welche Bank aktiv wird? Spielen Erfolgskon-
trollen und Konzepte bei der Auswahl der richtigen
Förderbank eine Rolle?
Vor diesem Hintergrund erscheint es mir jedenfalls
richtig und wichtig, dass sich der Finanzausschuss des
Deutschen Bundestages einmal grundsätzlich mit der
Frage beschäftigt, ob die heutige Abgrenzung und
Arbeitsteilung der drei europäischen Förderbanken noch
überzeugt oder ob nicht eigentlich vieles dafür spricht,
hier mittelfristig Strukturen zusammenzulegen und die
so eingesparten Mittel für Förderzwecke einzusetzen.
Auch unter dem Blickwinkel einer kohärenten, aufeinan-
der abgestimmten Förderpolitik scheinen mir derlei
Fusionsgedanken zumindest diskussionswürdig. Bei die-
ser Gelegenheit sollten wir auch Überschneidungen mit
anderen multilateralen Entwicklungsbanken wie der
Weltbank in den Blick nehmen.
Im Gespräch der Berichterstatter des Finanzausschus-
ses haben wir eine solche Grundsatzdebatte über die
Förderstrukturen auf Europaebene ja auch bereits verab-
redet. Wichtig wäre mir, dass wir in eine solche Diskus-
sion auch Vertreter der Zivilgesellschaft einbeziehen.
Denn Nichtregierungsorganisationen wie Bankwatch
oder urgewald haben in Verbindung mit diesem Geset-
zesvorhaben durchaus – wie ich finde – substanzielle
Kritik vorgetragen. So messe die EBRD ihre Entwick-
lungserfolge nur unzureichend, setze in ihren Projekten
zu stark und einseitig auf den Export von Rohstoffen,
habe zu gravierenden Umweltbelastungen beigetragen
und vielerorts ungleiche Einkommensverteilungen eher
verstärkt als geglättet. Auch bestehe mit Blick auf die
jüngere Förderpraxis der Bank die Gefahr, dass die Mit-
tel der EBRD eher bestimmte Machtstrukturen in der
neuen Zielregion stützten, als dort den demokratischen
Wandel zu befördern. Der Einbezug zivilgesellschaftli-
cher Akteure scheint mir vor dem Hintergrund dieser
Kritiken sehr wichtig, um ein ausgewogenes Bild der
Lage zu erhalten.
Eine weitere Frage, die sich mir stellt, betrifft das be-
absichtigte Fördervolumen: Bisher wissen wir nicht,
über welchen finanziellen Einsatz wir hier eigentlich
sprechen – für mich eine unbefriedigende Entschei-
dungsgrundlage. Auch habe ich bisher nicht im Detail
nachvollziehen können, worin die konkreten Vorteile
und Hintergründe für den recht häufigen Einsatz von
derzeit 24, bald 25 Sonderfonds im Portfolio der EBRD
bestehen.
Vor dem Hintergrund dieser Vielzahl an noch offenen
Fragen wird sich meine Fraktion enthalten.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und
des Berichts zu dem Antrag: Das Bildungs- und
Teilhabepaket – Leistungen für Kinder und
Jugendliche unbürokratisch, zielgenau und
bedarfsgerecht erbringen (Tagesordnungs-
punkt 16)
Heike Brehmer (CDU/CSU): Mitmachen möglich
machen, dieses Motto setzt das Bildungs- und Teilhabe-
pakt seit nunmehr einem Jahr in die Tat um. Seit einem
Jahr bietet es Kindern und Jugendlichen aus Geringver-
dienerfamilien eine Chance, an gesellschaftlichen Akti-
vitäten und Bildungsangeboten in ihrem Umfeld teilzu-
nehmen. Rückwirkend zum 1. Januar 2011 konnten
Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Fami-
lien im Bereich Sport, Musik oder Kultur dabei sein. Sie
können an Schulausflügen und am gemeinsamen Mittag-
essen in der Schule, im Hort oder in der Kita teilnehmen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
in Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf,
einen Gesetzentwurf vorzulegen, der – nach ihren Wor-
ten – „eine echte soziokulturelle Existenzsicherung von
allen Kindern und Jugendlichen ermöglicht“. Gern ver-
weise ich Sie auf die Antwort der Bundesregierung
(Drucksache 17/8732). Haben Sie diese schon gelesen?
Darin heißt es – und das bringt es auf den Punkt –, das
Bildungs- und Teilhabepaket „dient der Deckung der
Bildungs- und Teilhabebedarfe von Kindern und Jugend-
lichen und sichert somit deren spezifisches soziokultu-
relles Existenzminimum“.
Meine Damen und Herren von den Grünen, ich habe
es Ihnen bereits in meiner Rede zum Bildungspaket im
Dezember letzten Jahres gesagt. Aber ich rufe es Ihnen
gern noch einmal in Erinnerung: Anders als ihre Kolle-
ginnen und Kollegen von der SPD haben Sie sich aus der
Verantwortung gestohlen, als es im Frühjahr 2011 darum
ging, wie das Bildungspaket bzw. das Urteil des Bundes-
verfassungsgerichts umgesetzt werden kann. Mit dem
Bildungs- und Teilhabepaket haben erstmals seit Ein-
führung der Hartz-IV-Gesetze bedürftige Kinder und
Jugendliche die Chance, an Bildung und Freizeitangebo-
ten teilzunehmen.
Ich berichte Ihnen gern von den Erfahrungen aus mei-
nem Heimatbundesland Sachsen-Anhalt und aus mei-
nem Wahlkreis Harz. Die Mitteldeutsche Zeitung berich-
tete am 12. März 2012, Zitat: „Das vor einem Jahr ins
Leben gerufene Bildungs- und Teilhabepaket für bedürf-
tige Kinder wird in Sachsen-Anhalt gut angenommen.“
Laut einer Umfrage seien landesweit für 110 550 an-
spruchsberechtigte Kinder und Jugendliche bis Ende
2011 fast 135 300 Anträge gestellt worden, heißt es wei-
ter. Pro Kind können mehrere Anträge eingereicht wer-
den. Der Landkreis Harz nimmt im Landesvergleich
sogar einen Spitzenplatz ein, wenn es um die Nutzung
des Bildungs- und Teilhabepakets geht. Im Jahr 2011
wurden im Harzkreis 9 766 Anträge gestellt und davon
95,5 Prozent bewilligt. Die Nachfrage nach der Unter-
20446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
stützung bei Vereinsmitgliedschaften ist groß und nimmt
nach dem Bereich der Mittagsversorgung den zweiten
Platz ein. Gemeinsam mit dem Parlamentarischen
Staatssekretär, Herrn Dr. Ralf Brauksiepe, war ich in
meinem Wahlkreis unterwegs, und wir haben uns über
die Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets infor-
miert. Die kommunale Beschäftigungsagentur, KoBa,
setzt auf eine enge Zusammenarbeit mit den regionalen
Akteuren wie dem Kreis-, Kinder- und Jugendring und
dem Kreissportbund. Ich habe mir vor Ort viele gute
Beispiele für ein ideenreiches Miteinander ansehen kön-
nen und habe mich über deren Umsetzung informiert.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
die Akteure vor Ort sind sich Ihrer Verantwortung durch-
aus bewusst. Dabei sind Kommunikation und Öffent-
lichkeitsarbeit zwei entscheidende Stichworte. Die
Bundesregierung hat hierzu eine umfassende Informa-
tionskampagne gestartet, die sich an eine breite Öffent-
lichkeit richtet. Neben allgemeinen Informationen sollen
insbesondere zwei Zielgruppen angesprochen werden.
Das sind zum einen die leistungsberechtigten Familien
selbst. Zum anderen sind das die sogenannten Multipli-
katoren, das heißt diejenigen Menschen, die im nahen
Umfeld der Familie beschäftigt sind, wie zum Beispiel
Engagierte in Schulen, Kindertageseinrichtungen, Ver-
bänden, Vereinen etc.
Die Ergebnisse der von unserer Ministerin Frau
Dr. von der Leyen ins Leben gerufenen Runden Tische,
zuletzt im November 2011, haben eine positive Tendenz
bei der Nutzung des Bildungs- und Teilhabepakets auf-
gezeigt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
hat mit Vertretern von Bund, Ländern und Kommunen
die Umsetzung des Teilhabepakets beraten. An dieser
Umsetzung sind viele Akteure beteiligt. Das Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales, die Kreise und die
kreisfreien Städte sowie die Jobcenter und ihre Partner
vor Ort sorgen alle dafür, dass das Bildungspaket bei den
Kindern ankommt. Denn da soll es auch hin.
Ich habe es eingangs bereits erwähnt: Das Bildungs-
paket folgt der großen Leitidee „Mitmachen möglich
machen“. Ich denke, darauf haben die Kinder ein
Anrecht. Die CDU/CSU will das Mitmachen möglich
machen. Und es lohnt sich, dass wir alle gemeinsam
unsere Kraft und unsere Politik für die Kinder und ihre
Lebensperspektiven einsetzen. Die CDU/CSU wird
daher dem Antrag der Grünen nicht zustimmen.
Paul Lehrieder (CDU/CSU): Wir kümmern uns da-
rum, dass Kinder nicht ausgeschlossen werden, und ha-
ben deshalb im Januar des letzten Jahres das Bildungs-
und Teilhabepaket auf den Weg gebracht. Sie, meine Da-
men und Herren von SPD und Grünen, haben nämlich
bei Einführung der Hartz-IV-Regelungen gerade die
Menschen vergessen, die die Zukunft unseres Landes
gestalten werden. Wir haben nun das Urteil des Bundes-
verfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 umgesetzt und
müssen uns nun bewusst machen, dass die neu einge-
führte Regelung eben Zeit braucht, um sich zu etablie-
ren. Hätten Sie die Teilhabe von Kindern gleich inte-
griert, könnten wir bereits jetzt die Erfolge in einem
zufriedenstellenden Maße beobachten. Die Kritik am
Bildungs- und Teilhabepaket, die Sie in Ihrem Antrag
vorbringen, spiegelt in keiner Weise die Realität wider.
Sie missdeuten die unumgänglichen Anlaufschwierig-
keiten als Mängel in der Ausgestaltung der einzelnen
Leistungen.
Wir sehen, dass für alle Kinder in unserem Land ein
Umfeld geschaffen werden muss, das es jedem einzelnen
erlaubt, seine Talente zu entdecken und sein Potenzial zu
entfalten. Der richtige Ansatz ist, dass jedes Kind aus
dem Paket genau die Einzelförderung erhält, die es
braucht. Wir setzten auf maßgeschneiderte Förderungen
unserer Kinder – wir wollen, dass jedes einzelne seine ei-
genen, ganz individuellen Talente entfalten kann. Wir set-
zen – auch in Anbetracht des drohenden Fachkräfteman-
gels – auf die Potenziale, die in unserem Land liegen –
und dazu gehört ganz entscheidend die Bildung und Teil-
habe unserer Kinder.
Wir haben uns daher aus gutem Grunde für das Sach-
leistungsprinzip entschlossen. Da Sie dieses leider noch
immer nicht verstanden haben, werde ich es noch mal er-
klären. Durch das Sachleistungsprinzip stellen wir si-
cher, dass die Leistungen bei den Kindern ankommen.
Zudem ist eine maßgeschneiderte Förderung möglich.
Wir verteilen nicht nach dem Gießkannenprinzip Gelder.
Das lässt weder unser zu konsolidierender Staatshaushalt
zu, noch ist dies in irgendeiner Weise zielführend. Wir
wollen, dass jedes Kind, das eine Lernschwäche hat, ge-
fördert wird.
Des Weiteren möchte ich an dieser Stelle betonen,
dass die christlich-liberale Koalition nichts von einer Be-
vormundung der Eltern hält. Eltern sind verantwortlich,
dafür zu sorgen, dass ihr Kind seine Potenziale aus-
schöpft. Wir schaffen in diesem Hohen Hause die Mög-
lichkeiten, kommunizieren diese durch eine intensive
Öffentlichkeitsarbeit, etliche Kampagnen und über zahl-
reiche Einrichtungen, und wir unterstützen die Kommu-
nen, die mit der Umsetzung beauftragt sind, darin, büro-
kratische Hürden abzubauen. Mit der oben genannten
Einschränkung, dass es selbstverständlich Zeit braucht,
bis das neue Paket die nötige Aufmerksamkeit erhält,
vertrauen wir darauf, dass Eltern imstande sind, Leistun-
gen für ihr Kind zu beantragen. Wir erkennen die wich-
tige und auch verantwortungsvolle Position der Eltern
an. Und diese fördern wir auch in anderen Bundespro-
grammen. So hat beispielsweise das BMFSFJ im Fe-
bruar dieses Jahres das Bundesprogramm „Elternchance
ist Kinderchance“ zur Weiterqualifizierung zur Elternbe-
gleitung ins Leben gerufen – dieses wird bereits erfolg-
reich angenommen. Die ersten 500 Elternbegleiter er-
hielten bereits Ende Februar ihr Zertifikat, das sie durch
einen dreiwöchigen Kurs, in dem pädagogische und be-
raterische Kompetenzen vermittelt werden, erworben
haben. Es ist wichtig, lange vor dem ersten Schultag El-
tern frühzeitig für die Bildungsförderung ihrer Kinder zu
interessieren und sie kompetent zu beraten. Elternbeglei-
ter stehen deshalb an vielen Orten der Familienbildung
als kompetente Vertrauenspersonen an ihrer Seite. Faire
Chancen für Kinder sind eng mit der frühen Förderung
und Verantwortung durch die Eltern verknüpft, und da-
rauf bauen wir.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20447
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Wir stellen darüber hinaus fest, dass sehr viele Kom-
munen das Programm auch sehr gut umsetzen. So hat
beispielsweise das Jobcenter Würzburg Land in meinem
Wahlkreis eine sehr übersichtliche Broschüre herausge-
geben, die den Eltern zeigt, welche Förderungen mög-
lich sind und wo diese beantragt werden können. Wir ge-
ben den Kommunen Hilfestellungen bei der Umsetzung.
Es ist jedoch nicht möglich, liebe Kolleginnen und Kol-
legen der Grünen, wie Sie in Ihrem Antrag fordern, in
kommunale Strukturen einzugreifen.
Nichtsdestotrotz haben wir selbstverständlich er-
kannt, dass das Bildungs- und Teilhabepaket noch mehr
Kindern zugutekommen muss. Die Antragsquote von
45 Prozent, die die kommunalen Spitzenverbände im
November 2011 veröffentlichten, ist nicht ausreichend.
Am kommenden Freitag steht ein weiterer Erhebungsbe-
richt zum Stand 1. März 2012 an, den wir abwarten und
entsprechend bewerten müssen.
Darüber hinaus müssen die Länder gemäß § 46 Abs. 8
Satz 4 SGB II an das BMAS die Gesamtausgaben für
Bildungs- und Teilhabeleistungen der Kommunen nach
SGB II und BKGG, Bundeskindergeldgesetz, melden.
Auch diese Zahlen müssen abgewartet und entsprechend
bewertet werden.
Wir haben Interesse daran, dort nachzujustieren, wo
Änderungen nötig und zielführend sind. Deshalb hat das
BMAS auch eine Studie beim Institut für Sozialfor-
schung und Gesellschaftspolitik in Auftrag gegeben, de-
ren Ergebnisse im Mai dieses Jahres bekannt gegeben
werden. Des Weiteren ist Ihnen sicherlich auch bekannt,
dass es den Runden Tisch zum Bildungspaket mit den
Ländern und kommunalen Spitzenverbänden gibt, der in
regelmäßigen Abständen tagt, das Programm begleitet
und bewertet und damit schnell auf Beschwerden und
Anlaufschwierigkeiten eingehen kann. Ihr Antrag jedoch
verfehlt dieses Ziel und ist deshalb abzulehnen.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Wir sprechen heute
über den Grünen-Antrag zum Bildungs- und Teilhabepa-
ket. Und wir wollen heute darüber abstimmen. Wir wer-
den dem Antrag nicht zustimmen, sondern uns enthalten.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha-
ben das Bildungspaket im letzten Jahr gemeinsam mit
der CDU/CSU auf den Weg gebracht. Es soll arme und
einkommensschwache Familien unterstützen, damit ihre
Kinder bessere Bildungschancen erhalten. Bisher ist es
in Deutschland leider so, dass vor allem der Geldbeutel
entscheidet, was aus unseren Kindern einmal wird.
Das ist ungerecht. Deshalb haben wir uns für das Bil-
dungs- und Teilhabepaket im Bundestag starkgemacht.
Es geht schließlich um 2,5 Millionen Kinder und deren
Eltern. Die Grünen beklagen in ihrem Antrag, dass das
Bildungs- und Teilhabepaket viel zu bürokratisch ist,
und damit haben sie recht.
Folgende Geschichte zum Bildungspaket war Mitte
letzten Jahres in der Zeitung zu lesen: Eine Mutter wollte
Leistungen für ihren Sohn beantragen. Er brauchte drin-
gend Nachhilfe, damit er den Schulabschluss schaffen
konnte. Sie meldete ihren Sohn sofort zur Nachhilfe an,
um keine Zeit zu verlieren. Sie streckte das Geld von
dem wenigen, was sie hat, vor und stellte dann den An-
trag beim Jobcenter. Und nun begann eine wahre Odys-
see. Sie musste mehrfach zum Jobcenter und zur Schule
fahren. Denn entweder war ihr Antrag noch nicht bear-
beitet, oder es wurden weitere Unterlagen angefordert,
Unterlagen, die es zum Teil gar nicht gab. Es war sehr
aufwendig und anstrengend, bis sie das Geld für die
Nachhilfe endlich erhielt. Und das gelang auch nur, weil
sich ein Bundestagskollege eingeschaltet hatte.
So kann es nicht gehen. Wir brauchen uns nicht zu
wundern, wenn viele Eltern vorher aufgeben und auf das
Geld für ihre Kinder verzichten. Man schätzt, dass nur
etwa 45 Prozent der Kinder tatsächlich Leistungen aus
dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten. Das bedeu-
tet: 55 Prozent – also jedes zweite bedürftige Kind – ge-
hen leer aus. Sie sehen, wir sind noch sehr weit von Bil-
dungs- und Chancengerechtigkeit entfernt. Wie viele
Kinder es ganz genau sind, weiß niemand. Die Bundes-
regierung konnte dazu in der Antwort auf unsere An-
frage keine Angaben machen. Das ist ein Armutszeug-
nis.
Wie miserabel die Informationspolitik aus dem Haus
von Ministerin von der Leyen ist, zeigt auch folgendes
Beispiel: Es gibt vom Ministerium ein Infotelefon, über
das man sich über die Leistungen des Bildungs- und
Teilhabepakets informieren kann. Das ist eigentlich eine
gute Idee. Leider handelt es sich dabei um eine kosten-
pflichtige Servicenummer. Eine Minute kostet zwischen
14 und 42 Cent – das können sich viele arme Familien
nicht leisten.
Ja, in vielen Punkten ähnelt das Bildungs- und Teilha-
bepaket einem bürokratischen Monster. Vieles ist nicht
zufriedenstellend gelöst und muss nachgebessert wer-
den. Aber es ist ein Anfang hin zu mehr Bildungsgerech-
tigkeit gemacht worden. Und das hat die SPD im letzten
Jahr trotz ihrer Minderheit hier im Bundestag durchge-
setzt. Wir haben uns über die Bundesländer eingemischt,
die beim Bildungspaket ein Wort mitzusprechen hatten.
Wir, die SPD, haben seit unserem Wahlerfolg in Nord-
rhein-Westfahlen im Mai 2010 zum Glück die schwarz-
gelbe Bundesratsmehrheit gebrochen und konnten des-
halb auf die Verhandlungen Einfluss nehmen. Es ist
schade, dass sich die Grünen vorzeitig aus diesen wichti-
gen Verhandlungen zurückgezogen hatten. Jetzt, nach-
dem das Verfahren abgeschlossen ist und seit einem Jahr
ein Gesetz auf dem Tisch liegt, schlagen Sie vor, wie
man alles besser machen könnte. Schade, dass Sie dies
so spät tun. Denn nun gibt es für Ihre Vorschläge keine
Möglichkeit mehr sie durchzusetzen. Ihr Antrag wird
von Schwarz-Gelb heute abgelehnt werden.
Wir möchten, dass möglichst alle Kinder aus armen
und einkommensschwachen Familien die Leistungen,
die sie brauchen, auch bekommen. Wie erreichen wir
das? Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
nen, machen einige Vorschläge. Sie fordern, dass Bund
und Länder bei der Bildung wieder zusammenarbeiten
dürfen. Das wollen wir auch. Also: Weg mit dem Koope-
rationsverbot! Nur gemeinsam wird es gelingen, Ganz-
tagsschulen in Deutschland auszubauen und die Schulen
20448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
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besser auszustatten – Bund und Land Hand in Hand. Am
einfachsten wäre es, die Schulen könnten Leistungen aus
dem Bildungspaket selbst anbieten. Nachhilfe, Sport-
und Freizeitangebote gehören an die Schulen. Und auch
für das Mittagessen an Schulen und Kitas müssen einfa-
chere Lösungen gefunden werden. Dafür brauchen
Schulen und Kitas das nötige Geld. Und das muss vom
Bund und von den Ländern gemeinsam kommen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha-
ben durchgesetzt, dass nicht nur Kinder aus Hartz-IV-Fa-
milien an Klassenfahrten, Nachhilfe und Schulessen teil-
nehmen können und Lernmaterial erhalten. Auch
einkommensschwache Familien können das Bildungs-
und Teilhabepaket in Anspruch nehmen. Das betrifft
rund 500 000 Kinder zusätzlich. Leider klafft trotzdem
noch eine Lücke. Wir haben es bis heute nicht geschafft,
dass auch die ärmsten Kinder in Deutschland diese wich-
tigen Leistungen beanspruchen können. Ich spreche von
40 000 Flüchtlingskindern. Sie sind auf die Großzügig-
keit der Städte und Gemeinden angewiesen, in denen sie
bei uns leben. Einen Rechtsanspruch haben sie nicht.
Wir wollten diese Gerechtigkeitslücke schließen und
hatten deshalb unsere Forderungen in einem Antrag auf-
geschrieben. Leider wurden sie von CDU/CSU und FDP
mit deren Mehrheit abgelehnt. Es hat sehr weh getan, in
der Minderheit zu sein und den Kindern nicht helfen zu
können. Gerade sie brauchen unsere Unterstützung. Sie
sind mit ihren Eltern aus ihrer Heimat und gewohnten
Umgebung in ein für sie fremdes Land geflüchtet. Es
wird erwartet, dass sie sich unseren Lebensgewohnhei-
ten anpassen und unsere Sprache sprechen. Es wird aber
versäumt, die Grundlagen dafür zu schaffen. Das ist ein
schwerer Fehler, den die schwarz-gelbe Bundesregie-
rung und Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP, zu verantworten haben!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, das Bil-
dungspaket ist ein richtiger Schritt in die richtige Rich-
tung. Es sind aber noch Verbesserungen nötig. Da stim-
men wir mit Ihnen überein. Wir wollen, dass die
Leistungen bei den Kindern ankommen, und wir wollen
bessere Wege, wie dies ohne viel Bürokratie umgesetzt
werden kann. Dies muss gemeinsam mit den Bundeslän-
dern und mit den Städten und Gemeinden passieren.
Diese lassen Sie in Ihrem Antrag jedoch außen vor. So-
mit fehlt ein schlüssiges Gesamtkonzept. Das brauchen
wir aber, und deshalb werden wir uns enthalten.
Ganz wichtig ist: Das Bildungspaket muss schnells-
tens ausgewertet werden. Wie viele Kinder nehmen es in
Anspruch? Welche Leistungen werden abgefragt? Das
zu wissen, ist notwendig, um bei Fehlentwicklungen
rechtzeitig gegensteuern zu können. Es geht um gerechte
Chancen für Kinder. Und wie verhält sich die Bundes-
kanzlerin in dieser Angelegenheit? Sie hat angekündigt,
das Bildungspaket frühestens in zwei Jahres auf den
Prüfstand zu stellen. Das ist eindeutig zu spät. So lange
dürfen unseren Kindern Bildungschancen nicht vorent-
halten werden. Aber das passiert, solange nur jedes
zweite Kind die Leistungen, die ihm zustehen, auch tat-
sächlich bekommt.
Angelika Krüger-Leißner (SPD): Mitte Dezember
haben wir den Antrag der Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen zum ersten Mal beraten. Zu diesem Zeitpunkt
existierten die gesetzlichen Regelungen zur Einführung
des Bildungs- und Teilhabepakets für Kinder und
Jugendliche gerade neun Monate, und es war gut, zum
Jahresende schon einmal einen Blick zurückzuwerfen.
Der Antrag, der sich eingehend mit der Einführung und
der Umsetzung des Bildungspakets befasst, bot dazu Ge-
legenheit. Heute können wir nun auf ein Jahr zurückbli-
cken, und wir müssen leider eine nüchterne Bilanz zie-
hen: Ein Jahr Bildungs- und Teilhabepaket heißt, ein
Jahr ungenügende Aufklärung und Information über die
neuen Leistungen für bedürftige Kinder und eine unbe-
friedigende Umsetzung in der Praxis.
Ich habe mich diesbezüglich nicht nur bei den Land-
kreisen in meinem Wahlkreis erkundigt, sondern auch
bei etlichen anderen. Eines ist dabei sehr deutlich gewor-
den: Die Umsetzung des Bildungspakets erfolgt – ein
Jahr nach seinem Start – immer noch äußerst schlep-
pend, und das hat seine Ursachen. Bürokratische Hürden
bei der Antragstellung schrecken viele Leistungsberech-
tigte ab. Sie verzichten also auf Leistungen, die sie bean-
spruchen könnten. Die Leidtragenden sind dabei die
Kinder und Jugendlichen. Der Verwaltungsaufwand bei
der Abwicklung steht in keinem Verhältnis zu den mög-
lichen Leistungen. Er ist viel zu hoch. Die Leistungen
hingegen sind zu gering. Das schlechte Kosten-Nutzen-
Verhältnis ist alarmierend. Das dürfen die Sozialministe-
rin und die sie tragenden Regierungsfraktionen von
CDU/CSU und FDP nicht ignorieren.
Wenn ich an die von Ministerin von der Leyen gebets-
mühlenartig vorgetragene Zielsetzung denke, sie wolle
dafür sorgen, dass die Leistungen des Bildungspakets
auch wirklich bei den Kindern ankommen, kann ich nur
sagen: Ziel eindeutig verfehlt. Denn das ist leider die
bittere Wahrheit: Von den 2,5 Millionen Kindern und Ju-
gendlichen, die einen Anspruch auf Leistungen haben,
kommt aktuell nicht einmal jedes zweite Kind in deren
Genuss. Das ist blamabel. Ein solches Ergebnis kann uns
nach einem Jahr nicht zufriedenstellen.
Zum Jahrestag der Einführung des Bildungs- und
Teilhabepakets hat jetzt der DGB neue Zahlen veröffent-
licht. Sie bestätigen leider unsere Befürchtungen. Nach
den Berechnungen des DGB sind von den im SGB-II-
Bereich eingeplanten 626 Millionen Euro gerade einmal
rund 130 Millionen im Jahr 2011 ausgegeben worden.
Das ist lediglich ein Fünftel. Auch wenn diese Zahlen
noch unvollständig sind, weil weder die Ausgaben der
Optionskommunen noch die Auszahlungen für Kinder,
deren Eltern Wohngeld oder Kinderzuschlag beziehen,
eingerechnet werden konnten, so sind sie doch ein ein-
deutiges Warnsignal, dass hier etwas falsch läuft. Vieles
ist in den letzten Wochen schon dazu gesagt worden,
dass die 10 Euro für die Teilhabe zum Beispiel am
Musikunterricht oder an Sportvereinsaktivitäten viel zu
gering sind. In meiner Rede im Dezember hatte ich
schon darauf hingewiesen, dass echte Teilhabe nur er-
reicht wird, wenn auch die Kosten für die notwendige
Ausstattung der jeweiligen Angebote berücksichtigt
werden. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Wen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20449
(A) (C)
(D)(B)
wundert es also, dass diese Leistungen des Pakets kaum
in Anspruch genommen werden? Der Ausgabenanteil
hierfür liegt bei nicht einmal 5 Prozent.
Ich möchte auf eines ganz besonders hinweisen: Das
Bildungspaket wird seinem Namen nicht gerecht, wenn
ausgerechnet der Weg zur Nachhilfe bzw. Lernförderung
derartig erschwert wird, wie es mit dem schulischen
Nachweis der Versetzungsgefährdung der Fall ist. Hier
tun sich die Schulen schwer, die Eltern ebenfalls. Denn
ein solches Versagersiegel – wie es eine Zeitung zutref-
fend ausgedrückt hat – kann dem Kind lange anhängen.
Häufig lässt sich außerdem zu dem Zeitpunkt, in dem die
Nachhilfe sinnvollerweise einsetzen sollte, noch gar
keine Versetzungsgefährdung bestimmen. Die Zurück-
haltung der Lehrer erstaunt mich deshalb nicht. Ist die
Versetzung tatsächlich in Gefahr und kann bescheinigt
werden, ist es in der Regel für Nachhilfeunterricht schon
zu spät.
Dass der Anteil der Ausgaben für die Lernförderung
beim Bildungspaket 2011 lediglich bei 2 Prozent liegt,
empfinde ich als Skandal. Hier muss die Regierung drin-
gend nachjustieren; sonst geht der Teil des Bildungs-
pakets komplett ins Leere.
Auch die inzwischen vorliegenden Antworten der
Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zur Umset-
zung des Bildungs- und Teilhabepakets haben gezeigt,
dass Schwarz-Gelb über keine konkreten Erkenntnisse
verfügt, ob und wie das Paket wirkt. Und was noch
schlimmer ist: Es scheint die Bundesregierung auch gar
nicht weiter zu kümmern. Nicht anders verstehe ich
ihren wiederholten Verweis auf die Länder und Kommu-
nen bei den Antworten auf unsere 111 Fragen. Dabei
finde ich die Ahnungslosigkeit der Bundesregierung
wirklich erschreckend. Denn es geht doch um die Ver-
wendung von Bundesmitteln – immerhin 1,3 Milliarden
Euro.
Wir fordern die Bundesregierung auf, schnellstmög-
lich für eine umfassende Evaluation des Bildungs- und
Teilhabepakets zu sorgen. Es muss endlich eine Auswer-
tung und Kontrolle darüber erfolgen, welche Leistungen
in welchem Umfang abgerufen werden. Richtig ist, dass
wir uns dafür eingesetzt haben, dass die Umsetzung des
Pakets über die Städte und Kommunen erfolgt. Das war
ein Ergebnis des Vermittlungsverfahrens, und dazu ste-
hen wir auch noch heute. Deshalb enthalten wir uns auch
zum vorliegenden Antrag. Aber – und das ist für mich
ein ganz entscheidender Punkt – das darf doch nicht zur
Folge haben, dass man die Städte und Kommunen im
Regen stehen lässt und sie nicht bei der Umsetzung be-
gleitet. Meine Fraktion und ich haben erwartet, dass die
Bundesregierung hier die Rahmenbedingungen schafft,
um ein effizientes, unbürokratisches Verfahren sicherzu-
stellen. Das ist das Mindeste, wenn die Bildungs- und
Teilhabeleistungen zu 100 Prozent durch den Bund fi-
nanziert werden. Hier fehlt es aber an sachgerechten
Vorgaben der Bundesregierung, und das Ergebnis sehen
wir nun: Es gibt keine einheitliche Verwaltungspraxis.
Trotz vieler Bemühungen in den Städten und Kommu-
nen kommen die Leistungen bundesweit bei einem
Großteil der bedürftigen Kinder nicht an.
Ich lobe ausdrücklich, dass es vereinzelt zur Entbüro-
kratisierung bereits Bestrebungen gegeben hat, durch
Globalanträge das Antragsverfahren zu vereinfachen
und damit eine schnellere Bearbeitung zu gewährleisten.
Das sind erste richtige Schritte, damit das Paket ange-
nommen wird. Aber diese Initiative ist nicht von der So-
zialministerin gestartet worden, sondern von einigen
Kreisen.
An einer bundesweit einheitlichen Verbesserung fehlt
es unverändert, und das ist es, was zu Recht die Kolle-
ginnen und Kollegen von den Grünen und auch wir kriti-
sieren. Hier muss die Bundesregierung endlich das Zep-
ter in die Hand nehmen und sich nicht nur bei Runden
Tischen inspirieren lassen.
Frau von der Leyen, Sie lassen die Kommunen im
Stich. Das ist unverantwortlich. Wir werden das spätes-
tens 2013 ändern.
Pascal Kober (FDP): Am morgigen Freitag ist das
Bildungs- und Teilhabepaket ein Jahr in Kraft. Aus die-
sem Anlass wird es am morgigen Freitag ein Treffen von
Bundesarbeitsministerin von der Leyen mit den kommu-
nalen Spitzenverbänden geben. Dabei werden auch die
aktuellen Zahlen der Inanspruchnahme des Bildungs-
und Teilhabepakets veröffentlicht. Ich kenne die ge-
nauen Zahlen noch nicht, aber ich bin mir sehr sicher,
dass wir einen weiteren deutlichen Zuwachs bei der In-
anspruchnahme werden verzeichnen können. Von Juni
2011 bis November 2011 war die Inanspruchnahme
durchschnittlich schon von 26 auf 45 Prozent gestiegen.
Wir können daran erkennen, dass die Tendenz in die
richtige Richtung geht.
Ich möchte noch einmal daran erinnern, wie wir zu
der jetzigen Rechtslage gekommen sind. Bei der Einfüh-
rung des Systems des Arbeitslosengeldes II unter der rot-
grünen Regierung Schröder wurden die Regelsätze der
Kinder von ALG-II-Bezugsberechtigten als pauschaler
Abschlag der Regelsätze für Erwachsene bestimmt.
Daher fehlten in den Regelsätzen für Kinder und Jugend-
liche spezifische Posten wie zum Beispiel alle Leistun-
gen zur Bildung und Teilhabe. Diese rot-grüne Gesetz-
gebung wurde vom Bundesverfassungsgericht am
9. Februar als verfassungswidrig beurteilt. Daraufhin hat
die christlich-liberale Koalition unter Federführung von
Frau Ministerin von der Leyen einen Vorschlag erarbei-
tet, wie die Bildungs- und Teilhabeleistungen für Kinder
und Jugendlich erbracht werden sollen. Wir hatten uns,
mit Zustimmung der Sozialverbände, darauf festgelegt,
dass mit Ausnahme des Schulstarterpakets, womit es
gute Erfahrungen gab, die übrigen Leistungen als Sach-
leistungen und nicht als Geldleistungen erbracht werden.
Zudem hatte diese Koalition vor dem Vermittlungsver-
fahren beschlossen, dass die Leistungen für Bildung und
Teilhabe einheitlich über die Jobcenter administriert
werden sollen. Nachdem der Bundesrat unserem Gesetz
nicht zugestimmt hatte, haben SPD und Grüne im Ver-
mittlungsverfahren darauf gedrungen, dass diese Leis-
tungen von den Kommunen erbracht werden sollen.
Es hätte ihnen schon damals klar sein müssen, dass
dies zu einer sehr unterschiedlichen Umsetzung des Bil-
20450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
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(D)(B)
dungspakets vor Ort führt. Die Kommunen waren unter-
schiedlich gut auf diese neue Aufgabe vorbereitet, auch
wenn die Kommunen sie selbst wollten. So kam es man-
cherorts zu Anlaufschwierigkeiten. Und auch heute wird
das Bildungs- und Teilhabepaket von jeder einzelnen
Kommune unterschiedlich administriert. Manchmal
machen es die Jobcenter alleine, manchmal die Jobcen-
ter zusammen mit den Sozialämtern oder den Jugend-
ämtern. Das war ihr Wunsch, dem wir im Vermittlungs-
verfahren nachgekommen sind.
Sie müssen jetzt aber auch zu den Konsequenzen
stehen und dürfen nicht die Vaterschaft für diese Idee
verweigern. Ich hatte sie Ihnen ja schon bei der ersten
Lesung zitiert, möchte Ihnen aber die Passage gerne
noch einmal in Erinnerung rufen. Sie stammt aus einem
einstimmigen Beschluss des Parteirats von Bündnis 90/
Die Grünen vom 21. Februar 2011: „Gleichwohl haben
wir in den langen Verhandlungen bis zum gestrigen
Abend wichtige Änderungen erreicht: Das Bildungs-
und Teilhabepaket wird von den Kommunen organisiert
und nicht von den Jobcentern, wie sich dies die Arbeits-
ministerin vorstellte. Hier haben wir überbordende
Bürokratie verhindert. … Und die Kommunen haben
eine hohe Gestaltungsmöglichkeit bei der konkreten
Umsetzung der Leistungen vor Ort.“ Hier bekennen Sie
sich doch klar zur Vaterschaft. Sie haben das zu verant-
worten, was sie hier kritisieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, es
gehört zur Ehrlichkeit dazu, dass Sie, wenn Sie hier das
Bildungs- und Teilhabepaket schlechtmachen und statt-
dessen den Ausbau von Ganztagesbetreuung und Ganz-
tagesschulen fordern, zu sagen, dass dies nicht der Auf-
trag des Bundesverfassungsgerichts war. Sie benennen
hier die falsche Alternative. Sie heißt nicht Bildungs-
paket oder Ganztagesbetreuung. Die Alternative zum
Bildungspaket wäre die pauschale Auszahlung des
Geldbetrags an die Eltern der Kinder und Jugendlichen.
Nur so könnte man den Auftrag des Bundesverfassungs-
gerichts in anderer Weise erfüllen. Wenn Sie das wollen,
dann sollten Sie sich aber auch dazu bekennen und dies
sagen.
Wir verschließen die Augen nicht vor den anfäng-
lichen Schwierigkeiten des Bildungs- und Teilhabe-
pakets und unterstützen die Länder und Kommunen
durch Beratung und Moderation an unserem Runden
Tisch, diese Schwierigkeiten abzustellen. Ich bin mir
sicher, dass das Bildungspaket mit zunehmender Zeit
immer erfolgreicher wird, und in einigen Jahren werden
die Grünen dann verkünden, dass sie es ja waren, die es
genauso haben wollten.
Diana Golze (DIE LINKE): Uneingeschränkter Zu-
gang zu Bildung und gleichberechtigter Teilhabe an Bil-
dungsangeboten, aber auch an kulturellem und gesell-
schaftlichem Leben sind grundlegende Rechte eines
jeden Kindes. Sie gehören zu dem, was ein Kind für eine
bestmögliche Entwicklung, ein bestmögliches Aufwach-
sen braucht. Das Bundesverfassungsgericht hat dies
eindeutig festgestellt und der Bundesregierung die Zu-
ständigkeit für den Zugang zu Bildungsangeboten zuge-
wiesen. Statt diesen Auftrag eins zu eins umzusetzen,
schuf die zuständige Ministerin Ursula von der Leyen
den unerträglichen Mythos von den Eltern im Hartz-IV-
Bezug, die ihr Geld für alles Mögliche und Unmögliche
ausgeben – nur eben nicht für ihre Kinder. Der Satz „Das
Geld muss auch bei den Kindern ankommen“ wurde
zum Leitsatz für das, was wir heute als Bildungs- und
Teilhabepaket kennen.
Ein Jahr nach Einführung dieses Paketes kann man
nur versuchen, eine Bilanz zu ziehen. Die Erhebung bun-
deseinheitlicher Daten ist nur schwer möglich, weil eine
solche nicht im Bundesgesetz geregelt wurde. Und dies
ist nur einer der vielen Mängel. Das Bildungs- und Teil-
habepaket entpuppt sich vor allem als Bürokratiemons-
ter, das sich durch viel zu hohe Verwaltungskosten und
ein Zerfasern von Leistungsangeboten auszeichnet. Die
Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Nur bei rund
der Hälfte der Anspruchsberechtigten kommt zumindest
eine Leistung an aus dem sogenannten Paket. Grund für
die geringe Antragsquote sind vor allem viel zu geringe
Informationen über das Paket, die hohen bürokratischen
Hürden und ein unübersichtliches Antragsverfahren, das
zudem mit dem Lebensalltag der Familien wenig zu tun
hat, vor allem aber weil es nicht dem entspricht, was ein
Kind wirklich braucht. Allein in meinem Heimatland-
kreis, dem Havelland, sind von 103 Anträgen auf Lern-
förderung 63 Prozent abgelehnt worden, weil das Errei-
chen des festgelegten wesentlichen Schulziels nicht
gefährdet war. Es ist aus unserer Sicht purer Zynismus,
wenn Kindern in einem Jobcenter gesagt wird, dass es
erst dann Anspruch auf Lernförderung hat, wenn es das
Klassenziel mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erreicht.
Es geht bei der Leistung eben nur um die Verhinderung
des Wiederholens, nicht aber um die Chance auf eine
bessere Durchschnittsnote.
Anträge für den Bereich soziales und kulturelles Le-
ben wurden abgelehnt, weil Leistungen angegeben wur-
den, die das Bildungs- und Teilhabepaket nicht vorsieht.
Frau von der Leyen hat sich in der Presse hoch und run-
ter zitieren lassen, dass ihr Paket Kindern die Teilhabe
an Freizeit- und Kulturangeboten bieten soll. Was in die-
sen Interviews nicht gesagt wurde, ist, dass sie den Kin-
dern und ihren Familien in einem Katalog vorgibt, was
abrechenbare Freizeit- und Kulturangebote sind. Die
Entscheidung von Kindern und Eltern über die Gestal-
tung von Teilhabe an Bildung und gesellschaftlichem
Leben derart zu reglementieren, ist nicht nur aus unserer
Sicht verfassungsrechtlich fragwürdig. So urteilt zum
Beispiel Professor Johannes Münder: „Wenn die 10 Euro
Teilhabepauschale mit verhaltensregulierenden Bedin-
gungen verknüpft werden, so liegt hier mit einer Regulie-
rung der ,Lebensführungsweise‘ ein Eingriff in das Per-
sönlichkeitsrecht nach Art. 2 GG vor.“ Mit dieser
Bevormundung von Betroffenen muss endlich Schluss
sein.
Was das Paket also nicht erreicht hat, ist sein originä-
res Ziel: die Behebung überdeutlich gewordener Defizite
bei Bildung und sozialer Teilhabe von Kindern. Wie
auch? Wenn die Sicherung von Teilhabe an Bildung
zwar endlich als Teil der Existenzsicherung angesehen
wird, dies aber natürlich keine weiteren Kosten verur-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20451
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sachen darf, kann nur das herauskommen, was die zu-
ständigen Politikerinnen und Politiker bereit waren
hineinzupacken. Bestehende Leistungen wie das Schul-
bedarfspaket oder die Gewährung von Zuschüssen für
Klassenfahrten bekamen ein neues Etikett, ohne dass
sich an den Leistungen selbst viel geändert hat. Darum
sagt die Linke: Nur ein Nachbessern macht das Bil-
dungs- und Teilhabepaket nicht besser. Im Kampf gegen
Kinderarmut braucht es Konzepte, die wirksam gegen
Ausgrenzung und Benachteiligung wirken.
Der DGB bescheinigt Frau von der Leyen zumindest
noch, dass das Bildungs- und Teilhabepaket sicher gut
gemeint ist. Gut gemeint reicht aber nicht, um ein Bun-
desverfassungsgerichtsurteil umzusetzen. Wir brauchen
endlich einen Kinderregelsatz, der die Bedarfe von Kin-
dern widerspiegelt und in jeder Hinsicht existenzsi-
chernd ist. Mittelfristig sollten die Kinder komplett raus
aus dem SGB II, denn sie sind keine kleinen Langzeiter-
werbslosen. Eine bedarfsgerechte Kindergrundsicherung
für alle Kinder und Jugendlichen wäre eine mögliche Al-
ternative. Solange Bildung und Teilhabe nicht für alle
Kinder gesichert sind, gilt ein Satz von Kurt Tucholsky:
„Das Gegenteil von Gut ist nicht Böse, sondern gut ge-
meint.“
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein
Jahr nach Inkrafttreten des Bildungs- und Teilhabepakets
ist klar: Diese Leistungen sind an Bürokratie kaum zu
überbieten, und der verfassungsrechtlich garantierte
Zugang zu Bildung und Teilhabe bleibt vielerorts auf der
Strecke. Dies widerspricht den Vorgaben des Bundesver-
fassungsgerichts, 1 BvL 1/09. Eine Umfrage des Deut-
schen Städtetages bei den kreisfreien Städten, Stand
15. Oktober 2011, ergab, wie gering die Inanspruchnahme
der BuT-Leistungen ist. So nehmen nur 27,4 Prozent aller
SGB-II-anspruchsberechtigten Kinder Zuschüsse zum
Mittagessen wahr, nur 19,4 Prozent Kosten für Schulaus-
flüge und Klassenfahrten, 16 Prozent die Teilhabepau-
schale, 8 Prozent die Schülerbeförderung und nur
5,3 Prozent Kosten für die Lernförderung. Ministerin
von der Leyen spricht öffentlich von einer Inanspruch-
nahme des BuT von über 40 Prozent der Kinder im
SGB II.
Eine Stichprobenumfrage der Deutschen Presse-
Agentur bei Städten und Landkreisen soll den Eindruck
erwecken, die Nachfrage nach dem Bildungspaket
komme langsam in Schwung. So hätten mittlerweile
deutlich mehr als 50 Prozent der antragsberechtigten
Eltern ihre Kinder für die Angebote angemeldet. Magde-
burg und der Landkreis Vorpommern-Rügen hätten gar
eine Anmeldungsquote von etwa 85 und 80 Prozent.
Ministerin von der Leyen wird auf ihre offizielle Bilan-
zierung am morgigen Freitag mit Sicherheit weitere ver-
meintliche Erfolgszahlen vorstellen. Es geht bei dieser
Betrachtung unter, dass die so errechnete Antragsquote
nur besagt, wie hoch die Zahl derer ist, die wenigstens
einen Antrag auf eine einzige Leistung gestellt haben.
Wenn beispielsweise alle anspruchsberechtigten Kinder
Leistungen fürs Mittagessen beantragen würden, läge
die Anspruchsquote bei 100 Prozent, auch wenn alle
anderen Leistungen des Pakets überhaupt nicht in
Anspruch genommen würden.
In Berlin etwa bedeutet eine Anspruchsquote von
über 60 Prozent, dass von den rund 200 000 anspruchs-
berechtigten Kindern ganze 80 000 Kinder seit über
einem Jahr nicht eine einzige Leistung des Bildungs-
und Teilhabepakets in Anspruch genommen haben. Wie
gering die bisherige Inanspruchnahme der Leistungen
für Bildung und Teilhabe ist, zeigen Zahlen aus dem
Ruhrgebiet. So wurden etwa für den gesamten Regional-
verband Ruhr mit so großen Städten wie Essen, Dort-
mund und Duisburg von den über 56 Millionen Euro zur
Verfügung stehenden Mitteln nur 24 Prozent für Bil-
dungs- und Teilhabeleistungen ausgegeben. Ganze
43 Millionen Euro sind noch übrig und werden nun vo-
raussichtlich für das Stopfen kommunaler Haushalts-
löcher verwandt. Auch in anderen Regionen des Bundes-
gebietes zeichnet sich ein solches Bild, wie der Deutsche
Gewerkschaftsbund für 80 Prozent der Jobcenter unter
Berücksichtigung von Daten der Bundesagentur für
Arbeit berechnet hat.
Die geringe Inanspruchnahme ist insbesondere auf
ein aufwendiges Antragsverfahren mit einer Fülle von
Arbeitshilfen, Anträgen, Zusatzfragebögen, Nachwei-
sen, Verträgen und Bescheiden zurückzuführen. Dies
führt zu einem enormen Missverhältnis zwischen Auf-
wand und Ertrag. Allein die Verwaltung des Bildungs-
und Teilhabepakets verschlingt rund 30 Prozent der ein-
gesetzten Mittel. Wohl keine andere Sozialleistung in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist so büro-
kratisch. Etliche Widersprüche und Verfahren aufgrund
unbestimmter Rechtsbegriffe belasten außerdem die
Sozialgerichte und frustrieren Antragsteller, Schulen,
Vereine sowie Behördenmitarbeiter gleichermaßen.
Leistungen wie das Mittagessen oder die Teilhabepau-
schale werden sogar nur dann gewährt, wenn ein ent-
sprechendes Angebot vor Ort vorhanden ist.
Auch die drei Runden Tische, die mittlerweile stattge-
funden haben, konnten an der Problematik nichts ändern.
Bei solchen Zahlen muss man sich grundsätzliche Fra-
gen stellen und schauen, wie Bildung und Teilhabe wirk-
lich bei den Kindern ankommen können.
Wir von Bündnis 90/Die Grünen haben Ihnen einen
Antrag vorgelegt, in dem wir konkrete Vorschläge
machen. Um den individuellen Rechtsanspruch zu
gewährleisten, müssen die einzelnen Leistungen des
sogenannten Bildungs- und Teilhabepakets realitätsge-
recht ermittelt und finanziell bedarfsdeckend ausgestat-
tet werden. Ein Teil der Leistungen wie die Lernförde-
rung, das Mittagessen oder teilweise auch die kulturelle
Teilhabe lassen sich am effektivsten in den Bildungs-
und Teilhabeeinrichtungen verwirklichen. Solange
jedoch die bundesweite Infrastruktur fehlt, gilt es,
zumindest die Leistungen der Schülerbeförderung, des
Schulbasispakets und der sogenannten Teilhabepau-
schale in den monatlichen Regelsatz für Kinder zu über-
führen. Die Kinderregelleistungen müssen darüber
hinaus den Vorgaben des Bundesverfasssungsgerichts
entsprechend ermittelt werden.
20452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
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Das sind konkrete Vorschläge, die es umzusetzen gilt.
Dass es hier grundlegender Veränderungen bedarf,
haben auch die Gewerkschaften und Wohlfahrtsver-
bände erkannt. So kritisiert etwa der DGB das schlechte
Kosten-Nutzen-Verhältnis des Bildungs- und Teilhabe-
pakets und fordert, die Angst der Bundesregierung vor
höheren Regelsätzen nicht gegen Bildungsleistungen
auszuspielen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband sieht
das Paket zu Recht von Anfang an als gescheitert an. Die
Diakonie hat in einer Umfrage von über 70 diakonischen
Beratungsstellen herausgefunden, dass die Umsetzung
des Rechts auf die Gewährleistung des Existenzmini-
mums nicht gut gelingt, und schlägt vor, die Leistungen
auf Antrag weigehend mit dem Regelsatz auszubezah-
len.
Lassen Sie mich noch auf einen Punkt kommen, den
Herr Pascal Kober, FDP, in der ersten Lesung unseres
Antrages im Dezember 2011 ansprach. Dort behauptete
er, Erfolg und Misserfolg des BuT würden letztlich von
der Umsetzung vor Ort abhängen. Als Beispiel nannte er
seinen Wahlkreis Reutlingen, in dem „eine bisherige
Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets von
sage und schreibe 85,8 Prozent“ zu verzeichnen sei.
Weiter sagte Kober: „Außerordentlich gut gearbeitet,
kann ich die Menschen vor Ort, bei uns in Reutlingen,
nur beglückwünschen. Von diesen Best-Practice-Bei-
spielen müssen andere Kommunen – Sie haben einige
angeführt, Herr Kurth, die anscheinend in Ihrem Umfeld
sind – lernen. Ich lade Sie, aber auch Ihre Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen gerne einmal nach Reutlingen
ein. Sie können dann mit den Verantwortlichen vor Ort
sprechen und von diesen guten Beispielen lernen.“
Meine Kollegin Frau Beate Müller-Gemmeke veran-
staltete am Montag, den 30. Januar 2012, eine Veranstal-
tung zur Umsetzung des BuT im Landkreis Reutlingen.
Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Lob gab es
für das Reutlinger Gutscheinheft sowie für die nach
Anlaufschwierigkeiten doch wohl gelungene Umsetzung
vor Ort. Kritisiert wurde, dass viele Sportvereine die
Gutscheine noch nicht akzeptierten, dass die Leistungen
bei vielen Migrantinnen und Migranten noch nicht ankä-
men sowie die Ausbaufähigkeit der Lernförderung. Die
Liga der freien Wohlfahrtspflege forderte zudem verläss-
liche Ansprechpartner und eine zentrale Stelle. Der Auf-
wand für die Lernförderung sei groß, bei einigen Gym-
nasiasten führe das BuT zu Mobbing. Unsere
Hauptkritikpunkte wurden indes nur teilweise aufgegrif-
fen: Das BuT ist mit einem immens hohen Verwaltungs-
aufwand verbunden, viele Kinder und Jugendliche kön-
nen aus strukturellen Gründen gar nicht in den Genuss
der Leistung kommen. So gibt etwa der Kreissozial-
dezernent Andreas Bauer zu bedenken, dass von allen
4 000 Kindern und Jugendlichen im SGB II im Land-
kreis Reutlingen nur die Hälfte in Kindergärten und
Schulen gehe. Die andere Hälfte habe – abgesehen von
der Teilhabepauschale – überhaupt keine Möglichkeit,
diese Leistungen in Anspruch zu nehmen! Auch das ist
ein wichtiger Punkt, denkt man an das grundgesetzliche
Recht auf Bildung und Teilhabe aller Kinder und Ju-
gendlicher, unabhängig davon, ob sie in der Schule oder
in der Kita sind.
Die von Pascal Kober genannten 85,5 Prozent sind of-
fensichtlich der Presse entnommen und beziehen sich
auf die Zahl der Anträge im Verhältnis zu den Antrags-
berechtigten. Sie als Beleg für eine hohe Inanspruch-
nahme zu verwenden, ist aber grundfalsch. Denn für
jedes antragsberechtigte Kind können bis zu sechs
Anträge gestellt werden. Die Zahlen, Stand 10. Januar
2012, ergeben eine Inanspruchnahme in Reutlingen von
54,4 Prozent, die zwar immer noch über, aber nicht dop-
pelt so hoch ist wie der Bundesdurchschnitt von 40 Pro-
zent. Es ist allerdings nochmals darauf hinzuweisen,
dass die 54,4 Prozent nur besagen, wie viele der nach
SGB II bzw. SGB XII und dem Asylbewerberleistungs-
gesetz kinderzuschlags- und wohngeldberechtigten Kin-
der wenigstens einen Antrag auf eine der sechs Leistun-
gen des BuT gestellt haben. Im Landkreis Reutlingen
gibt es insgesamt 6 122 anspruchsberechtigte Kinder und
Jugendliche, SGB II/SGB XII, Kinderzuschlag, Wohn-
geld und AsylbLG. All diese Kinder haben theoretisch
Anspruch auf alle sechs Leistungen des BuT. Das heißt,
es könnten theoretisch 36 732 Anträge gestellt werden.
Von diesen 36 732 theoretisch möglichen Anträgen wur-
den im Landkreis Reutlingen exakt 6 174 Anträge zu
allen sechs möglichen Leistungen gestellt. Die wahre
Inanspruchnahme des BuT liegt somit bei 16,8 Prozent.
Für die einzelnen Leistungen ergeben sich folgende
Inanspruchnahmen im Landkreis: Ausflüge/Klassenfahr-
ten – 10,1 Prozent, Schulbedarf – 44,3 Prozent, Schüler-
beförderung – 2,5 Prozent, Lernförderung – 2,3 Prozent,
Mittagessen – 20,5 Prozent, Teilhabeleistungen –
21,1 Prozent. Es ist also eben nicht so, wie Pascal Kober
behauptete. Eine Kommune kann das BuT noch so gut
umsetzen, das Bildungs- und Teilhabepaket schließt
viele Kinder und Jugendliche strukturell aus und verhin-
dert einen grundgesetzlich garantierten Anspruch auf
Bildung und Teilhabe.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Vertrag vom 30. November 2011 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem Zen-
tralrat der Juden in Deutschland – Körper-
schaft des öffentlichen Rechts – zur Änderung
des Vertrages vom 27. Januar 2003 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem Zen-
tralrat der Juden in Deutschland – Körper-
schaft des öffentlichen Rechts – zuletzt geändert
durch den Vertrag vom 3. März 2008 (Tages-
ordnungspunkt 17)
Beatrix Philipp (CDU/CSU): Charlotte Knobloch,
damals noch Präsidentin des Zentralrats der Juden in
Deutschland, schrieb 2007 in einem Leitartikel in politik
und kultur, der Zeitung des Deutschen Kulturrates – ich
zitiere – : „Judentum – das ist ein Balanceakt zwischen
Kultur und Religion, Geschichte und Tradition des jüdi-
schen Volkes, das – bis auf in Israel – in der Diaspora als
Minderheit rund um den Globus lebt.“
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20453
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Ich stelle dieses Zitat bewusst an den Anfang meiner
Rede, weil jüdisches Leben in Deutschland von der Be-
deutung her mehr ist als die exakte Anzahl der Gemein-
demitglieder der tatsächlich in Deutschland lebenden Ju-
den. Es ist die Verankerung des jüdischen Lebens im
öffentlichen Alltag, es ist dessen Wahrnehmung in der
gesamten Bevölkerung, und das geschieht in den unter-
schiedlichen Regionen mit unterschiedlicher Intensität.
Bis heute überschattet der Holocaust das jüdische Le-
ben in Deutschland, und kaum jemand, schon gar nicht
die jüngere Generation, weiß, wie prägend jüdisches Le-
ben bis 1933 war, prägend für die kulturelle, wissen-
schaftliche, politische und auch wirtschaftliche Vielfalt
des Lebens in Deutschland. So waren unter anderem jü-
dische Gottesdienste fester Bestandteil von nationalen
Feiertagen im deutschen Reich. Der dann 1933 –
zwangsweise – gegründeten Reichsvertretung der Deut-
schen Juden gehörten über 500 000 deutsche Juden an.
Zum Zeitpunkt der Konstituierung des Zentralrats der
Juden in Deutschland am 19. Juli 1950 – also nur
17 Jahre später, aber was für Jahre, in Frankfurt am Main
lebten 15 000 Juden in Deutschland. Ein Anknüpfen an
die religiöse Vielfalt der Vorkriegszeit war angesichts
dieser geringen Zahl der Mitglieder kaum mehr möglich.
Und doch entwickelte es sich wieder.
Der Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereini-
gung 1990 haben die Anziehungskraft Deutschlands
auch und besonders bei den bisher in Osteuropa leben-
den Juden mehr als deutlich werden lassen. Und somit
bildete die Zuwanderung von Juden gerade aus der ehe-
maligen Sowjetunion, den sogenannten GUS-Staaten, ei-
nen neuen Aufschwung und eine erhebliche Stärkung
der jüdischen Gemeinden. Seit 1990 hat sich daher die
Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder in Deutschland
mehr als verdreifacht. Damit einher ging eine deutliche
Belebung der Gemeinden, der religiösen Aktivitäten und
nicht zuletzt auch unseres Alltages.
Heute leben fast 110 000 Juden in über 100 stetig
wachsenden Gemeinden. 70 Jahre nach dem mörde-
rischen Beschluss der Wannsee-Konferenz ist das jüdi-
sche Leben wieder Teil des deutschen Alltags – ein
wichtiger Teil deutscher Kultur, und das sollte uns posi-
tiv stimmen.
Aber der rasante Anstieg der Mitglieder der jüdischen
Gemeinschaft brachte auch neue Herausforderungen mit
sich und zweifellos auch Probleme. Wer in den Kommu-
nen Kontakte zur jüdischen Gemeinde pflegt, weiß, wie
groß die Anforderungen an Integrationsleistungen sind,
wie viel Hilfe bei der Arbeits- und Wohnungssuche not-
wendig ist, welche besonderen Probleme bei den Betag-
ten zu lösen sind und wie Vermittlung, Praktizierung und
Kenntnis religiösen Wissens große Anforderungen an
alle Beteiligten stellen.
Wie gesagt, in den Jahren des Wiederaufbaus des Ge-
meindelebens ist das jüdische Leben in Deutschland
wieder bunt und vielschichtig geworden. Dieses Wachs-
tum und diese kulturelle Vielfalt fordern die Bürgerinnen
und Bürger der jüdischen Gemeinden täglich neu heraus.
Und wer sich damit befasst – oder befasst ist – spürt,
dass Judentum mehr ist als reine Religionszugehörigkeit;
Judentum ist Philosophie und Kultur, und diese Kultur
begleitet die jüdischen Menschen von ihrer Geburt bis zu
ihrem Tod. Sie ist Zusammenspiel von Sprache, Bil-
dung, Musik und Religion.
Bei seiner Gründung in den 50er-Jahren lag der
Schwerpunkt der Arbeit des Zentralrats als Dachorgani-
sation der jüdischen Gemeinden und Landesvertretungen
in Deutschland auf der Beobachtung der Gesetzgebung
zur Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Un-
rechts. Erst mit der Zeit wandelten sich seine Aufgaben.
Der Kampf gegen den Antisemitismus, die Unterstüt-
zung der Annäherung zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Staate Israel sowie die Förderung
der Arbeit der Mitgliedsgemeinden und Landesverbände
wurden zu wichtigen Aufgaben des Zentralrats. Aber der
aktuelle Bericht der Bundesregierung von August 2011
zum Antisemitismus in Deutschland belegt, dass die
ursprüngliche Hauptaufgabe des Zentralrats im Kampf
gegen Antisemitismus noch längst nicht getan ist.
Gemäß dem oben genannten Bericht ist der Antisemitis-
mus in Deutschland zum Teil wieder deutlich spürbar.
Antisemitische und antiisraelische Organisationen ver-
suchen, Einfluss auf das öffentliche Meinungsbild zu
nehmen und zu emotionalisieren. Wir müssen uns leider
in diesem Hause mit unvorstellbaren Vorgängen – in ver-
schiedensten Teilen der Welt, nicht nur in Frankreich
und Syrien als Beispiel, aber eben auch bei uns – befas-
sen.
Nicht zuletzt mit den neuen Herausforderungen an die
Integration der zugewanderten jüdischen Mitglieder aus
der ehemaligen Sowjetunion nahm der Zentralrat auch
die satzungsgemäße Aufgabe – nämlich die Förderung
und Pflege religiöser, kultureller und sozialer Aufgaben
der jüdischen Gemeinde – wahr, zum einen durch die
Schaffung eines Angebotes an Sprachkursen in den Ge-
meinden, zum anderen durch die Heranführung der
Menschen an ihre jüdischen Wurzeln und ihren jüdi-
schen Glauben, den sie in ihren Heimatländern jahrzehn-
telang nicht leben konnten bzw. durften. Mithilfe von ge-
schultem Personal und Rabbinern wurden wieder
jüdische Riten und Gebräuche sowie jüdisches Wissen
vermittelt. So konnten neue jüdische Gemeinden entste-
hen, jüdische Gotteshäuser wieder ihre Türen öffnen und
junge Rabbiner ihre Arbeit in den Gemeinden aufneh-
men.
Über Kunst, Kultur und Sprache wird Identität ge-
schaffen, auch wenn das immer noch von manchen be-
stritten wird. Kunst, Kultur und Sprache werden zu ei-
nem kulturellen und geistigen Brückenschlag beitragen
können. Kulturelle Vielfalt erfordert zuerst aber die Aus-
einandersetzung mit der eigenen Kultur. Viele Probleme
mit anderen haben ihren Grund in mangelnder Kenntnis
bzw. unzureichendem Verständnis füreinander. Deshalb
hat die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen zur
Voraussetzung, die eigene, aber auch die fremde Kultur
zu kennen oder zumindest auf beide gleichermaßen neu-
gierig zu sein. Mit der Aufgabe, den Weg in die jüdische
Gemeinschaft zu ebnen, Vorbehalte abzubauen und die
sprichwörtliche Gastfreundschaft zu pflegen, sind die
Gemeinden mehr denn je gefordert.
20454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
Wie fassungslos machen uns vor diesem Hintergrund
die jüngsten Morde in Frankreich, wie beschämend sind
in meiner Heimatstadt Düsseldorf die sich als notwendig
erweisenden Sicherheitsvorkehrungen im Bereich der
Synagoge; fast jeder kennt solche Beispiele aus seiner
Umgebung.
Die in der vergangenen Zeit errichteten jüdisch-theo-
logischen Fakultäten, wie zum Beispiel das Abraham-
Geiger-Kolleg in Potsdam, unterstützen den Ausbau des
jüdischen Lebens in der heutigen Gesellschaft. Begleitet
von aktuellen gesellschaftlichen Ereignissen stellte aber
auch dies den Zentralrat der Juden in Deutschland vor
neue Aufgaben. Umso bedeutender war die Unterzeich-
nung des Staatsvertrages zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutsch-
land am 27. Januar 2003. Erstmalig existierte damit ein
Dokument, in dem sich der deutsche Staat hinter die in
Deutschland lebenden Juden stellte und seine Unterstüt-
zung auf sozialem, kulturellem sowie integrationspoli-
tischem Gebiet zusagte.
Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU befürwortete
bereits damals die Absicht der Bundesregierung, finan-
ziell zur Erfüllung der überregionalen Aufgaben des
Zentralrats der Juden verstärkt beizutragen. Dies galt
insbesondere für dessen Erhalt und Pflege des deutsch-
jüdischen Kulturerbes sowie den weiteren Ausbau der
jüdischen Gemeinschaft, wie zum Beispiel in der weite-
ren Unterstützung des Abraham-Geiger-Kollegs, der ers-
ten jüdisch-theologischen Fakultät; ich erwähnte es
bereits. Es muss uns ein besonderes Anliegen sein, die
Ausbildung von Rabbinern und Kantoren zu unterstüt-
zen und zu fördern. Auch hier zeigt sich die besondere
historische Verantwortung für die Förderung des Wie-
deraufbaus jüdischen Lebens in Deutschland sowie für
die Festigung und Vertiefung der freundschaftlichen
Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft. Und aus der
historisch-gesellschaftlichen Verpflichtung der Bundes-
republik Deutschland gegenüber ihren jüdischen
Gemeinden hat sie dem Wandel und den vermehrten
Anforderungen auch finanziell Rechnung zu tragen. Die
Bundesrepublik Deutschland und der Zentralrat der
Juden in Deutschland haben daher am 30. November
2011 eine Leistungsanpassung von bisher 5 Millionen
Euro auf 10 Millionen Euro jährlich ab dem Haushalts-
jahr 2012 vereinbart. Dieses Mehr an Unterstützung
dient auch dem weiteren Ausbau, der Etablierung und
Förderung der bereits erwähnten Fakultäten vonseiten
der Bundesregierung; wir erachten die Erhöhung der
jährlichen finanziellen Mittel daher für erforderlich,
auch um vor Ort den gewachsenen Aufgaben entspre-
chen zu können.
Mit dem vorliegenden Gesetz wird dem Erfordernis
der Zustimmung des Deutschen Bundestages bei einer
Anpassung der Staatsleistungen nach Art. 7 des Vertra-
ges Rechnung getragen. Mit der Zustimmung zur Ände-
rung des Gesetzes wird die gesetzliche Grundlage für die
Leistungsanpassung im Vertrag zwischen der Bundesre-
publik Deutschland und dem Zentralrat der Juden ge-
schaffen. Die Fülle der zusätzlichen Aufgaben des Zen-
tralrats der Juden erfordert diese Leistungsanpassung.
Wir bitten Sie daher heute um Zustimmung und hoffen
auf eine breite, fraktionsübergreifende Mehrheit.
Gabriele Fograscher (SPD): Die Bundesrepublik
Deutschland hat eine besondere Verantwortung für das
jüdische Leben in Deutschland angesichts des Leids, das
die jüdische Bevölkerung in den Jahren 1933 bis 1945
erdulden musste. Aus diesem Grunde haben die Bundes-
republik Deutschland und der Zentralrat der Juden in
Deutschland in einem Vertrag 2003 eine kontinuierliche
und partnerschaftliche Zusammenarbeit vereinbart.
In dem Vertrag wurde festgeschrieben: „Die Bundes-
regierung wird zu Erhaltung und Pflege des deutsch-
jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdischen
Gemeinschaft und zu den integrationspolitischen und
sozialen Aufgaben des Zentralrats in Deutschland beitra-
gen. Dazu wird sie den Zentralrat der Juden in Deutsch-
land bei der Erfüllung seiner überregionalen Aufgaben
sowie den Kosten seiner Verwaltung finanziell unterstüt-
zen.“ Zu diesen Zwecken zahlte die Bundesrepublik
Deutschland jährlich einen Betrag von 3 Millionen Euro
an den Zentralrat der Juden.
Dieser Vertag vom 27. Januar 2003 wurde 2008
ergänzt. Der Zentralrat der Juden erhielt ab dem Haus-
haltsjahr 2008 jährlich eine Zuwendung von 5 Millionen
Euro.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die jähr-
liche Unterstützungsleistung der Bundesrepublik
Deutschland an den Zentralrat der Juden auf 10 Millio-
nen Euro ab dem Jahr 2012 erhöht werden. In der
Begründung zu dem Gesetzentwurf heißt es: „Vor dem
Hintergrund neuer, vielfältiger Anforderungen an die
jüdische Gemeinschaft in Deutschland, die zu einem
wesentlichen Anstieg der Aufgaben des Zentralrats, ins-
besondere im Bildungsbereich, geführt haben, haben
sich die Vertragsparteien nach Art. 7 Satz 2 des Vertra-
ges auf eine Anpassung der Staatsleistung verständigt.“
Zu den Aufgaben des Zentralrates der Juden zählen
die Förderung und Pflege religiöser und kultureller Auf-
gaben der jüdischen Gemeinden und die Vertretung der
gemeinsamen politischen Interessen der jüdischen
Gemeinschaft sowie der Aufbau neuer jüdischer
Gemeinden vor allem in Ostdeutschland. Dabei konzen-
triert sich der Zentralrat auf die Betreuung durch Berufs-
bildungs- und Ausbildungsseminare, bietet Sprachkurse,
politische Bildungsseminare, Religionsunterricht und
integrationsfördernde Maßnahmen an.
Bei der Rabbinerausbildung spielt das Abraham-
Geiger-Kolleg in Potsdam eine entscheidende Rolle. Es
ist die erste Ausbildungsstätte für liberale und konserva-
tive Rabbiner in Europa seit der Schoah. Gegründet
wurde das Abraham-Geiger-Kolleg 1999 und ist an die
Universität Potsdam angegliedert. Unter der Mitträger-
schaft des Zentralrates der Juden in Deutschland werden
hier seit 2011 Rabbiner ausgebildet. Das Abraham-
Geiger-Kolleg verdient weiterhin Unterstützung.
Jüdisches Leben bereichert unsere Gesellschaft, und
es gibt Grund zu großer Freude, dass es wieder so viele
aktive jüdische Gemeinden in Deutschland gibt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20455
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Im November 2008 hat der Deutsche Bundestag den
Antrag „Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken,
jüdisches Leben in Deutschland weiter fördern“ über
Fraktionsgrenzen hinweg mit großer Mehrheit verab-
schiedet. Eine Forderung dieses Antrags war die Ein-
richtung eines Expertengremiums aus Wissenschaftlern
und Praktikern, das in regelmäßigen Abständen einen
Bericht zum Antisemitismus in Deutschland erstellen
und Empfehlungen zur Entwicklung sowie Weiterent-
wicklung von Programmen zur Antisemitismusbekämp-
fung formulieren soll.
Inzwischen liegt der erste Bericht vor. Das Experten-
gremium führt darin aus, dass Antisemitismus ein
bedeutendes Bindeglied in der Ideologie des Rechtsex-
tremismus ist. Auch vom Islamismus geht ein erheb-
licher Antisemitismus aus.
Beunruhigend hoch bleibt der Anteil von Vorurteilen
und Ressentiments in der deutschen Bevölkerung. Dazu
heißt es in dem Bericht des Expertengremiums: „Was die
Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Bevöl-
kerung anbelangt, so geben die durch den Expertenkreis
ausgewerteten demoskopischen Untersuchungen über-
einstimmend eine Größenordnung von etwa 20 Prozent
latentem Antisemitismus an.“
Diese tiefe Verwurzelung von Negativklischees über
Juden und antisemitische Einstellungen in der deutschen
Kultur und Gesellschaft müssen wir langfristig und mit
nachhaltigen Maßnahmen ändern. Deshalb brauchen wir
eine umfassende Abwehrstrategie, die Wissenschaft,
Pädagogik und zivilgesellschaftliche Initiativen mit ein-
bezieht.
Wir benötigen eine fundierte Auseinandersetzung mit
dem Thema, die in enger Zusammenarbeit zwischen
staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organi-
sationen erfolgen muss. Nur dann werden wir erreichen,
dass jüdische Einrichtungen nicht mehr gefährdet sind
und wie Hochsicherheitseinrichtungen bewacht werden
müssen.
Antisemitismus stellt nicht nur eine Gefahr für unsere
jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger dar, sondern
auch für die Werte unserer Demokratie. Deshalb sind wir
alle gefordert, hier aktiv zu werden, Aufklärung zu
betreiben und Vorurteile abzubauen.
Dem vorliegenden Gesetzentwurf stimmt die SPD-
Bundestagsfraktion zu.
Dr. Stefan Ruppert (FDP): Welch ein Glück ist es,
dass es nur wenige Jahrzehnte nach dem Holocaust wie-
der jüdisches Leben in diesem Land gibt! Eine Ausstel-
lung im Jüdischen Museum Frankfurt im Jahr 2010 hieß:
„Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwan-
derung in die Bundesrepublik“. Die Veranstalter fingen
etwas provokativ bei dieser legitimen Frage an: Wie war
es bloß möglich, „ausgerechnet nach Deutschland als
Jude/Jüdin“ zu kommen? Als Bilanz der Ausstellung
stand die Frage, ob tatsächlich so etwas wie – zugespitzt
gesagt – ein neues deutsches Judentum als Ergebnis der
Einwanderung entstanden sei. Ich bin überzeugt, dass es
unsere Verantwortung ist, jüdisches Leben in Deutsch-
land zu fördern. Es ist bisher viel gemacht worden: Der
am 27. Januar 2003, dem Gedenktag der Opfer des Na-
tionalsozialismus, auf Initiative des Zentralrates
geschlossene Vertrag, den wir heute zum zweiten Mal
anpassen werden, ist ein Meilenstein dieser erfreulichen
Entwicklung.
Die finanzielle Zuwendung, die sogenannte Staats-
leistung an den Zentralrat der Juden, resultiert nicht nur
aus einer historischen Verantwortung. Vielmehr trägt sie
dem Verantwortungsbewusstsein des deutschen Gesetz-
gebers für jüdisches Leben in Deutschland Rechnung. In
Deutschland bedeutet die Trennung von Religion und
Staat keine Trennung von Religion und Gesellschaft.
Der Staat, als eine Heimstatt all seiner Bürger, versteht
seine weltanschauliche Neutralität nicht als eine laizisti-
sche Verdrängung der Religion aus der Öffentlichkeit ins
rein Private. Er will sich den einzelnen Religionen
gegenüber kooperativ verhalten und begreift sie als
wichtige Partner und Träger einer mündigen Bürgerge-
sellschaft. Gleichsam unterstützt er im Rahmen des für
die Politik Möglichen den interreligiösen Dialog, den
Austausch zwischen Kulturen. Im Rahmen der Reli-
gionsförderung des deutschen Staates spielt die Unter-
stützung des Judentums eine besondere Rolle. Diese
Debatte bietet uns Bundestagsabgeordneten einen selte-
nen Anlass, uns in diesem Plenarsaal mit den Belangen
des Judentums in unserem Land auseinanderzusetzen.
Das Bestreben nach einem deutschen Judentum steht
in der Tradition vieler liberaler Juden. Diese Tradition
reicht vom jüdischen liberalen Rechtsanwalt Gabriel
Risser aus Hamburg, der an der Seite der Partei der Libe-
ralen im 19. Jahrhundert für die Emanzipation kämpfte,
bis Ignatz Bubis, der ein überzeugter Liberaler war und
sich bewusst einen „deutschen Staatsbürger jüdischen
Glaubens“ nannte. Identität kann man nicht verordnen.
Sie entsteht. In einer offenen Gesellschaft ist die Summe
und Vielfalt „deutscher Identitäten“ ein Gewinn. Sollte
ein „neues deutsches Judentum“ das zentrale, zukunfts-
gewandte Anliegen des Zentralrats sein, so gibt es hier
eine Reihe von Herausforderungen, die rechtfertigen und
begründen, warum eine Erhöhung der Staatsleistung not-
wendig ist.
So hat Herr Dr. Graumann, Vorsitzender des Zentral-
rats der Juden, mehrmals hervorgehoben, eine Vielfalt
sei in einer Welt der Einheitsgemeinden sehr willkom-
men, aber eine ausgesprochen jüdische Vielfalt. Ein Plu-
ralismus religiöser Ausrichtungen des Judentums kristal-
lisiert sich zurzeit heraus. Ich empfinde das als gut.
Dieser Prozess ist nicht unproblematisch, doch ist er von
großer Tragweite für die Zukunft des Judentums in
Deutschland. Die Unterstützung dieser Prozesse, unter
anderem durch die Ausbildung des jeweiligen religiösen
Personals – Rabbiner und Kantoren – ist eine regelrechte
Herausforderung. Sowohl orthodoxes als auch liberales
und konservatives Judentum müssen Platz unter dem
Dach der Einheitsgemeinden finden. Auch der allge-
meine, für westliche Wohlstandsgesellschaften typische
Säkularisierungstrend als Folge von Modernisierung,
Urbanisierung, Technisierung spielt eine Rolle. So sind
die Identitätsbezüge vieler Jüdinnen und Juden – ge-
nauso wie im christlichen Bereich – eindeutig kulturell
20456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
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(D)(B)
und weniger religiös geprägt. Ein kulturelles Angebot in
den Gemeinden ist mit Sicherheit ein Zweck der Finan-
zierung.
Durch Einwanderung aus der ehemaligen UdSSR
1990 bis 2005 ist ein wesentlicher demografischer
Zuwachs erreicht worden von knapp 30 000 Ende der
1980er-Jahre bis etwa 105 000 Gemeindemitglieder
heute. Zu mehr als 90 Prozent bestehen die Gemeinden
in der Regel aus den russischsprachigen Einwanderern.
Auch 20 Jahre nach dem Beginn der jüdischen Immigra-
tion in Deutschland ist die Integrationsfrage nach wie
vor präsent. Unter den vielen möglichen Integrations-
maßnahmen sind einige besonders wichtig: Die Sozial-
abteilungen der Gemeinden müssen dringend unterstützt
werden bei der Kommunikation mit jeweiligen Ämtern.
Denn mehr als 70 Prozent der – zugewanderten – Juden
sind Akademiker; weit mehr als 50 Prozent sind arbeits-
los. Das ist eine Situation, bei der Gemeinden sicherlich
mithelfen könnten und dafür Unterstützung benötigen.
Die staatliche Politik der Verteilung der sogenannten
Kontingentflüchtlinge führte dazu, dass zahlreiche
Gemeinden auch in den Kleinstädten entstanden sind,
viele zumal nach dem Holocaust. Wir haben es also mit
einer Veränderung der Topografie der Gemeinden zu
tun. Wenn auch unfreiwillig, ist dieser Wandel der reli-
giös-jüdischen Gemeindelandschaft ein Glück für unser
Land. Doch die kleinen Gemeinden brauchen dringend
eine zusätzliche finanzielle Unterstützung – für sie ist es
überlebenswichtig.
Das leitende Personal der Gemeinden – das zeigt die
Erfahrung der letzten Jahre – braucht durchaus Hilfestel-
lungen bei Verwaltung, Jurisprudenz, geschäftlicher
Kommunikation. Anders ist das auf politischer und Ver-
waltungsebene, besonders in den kleineren und mittleren
Gemeinden, nicht zu bewältigen.
Die Jugendarbeit ist ebenfalls ein zentraler Punkt. Das
Alter ist neben Herkunft und kulturellen Differenzen ein
wesentlicher Integrationsfaktor. Hier ist eine Jewish
Education in einer Gemeindewelt sowie in einem deut-
schen Schulsystem von großer Bedeutung: Erziehungs-
projekte, Gemeindeschulen, Treffen, etwa von der
ZWST, der Zentralen Wohlfahrtstelle, organisiert. All
das muss unterstützt werden! Ganz wichtig ist die Unter-
stützung bei der Ausbildung des theologischen Nach-
wuchses. Beispielhaft sei in diesem Kontext die Tätig-
keit des Ihnen allen sicherlich bekannten Abraham-
Geiger-Kollegs erwähnt. Auch Institutionen, wie die
Hochschule in Heidelberg, brauchen Unterstützung.
Gerade die Herausforderungen im Rahmen der Errich-
tung der ersten jüdisch-theologischen Fakultät zeigen
den Bedarf einer Anpassung der finanziellen Zuwen-
dung. Die Erhöhung, über die wir heute zu beschließen
haben, ist also mehr als gerechtfertigt.
Und nicht zuletzt: Die Lage der Holocaust-Überle-
benden und der jüdischen Veteranen des Zweiten Welt-
kriegs in den Gemeinden erfordert auch besondere Auf-
merksamkeit. Diese Menschen brauchen Unterstützung
vor Ort. Es geht um ein geordnetes System der jüdischen
Altersheime, Sozialdienste usw.
Abschließend möchte ich betonen, dass das Ziel die-
ses Vertrages, nämlich die Entfaltung des jüdischen
Lebens und seine Akzeptanz in der Bevölkerung, nach
wie vor eine Frage der Zivilgesellschaft bleibt, eine
Frage des guten Willens und des mutigen Auftrittes aller
gegen Vorurteile, alte Klischees und Unwissenheit.
Sicherlich werden das Vertragswerk und diese Debatte
ein positiver Impuls in dieser Richtung.
Petra Pau (DIE LINKE): Die Linke bejaht den
Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Juden.
Mit dem vorliegenden Gesetz wird der Staatsvertrag
der Bundesrepublik Deutschland mit dem Zentralrat der
Juden in Deutschland erneuert. Es geht um die Förde-
rung jüdischer Kultur und jüdischen Lebens in Deutsch-
land. Dem stimmt die Linke selbstverständlich zu. Die
damit verbundene Unterstützung gilt der gesamten
Breite jüdischen Lebens, also nicht nur den Einrichtun-
gen unter dem Dach des Zentralrats der Juden.
Die Förderung jüdischer Vielfalt schließt unabhängig
von diesem Staatsvertrag natürlich den kontinuierlichen
Kampf gegen jedweden Antisemitismus ein, so wie es
der Bundestag am 4. November 2008 fraktionsübergrei-
fend beschlossen hat: Antisemitismus bekämpfen, jüdi-
sches Leben fördern.
Ein Punkt aus dem damaligen Beschluss liegt seit
Ende 2011 vor: ein erster Expertenbericht über Antise-
mitismus in Deutschland. Ich gehe davon aus, dass wir
ihn und die enthaltenen Anregungen demnächst im Ple-
num sachlich und ohne parteipolitische Kalküle diskutie-
ren werden.
Sechs weitere Aufgaben, die der Bundestag damals
der Bundesregierung gestellt hatte, harren noch eines
Berichtes. Wir erwarten ihn demnächst.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir begrüßen den vorgelegten Gesetzentwurf der Bun-
desregierung zur Änderung des Vertrages zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der
Juden in Deutschland. Durch die Änderung des Vertra-
ges wird die Summe von bisher 5 Millionen Euro auf
10 Millionen Euro jährlich steigen. Bereits am 27. Ja-
nuar 2003 hat Rot-Grün den Vertrag zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden
in Deutschland abgeschlossen, der sich als tragfähige
Grundlage für eine kontinuierliche und partnerschaft-
liche Zusammenarbeit herausstellte. Damals haben wir
die finanzielle Unterstützung in Form einer jährlichen
Staatsleistung festgeschrieben. Mit Änderung des Vertra-
ges vom 3. März 2008 wurde die jährliche Staatsleistung
von 3 Millionen Euro auf 5 Millionen Euro angehoben.
Insbesondere vor dem Hintergrund neuer, vielfältiger
Anforderungen an die jüdische Gemeinschaft in
Deutschland, die zu einem wesentlichen Anstieg der
Aufgaben des Zentralrats, insbesondere im Bildungs-
bereich, geführt haben, war diese Erhöhung notwendig.
Wir gehen davon aus, dass der Zentralrat der Juden
auch in Zukunft nach fairen Regeln für die gerechte und
sinnvolle Verteilung der Gelder innerhalb der jüdischen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20457
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Gemeinschaft sorgen wird, auch jener jüdischen Ver-
bände, die nicht unter dem Dach des Zentralrats organi-
siert sind.
Seit über 60 Jahren vertritt nun schon der Zentralrat
der Juden 23 Landesverbände mit insgesamt 107 jüdi-
schen Gemeinden. 60 Jahre Zentralrat der Juden in
Deutschland, das ist nach dem Zivilisationsbruch Ausch-
witz für mich weder Selbstverständlichkeit noch Wun-
der. Es ist das große Verdienst von Persönlichkeiten wie
Heinz Galinski und Paul Spiegel, die unermüdlich für
die Verständigung zwischen jüdischen und nichtjüdi-
schen Deutschen eintraten. An deren Wirken möchte ich
an dieser Stelle besonders erinnern.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wuchs bei
den jüdischen Sowjetbürgern die Angst vor Antisemitis-
mus, weshalb viele von ihnen nach Deutschland migrier-
ten. Als sogenannte Kontingentflüchtlinge sind nach An-
gaben des Zentralrats insgesamt 220 000 Menschen
seither nach Deutschland gekommen. In der Folge ver-
vierfachte sich die Zahl der Mitglieder in jüdischen
Gemeinden auf heute rund 120 000 Mitglieder. Insbe-
sondere in den neuen Bundesländern wurden Gemeinden
gegründet und neue Synagogen gebaut. Daneben wurde
die Integrationsarbeit des Zentralrats so zu einer zentra-
len Aufgabe.
Diese Integrationsleistungen der jüdischen Gemein-
schaft sind mit großem Respekt zu sehen, auch wenn
diese nicht immer ohne Konflikte bewältigt werden
konnten. Diese Aufgaben verlangen vor dem Hinter-
grund der historischen Verantwortung für die Verbrechen
im Nationalsozialismus und dem Mord an 6 Millionen
europäischen Juden auch künftig unsere materielle und
immaterielle Unterstützung. Denn im Persönlichen sind
wir alle gefordert, wenn es darum geht, jeder Form von
Antisemitismus entgegenzutreten.
Wir begrüßen deshalb den vorgelegten Gesetzentwurf
und wünschen dem Zentralrat der Juden auch weiterhin
viel Erfolg in seiner bemerkenswerten Arbeit.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Nationales Reform-
programm 2012 muss soziale Ziele der Strategie
„Europa 2020“ berücksichtigen (Tagesord-
nungspunkt 19)
Lena Strothmann (CDU/CSU): Wir alle wollen ein
starkes und sicheres Europa und setzen uns daher auch
vehement für die gemeinsame Währung ein. Wir wollen
nicht weniger Europa, sondern mehr Europa. Europa ist
ein großer Wirtschaftsraum. Wir stehen in Konkurrenz
zu anderen Wirtschaftsräumen: USA, Japan, die BRIC-
Staaten.
Es war auch schon Ziel der Lissabon-Strategie im
Jahr 2000, Europa – die EU der 15 – zum „wettbewerbs-
fähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirt-
schaftsraum der Welt zu machen“. Es wurden leider
nicht alle Lissabon-Ziele erreicht. Die Mitgliedstaaten
haben nicht immer an einem Strang zogen. Es gab
durchaus unterschiedliche Interessen. Leistungsstarke
Mitgliedstaaten drängten auf Reformen. In anderen Staa-
ten gab es erhebliche Umsetzungsrückstände. Hinzu ka-
men neue Herausforderungen: die Finanzkrise von 2008,
die Wirtschaftskrise, die Schuldenkrise. Die Krisen wa-
ren ein Weckruf für Europa.
Das Jahr 2010 musste daher für einen entschlossenen
Neuanfang stehen. Die Lissabon-Strategie wurde abge-
löst durch die Strategie „Europa 2020“. Sie beschreibt
die aktuelle Strategie für Wachstum in Europa. Drei
Prioritäten werden gesetzt: Intelligentes Wachstum,
nachhaltiges Wachstum, integratives Wachstum. Alle
drei verstärken die Vision der europäischen sozialen
Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts. Deshalb gab es
auch strategische Änderungen. Bislang wurden Maßnah-
men immer erst im Nachhinein auf ihre Wirksamkeit
überprüft. Im Rahmen des Europäischen Semesters ver-
pflichten sich alle Mitgliedstaaten bis April des laufen-
den Jahres, ihre Beiträge zur Wachstumsstrategie 2020
zu liefern. Es findet ein Dialog statt. Das ist ein positives
und konstruktives Element. Europa zieht damit die Kon-
sequenzen aus mangelnder Haushaltsdisziplin und hoher
Verschuldung einzelner Staaten. Die finanzpolitischen
Prozesse des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und die
wirtschaftspolitischen Prozesse um die EU-2020-Strate-
gie werden zeitlich angeglichen und zusammengeführt.
Das Semester ist quasi ein Instrument der vorbeugenden
Überwachung.
Es läuft alles nach einem festen Zeitplan ab und be-
ginnt mit der Vorlage des Europäischen Jahreswachs-
tumsberichtes zu Jahresbeginn. Im Frühjahr werden die
nationalen Ziele und Reformpläne der einzelnen Mit-
gliedstaaten der Kommission vorgelegt. Sie werden von
der Kommission analysiert und bewertet. Daraus folgen
die sogenannten Empfehlungen des Rates. Hier sind im
Gegensatz zu den Maastricht-Kriterien keine Sanktionen
vorgesehen. Bei den nationalen Reformprogrammen gilt
das Prinzip der Freiwilligkeit – mit allen Vor- und Nach-
teilen. Aber die Mitgliedstaaten wissen um ihre gemein-
same Verantwortung.
Am Beispiel des Euro-Plus-Paktes ist erkennbar, wie
flexibel auch bei aktuellen Ereignissen reagiert werden
kann. Das deutsche Aktionsprogramm zum Euro-Plus-
Pakt haben wir in unser Reformprogramm integriert. Vor
allem ist die Haushaltskonsolidierung in den europäi-
schen Staaten als Hauptaufgabe erkannt. Unsere deut-
schen Regierungsvorhaben sind im aktuellen Nationalen
Reformprogramm zusammengestellt. Die Bewertung
des ersten Programms von 2011 war überaus positiv.
Auch das vorgelegte Programm 2012 überzeugt. Die
Bundesländer, Verbände und Sozialpartner waren betei-
ligt. Die Antworten auf die Herausforderungen können
sich wirklich sehen lassen. Alles in allem bietet es eine
ziemlich komplette Übersicht über die Maßnahmen der
christlich-liberalen Koalition. Schauen Sie sich doch
auch den Anhang an. Hieran wird die Vernetzung unse-
rer Politik mit den europäischen Zielen und der
EU-2020-Strategie deutlich. Viele Bereiche, von Be-
kämpfung der Arbeitslosigkeit bis hin zu Bildung und
20458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
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(D)(B)
Ausbildung, Haushaltskonsolidierung und Forschung
und Entwicklung, sind aufgeführt. Wir leisten hier Bei-
träge für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland
und Europa.
Der SPD-Antrag hierzu ist daher überflüssig. Er sug-
geriert, die sozialen Ziele seien unterrepräsentiert. Das
trifft jedoch eindeutig nicht zu. Denn die Analyse der
fünf Kernbereiche der 2020-Strategie zeigt: Die von
der EU bis 2020 angestrebte Beschäftigungsquote von
75 Prozent haben wir auf nationaler Ebene bereits 2010
fast erreicht. Wir sind zuversichtlich, dass wir unser
hochgestecktes Ziel von 77 Prozent erreichen werden.
Die EU strebt bis 2020 im Bereich der Innovation die
Quote von 3 Prozent auf Basis des BIP an. Auch das ha-
ben wir in Deutschland fast erreicht. 2010 betrug unsere
Quote bereits 2,82 Prozent. Unser nationales Ziel heißt
10 Prozent bis 2015. Beim Klimaschutz sind wir Vorrei-
ter in Europa. Das von der EU gesetzte Ziel von 20 Pro-
zent Emissionseinsparung haben wir auf 40 Prozent er-
höht, bis 2050 sogar auf 80 Prozent.
Eine große Herausforderung liegt im Bereich Bildung:
Die Schulabbrecherquote soll bis 2020 unter 10 Prozent
liegen, 40 Prozent der Abgänger sollen einen Hochschul-
abschluss erreichen. In Deutschland lag 2010 die Schul-
abbrecherquote bei 11,9 Prozent. Wir werden unser natio-
nales Ziel in jedem Fall erreichen. Einer Hochschulquote
stehe ich grundsätzlich skeptisch gegenüber. Ich betone
immer die hohe Bedeutung der dualen Ausbildung, um
dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Schließlich
brauchen wir im gewerblich-technischen Bereich auch
Arbeits- und Führungskräfte.
Im Bereich Armut/soziale Eingliederung gibt es un-
terschiedliche Ansichten über die zu treffende Defini-
tion. Unser Indikator Langzeitarbeitslosigkeit ist geeig-
net; das steht fest. Die Verringerung um 20 Prozent bis
2020 ist unser nationales Ziel.
Unsere Ausgangslage in Deutschland ist somit sehr
gut. Die Gesamtkonjunktur zeigt gute Wachstumsquo-
ten. Das ist eine Erfolgsbilanz, die sich sehen lassen
kann. Die Erwartung für 2012 beschreibt ein Plus von
0,7 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt. Nach Überwin-
dung der angekündigten Delle im Winter wird für 2013
mit einem Plus von 1,6 Prozent gerechnet. Hinzufügen
möchte ich, dass das Handwerk bereits im laufenden
Jahr 1,5 bis 2 Prozent erwartet. Das freut mich ganz be-
sonders.
Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland wird
auch in 2012 auf ein neues Rekordhoch zusteuern.
41,3 Millionen Menschen werden dann erwerbstätig
sein, und das überwiegend in sozialversicherungspflich-
tigen Beschäftigungen. Die Zahl der Arbeitslosen wird
mit größter Wahrscheinlichkeit unter 3 Millionen liegen.
Aufschlussreich ist auch die Betrachtung der Jugend-
arbeitslosigkeit. Deutschland hat wegen seines dualen
Ausbildungssystems eine deutlich geringere Jugendar-
beitslosigkeit als die anderen europäischen Staaten. Zu-
rückzuführen ist unser Rückgang in Deutschland auch
auf die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen bei
Jugendlichen, seit dem letzten Ausbildungspakt auch be-
sonders bei jungen Menschen ohne Schulabschluss.
Die Zukunft der Jugend wird auch von unserer heuti-
gen Politik bestimmt. Vor allem die Schuldenbremse
wird wirken. Wir sollten alles daran setzen, den Zeit-
punkt, an dem wir ohne Neuverschuldung auskommen,
möglichst früh zu erreichen.
Es ist nicht mehr nachvollziehbar, wie die rot-grüne
Minderheitsregierung in NRW die Neuverschuldung
munter hochgetrieben hat. Die Bürger werden ihr dafür
die Quittung ausstellen. Wer die Schuldenbremse ab-
lehnt und stattdessen Steuererhöhungen plant, wird bei
Wachstum, Beschäftigung und sozialer Gerechtigkeit
keine Erfolge erzielen, weder in Europa noch in
Deutschland. Dass es auch anders und erfolgreich geht,
zeigt die christlich-liberale Koalition.
Wir hoffen sehr, dass Deutschland als Motor und auch
als Vorbild für andere Länder gilt. Denn nur wenn alle
mitmachen, kann die Strategie Europa 2020 insgesamt
erfolgreich sein.
Dieter Jasper (CDU/CSU): Der Europäische Rat hat
im Juni 2010 die Strategie „Europa 2020“ verabschiedet.
Der Kurzfristigkeit politischer Entscheidungen sollen
mittel- und längerfristige Strukturreformen gegenüber-
gestellt werden. Weniger Krisenmanagement und mehr
vorausschauende Planung heißt die Devise.
Diese europäische Strategie wird durch ein jährlich
vorzulegendes Nationales Reformprogramm, NRF, um-
gesetzt. Auch Deutschland muss regelmäßig erläutern,
wie die Verpflichtungen aus der europäischen Ebene in
nationale Politik umgesetzt werden.
Das jetzt vom Bundeskabinett verabschiedete NRF
2012 belegt, dass Deutschland einen erheblichen Beitrag
für mehr Stabilität, Wachstum und Beschäftigung in
Europa leistet. Folgende Zahlen belegen das sehr an-
schaulich: Die Zahl der Beschäftigten ist so hoch wie nie
zuvor. Bereits im Jahr 2010 gingen fast 75 Prozent der
deutschen Bevölkerung einer Beschäftigung nach. Die
Zahl der Langezeitarbeitslosen sank im Bundesdurch-
schnitt im Vergleich zum Jahr 2008 um 15 Prozent.
Investitionen in Forschung und Bildung steigen kontinu-
ierlich. Die Energiewende stellt eine in dieser Form nir-
gendwo auf der Welt zu findende Neuorientierung hin zu
einer umwelt- und klimafreundlichen Energieversorgung
dar. Dies ist gerade für Deutschland als eine der führen-
den Industrienationen eine besondere Herausforderung.
Der Anteil der Deutschen mit Hochschulabschluss
– oder vergleichbarer Ausbildung – liegt über der
EU-Zielvorgabe.
Die vereinbarten Kernziele – erstens Förderung der
Beschäftigung, zweitens Verbesserung der Bedingungen
für Innovation sowie für Forschung und Entwicklung,
drittens Reduktion der Emissionen, Ausbau der erneuer-
baren Energien und Verbesserung der Energieeffizienz,
viertens Verbesserung des Bildungsniveaus, fünftens
Verringerung von Armut und Ausbau sozialer Eingliede-
rungsmöglichkeiten – werden also nicht nur erreicht,
sondern die Zielmarken werden sogar überschritten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20459
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Ein wichtiges Ziel dieses Paktes ist die Sicherung und
die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der europäi-
schen Staaten. Nur so können Wachstum und Beschäfti-
gung generiert werden.
Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Sicherung
der öffentlichen Finanzen. Die deutsche Schuldenregel
bzw. Schuldenbremse verpflichtet die Bundesregierung
zum Sparen und stellt zunächst auf den Abbau der Neu-
verschuldung bis spätestens zum Jahr 2016 ab. Dies ist
die Voraussetzung dafür, dass wir unser eigentliches Ziel
erreichen können, nämlich die bereits bestehende Ver-
schuldung abzubauen.
Diese beeindruckenden Zahlen und die erheblichen
Anstrengungen von Bürgern, Wirtschaft und Politik bei
der Erfüllung der nationalen und europäischen Zielvor-
gaben lassen die Vertreter der SPD dennoch nicht ruhen.
Statt sich über das Erreichte zu freuen und mit an einer
weiteren Stärkung des Standorts Deutschland zu arbei-
ten, wird mit dem Antrag „Nationales Reformprogramm
2012 muss soziale Ziele der Strategie ‚Europa 2020‘ be-
rücksichtigen“ suggeriert, dass angeblich soziale As-
pekte bei diesem Reformprogramm nicht berücksichtigt
werden. Dies ist schon im Grundsatz falsch. Die beste
Sozialpolitik ist die, wenn wir aufhören, auf Kosten un-
serer Kinder zu leben. Der Abbau der immensen Staats-
verschuldung, die wir nicht zuletzt mit der Aufnahme
der Schuldenregel in die Verfassung nachhaltig angehen,
ist meines Erachtens einer der wichtigsten Schritte hin
zu einem sozial gerechten Staat.
Die SPD kritisiert, dass sich die Bundesregierung auf
die Reduzierung der Neuverschuldung konzentriert, und
fordert stattdessen einen weiteren Ausbau der Sozial-
systeme. Abgesehen davon, dass man die Bereiche
„Soziale Sicherung“ und „Öffentliche Finanzen“ nicht
gegeneinander ausspielen kann, ist die Finanzierung die-
ser Sicherungssysteme schon heute nur unter größten
Mühen und nur mit staatlicher (Teil-)Finanzierung mög-
lich. Ein weiterer Ausbau würde nicht nur die Beitrags-
zahler belasten, sondern auch die staatliche Verschul-
dung in neue Höhen treiben, da schon heute die
Sozialkassen nur durch erhebliche Mittel aus dem Steu-
eraufkommen überlebensfähig sind. Die deutsche
Wirtschaftspolitik mit ihrem Fokus auf solide Staats-
finanzen hat sich als äußerst wirkungsvoll erwiesen, wie
die ökonomischen Kennzahlen unseres Landes ein-
drucksvoll belegen.
Auch das Thema Mindestlohn wird angesprochen.
Dieser soll die angebliche „soziale Spaltung“ in
Deutschland beenden und für sozialen Frieden sorgen.
Die Union lehnt einen gesetzlichen flächendeckenden
Mindestlohn für unser Land weiterhin ab. In erster Linie
befürchten wir den Verlust zahlreicher Arbeitsplätze,
wenn Lohnfestsetzung politisch motiviert durchgeführt
und nicht nach ökonomischen Kriterien festgelegt wird.
Wir vertrauen weiterhin auf die seit vielen Jahren be-
währte Tarifautonomie. Die zwischen den Tarifpartnern
verhandelte Lohnfindung ist in den vergangenen Jahren
Grundlage und Voraussetzung für sozialen Frieden und
nachhaltigen Wohlstand gewesen. In tariffreien Berei-
chen ist eine Lohnuntergrenze denkbar, die dann aber
auch von den Tarifpartnern ausgehandelt und gefunden
werden muss.
Unser Land ist in den letzten Jahren gut mit einer der-
artigen Lohnfindung gefahren. Die Arbeitslosigkeit sinkt
beständig und liegt zwischenzeitlich unter 3 Millionen
Menschen. Im Gegenzug steigt der Anteil der erwerbstä-
tigen Bevölkerung und liegt jetzt über 40 Millionen
Menschen. Da von „Zunahme der sozialen Spaltung in
Deutschland“ zu sprechen, ist schon ungeheuerlich.
Im Weiteren werden die bekannten ideologisch moti-
vierten Lösungsansätze und Instrumente der SPD aufge-
führt, die schon in der Vergangenheit in Deutschland
keine oder nur eine schlechte Wirkung gezeigt haben.
Im Sinne der von uns befürworteten sozialen Markt-
wirtschaft werden von uns nur die Rahmenbedingungen
gesetzt. Direkte und dirigistische Eingriffe in den Markt
sollten nur im Ausnahmefall erfolgen und nicht die
Regel sein.
Alles in allem bleibt festzuhalten: Deutschland erfüllt
seine nationalen und europäischen Verpflichtungen. Dies
gilt insbesondere für die Umsetzung der Kernziele der
EU. Die von der SPD aufgestellten Forderungen sind ir-
reführend und überflüssig. Wir sollten weiter auf dem er-
folgreichen Weg der unionsgeführten Bundesregierung
gehen.
Kerstin Griese (SPD): Die Bundesregierung hat
eine Chance vertan. Die Idee der Strategie „Europa
2020“ beinhaltet, dass die Zivilgesellschaft intensiv und
umfassend an der Verwirklichung der Ziele von „Europa
2020“ beteiligt wird. Dazu gehört, dass die Ideen der
Verbände und Sozialpartner bei der Formulierung des
Nationalen Reformprogramms berücksichtigt werden.
Die Bundesregierung aber war unfähig, den Entwurf des
Nationalen Reformprogramms 2012 so frühzeitig zur
Kenntnis zu geben, dass sich diese Partner ausführlich
mit dem Programm hätten beschäftigen können. Statt-
dessen hatten die Verbände der freien Wohlfahrtspflege
und der Kommunen lediglich wenige Tage Zeit, um sich
zu dem 90-seitigen Nationalen Reformprogramm 2012
zu äußern. Diese kurzfristige Beteiligung wurde von den
kommunalen Spitzenverbänden wortwörtlich als „äu-
ßerst ärgerlich“ bezeichnet. Fest steht, dass die Zivil-
gesellschaft nicht angemessen an der Formulierung des
Nationalen Reformprogramms beteiligt wurde. Das ist
angesichts der Bedeutung der Strategie „Europa 2020“
für die Zukunft Deutschlands und Europas ein eklatantes
Versäumnis. Die Beteiligung der Partner wäre deshalb so
wichtig gewesen, weil dadurch eine Rückkopplung zwi-
schen der Ebene der Europäischen Union und der Zivil-
gesellschaft der Menschen in Deutschland geschaffen
worden wäre.
Das Nationale Reformprogramm ist aus dem Grunde
so wichtig, weil es die Ziele der Strategie „Europa 2020“
umsetzen soll. Mit der Strategie „Europa 2020“ hat sich
die Bundesregierung im Jahr 2010 verpflichtet, jedes
Jahr bis April in ihrem Nationalen Reformprogramm
darzulegen, mit welchen Maßnahmen sie die Ziele der
Strategie „Europa 2020“ erreichen will.
20460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
Das strategische Ziel von „Europa 2020“ ist es, „intel-
ligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ in der
Europäischen Union zu generieren. Um dieses überge-
ordnete Ziel zu erreichen, hat sich die Europäische
Union auf fünf Kernziele geeinigt, die sie bis 2020 ver-
wirklichen möchte. Europa soll umweltfreundlicher wer-
den, indem die Treibhausemissionen gesenkt, die erneu-
erbaren Energien gestärkt und die Energieeffizienz in der
Europäischen Union gesteigert werden. Außerdem
haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
verpflichtet, im Jahr 2020 mindestens 3 Prozent ihres
Bruttoinlandsprodukts für Innovation, Forschung und
Entwicklung aufzuwenden.
Die soziale Dimension der Europäischen Union soll
gestärkt werden, indem die Beschäftigungsquote in den
Mitgliedstaaten gestärkt wird, sodass im Jahr 2020 min-
destens 75 Prozent der Bevölkerung im Alter von 20 bis
64 Jahren einen Arbeitsplatz haben. Gleichzeitig sollen
die Schulabbrecherquote auf unter 10 Prozent gesenkt
und der Anteil der 30- bis 34-Jährigen mit abgeschlosse-
ner Hochschulbildung auf mindestens 40 Prozent eines
Jahrgangs angehoben werden, um das Bildungsniveau zu
verbessern. Schließlich hat sich die Bundesregierung
ebenso wie alle anderen Staats- und Regierungschefs der
Europäischen Union dazu verpflichtet, die Zahl der von
Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen
bis zum Jahr 2020 um mindestens 20 Millionen zu sen-
ken.
Die Bundesregierung hat aber das Nationale Reform-
programm 2012 – wie bereits im vergangenen Jahr – al-
lein dazu genutzt, ihre Politik zu rühmen. Deutschland
habe die Ziele der Strategie „Europa 2020“ nahezu
erreicht. Deshalb bedürfe es keiner weiteren Anstren-
gungen; das ist der Grundtenor der Bundesregierung.
Entsprechend dürftig ist der Inhalt des Nationalen
Reformprogramms.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich in ihrem Antrag
besonders auf die sozialpolitischen Ziele konzentriert.
Denn Europa ist mehr als ein Wirtschaftsraum. Das so-
ziale Europa ist uns Sozialdemokratinnen und Sozialde-
mokraten sehr wichtig. Deshalb will ich hier besonders
das Ziel der Armutsreduktion nennen, um zu zeigen,
dass die Bundesregierung weit davon entfernt ist, die
Ziele der Strategie bereits erreicht zu haben. Zur Erinne-
rung: Die Anzahl der durch Armut und soziale Ausgren-
zung gefährdeten Menschen in der Europäischen Union
soll bis zum Jahr 2020 um mindestens 20 Millionen ver-
ringert werden. Die Bundesregierung hat sich dazu ent-
schlossen, einen Beitrag zu diesem Ziel zu leisten, indem
sie sich allein auf die Anzahl der Langzeitarbeitslosen in
Deutschland konzentriert, die sie bis zum Jahr 2020 um
320 000 Menschen verringern will. Heute – im Jahr
2012 – gibt es in Deutschland über 1 Million Menschen,
die mindestens zwölf Monate ohne Unterbrechung
arbeitslos waren und damit als langzeitarbeitslos gelten.
Eine Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit um
320 000 Personen bis zum Jahr 2020 hieße also erstens,
dass im Jahr 2020 immer noch rund 700 000 Menschen
länger als ein Jahr arbeitslos wären. Die Bundesregie-
rung gibt sich also damit zufrieden, die Langzeitarbeits-
losigkeit um lediglich ein Drittel zu verringern. Sie fin-
det sich damit ab, dass 700 000 Menschen auch im Jahr
2020 noch von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen wären.
Schon daran zeigt sich, dass die Bundesregierung weit
davon entfernt ist, die Ziele der Armutsbekämpfung zu
erreichen.
Wir müssen in Deutschland mehr tun, um Armut zu
vermeiden und um Menschen aus Arbeitslosigkeit und
Armut zu befreien. Das zeigt sich nicht nur an der
Anzahl der Langzeitarbeitslosen, sondern auch an den
Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat.
Eurostat hat ermittelt, dass in Deutschland fast 16 Mil-
lionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung
bedroht sind. Das Statistische Bundesamt sprach jüngst
von 13 Millionen Menschen in Deutschland, die weniger
als 60 Prozent des Durchschnitts zum Lebensunterhalt
zur Verfügung haben. Laut Eurostat lebten im Jahr 2010
in unserem Land rund 3,7 Millionen Menschen, die unter
erheblicher materieller Deprivation litten, also ihre
Grundbedürfnisse nicht aus eigener Kraft befriedigen
konnten. Die Bundesregierung hat in dieser Woche ein-
geräumt, dass Millionen Frauen Armut im Alter drohe,
da sie heute nur geringfügig beschäftigt seien. 4,65 Mil-
lionen Frauen arbeiten derzeit in Minijobs, sodass sie
nur geringe Rentenanwartschaften erwerben. Angesichts
dieser Zahlen sind die im Nationalen Reformprogramm
2012 genannten Maßnahmen der Bundesregierung zur
Bekämpfung der Armut in Deutschland völlig unzurei-
chend. Es ist dringend erforderlich, dass die Bundesre-
gierung neben dem Indikator der Langzeitarbeitslosig-
keit auch die anderen Armutsindikatoren der
Europäischen Union berücksichtigt. Nur dann würde die
Bundesregierung dem Ausmaß der Armut und sozialen
Ausgrenzung in Deutschland gerecht. Nur dann wäre der
Beitrag Deutschlands zur Verringerung der Armut in der
Europäischen Union angemessen.
Leider ignoriert die Bundesregierung den Handlungs-
bedarf im Bereich der Armutsbekämpfung seit langem.
Schon das Nationale Reformprogramm des vergangenen
Jahres beschränkte sich auf den Indikator Langzeitar-
beitslosigkeit. Die Bundesregierung hat unsere damalige
Aufforderung, mehr gegen Armut zu tun, ignoriert.
Wenn schon der stärkste Mitgliedstaat der Europäischen
Union der Verringerung der Armut einen solch geringen
Stellenwert beimisst, ist zu fragen, warum andere Mit-
gliedstaaten, in denen die Armut und soziale Ausgren-
zung ein weit höheres Ausmaß haben, mehr tun sollten.
Die Bundesregierung geht hier mit schlechtem Beispiel
voran.
Der Spiegel bezeichnete die Bundesregierung in die-
ser Woche als „Tunix-Regierung“. Das trifft den Nagel
auf den Kopf. Im Kampf gegen Armut sind Bundeskanz-
lerin Merkel und ihr Kabinett ebenso untätig wie in den
anderen Bereichen der Strategie „Europa 2020“. Bei der
Beschäftigungsquote mag das quantitative Ziel, dass
mindestens 75 Prozent der Männer und Frauen zwischen
20 und 64 Jahren einen Arbeitsplatz haben, statistisch
fast erreicht sein. Es reicht aber nicht aus, auf das quanti-
tative Ziel zu schauen. Zu fragen ist auch, wie die
Beschäftigungsverhältnisse qualitativ aussehen. Diese
Frage stellt sich die Bundesregierung jedoch nicht. Ihr
geht es allein darum, statistisch gut auszusehen. Ob die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20461
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Menschen von ihrer Arbeit leben können, interessiert
offenbar weder Frau Merkel noch Frau von der Leyen.
Anderenfalls hätten sie längst einen gesetzlichen Min-
destlohn eingeführt und die Leiharbeit anständig regu-
liert.
Meine Kritik am Nationalen Reformprogramm 2012
der Bundesregierung ließe sich fortsetzen. Trotz meiner
Enttäuschung über die Reformprogramme der vergange-
nen beiden Jahre möchte ich meine Hoffnung äußern,
dass die Bundesregierung die zu erwartende Kritik der
Europäischen Kommission aufnehmen und ihr Nationa-
les Reformprogramm verbessern wird. Unser Ziel ist,
dass Europa auch ein soziales Gesicht hat und dass trotz
der Wirtschafts- und Finanzkrise sozialpolitische Stan-
dards und Ziele stärker berücksichtigt werden. Ich will
sogar deutlich sagen: Gerade wegen der Krise dürfen wir
uns nicht allein aufs Sparen verlassen, sondern müssen
Wachstum unter sozialen Bedingungen gestalten.
Andrej Hunko (DIE LINKE): Spätestens seit den so-
genannten Sozialreformen in Deutschland unter Gerhard
Schröder, der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen, hat
der früher einmal positiv besetzte Begriff Reform für
viele Menschen in Deutschland einen bitteren Bei-
geschmack. Den Antrag der SPD-Fraktion „Nationales
Reformprogramm 2012 muss soziale Ziele der ,Strategie
Europa 2020‘ berücksichtigen“ kann ich nur einen
typisch sozialdemokratischen Antrag nennen, der leider
nicht dazu beiträgt, die vorgeblich verfolgten sozialen
Ziele zu erreichen. Das beginnt bereits bei dem grundle-
genden Bezug zur Strategie „Europa 2020“, die meine
Fraktion im Unterschied zur SPD abgelehnt hat. Denn
diese Strategie setzt die offensichtlich gescheiterte
Lissabon-Strategie nicht nur fort, sondern radikalisiert
ihren neoliberalen Charakter auch noch. Aber mit den
umzusetzenden Mitteln der Marktöffnung, des Sozial-
abbaus und der Deregulierung werden die auf geduldi-
gem Papier geschriebenen wünschenswerten sozialen
Ziele wieder nicht erreicht werden. Zur Umsetzung fo-
kussiert „Europa 2020“ ausschließlich auf Wachstum
durch Wettbewerb und marktbasierte Instrumente.
Der ungebrochene Fokus auf Beschäftigungsförde-
rung durch beispielsweise größere Mobilität und Flexi-
bilisierung der Beschäftigten ist kaum vereinbar mit dem
Ziel der Armutsverringerung. Ihr Antrag spiegelt zwar
die aktuelle Entwicklung in der Krisen-EU wieder, in der
die „Schere zwischen Arm und Reich“ weiter auseinan-
dergeht. Aber Sie vermeiden es, zu sagen, dass es die eu-
ropäischen Austeritätspakete sind, die ganze Bevölke-
rungsteile in die Armut stoßen. Stattdessen reden Sie
von der sozialen Dimension der EU als zentralem Teil
des europäischen Gesellschaftsmodell, die in der Strate-
gie „Europa 2020“ enthalten sei. Dabei wird das euro-
päische Sozialstaatsmodell gegenwärtig durch den Fis-
kalpakt völlig infrage gestellt. Der EZB-Chef Draghi
spricht gar davon, dieses Modell habe ausgedient.
Liebe Kollegen von der SPD, Sie sind offensichtlich
noch heute stolz darauf, dass in Deutschland ein vorher
kaum vorhandener Niedriglohnsektor massiv eingeführt
wurde und die meisten Jobs in Deutschland heute pre-
käre Jobs sind. So heißt es in Ihrem Antrag: „Aufgrund
der von der SPD verantworteten Reformmaßnahmen der
vergangenen Jahre ist Deutschland heute im europäi-
schen Vergleich wirtschaftlich erfolgreich.“ Haben Sie
noch nicht mitbekommen, dass der deutsche Niedrig-
lohnsektor, das deutsche Lohndumping eine der Haupt-
ursachen der Krise innerhalb der Euro-Zone ist, dadurch,
dass in Deutschland als einzigem europäischen Land die
Reallöhne gesunken sind und so die Wettbewerbsfähig-
keit auf Kosten der Beschäftigten und auf Kosten schwä-
cherer Volkswirtschaften in der Euro-Zone erhöht
wurde? Die Einführung des Niedriglohnsektors in
Deutschland durch Agenda 2010 und Hartz IV hat die
Axt an die wirtschaftliche Integration Europas gelegt.
Die Forderungen, die Sie im Forderungsteil aufstel-
len, gehen für sich genommen zweifellos in die richtige
Richtung. Aber Sie bleiben die Antwort auf die Frage
schuldig, wie diese Forderungen unter den Bedingungen
des Fiskalpaktes und auf Grundlage der EU-2020-Strate-
gie verwirklicht werden sollen. Wie bei der Agenda
2010 werden auch die Mittel der Europa-2020-Strategie
gnadenlos angewandt, nur um am Ende zu merken, dass
die Ziele so nicht zu erreichen sind. Daher irren Sie
auch, wenn Sie schreiben, dass die Bundesregierung der
Strategie „Europa 2020“ offenkundig einen niedrigen
Stellenwert beimisst. Vielmehr ist die europäische Wirt-
schaftspolitik der Regierungskoalition eine Weiterfüh-
rung der neoliberalen Strategie der verkürzten Fokussie-
rung auf Wettbewerbsfähigkeit und blindes Wachstum.
Die Paradigmen in der EU müssen völlig anders ge-
stellt werden. Der betriebswirtschaftliche Begriff der
Wettbewerbsfähigkeit, der seit der Lissabon-Strategie
aus dem Jahre 2000 zur Kernideologie europäischer
Wirtschaftspolitik avanciert ist, eignet sich nicht als Ziel
einer Volkswirtschaft. Europa muss vom Kopf auf die
Füße gestellt werden. Die neoliberalen Dogmen müssen
durch soziale und ökologische Kriterien ersetzt werden.
Ich fürchte, dass die schönen Forderungen in Ihrem An-
trag am Ende Papier bleiben, wenn sich die strategischen
Grundlagen der EU nicht ändern. Europa wird sozial
sein, oder es wird nicht sein.
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
Kauder sprach davon, dass Deutschland dank überdurch-
schnittlicher Wirtschaftsentwicklung vorangehen sollte.
An Ihrem eigenen Maßstab gemessen, ist Ihr Nationales
Reformprogramm ein Armutszeugnis. Mit der EU-2020-
Strategie haben wir uns zum Ziel gesetzt: 20 Millionen
Menschen weniger sollen von Armut und Ausgrenzung
bedroht sein. 16 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bür-
ger sind deutsch. 16 Prozent von 20 Millionen sind
3,25 Millionen. Aber Herr Kauder sagt: Wir wollen vo-
rangehen. Setzt sich die Bundesregierung also mehr als
3,25 Millionen als Ziel? Nein! 640 000 ist die kümmer-
liche Zahl, die diese Bundesregierung sich gerade noch
zutraut. Auch bei der Sozialpolitik geht diese Regierung
nicht voran. Sie machen Deutschland zum Schlusslicht
in Europa.
Die Bundesregierung macht das Nationale Reform-
programm an dieser Stelle zum notorischen Rechtferti-
20462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
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(D)(B)
gungsprogramm. Sie rechnen vor, wie sie Langzeitar-
beitslosigkeit reduzieren wollen. Landzeitarbeitslose
sind auch leider oft arm. Die EU-Kommission hat dieses
Ablenkungsmanöver aber schon letztes Jahr kritisiert;
denn Langzeitarbeitslose sind nur ein kleiner Teil der
über 16 Millionen von Armut bedrohten Menschen in
Deutschland. 15 von 16 Millionen kommen dann aber
bei Ihrer Zielsetzung schon nicht mehr vor. Das ist ein
Skandal. Hier gehört dringend nachgebessert.
Dieser Fehler im Grundansatz Ihres Programms hat
leider sogar System. Arbeit verhindert Armut, so lautet
Ihr Rezept. Leider stimmt das immer öfter nicht. Ich
zitiere aus dem Arbeitspapier der EU-Kommission zu
Ihrem sehr ähnlichen Papier von letztem Jahr: „Obwohl
immer mehr Menschen trotz Erwerbstätigkeit von Armut
betroffen sind, wird dieses Thema nicht als Herausforde-
rung eingestuft.“ Armut trotz Arbeit, das Problem igno-
rieren Sie einfach, sagt die mehrheitlich von Konservati-
ven besetzte EU-Kommission. Kein Wunder, denn selbst
unter konservativen Regierungen fällt Deutschland
negativ auf. Sie verweigern sich Mindestlöhnen, die in
Europa die Regel sind. Lassen Sie sich von Europa in-
spirieren. Statt Armut oder Lohnuntergrenzen brauchen
wir Mindestlöhne überall in Europa.
Armut trotz Arbeit, das ist leider auch für viele Leih-
arbeiterinnen und Leiharbeiter harte Realität. Herr
Kauder hat aufgefordert, wir sollten zu rot-grünen Erfol-
gen stehen. Keine Angst, das tun wir. Vor allem sind wir
aber auch bereit, aus Fehlern zu lernen. Mehr Leiharbeit
hat teils zu mehr Beschäftigung geführt, teils aber auch
feste Stellen ersetzt und Löhne gedrückt. Im Interesse
der Beschäftigten und auch im Interesse Europas muss
das beendet werden. Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter
verdienen den gleichen Lohn wie die Stammbelegschaft.
Wir fordern: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am glei-
chen Ort. So geht soziales Europa.
Neben dem Ziel der Armutsbekämpfung verpflichtet
uns die EU-2020-Strategie auf 75 Prozent Beschäfti-
gungsquote. Sie sagen: Wir erreichen fast 77 Prozent. Da
würde ich gerne wissen: Warum so bescheiden? Wer in
Europa vorangehen will, sollte sein Ziel nicht danach
aussuchen, was sich gut darstellen lässt, sondern mindes-
tens danach, was bei ordentlicher Anstrengung möglich
ist. Außerdem hält der Scheinerfolg keiner harten Über-
prüfung stand. Mehr Beschäftigung ist vor allem mehr
atypische Beschäftigung, die eben nicht vor Armut
schützt.
Ihr Programm spart an der falschen Stelle. Sie wollen
nicht investieren, um den harten Kern der Arbeitslosig-
keit anzugehen. Gleichzeitig schlägt die EU-Kommis-
sion bei den EU-Strukturfonds ganz im Rahmen der EU-
2020-Strategie vor: Mindestens die Hälfte der Mittel soll
für sozialpolitische Ziele ausgegeben werden. Ihre fal-
schen Schwerpunkte stärken dabei meine Befürchtung.
Sie wollen Mittel der EU verwenden, um ihre frischen
Einschnitte bei der Arbeitsmarktpolitik ein bisschen zu
ersetzen. Das wäre gegen die richtigen und nachhaltigen
Ziele der EU-Förderung. So geht soziales Europa nicht.
Seien sie europäischer als das!
Nur ein Beispiel, welche ihrer Kürzungen ich beson-
ders falsch finde. Der Gründungszuschuss war eine Hilfe
für Menschen, die sich aufmachen, selbstständig zu sein
statt arbeitslos. Alle Analysen loben dieses Instrument.
Gegen den vereinten Rat aller Expertinnen und Experten
haben Sie den Gründungszuschuss als Anspruch gestri-
chen. Jetzt wird er nur noch halb so oft beantragt, wie er
vorher genehmigt wurde. Das zeigt: Diese Bundesregie-
rung kann erfolgreich gegen Arbeitslosigkeit sein, schon
indem Sie ihre eigene Politik rückgängig macht.
Sträflich vernachlässigt wird im Beitrag dieser Regie-
rung zum europäischen Semester die europäische
Dimension. Mindestlöhne und bessere Sozialpolitik hier
helfen nicht nur Menschen in Deutschland. Mehr Kauf-
kraft auf dem deutschen Binnenmarkt könnte auch die
riesigen Leistungsbilanzungleichgewichte zwischen den
EU-Krisenländern und Deutschland verringern. Eine
Regierung, in der teils bis heute der Austritt Griechen-
lands aus dem Euro gefordert wird, könnte endlich soli-
darisch handeln. So würden Menschen in Deutschland
und Menschen in Griechenland, Spanien und Portugal
gleichermaßen profitieren. So ginge soziales Europa.
Geben Sie Europa endlich wieder eine Chance!
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der SPD für
den Antrag, der diese Kritik aufgreift. Es ist schade, dass
die Bundesregierung für solche Kritik kaum offen ist.
Herr Rösler behauptet: „Das Programm ruht auf breiten
Schultern. Verbände, Sozialpartner und auch die Länder
waren beteiligt.“ In derselben Debatte musste er einräu-
men, die Frist sei „vergleichsweise kurz“ gewesen. Drei
Arbeitstage lang hatte das Ministerium zugestanden. Das
ist ein interessantes Zeichen dafür, wie wichtig der
Regierung die Zusammenarbeit mit Verbänden und
Gewerkschaften ist.
Zum Glück haben Sie nach der Debatte und der zu
erwartenden Kritik der EU-Kommission mehr als drei
Tage Zeit, ein Programm mit ernsthaften Zielen zu for-
mulieren. Nutzen Sie diese Zeit! 16 Millionen allein in
Deutschland von Armut bedrohte Menschen haben eine
bessere Politik dringend verdient.
Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Wirtschaft und Technologie: Die Bun-
desregierung hat am 21. März das Nationale Reformpro-
gramm 2012 verabschiedet. Das Dokument ist deutlicher
Beleg für unsere erfolgreiche Regierungsarbeit. Mit die-
ser Erfolgsbilanz können wir uns in Brüssel wirklich se-
hen lassen. Die Europäische Kommission hatte uns für
das Programm ambitionierte Vorgaben und einen engen
Zeitplan gesetzt. Wir haben die Länder intensiv an der
Erarbeitung beteiligt. Mit den Verbänden und Sozialpart-
nern haben wir Gespräche geführt und ihre Stellungnah-
men berücksichtigt. Im Ergebnis ist festzuhalten:
Deutschland hat seine Verpflichtungen eingehalten und
einen wichtigen Beitrag für Stabilität, Wachstum und
Beschäftigung in Europa geleistet.
Wir haben bei der Umsetzung der Europa-2020-Strate-
gie konkrete, sichtbare Fortschritte gemacht. Das gilt für
alle EU-2020-Ziele und ist ausgesprochen erfreulich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20463
(A) (C)
(D)(B)
Mit ihrem Antrag, das Nationale Reformprogramm
stärker auf soziale Ziele zu fokussieren, hinkt die SPD
wieder einmal der Realität hinterher. In dieser Woche hat
das Statistische Bundesamt Zahlen zum europäischen
Vergleich bei der Armutsgefährdung und der Einkom-
mensungleichheit veröffentlicht. Fakt ist: Deutschland
liegt in Sachen Armutsgefährdung unter dem europäi-
schen Durchschnitt und unter dem Durchschnitt der
Euro-Länder. Bereits jetzt haben wir die von der EU für
2020 angestrebte Beschäftigungsquote von 75 Prozent
praktisch erreicht. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist
im Vergleich zum Jahr 2008 um rund 15 Prozent gesun-
ken. Der Anteil der Menschen mit Hochschul- oder ver-
gleichbarem Bildungsabschluss übersteigt das EU-Ziel
deutlich. Wir investieren massiv in Bildung und For-
schung. Bildung und Beschäftigung zu sichern ist für
uns auch in Zukunft das beste Mittel, um Armut zu be-
kämpfen. Flexibilität und Effizienz des deutschen Ar-
beitsmarktes sind auch weiterhin entscheidend, um mehr
Beschäftigung und Wachstum in Deutschland zu errei-
chen.
Mit dem Gesetz zur Verbesserung der Eingliede-
rungschancen am Arbeitsmarkt sind wir dabei einen we-
sentlichen Schritt weitergekommen. Wir setzen gezielte
Schwerpunkte – weg von der Versorgung mit Maßnah-
men der öffentlich geförderten Beschäftigung, hin zu ei-
ner wirkungsvollen Aktivierungs- und Integrations-
strategie mit mehr Entscheidungskompetenzen der
Vermittler vor Ort. Damit ergänzen wir die Arbeits-
marktreformen, die auch von der SPD Mitte des vergan-
genen Jahrzehnts eingeleitet wurden. Die Koalition hat
diese Reformen weiterentwickelt und zum Erfolg ge-
führt. Aber die SPD vollzieht jetzt leider mit ihrem An-
trag eine völlige Kehrtwende. Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, wollen den flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlohn. Das gefährdet die in Deutsch-
land bewährte Tarifautonomie und kostet Arbeitsplätze.
Sie wollen die Öffnung der Zeitarbeit rückgängig ma-
chen. Und dabei vergessen Sie, dass für viele Arbeitslose
gerade dies der Weg in eine dauerhafte Beschäftigung
ist.
Ihr Antrag ist rückwärtsgewandt. Das, was Sie selbst
mit eingeleitet haben und was sich jetzt am Arbeitsmarkt
auszahlt, stellen Sie infrage. Deshalb lehnen wir den An-
trag ab. Die Bereitschaft der Unternehmen, auch in Zu-
kunft weiter einzustellen, hängt wesentlich davon ab,
dass der Arbeitsmarkt flexibel bleibt. Genau hierfür steht
diese Bundesregierung.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Ausverkauf staatli-
chen Eigentums stoppen – Keine Privatisierung
der TLG-Wohnungen (Zusatztagesordnungs-
punkt 5)
Karl Holmeier (CDU/CSU): Ein bekannter deutscher
Politiker, der nicht der CSU angehört, hat einmal gesagt:
„Opposition ist Mist“. Damit hatte er durchaus recht,
denn Gestalten kann man nur in Regierungsverantwor-
tung. Opposition hat aber auch etwas für sich, wie man
am vorliegenden Antrag der Linken sieht. Denn in der
Opposition zu sein, eröffnet offenbar die bequeme Mög-
lichkeit, ohne Rücksicht auf jede Sach- und Rechtslage
Forderungen zu erheben, die fernab der Realität sind und
nichts mit dem zu tun haben, was man unter verantwor-
tungsvoller Politik versteht.
Ich möchte daher die Gelegenheit nutzen, hier einiges
klarzustellen:
Erstens. Für alle jene, die die TLG IMMOBILIEN
GmbH und die TLG WOHNEN GmbH nicht kennen:
TLG steht für Treuhand Liegenschaftsgesellschaft. Das
Unternehmen ist 1991 aus der Treuhandanstalt hervorge-
gangen. Nachdem diese ihre Tätigkeit Ende 1994 been-
dete, wurde die Verantwortung für die Erfüllung ihrer
verbliebenen Aufgaben 1995 auf einzelne Gesellschaf-
ten des Bundes übertragen. Die noch nicht privatisierten
Liegenschaften der Treuhand wurden fortan von der
TLG verwaltet.
Zweitens. Seit dem Jahr 2000 wurde dann schließlich
die Privatisierung der TLG vorbereitet, da ihr Zweck,
der Treuhandauftrag, weggefallen ist. Diese Privatisie-
rung ist mit dem Wegfall des Treuhandauftrages sogar
nach der Bundeshaushaltsordnung zwingend vorge-
schrieben, da damit kein wichtiges Interesse des Bundes
mehr besteht. Mit ihrer Forderung operiert die Linke in-
sofern nahe an der Rechtswidrigkeit.
Drittens. Ein solches wichtiges Bundesinteresse lässt
sich auch nicht aus der unbestrittenen Verantwortung des
Staates herleiten, für bedarfsgerechten und bezahlbaren
Wohnraum in Deutschland zu sorgen. Ich will auch gern
begründen, warum. Schauen Sie sich doch einfach ein-
mal das Portfolio der TLG an. Die Wohnungen der TLG
befinden sich im Wesentlichen überhaupt nicht an den
Orten, wo Wohnungsengpässe bestehen und wo eventu-
ell der Staat zur Stabilisierung des Mietwohnungsmark-
tes gefragt wäre. Die Wohnungen der TLG befinden sich
vielmehr im Wesentlichen dort, wo es einen ausgewoge-
nen Wohnungsmarkt gibt und wo zum Teil sogar Leer-
stand herrscht.
Die Bundesregierung hat sich hierzu auch bereits in
einer Antwort auf eine Anfrage der Grünen im Novem-
ber 2011 unter Drucksache 17/7594 geäußert und mitge-
teilt, dass „die Steuerungswirkung des TLG-Wohnungs-
bestandes auf die ostdeutschen Mietwohnungsmärkte …
als gering eingeschätzt“ wird. Vielleicht hätten sich die
Kollegen von der Linken diese Antwort zunächst einmal
angeschaut. Vor diesem Hintergrund kann ich nicht er-
kennen, warum der Staat hier in den Wettbewerb mit pri-
vaten Unternehmen treten und ins Immobiliengeschäft
einsteigen sollte.
Darüber hinaus ist mit Blick auf die Forderung, die
TLG-Wohnungen an die Kommunen zu übergeben, zu
beachten, dass der Bund aufgrund des EU-Beihilferechts
daran gehindert ist, die TLG IMMOBILIEN GmbH und
die TLG WOHNEN freihändig zu verkaufen. Der Ver-
kauf muss im Rahmen eines europaweit auszuschreiben-
den Bieterverfahrens erfolgen. Der Bund hat damit kei-
20464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
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(D)(B)
nen Einfluss darauf, wer Kaufgebote abgibt. Auch dies
kann man in der bereits genannten Antwort der Bundes-
regierung vom November nachlesen.
Viertens. Im Übrigen möchte ich betonen, dass die
christlich-liberale Koalition und die von ihr getragene
Bundesregierung die Unterstützung sozial schwacher
Haushalte bei der Wohnraumversorgung durchaus ernst
nimmt. Denn letztlich ist dies die Aufgabe eines Sozial-
staates. Wesentliche Ansatzpunkte hierfür sind die Ge-
währung von Wohngeld zur Stärkung der Mietzahlungs-
fähigkeit und die soziale Wohnraumförderung. Im
Rahmen der sozialen Wohnraumförderung kümmert sich
der Staat um die Bereitstellung preiswerter Mietwohnun-
gen für sozial schwache Haushalte und die Unterstüt-
zung bei der Bildung selbst genutzten Wohneigentums
vor allem für Haushalte mit Kindern. Auch die Schaf-
fung von behindertengerechtem Wohnraum wird von
zahlreichen Ländern und Kommunen gefördert.
In diesem Zusammenhang ist aber darauf hinzuwei-
sen, dass die Zuständigkeit für die soziale Wohnraumför-
derung im Zuge der Föderalismusreform mit Wirkung
vom 1. September 2006 vom Bund auf die Länder über-
tragen wurde. Für die Wahrnehmung dieser Aufgaben
erhalten die Länder zunächst bis einschließlich 2013
vom Bund jährlich 518,2 Millionen Euro. Darüber hi-
naus setzt sich der Bund auch direkt im Zusammenhang
mit der Privatisierung der TLG dafür ein, dass sozial-
schwache Mieter und Menschen mit Behinderung ge-
schützt werden. Im Rahmen einer Sozialcharta zum
Schutz der Mieter soll verhindert werden, dass nach der
Privatisierung aus den Wohnungen der TLG Luxusob-
jekte entstehen und sozial schwache Mieter benachteiligt
werden.
Ich will an dieser Stelle keine plumpe Linken-Schelte
betreiben, aber mir zwängt sich vor dem erläuterten Hin-
tergrund der Verdacht auf, dass sich die Linke von der
Vorstellung volkseigener Betriebe immer noch nicht
ganz verabschiedet hat. Aus den Fehlern der Vergangen-
heit scheint sie jedenfalls auch fast 22 Jahre nach der
Deutschen Einheit in diesem Zusammenhang nichts ge-
lernt zu haben. Aber wenn man in der Opposition ist, ist
eben doch nicht alles Mist. Denn man kann fordern, was
man möchte, sogar die Wiedereinführung volkseigener
Betriebe.
Hans-Joachim Hacker (SPD): Auch 22 Jahre nach
der Gründung der Treuhandanstalt in der DDR hält der
Bund immer noch Vermögenswerte aus diesem Bestand.
Dazu zählen auch die von der TLG IMMOBILIEN ge-
kauften nicht betriebsnotwendigen Immobilien der Treu-
handanstalt. Die TLG IMMOBILIEN hat eine erfolgrei-
che Sanierungspolitik betrieben und hält in den neuen
Ländern Eigentum im Verkehrswert von circa 1,7 Mil-
liarden Euro. Dieses verteilt sich auf die Segmente Bü-
ros, Einzelhandel, Gewerbe und Wohnen. In der Gesamt-
summe der Verkehrswerte stecken 544 Millionen Euro
bei Wohnimmobilien. Die Bundesregierung hat die
ursprüngliche TLG IMMOBILIEN zu Beginn dieses
Jahres in zwei Gesellschaften zerlegt, die TLG IMMO-
BILIEN GmbH einschließlich ihrer Tochterunternehmen
und die TLG WOHNEN GmbH, die über rund
11 500 Wohnungseinheiten verfügt. Die Bundesregie-
rung hat beschlossen, beide Gesellschaften zu veräußern,
und zwar im Rahmen eines marktüblichen Bieterverfah-
rens, das im Amtsblatt der EU bekannt gegeben ist. Der
Bundesfinanzminister plant nach dem gescheiterten ers-
ten Privatisierungsversuch im Herbst 2008 aufgrund der
damaligen Finanzkrise den Abschluss der Privatisierung
der beiden Gesellschaften bis Ende 2012. Eine milliar-
denschwere Euro-Einnahme soll dem Bundeshaushalt
Kraft verleihen.
Dies ist der Hintergrund für den Antrag der Fraktion
Die Linke, über den wir beraten. Den Feststellungen,
dass Wohnen ein elementares Grundbedürfnis der Men-
schen ist, kann sich die SPD-Bundestagsfraktion an-
schließen, und die soziale Komponente von öffentlichem
Wohneigentum ist unbestritten. Sie ist für uns ein hohes
Gut. In Zeiten, in denen zu wenige Wohnungen gebaut
werden und die Preise auf dem Mietmarkt steigen, ist ein
reiner auf Erlös ausgerichteter Verkauf von bundeseige-
nen Wohnungsbeständen im Bieterverfahren auf dem
freien Markt das absolut falsche Signal. Wir müssen hier
auf allen Ebenen gegensteuern. Dieser Verantwortung
kann sich auch der Bund nicht entziehen. Bei künftigen
Überlegungen zur Veräußerung von Bundeswohneigen-
tum müssen vorrangig Überlegungen angestellt werden,
den Einfluss der öffentlichen Hand zu sichern oder ge-
nossenschaftliche Erwerbsmodelle zu entwickeln. Nicht
die Euro-Zeichen in den Augen des Finanzministers sind
der Maßstab, sondern die Aufrechterhaltung eines regu-
lierenden Einflusses auf dem angespannten Wohnungs-
markt in Deutschland – soweit dies möglich ist. Für die
Aufrechterhaltung des Einflusses der öffentlichen Hand
stehen die Kommunen. Der Weg muss also in Richtung
der Länder beschritten werden, es gibt hierfür Beispiele.
Ich erinnere an die Verhandlungen zwischen Bund und
den Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Branden-
burg über den Verkauf bundeseigener Seengewässer. Die
SPD-Bundestagsfraktion hatte in ihrem damaligen An-
trag genau diesen Weg beschrieben. Leider ging die Ein-
sicht der Koalitionsfraktionen nicht so weit. Nun haben
aber Verhandlungen stattgefunden und sind erste Ergeb-
nisse erreicht worden.
Die SPD-Bundestagsfraktion ist allerdings nicht der
Meinung, wie es sich aus dem Antrag der Fraktion Die
Linke ergibt, dass die TLG IMMOBILIEN GmbH, die in
den Segmenten Büros, Einzelhandel, Gewerbe und
Dienstleistungen Immobilien hält, dauerhaft im Eigen-
tum behalten soll. Die Übernahme des ursprünglichen
Gesamtbestandes resultierte aus der notwendigen Tren-
nung von nicht betriebsnotwendigen Immobilien von den
Unternehmen der Treuhandanstalt. Die TLG IMMOBI-
LIEN war für diesen Bereich von vornherein eine zeitlich
befristete Einrichtung. In dem Moment, wo sich Möglich-
keiten einer günstigen Veräußerung für den Bund erge-
ben, sind diese ernsthaft zu prüfen. Es gibt hier im
Gegensatz zum Wohnungsbestand auch nicht die Not-
wendigkeit von Kooperationsmodellen mit den Ländern
bzw. Kommunen, da nach allgemeiner Kenntnis beide
staatlichen Ebenen kein Interesse am Eigentumserwerb
derartiger Objekte haben. Auf diese gravierenden Unter-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20465
(A) (C)
(D)(B)
schiede zwischen den beiden Immobiliengruppen und
somit den beiden Gesellschaften des Bundes will ich
deutlich hinweisen. Sollte der Bund wie geplant das
Bieterverfahren für die TLG IMMOBILIEN – ich meine
ausdrücklich nicht die TLG WOHNEN – bis zum 31. De-
zember 2005 weiterverfolgen, erwartet die SPD-Bundes-
tagsfraktion, dass hierbei die Interessen der Beschäftigten
und übergreifende gesellschaftliche Interessen Berück-
sichtigung finden. Ich meine hier insbesondere, dass es
keine betriebsbedingten Kündigungen geben darf, dass
die Objekte wie bislang im Fortbestand gesichert werden
und in die Stadtentwicklung einbezogen bleiben.
Für den Verkauf der TLG WOHNEN sieht die SPD-
Bundestagsfraktion, wie oben dargestellt, keine Grund-
lage. Im Gegenteil: Wir fordern die Bundesregierung
auf, diesen nicht durchzuführen.
Wegen der undifferenzierten Antragstellung der Frak-
tion Die Linke, die nicht zwischen den Immobilienbe-
ständen der TLG IMMOBILIEN GmbH, Gewerbe, und
der TLG WOHNEN GmbH, Wohnbestände, unterschei-
det, wird sich die SPD-Bundestagsfraktion bei diesem
Antrag der Stimme enthalten.
Sebastian Körber (FDP): Die SED-Erben der
Linksfraktion und das Eigentum – das ist immer wieder
ein Kapitel für sich; jetzt bereichern Sie uns mit einer
weiteren Kostprobe. Sie wollen – wenig überraschend –
keine Privatisierungen der TLG-Wohnungen, weil es Ih-
nen natürlich um Ideologie geht. Für mich und meine
Fraktion ist Privatisierung aber keine Frage der Ideolo-
gie; denn es stellt sich die spannende Frage, was zu den
Aufgaben des Staates gehört und was nicht. In der Be-
antwortung dieser Frage unterscheiden wir uns als Libe-
rale fundamental: Die Linke meint, der Staat könne alles
besser, die Gesellschaft wisse am besten, was für den
Einzelnen gut ist. Sie haben aus der Geschichte wahrlich
nichts gelernt oder sie bewusst verdrängt.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat sich in ihrer
Koalitionsvereinbarung zu Recht zu einer grundsätzli-
chen Überprüfung staatlichen Beteiligungsbesitzes ver-
pflichtet. Konkrete Maßstäbe für diese Überprüfungen
sind dabei die Wirtschaftlichkeit der Aufgabenerfüllung
sowie ein eindeutiges Nein auf die Frage, ob für eine Be-
teiligung an Unternehmen ein „wichtiges Bundesinte-
resse“ besteht. Nicht betriebsnotwendiges Vermögen
wirtschaftlich zu veräußern – das ist also sowohl das
Recht als auch die Pflicht des Bundes. Das gilt auch im
Fall der TLG IMMOBILIEN GmbH; wir als FDP begrü-
ßen den Verkauf.
Der Bund wollte bei seinem ersten Anlauf zur Privati-
sierung 2008 die TLG IMMOBILIEN GmbH noch als
Ganzes verkaufen. Dies hatte seinerzeit zur Folge, dass
vor allem Finanzinvestoren am Erwerb der TLG interes-
siert waren. Für strategische Investoren war die TLG zu
breit aufgestellt. Der Finanzminister hat daher richtig
entschieden, sämtliche Wohnimmobilien in eine separate
Gesellschaft – die TLG WOHNEN – zu übertragen, um
auf diese Weise einen getrennten Verkauf der Wohnim-
mobilien und der Gewerbeimmobilien zu ermöglichen.
Hierdurch können die Chancen des Erwerbs durch lang-
fristig orientierte Investoren sowie die Chancen auf ei-
nen dauerhaften Fortbestand der Unternehmen erhöht
werden. Der Verkauf der TLG IMMOBILIEN GmbH
und der TLG WOHNEN erfolgt aktuell im Einklang mit
dem EU-Beihilferecht im Rahmen eines europaweit aus-
zuschreibenden Bieterverfahrens.
Es ist schon sehr durchsichtig, in welcher Art und
Weise von der Linksfraktion hier mit Ängsten und Ver-
unsicherung gearbeitet wird, um daraus politisches Ka-
pital zu schlagen. Es wird ja suggeriert, dass Mieter aller
ihrer Rechte beraubt werden, wenn der Staat sich von
überflüssigen Beteiligungen bei Immobiliengesellschaf-
ten trennt. Sie müssen sich doch darüber im Klaren sein,
dass die Mieter schon aufgrund des geltenden Mieter-
rechts bei einem Kauf geschützt sind. Die Linke behaup-
ten in ihrem Antrag, Wohnungsprivatisierungen führten
zur Verschlechterung des Mieterschutzes. Richtig ist
hingegen, dass wir ein sehr starkes Mietrecht zum
Schutz der Mieter in Deutschland haben, eines der
stärksten der Welt; das verschweigen Sie bei Ihren An-
trägen natürlich immer geflissentlich.
Das deutsche Mietrecht lässt Mieterhöhungen nur in
engen Grenzen zu und bietet hierzu hinreichend Schutz.
Das Mieterhöhungsverlangen des Vermieters darf nicht
über die ortsübliche Vergleichsmiete hinausgehen. Wei-
tergehende Mieterhöhungen sind nur möglich, wenn
durch Modernisierungsmaßnahmen der Gebrauchswert
der Wohnung erhöht wird. Zusätzlich kommen in beiden
Fällen Kappungsgrenzen zur Anwendung. Die Wohnim-
mobilien der TLG befinden sich zu über 90 Prozent in
einem qualitativ hochwertigen Zustand, sodass „Luxus-
sanierungen“ unwahrscheinlich sind.
Der Bund als Verkäufer ist sich darüber hinaus der
sozialen Verantwortung gegenüber den Mietern der
Wohnimmobilien der TLG bewusst und wird dieser Ver-
antwortung gerecht werden, soweit dies zum Schutz der
Mieter erforderlich und angemessen ist. Er beabsichtigt
daher, mit den Bietern für die TLG WOHNEN Ver-
handlungen über den Abschluss einer Sozialcharta zum
Schutz der Mieter zu führen. Wie der Verkauf von deut-
schen Wohnimmobiliengesellschaften in den vergan-
genen Jahren gezeigt hat, ist der Abschluss einer
Sozialcharta zum Schutz der Mieter inzwischen bran-
chenüblich.
Die Linke tischt uns heute wieder allerhand tristen
programmatischen Plattenbau auf. Wie das in der Reali-
tät ausgesehen hat, wissen wir alle: düstere Trabanten-
und verfallene Innenstädte in der DDR und anderen so-
zialistischen Staaten, die das Wohnen nicht gerade le-
benswert machten.
Der TLG-Verkauf ist für mich hingegen ein gutes
Beispiel dafür, dass der Staat nicht alles machen kann,
sondern dass man es demjenigen überlassen sollte, der es
am besten kann. Wir stehen als FDP für den schlanken
Staat und eine moderne zukunftsfähige Wohnungspolitik
jenseits von Ideologie und linker Symbolpolitik und zum
Wohle der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.
Diesen Kurs wollen wir zum Wohle unseres Landes kon-
sequent fortsetzen.
20466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
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Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Dass die Linke kon-
sequent und stetig gegen den Privatisierungsrausch der
Bundesregierung ankämpft, ist Ihnen nicht neu. Das hat
mit unserem Verständnis von Sozialstaat und politischer
Verantwortung für soziale Gerechtigkeit zu tun.
Dass wir aber nun einen Antrag einbringen, der vor
allem den Schutz der TLG WOHNEN GmbH vor der
Privatisierung zum Inhalt hat, werden manche hier im
Haus zumindest merkwürdig finden: Ausgerechnet die
Linke setzt sich scheinbar für eine Nachfolgegesellschaft
der Treuhandanstalt, der vormaligen Treuhand Liegen-
schaftsgesellschaft und jetzigen TLG IMMOBILIEN
GmbH, ein.
Bemerkenswert ist daran aber vor allem, dass wir au-
genscheinlich die einzige Partei sind, die diesen beab-
sichtigten Verkauf der TLG GmbH grundsätzlich hinter-
fragt. Es geht hier immerhin um eine Bilanzsumme von
fast 1,9 Milliarden Euro, wovon allein rund 1,7 Milliar-
den Immobilienvermögen sind. Verkauft werden sollen
aber nicht schlechthin 11 500 Wohnungen und diverse
Gewerbeimmobilien, sondern die TLG IMMOBILIEN
GmbH insgesamt, die extra wegen der vermeintlich bes-
seren Verkaufsaussichten zum Jahresbeginn 2012 in
zwei Gesellschaften aufgespalten worden ist. Angeboten
werden auch keine Tranchen von Wohnungsbeständen in
den betroffenen Städten Berlin, Dresden, Rostock, Mer-
seburg, Stralsund und Halle, sodass sich die Kommunen,
kommunale oder regionale Wohnungsgesellschaften an
dem – sehr eiligen – „strukturierten Bieterverfahren“ be-
teiligen könnten.
Ich frage mich, wie zwei Parteien, die angeblich den
Mittelstand so sehr ins Herz geschlossen haben und stän-
dig von liberaler Chancengleichheit schwafeln, so etwas
betreiben können.
Das Verfahren läuft vom 8. März bis zum 16. April
dieses Jahres. Der Verkauf insgesamt soll in diesem Jahr
über die Bühne gehen.
Das Bundesministerium der Finanzen sieht ausdrück-
lich nur den Verkauf sämtlicher Gesellschaftsanteile an
einen oder höchstens zwei Erwerber vor. Zu Beginn
zwei Fragen: Erstens. Wer kann das wohl sein? Zwei-
tens. Wird mit diesem Verkaufsmodell möglicherweise
die Grunderwerbsteuer umschifft?
Wohlgemerkt: Das sind keine Schrottimmobilien, die
man lieber heute als morgen loswerden müsste, sondern
das sind gut vermietete und verwaltete Wohnungen und
Gewerbeobjekte, die Jahr für Jahr satte Gewinne abwer-
fen. Es ist, als würde man das Huhn, das goldene Eier
legt, für einen schnellen Happen zwischendurch schlach-
ten. Mit nachhaltiger Haushaltskonsolidierung hat das
nicht das Geringste zu tun. Das ist lediglich der untaugli-
che Versuch, neu klaffende Haushaltslöcher kurzfristig
zu kaschieren. Nicht einmal von „solide stopfen“ könnte
hier die Rede sein.
Aber dieser wirtschaftliche Unfug ist nur die eine
Seite der Medaille. Viel gravierender sind aus meiner
Sicht drei charakteristische Denk- und Verhaltensmuster
dieser Koalition, die hier wieder einmal deutlich sichtbar
werden:
Erstens. Mit dem Verkauf öffentlicher Wohnungsbe-
stände bedient man nicht nur die privaten Profitinteres-
sen von großen Anlegern und internationalen Finanzin-
vestoren, für die der deutsche Immobilienmarkt höchst
lukrativ ist, sondern man entledigt sich zugleich eines
weiteren Stücks politischer Verantwortung für das so-
ziale Funktionieren der Gesellschaft. Um den erhofften
Verkaufsgewinn nicht zu schmälern, werden die Eig-
nungskriterien für die Interessenten möglichst tief ge-
hängt. Eine „kurze Begründung der mit dem Erwerb ver-
folgten Ziele“ und „Angaben bzw. Nachweise zur
finanziellen Leistungsfähigkeit“ sollen nach dem Be-
kanntmachungstext des BMF für eine Zuschlagsertei-
lung ausreichen.
Noch einmal: Hier werden keine leblosen Wohn- und
Gewerbeimmobilien verscherbelt, sondern Gesellschaf-
ten mit dem jahrzehntelangen Wissens- und Erfahrungs-
schatz ihrer Mitarbeiter und – was uns am meisten em-
pört – mit allen Mieterinnen und Mietern, die seit vielen
Jahren in ihren Wohnungen, in ihren Nachbarschaften, in
guten, gewachsenen Wohnlagen leben und dort auch
weiter unbehelligt und sicher bleiben wollen. Aber nicht
einmal eine Nachbesserung der Mietverträge zum
Schutz der Mieter ist bisher vorgesehen. Das ist eiskaltes
Kalkül ohne jede soziale Regung oder Rücksichtnahme
auf die betroffenen Menschen. Das geht so nicht!
Zweitens. Man geht weiter den Irrweg, mit kurzfristi-
gen Einmalerlösen strukturelle Defizite kompensieren zu
wollen, ohne zu bedenken, dass daraus dauerhafte Mehr-
ausgaben an anderer Stelle entstehen.
Drittens. Man vertut vor allem die Chance, mit dem
Potenzial, das in solchen Vermögenswerten steckt, nach
neuen, dauerhaft tragenden Modellen zu suchen.
Wenn schon die Bundesregierung kein „wichtiges
Bundesinteresse“ mehr am Halten der Wohnungsbe-
stände sieht, sollte sie doch zumindest bedenken, dass
sehr wohl ein starkes öffentliches Interesse am Erhalt
dieser Wohnungen im öffentlichen Eigentum besteht.
Schon die verheerenden Erfahrungen, die so manche
Kommune mit dem Verkauf ihrer Wohnungsgesellschaf-
ten an Finanzinvestoren gemacht hat, sollten dieses Inte-
resse eindrucksvoll illustrieren.
Unbestreitbar – und inzwischen auch für den letzten
Ignoranten unübersehbar – ist, dass wir in Deutschland
– speziell in den Großstädten – wieder ein massives
Wohnungsproblem haben. Eine Facette dieses Problems
ist das Fehlen von bezahlbarem, mietpreisgebundenem
Wohnraum in vielen Städten und Regionen der Bundes-
republik. Natürlich wissen wir, dass mit 11 500 Wohnun-
gen nicht alle Probleme gelöst werden können; aber man
kann damit in den Städten, wo sie konzentriert sind, ei-
nen Anfang machen. Wenn man politischen Gestaltungs-
willen besäße und bereit wäre, Neues zu probieren,
könnte man damit Modelle entwickeln, die auch auf an-
dere Städte und Regionen übertragbar wären und zur
dauerhaften Lösung der Wohnungsprobleme beitragen
könnten.
Dazu muss aber – und das ist unsere Kernforderung –
das laufende Bieterverfahren sofort ausgesetzt, der beab-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20467
(A) (C)
(D)(B)
sichtigte Verkauf zumindest der Wohnungen sofort un-
terbunden werden. Dann: Kleinere Pakete schnüren und
mehr Zeit und Gründlichkeit vorsehen, damit sich kom-
munale und regionale Wohnungsgesellschaften oder Ge-
nossenschaften und die Mieterinnen und Mieter beteili-
gen können.
Wir stellen uns folgende Schritte vor:
Erstens. Zunächst sollte geprüft werden, ob in den be-
treffenden Kommunen wirtschaftlich ausreichend starke
Wohnungsgesellschaften existieren, die die TLG-Woh-
nungen in ihren Bestand übernehmen können. Der Kauf-
preis sollte dabei – auch wenn es entgegenstehende ge-
setzliche Regelungen gibt – eher symbolisch sein.
Schließlich hat die TLG ja nichts für diese Immobilien
bezahlt. Sie sind ihr – freundlich ausgedrückt – in den
Schoß gefallen.
Zweitens. Wenn Kommunen oder kommunale Gesell-
schaften die Wohnungsbestände nicht erwerben können
oder wollen, sollten Modelle entwickelt werden, bei de-
nen die bundeseigenen Wohnungen in Genossenschaften
oder Stiftungen übertragen werden. Auch ein Verkauf
von Wohnungen an deren Bewohner sollte geprüft wer-
den.
Drittens. Wo all dies nicht oder noch nicht möglich
ist, könnte die TLG IMMOBILIEN GmbH unter klaren
Sozialvorgaben die Verwaltung weiter betreiben oder
eine Aufgabenübertragung zum Beispiel an die BImA
erfolgen, bis ein passfähiges Gesellschaftsmodell für die
jeweiligen kommunalen Verhältnisse gefunden ist.
Grundsätzlich geht es darum, solidere Grundlagen für
kommunale Wohnungspolitik zu schaffen oder sie zu er-
weitern und einen Grundstock an Wohnungseigentum in
öffentlicher Hand zu sichern. Damit kann ermöglicht
werden, sozialen Bedürfnissen zu entsprechen und dabei
den gesellschaftlich notwendigen Umbau der Woh-
nungsbestände zu Barrierefreiheit und Klimaschutz vo-
ranzubringen.
Der geplante Verkauf – speziell der TLG WOHNEN
GmbH – leistet dazu nichts, und er ist überhaupt kein
Beitrag zur Haushaltskonsolidierung oder zum Schul-
denabbau. Er verbaut aber Chancen auf neue Denk- und
Lösungsansätze, die in der Wohnungswirtschaft drin-
gend gebraucht und von dort auch eingefordert werden.
Also, Herr Finanzminister, geben Sie diesen untaugli-
chen Plan auf, und leisten Sie einmal einen bescheidenen
Beitrag, um den dringend notwendigen sozialökologi-
schen Umbau der Gesellschaft einen kleinen Schritt vo-
ranzubringen!
Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zunächst möchte ich der antragstellenden Fraktion für
den Antrag zur Privatisierung der TLG recht herzlich
danken; denn es bringt ein wichtiges Thema auf die poli-
tische Agenda: den Verkauf öffentlichen Immobilien-
eigentums. Der Antrag enthält wichtige Passagen wie
die Feststellung, dass Wohnen als elementares Grund-
bedürfnis Teil der Würde aller Menschen ist und daher
staatlichen Schutzes bedarf. Dies deckt sich mit Art. 25
Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte:
„Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine
und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet,
einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung …“, sowie
mit Art. 13 des Grundgesetzes, in dem die Unverletzlich-
keit der Wohnung geregelt ist.
Klar ist auch, dass der Bund angehalten ist, ausrei-
chende materielle Voraussetzungen zur Wohnraumver-
sorgung zur Verfügung zu stellen. Dieser Anforderung
kommt der Bund über die Städtebauförderung und so-
ziale Wohnraumförderung nach, wobei festgestellt wer-
den muss, dass die Städtebauförderung dringend auf
610 Millionen Euro zu erhöhen ist.
Mit der Föderalismusreform I wurde den Bundeslän-
dern vom Bund die ausschließliche Gesetzgebungsbe-
fugnis für das Recht der Wohnraumförderung und der
Wohnungsbindung übertragen. Hierfür erhalten sie zur
Kompensation bis 2013 jährlich 518,2 Millionen Euro,
bis 2019 gibt es noch eine Übergangsfrist. Diese Mittel
fließen unter anderem in den Rückkauf von Belegungs-
bindungen, was an sich nicht falsch ist. Allerdings wird
dadurch nicht der Kern des Problems gelöst. Denn es
werden in Deutschland zu wenige Mietwohnungen in
den Segmenten niedriger und moderater Preise gebaut.
Der geringe Wohnungsneubau in Deutschland konzen-
triert sich auf den Bau von Wohneigentum und Miet-
wohnungen im Luxussegment.
Nach den Erhebungen der Fachkommission Woh-
nungsbau/SUBVE Bremen gab es in Deutschland Ende
2008 circa 1,85 Millionen Wohnungen mit einer sozialen
Belegungsbindung. Das sind nur knapp 5 Prozent der
knapp 40 Millionen Wohnungen in Deutschland. Im Ver-
gleich: 2006 waren es noch etwas mehr 2 Millionen
Wohnungen mit Belegungsbindung. Es fallen also jähr-
lich rund 100 000 Wohnungen aus der Bindung. Hinzu
kommt, dass der Bestand zwischen den einzelnen Bun-
desländern ungleich verteilt ist.
Die Mietpreisbindung zur Sicherung von Wohnraum
für einkommensschwache Haushalte ist ein wichtiges
Instrument in der Wohnungspolitik. Besonders für die
Kommunen bieten der Rückkauf und Erhalt von Bele-
gungsbindungen gerade in beliebten zentrumsnahen
Stadtquartieren eine Möglichkeit der Einflussnahme auf
den Wohnungsmarkt. Angesichts der kommunalen Fi-
nanzlage müssen sie hierfür finanzielle Unterstützung
aus Wohnraumförderprogrammen erhalten. Leider lässt
sich der Erwerb von Belegrechten im Bestand in der Pra-
xis nur selten bei einzelnen Vermietern realisieren. Da-
rüber hinaus entziehen sich zunehmend die großen Woh-
nungsunternehmen diesem Handlungsansatz. Es bleibt
festzuhalten, dass eine Mietpreisbindung ein sinnvolles
Instrument der Wohnungspolitik ist. Wir haben hierzu in
unserem Antrag „Wohnraum in Deutschland zukunfts-
fähig machen“, im Gegensatz zum vorliegenden Antrag,
konkrete Vorschläge hinsichtlich Mietobergrenzen ge-
macht.
Bevor ich zur Privatisierung der TLG komme, möchte
ich Grundsätzliches zur Privatisierung öffentlichen Woh-
nungsbestandes in Deutschland ausführen. Es befinden
sich noch knapp 10 Prozent des Wohnungsbestands in
20468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
der Hand von öffentlichen Wohnungsunternehmen, diese
sind hauptsächlich im Besitz von Ländern und Kommu-
nen. Nach zahlreichen Privatisierungen ist die öffent-
liche Wohnungswirtschaft bereits deutlich geschrumpft,
obwohl sie bei der Vermeidung von Verdrängungspro-
zessen eine wesentliche Rolle spielen kann und soll. So
kann sie bezahlbaren Wohnraum für einkommensschwa-
che Mieter bereitstellen. In den Bereichen energetische
Modernisierung und Barrierefreiheit kann sie eine ent-
scheidende Vorbildfunktion erfüllen. Die öffentliche
Wohnungswirtschaft muss daher auf allen Ebenen, Län-
der und Kommunen, wieder unter anderem durch
gezielte Ankäufe oder Wohnungsneubau in verschiede-
nen städtischen Lagen – gerade auch in den beliebten
innerstädtischen – gestärkt werden. Einen weiteren
Verkauf öffentlicher Wohnungen an spekulative Finanz-
investoren darf es nicht mehr geben. Müssen öffentliche
Wohnungen aufgrund finanzieller Zwänge dennoch ver-
kauft werden, sind nachhaltig wirtschaftende Wohnungs-
gesellschaften, Genossenschaften oder – bei geeigneten
Objekten – auch Mieterprivatisierungen zu bevorzugen.
Dennoch: Eine Privatisierung öffentlichen Wohn-
eigentums auf den Ebenen der Bundesländer und Kom-
munen ist nicht per se abzulehnen und ist im Einzelfall
zu prüfen. Es kann aber auch durchaus richtig sein,
öffentliches Wohneigentum nicht zu veräußern wie im
Fall der Nassauischen Heimstätte in Hessen; hier hat
sich die grüne Landtagsfraktion deutlich gegen einen
Verkauf ausgesprochen.
Nun zur Kernforderung des Antrags „Privatisierung
der TLG stoppen“. Einen grundsätzlichen Verkaufs-
stopp, wie im vorliegenden Antrag formuliert, lehnen
wir Grüne ab. Wir würden den Verkauf an eine sozial
und ökologisch nachhaltig wirtschaftende Wohnungs-
gesellschaft oder Genossenschaft mit langfristiger
Unternehmensplanung sehr begrüßen. Da die TLG
WOHNEN en bloc verkauft werden soll, kommt leider
eine Mieterprivatisierung nicht in Betracht.
Die TLG in eine bundeseigene Wohnungsgesellschaft
umzuwandeln, macht angesichts der Größe – 1 151 Ob-
jekte, 15 864 Mieteinheiten gesamt, 11 917 Mieteinhei-
ten/Wohnen, verteilt über 212 Kommunen – und lokalen
Konzentration des Unternehmens auf die neuen Bundes-
länder keinen Sinn. Denn aufgrund dieser vorliegenden
Rahmendaten ist die TLG als wohnungspolitisches Steue-
rungsinstrument des Bundes schlicht nicht geeignet.
Selbst wenn man die Wohneinheiten der TLG mit den
40 000 Wohnungen der BImA fusionieren würde, wäre
dieses Unternehmen kleiner und hätte eine breitere
Streuung ihres Portfolios als die landeseigene Nassaui-
sche Heimstätte mit 60 000 Wohnungen in Hessen. Ein
wirksames bundesweites Steuerungsinstrument wäre
dies weder für die Wohnungsmärkte der neuen Bundes-
länder im Besonderen noch für den deutschen Woh-
nungsmarkt an sich.
Die Einführung von dauerhaft verbindlichen sozialen
Kriterien in Form einer Sozialcharta, die verbindlich im
Kaufvertrag festgehalten oder direkt in die bestehenden
Wohnungsmietverträge integriert wird, begrüßen wir
ausdrücklich. Eine für den Käufer verpflichtende barrie-
refreie und energetische Sanierung sehen wir, wenn
nicht das Kopplungsprinzip beachtet und eine Warmmie-
tenneutralität wenigstens angestrebt wird, sehr kritisch,
besonders wenn die demografische Entwicklung und die
damit verbundenen sinkenden Einwohnerzahlen berück-
sichtigt worden. Auch hier bleibt der Antrag sehr unkon-
kret bis inhaltsleer. Die Investitionsentscheidung in ei-
nem solchen Marktumfeld sollte dem Käufer überlassen
werden. Wenn eine Entscheidung hinsichtlich einer In-
vestition positiv ausgefallen ist, greifen je nach Umfang
der Maßnahmen sowieso die Anforderungen, die in der
EnEV formuliert sind.
Der Antrag enthält viele wichtige Facetten der real
existierenden Probleme auf den Wohnungsmärkten, aber
man sollte der Versuchung widerstehen, der Wohnungs-
wirtschaft die Rolle einer eierlegenden Wollmilchsau
zuweisen zu wollen; das wird sie nicht leisten.
Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Die von der Bundesregierung
beabsichtigte Privatisierung der TLG IMMOBILIEN
GmbH und der TLG WOHNEN GmbH hat rechtliche,
haushaltspolitische und wettbewerbspolitische Gründe.
Bereits im Jahr 2000 wurde die TLG IMMOBILIEN in
ein normales Wirtschaftsunternehmen umgewandelt, mit
dem Ziel, sie mittelfristig zu privatisieren. Das Unter-
nehmen hat seitdem ein attraktives Immobilienportfolio
aufgebaut.
Der TLG WOHNEN GmbH wurden mit wirtschaftli-
cher Wirkung zum 1. Januar 2012 sämtliche Wohnimmo-
bilien der TLG IMMOBILIEN GmbH übertragen. Die
TLG WOHNEN GmbH verfolgt keinen öffentlichen
Zweck. Die Gründung und die Übertragung der Wohnbe-
stände dienten ausschließlich dem Zweck, die Privatisie-
rung zu erleichtern. Es ist nicht Aufgabe des Bundes, über
eigene Unternehmen Bürgern Wohnraum zur Verfügung
zu stellen.
Es gibt keine Legitimation – insbesondere keinen
öffentlichen Auftrag – für eine Beteiligung des Bundes
an „normalen“ Immobiliengesellschaften wie der TLG
IMMOBILIEN GmbH und der TLG WOHNEN GmbH,
die im Wettbewerb mit anderen Immobilienunternehmen
stehen.
Der Bund hat der TLG IMMOBILIEN GmbH seit ih-
rer Gründung im Jahre 1991 in erheblichem Umfang Ei-
genkapital zur Verfügung gestellt. Die Privatisierung
dient daher auch dem Ziel, nach Erfüllung des öffentli-
chen Auftrags durch die TLG den Rückfluss der in die
TLG investierten Steuermittel in den Bundeshaushalt si-
cherzustellen.
Der Bund ist auch aus rechtlichen Gründen gehalten,
die TLG IMMOBILIEN GmbH und die TLG WOHNEN
GmbH zeitnah zu verkaufen: § 65 Abs. 1 der Bundes-
haushaltsordnung verpflichtet den Bund, sich von Betei-
ligungen an Unternehmen zu trennen, wenn kein wichti-
ges Interesse an der Beteiligung des Bundes mehr
vorliegt. Bei der TLG IMMOBILIEN GmbH ist das
wichtige Bundesinteresse mit dem Wegfall des ehemals
öffentlichen Zwecks ihrer Tätigkeit entfallen. Aufgabe
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2012 20469
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der TLG IMMOBILIEN in den 90er-Jahren des vorigen
Jahrhunderts war es, die über 100 000 Immobilien ehe-
mals „volkseigener Betriebe“, die ihr von der Treuhand-
anstalt übertragen worden waren, an Investoren zu ver-
kaufen bzw. in geringerem Umfang zu kommunalisieren
oder Alteigentümern zurückzugeben. Diese Aufgabe hat
die TLG inzwischen erfolgreich abgearbeitet.
Aus den genannten Gründen ist die Bundesregierung
dazu verpflichtet, die TLG IMMOBILIEN GmbH und
die TLG WOHNEN GmbH zu privatisieren. Ein Stopp
der Privatisierung – wie von der Fraktion Die Linke ge-
fordert – ist daher nicht möglich und auch nicht sinnvoll.
Aus denselben Gründen ist es auch rechtlich nicht zuläs-
sig, deren Wohnungsbestände dauerhaft von einer bun-
deseigenen Wohnungsgesellschaft bewirtschaften zu las-
sen. Ich will an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass
die Bundesregierung schon in der letzten Legislaturpe-
riode diese Auffassung vertreten hat. Die damals einge-
leitete Privatisierung konnte aber wegen der Krise an
den Finanzmärkten nicht realisiert werden.
Gegen den Antrag der Fraktion Die Linke, den Woh-
nungsbestand in kommunales Eigentum zu überführen,
sprechen mehrere Gründe. So ist der Wohnungsbestand
der TLG WOHNEN GmbH großflächig auf alle neuen
Bundesländer und Berlin verteilt. Kommunen dürfen nur
Wohnbestände in der jeweiligen Kommune bewirtschaf-
ten. Auch kommunale Wohnungsunternehmen bzw.
Wohnungsbaugenossenschaften sind in der Regel nur
regional tätig. Die Forderung der Fraktion Die Linke
liefe daher darauf hinaus, die TLG-Gruppe bzw. das
Unternehmen TLG WOHNEN GmbH zu zerschlagen,
um gegebenenfalls einzelne Wohnimmobilienportfolien
an Kommunen oder kommunale Wohnungsunternehmen
bzw. Wohnungsbaugenossenschaften zu verkaufen. Dies
hätte einen Abbau von Arbeitsplätzen und eine Vernich-
tung von Werten zur Folge, weil der Wert der TLG
WOHNEN GmbH höher ist als der reine Wert ihrer
Wohnimmobilien. Im Übrigen ist der Bundesregierung
nicht bekannt, dass Kommunen oder kommunale Woh-
nungsunternehmen bzw. Wohnungsbaugenossenschaften
willens und finanziell in der Lage sind, derartige Woh-
nimmobilienportfolien zu erwerben.
Hinzu kommt, dass die Bundesregierung nach euro-
päischem Beihilferecht verpflichtet ist, die Privatisie-
rung europaweit auszuschreiben. Die Bundesregierung
ist daher schon aus Rechtsgründen daran gehindert, mit
Kommunen und kommunalen Wohnungsunternehmen
bzw. Wohnungsbaugenossenschaften außerhalb eines
offenen Bieterverfahrens in exklusive Verkaufsverhand-
lungen zu treten. Sie kann lediglich Verkaufsverhandlun-
gen mit solchen Interessenten führen, die im Rahmen
des nunmehr gestarteten Bieterverfahrens ein Kaufange-
bot abgeben.
Die Bundesregierung ist sich ihrer sozialen Verant-
wortung für die Mieter der Wohnimmobilien der TLG
WOHNEN GmbH bewusst und wird ihr gerecht werden.
Die Bundesregierung hat bereits am 2. November
2011 als Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zum Ausdruck gebracht, dass
sie beabsichtigt, mit den Bietern eine Sozialcharta zum
Schutz der Wohnungsmieter abzuschließen. Dies möchte
ich heute noch einmal bekräftigen. Die Bundesregierung
legt bereits im Vorfeld der Transaktionsplanung großen
Wert darauf, die Interessen und Schutzbedürfnisse der
Mieter im Prozessverlauf durchgängig zu berücksichti-
gen und zu wahren. Sie wertet zu diesem Zweck unter
anderem Wohnungsprivatisierungen der vergangenen
Jahre systematisch darauf aus, welche Gestaltungsmerk-
male in Transaktionen sich zugunsten einer nachhaltigen
Gewährleistung des Mieterschutzes ausgewirkt haben,
aber andererseits auch, welche Fehler und Versäumnisse
zu sehen waren und zu vermeiden sind.
Es ist erklärtes Ziel der Bundesregierung, den Mieter-
schutz als wichtiges Strukturmerkmal des Privatisierungs-
prozesses für das TLG-Portfolio fest im Transaktionspro-
zess zu verankern, soweit dies unter beihilferechtlichen
Aspekten zulässig ist. Das Bundesfinanzministerium steht
hierzu bereits im Dialog mit Mietervertretern.
Die Bundesregierung wird sich insbesondere dafür
starkmachen, ältere und behinderte Mieter vor Nachtei-
len zu schützen.
172. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3, ZP 2 Europäischer Stabilitätsmechanismus undFiskalpakt
TOP 4 Bürgerfreundliche Infrastruktur
TOP 36, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 37, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 5 Abbau der kalten Progression
TOP 6 Privilegien der energieintensiven Industrie
TOP 7 Änderungen im Recht der erneuerbaren Energien
TOP 8 Betreuungsgeld
TOP 9 Stärkung der europäischen Finanzaufsicht
TOP 10 Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
TOP 11 Pressefreiheit im Straf- und Strafprozessrecht
TOP 12 Hochschulpakt
TOP 13 Internationaler Währungsfonds
TOP 14 Akteneinsichtsrechte
TOP 15 Europäische Bank für Wiederaufbau undEntwicklung
TOP 16 Bildungs- und Teilhabepaket
TOP 17 Gesetz zum Vertrag mit dem Zentralrat der Juden
TOP 18 Sicherung von Wasser und Ernährung
TOP 19 Soziale Ziele imNationalen Reformprogramm2012
TOP 20 Steuerabkommen mit der Türkei
TOP 21 Soziale Revision der Entsenderichtlinie
TOP 22 EU-Richtlinie über die Konzessionsvergabe
TOP 23 Amtshilfe der Bundeswehr im Inland
TOP 24 Instrumente der Förderung der Medienvielfalt
TOP 25 Rahmenprogramm Gesundheitsforschung
TOP 26 Rücknahmepflicht für Alt-Energiesparlampen
TOP 27 Sicherung bezahlbarer Mieten
TOP 28 Sicherheit auf Kreuzfahrtschiffen
TOP 29 Seearbeitsübereinkommen
TOP 30 Erhalt der Schlecker-Arbeitsplätze
ZP 5 Privatisierung der TLG-Wohnungen
Anlagen