Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich be-
grüße Sie alle herzlich. Ich könnte das jetzt im Einzelnen
namentlich tun. Das würde uns aber gewaltig aufhalten;
deswegen verzichte ich darauf.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Gesetzentwurf zur Neuaus-
richtung der Pflegeversicherung.
Das Wort für den einleitenden Bericht erhält der Bun-
desminister für Gesundheit, Daniel Bahr.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Das Bundeskabinett hat sich heute mitdem Pflege-Neuausrichtungsgesetz beschäftigt und denGesetzentwurf beschlossen. Das ist ein wichtiger undrichtiger Schritt für die Weiterentwicklung der Pflege-versicherung. Nachdem eine christlich-liberale KoalitionMitte der 90er-Jahre die Pflegeversicherung eingeführtund damit deutliche Verbesserungen für die betroffenenMenschen erreicht hat, ist es nun an der Zeit, die Pflege-versicherung im Hinblick auf den besonderen Betreu-ungsaufwand bei Menschen mit Demenzerkrankungenweiterzuentwickeln.Derzeit sind 2,4 Millionen Menschen in Deutschlandpflegebedürftig. Aufgrund der demografischen Entwick-lung wissen wir, dass diese Zahl weiter steigen wird,während gleichzeitig die Zahl der jungen Menschen im-mer geringer wird, um die Pflege zu leisten. Die Bundes-regierung hat also das Ziel, mit dem Pflege-Neuausrich-tungsgesetz für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zusorgen. Wir wollen auch im hohen Alter eine menschen-würdige Pflege sicherstellen. Die Menschen sollen solange wie möglich selbstbestimmt leben können und ih-ren Wünschen und Bedürfnissen entsprechend Unter-stützung bekommen.Derzeit sind etwa 1,2 Millionen Menschen von De-menz betroffen. Wir schätzen, dass die Zahl der an De-menz erkrankten Menschen bis zum Jahre 2030 auf1,7 Millionen Menschen steigen wird. Es ist also eineenorme Herausforderung, die Gesellschaft und diePflege auf die besonderen Anforderungen der Demenzvorzubereiten.Der Pflegebedürftigkeitsbegriff, der seinerzeit vonder christlich-liberalen Koalition eingeführt wurde, warverrichtungsbezogen. Es ist das Ziel des Bundestages– im Januar wurde ein entsprechender Beschluss vonden Koalitionsfraktionen gefasst –, den Pflegebedürftig-keitsbegriff neu zu definieren und ihn auf den besonde-ren Betreuungsaufwand für Menschen mit Demenzauszurichten. Ich bin sehr dankbar, dass es einen Exper-tenbeirat unter Vorsitz von Wolfgang Zöller und Karl-Dieter Voß gibt, der die noch offenen Umsetzungsfragenbeantworten wird. Es gibt noch einige Dinge zu klären,insbesondere die neuen Begutachtungskriterien, die Ab-grenzung zu anderen Sozialleistungen, die Frage des Be-standsschutzes und viele andere Fragen mehr. Damitwollen wir keine Zeit verlieren. Insofern ist das Pflege-Neuausrichtungsgesetz ein Vorgriff auf den neuen Pfle-gebedürftigkeitsbegriff.Wir wollen, dass den Menschen zum 1. Januar 2013konkrete Verbesserungen zur Verfügung stehen. Dazugehört, dass Menschen, die bisher keine oder kaum Leis-tungen aus der Pflegeversicherung bekommen, aber auf-grund der Demenzerkrankung einen besonderen Betreu-ungsaufwand erfordern, nun Unterstützung erhalten.Insbesondere in der Pflegestufe 0, aber auch in den Pfle-gestufen I und II wird es jetzt zusätzliche Leistungen ge-ben, sodass wir dem Grundgedanken des seinerzeitigenBeirates, ein differenziertes Bild der Pflegebedürftigkeitbei der Eingruppierung zu erhalten, Rechnung tragen.Jemand mit eingeschränkter Alltagskompetenz bei-spielsweise erhält künftig in der Pflegestufe 0 erstmaligein Pflegegeld von bis zu 120 Euro bzw. eine Pflege-sachleistung von bis zu 225 Euro monatlich. Für dieMenschen ist das eine deutliche Verbesserung und eineLösung für ihre Alltagsprobleme.
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Darüber hinaus werden wir dafür sorgen, dass dem,was die Menschen möchten, Rechnung getragen wird,nämlich so lange wie möglich in ihrem häuslichen Um-feld zu bleiben. Zwei Drittel der Menschen werden zuHause gepflegt. Die Hauptlast der Pflege tragen die Fa-milien bzw. die Angehörigen. Diese gilt es zu unterstüt-zen. Mit dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ wollenwir Familien und Angehörigen weiterhin die Möglich-keit geben, ihre pflegebedürftigen Eltern oder Groß-eltern zu Hause zu pflegen.Dazu gehört, auch einmal eine Auszeit nehmen zukönnen. Dieser Grundgedanke wird gestärkt, indem dieKrankenversicherung bei anstehenden Rehabilitations-maßnahmen die besonderen Belange pflegender Ange-höriger berücksichtigt. Sie sollen leichter die Möglich-keit erhalten, eine Auszeit zu nehmen, indem zumBeispiel künftig das Pflegegeld zur Hälfte weitergezahltwird, wenn pflegende Angehörige eine Kurzzeit- oderVerhinderungspflege in Anspruch nehmen.Auch die rentenversicherungsrechtliche Absicherungwird verbessert. Das erfordert eine Mindestpflegeauf-wendung von 14 Stunden pro Woche. Unser Grundge-danke ist – nicht alles kann der Staat machen –, in ersterLinie die Familien und Angehörigen zu unterstützen.Wir wollen daher die Selbsthilfegruppen in der Pflegeweiter stärken. In der Krankenversicherung haben wirgute Erfahrungen mit der Selbsthilfe gemacht, und dasfindet nun Eingang in die Pflege. Erstmals werdenSelbsthilfegruppen in der Pflegeversicherung mit10 Cent pro Versichertem und Jahr gefördert, sodassauch hier das Prinzip, voneinander zu lernen und sichgegenseitig zu helfen, gestärkt wird.Wichtig ist: Die Menschen wollen so lange wie mög-lich zu Hause, in ihrem häuslichen Umfeld bleiben. Dasist jedoch nicht bei allen Wohnungen ohne Weiteresmöglich. Deswegen fördern wir den Aufbau von neuenWohnformen, zum Beispiel den der sogenannten Pflege-wohngruppen. Wenn sich Pflegebedürftige entscheiden,in Wohngruppen zusammenzuleben, werden diesePflege-WGs zusätzlich gefördert. Für solche Wohngrup-pen gibt es dann pro Pflegebedürftigem 200 Euro zusätz-lich, um dem erhöhten Organisationsaufwand gerecht zuwerden. Darüber hinaus ist eine einmalige Förderungvon bis zu 10 000 Euro zusätzlich möglich. Beispiels-weise für eine Gruppe aus vier Menschen, die sich beiPflegestufe I zu einer Pflege-WG zusammenschließen,stehen dann pro Monat künftig bis zu maximal3 400 Euro zur Verfügung. Damit kann man durchauseine Unterstützung in Anspruch nehmen.Letzter Punkt. Wir wollen die medizinische und zahn-medizinische Versorgung in Heimen deutlich verbessern.Aus den Dialogen und Gesprächen, die wir bei unserenBesuchen geführt haben – das wird Ihnen auch so gehen –,hören wir immer wieder heraus, dass die medizinischeVersorgung in Heimen verbesserungswürdig ist. Wäh-rende andere eine Praxis aufsuchen, funktioniert es beiBesuchen von Ärzten und Zahnärzten in Heimen nichtso gut, wie wir uns das wünschen. Deswegen setzen wirgezielt Anreize, dass Ärzte und Zahnärzte in Heime ge-hen, um dort die medizinische Versorgung zu verbes-sern. Damit wollen wir perspektivisch auch Kosten spa-ren; denn die Einweisung in ein Krankenhaus, derRettungsdienst und der Krankentransport können eher zuhöheren Kosten führen. Das bedeutet also auch hier eineklare Investition in eine bessere medizinische Versor-gung.Das ist das Pflege-Neuausrichtungsgesetz. Zu denEckpunkten des Kabinetts gehörte seinerzeit auch dieFörderung privater freiwilliger Pflegevorsorge. DieserPunkt ist aber nicht im Rahmen des Sozialgesetzbuchsgeregelt, sondern hier steht eine Regelung noch an. Inder Umsetzung dieses Eckpunkts sind noch einige Fra-gen zwischen Bundesfinanz- und Bundesgesundheits-ministerium zu klären. Dieses Thema ist aber im Rah-men dessen, was wir bei der Pflege noch erreichenwollen, mit zu bedenken.Alle Verbesserungen, die das Gesetz vorsieht, werdenvollständig durch die Beitragssatzerhöhung von 0,1 Pro-zentpunkten zum 1. Januar 2013 finanziert. Das ist einemaßvolle Beitragssatzerhöhung, die aber spürbargezielte Verbesserungen für betroffene Menschen er-reichen wird. Das heißt, wir tun etwas dafür, den Zu-sammenhalt in der Gesellschaft zu stärken und denMenschen bei ihren Alltagsproblemen Unterstützung zugewähren.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Jetzt gibt es jede Menge Nachfragen.
Ich erinnere an die Ein-Minuten-Regelung. Das Wort hat
zunächst die Kollegin Mattheis.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie ha-
ben ausgeführt, dass nach Ihrem Konzept Menschen mit
Demenz bessere Leistungen erhalten werden. Ich frage
Sie: Warum führen Sie nicht sofort einen neuen Pflege-
bedürftigkeitsbegriff ein? Seit 2009 liegen hervorra-
gende Unterlagen vor, und zwar vom Beirat, der sich
schon in zwei großen Berichten mit diesem Thema aus-
einandergesetzt und uns entsprechende Vorschläge un-
terbreitet hat. Jetzt geht es darum, die politische Umset-
zung in die Wege zu leiten.
Wie gehen Sie damit um, dass Menschen mit Demenz
zwar diese neuen Leistungen bekommen können, dass es
aber eine große Unsicherheit gibt und möglicherweise
das Problem besteht, dass es für Menschen mit rein kör-
perbezogener Pflegebedürftigkeit zu Ungerechtigkeiten
im Hinblick auf Leistungsansprüche kommt?
Wenn es so leicht wäre, einen neuen Pflegebedürftig-keitsbegriff einzuführen, dann hätte die Vorgängerregie-rung das noch in der letzten Legislaturperiode machenkönnen; denn die Ergebnisse liegen bereits seit Januar2009 vor. Schon damals hat man gesehen, dass dies nochviele Fragen aufwirft, die es zu beantworten gilt. MeineVorvorgängerin Ulla Schmidt hat vor kurzer Zeit in ei-nem Interview gesagt, dass es zur Umsetzung eines
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neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs eines Zeitraums vondrei bis vier Jahren bedarf. Ich will das nicht bestätigen,aber dem auch nicht widersprechen. Denn wir wissen,dass in der Tat viele Abgrenzungsfragen zu klären sind.Das hat auch die SPD-Fraktion in ihrem gestrigen Be-schluss eindeutig dargelegt. Sie hat explizit gesagt: DieFragen der Eingliederungshilfe sind vorab zu klären, be-vor ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff definiert wird.Es sind viele Fragen zu klären. Das machen wir; wirwollen keine Zeit verlieren. Ich bin dankbar, dass sichder Beirat erneut zusammengefunden hat, um die Um-setzungsfragen zu beantworten. Das Gesetz ist ausdrück-lich ein Vorgriff auf den neuen Pflegebedürftigkeits-begriff und setzt ihn schon um, ohne dass jemandschlechtergestellt wird; den Menschen kommen kon-krete Verbesserungen zugute.
Die nächste Frage stellt Kollege Spahn.
Danke, Herr Präsident. – Herr Minister, vielen Dank
für die Vorstellung des Gesetzentwurfes. Sie haben
schon darauf hingewiesen: Wir stellen 1 Milliarde Euro
zusätzlich zur Verfügung. Die Fragen lauten: Wie ist die-
ses Volumen im Vergleich zu dem zu bewerten, was bis-
her in der Pflegeversicherung zur Verfügung steht? Wel-
che Schwerpunkte sollen gesetzt werden, um dieses
Geld effizient einsetzen zu können?
Heute konnten wir lesen, dass die SPD gerne 6 Mil-
liarden Euro zusätzlich zur Verfügung stellen will. Was
ist denn in der pflegepolitischen Debatte von einem Vor-
schlag zu halten, ohne jegliche Gegenfinanzierung
6 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung zu stellen?
Jenseits der finanziellen Fragen geht es auch darum,
inwiefern sich die Pflegeversicherten und Pflegebedürf-
tigen insgesamt angenommen und akzeptiert fühlen, wie
die Rückmeldung und die Zusammenarbeit mit den Pfle-
gekassen aussehen. Was ist hier geplant?
Die erste Frage kann ich ganz leicht beantworten.
1 Milliarde Euro zusätzlich bedeuten eine deutliche Ver-
besserung, auch gemessen am Volumen des Budgets der
sozialen Pflegeversicherung, der jährlich etwa 19 Mil-
liarden Euro zur Verfügung stehen. Vergleichen wir das
einmal mit der gesetzlichen Krankenversicherung:
Würde dort ein Gesetz eine entsprechende Leistungsver-
besserung vorsehen, entspräche dies einer Summe von
9 Milliarden Euro. Damit erkennt man die Dimension
und sieht, dass das ein wichtiger Schritt in die richtige
Richtung ist.
Die SPD-Fraktion hat Leistungsverbesserungen im
Umfang von 6 Milliarden Euro vorgeschlagen. Das
würde in den folgenden Jahren zu enormen Ausgaben-
steigerungen führen. Ich glaube, dass man dafür eine
faire Gegenfinanzierung finden muss; diese habe ich in
dem Beschluss der SPD-Fraktion noch nicht erkennen
können. Das würde bedeuten, dass der Beitragssatz er-
neut um 0,6 Prozentpunkte ansteigen müsste. Ich glaube
aber, es ist wichtig, dass man die Wünsche auch finan-
zierbar hält. Wir haben einen Einstieg geleistet, mit deut-
lichen Verbesserungen, die den Menschen zugutekom-
men. Eine halbe Million Pflegebedürftige wird von
unseren Verbesserungen deutlich profitieren. Es geht
nicht nur um Mehrausgaben, sondern insbesondere auch
um Verbesserungen in der Betreuung. Das betrifft gerade
die Servicegrundsätze für die Pflegekasse und den Medi-
zinischen Dienst. Die Begutachtung muss innerhalb ei-
ner Frist gewährleistet sein; sonst muss gezahlt werden.
All das ist im Gesetz festgehalten. Denn hier geht es um
ein Ärgernis vieler Betroffener, von dem ich immer wie-
der höre. Betroffene wollen schnell Bescheid wissen,
welche Leistungsansprüche sie haben.
Frau Golze, bitte.
Herr Minister Bahr, nach meiner Auffassung ist ein
gesetzlicher Mindestlohn die unterste Haltegrenze bei
der Entlohnung von Arbeit. Wenn Sie sich dieser Auffas-
sung anschließen können, dann würde ich gerne wissen,
ob es nicht gerade in Zeiten des Notstands beim Pflege-
personal ein falsches Zeichen ist, wenn man, wie in die-
sem Gesetzentwurf vorgesehen, die reguläre Bezahlung
an dieser untersten Haltegrenze ausrichtet.
Das machen wir nicht; da muss ich widersprechen.Der Pflegemindestlohn ist von dieser Regierung einge-führt worden. Zuvor war eine Regelung zur Entlohnungnach der ortsüblichen Vergütung in Kraft. Da gab es Dis-kussionen, ob sich das nicht widerspricht; beide Rege-lungen haben weiterhin Bestand.Sie sagen, es müsse das Ziel sein, den Beruf attrakti-ver zu machen. Dabei ist für mich nicht die Festlegungeines Mindestlohns entscheidend – wir haben eine Rege-lung, die eine untere Grenze festlegt, auch um Dumpingzu verhindern –, sondern in erster Linie sind die Arbeits-bedingungen ausschlaggebend. Bei einer leistungs-gerechten Vergütung der Betreffenden ist nicht derMindestlohn entscheidend; die Entwicklung und die Per-spektive nach oben spielen eine ganz entscheidendeRolle. Dazu leisten wir einen Beitrag.Dieses Gesetz wird auch einen Beitrag zur Entbüro-kratisierung leisten. Viele Pflegekräfte beschweren sich,dass sie zu wenig Zeit für die Pflege der Betroffenen ha-ben. Wir haben eine Ombudsfrau als Ansprechpartnerinzum Thema Entbürokratisierung eingesetzt. Es gibt vieleVorschläge zur Entbürokratisierung, die wir sammelnund die Eingang finden werden, um die konkreten Ar-beitsbedingungen zu verbessern. Es gibt viele andereFragen betreffend die Berufsausbildung, die Zusammen-führung und die Weiterentwicklung.Der Beruf des Pflegenden muss attraktiver werden.Wir werden entsprechende Rahmenbedingungen dafürschaffen. Wir haben eine Untergrenze gezogen. Wirmüssen aber immer im Blick behalten, dass Schwarz-
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arbeit auch in der Pflege ein Problem ist; eine solche Ar-beit wollen wir nicht fördern. Vielmehr wollen wir wei-terhin die reguläre Beschäftigung in der Pflege sichern.
Vielen Dank. – Frau Aschenberg-Dugnus.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, in vie-
len Gesprächen erfährt man immer wieder, dass sehr
viele Pflegebedürftige so lange wie möglich in ihrem
vertrauten, heimischen Umfeld leben und gepflegt wer-
den wollen. Wie reagieren Sie darauf?
Das ist das Ziel dieser Reform. Wir wollen nicht nach
dem Gießkannenprinzip allen ein bisschen mehr Geld
geben, sondern ganz gezielt Familien und Angehörigen
helfen. Die Leistungsverbesserung kommt den Betroffe-
nen in der ambulanten Pflege zugute, also gerade denje-
nigen, die bisher keine oder kaum Leistung bekommen
haben.
Wir verbessern die Möglichkeit für Angehörige, eine
Auszeit zu nehmen. Die Hauptlast der Pflege schultern
die Familien bzw. die Angehörigen, die häufig nach ei-
ner gewissen Zeit nicht mehr können. Das gilt insbeson-
dere für die Pflege von Demenzerkrankten. Das Gesetz
sieht vor, dass der Pflegegeldanspruch nicht verloren
geht, dass der Zugang zu Rehabilitationsmaßnahmen er-
leichtert wird, dass Leistungen bei Demenzerkrankung
insbesondere in der ambulanten Pflege den Betroffenen
wirklich zugutekommen. Die Betroffenen werden nicht
alleine gelassen werden und sollen mehr Rechte erhal-
ten. Beispielsweise wird eine erste Versorgungsleistung
gezahlt, wenn die Begutachtung durch den Medizini-
schen Dienst nicht innerhalb von fünf Wochen erfolgt.
Wir stärken so weiterhin die Rechte von Familien und
Angehörigen.
Frau Scharfenberg.
Vielen Dank, Herr Minister. – Ein wesentliches Ver-
sprechen Ihres Vorgängers in Bezug auf die Pflege-
reform war, dass pflegende Angehörige besser unter-
stützt werden sollten. Im Entwurf des PNG finden wir
dazu nicht mehr viel. Der Referentenentwurf hob noch
auf den Anspruch gemäß SGB XI ab und sah vor, dass
auf pflegende Angehörige gerade in Bezug auf Rehaleis-
tungen besondere Rücksicht genommen werden soll.
Das wurde wohl vom Bundesministerium für Arbeit und
Soziales wieder gestrichen. Wie bewerten Sie die Strei-
chung dieses Punktes?
Die Bundesregierung legt Ihnen heute ein Gesetz vor,
das den Angehörigen in der Tat einen besseren Zugang
zu Rehabilitationsleistungen ermöglicht. Wir sorgen da-
für, dass in der Krankenversicherung die besonderen Be-
lange von pflegenden Angehörigen bei anstehenden Re-
habilitationsmaßnahmen berücksichtigt werden.
Wir sorgen dafür, dass die Möglichkeit, eine Auszeit zu
nehmen, leichter genutzt werden kann, indem das Pfle-
gegeld künftig zur Hälfte weitergezahlt wird, wenn
pflegende Angehörige eine Kurzzeit- oder Verhinde-
rungspflege in Anspruch nehmen. Im Rahmen der Kabi-
nettsbefassung ging es auch um die bessere Berücksich-
tigung in der Rentenversicherung. Die Bundesregierung
hat sich aber entschieden, im Bereich der Krankenver-
sicherung für eine erste deutliche Verbesserung zu sor-
gen, um eine Perspektive aufzuzeigen, wie Rehabilita-
tionsmaßnahmen insgesamt verbessert werden können.
Ich will aber den Beratungen über den Gesetzentwurf
nicht vorgreifen.
Frau Volkmer.
Herr Minister, Sie haben einen neuen Beirat zur Klä-
rung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes eingesetzt. Mich
interessiert: Wann erwarten Sie, dass der Beirat seine Ar-
beit abgeschlossen hat? Welche finanziellen Folgen er-
warten Sie, wenn der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff
zum Tragen kommt? Wie wollen Sie das finanzieren?
Ich frage Sie das vor dem Hintergrund, dass unter den
jetzigen Bedingungen und nach Ihren eigenen Berech-
nungen ab dem Jahr 2015 eine kontinuierliche Finanzie-
rungslücke in der Pflegeversicherung auftreten wird.
Der Pflegebeirat ist wieder eingesetzt worden. Ichhabe mich sehr gefreut, dass alle Institutionen und Orga-nisationen, die seinerzeit im Pflegebeirat mitgearbeitethaben, erneut mitarbeiten. Sie haben großes Interesseund große Bereitschaft gezeigt, die noch offenen Umset-zungsfragen zu klären und die bestehenden Probleme zulösen.Der Beirat arbeitet unabhängig. Insofern kann ich sei-nen Arbeitsergebnissen nicht vorgreifen. Ich selbst warbei der konstituierenden Sitzung dabei. Dort gab es sehrunterschiedliche Meinungen. Während die einen derMeinung sind, man könne sehr schnell ein Ergebnis vor-legen, sind andere der Meinung, dafür brauche man Zeit.Ich möchte auf Folgendes hinweisen, weil ich denBeschluss der SPD-Fraktion von gestern gelesen habe:Wer möchte, dass wir beim Pflegebedürftigkeitsbegriffschnell vorankommen, den bitte ich, die zu klärendenFragen nicht zu überfrachten. Wenn gleichzeitig, wie ichdem Beschluss der SPD-Fraktion entnehme, auch nochdie Probleme der Eingliederungshilfe gelöst werden sol-len, dann wird es viele Jahre dauern, bis man alle dieseFragen geklärt hat. Ich glaube, wir sollten uns daraufkonzentrieren, den Pflegebedürftigkeitsbegriff weiter zufassen und dabei Abgrenzungsfragen zu klären, ohnegleich alle Sozialleistungen einzubeziehen.
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Was die Finanzierung angeht: Es ist die Logik desUmlagesystems, dass, wenn Mehrausgaben aufgrundpolitischer Wünsche oder Entwicklungen zu verzeichnensind, auch über Einnahmen zu sprechen ist. Ich sage nur:Die Pflegeversicherung ist solide finanziert. Auch ohnediese Reform stünde im Jahr 2015 erneut eine Entschei-dung an. Damit haben wir übrigens die Entscheidungweiter hinausgeschoben. Als die Legislaturperiode be-gann, stand das im Jahr 2013 an. Das heißt, die sozialePflegeversicherung ist solide finanziert und wird es wei-terhin sein.
Frau Vogler.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, wir alle
sind sehr besorgt, nachdem am Wochenende die Studie
von Herrn Glaeske kommuniziert worden ist; denn da-
nach werden viele Menschen in deutschen Pflegeheimen
und auch in der ambulanten Pflege offensichtlich mit
Psychopharmaka ruhiggestellt. In diesem Zusammen-
hang interessiert mich – im Fünften Bericht über die Ent-
wicklung der Pflegeversicherung wird festgestellt, dass
der Anteil der Menschen mit erhöhtem Betreuungs-
bedarf in der Pflegestufe III stark ansteigt, und zwar so-
wohl im ambulanten als auch im stationären Bereich –,
wie Sie vor diesem Hintergrund begründen, dass für
Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompe-
tenz in der Pflegestufe III keine zusätzlichen Leistungen
vorgesehen werden. Sehen da nicht auch Sie Anlass zur
Besorgnis, dass diese sicherlich von uns allen kritisierte
Praxis noch weiter zunehmen wird?
Ich kann die Ergebnisse der Studie von Herrn Glaeske
bisher nicht bestätigen; auch ich habe davon gelesen.
Aber wir wissen aus den Dialogen, die wir mit Experten
und Bürgern geführt haben, aus eigenen Erfahrungen
und aus Besuchen vor Ort, dass die medizinische Versor-
gung in Heimen ein dringend anzugehendes Thema ist.
Deswegen leisten wir mit dem Pflege-Neuausrichtungs-
gesetz einen Beitrag zur Verbesserung der medizinischen
Versorgung in Heimen. 77 Millionen Euro aus dem Be-
reich der gesetzlichen Krankenversicherung werden nun
budgetär zur Verfügung gestellt, damit die Ärzte in die
Heime gehen und sich dort um die medizinische Versor-
gung kümmern. Das ist unser Ziel.
Des Weiteren hatten Sie nach der Pflegestufe III ge-
fragt. Wir haben es immer mit begrenzten Ressourcen zu
tun. Keine im Deutschen Bundestag vertretene Partei
– auch die Linke nicht – stellt infrage, dass die Pflege-
versicherung eine Teilkostenabsicherung ist, auch wenn
gelegentlich ein anderer Eindruck erweckt wird. Wir
wissen: Uns stehen immer begrenzte Ressourcen zur
Verfügung. Wir haben Prioritäten gesetzt und geben ge-
zielt denjenigen, die bisher kaum oder keine Leistungen
bekommen und in der Regel zu Hause gepflegt werden
– die Familien tragen die Hauptlast –, eine Unterstüt-
zung. Das ist eine klare Prioritätensetzung dieser Regie-
rung. Ich halte diese für richtig.
Kollege Stracke.
Herr Präsident! Herr Minister, Sie haben Ihren Ge-
setzentwurf zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung
vorgelegt und setzen den Schwerpunkt darauf, dass den
Demenzerkrankten und auch den pflegenden Angehö-
rigen deutliche Verbesserungen zugutekommen. Mich
interessiert, wie Sie die Pflegeleistungen, speziell die
Sachleistungen, im ambulanten Bereich flexibler gestal-
ten wollen, welche Vorstellungen Sie damit verknüpfen
und welche Wirkungen Sie sich erhoffen, insbesondere
für die Pflegebedürftigen, aber auch für die pflegenden
Angehörigen.
Eine Klage, die wir immer wieder hören – zum Bei-
spiel in Dialogen, die wir veranstaltet haben, aber auch
in persönlichen Gesprächen mit Betroffenen und Pfle-
genden –, ist, dass das heutige Pflegekonzept ein sehr
starres Minutenkorsett ist und wenig Spielraum lässt,
den individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Des-
wegen sieht das Pflege-Neuausrichtungsgesetz mehr
Flexibilität und Wahlfreiheit vor. Künftig können zwi-
schen den Pflegebedürftigen und den Pflegediensten bei-
spielsweise Zeitkontingente vereinbart werden. Da-
durch entstehen mehr Freiheit und Flexibilität, um den
individuellen Bedürfnissen besser gerecht werden zu
können. So können dem individuellen Bedarf entspre-
chend unterschiedliche Leistungen erbracht werden. Ich
glaube, damit werden wir den Wünschen und Bedürfnis-
sen sowohl der Pflegebedürftigen gerecht als auch der
Pflegenden, die dadurch mehr Freiheiten haben und ihre
Arbeit wieder stärker selbst gestalten können. Sie müs-
sen nicht länger das Gefühl haben, schnell alles abhaken
und die Leistung in sehr kurzer Zeit, minutengenau be-
rechnet, erbringen zu müssen. Diese Flexibilität und
mehr Wahlfreiheit sind nötig, um den individuellen Be-
dürfnissen gerecht werden zu können.
Kollege Lemme.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Bahr,
ich habe zwei Fragen. Die erste bezieht sich auf Aussa-
gen im Koalitionsvertrag. Darin steht, dass es im Bereich
der Pflege eine private Zusatzversicherung geben soll.
Meine Frage: Wann kommt es dazu, und welche Mehr-
belastungen kommen dadurch auf die Menschen zu?
Zum Zweiten. Bei Vorortterminen in Pflegeeinrichtun-
gen bzw. bei Diskussionen stelle ich immer wieder fest,
dass die Situation der Pflegefachkräfte eine hohe Brisanz
besitzt. Was sehen Sie im Rahmen der geplanten Neuord-
nung der Pflegeversicherung vor, um Fachkräften in die-
sem Bereich ein besseres Image zu verschaffen?
Das waren zwei Fragen. Ganz kurz zur ersten Frage:Die freiwillige Pflegevorsorgeförderung kommt zum
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1. Januar 2013. So ist das in den Eckpunkten des Kabi-netts festgehalten. Über die Details der genauen Ausge-staltung der Förderung wird gerade beraten, weil dasnicht in den sozialgesetzlichen Regelungen, sondern inanderen Gesetzen zu fassen ist. Ich weiß nicht, worin Sieeine Mehrbelastung sehen. Im Gegenteil: Wir wollen dieMenschen entlasten, indem sie schon heute für den Pfle-gefall, in dem sie häufig einen hohen Eigenanteil zu tra-gen haben, mithilfe einer Förderung leichter vorsorgenkönnen. Das heißt, wir senken die Belastung kommenderGenerationen. Wir entlasten die Bürgerinnen und Bür-ger, indem wir ihnen heute schon die Möglichkeit geben,dafür Vorsorge zu treffen.Zur zweiten Frage, zu den Fachkräften. Wir tun imRahmen des Pflege-Neuausrichtungsgesetzes und weite-rer Vorhaben viel gegen den drohenden Fachkräfteman-gel. Durch dieses Gesetz sollen beispielsweise die Ar-beitsbedingungen verbessert werden. Ich habe ebengesagt, dass Zeitkontingente vereinbart werden können.Durch mehr Wahlfreiheit des Pflegenden werden auchdie Arbeitsbedingungen attraktiver. Mit der Ombuds-person leisten wir einen Beitrag zur Entbürokratisierung.Diese Ansprechpartnerin bündelt alle Vorschläge, diedann Eingang in das Gesetzgebungsverfahren findenwerden. Wir stärken die ambulante Pflege durch mehrLeistungen für Demenzerkrankte. Auch dadurch wirddas Berufsbild attraktiver.Daneben sind andere Vorhaben zu berücksichtigen,zum Beispiel die Neuordnung der Berufsausbildung. Ineinem Bund-Länder-Gespräch haben wir uns darauf ge-einigt, die Pflegeausbildungen zusammenzulegen. Auchdadurch wird das Berufsbild attraktiver.Ich wehre mich gegen alle Vorschläge, die im Mo-ment aus Brüssel kommen und darauf abzielen, den Zu-gang zu Pflegeberufen erst nach Abschluss von zwölfSchuljahren zu ermöglichen. Ich glaube, das wäre diefalsche Antwort auf einen drohenden Fachkräftemangel.Auch Haupt- und Realschüler müssen weiterhin dieMöglichkeit haben, einen Pflegeberuf zu ergreifen.
Frau Müller-Gemmeke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, könnten
Sie bitte begründen, warum Sie zur Verbesserung der
ärztlichen Versorgung deutliche Steigerungen der ärzt-
lichen Honorare planen und gleichzeitig bei den Pflege-
kräften, deren Situation ja nicht besonders rosig ist, nie-
drigere Löhne in Kauf nehmen, indem Sie in § 72
SGB XI die Bindung einer zugelassenen Pflegeeinrich-
tung an die ortsübliche Vergütung kippen und die Löhne
somit auf das Niveau des Mindestlohns absenken? Wie
sollen so gute und faire Löhne gesichert werden?
Sie stellen hier etwas gegeneinander, das nicht gegen-
einanderzustellen ist. Die Grundthese, dass dieses Ge-
setz zu einer Absenkung der Löhne im Bereich der
Pflege führt, ist falsch. Es gilt die Regelung betreffend
die ortsübliche Vergütung im Pflegebereich. Zusätzlich
hat diese Regierung einen Pflegemindestlohn eingeführt.
Nun beseitigen wir die Widersprüche zwischen diesen
Regelungen. Das führt nicht zu einer Absenkung der
Löhne. Ich bin sehr dafür, dass im Bereich der Pflege
weiterhin leistungsgerecht vergütet wird und die Leis-
tungen, die in diesem Bereich erbracht werden, besser
honoriert werden.
Gleiches gilt aber auch für den Bereich der Medizin.
Wir wissen, dass mit den bisherigen Vergütungsregelun-
gen Arztbesuche in Heimen – das ist offensichtlich –
nicht gewährleistet sind. Also haben wir gesagt: Wir
müssen gezielte, zusätzliche Anreize setzen, damit dieje-
nigen Pflegebedürftigen, die nicht ohne Weiteres eine
Arztpraxis aufsuchen können, von einem Arzt aufge-
sucht werden. Das macht man am besten, indem man
Geld zur Verfügung stellt.
Im Übrigen werden wir das evaluieren. In ein paar
Jahren kann ich Ihnen als Bundesgesundheitsminister
das Ergebnis der Evaluation vorlegen.
Dann werden wir sehen, dass wir dadurch Kosten einge-
spart haben. Wenn der Arzt nicht zum Patienten ins
Heim kommt, ruft das Heim vielleicht den Rettungs-
dienst, und der Patient wird dann ins Krankenhaus ein-
gewiesen. Dies verursacht viel mehr Kosten im System.
Kollege Seifert.
Herr Minister, Sie haben ja eine ganze Menge vorge-
tragen, sodass man eigentlich sehr viele Fragen stellen
müsste.
Wir machen ja auch viel.
Ich möchte mich auf einen Punkt konzentrieren. Siehaben vorhin gesagt, dass Sie das Geld nicht nach demGießkannenprinzip ausgeben wollen. Jetzt haben Sieaber gesagt, dass für einen Menschen mit Demenz120 Euro pro Monat zur Verfügung gestellt werden sol-len, also, wenn ich den Betrag durch 30 teile, 4 Euro proTag. Wie wollen Sie mit 4 Euro pro Tag tatsächlich mehrTeilhabe gewährleisten? Das ist der Kern des neuen Pfle-gebegriffes, um den Sie sich bisher etwas herumdrücken.Wie wollen Sie mit diesem Betrag, mit 4 Euro pro Tag,erreichen, dass Menschen, die dement werden, mehr undbesser teilhaben können? Wieso glauben Sie, dass dieskeine Verteilung nach dem Gießkannenprinzip ist?
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Zunächst einmal, Herr Seifert, will ich darauf hinwei-
sen, dass diese 120 Euro zu den bestehenden 100 bzw.
200 Euro für die Betroffenen in der Pflegestufe 0 – Sie
haben bewusst die geringste Zahl genannt – hinzukom-
men. Es geht also um bis zu 320 Euro für Menschen, die
bisher keine oder kaum Leistungen bekommen haben.
Im Rahmen der Pflegesachleistung werden zusätzlich
nicht 120 Euro, sondern 225 Euro gezahlt.
Sie haben es sehr zugespitzt dargestellt. Deswegen will
ich die Zahlen vergleichen. Sie sprechen von 4 Euro pro
Tag. Die bisherigen Leistungen liegen bei etwas über
7 Euro pro Tag. Ich glaube, dass man so nicht rechnen
kann.
Ich habe gesagt: Die Hauptlast tragen die Familien
und Angehörigen. Jetzt wird es möglich, dass ihnen zu-
sätzlich Geld zur Verfügung gestellt wird. Es bedeutet
für einen Betroffenen sehr viel, wenn er sich dadurch
einmal pro Woche als Unterstützung eine Betreuungs-
kraft leisten kann, die er sich bisher nicht leisten konnte.
Dies ist auch eine Entlastung der Angehörigen. Ich
kenne keinen Vorschlag, auch nicht von den Linken hier
im Bundestag, der besagt, dass aus der Pflegeversiche-
rung eine Vollkaskoversicherung werden soll.
Sie bleibt eine Teilkostenabsicherung. Das heißt, ein Ei-
genanteil ist zu schultern.
Wir sorgen dafür, dass die Leistungen jetzt gezielter
auf Demenzerkrankte ausgerichtet werden. Ich sage
noch einmal: Es sind Verbesserungen. Niemand wird
schlechter gestellt. Das Geld wird ausschließlich zur
Verbesserung der Situation betroffener Menschen, die
bisher kaum oder nichts bekommen haben, zur Verfü-
gung gestellt.
Frau Reimann.
Herr Präsident! Herr Minister, Ergebnis der Pflege-
dialoge war das Ziel, die Angehörigen zu entlasten. Ein
wichtiger Punkt dabei – Ihr Vorgänger hat diesen immer
hervorgehoben – ist der Zugang zu Rehaleistungen für
pflegende Angehörige. Jetzt haben Sie gerade ausge-
führt, dass es nicht gelungen ist, weitere Verbesserungen
bei der Rentenversicherung zu erzielen, dass es aber die
Möglichkeit gibt, Rehaleistungen von der gesetzlichen
Krankenversicherung zu erhalten. Bedeutet das auch
– darüber wurde in diesem Zusammenhang ebenfalls ge-
sprochen –, dass es für einen pflegenden Angehörigen
einen verbesserten Zugang zu Rehaleistungen in Kombi-
nation mit Rehaleistungen für den zu Pflegenden gibt
und dass diese von der gesetzlichen Krankenversiche-
rung bezahlt werden? Welche Mittel veranschlagen Sie
dafür? Gehe ich recht in der Annahme, dass diese Reha-
leistungen nur Menschen zugänglich sind, die nicht im
erwerbsfähigen Alter sind?
Durch das Pflege-Neuausrichtungsgesetz werden die
Zuständigkeiten der Renten- und Krankenversicherung
nicht infrage gestellt; die in diesem Zusammenhang be-
stehenden Regelungen und die Zuständigkeiten von
Renten- und Krankenversicherung werden nicht verän-
dert. Ich hatte – ich glaube, es war auf die Frage der Kol-
legin Scharfenberg – auf die These, es würde hinsicht-
lich Rehabilitationsmaßnahmen nichts für pflegende
Angehörige verbessert werden, geantwortet. Im Bereich
der Krankenversicherung wird es deutliche Verbesserun-
gen geben: Ein leichterer Zugang zu Rehabilitations-
maßnahmen für pflegende Angehörige wird, sofern die
Krankenversicherung zuständig ist, gewährleistet. Dies
zeigt, dass diese Regierung einen erleichterten Zugang
zu Rehabilitationsmaßnahmen erreichen will und einen
ersten Schritt getan hat.
Frau Klein-Schmeink.
Herr Minister, Sie kommen wie ich aus Münster und
wissen, welchen Stellenwert dort die Wohngruppen für
Demenzkranke in der Versorgung von Demenzkranken
haben. Sie wissen, dass diese Wohngruppen ein sehr pro-
bates Instrument sind und insgesamt dazu beitragen,
dass Formen des selbstständigen Wohnens etabliert wer-
den.
Jetzt haben Sie ein kleines Progrämmchen für diese
Wohngemeinschaften aufgelegt. Ich frage Sie, warum
Sie die Mittel für dieses Programm gedeckelt haben
– dadurch wird ja nicht gerade sehr viel möglich ge-
macht –, und warum Sie dieses Programm, wenn Sie
doch einen Schwenk hin zu diesen Wohnformen wollen,
auch noch befristet haben.
Frau Kollegin Klein-Schmeink, seien Sie mir nichtböse. Aber ich rate Ihnen, einmal mit den Kolleginnenund Kollegen der Grünen aus dem Land Nordrhein-Westfalen – sowohl mit Frau Steffens, der Gesundheits-ministerin in Nordrhein-Westfalen,
als auch mit Frau Kollegin Scharfenberg – zu sprechen.Ich habe der Presseberichterstattung entnommen, dasssie meine Vorschläge zur Pflege-WG ausdrücklich be-grüßt haben. Ich nehme für mich im Übrigen gar nicht inAnspruch, einziger Erfinder der Pflege-WG zu sein, son-dern ich weiß, dass viele Bundesländer und Vorgänger-regierungen in diesem Bereich schon etwas getan haben.Uns eint, dass wir etwas für neue Wohnformen tun wol-
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20154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
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len, weil die Menschen so lange wie möglich in ihremhäuslichen Umfeld bleiben wollen. Für Menschen, dienicht mehr alleine in ihrer bisherigen Wohnung bleibenkönnen, ist eine Wohngruppe eine gute Alternative.Die Förderung ist so angelegt, dass vier Pflegebedürf-tige der Pflegestufe I jeden Monat bis zu maximal3 400 Euro erhalten können. Für Umbaumaßnahmen beiGründung einer Pflegewohngruppe werden einmalig biszu 20 000 Euro zur Verfügung gestellt. Ich glaube, mankann nicht sagen, das sei wenig und stelle für die Betrof-fenen keine wirkliche Verbesserung dar.
Vielmehr denke ich, darauf können wir aufbauen unddas kann sich durchaus sehen lassen. Wir haben kalku-liert, wie viele Personen die Förderung in Anspruch neh-men werden. Wenn dieses Vorhaben so viel Zuspruch er-fährt, wie wir hoffen, sind wir sehr glücklich, weil daszeigt, dass dies der richtige Weg ist. Dann werden wirweitere Entscheidungen treffen.
Frau Graf.
Dazu, dass das Pflege-Neuausrichtungsgesetz auch
ein Initiativprogramm zur Förderung von Wohngruppen
enthält, haben wir schon einiges gehört. Ich habe zwei
Fragen.
Meine erste Frage bezieht sich auf die Finanzierung.
Nach den Informationen, die mir zugänglich sind, wol-
len Sie dieses Vorhaben aus Restmitteln für die Finanzie-
rung der Pflegestützpunkte finanzieren. Halten Sie das
für zielführend – schließlich ist dann keine Beratung
mehr möglich –, und meinen nicht auch Sie, dass die Be-
fristung der Mittel ein großes Problem darstellen wird,
ganz abgesehen von dem Windhundverfahren, das der
Situation, wie ich denke, nicht gerecht wird?
Die zweite Frage, die ich habe, betrifft die Wohngrup-
pen. Aus Erfahrung weiß ich, dass die bereits existieren-
den Wohngruppen sehr große Probleme mit den Heim-
gesetzen der Länder haben. Wie wollen Sie dieses
Problem in den Griff bekommen? Nach der Föderalis-
musreform ist die Zuständigkeit für das Heimrecht ja auf
die Länder übergegangen. Das bedeutet, dass Sie, wenn
Sie entsprechende Vorschläge vorlegen, verhindern müs-
sen, dass aus Ihrem Vorhaben eine Mogelpackung wird.
Das wird nicht geschehen; diese Sorge kann ich Ihnen
nehmen. Die Regelung, dass die Zuständigkeit für das
Heimgesetz im Rahmen der Föderalismusreform mit
breiter Zustimmung des Parlaments in die Hände der
Länder gegeben wurde, kann ich durch das Pflege-Neu-
ausrichtungsgesetz nicht aufheben. Das wollen wir auch
nicht tun. Das war seinerzeit eine vom Bundestag ge-
meinsam getragene Entscheidung, der auch Sie und Ihre
Fraktion zugestimmt haben. Was die Förderung betrifft,
werden wir sicherlich einen Rahmen setzen. Aber die
Ausgestaltung des Heimrechts bleibt weiterhin in den
Händen der Länder.
Im Übrigen stellen Sie hier etwas gegenüber, das
nicht gegenüberzustellen ist. Wenn es bei der Finanzie-
rung der Pflegestützpunkte Restmittel gibt und diese ver-
wendet werden, dann stellt dies die bestehenden Pflege-
stützpunkte nicht infrage. Das möchte ich klarstellen,
weil Sie gerade sagten, in Zukunft sei keine Beratung
mehr möglich. Das stimmt nicht. Vielmehr handelt es
sich um Gelder, die nicht abgerufen worden sind.
Insofern wird dadurch kein Pflegestützpunkt, der bereits
aufgebaut worden ist, infrage gestellt. So will ich das
verstanden wissen.
Es gibt ein bestimmtes Finanztableau, und wir stellen
für die Pflegewohngruppen bewusst Geld zur Verfü-
gung. Ich habe Sie so verstanden, dass Sie dies nicht
grundsätzlich kritisieren, sondern es ebenfalls für nötig
halten, neue Wohnformen zu fördern. Dadurch werden
die bereits aufgebauten Pflegestützpunkte, wie gesagt,
nicht infrage gestellt. Die mit den Pflegestützpunkten
verbundenen Hoffnungen und Erwartungen mancher
Länder haben sich nicht erfüllt. Das ist nicht parteipoli-
tisch gemeint. Auch in SPD-geführten Ländern sind
nicht so viele Pflegestützpunkte aufgebaut worden, wie
es sich manch ein SPD-Minister gewünscht hätte.
Wir haben das Ende der üblichen Befragungszeit er-
reicht. Ich habe mir noch drei Wortmeldungen notiert,
und zwar der Kolleginnen Rawert, Mattheis und
Scharfenberg. Ich schlage vor, diese Fragestellerinnen
noch aufzurufen und dann zu den übrigen Fragen zu
kommen. – Das ist offenkundig einvernehmlich.
Frau Rawert, bitte.
Herr Minister, mein Kollege Lemme hat das Thema
Pflegeausbildung vorhin schon aufgegriffen. Sie haben
gesagt, es werde jetzt zügig in Angriff genommen. Ihre
Pressesprecherin hat in den letzten Tagen mitgeteilt, es
gebe noch keinen Zeitplan für die Umsetzung der Re-
form der Pflegeausbildung. Zunächst einmal würde ich
gerne diesen Zeitplan von Ihnen erfahren. Zum anderen:
Ein großes Problem ist die Finanzierung der Reform der
Pflegeausbildung. Könnten Sie sich diesbezüglich bitte
äußern?
Herr Präsident, das ist nicht Gegenstand des Pflege-Neuausrichtungsgesetzes, sondern anderer Vorhaben,und hat mit dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz nichts zutun. Ich antworte dennoch kurz zu dem Thema.Es gibt eine Vereinbarung zwischen Bund und Län-dern über Eckpunkte, die seit Anfang März 2012 vor-liegt. Das ist gut, weil uns das einen deutlichen Schrittvorangebracht hat, die verschiedenen Ausbildungen im
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20155
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Bereich der Kranken-, Kinderkranken- und Altenpflegezusammenzuführen und hier eine generalisierte Ausbil-dung mit der Möglichkeit der Spezialisierung einzufüh-ren. Die Altenpflege spielt genauso im Krankenhauseine Rolle, wie die medizinische Versorgung im Pflege-heim eine Rolle spielt. Das heißt, die Ausbildungen müs-sen hier zusammengeführt werden.Es ist erfolgreich gelungen, Bund und Länder hier zueiner gemeinsamen Vereinbarung zu bewegen. Das isteine gute Grundlage für die jetzigen Beratungen. Überdie Finanzierung müssen wir in der Tat weiter reden undnoch entscheiden. Hier gibt es unterschiedliche Wün-sche und Vorstellungen. Ich als Bundesgesundheitsmi-nister werde meinen Beitrag dafür leisten, dass wir mitden Ländern zu einer Lösung für die Finanzierung kom-men.Im Juni wird wieder eine Gesundheitsministerkonfe-renz stattfinden. Dort wird das sicherlich auf der Tages-ordnung stehen. Ich werde mit Nachdruck und Tatendrangdaran arbeiten, dass wir schnell ein Gesetzgebungsver-fahren starten können. Ich kann aber heute noch nichtfestlegen, wann ein konkreter Gesetzentwurf vorliegenwird, weil wir das nicht alleine machen können, sondernauch hier die Länder bewusst einbinden wollen. Dasliegt in unserer gemeinsamen Zuständigkeit.
Ich habe vorhin den Kollegen Weinberg übersehen,
der sich fraglos rechtzeitig gemeldet hatte. Ihm möchte
ich jetzt das Wort geben. Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, können
Sie erläutern, wie Sie die konkreten Beträge der im
Pflege-Neuausrichtungsgesetz vorgesehenen zusätzli-
chen Leistungen für Menschen mit erheblich einge-
schränkter Alltagskompetenz zusammen ermittelt ha-
ben?
Der Hintergrund meiner Frage ist: Im Arbeitsentwurf
vom Dezember 2011 standen noch höhere Beträge. Zum
Beispiel sollte das Pflegegeld in der Pflegestufe I ur-
sprünglich um 105 Euro auf 340 Euro erhöht werden.
Jetzt ist nur noch eine Erhöhung um 70 Euro auf
305 Euro vorgesehen. Es war damals geplant, die Pfle-
gesachleistungen in der Pflegestufe II um 325 Euro auf
775 Euro zu erhöhen, jetzt ist nur noch eine Erhöhung
um 215 Euro auf 665 Euro vorgesehen.
Meine Frage lautet: Was hat dazu geführt, dass diese
Beträge jetzt abgesenkt worden sind? War das dem Rot-
stift geschuldet, oder hat sich sozusagen der pflegerische
Bedarf verändert?
Das kann ich kurz beantworten: Es ist übliches Ver-
fahren im Rahmen der Ressortabstimmung, dass man
sich zwischen den Ressorts über die Kabinettsfassung ei-
nigt. Wir haben das Ziel, dass die Verbesserungen voll-
ständig aus der Beitragssatzerhöhung finanziert werden.
Eben gab es die Sorge, dass die Belastungen für die
Pflegeversicherung durch diese Reform höher werden,
was sich ja nicht bestätigt. Im Gegenteil: Wir sorgen für
beides, nämlich mit Augenmaß für die Finanzierbarkeit
der Pflegeversicherung und gleichzeitig für Verbesserun-
gen, die den Menschen konkret zugutekommen.
Im Rahmen der differenzierteren Ausgestaltung der
bisherigen drei Pflegestufen haben wir Zwischenstufen
für Menschen mit einer Demenzerkrankung geschaffen:
Vor der Stufe I, nach der Stufe I und nach der Stufe II
werden Zwischenstufen eingeführt, und die Menschen
bekommen differenzierte Leistungen. Damit tragen wir
dem Grundgedanken Rechnung, den der Beirat zur
Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs seinerzeit
entwickelt hat, der ja auch eher ein Fünfstufenmodell
vorgestellt und gesagt hat: Wir brauchen eine differen-
ziertere Betrachtung des Betreuungsaufwandes. – Das ist
die Grundidee, die dahintersteckt: mit den vorhandenen
Ressourcen das Bestmögliche für die Betroffenen zu er-
reichen.
Frau Mattheis.
Herr Minister, ich frage Sie jetzt erstens noch einmal:
Können Sie uns hier zusichern, das Positionspapier der
SPD noch einmal genau zu lesen.
Ja.
Dann werden Sie nämlich feststellen, dass wir die
Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs
nicht mit dem Problem der Eingliederungshilfe verknüp-
fen, sondern das unabhängig davon sehen?
Zweitens. Wie bewerten Sie die Aussage des pflege-
politischen Sprechers Ihres Koalitionspartners, dass eine
Pflegereform, ordentlich durchgeführt, 6 Milliarden
Euro kosten würde?
Ich zitiere aus Ihrem Orientierungspapier.
Da heißt es – Zitat –:Die leistungsgerechten Abgrenzungen und Über-schneidungen sind daher neu zu gestalten. Hierfürist die Reform der Eingliederungshilfe voranzutrei-ben.Danach verknüpfen Sie Ihre Vorschläge noch mehrmit dem Pflegebedürftigkeitsbegriff; denn Sie sagen zurUmsetzung auf der kommunalen Ebene weiterhin – Zitat –:Zum Ausbau der kommunalen Pflegeinfrastrukturbrauchen die Kommunen eine bessere Finanzaus-stattung. Deshalb setzen wir uns für eine Weiterent-
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wicklung der Gewerbesteuer und weitere Entlastun-gen bei den Sozialausgaben ein.Das heißt, Sie kombinieren den Pflegebedürftigkeits-begriff mit den ganzen Fragen sowohl der kommunalenFinanzierung als auch der Eingliederungshilfe. Das kannman machen. Das kann man diskutieren. Das erschwertaber, dass wir beim Pflegebedürftigkeitsbegriff voran-kommen.Ich sage Ihnen – das ist meine Haltung –: Wir werdenbeim Thema Pflegebedürftigkeitsbegriff nicht weiter-kommen, wenn wir noch mehr Fragen damit verknüpfen,die nicht im Bereich der Pflege zu lösen sind, sondernkommunale Aufgaben und Fragen der Eingliederungs-hilfe sind. Vielmehr würden wir das Weiterkommendamit erschweren.Deshalb habe ich jetzt Ihren Beschluss zitiert. Ichkann ihn aber gerne noch einmal intensiver lesen. WennSie aber sagen, hierfür sei die Reform der Wiedereinglie-derungshilfe voranzutreiben, ist eindeutig eine Verknüp-fung gegeben.
– Ich habe es ja gelesen. Vielleicht sollten Sie diesen Be-schluss korrigieren;
vielleicht habe nicht nur ich ihn so missverstanden.Dann wird es vielleicht besser.
Kollegin Scharfenberg.
Vielen Dank. – Herr Minister, der Presse der letzten
Tage war zu entnehmen, dass Sie als Gesundheitsminis-
ter und der Bundesfinanzminister sich darauf verständigt
haben, dass zukünftig freiwillige private Zusatzversiche-
rungen steuerlich gefördert werden sollen. Eine freiwil-
lige Zusatzversicherung muss man sich natürlich auch
leisten können. Das heißt, man braucht das nötige Klein-
geld.
Wie können Sie denn glaubhaft den Eindruck entkräf-
ten, dass dieses Vorhaben vor allem den Gutverdienern
und der privaten Versicherungsindustrie dient,
aber nicht denen, die eine bessere Absicherung brau-
chen, sich diese aber nicht leisten können?
Ich kann diesen Eindruck entkräften, indem ich mir
eine Entscheidung einer rot-grünen Bundesregierung
zum Vorbild nehme. Ich habe großen Respekt davor,
dass es die rot-grüne Bundesregierung war, die seinerzeit
erkannt hat, dass die Altersvorsorge nicht allein auf der
gesetzlichen Rentenversicherung als Umlagesystem auf-
bauen kann, sondern private Vorsorge erforderlich ist.
Sie haben seinerzeit – ich kann das ausdrücklich begrü-
ßen – mit der Riester-Rente einen Einstieg geleistet, der
viel Akzeptanz findet. Heute haben wir rund 16 Millio-
nen Riester-Verträge.
Einen Riester-Vertrag haben nicht nur die Spitzenverdie-
ner abgeschlossen. Im Gegenteil, sehr viele Facharbeiter
mit kleinem Einkommen und sehr viele Familien neh-
men diese Förderung in Anspruch. Das hat klein begon-
nen und mittlerweile eine große Akzeptanz gefunden.
Deswegen sage ich: Es gibt noch keine Einigung in-
nerhalb der Bundesregierung über die genaue Ausgestal-
tung der Förderung. Es gibt aber den Beschluss, dass wir
die freiwillige Pflegevorsorge besser fördern wollen. Für
mich ist wichtig, dass das einfach und unbürokratisch
geschieht und dass möglichst viele Menschen davon pro-
fitieren, damit es sich für sie lohnt, privat vorzusorgen.
Wenn man schon frühzeitig mit kleinen Beiträgen an-
fängt, kann man einen erheblichen Eigenanteil leisten,
den es zu schultern gilt.
Insofern nehme ich Anleihe an die seinerzeit vom
Bundestag beschlossenen roten und grünen Ideen zur
Altersvorsorge, ohne das Konzept genau zu kopieren.
Ich glaube, das ist der richtige Weg.
Vielen Dank, Herr Minister. – Gibt es Fragen zu ande-
ren Themen der heutigen Kabinettssitzung? – Das ist
nicht der Fall. Gibt es sonstige Fragen an die Bundes-
regierung? – Es liegt eine Wortmeldung der Kollegin
Enkelmann vor.
Danke, Herr Präsident. – Der Deutsche Städte- und
Gemeindebund hat festgestellt, dass noch circa 200 000
Betreuungsplätze an Kitas sowie Tausende von Erziehe-
rinnen und Erziehern fehlen. Ab 2013 soll ein Betreu-
ungsanspruch für jedes Kind von unter drei Jahren gel-
ten. Was will die Bundesregierung unternehmen, um
diese Entscheidung, die auf Bundesebene getroffen wor-
den ist, umzusetzen, oder will sie die Kommunen tat-
sächlich im Regen stehen lassen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Kues, vielleicht
erheben Sie sich und erklären, ob und was Sie dazu er-
klären können.
Ich stehe auch.
D
Ich fühlte mich nicht angesprochen. Ich dachte, esgehe um die Kabinettsbefassung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20157
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Nein. Man kann auch sonstige Fragen stellen. Diese
Möglichkeit habe ich genutzt.
D
Können Sie die Frage bitte wiederholen?
Haben Sie gar nicht zugehört?
Dr
Nein.
Das ist nun wirklich nicht zu beanstanden. Der Kol-
lege Kues konnte nicht wissen, dass Sie eine Frage stel-
len, die er möglicherweise beantworten kann und soll.
Wenn Sie freundlicherweise noch einmal sagen, wo-
rum es geht.
Herr Präsident, ich wiederhole die Frage natürlich
gerne. Ich finde aber, wenn wir uns hier im Parlament
bewegen, sollten wir schon einander zuhören.
Es geht um folgende Frage: Der Deutsche Städte- und
Gemeindebund hat festgestellt, dass bundesweit noch
etwa 200 000 Betreuungsplätze in Kitas und Tausende
von Erzieherstellen fehlen. Außerdem gibt es die Ent-
scheidung der Bundesregierung, ab dem Jahr 2013 einen
Betreuungsanspruch für Kinder von unter drei Jahren
durchzusetzen. Die Frage ist: Was tut die Bundesregie-
rung, um diesen Betreuungsanspruch durchzusetzen,
oder will sie die Kommunen tatsächlich im Regen stehen
lassen?
D
Nein, wir wollen die Kommunen natürlich nicht im
Regen stehen lassen. Wir haben eine Vereinbarung mit
den Ländern und den Kommunen getroffen. Wir haben
ein Programm aufgelegt, das in der Tat bis 2013 umge-
setzt werden soll. Dafür gibt es einen rechtlichen Rah-
men. Es gibt auch einen finanziellen Rahmen in der
Form, dass der Bund 4 Milliarden Euro, die Länder
4 Milliarden Euro und die Kommunen 4 Milliarden Euro
zur Verfügung stellen.
Wir drängen darauf, dass dieses Programm umgesetzt
wird. Wir veröffentlichen regelmäßig die Zahlen. Wir
halten auch die Länder an, darauf zu achten – einzelne
Länder melden sich –, die Vorgaben umzusetzen. Uns
steht als Bund keine Maßnahme zur Verfügung, um die
Länder zu einem beschleunigten Ausbau zu zwingen.
Aber wir sind im ständigen Gespräch mit den Ländern,
um zum Ziel zu kommen.
Im Übrigen wird es auch einen gewissen Wettbewerb
zwischen den Ländern, aber auch zwischen einzelnen
Regionen geben, weil einzelne Regionen längst so weit
sind, diesem Anspruch zu genügen, auch wenn sie keine
anderen finanziellen Bedingungen als solche Kommu-
nen haben, die nicht so weit sind. Man wird politisch
darüber zu diskutieren haben, weshalb einzelne Regio-
nen das schaffen und andere nicht. Aber wir bemühen
uns, das Ganze zu begleiten, sodass wir das Ziel 2013 er-
reichen können.
Ich beende damit die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksache 17/9084 –
Ich rufe die mündlichen Fragen in der üblichen Rei-
henfolge auf.
Die Frage 1 der Kollegin Dr. Tackmann zum Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz wird schriftlich
beantwortet.
Gleiches gilt für die Fragen 2 und 3 der Kollegin
Dağdelen, die Frage 4 der Kollegin Keul und die Frage 5
des Kollegen Nouripour im Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums der Verteidigung.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Der Kollege Kues kann zur Beantwortung der Fragen
gleich stehen bleiben.
Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Daniela Kolbe auf:
Welche erfolgreichen Modellprojekte in der präventiv-
pädagogischen Arbeit mit rechtsextremistisch orientierten
Jugendlichen sind der Bundesregierung bekannt?
Dr
Darauf will ich gerne antworten. Bei den pädagogi-schen Angeboten geht es darum, mit Jugendlichen, diesich in rechtsextremistischen Organisationen bewegenund entsprechend ausgerichtet sind, zu arbeiten und ei-ner Verfestigung dieser Einstellung entgegenzuwirken.Das passierte schon 2007 bis 2010 im Rahmen des Bun-desprogramms „Vielfalt tut gut“.Es gibt insgesamt 18 Modellprojekte. Ich will Ihnendrei erfolgreiche nennen. Erstens: Das Projekt des Trä-gers „Gesicht Zeigen!“ für gefährdete Hauptschüler. Fürdie Arbeit mit Hauptschülern ist damit ein neues Kon-zept erarbeitet worden. Zweitens: Bei dem Projekt desTrägers „Arbeit und Leben“ ging es um junge Menschenin strukturschwachen Regionen und Kommunen. Drit-tens: Das Projekt der DGB-Jugend Rheinland-Pfalz hatals Zielgruppe ebenfalls junge Menschen in struktur-schwachen Regionen und Kommunen.
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Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues
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In Schulen, die den Titel „Schule ohne Rassismus –Schule mit Courage“ tragen, sind Lernorte geschaffenworden, um die Jugendlichen zur Reflexion anzuregen.Auch das aktuelle Bundesprogramm nimmt das auf,nämlich die Auseinandersetzung mit rechtsextremistischorientierten Jugendlichen. Hier werden aktuell 14 Mo-dellprojekte gefördert, die im Herbst 2011 gestartet sind.Ich nenne Ihnen einige wichtige Träger und Partner:Amadeu-Antonio-Stiftung, Miteinander e. V., das Lan-desamt für Soziales, Jugend und Versorgung in Rhein-land-Pfalz. Ergebnisse können natürlich noch nicht vor-liegen, weil die Projekte erst im Herbst des vergangenenJahres begonnen wurden.
Zusatzfrage.
Ich habe diese Frage vor allen Dingen deshalb ge-
stellt, weil in den Antworten der Bundesregierung zum
Thema Kampf gegen Rechtsextremismus dieser Passus
der präventiv-pädagogischen Arbeit mit rechtsextremis-
tisch orientierten Jugendlichen verstärkt auftaucht. Sie
haben jetzt Projekte aus der Vergangenheit genannt.
„Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ würde
ich zum Beispiel eher in den Bereich Prävention und
Stärkung der Zivilgesellschaft einordnen, also eine
Schule als Gemeinschaftsraum stärken, damit dort
Rechtsextreme nicht Fuß fassen können.
Sie scheinen den Fokus gerade relativ stark zu ver-
schieben. Meine Nachfrage ist deshalb: Kann man von
einem Paradigmenwechsel der Bundesregierung im Hin-
blick auf den Kampf gegen Rechtsextremismus sprechen
und davon, dass sie sich umorientiert?
Dr
Nein, davon kann man nicht sprechen. In den Pro-
grammen für Vielfalt und Toleranz kommt zum Aus-
druck: Wenn Sie die Arbeit mit Jugendlichen konsequent
angehen, dann werben Sie für Pluralismus und sprechen
sich dadurch letztlich gegen Extremismus jeglicher Art
aus. Aber die Akzente verschieben wir ausdrücklich
nicht; vielmehr waren die allgemeinen Programme, die
auch Sie kennen und die es seit vielen Jahren gibt, im-
mer geeignet, etwas gegen Rechtsextremismus zu tun,
und sie sind dort anzusiedeln.
Ich habe noch eine zweite Nachfrage. Der Passus hat
mich ein bisschen an das erinnert, was man früher ak-
zeptierende Jugendarbeit genannt hat, bei der der Fokus
stark auf Jugendliche gelegt wird, die schon rechtsextre-
mistisch orientiert sind. Das kann man machen, und mir
sind auch Programme bekannt, die das durchaus erfolg-
reich umsetzen. Allerdings geht man mit solchen Pro-
grammen auch immer das Risiko ein, die Rechtsextre-
men noch zu stärken, sie stärker in die Szene zu bringen
und ihnen Räume oder sogar ganze Jugendklubs zu öff-
nen. Wenn ich böse wäre, würde ich jetzt an die drei
Neonazis erinnern, die in einem Jugendklub in Jena ver-
kehrten, in dem es eine solche akzeptierende Jugendar-
beit gab.
Inwiefern ist Ihnen bewusst, dass für diese Arbeit sehr
hohe Qualitätsstandards notwendig sind?
Dr
Frau Kollegin, ich habe bewusst einige Stiftungen ge-
nannt, die auf dem Gebiet arbeiten und, glaube ich, un-
verdächtig sind, gegenüber rechtsextremistisch gepräg-
ten Jugendlichen nicht hinreichend kritisch zu sein. Ich
finde das nicht ganz unwichtig. Keine der Einrichtungen,
die ich eben genannt habe, steht in dem Verdacht, man-
gelndes Gespür zu haben. Im Gegenteil: Ich finde es gut,
dass sie sich dieser Aufgabe stellen und offenkundig
auch die Notwendigkeit sehen, das zu tun. Die Amadeu-
Antonio-Stiftung beispielsweise, die auch Sie kennen, ist
dafür bekannt. Sie hat ein hohes Ansehen und arbeitet
seit vielen Jahren erfolgreich in diesem Bereich.
Bitte schön, Frau Kollegin Pau.
Herr Staatssekretär, wir haben Anfang des Jahres er-
fahren, dass Ihr Ministerium und das Bundesinnenminis-
terium ein Kompetenzzentrum gründen wollen, welches
offensichtlich die Erfahrungen dieser Arbeit bündeln
soll. Inwieweit beziehen Sie sich auch schon auf die
Evaluation solcher Projekte bzw. welches Handwerk-
zeug holen Sie sich beispielsweise von Stiftungen wie
der Amadeu-Antonio-Stiftung, um der Gefahr entgegen-
zutreten, dass gerade Rechtsextremen mit einem schon
verfestigten neonazistischen Weltbild mit Steuermitteln
gefördert eine öffentliche Bühne geboten wird?
Dr
Frau Kollegin, ich glaube, Letzteres darf nicht derFall sein. Wir haben aber einen Beirat und beziehen dortausdrücklich verschiedenste Träger der politischen Ju-gendbildung, die ich eben teilweise genannt habe, mitein. Man muss dabei sicherlich Obacht geben, aber wirmachen das als Bundesregierung auch nicht allein, son-dern wir arbeiten mit den Ländern über die Landes-jugendämter bei verschiedenen Projekten zusammen,auch wenn sie strittig gewesen sind. Es ist auch nie aus-geschlossen, dass Projekte jeweils überprüft und gekipptwerden, wenn sie den Anforderungen nicht genügen.Ich glaube, wir gehen durchaus mit einer hinreichen-den Sensibilität vor. Wenn Sie andere Beobachtungengemacht haben, dann sollten Sie sie mir mitteilen. Mirist dazu nichts bekannt.Das Zentrum gegen Rechtsextremismus hat zum Ziel,dass alle Erfahrungen, die in diesem Zusammenhanggesammelt worden sind, auch in der allgemeinen politi-
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Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues
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schen Jugendbildung nutzbar gemacht werden. Dortwerden wir das Ganze auch ansiedeln.
Kollege Beck.
Ich habe in diesem Zusammenhang eine Rechtsfrage
an das Ministerium. Ich möchte bezogen auf die Frage
von Frau Kolbe nachfragen, wie sich präventiv-pädago-
gische Projekte rechtlich mit der Unterzeichnung der
Extremismusklausel vertragen
und wie Sie diese rechtlich in diesem Zusammenhang
auslegen. Wenn Sie das jetzt nicht aus juristischer Sicht
beantworten können, dann hätte ich dazu gerne – das
meine ich jetzt ernsthaft – eine Ausarbeitung Ihrer
Rechtsabteilung; denn ich verstehe das nicht.
Dr
Die Extremismusklausel bedeutet, dass jemand erklä-
ren muss, dass er mit Partnern zusammenarbeitet, die
sich dem Grundgesetz verpflichtet fühlen. Es geht nicht
um die Zielgruppe im Einzelnen. Von betroffenen
Jugendlichen wird nicht verlangt, dass sie sich im Sinne
der Extremismusklausel äußern, sondern die Träger der
politischen Bildungsarbeit müssen eine Erklärung ab-
geben.
Wie Sie wissen, Herr Beck, tun sie es überwiegend,
bis auf sehr wenige Ausnahmen. Gerade auch die Ama-
deu-Antonio-Stiftung hat das bei den verschiedensten
Projekten getan.
Das ist hier immer wieder ein Thema, und das ist auch in
Ordnung. Aber es ist in der Breite der Träger kein
Thema.
Jetzt rufe ich die Frage 7 der Kollegin Kolbe auf:
Sind der Bundesregierung erfolgreiche präventiv-pädago-
gische Projekte bekannt, die mit ganzen Gruppen von rechts-
extremistisch orientierten Jugendlichen arbeiten, und, wenn
ja, welche?
Dr
Ich habe diese Frage eben schon beantwortet; was für
die Frage 6 gilt, gilt auch hier. Natürlich geht man bei
der präventiv-pädagogischen Arbeit immer von der Ar-
beit mit Gruppen aus. Insofern gilt das Gleiche, was ich
bei der Beantwortung der Frage 6 gesagt habe.
Frau Kolbe, eine Nachfrage.
Herr Dr. Kues, dem möchte ich zunächst einmal wi-
dersprechen. Es ist schon eine bewusste Entscheidung,
mit einer ganzen Gruppe von rechtsextremistisch orien-
tierten Jugendlichen zu arbeiten. Man muss schon ein
großes Vertrauen in die Trainer haben, wenn man glaubt,
dass man das bewältigt.
Sie haben jetzt Mittel für das Modellprogramm
„Dortmund den Dortmundern“ bewilligt. Soweit ich in-
formiert bin, sollen in dieses Programm 300 000 Euro
fließen. Im Rahmen dieses Programms wird mit einer
ganzen Gruppe von etwa 20 organisierten autonomen
Nationalisten gearbeitet werden. Ich möchte Sie schon
fragen, was für eine Zielstellung Sie damit verfolgen.
Was glauben Sie in den Köpfen von 20 autonomen Na-
tionalisten, die in ein und demselben Raum sitzen, bewe-
gen zu können? Auf welcher Ebene – Einstellungsebene,
Verhaltensebene – glauben Sie etwas bewegen zu kön-
nen?
Dr
Wir müssen uns über dieses Projekt im Einzelnen un-
terhalten. Wie Sie wissen, führen wir es zusammen mit
der Stadt Dortmund durch. Sie hat ein Interesse daran
bekundet, auch was eine methodische Auswertung an-
geht. Die Stadt Dortmund hat sich nach einer politischen
Debatte aus diesem Projekt zurückgezogen. Wir werden
uns damit noch im Einzelnen zu beschäftigen haben.
Beispielsweise im Falle von Fußballfans, bei denen
man den Verdacht hat, dass es in ihr rechtsextremistisch
ausgerichtete Jugendliche gibt, arbeitet man im Rahmen
einer Gruppe. Man geht davon aus, dass man dabei die
entsprechenden Fragestellungen aufwerfen und bei dem
einen oder anderen Nachdenklichkeit hervorrufen kann.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ich habe verschiedene Wissenschaftler darauf ange-sprochen. Es gibt ja erfolgreiche Projekte, zum Beispieldas Violence Prevention Network, bei dem mit rechts-extrem eingestellten Personen, die in Gefängnissen sind,gearbeitet wird. Wenn man die Mitarbeiter solcher Pro-jekte fragt, was sie von diesem Projekt halten, bei demes um eine ganze Gruppe von rechtsextremen Jugendli-chen geht, dann antworten sie: Die Wahrscheinlichkeitdes Scheiterns ist extrem hoch; es ist sogar möglich, dassman damit in die falsche Richtung wirkt, dass Rechts-extreme noch stärker in die Szene hineinrutschen unddass man ihnen Räume öffnet. Was entgegnen Sie denen,die das behaupten?
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Dr
Wir müssen die Methoden derjenigen, die solche Pro-
jekte durchführen, immer wieder überprüfen und dahin
gehend auswerten, ob sie geeignet sind oder nicht. Wir
lassen uns bei solchen Projekten auch von Fachleuten
beraten; das wissen Sie. Das ist für uns letztlich die
Grundlage für die Entscheidung, ob wir solche Projekte
weiter durchführen.
Ich gebe gerne zu, dass sich ein solches Projekt und
auch die Bedingungen, unter denen es abläuft, weiterent-
wickeln; schließlich sammeln wir Erfahrungen in diesem
Bereich. Wir haben mittlerweile einen Schwerpunkt ent-
wickelt, der über das hinausgeht, was in den vergan-
genen Jahren passiert ist. Wir werden immer wieder zu
hinterfragen haben, ob unser Vorgehen hinreichend ist.
Dafür muss man über die einzelnen Projekte reden. Da-
rüber tauschen wir uns auch mit Fachleuten aus, und aus
diesem Austausch ziehen wir Konsequenzen.
Im Übrigen handelt es sich nicht um alleinige Ent-
scheidungen der Bundesregierung; vielmehr erfolgt un-
ser Handeln in der Regel in enger Abstimmung mit den
Landesjugendämtern und den Jugendbehörden.
Kollege Beck.
Noch einmal zur Klarstellung: Die Amadeu-Antonio-
Stiftung kritisiert diese Extremismusklausel ebenfalls,
obgleich sie sie unterzeichnet hat.
Dr
Sie hat sie aber unterschrieben.
Ja. Trotzdem wollen wir hier nicht so tun, als ob eine
Unterschrift eine Zustimmung zur Methode wäre.
Da ich ein schlichtes Gemüt habe, wollte ich Sie ein-
fach fragen, wie sich der Wortlaut der von Ihnen gefor-
derten Erklärung mit dieser Art von Projekten verträgt.
Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass ein solches Vor-
gehen sinnvoll sein kann. In dem zu unterschreibenden
Text heißt es:
Als Träger der geförderten Maßnahme haben wir
zudem im Rahmen unserer Möglichkeiten … und
auf eigene Verantwortung dafür Sorge zu tragen,
dass die als Partner ausgewählten Organisationen,
Referenten etc. sich ebenfalls zu den Zielen des
Grundgesetzes verpflichten. Uns ist bewusst, dass
keinesfalls der Anschein erweckt werden darf, dass
einer Unterstützung extremistischer Strukturen
durch die Gewährung materieller oder immateriel-
ler Leistungen Vorschub geleistet wird.
Das ist selbst bei einem erfolgreichen Projekt in der An-
fangsphase schlechterdings nicht zu machen.
Dr
Herr Beck, ich möchte Ihnen zunächst nicht bestäti-
gen, dass Sie ein schlichtes Gemüt sind, sondern aus-
drücklich das Gegenteil betonen.
Sie haben allerdings selbst vorgelesen, dass es um die
Organisation geht.
– Da ist von Organisationen und Referenten die Rede.
Es sagt nichts darüber aus, ob man mit extremistisch
ausgerichteten Jugendlichen zusammenarbeitet bzw. ob
man sie mit einbezieht oder nicht. Wenn Sie es also ge-
nau lesen – Sie haben es ja richtig zitiert – und richtig
deuten, dann wissen Sie, dass es kein Problem ist.
Frau Kollegin Pau, die sicherlich auch kein schlichtes
Gemüt ist, hat nun das Wort. Bitte schön.
Davon gehe ich aus.
Ich möchte auf die zweite Nachfrage der KolleginKolbe eingehen. Sie hat den Titel des Dortmunder Pro-jektes hier genannt; ich möchte es nicht wiederholen. Dabei der Beantragung des Projekts nicht aufgefallen ist,dass in dem Titel eine Problematik steckt, möchte ichwissen, wie die Bundesregierung aus heutiger Sicht dieTatsache beurteilt, dass sich nach Veröffentlichung die-ses Projekts mehrere Nationalisten auf einschlägigen In-ternetseiten bereit erklärten, sich der Diskussion zu stel-len, um dem breiten politisch interessierten Publikumvor Augen zu führen, warum ein radikaler Politikwech-sel in unserem Land unumgänglich ist. Das heißt, hierbieten sich Referenten und Diskutanten aus der bekann-termaßen gewaltbereiten rechtsextremen Szene an, diePlattform, die ihnen hier geboten wird, zu nutzen, umihre menschenverachtenden Positionen nun im Rahmendieses Programmes zu propagieren. Ich wüsste gerne,wie die Bundesregierung das bewertet und welche Kon-sequenzen gezogen werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20161
(C)
(B)
Dr
Ich will mich gerne noch einmal genauer informieren.
Mein Kenntnisstand ist, dass die Grundlage für diese
Entscheidung der aus der Problemlage resultierende
Handlungsbedarf, die Erfahrungen des Trägers in diesem
Tätigkeitsbereich und ein fachliches Votum gewesen
sind. Das heißt, Fachleute sind gebeten worden, das
Ganze zu beurteilen. Beispielsweise ist das Jugendamt
Dortmund um eine Einschätzung gebeten worden, ob
das Programm vom fachlichen und auch methodischen
Vorgehen her geeignet sei. Darüber hinaus ging es um
die Modellhaftigkeit und den Innovationsgehalt. All das
wurde mit berücksichtigt.
Sie sagen jetzt, eine rechts bzw. nationalistisch aus-
gerichtete Gruppe habe das als Aufhänger genommen,
um ihre Dienste anzubieten. Ich muss das erst einmal so
zur Kenntnis nehmen; gelesen habe ich das auch. Bis
jetzt hatte ich keinen Anlass, anzunehmen, dass es falsch
sei. Um dieses Projekt, das so bewertet worden ist, jetzt
schon abzubrechen, müsste man zu Erkenntnissen kom-
men, die in die Richtung gehen, die Sie gerade angedeu-
tet haben. Aber ich will das gerne noch einmal überprü-
fen.
Weitere Wortmeldungen sehe ich hierzu nicht. Damit
sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Vielen
Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Gesundheit. Die Fragen 8 und 9 der
Kollegin Kathrin Vogler werden schriftlich beantwortet.
Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Die Frage 10 des Kollegen Dr. Anton Hofreiter, die Fra-
gen 11 und 12 des Kollegen Stephan Kühn, die Fra-
gen 13 und 14 des Kollegen Gustav Herzog sowie die
Fragen 15 und 16 des Kollegen Sören Bartol werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 17 des Kollegen Seifert auf:
Inwieweit hält die Bundesregierung angesichts des Anteils
von nur 1,6 Prozent barrierefreien bzw. barrierearmen Woh-
nungen am Gesamtbestand von 40,5 Millionen Wohnungen
nen Aktivitäten zur Schaffung von barrierefreien Wohnungen
im Neubau und zum Abbau von Barrieren im Wohnungs-
bestand für ausreichend, und was wird sie tun, um sich – auch
mit Blick auf Art. 31, Statistik und Datensammlung, der UN-
Behindertenrechtskonvention – einen besseren Überblick über
Fragen der Barrierefreiheit bei Wohnungen in Deutschland zu
verschaffen?
Ich bitte den Kollegen Ferlemann um Beantwortung.
E
Sehr geehrter Herr Präsident! Ich gebe folgende Ant-
wort:
Die Ausweitung des Angebots an barrierefreien bzw.
barrierereduzierten Wohnungen ist ein wichtiges Anlie-
gen der Bundesregierung. Sie ist daher bemüht, die Ei-
gentümer und Investoren sowie die bauplanenden und
bauausführenden Berufe für den Abbau von Barrieren
im Bestand sowie für die Vermeidung von Barrieren
beim Neubau zu sensibilisieren. Dazu dienen unter ande-
rem das KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“ so-
wie die hierzu geförderten Modellprojekte. Die Bundes-
regierung geht davon aus, dass auch die Länder, auf die
im Rahmen der Föderalismusreform I die Zuständigkeit
für die Wohnungsbauförderung ab 2007 vollständig
übergegangen ist, das gleiche Anliegen verfolgen.
Um Fortschritte bei der Anpassung des Wohnungsbe-
standes festzustellen, stehen der Bundesregierung ver-
schiedene Möglichkeiten zur Verfügung. So gaben 2007
in einer repräsentativen BBR-Bevölkerungsumfrage
30 Prozent der befragten Haushalte an, in einer barriere-
frei erreichbaren Wohnung zu leben.
Ferner hat die Bundesregierung zum Beispiel beim
DIW dafür geworben, das Thema Barrierefreiheit in das
Erhebungsprogramm des Soziooekonomischen Panels
aufzunehmen. Seit dem Jahr 2009 werden dort Anpas-
sungsmaßnahmen für barrierefreies, altengerechtes
Wohnen sowie das Vorhandensein eines Aufzugs erfasst.
Ergebnis: 8 Prozent der Haushalte hatten im Jahr 2010
einen Aufzug/Fahrstuhl im Haus zur Verfügung. Bei
0,4 Prozent der Eigentümer- und Mieterhaushalte sind
seit Anfang 2009 in den Wohnungen Anpassungsmaß-
nahmen für barrierefreies, altengerechtes Wohnen vorge-
nommen worden.
Art. 31 der UN-Behindertenrechtskonvention ver-
pflichtet die Vertragsstaaten zur Sammlung geeigneter
Informationen zur Situation von Menschen mit Behinde-
rungen. Im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung die-
ser Konvention hat die Bundesregierung beschlossen, ei-
nen neuen Bericht über die Lebenslagen von Menschen
mit Behinderungen zu konzipieren. Der Bericht soll ein
solides Datenfundament bereitstellen, das die tatsächli-
che Situation von Menschen mit Behinderungen anhand
von ausgewählten Lebenslagen darstellt. Der indikato-
rengestützte Bericht wird zukünftig die Grundlage für
zielgerichtetes politisches Handeln im Bericht zur Teil-
habe von Menschen mit Behinderungen sein. In diesem
Zusammenhang wird auch das Thema Wohnen für Men-
schen mit Behinderungen eine Rolle spielen.
Kollege Seifert.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Zahlen. Ei-nige muss ich mir im Protokoll noch einmal in Ruhe an-sehen.Ich darf darauf hinweisen, dass es beim Thema Bar-rierefreie Bauten nicht nur darum geht, wo Menschenmit Behinderungen jetzt wohnen, sondern unter anderemauch darum, wohin sie in Zukunft ziehen können, sowiedarum, wie erreicht werden kann, dass Menschen, diejetzt noch gar nicht in der Situation sind, mit irgendwel-chen Mobilitätseinschränkungen zu tun zu haben, woh-nen bleiben können, wenn sie einmal in diese Situation
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20162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
Dr. Ilja Seifert
(C)
(B)
kommen. Insofern verstehe ich nicht, wieso Sie nur an-regen und darauf hinwirken wollen, das zu berücksichti-gen. Es geht doch darum, gesetzlich festzulegen, dasszukünftig keine neuen Barrieren mehr errichtet werdendürfen.Wir bräuchten auch ein Programm, um bestehendeBarrieren zu beseitigen. Sie haben auf das KfW-Pro-gramm „Altersgerecht Umbauen“ hingewiesen. Aber dieMittel werden immer weiter heruntergefahren. Da istnicht gerade ein Fortschritt, sondern eher ein Rückschrittzu erkennen. Was wollen Sie konkret gesetzlich tun, dasszukünftig keine neuen Barrieren mehr errichtet werden,und welche Programme haben Sie, bestehende Barrierenzu beseitigen?E
Sehr geehrter Kollege, ich habe schon darauf hinge-
wiesen: Die Zuständigkeit für die Wohnungsbauförde-
rung ist komplett auf die Bundesländer übergegangen.
Das ist ein Ergebnis der Föderalismusreform I. Nun
kann man darüber diskutieren, ob das sinnhaft war oder
nicht; aber die Entscheidungen sind so gefallen. Mithin
sind die Bundesländer für die Umsetzung der Pro-
gramme verantwortlich. Wir geben Geld aus dem Haus-
halt des BMVBS, und die Länder entscheiden in eigener
Zuständigkeit darüber, wie sie dies in der Wohnungs-
bauförderung einsetzen.
Gleichwohl ist es natürlich so, dass wir versuchen, an
vielen Punkten Auflagen durchzubringen. Denken Sie an
all die Programme im Bereich der Mobilität, die wir un-
terstützen und fördern; das ist Ihnen ja bekannt. Natür-
lich weisen wir die Bundesländer in den gemeinsamen
Bauministerbesprechungen darauf hin, dass wir auf die-
ses Thema großen Wert legen. Das hängt vor allem da-
mit zusammen, dass wir im Zuge der demografischen
Entwicklung – da haben Sie vollkommen recht – in Zu-
kunft deutlich mehr Wohnungen brauchen, die barriere-
frei gebaut sind. Deswegen fordern wir die Länder im-
mer wieder auf, einen besonderen Schwerpunkt darauf
zu setzen.
Weitere Zusatzfrage?
Ja, gern, Herr Präsident. – Gegen die Einführung der
Kleinstaaterei kann ich momentan nichts tun. Das ist Ge-
schichte; da haben Sie recht. Das ändert aber nichts an
der Tatsache, dass es ein Baugesetzbuch gibt. Niemand
in diesem Lande käme auf den Gedanken, ein Haus ohne
Blitzableiter oder ohne Brandschutzmaßnahmen zu
bauen; denn das ist im Baugesetzbuch festgelegt. Warum
schreiben Sie nicht ins Baugesetzbuch, dass es verboten
ist, so zu bauen, dass damit Barrieren verbunden sind?
Es ist ja nicht so, dass der Bund überhaupt keine Mög-
lichkeiten hätte, lenkend einzugreifen und etwas ver-
bindlich zu machen.
Im Übrigen fehlt mir immer noch die Aussage zu
Maßnahmen, Programmen oder wie auch immer, die Sie
über die Länder abwickeln und die das Ziel haben, beste-
hende Barrieren abzubauen. Das sind ja zwei verschie-
dene Bereiche. Das eine ist, zu verhindern, dass neue
Barrieren entstehen – das müsste ab sofort zu 100 Pro-
zent machbar sein –, und das andere ist, bestehende Bar-
rieren zu beseitigen. Es geht momentan um den Woh-
nungsbestand. Ich rede nicht vom Verkehrswesen. Das
ist ein anderes Thema; dort gibt es aber ähnliche Pro-
bleme.
E
Ich muss Sie leider enttäuschen und wieder darauf
hinweisen: Für die Wohnraumförderung sind wir nicht
zuständig.
Wir können den Ländern in dem Sinne keine Vorgaben
machen. Das ist Ausfluss der Föderalismusreform.
Zu Ihrer Frage, ob wir im Baugesetzbuch solche Re-
gelungen aufnehmen: Nein, das machen wir grundsätz-
lich nicht. Das wird untergesetzlich geregelt, auch in
einzelnen Baunutzungsverordnungen, die die Länder er-
lassen, im Zuge von Baugenehmigungen sogar auch von
den kommunalen Behörden. Wie ich aus eigener An-
schauung weiß, wird zumindest bei öffentlichen Gebäu-
den sehr stark darauf geachtet, dass die Auflagen einge-
halten werden. Es wird aber auch bei vielen Neubauten
darauf geachtet und hingewirkt, diese Auflagen einzu-
halten.
Frau Enkelmann.
In vielen Kommunen gibt es einen Beschluss zum
barrierefreien Bauen. So gibt es in meiner Heimatstadt
Bernau das Projekt „Bernau Barrierefrei“; Ähnliches
gibt es auch in vielen anderen Städten. Das schließt den
Wohnungsbau und die Infrastruktur ein. Wäre es nicht
denkbar, zur Unterstützung solcher Initiativen ein Bun-
desförderprogramm aufzulegen, um Kommunen zu hel-
fen, denen es schwer fällt – so etwas kostet natürlich
mehr, als wenn man einfach nur drauflosbaut –, entspre-
chende Beschlüsse zu fassen?
E
Sehr geehrte Frau Kollegin, denkbar wäre ein solchesProgramm.
Dafür braucht man nur erhebliche zusätzliche Bundes-mittel.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20163
(C)
(B)
Weitere Wortmeldungen außer lautstarken Appellen
kann ich im Augenblick nicht registrieren.
E
Herr Präsident, wenn ich auf die Zwischenrufe einge-
hen darf: Es steht nicht der Bundesregierung zu, dieses
Geld bereitzustellen. Das ist Sache des Bundestages. Da
können Sie, Frau Kollegin, gerne einen entsprechenden
Antrag stellen.
Hier werden qua Zuruf wechselseitig interessante An-
regungen ausgetauscht. Diese gehen alle zu Protokoll,
und wir warten einmal ab, wer sie wann in welcher
Weise aufgreift.
Ich bedanke mich, Herr Staatssekretär Ferlemann.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Ministeriums
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf.
Wenn ich es richtig sehe, ist der Kollege Nink nicht
da. Seine beiden Fragen 18 und 19 werden schriftlich be-
antwortet.
Ich rufe die Frage 20 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl
auf:
Welche aktuellen bzw. aus den letzten Jahren stammenden
gemessenen Strahlenhöchstwerte/Ortsdosisleistungen bei Ka-
vernenlagern/Lagern für mittelradioaktive Abfälle von AKW-
Standorten sind dem Bundes-
ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit,
BMU, durch schriftliche oder mündliche Auskünfte seitens
Ich bitte die Kollegin, Frau Staatssekretärin Reiche,
um Beantwortung.
Ka
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Kollegin Kotting-
Uhl, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Dem Bundes-
umweltministerium ist durch die Veröffentlichung auf
der Internetseite des Ministeriums für Justiz, Gleichstel-
lung und Integration des Landes Schleswig-Holstein ein
Messwert von 500 Millisievert pro Stunde in einer Ka-
verne des Kernkraftwerks Brunsbüttel zwischen den dort
lagernden Fässern bekannt. Sperrbereiche wie die
Kavernen und Lagerstätten sind gemäß Strahlenschutz-
verordnung grundsätzlich nicht zugänglich. Durch Ab-
schirmungen wird sichergestellt, dass außerhalb der
Sperrbereiche gefahrlos gearbeitet werden kann. Zur
Vermeidung von Gesundheitsgefährdungen werden in
Kontrollbereichen Ortsdosisleistungen von fest instal-
lierten Messeinrichtungen permanent überwacht. Diese
Daten liegen den Aufsichtsbehörden der Länder vor.
Bitte sehr, Zusatzfrage.
Meine erste Frage wäre eine Frage zum Verständnis:
Wenn da mehrere Fässer korrodiert sind und es eine
Ortsdosisleistung von 500 Millisievert gibt – das ist ja
nun brandgefährlich; da sind wir uns sicher alle einig –,
wie muss ich mir dort das Arbeiten konkret vorstellen?
Ka
Das ist ein Sperrbereich. Da kommen Mitarbeiter
nicht hinein. Das Bewegen der Fässer wird mit Greif-
armen absolviert. Deswegen bezieht sich auch die ge-
messene Dosisleistung zwischen den Fässern nicht auf
eine Strahlung, die auf Menschen treffen könnte. Der
Bereich ist abgesperrt; Menschen haben keinen Zugang.
Die Absperrungen erfolgen so, dass die gemessenen Do-
sisleistungen nicht in die Umwelt gelangen.
Vielleicht ein Vergleich, der das plastisch macht: Sie
messen auch nicht in Castorbehältern die Ortsdosisleis-
tung, sondern außerhalb. Unter Ortsdosisleistung ver-
steht man die Leistung einer Strahlung, die tatsächlich
auf eine Person treffen würde. Das ist hier nicht der Fall.
Gut, ich nehme das einmal so hin. – Noch eine andere
Frage im Anschluss daran: Ich habe auf eine Frage an
das Bundesumweltministerium, welchen Überblick man
über Kavernen in anderen Kernkraftwerken hat, die Ant-
wort bekommen:
Der Bundesregierung liegt keine Übersicht über
Kavernen in den Kernkraftwerken und deren Nut-
zung vor … Auch die Zahl der möglicherweise
noch dort gelagerten Abfallgebinde ist nicht be-
kannt.
Ich habe des Weiteren inzwischen die Antwort be-
kommen, dass die Länder Ende April vor dem Bund-
Länder-Ausschuss Berichte abgeben sollen, in denen es
genau um diese Frage geht. Es geht um ein einigermaßen
brisantes Szenario. Deshalb habe ich die Frage – Sie ha-
ben das erste Schreiben vom MJGI aus Schleswig-Hol-
stein am 2. März erhalten –, warum diese Berichte erst
Ende April abgegeben werden sollen und nicht schon
vorher schriftliche Berichte eingefordert werden. Die
Länder müssen ja über die Lage informiert sein. Warum
fordert das BMU nicht innerhalb dieser zwei Monate bis
Ende April schriftliche Informationen über die Sachlage
ein?
Ka
Das Bundesumweltministerium hat versucht, sicheinen Überblick zu verschaffen. Die Kontakte zu denLändern sind da; in diesem Zusammenhang wurde derTermin im April vereinbart. Wir können Ihnen zum heu-tigen Zeitpunkt keinen kompletten Überblick geben.
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20164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
(C)
(B)
Aber die Informationen, die wir haben, haben wir Ihnenzur Verfügung gestellt.Sie haben gesagt, es gebe viele korrodierte Fässer. Essind aber zum Beispiel fast 650 Fässer umkonditioniertworden, davon 211 aus der Kaverne, von der wir spre-chen. Die Fässer müssen ja für Schacht Konrad konditio-niert werden. Dort wurde keine Auffälligkeit festgestellt.Wir tragen jetzt die Daten zusammen und wollen siedann gemeinsam auswerten.
Dann rufe ich jetzt die Frage 21 der Kollegin Sylvia
Kotting-Uhl auf:
Seit wann genau im Herbst 2011 liegen dem
BMU die in den Berichterstattungen der tageszeitung und des
Spiegel vom 19. März 2012 genannten Szenarienberechnun-
gen zu Radioaktivitätsfreisetzungen bei lange andauernden
Atomunfällen in den AKW Unterweser und Philippsburg vor,
und welche Stellungnahmen/Vermerke zu diesen Szenarien-
Ka
Herr Präsident! Frau Kollegin Kotting-Uhl, ich beant-
worte die Frage wie folgt: Die Studie wurde dem Bun-
desministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit mit Schreiben vom 13. September 2011 vom
Bundesamt für Strahlenschutz zugeleitet. Die Gesell-
schaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit wurde darauf-
hin vom BMU mit einer Prüfung der vom Bundesamt für
Strahlenschutz verwendeten Annahmen zur Freisetzung
beauftragt. In ihrer Stellungnahme vom 15. November
2011 bestätigt die GRS, dass die gewählten Annahmen
über freigesetzte Radioaktivität – die sogenannten Quell-
terme – für den Untersuchungszweck zwar geeignet
sind, es jedoch keinen direkten anlagentechnischen Hin-
tergrund für diese Quellterme in einem deutschen Kraft-
werk gibt.
In einem Ergebnisprotokoll zu einer Besprechung
zwischen BMU, BfS und GRS am 12. März 2012 sind
die Besprechungsergebnisse zum weiteren Vorgehen
festgehalten. Danach sind die nächsten Schritte die Vor-
stellung der Studie in der Strahlenschutzkommission, so-
dann die Veröffentlichung der Studie sowie parallel dazu
die Erarbeitung repräsentativer Freisetzungsszenarien.
Bitte sehr, Zusatzfragen.
Meine erste Frage betrifft den Zeitpunkt. Wie ich jetzt
gehört habe, haben Sie am 15. November die Stellung-
nahme der GRS bekommen; die Studie haben Sie schon
vorher erhalten. Die SSK soll Ende April darüber befin-
den. Danach geht das Ganze sozusagen seinen normalen
parlamentarischen Gang. Gab es denn keine reguläre Sit-
zung der SSK seit dem 15. November, bzw. gibt es keine
bis Ende April, und, wenn nein, warum hat man nicht
darauf gedrängt, dass die SSK schneller damit befasst
wird, sodass auch das Parlament etwas schneller auf of-
fiziellem Weg – nicht über die Presse – informiert wer-
den könnte?
Ka
Zum einen sind wir davon überzeugt, dass wir sehr
schnell handeln und die Dinge in Bewegung setzen. Die
Konsequenzen aus der Reaktorkatastrophe für den Not-
fallschutz müssen mit großer Sorgfalt gezogen werden.
Das tun wir auch. Bund, BfS, Strahlenschutzkommission
und die Länder sind in ständigem Gespräch.
Zum anderen weise ich noch einmal darauf hin, dass
es hier um eine hypothetische Übertragung von Freiset-
zungsszenarien von Fukushima auf die deutschen Kern-
kraftwerke Unterweser und Philippsburg geht. Das BfS
selbst meint, dass sich die Studie nicht eigne, um daraus
Schlüsse über die Wahrscheinlichkeit schwerer Un-
fallabläufe in Deutschland und über andere Fragestellun-
gen abzuleiten. Gleichwohl betrachten wir auch solche
Szenarien, um Vorkehrungen zu treffen. Aber ich glaube,
der Vorwurf der Langsamkeit kann in diesem Zusam-
menhang nicht gemacht werden.
Gut. Ich teile diese Einschätzung nicht ganz. – Ich
verstehe Sie so, dass die Bewertung der GRS, die, wenn
ich es richtig verstanden habe, in einem Vorwort zur Stu-
die des BfS veröffentlicht werden soll, von einer gerin-
gen Wahrscheinlichkeit ausgeht. Stimmen Sie mir zu,
dass das der Schlussfolgerung, die die Kanzlerin und
anschließend das ganze Parlament aus dem GAU von
Fukushima gezogen haben, dass man nämlich auch mit
dem Eintreten des Unwahrscheinlichen rechnen muss,
widerspricht?
Ka
Es widerspricht ihr deshalb nicht, weil wir längst da-
bei sind, alle bisherigen Annahmen und Szenarien zu
überarbeiten und daraus neue Schlüsse zu ziehen. Mit
der Überprüfung des Regelwerkes haben wir längst be-
gonnen. Die SSK hat eine Arbeitsgruppe zum Erfah-
rungsrückfluss Fukushima eingerichtet; sie arbeitet seit
September 2011 eng mit dem BMU zusammen. Die Ar-
beiten sind aber komplex und müssen sorgfältig durch-
geführt werden. Manche wird man schneller abschließen
können. Bei manchen Arbeiten gehen wir aber davon
aus, dass sie ob ihrer Komplexität erst in zwei bis drei
Jahren abgeschlossen sein werden.
Weitere Nachfragen zu diesem Punkt gibt es nicht.Ich rufe die Frage 22 der Kollegin Steiner auf:Wann ist mit der Vorlage des Gesetzentwurfs zur Ände-rung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes zu rechnen, mit demdie Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs in seinem Urteil
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20165
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
vom 12. Mai 2011 in deutsches Recht umgesetzt werden, andem die Bundesregierung laut eigener Aussage schon seit
gen der Abgeordneten Dr. Thomas Gebhart, CDU/CSU, undJudith Skudelny, FDP, schon im Dezember 2011 in der Res-sortabstimmung war , undwas sind die Gründe für die lange Dauer der Ressortabstim-mung?Ka
Herr Präsident! Frau Kollegin Steiner, mit Schreiben
vom 21. Dezember 2011 hat das Bundesministerium für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Ressort-
abstimmung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umwelt-
rechtlicher Vorschriften eingeleitet. Nach dem derzeiti-
gen Stand der Ressortabstimmung wird die Anhörung
von Ländern und Verbänden zu dem Gesetzentwurf vo-
raussichtlich im April 2012 beginnen. Die bisherige
Dauer der Ressortabstimmungen entspricht dem übli-
chen Zeitrahmen bei politisch wichtigen Rechtsset-
zungsvorhaben der Bundesregierung.
Bitte schön, Ihre Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, Sie haben sich elegant um die
Beantwortung der eigentlichen Frage gedrückt. Bereits
im Mai 2011 gab es das Urteil des Europäischen Ge-
richtshofes. Das ganze Jahr ist nichts passiert, obwohl es
eine entsprechende Auflage gab. Wir möchten wissen
– deswegen frage ich nach –, warum das so lange gedau-
ert hat. Ich vermute, dass man sich jetzt damit beschäf-
tigt, liegt daran, dass wir Grüne einen Gesetzentwurf
eingebracht haben.
Ka
Wir schätzen jede Aktivität der Grünen, entfalten
gleichwohl selber Aktivitäten. Deswegen sind wir in der
Ressortabstimmung zu einem komplexen Sachverhalt.
Wir werden – das habe ich eben ausgeführt – mit der
Ressortabstimmung im April 2012 so weit sein, dass wir
mit den Anhörungen der Länder und Verbände beginnen
können, um möglicherweise im Mai 2012 einen Regie-
rungsentwurf zu beschließen. Die Vorarbeiten und Ab-
stimmungen sind zeitaufwendig. Ich weise noch einmal
darauf hin, dass dies in einem durchaus üblichen Rah-
men geschieht.
Zweite Nachfrage?
Ja. – Wir teilen nicht die Auffassung, dass das in ei-
nem üblichen Rahmen geschieht, vor allem was den Be-
ginn Ihrer Aktivität angeht. Man muss schon feststellen,
dass Sie es versäumt haben, die Auflagen der EU recht-
zeitig umzusetzen. Vor dem Hintergrund, dass wir Sach-
arbeit geleistet haben, die juristisch bewertet worden ist
und die von der Fachöffentlichkeit, wie man an den Re-
aktionen sieht, anerkannt worden ist, fragen wir Sie: In-
wieweit beziehen Sie unsere Vorschläge in Ihren Ent-
wurf ein, oder haben Sie diese gleich in die runde
Ablage getan?
Ka
Frau Kollegin Steiner, Hinweise aus dem Parlament
und Initiativen sind immer willkommen. Wir sehen es
gleichwohl als unsere Aufgabe an, einen Regierungsent-
wurf vorzulegen, der alle notwendigen Belange und Er-
fordernisse mit einbezieht. Insofern werden wir unseren
Entwurf einbringen, den Sie dann konstruktiv begleiten
können.
Ich rufe die Frage 23 des Kollegen Krischer auf:
Welche Termine wird der Bundesminister für Umwelt, Na-
turschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Norbert Röttgen, bis zum
13. Mai 2012 in seiner Funktion als Bundesumweltminister
Ka
Herr Präsident! Herr Kollege Krischer, Sie machen
sich Sorgen um den Herrn Bundesminister. Herr
Dr. Röttgen wird als Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit bis zum 13. Mai wie bisher
alle internen und externen Termine zu umweltpolitischen
Vorhaben und Themen umfassend wahrnehmen. Ter-
mine lassen sich aber nur in wenigen Fällen, wie etwa
die Teilnahme an Sitzungen des Bundeskabinetts, ein-
deutig nach der Funktion als Bundesminister abgrenzen.
So nimmt Herr Dr. Röttgen zahlreiche Termine, wie zum
Beispiel Parlamentsberatungen, Firmenbesuche und öf-
fentliche Diskussionsveranstaltungen, immer auch als
Bundesminister wahr.
Bitte schön.
Herzlichen Dank. – Ich bedauere, dass Sie nicht näherspezifizieren können, welche Termine er wahrnehmenwird, weil es gerade mit Blick auf die Aufgaben hin-sichtlich der Energiewende und andere wichtige Aufga-ben, die der Bundesumweltminister gerade jetzt zu bear-beiten hat, interessant wäre, zu erfahren, welche Terminedas sein werden.
Metadaten/Kopzeile:
20166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
Oliver Krischer
(C)
(B)
Daran schließe ich folgende Frage an: Seine Parla-mentarische Staatssekretärin, Ihre Kollegin Frau Heinen-Esser, ist – wenn ich das der Presse richtig entnommenhabe – als Schattenministerin für Bundesangelegenhei-ten und Europa in Nordrhein-Westfalen im Gespräch.Deshalb möchte ich wissen, inwieweit die Vertretungvon Herrn Minister Röttgen durch die ParlamentarischenStaatssekretäre gewährleistet ist, wenn Ihre Kolleginauch noch ausfällt?Ka
Erstens. Es fällt keiner aus. Zweitens. Wahlkampf ist
Teil der parlamentarischen Demokratie. Der Bundes-
minister und auch die Parlamentarische Staatssekretärin
Heinen-Esser nehmen ihre Aufgaben wahr. Zum Glück
haben wir ja noch eine weitere Staatssekretärin, die jetzt
vor Ihnen steht, und noch einen beamteten Staatssekre-
tär. Sie müssen also keine Sorge haben, dass wir in per-
sonelle Nöte geraten.
Zurück zum Ernst der Frage. Noch einmal möchte ich
betonen: Wahlkampf ist Teil unserer parlamentarischen
Demokratie. Der Minister wird weiterhin in seinem Amt
die Energiewende vorantreiben. Das scheint Ihre größte
Sorge zu sein, und die möchte ich Ihnen ganz gerne neh-
men.
Ihre weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Krischer.
Ich muss feststellen: Für das Bundesumweltministe-
rium scheint es kein Problem zu sein, wenn der Herr
Minister wichtige Aufgaben in einem besonderen Bun-
desland annimmt und seine Parlamentarische Staats-
sekretärin dasselbe tut. Der Betrieb kann offensichtlich
ganz normal weiterlaufen. Daher meine Frage: Haben
Sie dann nicht im Normalbetrieb, wenn eine solche Kan-
didatur nicht ansteht und diese beiden Führungspersonen
zur Verfügung stehen, eigentlich zu viele Führungsper-
sonen?
Ka
Herr Kollege Krischer, die Energiewende ist eine
große Aufgabe, der sich das gesamte Haus – die Spitze
wie die Arbeitsebene – tagtäglich stellt. Das tun wir jetzt
und auch in Zukunft, unabhängig von Wahlkämpfen.
Diese Aufgabe beschäftigt permanent das ganze Haus
und insbesondere den Minister.
Jetzt ist zunächst der Kollege Schwabe dran, dem
folgt dann der Kollege Beck, der sicher auch die Praxis
früherer Regierungen erläutern will.
Frau Staatssekretärin, wir machen uns weniger Sor-
gen um den Umweltminister, dafür umso mehr um die
sehr ambitionierte Energiewende. Ich spare mir jetzt die
Frage, was denn passieren würde, wenn noch eine wei-
tere Staatssekretärin ins Schattenkabinett eintreten
würde; scheinbar ist es nicht so leicht, entsprechende
Mitglieder zu finden.
Meine Frage: Mitte April findet auf europäischer
Ebene ein wichtiges Treffen des Umwelt- und Energie-
ministerrats statt. Dabei geht es um Fragen rund um den
Emissionshandel: zur Preisstabilisierung und ganz kon-
kret um das „Set-aside“, also Emissionshandelszertifi-
kate, die man sozusagen aus dem Markt nimmt. Das ist
eine entscheidende Sitzung. Daher würde es mich sehr
interessieren, ob der Umweltminister persönlich daran
teilnehmen wird.
Ka
Bislang sieht die Planung vor, dass er teilnehmen
wird. Ich weise darauf hin, dass der Minister am letzten,
ebenso wichtigen Treffen des Umweltministerrats – da-
bei ging es um ein ambitioniertes internes EU-Reduk-
tionsziel – persönlich teilgenommen und sich sehr ambi-
tioniert in die Debatte geworfen hat. Sie sehen also, dass
beides sehr gut miteinander vereinbar ist: ein Wahl-
kampf in Nordrhein-Westfalen sowie vor allem das am-
bitionierte Kämpfen für Klimaschutz in Europa.
Die nächste Zusatzfrage stellt der Kollege Volker
Beck.
Wahlkämpfe gehören eher zur Parteiarbeit als zur par-
lamentarischen Arbeit.
Deshalb möchte ich wissen – wir befragen Sie ja als Re-
gierung zu Ihrer exekutiven Arbeit –, wie viele Termine
der Bundesminister und die Staatssekretärin Heinen-
Esser bis zum 13. Mai außerhalb von Nordrhein-Westfa-
len und wie viele sie in Nordrhein-Westfalen zu absol-
vieren haben. Falls Sie das jetzt nicht beantworten kön-
nen, weil Sie den Terminkalender nicht dabei haben,
wäre ich auch mit einer schriftlichen Nachunterrichtung
einverstanden.
Ka
Ich hielte es für ungewöhnlich, wenn komplette Ka-lender veröffentlicht würden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20167
Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
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Aber beruhigenderweise befinden sich noch zwei Dritteldes Ministeriums in Bonn. Somit ist die Präsenz imMinisterium in Bonn, auch bei internen Gesprächen, je-derzeit bei kurzen Wegen zu gewährleisten.
Wir kommen zur Frage 24 des Kollegen Oliver
Krischer:
Wie beabsichtigt die Bundesregierung sicherzustellen,
dass die Fracking-Technologie in Regionen, in denen Trink-
wasser aus Grundwasser gewonnen wird, nicht zum Einsatz
kommt, wie von Bundesumweltminister Dr. Norbert Röttgen
Umweltbundesamt in seiner Stellungnahme zur Fracking-
Technologie vom Dezember 2011 dringend empfohlen hat,
die konkreten Maßstäbe des § 48 des Wasserhaushaltsgesetzes
in dieser Hinsicht zu konkretisieren,
und wie beabsichtigt die Bundesregierung, die Unteren Was-
serbehörden in die Lage zu versetzen, eine Risikoabwägung
gemäß § 48 des Wasserhaushaltsgesetzes im Hinblick auf die
Risiken der Fracking-Technologie vorzunehmen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Gerne, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Krischer, die
Bundesregierung prüft derzeit den Bedarf zur Änderung
bundesrechtlicher Vorschriften. Die Bundesanstalt für
Geowissenschaften und Rohstoffe wird dem federfüh-
renden Bundesministerium für Wirtschaft und Technolo-
gie in Kürze erste Ergebnisse ihres Forschungsprojekts
zur Abschätzung des Schiefergaspotenzials vorlegen.
Darin werden auch die Umweltaspekte der Fracking-
Technologie betrachtet werden. Die Ergebnisse dieser
Studie werden in die Prüfungen des Bedarfs zur Ände-
rung der bergrechtlichen Regelungen eingehen.
Hinweise dazu werden auch von der im Auftrag des
Bundesumweltministeriums vergebenen Studie mit dem
Titel „Umweltauswirkungen von Fracking bei der Auf-
suchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventio-
nellen Lagerstätten – Risikobewertung, Handlungsemp-
fehlungen und Evaluierung bestehender rechtlicher
Regelungen und Verwaltungsstrukturen“ erwartet.
Bereits jetzt muss der wasserrechtliche Besorgnis-
grundsatz nach § 48 Wasserhaushaltsgesetz von den zu-
ständigen Behörden bei der Erteilung einer Erlaubnis für
Benutzungen des Grundwassers berücksichtigt werden.
Zudem können die Länder nach § 52 Wasserhaushaltsge-
setz durch Verordnung oder behördliche Entscheidung
zum Schutz von Wasserschutzgebieten bestimmte Hand-
lungen verbieten oder nur eingeschränkt zulassen.
Ihre erste Zusatzfrage.
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin. Ich freue
mich über diese Antwort, weil sie doch deutlich macht,
dass Sie nun schon seit vielen, vielen Monaten prüfen.
Denn Herr Röttgen hat am 30. Juli 2011 angekündigt,
dass etwas passieren wird. Der CDU-Landesvorsitzende
Norbert Röttgen hat einen Beschluss gefasst, mit dem er
die Bundesregierung auffordert, unverzüglich zu han-
deln. Der Bundesumweltminister Norbert Röttgen – das
ist auch heute im Umweltausschuss durch Äußerungen
aus Reihen der Koalition deutlich geworden – liefert an
der Stelle nicht. Meine Frage wäre: Wann werden Sie
konkret mit Gesetzentwürfen, Initiativen etc. kommen,
die Regelungen zur Steuerung und Reglementierung der
Fracking-Technologie vorsehen?
Ka
Ich erinnere Sie daran, dass ich selbst im Ausschuss
auf ähnliche Fragen hin auch Ihnen vorgetragen habe,
dass die eben von mir zitierte Studie eine Laufzeit von
sechs Monaten hat und die Ergebnisse im Juli dieses Jah-
res vorliegen werden. Wir wollen diese Studie nutzen,
um Rückschlüsse zu ziehen. Keine andere Antwort habe
ich Ihnen im Ausschuss gegeben. Insofern verstehe ich
Ihre Nachfrage nicht. Der betreffende Zeitpunkt ist der
Juli dieses Jahres.
Ihre zweite Nachfrage.
Der Grund für die Nachfrage ist ganz einfach die heu-
tige Umweltausschusssitzung; da waren Sie leider nicht.
Ein Kollege der Koalition hat dort gesagt, der Umwelt-
minister liefere an der Stelle nicht; deshalb könne man
bei dem Thema jetzt nichts machen; die Anträge der Op-
position würden abgelehnt.
Zu meiner Nachfrage. Die Landesregierung von
Nordrhein-Westfalen hat gehandelt: Sie hat die Fra-
cking-Technologie vorläufig untersagt; Probebohrungen
können nicht stattfinden. Es ist aber klar, dass das nur für
einen relativ kurzen Zeitraum gelten kann, weil Unter-
nehmen aufgrund der geltenden Rechtslage – Bergrecht
etc. – irgendwann Anspruch auf Genehmigung haben.
Sind Sie bereit, sich je nachdem, wie die Gutachten aus-
fallen werden, darauf einzulassen, dass man sagt: „Wir
machen für einen gewissen Zeitraum, etwa zwei Jahre,
ein Moratorium, damit wir genau überprüfen können,
unter welchen Bedingungen und Risiken diese Techno-
logie anzuwenden ist, um dann eine politische Entschei-
dung darüber zu treffen“?
Ka
Studien sind dazu da, genutzt und angewendet zuwerden. Da uns die entsprechende Studie noch nicht vor-liegt, werde ich jetzt keine hypothetischen Antwortendarauf geben, was gegebenenfalls sein könnte. Wir las-sen diese Studie durchführen, weil wir die Besorgnissesehen, weil wir es mit dem Trinkwasserschutz ernst mei-nen und sehen, dass unter anderem Stoffe verwendet
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20168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
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werden, die besorgniserregend sind, die möglicherweisetoxisch sind. Wir sind uns der damit verbundenen Auf-gabe bewusst. Aber ich stelle jetzt nicht Initiativen inden Raum, ohne die Ergebnisse der umfassenden Analy-sen zu haben, von denen wir erwarten, dass sie uns Hin-weise und Aufschluss geben. Ich bitte Sie, sich bis Julidieses Jahres zu gedulden. Dann werden wir mit demParlament über die Vorgaben sprechen.
Eine weitere Nachfrage stellt der Kollege Schwabe.
Frau Staatssekretärin, bei Ihnen hört sich das ein biss-
chen so an, als ob wir uns im luftleeren, theoretischen
Raum bewegen würden. Das ist nicht so. Es gibt eine
ganze Reihe von konkreten Projekten und konkreten Be-
sorgnissen der Bürgerinnen und Bürger. Deswegen ist es
mitnichten so, dass wir unendlich Zeit haben, miteinan-
der zu diskutieren.
Wir haben heute im Umweltausschuss in der Tat über
diese Fragen diskutiert. Wir sind auf die Äußerung von
Herrn Kalkoffen, das ist der Chef von Exxon Mobile
Central Europe, eingegangen, der sich in einem Inter-
view dahin gehend geäußert hat, dass man keine Fra-
cking-Maßnahmen mit wassergefährdenden Chemika-
lien vornehmen müsse, dass man in zwei Jahren so weit
sei, darauf verzichten zu können. Kollege Meierhofer
aus der FDP-Fraktion hat deutlich gemacht, dass das
eine Position ist, die er nachvollziehbar findet. Vor dem
Hintergrund ganz konkreter Projekte überall in der Re-
publik, frage ich Sie konkret – vielleicht gibt es dazu
eine Positionierung –: Finden Sie, dass man ein Morato-
rium bräuchte, bis man so weit ist, eine Methode ohne
wassergefährdende Chemikalien anwenden zu können?
Ja oder Nein?
Ka
Wir haben im Ausschuss darüber gesprochen, nicht
nur heute, sondern auch in meiner Anwesenheit. Ich
habe Ihnen unter anderem die Stellungnahme des Um-
weltbundesamtes vorgestellt. Wir haben nicht nur da-
rüber gesprochen, welche Besorgnisse, sondern auch
welche rechtlichen Möglichkeiten es gibt. Aber an die-
sem Punkt sind wir noch nicht. Insofern wird es von mir
keine Aussagen zu theoretischen Einflussmöglichkeiten
geben. Wir haben eine Studie in Auftrag gegeben, die
noch läuft. Wir warten die Ergebnisse ab, dann werden
wir handeln.
Eine weitere Nachfrage stellt nun die Kollegin
Dorothea Steiner.
Frau Staatssekretärin, wir haben eben noch einmal ge-
hört, dass es in Nordrhein-Westfalen erst einmal ein Mo-
ratorium gegeben hat. Ich komme aus Niedersachsen.
Ich glaube, ich sage nichts Neues, wenn ich darauf hin-
weise, dass es in Niedersachsen mit allen möglichen An-
fragen wegen Genehmigung von Bohrungen und auch
tatsächlichen Bohrungen munter weitergeht. Vor dem
Hintergrund, dass die Anfragen wegen Genehmigung
von Bohrungen an die Kommunen gerichtet werden, und
da es sehr schwierig ist, die Genehmigung abzulehnen,
frage ich Sie: Warum wollen Sie uns vertrösten mit dem
Hinweis auf eine Studie, die im Juli veröffentlicht wird
und deren Ergebnisse dann erst noch mühsam ausgewer-
tet werden müssen? Wie können Sie es verantworten,
kein Moratorium durchzuführen, solange die offenen
Fragen nicht geklärt sind?
Ka
Ich weise noch einmal darauf hin, dass die nach § 48
Wasserhaushaltsgesetz zuständigen Behörden auf Ebene
der Länder zu finden sind, die dies zu regeln haben. Bei
diesen zuständigen Behörden müssen die Anträge einge-
reicht werden. Die Länder haben gemäß § 52 WHG be-
reits die Möglichkeiten, durch Verordnungen und be-
hördliche Entscheidungen einschränkend zu wirken oder
eine Maßnahme zu untersagen; das ist möglich. Gleich-
wohl: Wenn es um eine bundesgesetzliche Regelung
geht, die angestrebt werden soll, bedarf es einer vertief-
ten Prüfung.
Der Kollege Dirk Becker hat eine weitere Nachfrage.
Bitte.
Frau Staatssekretärin, ich muss noch einmal auf den
Umweltausschuss heute Morgen Bezug nehmen. Der
Obmann der FDP-Fraktion, Herr Meierhofer, hat erklärt,
der Bundesumweltminister verzögere an der Stelle. Es
war nicht von einem gemeinsamen Fahrplan die Rede
oder davon, dass erst im Juli Näheres vorliegen soll. Pa-
rallel dazu geht die NRW-CDU durch die Lande und ver-
spricht eine schnelle Regelung. Ist davon auszugehen,
dass es die Bundesregierung schafft, bis zur nächsten
Sitzungswoche einen abgestimmten Fahrplan im Um-
weltausschuss vorzulegen, damit für alle nachvollzieh-
bar ist, bis wann das Bundesumweltministerium getra-
gen von der Bundesregierung und den Fraktionen
Konkretes vorlegen will?
Ka
Herr Kollege Becker, ich habe Ihnen zum Zeitplan al-les Notwendige gesagt. Ich weise noch einmal den Vor-wurf der Verzögerung zurück.
Wir arbeiten daran. Auch andere Behörden wie das Um-weltbundesamt haben sich mit Studien zu Wort gemel-det. All das wird zusammengenommen, um zügig voran-
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zukommen, um einen größtmöglichen Schutz desGrundwassers dauerhaft sicherstellen zu können. Daswerden wir tun. Bis zur nächsten Sitzungswoche wirdIhnen das nicht vorliegen können.
Die Frage 25 der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann wird
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 26 des Kollegen Hans-Josef
Fell:
für erneuerbare Energien vorgesehen (bitte um Angabe in
Sollzahlen), und beabsichtigt die Bundesregierung, zeitnah
ein Förderprogramm für kleine Stromspeicher in Kombina-
tion mit Photovoltaikanlagen aufzulegen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Gerne, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Fell, im Bun-
deshaushalt 2009 wurden bei Kap. 1602 Tit. 686 24
– Förderung von Einzelmaßnahmen zur Nutzung erneu-
erbarer Energien – Ausgaben in Höhe von 465,533 Mil-
lionen Euro veranschlagt. Davon standen für das Markt-
anreizprogramm für erneuerbare Energien – kurz: MAP –
rund 400 Millionen Euro zur Verfügung. Im Jahr 2010
betrug der Ansatz für das MAP circa 380,5 Millionen
Euro. In 2011 waren im Bundeshaushalt Ausgaben in
Höhe von 312 Millionen Euro für das MAP vorgesehen.
Zudem standen im Sondervermögen „Energie- und Kli-
mafonds“ Mittel von 40 Millionen Euro zur Verfügung.
Für das MAP stehen in diesem Jahr circa 250 Millionen
Euro aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung. Dazu
kommen 116 Millionen Euro Restmittel aus dem eben
genannten Titel, welche dem MAP zusätzlich aus dem
Bundeshalt zur Verfügung gestellt werden können. So-
mit ergibt sich für dieses Jahr eine gesamtverfügbare
Summe von 366 Millionen Euro.
Ob ein Förderprogramm für Stromspeicher aufgelegt
wird und wie dieses gegebenenfalls ausgestaltet werden
könnte, wird derzeit geprüft.
Ihre erste Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Damit haben
Sie die deutliche Kürzung der Mittel für das Marktan-
reizprogramm bestätigt, die eigentlich diametral zu den
Vorstellungen der Bundesregierung steht, im Rahmen
der Energiewende auch die erneuerbare Wärme entspre-
chend zu unterstützen. Hier wird jetzt gekürzt. Von daher
kann von einer zusätzlichen und deutlichen Unterstüt-
zung keine Rede sein.
Für eine Unterstützung kleiner Speicher von Strom
aus Solarstromanlagen sollen – so entnehme ich es zu-
mindest dem Entschließungsantrag, der heute im Um-
weltausschuss von den Koalitionsfraktionen vorgelegt
wurde – nun zusätzliche Mittel der KfW bereitgestellt
werden. Es soll aber keine Mittelerhöhungen geben.
Deswegen meine Frage: Aus welchen Töpfen soll denn
dieses KfW-Sonderprogramm finanziert werden?
Ka
Das waren zwei Fragen. Zunächst zu Ihrer Behaup-
tung, wir würden Einschnitte vornehmen. Ich möchte Ih-
nen die Zahlen noch einmal referieren: 366 Millionen
Euro stehen in diesem Jahr zur Verfügung. Im letzten
Jahr wurden 229,4 Millionen Euro verausgabt, also deut-
lich weniger als in diesem Jahr zur Verfügung steht. Wir
müssen weder im BAFA-Teil noch im KfW-Teil kürzen.
Die Mittel stehen zur Verfügung.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage, ob es ein Speicherpro-
gramm geben wird, welchen Umfang es gegebenenfalls
haben wird und wie es aussehen kann: Das wird gerade
erarbeitet. Die Koalitionsfraktionen haben heute im Aus-
schuss mit ihrem Antrag den Auftrag an die Bundes-
regierung erteilt, Vorschläge für ein solches Programm
vorzulegen. Das werden wir tun. Ich kann Ihnen diese
Frage zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch nicht be-
antworten, weil der Auftrag gerade erst an uns gegangen
ist.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Die Feststellung hinsichtlich der Kürzung der Mittel
bezog sich auf den gesamten Regierungszeitraum, und
da ist es eine deutliche Kürzung. Sie selbst sprachen ja
von einem Rückgang von 412 Millionen Euro auf
366 Millionen Euro. Das ist eine Kürzung. Anders kann
ich es nicht sagen.
Insofern noch einmal meine Nachfrage, weil es wirk-
lich bedeutsam ist. Wenn die Mittel gekürzt worden sind,
also der Kuchen kleiner geworden ist, und aus diesem
Kuchen zusätzlich Mittel für einen neuen Fördertatbe-
stand bereitgestellt werden: Ist es wirklich so, dass aus
diesem kleiner gewordenen Kuchen über die Wahl-
periode hinweg zusätzliche Fördertatbestände finanziert
werden sollen und dass dies zulasten der bestehenden
und schon gekürzten Fördertatbestände geht?
Ka
Von einer Kürzung würde ich dann sprechen, wenn ineinem laufenden Jahr mehr Anträge da sind, als Geld zurVerfügung steht, oder wenn man in einem laufendenHaushaltsjahr zu Kürzungen kommt, sodass ein Antrag-steller nicht mehr zum Zuge kommt. Noch einmal: We-der die Zahlen noch die abgearbeiteten Anträge unter-stützen das, was Sie sagen.Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Wir wissen, dass dieEnergiewende nur dann gelingen kann, wenn wir Spei-cherkapazitäten ausbauen. Wir brauchen auf diesem Ge-
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20170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
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biet tatsächlich eine Vielzahl von Forschungsaktivitäten,um Möglichkeiten zu finden, im Kleinen wie im Großen,fluktuierende Energien besser durch Speicher auszuglei-chen. Wie und in welchem Umfang durch welches Pro-gramm konkret gefördert werden soll, kann ich Ihnenzum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Wir haben den Auf-trag, dies zu prüfen; ich glaube, bis zur Sommerpause.Dann werden wir dem Parlament mitteilen, wie das aus-sehen kann.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Becker
das Wort.
Frau Staatssekretärin, meine Frage zielt in dieselbe
Richtung wie die Frage des Kollegen Fell. Wir haben
heute im Umweltausschuss einen Antrag beschlossen, in
dem die Koalitionsfraktionen schreiben, dass sie mehr
für Speichertechnologie tun möchten, was zunächst ein-
mal zu begrüßen ist. Sie haben das als Voraussetzung für
das sogenannte Marktintegrationsmodell angeführt. Ih-
rer Antwort entnehme ich aber, dass Sie bis heute nicht
einmal wissen, woher das Geld kommen soll. Es gibt
eine Kürzungsansage. Andere Programme müssen ge-
strichen werden, um Geld für das Thema Speicher loszu-
eisen. Sie können dem Bundestag, der morgen entschei-
den soll, noch nicht einmal sagen, woher das Geld
kommen soll. Ist das richtig? Gilt das auch für das
Marktanreizprogramm – Thema: Speicher –, das Sie für
Herbst ankündigen?
Ka
Herr Kollege Becker, noch einmal: Das Marktanreiz-
programm steht gar nicht zur Disposition. Es ist mit so
viel Geld ausgestattet, dass alle laufenden Anträge im
privaten wie im KfW-Teil abgebildet werden können.
Punkt eins.
Punkt zwei: Die mittelfristige Finanzplanung sieht so-
gar eine Sicherung des Marktanreizprogramms bis 2015
vor. Ich bitte Sie wirklich, keine Ängste zu schüren, die
nicht gerechtfertigt sind.
Zur Frage nach den Speichern: Wir haben uns be-
wusst entschieden, keine Speicherkomponente zusätz-
lich im EEG abzubilden. Wir glauben, dass es schon
jetzt durchaus Anreize gibt. Wir sehen den zusätzlichen
Bedarf, in größere Speicher zu investieren. Wir fanden
aber, dass wir das EEG mit diesem Punkt nicht überlas-
ten können.
Wir werden jetzt zusammentragen, welches Volumen
nötig ist, was an Geld zur Verfügung stehen muss und
wie dies in einem Haushalt abgebildet werden kann. Das
werden wir vorlegen. Wir wissen, dass wir im Bereich
Speicher fördern müssen. Übrigens fördern wir bereits in
diesem Bereich massiv. Umwelt-, Wirtschafts- und For-
schungsministerium stellen in einer ressortübergreifen-
den Initiative 200 Millionen Euro für Forschungs-,
Entwicklungs- und Demonstrationsprojekte zu Speicher-
technologien bereit. Wir versuchen jetzt, mittels der
KfW einen Weg zu finden, um zusätzliche Anreize zu
setzen.
Noch einmal: Wie das genau aussehen soll, wird noch
entschieden. Wir werden die Programmstruktur vorle-
gen. Dazu brauchen wir aber tatsächlich noch ein paar
Tage Zeit.
Wir kommen nun zur Frage 27 des Kollegen Hans-
Josef Fell:
Kann die Bundesregierung angesichts der Entwicklung
der Mittel des Energie- und Klimafonds verbindlich zusagen,
dass die zugesagten Mittel der Innovationsallianz Photovol-
taik weiterhin vollumfänglich zur Verfügung stehen, ohne
dass an anderen Stellen bei der Photovoltaikforschung gekürzt
wird, und beabsichtigt die Bundesregierung, die Innovations-
allianz Photovoltaik angesichts der neuen Herausforderungen
zeitlich zu verlängern, was auch die Bereitstellung zusätzli-
cher Mittel in der Zeitskala bedeuten würde?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Gerne, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Fell, die
Bundesregierung hat im Juli 2010 die Innovationsallianz
Photovoltaik ins Leben gerufen. Anträge konnten bis
zum 30. September 2010 eingereicht werden. Förmlich
bewilligt wurden bereits Fördermittel in Höhe von über
88 Millionen Euro vom Bundesministerium für Bildung
und Forschung und vom Bundesministerium für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Bewilligungen
für weitere 23 Millionen Euro werden gegenwärtig vom
BMBF und vom BMU bearbeitet. Es kann davon ausge-
gangen werden, dass bis 2014 durch das BMU und das
BMBF für die Innovationsallianz Photovoltaik über
110 Millionen Euro bereitgestellt werden.
Für den Erfolg dieser Innovationsallianz ist allerdings
die Bereitschaft der Industrie entscheidend. Sie muss
sich mit maßgeblichen Eigenbeiträgen beteiligen. Die
PV-Industrie hat zugesagt, im Ergebnis der Forschungs-
maßnahmen 500 Millionen Euro für Investitionsmaß-
nahmen und weitere Forschungsleistungen einzusetzen.
Es ist vorgesehen, die Forschungsförderung in den Fol-
gejahren, abhängig von den zur Verfügung stehenden
Mitteln, der Entwicklung des Forschungsbedarfs in dem
Bereich der erneuerbaren Energien und auf der Grund-
lage der beantragten Forschungs- und Entwicklungsvor-
haben fortzuschreiben.
Ihre erste Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, herzlichen Dank. – Die Mittel-ausstattung des Energie- und Klimafonds ist aufgrund
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20171
Hans-Josef Fell
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des Wegbrechens der Einnahmen aus der Versteigerungvon Emissionszertifikaten besorgniserregend. Es ist zufragen, ob das auch Auswirkungen auf die Höhe der For-schungsmittel haben wird. Können Sie klar ausschlie-ßen, dass diese Entwicklung, dass der Rückgang der Ein-nahmen im Energie- und Klimafonds keine negativenAuswirkungen auf die Forschungsförderung, auch dieim Bereich der Photovoltaik, haben wird?Ka
Zunächst einmal möchte ich feststellen, dass das Um-
weltministerium – wir sind eigentlich kein klassisches
Förderministerium – immer rund 30 Prozent der Mittel
für Forschungsförderung im Bereich erneuerbare Ener-
gien für die Photovoltaik zur Verfügung gestellt hat; wir
werden auch weiterhin im großen Umfang fördern. Ich
kann sagen, dass aufgrund der jetzigen Ausstattung des
EKF aus dem hieraus finanzierten Forschungstitel für er-
neuerbare Energien keine weiteren Projekte bewilligt
werden können, die einen Mittelbedarf in diesem Jahr
haben, die Förderung bestehender Forschungsvorhaben
aber in jedem Fall fortgesetzt wird.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Dies ist ein Hinweis auf eine Sorge, die mich um-
treibt. Wir sehen gerade in diesem Jahr die Entwicklung,
dass die Wettbewerber im internationalen Markt, vor
allem die aus Asien, einen hohen Druck auf die in der
Photovoltaikbranche führenden deutschen Technologie-
unternehmen ausüben. Wir haben im Ausschuss sehr viel
darüber diskutiert. Die Koalitionsfraktionen haben uns
klargemacht, dass sie keine Unterstützung der Industrie
über Regelungen des EEG schaffen wollen. Sie haben
gesagt, dass man die Unternehmen über andere Wege
unterstützen müsse, zum Beispiel durch zusätzliche For-
schungsmittel für die Photovoltaik.
Jetzt sagen Sie, dass es gar keine zusätzlichen Mittel
gibt und dass keine weiteren Anträge auf Förderung ge-
nehmigt werden können. Meine Nachfrage jetzt möchte
ich mit Ihrer Antwort auf meine erste Frage verbinden,
in der Sie sagten, die Industrie solle Kofinanzierung leis-
ten. Dies ist richtig, aber die Industrie wird durch die
starke Vergütungskürzung enorm unter Druck gesetzt,
schreibt schon jetzt rote Zahlen und wird dadurch noch
rotere Zahlen schreiben, sodass es weitere Konkurse
– einige gab es bereits – geben wird. Wie soll in dieser
Situation die Gegenfinanzierung der Forschungsmittel,
die von der Industrie zur Verfügung gestellt werden, ge-
lingen?
Ka
Zunächst einmal: Ursprünglich waren 100 Millionen
Euro für die Innovationsallianz Photovoltaik angekün-
digt. Diese Summe wird voraussichtlich sogar übertrof-
fen. Insofern kann man sehen, dass wir, wenn wir uns et-
was vornehmen, es richtig und gründlich tun.
Zum Zweiten. Die Unternehmen, die jetzt in Schwie-
rigkeiten sind, haben möglicherweise mit Fehlern aus
der Vergangenheit zu kämpfen. Forschung und Innova-
tion müssen sich permanent im Budget eines Unterneh-
mens abbilden. Rückfragen haben ergeben, dass in den
einzelnen Unternehmen oftmals gar nicht bekannt war,
wie hoch der Forschungsetat ist; auf jeden Fall betrug er
nicht die 7 bis 10 Prozent, die mindestens notwendig
sind, um bei der Produktentwicklung weiterhin vorne zu
sein.
Seitens der Regierung fangen wir nun mit zusätzli-
chen Forschungsmitteln zumindest einen Teil von dem
auf, was auf der Seite der Unternehmen im Bereich For-
schung versäumt wurde. Wir alle sind uns einig: Wir
wollen die Photovoltaikindustrie in Deutschland halten.
Der Markt muss sich weltweit entwickeln. Es ist nun
einmal so, dass die Unternehmen in Fernost nicht ge-
schlafen haben. Das müssen wir jetzt ausgleichen, und
zwar nicht nur über Regelungen des EEG, sondern auch
über die laufenden Forschungsvorhaben. Aber kein
Forschungsvorhaben kann so umfangreich sein, dass es
eigene Forschungsleistung im Unternehmen ersetzen
kann.
Danke, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwor-tung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. HelgeBraun zur Verfügung. Die Fragen 28 und 29 der Kolle-gin Marianne Schieder werden schriftlich beantwortet,ebenso die Fragen 30 und 31 des Kollege MichaelGerdes.Wir kommen zur Frage 32 des Kollegen Willi Brase,welcher allerdings nicht im Raum ist. Dann verfahrenwir nach unserer Geschäftsordnung.Die Frage 33 des Kollegen Klaus Hagemann wirdschriftlich beantwortet.Damit bedanke ich mich schon beim Herrn Staats-sekretär für seine Bereitschaft, hier Rede und Antwort zustehen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung. Die Frage 34 der Kollegin Heike Hänselwird schriftlich beantwortet.Wir kommen zum Geschäftsbereich der Bundeskanz-lerin und des Bundeskanzleramtes. Die Frage 35 desKollegen Thomas Jarzombek wird ebenfalls schriftlichbeantwortet.Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Wirtschaft und Technologie. ZurBeantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
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20172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
Vizepräsidentin Petra Pau
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Hans-Joachim Otto zur Verfügung. Die Frage 36 desKollegen Frank Schwabe und die Frage 37 des KollegenDr. Konstantin von Notz sollen schriftlich beantwortetwerden.Wir kommen zum Geschäftsbereich des AuswärtigenAmtes. Zur Beantwortung der Fragen steht der Staats-minister Michael Link zur Verfügung. Die Frage 38 desKollegen Hans-Joachim Hacker soll schriftlich beant-wortet werden.Ich rufe die Frage 39 des Kollegen Wolfgang Gehrckeauf:Ist die Bundesregierung bereit, mit den Teilnehmerinnenund Teilnehmern der diesjährigen Ostermärsche der Kriegs-gegner in einen Dialog über die deutschen Positionen beimkommenden NATO-Gipfel in Chicago einzutreten?Bitte, Herr Staatsminister.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Frage des Kollegen Gehrcke beantworte ich wie
folgt: Die Bundesregierung steht zu einer Vielzahl von
Themenbereichen in einem regelmäßigen und engen
Dialog mit der Zivilgesellschaft. Wie allen Bundesbür-
gerinnen und Bundesbürgern stehen auch den Teilneh-
merinnen und Teilnehmern der Ostermärsche mehrere
Wege zum Dialog mit der Bundesregierung offen. Dazu
gehört unter anderem die Möglichkeit, Anfragen an die
Bundesministerien zu richten. Die demokratische Mehr-
heitsfindung findet, wie wir alle wissen, im Deutschen
Bundestag statt. Auch hier haben zivilgesellschaftliche
Vertreter jederzeit die Möglichkeit, durch den Dialog mit
Abgeordneten auf die Willensbildung einzuwirken. Das
gilt für die Abgeordneten genauso wie für die Bundes-
regierung.
Der Kollege Gehrcke hat das Wort zur ersten Zusatz-
frage.
Herr Staatsminister, ich freue mich über Ihre Antwort.
Ich habe natürlich nicht erwartet, dass die Bundesregie-
rung die Bevölkerung dazu aufruft, am Ostermarsch teil-
zunehmen; das mache ich schon selber. Ich habe aber
zum ersten Mal erlebt, dass ein Vertreter der Bundes-
regierung erklärt, dass die Bundesregierung Wert auf ei-
nen Dialog mit denjenigen legt, die seit Jahren auf die
Straße gehen und zu diesen Themen demonstrieren. Ich
finde, das ist ein Fortschritt.
Wenn es so ist, wie Sie sagen: Sieht sich die Bundes-
regierung nicht in der Pflicht – ich frage Sie das, weil Sie
gerade selbst auf die Gewaltenteilung aufmerksam ge-
macht haben –, den Bundestag besser darüber zu infor-
mieren, mit welchem Konzept die Bundesregierung zum
NATO-Gipfel in Chicago fährt und um welchen Inhalt es
dort gehen wird, um auch hier im Parlament für Transpa-
renz zu sorgen?
Herr Kollege Gehrcke, natürlich: Was den NATO-
Gipfel, der Ende Mai dieses Jahres in Chicago stattfin-
den wird, betrifft, ist die Bundesregierung selbst-
verständlich bereit, den Bundestag ausführlichst zu in-
formieren. Nur: Man kann nicht jedes Ergebnis
vorwegnehmen. Die Bundesregierung ist zu Gesprächen
bereit, sowohl in den zuständigen Ausschüssen – dort
verfügen wir auch über die notwendigen Rahmenbedin-
gungen, um tiefer in die Debatte einzusteigen, länger zu
diskutieren und auf Nachfragen zu antworten – als auch
hier im Plenum. Selbstverständlich stehen wir – das
möchte ich ganz ausdrücklich sagen – auch außerhalb
des Bundestages für Gespräche zur Verfügung. Bisher
gibt es aber, wie schon gesagt, noch keine konkreten An-
fragen.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Wir nähern uns allmählich dem Kern der Probleme. –
Sie sagten, dass die Bundesregierung bereit ist, im Bun-
destag umfänglich Auskunft zu geben. Wenn das so ist,
halte ich eine Regierungserklärung zum NATO-Gipfel
für notwendig. Ich möchte Sie fragen, ob die Bundes-
regierung das erwogen hat und möglicherweise dazu
bereit ist, und zwar nicht erst nach dem Gipfel. Mich in-
teressiert nämlich, mit welcher Konzeption die Bundes-
regierung zu diesem NATO-Gipfel, in dessen Zentrum
die Situation in Afghanistan und die Frage des Rückzugs
aus Afghanistan stehen werden, fahren wird. Diese In-
formation muss vorher erfolgen, damit man auf den In-
halt Einfluss nehmen kann.
Zur Frage einer möglichen Regierungserklärung gibt
es bisher keinerlei Überlegungen. Auf Ihre Frage zu
Afghanistan – ich vermute, das ist auch Gegenstand Ih-
rer nächsten Frage – würde ich gerne bei der Beantwor-
tung der nächsten Frage eingehen, da ich mich nicht wie-
derholen will.
Okay; schlau ausgedacht.
Dann kommen wir schon zur nächsten Frage. Ich rufe
die Frage 40 des Kollegen Wolfgang Gehrcke auf:
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
der Erklärung des Leiters des Zentrums für Strategische Stu-
dien in Den Haag, Rob de Wijk: „Der Krieg ist für das westli-
che Bündnis verloren. Jetzt geht es nur noch darum, einen
Grund dafür zu finden, um sich selbst zum Sieger erklären zu
Bitte, Herr Staatsminister.
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Gehrcke,Ihre Frage beantwortet die Bundesregierung wie folgt:Die Bundesregierung teilt die von Herrn de Wijk zumAusdruck gebrachte Meinung, der Krieg sei für daswestliche Bündnis verloren etc. – aus Zeitgründen er-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20173
Staatsminister Michael Link
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spare ich mir, das gesamte Zitat vorzutragen –, aus-drücklich nicht. Klar ist aber, dass die Aufgabe der vonden Vereinten Nationen mandatierten ISAF-Truppe nochnicht vollständig erfüllt ist und dass Afghanistan auchnach dem Ende des Einsatzes internationaler Kampftrup-pen, also auch nach 2014, noch lange internationale Un-terstützung benötigen wird. Dies wurde auf der BonnerAfghanistan-Konferenz von allen teilnehmenden Natio-nen anerkannt, und entsprechend wurde diese Unterstüt-zung für die Transformationsdekade 2015 bis 2024 auchzugesichert.
Die erste Nachfrage, bitte.
Wenn es so ist: Müsste die Bundesregierung dann
nicht in ganz anderer Art und Weise zum Beispiel auf die
Vorstellung des afghanischen Präsidenten Karzai einge-
hen, der ja gebeten hat, alle Truppen – ohne Unterschei-
dung zwischen Kampftruppen und Nichtkampftruppen –
bereits 2013 abzuziehen? Wenn man ernsthaft von einer
Übergabe in Verantwortung spricht, dann muss doch der
Wunsch des afghanischen Präsidenten zu einer öffentli-
chen Erörterung führen und Grundlage der Entscheidung
auch für die Bundesregierung sein.
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Gehrcke, Präsident Karzai hat lediglich
das gefordert, was bereits beschlossen ist. Die Transition
ist bereits jetzt in der Hälfte des afghanischen Territo-
riums in vollem Gange. Mitte 2013 soll der Transforma-
tionsprozess in allen Gebieten Afghanistans begonnen
haben.
Die Rolle von ISAF wird sich dann vom derzeitigen
Partnering hin zur unterstützenden und befähigenden
Rolle verändern. Das wissen wir; wir haben darüber im
Ausschuss geredet und können das gerne auch vor dem
Gipfel noch einmal vertiefen. ISAF zieht sich dann in
die zweite Reihe zurück. Die afghanischen Sicherheits-
kräfte sollen dann die operative Führung übernehmen.
Dieser Transitionsprozess soll bis Ende 2014 abge-
schlossen sein.
Das ist der Inhalt der in Lissabon zwischen ISAF und
Afghanistan – das hat Karzai nur wiederholt und bekräf-
tigt – vereinbarten Transitionsstrategie, die auf der Inter-
nationalen Afghanistan-Konferenz in Bonn ebenfalls
noch einmal bestätigt wurde. Deshalb kann ich hier kei-
nen Strategiewechsel erkennen.
Ihre nächste Nachfrage.
Ich finde, es gibt schon einen Unterschied zwischen
der Aussage des afghanischen Präsidenten Karzai, der
von 2013 und allen Truppen gesprochen hat, und dem,
was die NATO und auch die Bundesregierung angeboten
haben.
Unabhängig davon: In Chicago soll ein neues strate-
gisches Konzept der NATO vereinbart werden. Das ist ja
die Auskunft. Wenn es zu einem neuen strategischen
Konzept der NATO kommt: Muss dieser Deutsche Bun-
destag, der jetzt elf Jahre lang Truppen für Afghanistan
gestellt hat, nicht darauf bestehen, dass dieses Konzept
vorher hier im Deutschen Bundestag erörtert wird, so-
dass man pro und kontra Stellung nehmen kann?
Die Bundesregierung wird selbstverständlich gerne
alle Fragen eines strategischen Konzeptes mit dem Bun-
destag erörtern, aber nicht in der Form, wie zum Beispiel
bei der Euro-Stabilisierung, wo es in Teilbereichen ge-
setzliche Vorschriften über vorherige Zustimmungs-
erfordernisse gibt, sondern im Wege der Debatte und der
Befassung im Ausschuss und dann natürlich auch im
Lichte der Ereignisse. Kollege Gehrcke, wir wissen
beide: Bei dem Gipfel werden selbstverständlich auch
vor Ort noch Dinge auf den Tisch kommen, die vorher
im Einzelfall gar nicht klar zu sehen sind.
Die Debatte in den Ausschüssen und auch vertiefte
Gespräche vorher in den geeigneten Formaten bieten wir
also gerne an. Ich bin mir sicher, dass der Bundestag – er
ist Herr seiner eigenen Tagesordnung – auch im Plenum
über die NATO-Strategie debattieren wird.
Die Frage 41 der Kollegin Inge Höger, die Fragen 42und 43 des Kollegen Tom Koenigs, die Frage 44 derKollegin Katja Keul, die Frage 45 des Kollegen AndrejHunko und die Frage 46 des Kollegen Dr. Ilja Seifertsollen schriftlich beantwortet werden. Auch die Frage 47der Kollegin Viola von Cramon-Taubadel, die Frage 48der Kollegin Heike Hänsel und die Frage 49 des Kolle-gen Oliver Kaczmarek werden schriftlich beantwortet.Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs desAuswärtigen Amtes. Herzlichen Dank, Herr Staatsminis-ter.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums des Innern. Die Frage 50 des KollegenOliver Kaczmarek, die Frage 51 des Kollegen Dr. AntonHofreiter und die Frage 52 des Kollegen Dr. Konstantinvon Notz sollen schriftlich beantwortet werden. DasGleiche gilt für die Frage 53 des Kollegen AndrejHunko, auch sie wird schriftlich beantwortet.Damit sind wir im Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums der Finanzen. Die Fragen 54 und 55 desKollegen Dr. Gerhard Schick sollen schriftlich beant-wortet werden wie auch die Frage 56 des KollegenHans-Joachim Hacker. Die Frage 57 des Kollegen FrankSchwabe wird schriftlich beantwortet wie auch dieFrage 58 des Kollegen Klaus Hagemann.
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20174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
Vizepräsidentin Petra Pau
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Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeitund Soziales. Die Fragen 59 und 60 der Kollegin SabineZimmermann werden schriftlich beantwortet wie auchdie Fragen 61 und 62 des Kollegen Markus Kurth.Mir liegen keine weiteren Fragen vor. Wir sind damitam Ende der Fragestunde.Ich unterbreche die Sitzung des Deutschen Bundes-tags bis 15.30 Uhr. Ich bitte, die abweichende Sitzungs-zeit zu beachten. Wir setzen die Sitzung um 15.30 Uhrfort mit der Aktuellen Stunde zum Thema „Wettbe-werbsnachteile für deutsche Unternehmen wegen Nicht-erfüllung der Frauenquote bei den Führungskräften“.Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe auf den Zusatzpunkt 1:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Wettbewerbsnachteile für deutsche Unterneh-
men wegen Nichterfüllung der Frauenquote
bei den Führungskräften
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen. – Ich sehe die Wortmeldung zur Geschäftsordnung
der Kollegin Haßelmann. Ich hatte allerdings vor, den
Kollegen Lindner zu fragen,
ob wir jetzt mit der Debatte beginnen können.
– Das freut mich.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich sehe, dass das
Haus der Frauenministerin nicht vertreten ist. Wir sind
natürlich konsterniert darüber, dass es die Ministerin
nicht für nötig hält, an einer Debatte zum Thema Frauen-
quote teilzunehmen.
Aber dass sie wirklich die Chuzpe besitzt, noch nicht
einmal einen Staatssekretär zu schicken, halten wir für
unerträglich. Deshalb bitte ich, jetzt sofort dafür Sorge
zu tragen, dass dieses Haus erscheint.
Ich gehe davon aus, dass wir nicht das Haus, sondern
eine Vertreterin oder einen Vertreter des Hauses um das
Erscheinen bitten.
Deshalb frage ich erst einmal die Bundesregierung. –
Der Herr Staatssekretär ist erschienen. Ist damit diesem
Wunsch Rechnung getragen?
Das Ministerium ist jetzt vertreten.
Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heutefindet diese Aktuelle Stunde aufgrund eines peinlichenAnlasses statt, und der heißt: Blockadehaltung der Bun-desregierung, speziell der Bundesministerin für Frauen,bei der Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit fürDeutschland.
– Bitte.
Wir stellen eines fest: Im Auswärtigen Amt analysiertein Schreiben bestehende und drohende Wettbewerbs-nachteile für deutsche Unternehmen. Warum? Weil deut-sche Unternehmen im Führungsbereich durchgehendmännlich sind – teilweise bis zu 100 Prozent –, könnensie sich in Ländern, die Ausschreibungen an einen Frau-enanteil in den Vorständen und Aufsichtsräten knüpfen,nicht bewerben. Die Feststellung lautet an dieser Stelle,dass viele Länder – zum Beispiel Frankreich, zum Bei-spiel Spanien und einige andere – längst vorgeschriebenhaben, dass bei der Besetzung von Vorständen und Auf-sichtsräten bis 2015 eine Frauenquote zu erreichen ist.
Es gibt vier oder fünf Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union, die das zumindest für die öffentlichen Un-ternehmen festgelegt haben. Deshalb muss ich einesfesthalten: Schwarz-Gelb hat immer behauptet, die Ko-alition zu sein, die Regierung zu bilden, die die meisteWirtschaftskompetenz hat. Ich sage Ihnen: Diese Be-hauptung ist nicht wahr.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20175
Renate Künast
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Wahr ist: Sie sorgen für wirtschaftliche Nachteile fürDeutschland, und das ist schlecht für unser Land.Aber es geht nicht nur um diese Ausschreibungen, andenen deutsche Unternehmen nicht teilnehmen könnenund für die sie nicht den Zuschlag bekommen. Vielmehrstelle ich fest: Sie machen das in allen Bereichen.
Was die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft,das Leben in einer Wissensgesellschaft angeht, wenn esdarum geht, die Kreativszene zu unterstützen und neueKommunikationstechnologien reinzuholen, tun Sie fak-tisch nichts. Bei der Frage der ökologischen Ausrichtungder Wirtschaft, dem sparsamen Umgang mit Rohstoffenund Energie, um wettbewerbsfähig zu sein, tun Sie fak-tisch nichts.Bei der Frage, Fachkräfte nach Deutschland reinzuho-len, geben Sie heute mit einer Regelung an, die besagt:Der Zuzug von Fachkräften ist ab einem Gehalt von44 000 Euro möglich; in einigen Berufen ab einem Ge-halt von 33 000 Euro. Meine Damen und Herren, das istauch nicht viel mehr als nichts. Welcher Ingenieur, wel-che Ingenieurin bekommt denn diese 44 000 Euro oderjedenfalls mehr als 33 000 Euro?
Zudem gibt es nur ein Aufenthaltsrecht für zweiJahre.
Welchen Mann oder, besser noch, welche Frau wollenSie damit in dieses Land locken, Herr Lindner, dass manfür zwei Jahre ein Aufenthaltsrecht in Deutschland be-kommt?
Wenn ich Frau im Ausland wäre, würde ich sagen: An-gesichts dieser Regelung und wegen fehlender Frauen-förderung bewerbe ich mich gleich woanders.
So viel zu Ihrer Fachkompetenz an dieser Stelle!Beim Thema Bindung von Fachkräften – solchen, diekommen sollen, oder solchen, die schon in Deutschlandsind – nehmen Sie die Frauen auf dem Arbeitsmarktüberhaupt nicht wahr. Wie wollen Sie denn Frauen inUnternehmen in Deutschland kriegen, wenn Sie wederaußerhalb der Unternehmen die notwendige Infrastruk-tur schaffen, zum Beispiel für Familienarbeit, Pflege undKinderbetreuung, noch innerhalb der Unternehmen da-für sorgen, dass der Weg nach oben für Frauen wirklichmöglich ist, dass Karriereschritte für Frauen möglichsind? Ich sage Ihnen: In Schweden, Norwegen, Frank-reich, in den USA
kommen Frauen schneller nach oben. Und: In China,Brasilien und Russland
gibt es mehr Frauen in Vorstandsfunktionen als inDeutschland.
So viel zu Ihrer Kompetenz!
Wenn die Frauen dann aufgestiegen sind, verdienensie selbst in mittleren Managementfunktionen immermindestens 1 000 Euro weniger im Monat als die Män-ner. Ich sage Ihnen ganz klar: Wenn Sie weiter so agie-ren, wenn Sie sich nicht trauen, endlich zu Frauenförde-rungsregelungen zu kommen, wenn Sie sich nichttrauen, endlich eine Quote für Aufsichtsräte und Vor-stände der DAX-Unternehmen einzuführen, wird Ihneneines nicht gelingen: Sie werden weder die Vielfalt inden Führungsetagen bekommen, die Sie gerade für denWettbewerb mit dem Ausland brauchen, noch werdenSie Frauen hier binden können, noch bekommen SieFachkräfte aus dem Ausland. Das ist die ganze Wahr-heit!
Ich frage mich an dieser Stelle nicht nur, wo KristinaSchröder als Frauenministerin Deutschlands ist, sondernauch, was sie in dieser Funktion, in diesem Amt eigent-lich will.
Heute Morgen wachte ich auf und hatte beim Aufstehenin der Dämmerung so einen komischen Gedanken.
Da dachte ich: Herr Lammert, unser Parlamentspräsi-dent, wird ja für manches gehandelt. Vielleicht solltenwir ihn auch einmal als Frauenminister Deutschlandshandeln.
Der Mann weiß, dass wir eine Quote brauchen. Das istdoch was, oder?Nichthandeln, meine Damen und Herren, geht nicht.Nichthandeln ist ungerecht gegenüber den Frauen. DasGrundgesetz sagt uns: Frauen sind gleichzubehandeln.Wir haben einen aktiven Gleichstellungsauftrag.
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20176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
Renate Künast
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Nichthandeln heißt auch, die wirtschaftlichen Chan-cen Deutschlands, gerade die der großen Unternehmen,aber auch die der mittelständischen Unternehmen, andieser Stelle zu versemmeln.Nichthandeln geht auch nicht, weil die EU-Kommis-sarin Reding in diesem Sommer sowieso einen Vor-schlag macht.Nichthandeln geht ebenfalls nicht, weil 75 Prozentder EU-Bürgerinnen und EU-Bürger sowieso schon sa-gen: Ja, wir brauchen eine Quote.Daraus schließe ich: Wer die Frauen als Fachkräftehier haben will, wer auch aus den anderen EU-StaatenFrauen hierherholen will, muss an dieser Stelle zwin-gend zu einer Quote kommen.Deshalb – so höre ich bei jedem Redebeitrag auf –wende ich mich als Allererstes an die Frauen: WirFrauen brauchen noch in diesem Jahr einen Gruppenan-trag für – als Minimum – die Quote in Aufsichtsräten.
Mit Blick auf Herrn Lammert und viele andere Männerhier: Vielleicht wäre es gut, einen von Frauen initiiertenGruppenantrag zu machen, und vielleicht wäre es gut,wenn dem viele Männer beitreten würden, weil ihnen anden Frauen liegt, aber auch an der wirtschaftlichen Ent-wicklung Deutschlands.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Matthias
Heider das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Frau Künast, ich hatte eigentlich erwartet, dassSie über den Zusammenhang von Wettbewerbsfähigkeitund Frauenquote sprechen würden. Sie haben jedoch alldie Argumente wiederholt, die wir hier vorletzte Wocheschon einmal gehört haben.
Ich glaube, wir müssen sie dazu einfach noch einmal indie richtige Reihenfolge bringen. Und auch das müssenwir an dieser Stelle für Sie tun.Wir sprechen hier auf Antrag der Grünen über mögli-che negative Auswirkungen auf die Wettbewerbssitua-tion deutscher Unternehmen im Ausland. Das ist einwichtiges Thema; hiervon hängen viele Arbeitsplätze inunserem Land sowohl im produzierenden Gewerbe alsauch im Dienstleistungsbereich ab, und – das betone ich –es geht um Arbeitsplätze von Frauen und Männern.Weil in den Debatten zum Thema Frauenquoteschnell der Eindruck entsteht, über eine Quote für Vor-stände oder Aufsichtsräte würde sich wie von selbst dieBeschäftigungssituation von Frauen in Wirtschaftsunter-nehmen zum Guten wenden, freue ich mich, dass Sieausgerechnet das öffentliche Vergabewesen als Aufhän-ger gewählt haben.Ich möchte von hier aus zunächst einmal klarstellen:Alle Parteien haben das Anliegen der Förderung vonFrauen.
Welcher Weg der richtige ist, darüber diskutiert auch dieUnion. Ob und in welcher Höhe eine Frauenquote, flexi-bel oder nicht, zielführend ist und wie sie überhaupt er-füllt werden kann, das ist nicht nur in der Politik umstrit-ten. Es darf auch nicht um die Privilegierung einigerweniger gehen, sondern es muss um die Erhöhung vonChancen für alle Arbeitnehmerinnen, seien sie nun Ma-nagerinnen oder Angestellte, gehen.
Es kommt mit Blick auf die Frauen auf die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf an.
Deshalb muss es uns um alle Arbeitsplätze gehen, nichtnur um diejenigen in Vorstand oder Aufsichtsrat.Ein falscher Ansatz wird auch nicht richtiger, wenndie Hemmnisse erhöht werden. Sie beziehen sich mit Ih-rer Aktuellen Stunde ja offenbar auf einen Artikel in derRheinischen Post, in dem geschrieben steht, dass esdeutsche Unternehmen in Frankreich oder Spanienschwerer haben könnten. Meine Damen und Herren, ei-nes muss klar sein: Eine politische Instrumentalisierungdes Auftragsrechts und der Auftragsvergabe darf es nichtgeben.
– Bevor Sie weiter zwischenrufen, sollten Sie zuhören.
Die EU-Vergabevorschriften verpflichten öffentlicheAuftraggeber ab einem bestimmten Volumen zu europa-weiten Vergabeverfahren. Transparente, diskriminie-rungsfreie und auf Wettbewerb ausgerichtete Abläufesollen gewährleistet sein.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20177
Dr. Matthias Heider
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Sachfremde Kriterien dürfen nach dem Willen der EU-Gesetzgebung explizit keine Rolle spielen. Das machtauch der europäische Gesetzgeber in einer Richtlinie ausdem Jahr 2004 deutlich – ich zitiere –:Die vorliegende Richtlinie gründet sich auf dieRechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere aufdie Urteile zu den Zuschlagskriterien, wodurchklargestellt wird, welche Möglichkeiten öffentlicheAuftraggeber haben, auf Belange im sozialen Be-reich einzugehen, sofern derartige Kriterien im Zu-sammenhang mit dem Auftragsgegenstand stehen.Meine Damen und Herren, auch die Generalanwältinbeim Europäischen Gerichtshof Juliane Kokott hat in ei-nem laufenden Verfahren im Dezember letzten Jahres inihrem Schlussantrag klargestellt, dass es in einem sol-chen Fall um Qualitätsanforderungen an Bieter geht, de-nen im rechtlichen Zusammenhang Rechnung getragenwerden muss. Hier ging es um etwas, was Sie alle mö-gen, nämlich um den Einkauf von nachhaltig angebau-tem Kaffee, insbesondere für Kaffeeautomaten, und Tee.Da kommt die Generalanwältin zu dem Schluss:Außerdem darf der öffentliche Auftraggeber bei derVergabe seines Auftrags nicht die allgemeine Ein-kaufspolitik der Bieter berücksichtigen, sondernnur ihr Einkaufsverhalten in Bezug auf die konkretzu liefernden Produkte. Verlangt der öffentlicheAuftraggeber von den Bietern Informationen undNachweise zur Nachhaltigkeit ihrer Produkte undihrer Geschäftspolitik, so muss diese Anforderungeinen hinreichenden Bezug zum Auftragsgegen-stand haben und konkret abgefasst sein.Ich kann durchaus nicht einsehen, in welchem Bezugdenn zum Beispiel eine in Spanien zu bauende Autobahn– das haben Sie ja heute vorgebracht – mit einer Frauen-quote stehen sollte.
Da müssen Sie sich schon fragen lassen, welche BezügeSie hier ins Feld führen wollen.Meine Damen und Herren, ich will noch einmal aufNordrhein-Westfalen zu sprechen kommen. Auch dortgibt es das Tariftreue- und Vergabegesetz, wodurch Un-ternehmen gezwungen werden, wenn sie für das LandNordrhein-Westfalen arbeiten wollen, für bestimmteFördermaßnahmen für Frauen und die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf zu sorgen. Auch hier stelle ich dieFrage: Welchen Bezug hat das eigentlich zum Auftrags-gegenstand? Diese Frage stelle ich schon deshalb, weildie Gesetzgebungskompetenz dafür in diesem Haus,beim Bund, liegt und nicht etwa beim Land Nordrhein-Westfalen. Wenn Sie versuchen, auf solchen EbenenPolitik zu machen, müssen Sie sich fragen lassen: Waswollen Sie eigentlich für die Frauen, was wollen Sie ei-gentlich für die Wirtschaft tun? Ein Zusammenhang istda nicht erkennbar.Ich bin dafür, über die vorgeschlagenen Quoten zudiskutieren, aber vor allen Dingen sollten wir versuchen,für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zusorgen. Das ist die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, undnicht das Filetieren von Wirtschaftsaufträgen aus ande-ren europäischen Ländern.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Doris
Barnett das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Heider, Familie fängt wie Frau mit F an. Aber des-wegen gehört die Familie nicht allein den Frauen.
Wir Frauen haben ja lange genug auf ein faires Voran-kommen in unserer Karriere gehofft – ohne Quote. Denneigentlich haben wir das Grundgesetz auf unserer Seite.Deswegen haben wir, Rot-Grün, vor über zehn Jahrenmit der Wirtschaft eine entsprechende Frauenförderungauf freiwilliger Basis vereinbart – also ganz ohneZwang. Das Ergebnis kennen wir: 85 Prozent der Auf-sichtsratsposten und 97 Prozent der Vorstandspostensind auch im elften Jahr der Vereinbarung nur mit Män-nern besetzt. Jetzt komme mir bloß keiner – oder sollteich besser sagen: „Bloß keine Ministerin“? – und sage,das läge an den überragenden Qualitäten der Männeroder daran, dass die Frauen nicht wollten.
Fest steht: Mit guten Worten alleine richten wir inunserer Gesellschaft nichts aus. Die Quote wird unshelfen, das Gesellschafts- und Rollenbild der Frauen zuverändern.Wir Sozialdemokratinnen wissen das aus eigener Er-fahrung. Als wir die Quote 1988 in unser Grundsatzpro-gramm aufgenommen haben, war das Gezeter groß.Mittlerweile ist es ganz normal, dass Frauen nicht nurfür den Posten des Revisors oder Beisitzers kandidieren,sondern Oberbürgermeisterin, Abgeordnete, Minister-präsidentin werden und alle das für ganz normal halten.Dass Frauen gute Zugpferde bei Wahlen sind, ist ja be-kannt.Was wir in der Politik schon längst begriffen haben,sollten eigentlich auch die Wirtschaftsführer begreifen:Frauen sind gut fürs Geschäft! Frauen sind gut ausgebil-det, sie arbeiten hart und klug, auch wenn sie sich nichtunbedingt an dem Wettbewerb „Wer kann am längstenim Büro bleiben?“ beteiligen. Wer so etwas liebt, dem
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20178 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
Doris Barnett
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empfehle ich die TV-Serie Mad Men. Da werden Sie indie 50er- oder 60er-Jahre in eine Werbeagentur in derMadison Avenue zurückversetzt. Hier lernt man näm-lich, wie männliche Netzwerke funktionieren, wie man– Mann – es schafft, dazuzugehören oder auch aus demClub rauszufallen.Aber ehrlich gesagt: So ticken Frauen nicht! Und au-ßerdem: Wir sind in der Zwischenzeit auch 60 Jahre wei-ter. Obwohl: Nicht wenige dieser Rituale haben die Zeitüberlebt und blockieren auch heute noch in vielen Unter-nehmen ein neues Denken. Die Vision des Ernährers, derdie Familie versorgt, und der Frau, die etwas für dieFamilie dazuverdient – Herr Heider, das ist Ihr Bild –,
ist so stark verwurzelt, ja fast eingebrannt in mancheUnternehmenskultur, dass Veränderungen selbst mitEngelsgeduld nicht durchgesetzt werden können.Aber es gibt auch Hoffnung! Als erster DAX-Kon-zern hat sich die Telekom vor zwei Jahren ihre eigeneQuote verpasst: Bis 2015 will sie 30 Prozent aller Posi-tionen vom mittleren bis zum oberen Management mitFrauen besetzen. Also wird sich die Telekom für diesePersonalentwicklung fünf Jahre Zeit lassen. Hätte siezum Zeitpunkt unserer freiwilligen Vereinbarung damitbegonnen, wäre sie heute ein Leuchttrum. Aber immer-hin: Die Telekom zeigt, dass es geht.Es ist schon traurig, dass sich deutsche Unternehmengerne in der Wirtschaftswelt umschauen, wenn es umEffizienz, Rationalisierung, Kostenreduzierung usw.geht, aber beim Personaleinsatz, insbesondere bei derFrauenförderung, das Interesse aufhört. International re-nommierte Wissenschaftler weisen darauf hin, dass dieWettbewerbsfähigkeit eines Landes gerade auch mit derFrauenförderung zu tun hat. Wer heutzutage die gut aus-gebildeten, talentierten Frauen auf das Abstellgleis Mit-telmanagement schiebt, der verbaut sich seine eigenenChancen im globalen Wettbewerb.
Leider passiert genau das in unserem Land.Wenn ein Vorstand mir versichert, man fördere gerneFrauen, aber es brauche halt 15 Jahre – genauso lange,wie bei der Förderung von Männern –, dann kann ich nursagen: Hätte man zu Beginn der freiwilligen Vereinba-rung mit der Förderung angefangen, hätten wir heuteschon viele Frauen in den Führungsetagen; vielleichtbräuchten wir dann auch die Quote nicht mehr.
Denn vor elf Jahren gab es sicherlich nicht nur Berufsan-fängerinnen in den Betrieben.Andere Länder, gerade auch in der EU, sind schonviel weiter als Deutschland. Es wurde schon gesagt: Dortschätzt man Frauen nicht fürs Kaffeekochen, sondernwegen ihres scharfen Verstandes, ihrer umsichtigen, so-zialen Abwägungsfähigkeit – Eigenschaften, die wirhierzulande in den sich ausweitenden Ehrenamtsbahnenbenötigen, weil sie dem Zusammenhalt dienen und vielGeld sparen. In der Tat, Frauen können gut ehrenamtli-che Strukturen aufbauen, leiten oft große Vereine undsind zunehmend hervorragende Unternehmerinnen,wenn sie sich selbstständig machen. Aber das kann dochin Deutschland nicht die Antwort auf die berechtigteForderung der Frauen sein, auch in Führungspositionen,also im oberen Management, im Vorstand und im Auf-sichtsrat von großen Unternehmen, angemessen vertre-ten zu sein.Liebe Kollegen – ich richte mich jetzt an die Männer –,verstehen Sie bitte das Wort „angemessen“ richtig!Wenn wir die 40 Prozent fordern, sind wir noch harmlos;denn gemessen an unserem Bevölkerungsanteil würdenuns Frauen 52 Prozent zustehen.
Zurück zur EU. Hier plant nicht nur die Justizkom-missarin Viviane Reding eine Frauenquote in Höhe von40 Prozent für Aufsichtsräte in börsennotierten Unter-nehmen bis zum Jahr 2020. Es wurde schon gesagt:Spanien und Frankreich haben schon eine feste Frauen-quote. Dazu gehören auch Belgien, Italien, Norwegen,die Niederlande und Österreich. Wenn sich Deutschlandhier nicht bald einreiht, dann schadet es mutwillig derZukunftsfähigkeit und der Wettbewerbsfähigkeit seinerUnternehmen – und das bei oder trotz einer jungen Frau-enministerin,
die sich damit begnügt, es ja für sich geschafft zu haben.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jörg von Polheim für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Obwohl ich erst seit rund drei Monaten Bundestagsabge-ordneter bin, habe ich bereits eine Sache gelernt: DieGrünen holen bei jeder passenden und unpassenden Ge-legenheit die Frauenquote hervor.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20179
Jörg von Polheim
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Mag der Aufhänger auch noch so nichtig sein, eines istgewiss: Die Grünen schwingen ihre Moralkeule und em-pören sich über die Maßen. Dabei muss ich Ihnen dies-mal zugutehalten, dass Sie sich einmal mit Wirtschafts-themen auseinandersetzen. Plötzlich liegt Ihnen dieWirtschaft am Herzen, die Sie sonst geißeln und gän-geln, wo es nur geht.
Herzlichen Glückwunsch zu der Einsicht, dass die Poli-tik der Wirtschaft sogar helfen kann, auch wenn dies imaktuellen Fall gar nicht nötig ist.Mit dieser Aktuellen Stunde möchten Sie skandalisie-ren, dass sich deutsche Unternehmen, wollen sie an Aus-schreibungen im Ausland teilnehmen, an die Gesetze desjeweiligen Landes halten müssen.
– Hören Sie doch einfach mal zu, dann wird es einfacher. –Daraus einen Vorwurf an die Bundesregierung zu kon-struieren, zeugt von einer Chuzpe, die wiederum zu Ihrersonstigen Wirtschaftspolitik passt. Die FDP-Fraktionweist die immer bizarrer werdenden Belehrungen vonEU-Kommissarin Viviane Reding wegen einer angeblichfehlenden Frauenquote in Deutschland zurück. Die Un-terstellung, dass deutsche Unternehmen wegen einerfehlenden Quote keine Aufträge mehr erhalten, ist unnö-tige Panikmache. Das sollte Frau Reding wissen, undSie, meine Damen und Herren von den Grünen, auch.Dieser Anwurf dient nur dazu, die Bundesfrauenministe-rin Kristina Schröder plump unter Druck zu setzen.
Wir Liberalen im Bundestag unterstützen die Ministerinin ihrer Auffassung
– einfach einmal ausreden lassen; dann wird es einfacher –,dass die Europäische Kommission der Bundesrepublikkeine Quote vorschreiben kann.
Im Übrigen ist es längst nicht sicher, ob derart marktab-schottende Ausschreibungsbedingungen mit EU-Rechtvereinbar sind. Die Bundesregierung prüft das und wirdgegebenenfalls Schritte einleiten, sollte sich herausstel-len, dass diese Rahmenbedingungen gegen EU-Rechtverstoßen. Denn dann gilt es, sich wirklich für die deut-sche Wirtschaft einzusetzen, und zwar nicht nur pole-misch, wie Sie, meine Damen und Herren der Grünen, estun.Zur Klarstellung. Derzeit dürfen EU-Partnerländer, indenen eine nationalgesetzliche Frauenquote existiert,deutsche Firmen bei öffentlichen Ausschreibungen we-gen der Nichteinhaltung dieser Frauenquote nicht be-nachteiligen. Derartige Fälle sind auch nicht bekannt –Quelle: DIHK.
Durch das EU-Vergaberecht erübrigt sich eine gesetz-lich vorgeschriebene deutsche Frauenquote ohnehin. Esliegt im Verantwortungsbereich der einzelnen Unterneh-men, sich so aufzustellen, dass sie die Vorgaben erfüllen,um nicht von Ausschreibungen in Spanien oder Frank-reich ausgeschlossen zu werden. Die FDP-Fraktion lehntweiterhin eine Quote ab, weil wir damit nur an Sympto-men herumdoktern.
Wir wollen keine Fehlentwicklungen wie in Norwegen,wo die Quote lediglich dafür gesorgt hat, dass diegleichen Frauen in mehr Aufsichtsräten sitzen. GoldeneRöcke helfen niemandem.
– Goldene Röcke, ja. Erkundigen Sie sich einmal!
– Ich nicht.
Ich möchte an dieser Stelle nicht wieder alle sozial-politischen Maßnahmen der Bundesregierung zur Ver-besserung der Situation der Frauen im Berufsleben auf-zählen. Nur wer für eine bessere Vereinbarkeit von Berufund Familie sowie Beruf und Pflege sorgt, kämpft er-folgreich für die gerechte Teilhabe von Frauen an Füh-rungspositionen in der deutschen Wirtschaft. Das liegtim Übrigen auch im Interesse der deutschen Wirtschaft.Die Selbstverpflichtung der Wirtschaft ist zwar derschwierigere, dafür aber der nachhaltigere Weg. Diedeutsche Wirtschaft ist auf dem richtigen Weg, auchwenn dieser Weg noch lange nicht am Ende ist.Vielen Dank.
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20180 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
Jörg von Polheim
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Bevor wir fortfahren, nur eine kurze Information an
diejenigen, die uns zuhören oder zuschauen: Wir sind in
einer Aktuellen Stunde, deshalb äußern Kolleginnen und
Kollegen ihre Zustimmung oder Nichtzustimmung
sowie ihre Meinung zu den Redebeiträgen durch Zwi-
schenrufe, haben aber nicht die Chance, Fragen zu stel-
len oder zu intervenieren.
Das war eine Erklärung an die Zuhörenden zu dem Vor-
gang gerade.
Nun hat die Kollegin Yvonne Ploetz für die Fraktion
Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In China erobern Frauen das Weltall, in Deutschlandnoch nicht einmal den Chefsessel. Ich finde echt aben-teuerlich, was hier gerade passiert.
In China erklärt man einfach, dass künftig eines von dreiBesatzungsmitgliedern eines Raumschiffs eine Frau seinsoll – und in Deutschland streitet die Frauenministerin ge-gen so etwas Läppisches wie eine Frauenquote. Ganz ehr-lich: Ich muss mich hier wirklich manchmal schämen.
Anscheinend kommen auf Frau Schröder gerade ganzeinsame Zeiten zu. Selbst in ihrer eigenen Partei ist dieFlexiquote mehr und mehr umstritten. Annegret Kramp-Karrenbauer zum Beispiel, die gerade wiedergewählteCDU-Ministerpräsidentin im Saarland, hat schon vorMonaten gefordert, bei der gesetzlichen Frauenquoteendlich Nägel mit Köpfen zu machen. Selbst bei ihrenmännlichen Kollegen scheint der Widerstand gegen dieQuote zu schwinden. Das sicherlich prominenteste Bei-spiel ist unser Bundestagspräsident Norbert Lammert.
– Das hat auch Applaus verdient.Frau Schröder hat im Spiegel gesagt, dass ihr – ichzitiere – „das Denken in Geschlechterkollektiven fremd“sei. Für eine amtierende Frauenministerin ist das einwirklich sehr, sehr bedenkliches Zitat, wie ich finde. Eszeigt nämlich eindeutig, dass ihr jede Sensibilität imHinblick auf die Benachteiligung von Frauen fehlt.
Gerade erst hat EU-Kommissarin Viviane Reding dieseltsame Gleichstellungspolitik dieser Bundesregierungkritisiert: Mit dem Betreuungsgeld setze sie völlig fal-sche Anreize, die Kinderbetreuung in Deutschland seimangelhaft und die freiwillige Quote gescheitert. Des-halb fordert Brüssel nun die deutsche Quote, gesetzlich,verbindlich, für Aufsichtsräte und Vorstände. Das ist derrichtige Weg. Dass die Bundesregierung jedoch eine sol-che Belehrung braucht, ist wirklich peinlich.
Dabei gibt es doch richtig gute Beispiele für den Er-folg einer Quote. Norwegen hat als erstes europäischesLand eine 40-Prozent-Quote eingeführt. Den Erfolgmachten – neben sehr empfindlichen Sanktionen – zumBeispiel Projekte wie ein Mentoringprogramm aus. ImRahmen dieses Programms wurden weibliche Nach-wuchskräfte gemeinsam mit ihren zukünftigen Kollegenund mit ihren Chefs über Monate hinweg geschult, undzwar in Sachen Führungsstärke, Unternehmenskulturund Genderkompetenz.Das sorgte für ein echtes Umdenken, nicht nur in denUnternehmen, sondern auch in der gesamten Gesell-schaft. Plötzlich ist so etwas wie eine Kinderbetreuungs-zeit oder eine Familienzeit ganz selbstverständlicher Ar-beitsalltag. Das sind doch wunderbare Akzente, vondenen wir wirklich viel lernen können und sollten.
Aber Quoten alleine reichen nicht aus, und schon garnicht uns Linken. Uns geht es um die ganze Frauenfrage.Frauenquoten sagen nämlich noch gar nichts darüberaus, wie es Frauen in Unternehmen wirklich geht; daspielen noch ganz andere Faktoren eine Rolle. Uns gehtes unter anderem auch darum, dass Armutsfallen wieMinijobs, Niedriglöhne und Lohnunterschiede zwischenMann und Frau endlich bekämpft werden.
Altbackene Unternehmenskulturen müssen verändertwerden. Wir brauchen Individualbesteuerungen statt ei-nes Ehegattensplittings. Die Frauen müssen bei ihrer so-genannten ehrenamtlichen Gratisarbeit in den BereichenPflege und Erziehung endlich vom Staat und von denMännern entlastet werden. Darüber hinaus muss die Ar-beitszeit verkürzt werden. Außerdem brauchen wir einengesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde es schonziemlich merkwürdig, dass immer dann, wenn es um dieGleichstellung von Mann und Frau geht, wenn es umGehalt, Macht und Einkommen geht, auf Freiwilligkeitgesetzt wird. Ich sage Ihnen eines: Das liegt daran, dass
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20181
Yvonne Ploetz
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hinter jeder erfolgreichen Frau mindestens ein Mannsteht, der die Frauenquote zum Teufel jagen möchte.
Ich glaube, genau diese Männer brauchen die Frauen-quote dringender als jede Frau, und zwar auf Augen-höhe; sie beträgt 50 Prozent.
Eines möchte ich auch noch anmerken: Es darf beider Quotendebatte doch nicht darum gehen, die Profitevon Unternehmen zu vermehren. Es geht bei der Frauen-quote darum, Geschlechtergerechtigkeit herzustellen, so-ziale Gerechtigkeit herzustellen und Verfassungsaufga-ben zu erfüllen. Sie ist von Grund auf ein ganzdemokratisches Projekt, das Frauen und eben nicht demKapital Vorteile bringen soll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frauenrechtle-rin Hedwig Dohm sagte bereits 1910:Glaube nicht, es muß so sein, weil es so ist und im-mer so war. Unmöglichkeiten sind Ausflüchte steri-ler Gehirne. Schaffe Möglichkeiten.Ich glaube, genau das sollte endlich zum Leitsatz dieserRegierung werden.Danke schön.
Die Kollegin Rita Pawelski hat nun für die Unions-
fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ja, es bewegt sich etwas. Die deutschen Unternehmenbeginnen, zu begreifen. Seit etwa zwei Jahren brechendie männlichen Monokulturen in den Chefetagen auf. Imvergangenen Jahr wurden 16 Prozent der neu zu beset-zenden DAX-Vorstände von Frauen besetzt.
Aber was sich so gigantisch anhört, ist bei genauem Hin-sehen ziemlich bescheiden:
Die Zahl stieg real von drei auf acht Frauen, acht Frauenvon insgesamt 187 DAX-Vorständen. Na ja.
In den Aufsichtsräten wuchs der Anteil der Frauen umsagenhafte 2,8 Prozentpunkte, von 10 auf 12,8 Prozent.Sie sehen, es bewegt sich etwas, allerdings im Tempo ei-ner Schnecke. Unsere Wirtschaft leistet sich ein Schne-ckentempo ausgerechnet bei der wichtigen Frage: Wiemache ich in Zeiten des demografischen Wandels meinUnternehmen fit für die Zukunft? Meine Damen undHerren, die CDU hat einen sehr guten Slogan: „OhneFrauen ist kein Staat zu machen“.
Ich formuliere diesen Satz einmal um: Ohne Frauen istkein Unternehmen wettbewerbsfähig.
Jetzt heißt es, dass deutsche Unternehmen bei Aus-schreibungen in der EU womöglich mit Nachteilen zurechnen hätten. Es steht in allen Zeitungen; ich habe hierdie FAZ. Wenn es wirklich solch ein Papier gibt, dannmüssen wir darüber diskutieren. Ich wüsste übrigensgerne, ob es so ist.
Es kann nicht sein, dass es Pamphlete oder anonyme Un-terlagen aus einer Behörde gibt, in denen – wenn es dennstimmt – jetzt schon klar gesagt wird, dass UnternehmenNachteile haben werden, wenn sie nicht über genugFrauen verfügen. Ich sage Ihnen: Frankreich oder Spa-nien, die hier zitiert werden, werden sich nicht darumkümmern, ob es uns recht ist oder nicht; sie werden ihreGesetze voranstellen, nicht unser Denken und Wün-schen.
Ich bitte das Auswärtige Amt, hier wirklich für Klarheitzu sorgen. Ich möchte wissen, ob es das Papier gibt.
Meine Damen und Herren, es darf nicht sein, dass un-sere Wirtschaft mit Nachteilen zu rechnen hat, wenn siedie Quote nicht erfüllt. Darum ist für mich ganz klar:Wir brauchen mehr Tempo in der Frauenfrage. Dazumüssen wir aus dem langsamen Oldtimer aus- und in denschnellen Formel-1-Boliden einsteigen.
Wir müssen auch den Treibstoff wechseln, weg von derwirkungslosen freiwilligen Verpflichtung, die seit 2001nur ein Stück Papier ist.
Ich sage ganz deutlich: Wenn die Unternehmen das, wassie damals unter Kanzler Schröder unterzeichnet haben,
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20182 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
Rita Pawelski
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auch nur ansatzweise erfüllt hätten, würden wir heutenicht über dieses Thema sprechen.
Aber die Unternehmen haben bis 2010 nichts getan. Esgibt da ein Sprichwort:Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenner dann die Wahrheit spricht.
Diese Diskussion haben nicht wir zu verantworten, son-dern die Unternehmen, die sich nicht an ihre eigenenZusagen, an die schriftlich gegebenen Versprechen, ge-halten haben; sie haben sich diese Diskussion selber zu-zuschreiben.
Am Ziel sollen mindestens 30 Prozent Frauen in denSpitzengremien der börsennotierten Unternehmen ver-treten sein. Frauen in den Chefetagen bringen den Unter-nehmen Erfolg. Sie sind ein Wettbewerbsvorteil. Das be-weisen zahlreiche Studien. Ich weiß, dass jetzt jeder dieStudie herausholt, die ihm gerade passt. So werden Ex-perten zu Kronzeugen. Ich habe auch einen Kronzeugen,nämlich das renommierte Beratungsunternehmen Ernst &Young. Dessen Analyse ergab, dass Unternehmen mitVorständen, in denen Frauen vertreten sind, beim Um-satz um 20 Prozent, beim Gewinn um 22 Prozent undbeim Börsenwert um 7 Prozent besser sind als Unterneh-men ohne Frauen im Vorstand. Das sind doch Signale,die verstanden werden müssen.
Das macht deutlich: Es geht hier ganz konkret darum,wirtschaftliche Potenziale zu nutzen und Wettbewerbs-nachteile für unsere Unternehmen in Deutschland, abermöglicherweise auch in der Europäischen Union zu ver-hindern.Wer jetzt sagt, wir hätten nicht genügend erfahreneweibliche Kandidaten, der verschließt die Augen vor derWirklichkeit. Kienbaum oder Headhunter wie HeinerThorborg haben festgestellt: Wenn die Unternehmenwirklich Frauen finden wollen, dann finden sie dieseFrauen auch in Deutschland. – Es gibt also genügendFrauen, die können und wollen. Dass die Chefetagendennoch unter einem Frauenmangel leiden, zeigt doch,dass Leistung, Kompetenz und Einsatz nicht immer aus-reichen, um die Tür zu Führungspositionen aufzustoßen.Was anscheinend reicht, sind – außer Kompetenz undLeistung – Netzwerke und Seilschaften. Da sind die OldBoys halt routinierter und erfahrener. Aber ich verspre-che Ihnen: Wir lernen.
Lassen Sie mich zum Schluss eines sagen: Es machtkeinen Sinn, dass wir uns gegenseitig Fehler vorhalten.Hier sitzen einige, die 2001 aus Angst oder aus Disziplin– wie auch immer – verhindert haben, dass es ein ent-sprechendes Gesetz gibt, und hier sitzen welche, diemöchten kein Gesetz. Sich gegenseitig Naivität und Pas-sivität vorzuwerfen, bringt gar nichts.
Wir sollten nach vorne sehen und dafür sorgen, dass dieFrauen in unserem Land, egal in welchem Bereich,Chancen haben.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Dr. Eva
Högl das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin
Pawelski, das war eine mutige Rede.
Ich hoffe, dass viele aus den Koalitionsfraktionen Ihre
Rede gehört haben und sich daran bei der weiteren Bera-
tung über das Thema Frauenquote orientieren. Dafür
wünsche ich Ihnen persönlich, aber auch im Namen mei-
ner Fraktion viel Erfolg.
Wir wollen etwas erreichen für die Frauen in unserem
Land. Deshalb eignet sich dieses Thema überhaupt nicht
– Frau Pawelski hat es angesprochen –, um in einem per-
manenten Parteien-Hickhack zerrieben zu werden. Wir
wollen, dass Frauen in Führungspositionen kommen,
und suchen gemeinsam nach dem richtigen Weg. Wenn
wir feststellen, dass Selbstverpflichtungen nichts brin-
gen, dann müssen wir zu einer gesetzlichen Regelung
kommen.
H
Seien Sie bitte so freundlich und übermitteln Sieuns das Papier, über das wir heute reden.
Wir können sonst nur auf der Basis von Spekulationendiskutieren. Ich habe heute schon bei Ihnen angerufen,das Papier aber leider nicht bekommen, obwohl wirsonst einen guten Austausch haben. Übermitteln Sie es
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20183
Dr. Eva Högl
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uns bitte, dann wissen wir, auf welcher Grundlage wirhier diskutieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben einInteresse daran, dass deutsche Unternehmen im Wettbe-werb gut aufgestellt sind, und zwar nicht nur im europäi-schen Binnenmarkt, sondern weltweit. Es ist sonnenklar– das möchte ich noch einmal bekräftigen –: Es gibt kei-nen Widerspruch, keine Differenz zwischen wirtschaftli-chem Erfolg im Wettbewerb und der Gleichberechtigungvon Frauen und Männern. Im Gegenteil: Je mehr Gleich-stellung, je mehr Gleichberechtigung, umso erfolgrei-cher sind die Unternehmen.
Das belegen nicht nur Studien. Wir führen auch zuneh-mend eine Debatte über Standortentscheidungen. Wiralle wissen: Gleiche Bezahlung von Frauen und Män-nern, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und mehrFrauen in Führungspositionen – das zeigt die aktuelleDebatte über die Regelung in Spanien – werden zuneh-mend zum Kriterium für wirtschaftlichen Erfolg von Un-ternehmen und damit für die Standortentscheidung, unddas ist gut so.Es handelt sich um ein europäisches Thema; denn wirhatten diese Debatte schon bei der Gründung der Euro-päischen Wirtschaftsgemeinschaft, nämlich als derArt. 119 formuliert wurde, der gleiches Entgelt für glei-che Arbeit vorsieht. Dieser Artikel wurde in den euro-päischen Vertrag aufgenommen, weil Frankreich derAuffassung war, dass es im Zusammenhang mit der ge-ringeren Bezahlung von Frauen keinen unzulässigenWettbewerb geben darf, und dies als Problem der glei-chen Wettbewerbsbedingungen angesehen hat. Wir wol-len keinen Wettbewerb auf der Basis von Niedriglöhnenund der Diskriminierung von Frauen. Das sind unserePrinzipien in Europa. Deswegen bewundere ich es sehr,wenn einzelne Länder voranschreiten und das zum Kri-terium in Europa machen. Es ist peinlich und ein Skan-dal, dass die deutschen Unternehmen hier nicht viel fort-schrittlicher und an der Spitze der Bewegung sind.
Herr Heider, Sie haben das Vergaberecht falsch ver-standen, wenn ich das so offen sagen darf. Wir haben imeuropäischen Vergaberecht ganz klare Regeln. SozialeKriterien können zum Ausgangspunkt für Vergabeent-scheidungen genommen werden; das hat der EuGHbestätigt. Daran orientieren sich die anderen Mitglied-staaten. Es ist ein Trauerspiel, dass die deutsche Bundes-regierung diese europäischen Vorgaben bisher nochnicht umgesetzt hat.
Ich darf Sie – wir regieren ja gemeinsam in Berlin – anein gutes Beispiel aus Berlin erinnern. Wir haben im Ko-alitionsvertrag festgeschrieben – das haben wir gemein-sam getan; vielleicht schauen Sie sich das einmal an –:Die Darlegung von Frauenfördermaßnahmen bleibtein wichtiges Kriterium bei der öffentlichen Auf-tragsvergabe.
Wir haben eine entsprechende Regelung im Landes-gleichstellungsgesetz. Vielleicht schauen Sie sich daseinmal an. Ich glaube, man kann nicht sagen, dass dieBerliner Unternehmen nicht wettbewerbsfähig sind. Wirhaben das gemeinsam vereinbart. Vielleicht ist das eingutes Beispiel für eine bundesweite Regelung im Verga-berecht.
Die deutschen Unternehmen hätten längst etwas tunkönnen. Wenn sie jetzt Wettbewerbsnachteile haben,dann bedauere ich das ganz ausdrücklich. Aber die frei-willige Vereinbarung ist bereits elf Jahre alt. Sie hättelängst erfüllt werden können; es hätte längst etwas getanwerden können. Ich fordere Sie von den Koalitionsfrak-tionen auf: Helfen Sie den deutschen Unternehmen aufdie Sprünge! Sorgen Sie dafür, dass sich die Unterneh-men, wenn sie es nicht selbst tun, an die Spitze der Be-wegung stellen, in Europa eine fortschrittliche Politikmachen, Frauen in Führungspositionen befördern und sowettbewerbsfähig sind!Die SPD-Fraktion hat einen Gesetzentwurf vorgelegt.Ich denke, das ist eine gute Basis für Gespräche über dieFraktions- und Parteigrenzen hinweg, wie Sie dies ange-sprochen haben, Frau Pawelski. Ich würde mich sehrfreuen, wenn wir auf dieser Basis zu einer Einigung kä-men. Ich fordere alle auf, die jetzt noch dagegen sind:Kommen Sie aus Ihrem Bremserhäuschen heraus! Ge-hen Sie nach vorne! Frauenpolitik ist etwas, womit manmoderne Politik machen kann. Ich glaube, wir würdenda ein ganzes Stück für die Frauen in unserem Land nachvorne kommen.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Miriam Gruß hat nun für die FDP-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir sind die Letzten, die Wettbewerbsnachteilenicht abbauen wollten.
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Miriam Gruß
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Aber sich aus einer Nichterfüllung der Frauenquote er-gebende Wettbewerbsnachteile sehen wir weiß Gottnicht.Ich darf vielleicht aufklären, worüber wir in dieserAktuellen Stunde reden. Wir reden de facto über einenVermerk, den zwei Rechtsreferendare auf eigene Initia-tive verfasst haben,
ohne dass er genehmigt oder offiziell nach draußen ge-geben worden ist.
Ich darf Ihnen die Informationen aus dem AuswärtigenAmt kundtun, weil der Herr Staatsminister keine Mög-lichkeit hat, hier zu sprechen.
– Nehmen Sie das einfach an. – Jeder, der dieses Papierhaben möchte, kann es gerne haben und darf sich Zu-gang zu diesem Papier verschaffen.
Darüber reden wir heute. Deswegen haben wir jetzt hiereinen Riesenaufschrei. Ich sehe allerdings nicht solcheWettbewerbsnachteile in Deutschland.Schauen wir uns einmal die Fakten an
– hören Sie mir doch endlich einmal zu, welche Faktenich hier vortrage! –:
Wir haben die höchsten Beschäftigungszahlen, nämlich2,25 Millionen mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer als unter Rot-Grün. Wir haben 1,8 Millionen weni-ger Arbeitslose als zur Zeit von Rot-Grün.
Wir haben die Zahl der Kinder, die in Armut leben, umein Fünftel verringert. Das sind die Fakten! Das ist derUnterschied zu Rot-Grün!
Und der Export boomt.
2011 haben wir Waren im Wert von 1 Billion Euro ex-portiert. Ich sehe keine Nachteile für die Wirtschaft inDeutschland. Der deutschen Wirtschaft geht es gut, weilwir einen guten ordnungspolitischen Kompass haben.
Wir halten die Freiheit nach wie vor hoch, die Freiheitfür die Unternehmen in Deutschland. Wir glauben nicht,dass starre Personalquoten den Unternehmen irgend-einen Vorteil verschaffen würden. Wenn die Unterneh-men eigene Quoten einführen wollen, dann können siedas ja gerne machen. Daraus können sie auch gerne Vor-teile ziehen. Wir glauben aber nicht, dass eine flächen-deckende Personalquote für deutsche Unternehmen zuderen Wohl wäre. Wir glauben, das würde ihnen die Luftzum Atmen nehmen.
Das wäre zu ihrem Nachteil.
Ja, auch wir sind für mehr Frauen in Führungspositio-nen. Es bringt aber nichts, hier ständig diese Debatten zuführen. Es muss sich etwas in den Köpfen ändern.Weil Frau Ploetz gesagt hat, hinter jeder erfolgreichenFrau stehe ein Mann, der die Quote einführen wolle,
sage ich: Hinter mir steht ein Mann, mein Mann, der zuHause bleibt.
Wir müssen die Stereotypen aufbrechen. Die Stereo-typen in den Köpfen müssen sich wandeln. Die Männermüssen genauso selbstverständlich Familienzeiten neh-men können, ohne stigmatisiert zu werden,
wie Frauen arbeiten können müssen – dafür kämpfen wirhier –,
ohne stigmatisiert zu werden und ohne den Stempel„Rabenmutter“ aufgedrückt zu bekommen.
Das entscheidet über das Wohl und Wehe der Personal-politik in den nächsten Jahren. Diese Stereotypen müs-sen sich auflösen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20185
Miriam Gruß
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Wir müssen weiter daran arbeiten, die Vereinbarkeitvon Beruf und Familie zu verbessern. Diesbezüglich hatsich Nordrhein-Westfalen in den letzten zwei Jahren, indenen es von Rot-Grün regiert wurde, nicht gerade mitRuhm bekleckert.
Ganz nebenbei: Laut BDA-Zahlen hat sich etwas ge-wandelt. Auch Frau Pawelski hat es gesagt: Es ist etwasim Wandel. Die Zahl der Frauen in Führungspositionenhat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Ja, wirsind dafür, die Rahmenbedingungen zu verbessern. Wirsind aber auch dafür, die unternehmerische Freiheit zuwahren. So haben wir jede Krise in Deutschland gemeis-tert. Das werden wir auch in Zukunft tun.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Dr. Tobias Lindner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich bin mit einer Frau verheiratet – –
– Sie wird sich freuen, dass Sie klatschen. Das ist abernicht das Argument. – Ich bin mit einer Frau verheiratet,die Karriere machen möchte.
Ich bin mit einer Frau verheiratet, die mich als Mitgliedim Haushaltsausschuss nach der Bereinigungssitzung zuHause mit einem Wischmopp begrüßt hat. Sie hat ge-sagt: Schatz, du hast eine sitzungsfreie Woche – Bereini-gungssitzung in dieser Wohnung ist auch mal wiedernotwendig.
Wenn Kollegen wie Herr von Polheim Begriffe wie„goldene Röcke“ verwenden, dann ist das eine boden-lose Unverschämtheit gegenüber Frauen wie meinerGattin. Das wird nur noch dadurch getoppt, dass derKollege, nachdem er eine solche Rede hier im Bundes-tag gehalten hat, aus dem Plenarsaal geflüchtet ist.
Die Bundesfrauenministerin sagt, eine Selbstver-pflichtung reiche aus. Frauen wollten kein Mitleid, son-dern eine faire Chance. Das ist die Welt, die KristinaSchröder oder Herr von Polheim gerne hätten. Aber sindwir doch einmal ehrlich; schauen wir uns an, was in denletzten zehn Jahren beim Thema Frauen in Führungs-positionen geschehen ist. Ihre Vorstellungen grenzenschon fast an Wunderheilung und Wunschdenken. Wennman berücksichtigt, dass mehr Frauen als Männer anUniversitäten erfolgreich ein Studium beenden und da-bei meist schneller und erfolgreicher sind als Männer,muss man sich umschauen und fragen: Was ist mit einerPromotion? Was ist mit einer Habilitation? Was ist mitFrauen in Führungspositionen? Eigentlich gibt es nurzwei Thesen: Entweder werden Frauen nach dem Ab-schluss ihres Studiums dümmer und unfähiger, und esgibt irgendeinen Bruch, oder es gibt andere Gründe.Die Welt, die Sie gerne hätten, ist die Welt der Selbst-verpflichtung. Schauen wir uns das einmal an: In denletzten zehn Jahren ist die Frauenquote in DAX-Vorstän-den von 2,5 auf 3,7 Prozent gestiegen. Dies ist – ähnlichverhält es sich mit der FDP – statistisch kaum messbar.
Die Welt ist leider nicht so, wie Sie sie gerne hätten.Wenn Sie nichts tun, dann wird der Riss zwischen derWelt, die Sie gerne hätten, und der Realität nur noch grö-ßer. Das wird dann massive Auswirkungen auf den Wirt-schaftsstandort Deutschland und auf die Wettbewerbs-fähigkeit unserer Wirtschaft haben.Es gibt im Wesentlichen zwei Argumente, die man– unabhängig davon, ob man diesen Vermerk kennt odernicht – sehr leicht nachvollziehen kann. Ich habe vorfünf Jahren mein Studium beendet. Wenn ich mit Kom-militoninnen von damals rede und sie frage, was sie jetztberuflich machen, dann höre ich oft: Ich bin zu einemausländischen Unternehmen gegangen. Wenn ich nachden Gründen dafür frage, bekomme ich unter anderemals Antwort: In deutschen Unternehmen ist es für michals Frau schwer, in eine Führungsposition zu kommen.Ausländische Unternehmen sind hinsichtlich der Kinder-betreuung und verpflichtender Quoten weiter. Ich habeAngst, dass ich in Deutschland keine Karriere machenkann. – Das ist ein Teil der Realität.
Ein anderes Argument ist: Wenn wir uns in Europaumschauen, sehen wir, dass fünf Länder bereits eineFrauenquote eingeführt haben. In vielen Ländern ist dieDiskussion viel weiter als in Deutschland, nicht nur inder Politik und der Rechtslage, sondern auch in der Ge-sellschaft. Wenn in solchen Ländern Aufträge vergebenwerden, sei es durch die öffentliche Hand oder durch pri-vate Unternehmen, besteht die Gefahr, dass es für deut-sche Unternehmen immer mehr zum Wettbewerbsnach-teil wird, dass zu wenige Frauen in Führungspositionensind. Beispielsweise hat die Deutsche Telekom ihrenFrauenanteil im Vorstand erhöht; denn sie steht in Kon-kurrenz zur spanischen Telefónica, die in dieser Hinsicht
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20186 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
Dr. Tobias Lindner
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schon viel weiter ist. Diesen Zustand müssen wir be-enden, und zwar durch eine gesetzliche Frauenquote.
Europa ist viel weiter; das habe ich schon gesagt. Wirerleben in dieser Debatte Stereotypen, wie wir sie bei an-deren Themen in der Europapolitik gewohnt sind. Zuerstdementiert die Bundesregierung, dass sie etwas will.Dann dementiert sie es entschieden und härter, und dann– schauen Sie sich nur die Euro-Debatte an – knickt dieBundesregierung ein. Meine Damen und Herren von derKoalition, für die Frauen und für die Unternehmen inDeutschland müssen Sie sich nicht einmal einen Ruckgeben. Uns würde genügen, wenn Sie bei diesem Themaeinknicken.Vielen Dank.
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Peter Tauber
für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viel-leicht würden wir im Laufe der Woche gar nicht über dieMaßnahmen zum ESM diskutieren, vielleicht hätten wirdie Finanz- und Wirtschaftskrise so gar nicht erlebt,wenn in der Politik und in der Finanzwirtschaft inEuropa in der Vergangenheit mehr Frauen Führungsver-antwortung getragen hätten.
Dieses Argument hört man immer wieder. Wenn manweiß, wie unterschiedlich Männer und Frauen, die inUnternehmen und in der Politik Verantwortung tragen,teilweise agieren und reagieren, dann, glaube ich, kannman dieses Beispiel nicht ohne Weiteres vom Tisch wi-schen.Ich habe deshalb großes Verständnis für diejenigen,die enttäuscht sind, dass die Wirtschaft die freiwilligeVereinbarung zwischen der Bundesregierung und denSpitzenverbänden der Wirtschaft nicht eingehalten hat.Die Frage, ob die Tatsache, dass der damals amtierendeBundeskanzler das Thema als „Gedöns“ abgetan hat, ge-holfen hat oder nicht,
soll nicht Gegenstand der Debatte sein.
– Man darf es durchaus sagen, weil es eines dokumen-tiert.
Es dokumentiert, dass sich die Wahrnehmung dieser De-batte verändert.
Eines kann man, glaube ich, sagen: Diejenigen, die da-mals engagiert für dieses Thema gekämpft haben, habennicht die Aufmerksamkeit in unserem Land bekommen,die es heute für dieses Thema gibt. Das hat damit zu tun,dass sich gesellschaftliche Veränderungsprozesse – zuunserem Bedauern; aber wir müssen die Wirklichkeitnun einmal so betrachten, wie sie ist – zum Teil sehrlangsam einstellen.Das beste Beispiel ist das Elterngeld. Vor wenigenJahren hieß es noch: Das macht doch keiner. Man wirdschief angesehen, wenn man als junger Vater zum Chefgeht und sagt: Hör mal zu, ich will ein paar Vätermonatenehmen. – Diese Debatte gibt es nicht mehr. Ich kannbestätigen – ich weiß das aus meinem eigenen Freundes-kreis –: Es gibt große Akzeptanz, wenn junge Väter aufdiese Art und Weise Verantwortung für ihre Familieübernehmen wollen.
Das ist ein Beispiel dafür, wie langsam – viel zu langsam –diese Veränderungsprozesse manchmal verlaufen.
Wenn Sie sich die Zahlen von Women on Boards an-schauen, stellen Sie fest: Innerhalb eines Jahres kam es,was den Anteil von Frauen in Aufsichtsräten und Vor-ständen von MDAX-, SDAX-, TecDAX- und DAX-Un-ternehmen angeht, zu einer Steigerung von 6 Prozent aufknapp über 8 Prozent. Das ist eine Zahl, die uns nicht zu-friedenstellen kann. Wenn Sie sich die Zahlen genaueranschauen, stellen Sie aber fest, dass sich etwas verän-dert hat. In 6 der über 100 Unternehmen, die dort gelistetsind, ist der Anteil der Frauen leider sogar gesunken.
Aber in 55 Unternehmen – das ist mehr als die Hälfte –ist der Anteil der Frauen gestiegen, zum Teil sogar deut-lich.Ich bin ein Anhänger des Prinzips, diejenigen, die et-was gut machen, zu loben, und diejenigen, die etwasnicht gut machen, beim Namen zu nennen.
Das will ich gerne anhand von zwei Beispielen tun.Wenn die Douglas Holding AG einen Anteil von Frauenin Führungsgremien von über 33 Prozent hat, dann istdas gut;
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012 20187
Dr. Peter Tauber
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ihr Anteil kann vielleicht sogar noch ein bisschen höhersein, aber das ist schon einmal gut. Wenn KabelDeutschland den Anteil von Frauen in Führungsgremieninnerhalb eines Jahres von 12 auf über 20 Prozent gestei-gert hat, dann ist auch das gut. Wenn aber Unternehmenwie Tom Tailor oder SMA Solar Technology einen An-teil von Frauen in Führungsgremien von sage undschreibe null Prozent haben, dann ist „nicht gut“ wahr-scheinlich nicht die treffende Umschreibung für diesenZustand, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich finde, Schuldzuweisungen helfen uns am Endedes Tages nicht weiter. Es wurden in Treu und GlaubenVereinbarungen mit der Wirtschaft unterzeichnet, undman hat darauf gehofft, dass sich die Wirtschaft daranhält. Das kann ich niemandem vorwerfen. Zur Wahrheitgehört aber auch, dass wir in der gesellschaftlichen De-batte, auch was die Einsicht in die Notwendigkeit ent-sprechender Maßnahmen betrifft – das Beispiel Telekomist mehrfach genannt worden –, mittlerweile viel weitersind. Die Unternehmen haben mittlerweile erkannt, dasssie nicht etwas tun, was die Politik ihnen diktiert, son-dern dass sie sich selber einen großen Gefallen tun,wenn sie Frauen Führungsaufgaben übertragen. DiesenWandel in den Köpfen müssen wir hinbekommen, damites nicht heißt: „Jetzt trifft die Politik eine Entscheidung,und wir setzen sie um“, sondern alle sagen: „Das ist ge-nau der richtige Weg. Das funktioniert.“
Ich erlebe das am eigenen Leib. Ich habe um mich he-rum nur Frauen in Führungspositionen. Meine Arbeits-gruppe wird von einer Frau geleitet, von Dorothee Bär,und ich kann damit sehr gut leben. Ich bin sehr froh, dassich mit ihr jemanden habe, der mich leitet und an dieHand nimmt.
Das Ministerium wird von einer Frau geleitet, vonKristina Schröder, und ich glaube, dass sie das gutmacht.
Auch die Bundesregierung wird von einer Frau geleitet,
und ich glaube, Angela Merkel ist die richtige Bundes-kanzlerin. Das alles funktioniert ohne Quote.
Das zeigt, dass dies auch eine Frage der inneren Ein-stellung ist. Wir haben die richtige Einstellung. Wenn dieWirtschaft sie nicht hat und die notwendigen Maßnah-men nicht rechtzeitig ergreift, dann muss das Damokles-schwert, das über den Unternehmen schwebt, am Endedes Tages dazu führen, dass wir eine gesetzliche Rege-lung in Form eine Quote haben. Da beißt die Maus kei-nen Faden ab. Trotzdem glaube ich: Besser funktionierteine Gesellschaft über Einsicht und innere Überzeugung.Diesen Weg müssen wir weitergehen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Ingo Egloff für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir haben in dieser Debatte Argumente gehört,die wir schon aus den letzten Debatten kennen. HerrHeider, wir können uns natürlich über das Thema Ver-gaberecht streiten. Wir können auch überlegen, ob das,was Sie gesagt haben, geht oder nicht. Aber Fakt ist,dass das Auswärtige Amt die genannte Befürchtung ineinem Vermerk geäußert hat. Hier heißt es zwar, er seilediglich von zwei Referendaren verfasst worden. Wenndie Rheinische Post diese Aussage am 24. März diesesJahres veröffentlicht hat und das Auswärtige Amt eineandere Rechtseinschätzung hat, dann verstehe ich nicht,warum nicht längt öffentlich gemacht worden ist, dassdie Rechtseinschätzung, die anscheinend im Namen desAuswärtigen Amts verteilt worden ist, nicht zutreffendist. Das hätte doch schon lange passieren können.
Im Übrigen – darauf ist schon hingewiesen worden –haben zehn EU-Länder Frauenquoten für Unternehmenbeschlossen. Es nützt überhaupt nichts, dass Frau Minis-terin Schröder sich hinstellt und sagt: Die EU darf dasgar nicht regeln. – Hier ist schon auf die Römischen Ver-träge von 1957 hingewiesen worden. Natürlich kann dieEU das regeln. Wenn diese zehn EU-Länder dies in ihrenVergabegesetzen, wenn sie denn welche haben, zu einemKriterium der Auftragsvergabe für öffentliche Aufträgemachen, dann werden wir das erst einmal hinzunehmenhaben. Wenn deutsche Unternehmen dieses Kriteriumnicht erfüllen, dann haben sie ein Problem.
Wir sind die Exportnation Nummer eins im Bereich Ma-schinenbau und in anderen Bereichen. Auf solcheMärkte müssen wir uns eben einstellen.
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20188 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
Ingo Egloff
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Ich bin ein großer Freund von freiwilligen Selbstver-pflichtungen, wenn sie denn funktionieren. Die, die hiervereinbart und beschlossen worden ist, funktioniert aberseit zehn Jahren nicht, sonst hätten wir doch schon ganzandere Verhältnisse haben müssen. Deshalb bin ich derAuffassung, dass der Staat an dieser Stelle handeln muss.Er muss hier durchsetzen, was das Grundgesetz verlangt:die Benachteiligung im Verhältnis der Geschlechter ab-zubauen und Ungleichbehandlungen in der Gesellschaftzu verhindern. Das ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber.
Die EU-Kommissarin Viviane Reding, beileibe keineSozialdemokratin oder Grüne, sondern Mitglied der kon-servativen Christlich-Sozialen Volkspartei, hat drei Argu-mente dafür genannt, warum es für die Wirtschaft klugist, Frauen in Führungsfunktionen zu bringen: Das Erstehat auch Frau Pawelski schon benannt: Eine Reihe interna-tionaler Studien von renommierten Instituten und Wirt-schaftsberatungsunternehmen – das waren Ernst & Young,McKinsey und andere – hat gezeigt, dass Unternehmen,die auch von Frauen geführt werden, erfolgreicher sind.Sie haben auf die Zahlen hingewiesen. Das belegendiese Studien. Das zweite Argument, das sie benennt, ist:60 Prozent der Hochschulabsolventen sind weiblich. Dasdritte Argument, das in dieser Debatte überhaupt nochkeine Rolle gespielt hat, ist: Die geburtenstarken Jahr-gänge gehen zu Ende.Wenn man das letzte Argument betrachtet: Die Unter-nehmen sind schlecht beraten, auf den Teil der Bevölke-rung zu verzichten, der in der Regel die besseren Exa-mina macht.
Die Konkurrenz um gute Köpfe wird entscheidend dazubeitragen, ob deutsche Unternehmen in Zukunft nochkonkurrenzfähig sind. Wer das nicht verstanden hat undnicht dafür sorgt, der hat seinen Job nicht richtig verstan-den und wird am Ende zum Schaden der deutschen Wirt-schaft handeln.
Deshalb ist es wichtig, die Strukturen jetzt aufzubre-chen, wenn man in Zukunft erfolgreich sein will. Da diejetzt in den Unternehmen regierenden 55- bis 65-jähri-gen Männer anscheinend nicht in der Lage dazu sind,selbst das Steuer herumzuwerfen, weil sie in anderenStrukturen groß geworden sind, müssen wir als Gesetz-geber sie schon im Interesse der Zukunftsfähigkeit derdeutschen Wirtschaft dazu zwingen.
Das ist also nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit undder Umsetzung von Art. 3 des Grundgesetzes, sonderndas ist auch ein Gebot ökonomischer Klugheit, ein Ge-bot der Wahrung der Zukunftschancen der deutschenWirtschaft.Herr Dr. Lindner, deshalb verstehe ich überhauptnicht, dass die FDP, die sich ja immer als Wirtschaftspar-tei geriert, hier die Augen vor der Zukunft verschließt.
Dass Frau Ministerin Schröder keine Ahnung davon hat,mag an ihrer politischen oder beruflichen Biografie lie-gen, weil sie nie irgendetwas mit Wirtschaft zu tun hatte;aber da Sie sagen, Sie seien die Partei der Wirtschaft,müssten Sie sich dieser Problematik anders stellen, alsSie das hier im Moment tun.Wenn Sie uns als Sozialdemokraten oder den Grünenoder den Linken in diesem Punkt nicht glauben, dannglauben Sie wenigstens einer Konservativen wie VivianeReding. Sie hat das Nötige dazu gesagt. Lesen Sie dasnoch einmal nach! Dann sind wir auf dem richtigenWeg.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-
Becker für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Anlass der heutigen Aktuellen Stunde ist die Studie desAuswärtigen Amtes. Ich habe sie auch nicht bekommen.Die Zeitungen haben sie anscheinend.
Ich hätte sie auch gerne und würde mir wünschen, dassSie uns sie zuleiten, damit man sie sich einmal an-schauen kann.Ich muss sagen: Ich nehme es der Fraktion der Grü-nen nicht richtig ab, dass es die Wettbewerbsfähigkeitder Unternehmen ist, die sie hier so umtreibt.Wo ist denn das Problem? Die Chancen der Unterneh-men steigen nicht deshalb, weil wir hier eine gesetzlicheQuote hätten, sondern sie steigen, wenn die Unterneh-men mehr Frauen in ihre Führungspositionen bringen.Das liegt aber an dem jeweiligen Unternehmen. An die-ser Stelle muss ich der Logik der FDP in der Tat rechtgeben.
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Elisabeth Winkelmeier-Becker
(C)
(B)
Ich nehme es Ihnen auch deshalb nicht ab, weil Siedann konsequenterweise den Wirtschaftsminister hättenzitieren müssen, aber nicht die Frauenministerin.
Wenn es Ihnen in diesem Zusammenhang primär um dieWirtschaft ginge,
dann hätten Sie das an dieser Stelle konsequent durch-ziehen müssen.Zwischenergebnis: Es geht Ihnen darum, dies zumAufhänger zu nehmen, um über die Frauenquote zu spre-chen. Das nehme ich Ihnen aber nicht übel. Also nehmeich diese Chance gerne wahr.Wenn man die öffentliche Diskussion der vergange-nen Wochen und Monate in den Medien verfolgt, dannfällt auf, dass gerade Entwicklungen in der Union – imwahrsten Sinne des Wortes – im Fokus stehen, und dasauch zu Recht. Denn das, was real erreichbar ist, wassich an diesem Punkt wirklich ändern kann, wird maß-geblich von meiner Fraktion mitbestimmt. Vielleicht er-geben sich hier Entwicklungen, die auch zu realen Mehr-heiten führen können.Meinen Standpunkt habe ich hier schon des Öfterendargelegt, er ist auch unverändert so. Mein Standpunktentspricht im Wesentlichen dem, was wir in der BerlinerErklärung formuliert haben, für die ich bei dieser Gele-genheit weiter werben möchte. Ich halte es nach wie vorfür richtig, einen verbindlichen Frauenanteil von min-destens 30 Prozent in Aufsichtsräten mit einer angemes-senen Übergangsfrist bis 2018 zu fordern.Etliche Kolleginnen und auch einige Kollegen habenmittlerweile diese Erklärung unterschrieben. In den ver-gangenen Wochen und Monaten gab es immer mehr Äu-ßerungen, die ein Umdenken zeigten. Ich denke, das istnicht das erste Thema, bei dem es zu einem Umdenkenin meiner Fraktion kommt.
Als Volkspartei, die zu sein wir für uns in Anspruchnehmen, steht uns das auch sehr gut an. Genau solcheProzesse brauchen wir manchmal. Da bin ich sehr stolzauf meine Partei.
Ich möchte die Zeit nutzen, um für diesen Prozess zuwerben. Neben der wirtschaftlichen Bedeutung, die die-ses Thema durchaus hat, wie viele Frauen in Führungs-positionen sind, möchte ich ein paar Punkte ansprechen,die vielleicht auch meine Kollegen noch überzeugen.Der erste Aspekt betrifft die Wahlfreiheit, die uns sehram Herzen liegt. Für mich ist in diesem Zusammenhangdie Bedeutung der Quote ganz wichtig. Denn für dieFrage, ob sich jemand bereit erklärt, auf Zeit Sorgearbeitwahrzunehmen, ein oder zwei Jahre aus dem Beruf aus-zuscheiden, ist ganz entscheidend, ob er oder sie glaubt,dass man hinterher wieder an dieser Stelle weitermachenkann, ohne berufliche Chancen verloren zu haben.
Gerade in diesem Zusammenhang ist es ganz wichtig,dass wir Strukturen haben, die das unterstützen und dieauch zu garantierten Ergebnissen führen. Genau daswürde eine gesetzliche Mindestanteilsquote mit unter-stützen und fördern.
Dies entspricht insbesondere dem Sinne der Wahlfrei-heit, dass jemand den Mut hat, zu Hause zu bleiben,ohne hinterher auf Dauer dafür bestraft zu werden, dassman Sorgearbeit übernommen hat.
Zum zweiten Aspekt. Wir brauchen in der Tat eineverbindliche Regelung. Bleiben wir bei der Freiwillig-keit, dann bleiben die Verantwortlichen freiwillig beimStatus quo. Das ist ganz klar.
Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, die durchgän-gig verbindlich ist. Verbindlichkeit ist nur so stark, wiejedes Glied in der Kette verbindlich ist. Es reicht nicht,verbindliche Sanktionen an eine freiwillige Selbstein-schätzung anzuknüpfen.
Das macht so viel Sinn, als wenn man eine Steuer-pflicht an eine Selbsteinschätzung knüpft und Sanktio-nen vorsieht, wenn man diese selbstgesetzte Verpflich-tung nicht einhält. Dabei geht das eine Unternehmenmutig voran und schätzt sich hoch ein, verfehlt diesesZiel dann und muss deshalb mit Sanktionen rechnen. Einanderes Unternehmen springt nur so hoch, wie es muss,schafft das auch und wird gelobt, und das hat keine Kon-sequenzen. Das führt zu ungerechten Ergebnissen. Des-halb müssen alle Stufen der Regelung verbindlich sein.
Dritter Aspekt. Die Frauenquote ist kein Thema nurfür Eliten. Es geht nicht darum, dass hier einige hoch-qualifizierte Frauen gegen Ende ihres beruflichen Le-bens noch einmal die Chance auf eine bessere, bisherverpasste Position bekommen, sondern es geht darum,insgesamt ein Umdenken zu fördern, die Einstellung ge-genüber Frauen in verantwortlichen Positionen zu verän-dern. Das ist ein viel umfassenderes Thema.Wir haben insgesamt den Befund, dass Frauen vor al-lem dafür, dass sie Sorgearbeit übernehmen, beruflicheNachteile hinnehmen müssen. Für die einen spielt sichdas beim Thema Minijob ab. Bei den anderen ist es dieSchwierigkeit, wieder in den Beruf einzusteigen. Insge-samt zeigen sich diese Nachteile in geringerer Entloh-
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20190 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 28. März 2012
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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nung für Frauen. Das Gender Pay Gap liegt nach wie vorbei 23 Prozent.All das sind Facetten ein und desselben Problems, daswir umfassend auf allen Stufen angehen müssen, auchbeim Thema Frauen in Führungspositionen. Lassen Sieuns darüber alle zusammen konstruktive Gespräche füh-ren; da schließe ich mich meiner Kollegin Rita Pawelskian.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 29. März 2012,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen noch einen erfolgreichen Abend.