Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Ich begrüße Sie herzlich zu unserer 164. Sitzung undrufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungMit Blick auf das angekündigte Thema gibt es eineVereinbarung, dass die Regierungsbefragung insgesamt45 Minuten dauern soll. Das machen wir nach vorne wienach hinten ein bisschen davon abhängig, wie groß derNachfragebedarf tatsächlich ist.Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Reform der Wirtschafts- undWährungsunion.Zu einleitenden je fünfminütigen Berichten erhaltenzunächst der Bundesminister des Auswärtigen, der Kol-lege Guido Westerwelle, und anschließend der Parla-mentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Fi-nanzen, Steffen Kampeter, das Wort.Bitte schön, Herr Minister, Sie haben das Wort.Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben heute im Kabinett die Vorbereitungen dafür ge-troffen, dass der Deutsche Bundestag den Fiskalvertragberaten und ratifizieren kann. Das Vertragswerk, das daunterzeichnet worden ist, ist sehr bedeutend. Mit diesemVertrag wird ein neues Kapitel, auch in der europäischenIntegrationsgeschichte, aufgeschlagen. Die deutschePolitik, die vom Bundestag mit großer Mehrheit getra-gen wird, hat zwei Säulen: erstens die Säule der Solidari-tät – wir haben hier oft über die Pakete der Solidaritätberaten –, zweitens die Säule der Solidität. Das heißt, esgeht darum, dass wir nicht wieder in eine solche Krisekommen, und auch darum, dass wir strukturell aus derKrise herauskommen.Es gibt das berühmte Wort von den Chancen derKrise. Diese Chance der Krise wird heute genutzt, indemwir unsere Währung schützen und den Ländern, die inSchwierigkeiten geraten sind, Solidarität gewähren, undindem wir gleichzeitig auch die Grundlage dafür legen,dass Haushaltsdisziplin nicht nur eingehalten wird, son-dern Verstöße gegen diese auch sanktioniert werden. Dasheißt, dass wir zu einer Stabilitätskultur zurückkehren,wie sie ursprünglich im Vertrag von Maastricht angelegtgewesen ist, die aber, wie wir wissen, in der Praxis, übri-gens auch durch deutsches Zutun in den Jahren 2004 und2005, aufgeweicht wurde.Wir halten es für erforderlich, dass die Schulden-bremse, die wir in Deutschland haben, auch in den ande-ren europäischen Verfassungen verankert wird. Als manvor wenigen Monaten hier diskutiert hat, ob es uns in sokurzer Zeit gelingen könnte, einen völkerrechtlichenVertrag zustande zu bringen, hat man es kaum für mög-lich gehalten. Heute sehen wir, dass es geht. Wir habenes geschafft, dass in Europa, bis auf zwei Ausnahmen,alle dieses Vertragswerk unterzeichnet haben. Wir neh-men also unsere Verantwortung für Europa und für un-sere gemeinsame Währung auch wahr.Es geht im Fiskalvertrag darum, dass die Schulden-bremse verankert wird und dass Sanktionen verankertwerden. Dies bedeutet, dass künftig bei Verstößen Sank-tionen quasi automatisch greifen. Das ist auch ein wich-tiges Anliegen des Deutschen Bundestages gewesen, dasin mehreren Entschließungsanträgen zum Ausdruck ge-bracht worden ist. Das heißt: Künftig wird der Verstoßgegen die gemeinsam verabredete Stabilitätspolitik auto-matisch sanktioniert. Der Spielraum für politische Op-portunitäten wird erheblich zurückgeschraubt. Wer künf-tig die Sanktionen in einem konkreten Fall vermeidenmöchte, muss dafür eine qualifizierte Mehrheit organi-sieren. Es muss eben nicht, wie bisher, eine qualifizierteMehrheit für das Beschließen von Sanktionen organisiertwerden. Diese umgekehrte qualifizierte Mehrheit stärktdie Stabilitätspolitik erheblich. Wir gehen damit denWeg in Richtung Stabilitätsunion; damit bringen wirauch eine Fortentwicklung der politischen Union auf denWeg.Wir bitten den Deutschen Bundestag, das mit Zwei-drittelmehrheit – denn das ist die notwendige Mehrheit –zu beschließen. Nach den Reden, die hier im DeutschenBundestag von allen Seiten des Hauses gehalten worden
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19450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
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sind, und nach dem, was unterschiedliche Fraktionen inEntschließungsanträgen eingebracht haben und was zumTeil auch beschlossen worden ist, ist die Bundesregie-rung optimistisch und zuversichtlich, dass im DeutschenBundestag und im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheitauch für diesen wichtigen Fiskalvertrag zustandekommt.Es geht darum, dass wir die Verantwortung für Eu-ropa und für unsere Währung wahrnehmen. Deswegenbitten wir um Verständnis dafür, dass die Bundesregie-rung keinen parteipolitischen Kuhhandel betreiben wird.Wir sind vielmehr der Überzeugung, dass jetzt dieStunde der Entscheidung im Hohen Hause gekommenist. Ich gehe davon aus, dass der Deutsche Bundestag inbewährter europapolitischer Ausrichtung seine Verant-wortung wahrnimmt. Wir bitten also alle Fraktionen desDeutschen Bundestages, sich diesem historischen Ver-tragswerk anzuschließen.Es ist ein großer Erfolg deutscher Politik, der in Eu-ropa durchgesetzt werden konnte. Vor wenigen Monatenist das, auch hier im Deutschen Bundestag, von einigenKräften noch für unerreichbar gehalten worden. Wir ha-ben es geschafft; es ist möglich geworden. Europa gehtden Weg in Richtung Stabilitätsunion. Dafür ist der Fis-kalvertrag eine entscheidende Säule, ein entscheidenderAbschnitt. Ein neues Integrationskapitel in der europäi-schen Geschichte wird aufgeschlagen. Wir bitten des-halb den Deutschen Bundestag im Rahmen der ordentli-chen parlamentarischen Beratungen um Zustimmung.Des Weiteren geht es noch um die Fragen im Zusam-menhang mit dem ESM. All das wird dem DeutschenBundestag auch noch ordnungsgemäß zugeleitet. Heuteaber geht es um den Fiskalvertrag sowie um die Fragenach der Änderung des Art. 136 AEUV, die ich nur amRande erwähnen möchte; das ist den Anwesenden aberohnehin bekannt.Wir bitten um Zustimmung zu diesem wichtigen Ver-tragswerk, das wir jetzt national ratifizieren sollten.Vielen Dank.
Dann darf ich den Parlamentarischen Staatssekretär
Steffen Kampeter um den ergänzenden Bericht bitten.
S
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Mit der Ratifikation des Fiskalpakts bitten wirden Deutschen Bundestag und den Bundesrat um dieRückkehr zu einer regelgebundenen Finanzpolitik. Dieregelgebundene Finanzpolitik war eines der Gründungs-geschenke, die die Bundesrepublik Deutschland bei demVertrag über die Einführung einer gemeinsamen Wäh-rung mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt gemachthat.Leider hat uns dieses Thema in den vergangenen Jah-ren nicht so sehr umgetrieben. Deswegen ist es uns einAnliegen, die Finanzpolitik mit dem Fiskalpakt wiederin ein Regelsystem zu packen, das vertrauensbildend istund deutlich macht, dass auch zukünftige Mehrheiten,Parlamente und Regierungen an der Arbeit für die Stabi-lität dieser Währung nicht nachlassen dürfen. Deswegenist es finanzpolitisch wichtig, dass zwei Signale von die-ser Ratifikation ausgehen:Erstens. Konsolidierung ist einer der Markenkerneeuropäischer Politik.Zweitens. Zur Konsolidierungskomponente gehörtdie Rückkehr zur Wachstumsorientierung in der europäi-schen Politik.Konsolidierung und Wachstumsorientierung sindzwei Seiten ein und derselben Medaille, nämlich für einenachhaltige wirtschaftliche Entwicklung innerhalb Euro-pas zu sorgen.Die Zeichnung des Fiskalpaktes durch 25 der 27 euro-päischen Mitgliedsländer zeigt, dass die Abkehr von derFehlentwicklung eines schuldenfinanzierten Wachstumsweit über die Euro-Zone hinaus hohe Attraktivität be-sitzt. Die beiden Staaten, die den Pakt zum gegenwärti-gen Zeitpunkt noch nicht unterstützen, sagen nicht, dasssie nicht an die wachstumsfördernde Kraft stabiler Haus-halte glauben, sondern führen andere politische Argu-mente an. Das heißt, in Europa hat sich die Wahrneh-mung von Fiskalpolitik gewandelt.Ich werbe dafür, dass man den Fiskalpakt im Rahmeneines integrierten Gesamtkonzepts für mehr Vertrauen indie europäische Wirtschafts- und Währungszukunft ver-steht.Ein Moment ist die Frage der nationalen Verantwor-tung. Alle Staaten und alle nationalen Parlamente in Eu-ropa sind mit dem Fiskalpakt aufgefordert, ihre Haus-halte durch nationale Schuldenbremsen in Ordnung zuhalten bzw. sie dort, wo sie es nicht sind, in Ordnung zubringen.Das zweite Moment dieser integrierten Gesamtstrate-gie ist die Veränderung der europäischen Entscheidungs-prozesse. Auch Europa muss sich verpflichtet fühlen,diese Vertrauensstrategie durch die umgekehrt qualifi-zierte Mehrheit zu unterstützen.Während es bei den ersten beiden Momenten um Sta-bilität und Vertrauen geht, ist lediglich das dritte Mo-ment ein Solidaritätsmoment; es ergänzt die beiden an-deren Momente zu einem Gesamtkonzept.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Fiskal-pakt macht deutlich, dass es der Bundesregierung imKern darum geht, die qualitativen Komponenten vonKonsolidierungsstärkung und Wachstumsförderung inden Vordergrund zu stellen. Es geht nicht um diese oderjene Zahl, nicht darum, wie hoch eine angeblicheFirewall oder Mauer ist, sondern darum, dass wir struk-turell kurz-, mittel- und langfristige Strategien haben,wie die Haushalte innerhalb der Euro-Zone und im Be-reich der europäischen Integration insgesamt tragfähigsein können. Nur wenn es uns gelingt, diese Qualitäts-komponente auch in den Herzen der europäischen Ent-scheidungsträger zu verankern, dann wird der Euro aufDauer die Stabilität haben und die europäische Integra-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19451
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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tion auch in der Finanzpolitik die Erfolgsgeschichte sein,die wir uns wünschen.Wir laden nicht nur die Koalitionsfraktionen ein, dazubeizutragen, sondern wünschen uns eine breite Mehrheitsowohl im Bundestag als auch im Bundesrat. Es ist unsin der vergangenen Legislaturperiode gelungen, mitgroßer und breiter Mehrheit im Bundestag und im Bun-desrat die nationale Schuldenbremse als gesamtgesell-schaftliche, gesamtwirtschaftliche und gesamtstaatlicheAufgabe zu etablieren. Die Ratifizierung des Fiskalpaktsist nun der nächste Schritt. Wir setzen im Bundestag wieim Bundesrat auf die dafür aus unserer Sicht notwendigeZweidrittelmehrheit. Dies ist die politische Aufgabe derdeutschen Politik. Der Bundestag und der Bundesratsind aufgefordert, daran mitzuwirken.
Ich bedanke mich für die Berichte. – Ich rufe nun die
bereits angemeldeten Fragesteller auf, zunächst den Kol-
legen Carsten Schneider.
Danke, Herr Präsident. – Erst einmal vielen Dank für
die Unterrichtung seitens der Bundesregierung. Nach
dem Kabinettsbeschluss ist es jetzt das erste Mal, dass
der Bundestag dazu gefragt wird; bisher haben Sie die-
sen Vertrag zwischenstaatlich verhandelt. Seit dem Wo-
chenende ist bekannt, dass für die Ratifizierung eine
Zweidrittelmehrheit notwendig sein soll; zumindest ist
das der Kabinettsvorlage zu entnehmen. Darin steht,
dass eventuell der Inhalt des Grundgesetzes geändert
oder ergänzt werden muss. Ich würde gerne wissen, an
welcher Stelle genau das der Fall ist.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Herr Kollege, die Verfassungsrelevanz folgt aus ei-
nem einfachen juristischen Prinzip: Man braucht eine
verfassungsändernde Mehrheit, um die Verfassung zu
ändern; aber man braucht eine verfassungsändernde
Mehrheit auch, wenn man sich verpflichtet, sie an einer
Stelle nicht mehr zu ändern. Sprich: Wir gehen zwi-
schenstaatlich völkerrechtlich verbindlich die Verpflich-
tung ein, dass es bei der Schuldenbremse bleibt. Wir
bringen ja andere Staaten dazu, die Schuldenbremse zu
beschließen, und verpflichten uns zwischenstaatlich
dazu, dass es bei dieser Schuldenbremse bleibt. Ich
kenne zwar bis auf eine Fraktion, glaube ich, niemanden,
der die Schuldenbremse, die wir gemeinschaftlich verab-
redet und beschlossen haben, wieder aufheben will. Aber
die verfassungsrechtliche Relevanz, also die Notwendig-
keit der Zweidrittelmehrheit, ergibt sich aus der genann-
ten Überlegung. Deswegen ist es aus unserer Sicht rich-
tig bzw. von den Verfassungsressorts richtig eingeschätzt
worden, dass dafür eine Zweidrittelmehrheit erforderlich
ist.
Kollege Barthle.
Herr Präsident, vielen herzlichen Dank. – Sowohl der
Bundesaußenminister als auch der Herr Staatssekretär
haben in ihren Vorträgen deutlich darauf hingewiesen,
welche große Bedeutung dieser Fiskalvertrag für Stabili-
tät und Wachstum in Europa hat, und angemerkt, dass
ein wesentlicher Bestandteil dieses ganzen Konzeptes
die Schuldenbremse ist. Diese Schuldenbremse sieht ja
klare Kriterien vor, die die Unterzeichnerstaaten in ihr
nationales Recht übertragen müssen.
Ich möchte gerne fragen: Was geschieht, wenn ein
Mitgliedstaat diese Regeln nicht einhält? Welches Ver-
fahren ist vorgesehen, um diesen Regelungen zur Um-
setzung zu verhelfen?
Wie stellt sich die Bundesregierung im weiteren Verlauf
mittel- und langfristig das Verfahren vor, diese Grenze
von 60 Prozent Verschuldung bezogen auf das Bruttoin-
landsprodukt einhalten zu können?
S
Zum ersten Teil der Frage: Ja, es ist richtig, Herr Ab-
geordneter Barthle: Die deutsche Schuldenbremse hat
mit ihrem materiellen Gehalt Pate gestanden für den Fis-
kalpakt. Die Unterstützung des deutschen Grundanlie-
gens, eine Schuldenbremse einzuführen, durch die Euro-
päische Zentralbank hat ihr Übriges getan, auch unsere
europäischen Vertragspartner von der Stringenz und Be-
deutung ihrer im Deutschen Bundestag und im Bundes-
rat beschlossenen Bestandteile zu überzeugen.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage hinsichtlich der Sank-
tionsmöglichkeiten: Wir haben im Fiskalpakt – dieser
tritt in Kraft, wenn ihn zwölf Euro-Mitgliedstaaten ge-
zeichnet haben – und durch die Anpassung europäischen
Rechts erstmals geregelt, dass es möglich ist, Sanktionen
vor dem Europäischen Gerichtshof einzuklagen. Da-
rüber hinaus setzen wir mit der Verbindung von Fiskal-
pakt und Europäischem Stabilitätsmechanismus einen
weiteren Anreiz, sich dem Stabilitätsregime dieses Ver-
trages frühzeitig und umfassend zu unterwerfen.
Zur dritten Frage, die Sie, Herr Abgeordneter Barthle,
gestellt haben: Sie wissen, dass wir uns auf dem Pfad zur
Erfüllung der Schuldenbremse des Grundgesetzes mit
dem designierten Fiskalpakt im Einklang befinden. Da-
her sind wir zuversichtlich, dass wir die Forderungen
nicht nur erfolgreich erfüllen, sondern dass wir das Ziel
unter der Annahme einer stabilen wirtschaftlichen Ent-
wicklung vorzeitig erreichen. Wir sind allerdings auf
parlamentarische Mehrheiten im Deutschen Bundestag
angewiesen. Gegebenenfalls mag der eine oder andere
Konsolidierungsschritt hier auch streitig diskutiert wer-
den. Die Bundesregierung hält daran klar fest, und wir
wissen uns parlamentarisch breit unterstützt.
Herr Minister, möchten Sie dazu noch ergänzen?
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Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Wenn Sie es gestatten.
Gerne.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Danke, Herr Präsident. – Unsere Erfolgskontrolle be-
inhaltet zwei Punkte.
Der erste Punkt ist folgender: Die Einführung plus
Umsetzung der Schuldenbremse in den anderen europäi-
schen Staaten kann von uns überwacht und vor dem
EuGH eingeklagt werden.
Das Zweite ist: Die praktische Umsetzung im Haus-
haltsvollzug – also über Jahre betrachtet – erfährt jetzt
dadurch eine Stärkung, dass wir die Stabilitätskriterien
mit Sanktionen bewehren und nicht mehr der politischen
Opportunität unterwerfen.
Es sind also zwei Mechanismen, mit denen wir unsere
deutschen Interessen vorzüglich wahrnehmen können.
Der Kollege Hunko hat das Wort.
Herr Minister Westerwelle, vielen Dank für die Un-
terrichtung. Vielleicht nur eine Anmerkung: Der Fiskal-
pakt ist zwar bereits unterzeichnet worden, aber noch
nicht ratifiziert. Warten wir einmal ab, wie das Referen-
dum in Irland ausfallen wird. Warten wir einmal ab, wie
die Entwicklung in Frankreich und das Verhalten des zu-
künftigen französischen Präsidenten sein werden.
Mir geht es nun um Folgendes: Der Chef der EZB,
Mario Draghi, hat kürzlich in einem Interview im Wall
Street Journal mit Blick auf die Krise und mit Blick auf
den Fiskalvertrag gesagt, das europäische Sozialstaats-
modell habe ausgedient. Meine Frage ist: Ist das auch
die Position der Bundesregierung? Wenn nein, was hat
die Bundesregierung getan, um Herrn Draghi darüber zu
informieren, dass etwa in Art. 20 Abs. 1 des Grundgeset-
zes steht, dass die Bundesrepublik ein demokratischer
und sozialer Bundesstaat ist und bleiben soll?
Vielen Dank.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Herr Kollege, zunächst stelle ich fest: Ich kenne die
Äußerungen von Herrn Präsidenten Draghi nicht. Ich
werde deswegen auch nicht auf seine Äußerungen einge-
hen, sondern nur zu Ihrer Fragestellung etwas sagen, da-
mit in der Berichterstattung kein falscher Eindruck er-
weckt wird.
Die Bundesregierung ist der Überzeugung, dass sich
der Sozialstaat in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland mehr als bewährt hat. Wir sind der Über-
zeugung, dass ein Sozialstaat, also eine Marktwirtschaft
mit sozialer Verantwortung, ein Erfolgsmodell ist, das
sich weltweit empfiehlt. Als Außenminister sehe ich mit
großer Freude, dass zum Beispiel unter den neuen Ge-
staltungsmächten eine Diskussion darüber beginnt, wie
man den Gesichtspunkt „soziale Verantwortung“ in
marktwirtschaftliche Strukturen integrieren kann. Das
Sozialstaatsmodell ist außerordentlich erfolgreich. Es
mag allerdings sein, dass zwischen Ihnen und mir hin-
sichtlich der konkreten Ausformung und der konkreten
Umsetzung des Sozialstaates der eine oder andere Mei-
nungsunterschied vorhanden ist und auch bleiben wird.
Wir werden beide auf diese unterschiedlichen Auffas-
sungen stolz sein.
Sie haben außerdem die Entwicklungen in Irland und
Frankreich angesprochen. Zunächst möchte ich darauf
hinweisen: Wir werben genauso wie die irische Regie-
rung dafür, dass das Referendum positiv ausgeht. Aber
in diesem Zusammenhang sind zwei Aspekte zu berück-
sichtigen.
Erstens. Es müssen zwölf Staaten ratifizieren. Das
heißt, selbst wenn das Referendum in Irland anders aus-
ginge, als wir erwarten und als es die irische Regierung
will, dann könnte das die Inkraftsetzung des Fiskalpak-
tes nicht verhindern.
Zweitens. Der französische Staatspräsident hat den
Vertrag unterzeichnet. Verträge binden, sie binden auch
nachfolgende Regierungen. Ich habe jüngste Äußerun-
gen von französischer Seite so verstanden, dass sich
Frankreich an das halten wird, was gemeinsam verein-
bart wurde.
Pacta sunt servanda – das sagen wir an alle, die sich
derzeit in die politischen Debatten in den verschiedenen
europäischen Ländern einbringen. Wir haben einen Ver-
trag geschlossen. Er ist im Interesse Europas, im Inte-
resse der Mitgliedstaaten Europas und im Interesse der
Bürgerinnen und Bürger. Wir haben nicht die Absicht,
einen geschlossenen Vertrag von Wahlen oder Wahlaus-
gängen abhängig zu machen. Man wäre nicht mehr re-
gierungsfähig, wenn Regierungen nicht auch ein Land
an Verträge binden könnten. In Deutschland geschieht
das mit parlamentarischer Zustimmung, weil wir ein be-
stimmtes Ratifizierungsverfahren haben. In anderen
Ländern ist es anders. Für uns ist völlig klar: Es bleibt
bei dem, was beschlossen wurde.
Vielen Dank. – Bisher habe ich die Antworten mit
Blick auf die weiterlaufende Uhr sehr großzügig behan-
delt. Ich bitte Sie, das in Zukunft etwas zu straffen
– manches, was zweifellos richtig ist, wird jetzt mehr-
fach wiederholt –, sodass wir zu einer etwas dichteren
Abfolge kommen können; denn es gibt viele Wortmel-
dungen. – Herr Kollege Sarrazin.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, HerrStaatssekretär, neben den Regelungen des Fiskalpaktsführen wir derzeit auf europäischer Ebene Debatten überdas sogenannte Two-Pack, eine Verschärfung des Stabi-litäts- und Wachstumspaktes. Ich höre jetzt aus dem
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Manuel Sarrazin
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Europäischen Parlament, dass viele korrespondierendeInhalte des Fiskalpakts identisch in das Two-Pack über-nommen werden sollen. Ich möchte die Bundesregie-rung gerne fragen, ob sie alle Bestrebungen unterstützenwird, korrespondierende Regelungen, die im Fiskalpaktbereits geregelt sind, auch für die 27 gültig, in das Two-Pack zu übernehmen.Ich möchte eine weitere Frage anschließen. Im erstenTwo-Pack-Entwurf der Kommission war eine Regelungzur nationalen Schuldenbremse enthalten. Im GeneralApproach des Rates ist sie jetzt verschwunden. Ichwürde gerne die Bundesregierung fragen, warum die Re-gelung im General Approach nicht mehr enthalten istund welche Haltung sie dazu einnimmt.S
Herr Präsident! Lieber Kollege Sarrazin, der Fiskal-
pakt ist ein intergouvernementaler Handlungsansatz; das
Two-Pack, das Sie ansprechen, entspringt dem Sekun-
därrecht. Wir haben mit dem intergouvernementalen An-
satz innerhalb weniger Wochen einen Quantensprung
gemacht, der uns nicht gelungen wäre, wenn wir uns auf
Primär- und Sekundärrechtsanpassungen konzentriert
hätten. Unser Ziel ist aber – das ist auch Bestandteil der
Fiskalpaktregelung –, diesen Fiskalpakt nach einer
Übergangsphase aus dem intergouvernementalen Rege-
lungsbereich in europäisches Primärrecht zu überführen.
Es ist von daher unser Anliegen, die Regelungen des
intergouvernementalen Fiskalpakts und die sekundär-
rechtlichen Konkretionen, die wir zum gegenwärtigen
Zeitpunkt zu ähnlichen oder identischen Sachverhalten
haben, so aufeinander abzustimmen, dass einer späteren
Integration des Fiskalpakts in Primärrecht der Europäi-
schen Union nichts entgegensteht. Insofern ist es nicht
verwunderlich, dass die Regelungen im sogenannten
Two-Pack mit Sach- und Regelungsinhalten im intergou-
vernementalen Fiskalpakt korrespondieren.
Ausnahmsweise gestatte ich eine sofortige Nachfrage.
Meine Frage ist, ob Sie sich in den Verhandlungen in
den kommenden Wochen mit Ihren Stimmen im Rat da-
für einsetzen werden, dass Regelungen, die im Sekun-
därrecht bis Mai aufgenommen werden können, iden-
tisch oder korrespondierend zur Regelung im Fiskalpakt
beschlossen werden, oder ob Sie sie, beispielsweise mit
Verweis darauf, dass sie für 25 EU-Staaten schon gelten,
verhindern werden.
S
Wir wollen, dass Two-Pack und der Fiskalpakt har-
monisiert sind, das heißt, aufeinander abgestimmt wer-
den.
Rolf Schwanitz stellt die nächste Frage.
Herr Minister, ich möchte noch einmal nach der
neuen Qualität des Fiskalpaktes fragen, und zwar mit
Blick darauf, an welchen Stellen der Fiskalpakt wirklich
über die Regelungen des sogenannten Six-Packs, die als
Richtlinien oder Verordnungen seit Anfang November
geltendes Recht sind, hinausgeht. Ich stelle die Frage
auch vor dem Hintergrund des Gesprächs, das wir vor
zwei Tagen mit Kommissar Rehn führen konnten. In die-
sem Gespräch ist die Einschätzung geäußert worden
– diese Einschätzung teile ich –, dass rund 95 Prozent
der Regelungen des Fiskalpakts bereits im Six-Pack ent-
halten sind, also bereits geltendes Recht innerhalb der
Europäischen Union sind. An welchen Stellen ist der
Fiskalpakt qualitativ besser und weitgehender als das
Six-Pack?
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
So ist das bei der Prozentrechnung. Manchmal sind
5 Prozent ganz entscheidend, wie ich Ihnen aus langjäh-
riger Erfahrung berichten kann.
Diese Bemerkung, Herr Außenminister, rechnen wirnicht auf Ihre Redezeit an.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Es freut mich, dass die Regierung den Herrn Präsi-denten erfreuen konnte.Das Entscheidende ist in der Tat der Bereich, der bis-her nicht enthalten ist. Das heißt erstens: Wir haben jetzteine völkerrechtliche Vereinbarung darüber, dass dieSchuldenbremse national geltendes Verfassungsrechtwird und an den Stellen, an denen sie nicht Verfassungs-recht wird, ein Äquivalentz bekommt. Dass es unter-schiedliche Rechtsordnungen und Rechtsstrukturen gibt,muss ich, glaube ich, in diesem Kreis nicht sagen.Zweitens. Wir haben eine Einklagbarkeit, das heißtdie Unterwerfung in einem bestimmten Bereich unter dieRechtsprechung des EuGH, die es bisher nicht gab, dieauch nicht sekundärrechtlich vereinbart werden kann.Das ist einer der Punkte, die uns bewusst sein müssen:Wir geben damit etwas an Kompetenzen ab. Wir freuenuns im Augenblick darüber – wir wollten das haben –,aber wir müssen zur Kenntnis nehmen – wer weiß, wiedas in fünf oder zehn Jahren in Deutschland politisch ge-sehen wird –, dass wir etwas abgeben.
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Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
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Drittens. Die automatischen Sanktionen bekommenebenfalls eine völkerrechtliche Qualität. Das heißt, das,was im ersten Deauville-Abkommen noch nicht verein-bart werden konnte, nämlich die umgekehrte qualifi-zierte Mehrheit bei den Sanktionen, wird jetzt in eineRechtsqualität überführt, die uns allen Rechtssicherheitgibt.Ich fasse es wie folgt zusammen: Der Deutsche Bun-destag hat die Bundesregierung aufgefordert und gesagt:Setzt als Bundesregierung nicht nur Solidarität durch.Wenn wir schon geradestehen, bürgen, Solidarität ge-währen, dann sorgt auch dafür, dass Haushaltsdisziplinin Europa die Regel wird. Genau das haben wir jetzt völ-kerrechtlich vereinbart.Die anderen beiden Staaten, die bislang nicht mitma-chen, bleiben eingeladen, mitzuwirken. Ich habe in Lon-don gesagt, dass die britische Regierung eingeladen ist,mitzuwirken und dem Pakt beizutreten. Ich habe auchgestern in Prag noch einmal öffentlich gesagt – dadurchkonnte eine gewisse Diskussion ausgelöst werden; ei-nige Kollegen waren dabei –, dass die Tür für Tsche-chien für den Fall, dass sich dort eine andere Meinungbildet, weit geöffnet bleibt.
Michael Schlecht.
Meine erste Frage. Diese Schuldenbremse soll quasi
– so verstehe ich es – mit einer Ewigkeitsgarantie ausge-
stattet werden. Haben Sie geprüft, ob das verfassungs-
konform ist? Sie binden ja damit zukünftige Regierun-
gen und Parlamente, obwohl Sie – das haben Sie selbst
gesagt – nicht wissen, wie die Situation in Deutschland
in fünf oder zehn Jahren sein wird.
Meine zweite Frage. Wenn Sie schon eine solch mas-
sive Bekräftigung der Schuldenbremse verfassungs-
rechtlich verankern wollen und Sie sich hier gleichzeitig
– zumindest verbal – zum Sozialstaatsprinzip bekennen,
müsste man dann, Ihrer Logik folgend, nicht auch da-
rüber nachdenken, Regelungen, durch die die Ausstat-
tung des Sozialstaates mit finanziellen Mitteln sicher-
gestellt wird, in die Verfassung aufzunehmen? Zum
Beispiel könnte man eine massive Besteuerung von Rei-
chen und Vermögenden in Gestalt der von uns vorge-
schlagenen Millionärsteuer in der Verfassung verankern.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Herr Kollege, ich möchte Ihnen zunächst einmal amt-
lich versichern, dass die Bundesregierung nicht plant,
eine von Ihnen konzipierte Steuer in unserer Verfassung
aufzunehmen. Das ist zwar ein netter Versuch, aber Sie
erwarten doch wohl nicht wirklich, dass wir dem folgen.
Im Übrigen verstehe ich Ihre Überraschung nicht. Sie
wissen doch, dass sich jeder, der auf der Regierungsbank
sitzt, in vollem Umfang zur Verfassung bekennt und auf
die Verfassung geschworen hat. Insoweit sind etwaige
Ermahnungen im Hinblick auf Art. 20 des Grundgeset-
zes gänzlich überflüssig.
Wir vertreten vielleicht in der Tagespolitik unterschiedli-
che Auffassungen. Aber diese Regierung verhält sich ab-
solut verfassungskonform; daran gibt es keinen Zweifel.
Zur Ewigkeitsgarantie. Wenn man völkerrechtliche
Verträge schließt, bindet man immer nicht nur den jetzi-
gen Deutschen Bundestag und die heutige Regierung,
sondern man bindet damit auch künftige Regierungen
und Parlamente. Selbstverständlich bindet unsere Politik
auch künftige Generationen. Die Verankerung der Schul-
denbremse ist, so glauben wir, richtig; denn die Schul-
denpolitik ist erkennbar an eine Grenze geraten.
Der Kollege Kampeter wollte noch eine Ergänzung
vortragen.
S
Kollege Schlecht, Ihr Verständnis der Schulden-
bremse deckt sich nicht mit dem Verständnis der Schul-
denbremse, das eine breite Mehrheit des Parlamentes
hat. Sie stellen die Schuldenbremse als Beschränkung
von zukünftigen Handlungsmöglichkeiten dar. Das Ge-
genteil ist richtig. Die Staaten, die eine zu hohe Ver-
schuldung haben, werden aufgrund ihrer Verschuldung
zukünftig keine Handlungsmöglichkeiten mehr haben.
Die Handlungsfähigkeit wird durch ein Übermaß an Ver-
schuldung beschränkt. Die Zinszahlungen sind ein An-
griff auf die politische Handlungsfähigkeit zukünftiger
Generationen.
Die Schuldenbremse ist daher so konzipiert, dass zu-
künftigen Parlamenten Freiheiten eingeräumt werden,
um in den Bereichen, die politisch wichtig sind, handeln
zu können. Sie stellt sozusagen eine Aufforderung nicht
nur an diesen, sondern auch an alle folgenden Bundes-
tage dar, die Prioritäten so zu setzen, dass politische
Handlungsspielräume zukünftig erweitert werden. Das
ist eine riesengroße Chance. Hemmungsloses Schulden-
machen schränkt die Handlungsfreiheit in der Zukunft
ein. Die Schuldenbremse sichert die Handlungsfreiheit
zukünftiger Parlamente.
Eine kurze Zusatzfrage.
Sie haben dargestellt, dass dies eine weitreichendeÄnderung ist. Wäre es daher nicht angemessen, über dieZweidrittelmehrheit im Parlament hinauszugehen unddarüber im Rahmen einer Volksbefragung abstimmen zulassen?
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Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Ich denke, Sie meinen diese Frage nicht ernst,
weil natürlich auch Sie die Rechtslage und die Verfas-sungslage kennen.
Ich will dazu eine persönliche Bemerkung machen, diedarüber hinausgeht.Ich hoffe, dass wir eine Debatte über die Europapoli-tik insgesamt führen werden, und könnte mir sehr gutvorstellen, dass wir eines Tages, wenn wir eine gemein-same europäische Verfassung haben, in der Tat in ganzEuropa ein Referendum über diese europäische Verfas-sung durchführen.
Das ist aber eine völlig andere Frage als die, die von Ih-nen aufgeworfen worden ist.
Kollegin Hinz.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Minister! Herr Staatssekretär! Im Fiskalpakt
steht, dass die EU-Kommission Vorschläge im Hinblick
auf einen automatischen Korrekturmechanismus zur
Einhaltung der Schuldenregel machen soll. Da ich davon
ausgehe, dass Sie mit Vertretern der EU-Kommission
schon darüber gesprochen haben, dass sie entsprechende
Vorschläge machen soll, würde ich gerne wissen, was
ich mir unter Vorschlägen im Hinblick auf einen automa-
tischen Korrekturmechanismus vorstellen soll, bis wann
die EU-Kommission diese Vorschläge machen soll – wir
sollen ja im Mai dieses Jahres über den Fiskalpakt ab-
stimmen – und ob Sie ausschließen können, dass die
Existenz eines automatischen Korrekturmechanismus
eine qualitative Änderung des Grundgesetzes zur Folge
hat.
S
Frau Kollegin Hinz, ja, es ist richtig: Wir warten noch
auf zwei Vorschläge der EU-Kommission zur Konkreti-
sierung des Fiskalpaktes, nämlich auf den Vorschlag zur
Erreichung des Anpassungspfades und den Vorschlag
zur Ausgestaltung des Korrekturmechanismus. Wir wer-
den im Rahmen der Beratungen des Deutschen Bundes-
tages am 7. Mai dieses Jahres eine große Anhörung zu
diesem Thema durchführen. Ich gehe davon aus, dass
uns bis dahin alle erforderlichen Konkretisierungen von-
seiten der EU-Kommission vorliegen. Dann gilt es, diese
im Rahmen der Anhörung zu bewerten und möglicher-
weise Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.
Da Sie mich als Vertreter der Bundesregierung gerade
gefragt haben, ob ich aus einem mir noch nicht vorlie-
genden Vorschlag schon jetzt eine bestimmte Konse-
quenz ziehe, muss ich Ihnen sagen: Die Bundesregie-
rung vermeidet Spekulationen und beteiligt sich nicht an
diesen. Insofern kann ich diese hochspekulative Frage
nicht beantworten.
Aber vielleicht die nächste Frage des Kollegen Carsten
Schneider.
Herr Minister, Sie haben vorhin auf die Schulden-
bremse in unserem nationalen Recht, der wir zugestimmt
haben, hingewiesen. Ich stelle fest: Als Vorsitzender der
FDP-Bundestagsfraktion haben Sie sich, als es im
Jahre 2009 um die Einführung der Schuldenbremse in
Deutschland ging, bei der entsprechenden Abstimmung
mitsamt Ihrer Fraktion enthalten.
Ich bin aber froh, dass Sie sie sich jetzt zu eigen machen.
Ich habe eine konkrete Frage. Es kommt ja nicht nur
auf den Text, sondern vor allen Dingen auch darauf an,
wie das Ganze gelebt wird. Wir haben in Deutschland
die Situation, dass die Koalition bzw. die Bundesregie-
rung die Schuldenbremse entgegen dem Rat des Sach-
verständigenrates, des Bundesrechnungshofes und der
Deutschen Bundesbank nicht nach dem Sinn und Zweck
des Gesetzes anwendet.
Vielmehr haben Sie sich einen Dispokredit in Höhe von
knapp 50 Milliarden Euro gesichert, indem Sie den Aus-
gangswert für den Abbaupfad zu hoch angesetzt haben.
Ich frage Sie, ob Sie bereit sind – das gilt auch für den
Ratifizierungsfall –, eine Änderung des Gesetzes, die zu
einer Härtung der Schuldenbremse in Deutschland führt,
wie sie die SPD-Fraktion vorschlägt, mitzutragen.
S
Kollege Schneider, Ihre Behauptung, die Bundes-regierung würde die Schuldenbremse nicht konsequentgenug anwenden, wird durch Wiederholung auch imDeutschen Bundestag leider nicht richtiger. Das Gegen-teil ist der Fall.
Wie Sie wissen, nutzt die Bundesregierung die Verschul-dungsspielräume, die der Deutsche Bundestag bewilligthat, überhaupt nicht aus. Wir hätten, juristisch betrach-tet, eine höhere Verschuldung in Kauf nehmen können.Es ist eine große Leistung der Bundesregierung und der
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19456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
(C)
(B)
Koalition aus Union und FDP, dass Deutschlands Ver-schuldung heute deutlich geringer ist, als wir noch vorwenigen Monaten befürchtet haben.Eine zweite Anmerkung. Ihr Vergleich mit einem Dis-positionskredit, den es bei einem Konto gibt, ist wedersachlich noch politisch richtig. Das von Ihnen auf dieseWeise angesprochene Konto ist für die Bundesregierungkeine Kreditermächtigung, sondern lediglich der Belegdafür, dass die Situation, was die Verschuldung betrifft,besser ist als noch vor wenigen Monaten befürchtet. Eswird im Deutschen Bundestag kein Euro Schulden auf-genommen ohne parlamentarische Legitimation. Ihr Ver-gleich mit einem Dispositionskredit, der gleichzeitig ei-nen Schattenhaushalt bedeuten würde, ist IhrenKenntnissen des deutschen Haushaltsrechts nicht ange-messen; denn er ist falsch.
Volker Beck.
Der Kollege Carsten Schneider hat vorhin eine wich-
tige Frage gestellt, die der Bundesaußenminister noch
nicht beantwortet hat, nämlich die Frage, ob es konkreter
Korrekturen des Grundgesetzes infolge des Fiskalpaktes
bedarf. Dieser Frage sind Sie ausgewichen. Sie haben
uns nur beschrieben, inwiefern wir den Gesetzgeber mit
Blick auf die Verfassung binden. Deshalb hätte ich gern
die Einschätzung der Bundesregierung gewusst, ob wir
eine Korrektur des Grundgesetzes brauchen. Wir haben
nämlich eine Lage, die mit der, die in Art. 79 des Grund-
gesetzes beschrieben ist, vergleichbar ist. Ohne eine sol-
che Korrektur hätten wir keine entsprechende Rechts-
quelle im Grundgesetz. Das fände ich schwierig.
Noch schwieriger wird es, wenn Herr Kampeter keine
Auskunft darüber geben kann, ob das, was von der Kom-
mission noch zu erwarten ist, womöglich Korrekturen an
unserer jetzigen Verfassungsrechtslage erfordert.
Deshalb bitte ich die Bundesregierung, uns zu sagen,
welche Änderungen an der Verfassung wir aufgrund des
Fiskalpakts nach ihrer Ansicht vornehmen müssen und
in welchem Umfang wir uns bei der Schuldenbremse
binden. Denn die jetzige vertragliche Regelung ist nicht
identisch mit dem Wortlaut unserer Verfassung. Da gibt
es auch Spielräume für Modifikationen.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Herr Kollege, zunächst einmal gibt es über das hi-
naus, was wir hier vorgelegt haben, keine weiteren An-
träge oder Vorschläge seitens der Bundesregierung, die
Verfassungsänderungen erforderlich machten. Für den
Fiskalpakt brauchen wir nach unserer Rechtsauffassung
keine anderen Änderungen der Verfassung.
Ihren Hinweis auf die Ewigkeitsgarantie des Grund-
gesetzes halte ich, offen gestanden, für staatsrechtlich
falsch. Ich kann Ihnen das auch als Staatsrechtler sagen:
Wenn Sie die Ewigkeitsgarantie betrachten, dann stellen
Sie fest, dass sich daraus ganz andere Konsequenzen er-
geben. Wenn Sie zum Beispiel die Ordnung unseres Ge-
meinwesens verändern, dann geht das bis hin zum Wi-
derstandsrecht jedes einzelnen Bürgers. Das hat also
ganz andere Verfassungsimplikationen als das, was wir
hier vorgelegt haben. Auch um auf Nummer sicher zu
gehen, wollen wir eine Zweidrittelmehrheit.
Wir haben beide studiert; ich habe Jura studiert. Ich
weiß nicht, ob Sie mittlerweile ein Jurastudium absol-
viert haben. Deshalb erlauben Sie mir ausnahmsweise,
dass ich Ihnen das mit auf den Weg gebe, Herr Kollege.
Ich bitte Sie, das einfach zur Kenntnis zu nehmen.
– Ja, das ist Meinung der Bundesregierung.
Herr Kollege Schneider, Sie haben einen zweiten
Punkt genannt, was die Frage der Schuldenbremse an-
geht. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass die
FDP-Fraktion, der ich seinerzeit als Fraktionsvorsitzen-
der vorgestanden habe, die Schuldenbremse nicht nur
unterstützt hat, sondern auch wesentlich dafür gesorgt
hat, dass sie im Rahmen der Föderalismuskommission
durchgesetzt worden ist.
Da sie allerdings mit weiteren Fragen und weiteren Pa-
keten verbunden worden ist, hat es damals dieses Ab-
stimmungsverhalten unsererseits gegeben. Ohne die
FDP hätte es aber überhaupt gar keine Schuldenbremse
gegeben. Da Sie danach gefragt haben, weise ich zu Ih-
rer persönlichen Freude noch einmal darauf hin.
Da er darauf angesprochen worden ist, finde ich es
völlig in Ordnung, dass er dazu Stellung nimmt. – Die
nächste Frage von unserem Kollegen Volkmar Klein.
– Wir stellen die Frage des Kollegen Klein einen kleinen
Augenblick zurück, damit Herr Beck im Rahmen einer
Nachfrage erläutern kann, was Herr Kampeter noch be-
antworten soll.
Er sagte, er könne nicht genau sagen, was die Kom-mission noch vorschlagen werde. Die Frage ist, ob dieseVorschläge Konsequenzen für unsere verfassungsrechtli-che Lage hätten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19457
(C)
(B)
S
Ich glaube, es ist die Rawls’sche Urvertragssituation,
in der man unter dem Schleier der Ungewissheit über die
zukünftige Situation etwas machen kann. Dies ist aber
eher ein theoretisches Konstrukt.
Der verfassungsrechtlichen Darlegung des Bundes-
außenministers ist nichts hinzuzufügen. Nach derzeiti-
gem Stand ist keine Anpassung des Grundgesetzes erfor-
derlich. Wir bitten Sie aus dem dargelegten Grund um
eine Zweidrittelmehrheit für den Fiskalpakt im Bundes-
tag und im Bundesrat. Sollte sich die Sachlage ändern,
werden wir darüber zu diskutieren haben. Das sehe ich
zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber nicht.
Volkmar Klein.
Wir reden hier im Haus ja regelmäßig intensiv über
die erheblichen Risiken aus ESM und EFSF. Dabei wis-
sen wir, dass es immer gefährlich ist, als Feuerwehr zu
handeln. Insofern scheint mir der Fiskalpakt eher so et-
was wie vorbeugender Brandschutz zu sein. Risiken aus
der Staatsschuldenkrise sollen durch Defizitabbau und
nicht durch das Drucken von neuem Geld bekämpft wer-
den. Welche Vorstellung hat die Bundesregierung von
dem Zeitraum, in dem die notwendigen Regelungen in
den heute von der Staatsschuldenkrise betroffenen Län-
dern wirklich wirksam werden können?
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Herr Kollege Klein, der Einschätzung, die Ihrer Frage
zugrunde liegt, kann man nur zustimmen. Bis zum 1. Ja-
nuar 2014 soll der gesamte Umsetzungsprozess in den
Unterzeichnerstaaten abgeschlossen sein. Spätestens ab
dann geht es um die operative Kontrolle. Ich vermute,
dass einige auch schon vorher damit beginnen werden.
Axel Schäfer.
Hinsichtlich der Reform der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion wurde hier heute ja auch der Art. 136 des
Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union
genannt. Ich hätte gerne gewusst, ob die Bundesregie-
rung ihre bisherige Position zum ESM dahin gehend kor-
rigiert hat, dass es sich beim ESM um eine europäische
Angelegenheit handelt, sodass nicht eine Ratifizierung
nach Art. 59 Grundgesetz, sondern nach Art. 23 Grund-
gesetz ansteht.
Falls die Bundesregierung ihre Position verändert hat,
hätte ich gerne gewusst, welche neuen Einsichten Sie
dazu erfreulicherweise bewegt haben. Falls nicht, hätte
ich gerne eine Begründung dafür, warum der ESM keine
europäische Angelegenheit in dem von allen im Bundes-
tag vertretenen Fraktionen gemeinsam getragenen Ver-
ständnis ist.
S
Die Antwort lautet: Nein. Wir haben unser Verständ-
nis nicht geändert und werden dem Deutschen Bundes-
tag und dem Bundesrat nach Beschlussfassung des Kabi-
netts am nächsten Mittwoch auf dieser Rechtsgrundlage
einen entsprechenden Gesetzentwurf fristgerecht zulei-
ten.
Das heißt, Sie bleiben entgegen der Rechtsüberzeu-
gung aller im Bundestag vertretenen Fraktionen bei
Art. 59 Grundgesetz?
S
Ich glaube, der Sachverhalt ist von Ihnen nicht kor-
rekt widergegeben. Aufgrund des Inhalts des Vertrages
glauben wir, dass der von Ihnen beschriebene Art. 23
Grundgesetz1) als einschlägige Rechtsgrundlage hinrei-
chend ist.
Kollegin Paus.
Herr Bundesminister! Herr Staatssekretär! Wenn derFiskalpakt so umgesetzt wird, dann beinhaltet er ja eineSchuldenbremse, die sozusagen nicht ganz so scharf istwie die zurzeit in unserer Verfassung verankerte Schul-denbremse. Nichtsdestotrotz tritt sie früher in Kraft alsdie Schuldenbremse, die für die Bundesländer gilt; denndie Schuldenbremse in der deutschen Verfassung wirdfür die Bundesländer erst im Jahre 2020 vollständig wir-ken. Gibt es daraus irgendwelche Konsequenzen? HabenSie überprüft, inwieweit die Schuldenbremse à la Fiskal-pakt, weil sie schon früher gilt, nämlich ab 2014, Konse-quenzen für die Haushaltsaufstellung und für die mittel-fristige Finanzplanung der Bundesländer für die Jahre2014 bis 2020 hat?Eine kleine Ergänzung: Herr Kampeter, weil Sie gesagthaben, Sie möchten den Fiskalpakt als einen Baustein im1) Korrektur im nächsten Redebeitrag: Art. 59 Grundgesetz
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19458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Lisa Paus
(C)
(B)
Gesamtgefüge sehen, möchte ich an einen anderen Bau-stein erinnern, der zumindest von der Bundesregierungerwähnt worden ist, nämlich an das Wachstumspro-gramm. Wie konkret sind inzwischen Ihre Arbeiten amWachstumsprogramm für Europa?S
Vorhin habe ich Art. 23 und Art. 59 des Grundgeset-
zes verwechselt. Ich glaube, das müssen wir im Proto-
koll korrigieren.
– Ja, das weiß ich.
Ich sage es noch einmal, damit es im Protokoll richtig
steht: Wir gehen beim ESM von der Notwendigkeit einer
einfachen Mehrheit aus und folgen der Interpretation des
Kollegen der sozialdemokratischen Fraktion nicht. Ich
bitte, zu entschuldigen, dass mir vorhin eine Verwechs-
lung durchgerutscht ist.
Was die Fragen der Kollegin Paus angeht: Wir gehen
zum jetzigen Zeitpunkt nach unserer Analyse des Fiskal-
pakts auch in der Umsetzung des Ratifikationsgesetzes
davon aus, dass die grundgesetzlichen Vorschriften zur
Umsetzung der Schuldenbremse und der Fiskalpakt mit-
einander kompatibel sind. Gleichwohl wird durch die
Befassung im Bundesrat deutlich, dass die Umsetzung
nicht nur eine Aufgabe ist, die der Deutsche Bundestag
und der Bundeshaushalt zu leisten haben, sondern dass
Fiskaldisziplin auch eine Bund-Länder-Aufgabe ist. Ich
beispielsweise komme aus Nordrhein-Westfalen und
mache mir große Sorgen über die Haushaltspolitik der
rot-rot-grünen Minderheitsregierung dieses Bundeslan-
des,
die offensichtlich trotz grundgesetzlicher Vorgaben die
Richtung der Konsolidierung etwas fehlinterpretiert hat.
Insoweit glaube ich, dass, unbeschadet der Überprüfung
rechtlicher Anpassungen, das politische Handeln in ein-
zelnen Bundesländern auch im Hinblick auf den Fiskal-
pakt noch einmal überprüft werden muss.
Herr Minister Westerwelle.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Ich will Sie zu der Frage der qualifizierten Mehrheit
beim ESM nur darauf aufmerksam machen, dass der Re-
gelungsgehalt, den wir im Fiskalpakt haben, ein anderer
ist. Erinnern Sie sich bitte an die Eingangsbemerkungen
auch zum Klagerecht und zur Unterwerfung unter die
Gerichtsbarkeit des EuGH. Solche Fragen sind hier nicht
berücksichtigt. So kommt die Einschätzung bezüglich
der unterschiedlichen Mehrheitsnotwendigkeiten zu-
stande.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind jetzt jen-
seits der vereinbarten Zeit. Ich schlage vor, dass ich die
drei Wortmeldungen, die ich noch notiert habe, nämlich
der Kollegin Höger, des Kollegen Schwanitz und des
Kollegen Kalb, jetzt aufrufe und dass wir uns dann den
Fragen, die es sonst noch zur Kabinettssitzung gab, zu-
wenden. – Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Frau
Höger, Sie haben die nächste Frage.
Vielen Dank, dass ich meine Frage noch stellen kann. –
Der Fiskalpakt ist ein massiver Eingriff in die Haushalte
aller Nationalstaaten der EU, die ihm beitreten. Wie
schätzt die Bundesregierung die Wirksamkeit der Um-
setzung in den Einzelstaaten ein, gerade vor dem Hinter-
grund, dass heute schon zwei Drittel der Staaten in der
Euro-Zone weit über der im Vertrag festgelegten 60-Pro-
zent-Marke liegen? Gerade angesichts der Erfahrungen
in Griechenland, wo die massiven Sparmaßnahmen zu
einem Einbruch der Wirtschaft und zu einer Rezession
geführt haben, stellt sich auch die Frage: Wird es nicht
zu einer europaweiten Rezession führen, wenn Sie so
weitermachen wie bisher?
S
Frau Kollegin Höger, ich teile Ihre wirtschaftspoliti-
sche Analyse nicht, dass man Wachstum mit Schulden
kaufen kann. Das Gegenteil ist richtig. Die wirtschaftli-
che Entwicklung zeigt – das wird auch deutlich in inter-
nationalen Vergleichsanalysen –, dass es in denjenigen
Staaten, die ihre Haushalte in Ordnung haben, nicht nur
ein stärkeres Vertrauen in die Kapitalmärkte und somit
ein niedrigeres Zinsniveau gibt, sondern dass sie auch
stärker wachsen. Das trägt auch zum inneren sozialen
Frieden bei. Deswegen kann ich der Behauptung, die Sie
Ihrer Frage zugrunde legen, dass man sich beispiels-
weise durch fiskalische Konsolidierung in irgendeiner
Weise kaputtspart, nicht folgen. Das Gegenteil ist rich-
tig. Das zeigt auch das Beispiel der Bundesrepublik
Deutschland.
Wachstum und Haushaltskonsolidierung sind zwei
Seiten derselben Medaille: Sie stehen für nachhaltige so-
ziale und wirtschaftliche Entwicklung. Dieses Beispiel
werden wir jetzt, glaube ich, gemeinsam in Europa fort-
entwickeln, und zwar jeder mit seiner individuellen na-
tionalen Lösungsstrategie. Das ist ein guter Beitrag für
nachfolgende Generationen.
Kollege Schwanitz.
Herr Minister, ich habe noch eine Frage zu der Zwei-drittelmehrheit beim Fiskalpakt. In Ihrem Vortrag ist derEindruck entstanden, dass es sich hier eventuell um einepolitische Entscheidung der Bundesregierung gehandelt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19459
Rolf Schwanitz
(C)
(B)
haben könnte. Deswegen möchte ich noch einmal genauzu dem Punkt fragen: Ist es nach Auffassung der Bun-desregierung eine zwingende Notwendigkeit, dass derBundestag mit Zweidrittelmehrheit dem Fiskalpakt zu-stimmen soll, oder handelt es sich hier um eine politi-sche Entscheidung?
Herr Kollege.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Beides, Herr Kollege.
Kollege Bartholomäus Kalb.
Lassen Sie mich auf diese Frage zurückkommen, Herr
Minister. Wie Sie eingangs dargelegt haben, ändern wir
unser Grundgesetz deswegen, weil wir sicherstellen wol-
len, dass das Grundgesetz in diesem Punkt nicht wieder
zurückverändert wird. Gehen wir mit dieser Regelung
nicht weit über das hinaus, was wir von den anderen Ver-
tragspartnern erwarten und objektiv auch erwarten kön-
nen? Wenn ich es richtig sehe, erwarten wir, dass sie
ähnlich wie wir eine verfassungsmäßige Regelung schaf-
fen bzw. dort, wo das objektiv nicht möglich ist, den Be-
stand des Fiskalpaktes in ähnlicher Qualität in Kardinal-
gesetzen – oder wie auch immer das genannt wird –
absichern. Aber sie müssen sich nicht verpflichten, das
nicht mehr zu ändern.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Nein, diese Sorge habe ich nicht, Herr Kollege. Ich
verstehe aber, dass Sie darauf aufmerksam machen. Das
erklärt sich einfach daraus, dass wir die Schuldenbremse
bereits in die Verfassung eingeführt haben. Wir ver-
pflichten uns also nicht, eine solche Schuldenbremse in
die Verfassung zu übernehmen, sondern wir verpflichten
uns politisch und völkerrechtlich, dass wir es bei dieser
Schuldenbremse auch belassen.
In dem Augenblick, in dem sie in den anderen Län-
dern eingeführt worden ist, verpflichten sich diese Län-
der völkerrechtlich, sie dann unverändert zu lassen; ge-
nauso wie auch wir. Das heißt: In dem Augenblick, in
dem die anderen Staaten, die die Schuldenbremse jetzt
noch nicht haben – das ist die Mehrzahl der Staaten –,
sie eingeführt haben, bleibt es auch dabei. Es ist dann für
alle in demselben Maße völkerrechtlich verpflichtend.
Einen Zusatz muss ich anfügen. Darauf will ich recht-
zeitig aufmerksam machen. Ich bin unverändert der
Überzeugung, dass es natürlich besser gewesen wäre,
wir hätten nicht ein völkerrechtliches Vertragswerk ge-
schaffen, sondern wir hätten das europäische Gemein-
schaftsrecht verändert. Das war auch das erste Ziel.
Nachdem wir festgestellt haben, dass dieses erste Ziel
nicht erreichbar war – Sie wissen, dass sich vor allen
Dingen ein Land da verweigert hat –, sind wir zu dem
Ergebnis gekommen, dass so, wie es jetzt geplant ist, un-
sere Interessen und die Interessen der Bürger besser
wahrgenommen werden.
Sollte sich allerdings herausstellen, dass der Wider-
stand gegen eine Übernahme ins Gemeinschaftsrecht
sich im Laufe der nächsten Zeit politisch verflüchtigt,
hätten wir natürlich ein Interesse daran, das, was wir
jetzt völkerrechtlich vereinbaren, ins Gemeinschafts-
recht zu übertragen. Das wäre, glaube ich, für Europa
und für den europäischen Geist das Allerbeste.
Vielen Dank. – Wir schließen damit diesen Themen-
bereich ab.
Ich darf fragen, ob es zu anderen Themen der heuti-
gen Kabinettssitzung Fragen gibt. – Das ist offenkundig
nicht der Fall.
Dann frage ich – –
– Ich habe das gerade nur auf Fragen zu sonstigen The-
men der Kabinettssitzung bezogen.
– Umso besser. Bitte schön, Frau Enkelmann. Dann stel-
len Sie jetzt Ihre Frage zu sonstigen Themen der Kabi-
nettssitzung.
– Sehen Sie. Genau diesen Unterschied hatte ich doch
gerade gemacht.
Dann will ich, um für künftige Fragestellungen Miss-
verständnisse zu vermeiden, nur noch einmal daran erin-
nern, dass wir in dem Block „Befragung der Bundesre-
gierung“ drei Kategorien haben: das angemeldete
Thema, Fragen zu sonstigen Themen der Kabinettssit-
zung und Fragen unabhängig vom angemeldeten Thema
und der Kabinettssitzung. Ich sehe meine Vermutung be-
stätigt, dass Sie zur dritten Kategorie eine Frage stellen
wollen.
Dann nehmen wir halt die dritte Kategorie. – Ich habemehreren Medienberichten entnommen, dass der Fi-nanzminister plant, Wehrdienstleistende und Bufdis, alsoTeilnehmer des Bundesfreiwilligendienstes, steuerlichzu belasten. Ich würde gerne wissen, wie der Rest derBundesregierung diesen Vorschlag bewertet.
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19460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
(C)
(B)
Herr Staatssekretär.
S
Frau Kollegin, Sie geben die derzeit geltende Rechts-
lage leider nicht sehr präzise wieder. Ich möchte darauf
hinweisen, dass diejenigen, die Sie als „Bufdis“ bezeich-
nen, bereits heute einer Steuerpflicht unterliegen. Diese
ist im Rahmen einer Billigkeitsregelung vor dem Hinter-
grund der Steuerfreiheit für Wehrdienstleistende ausge-
setzt.
Es ist richtig, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt in-
nerhalb der Bundesregierung bei den Abstimmungen
zum Referentenentwurf des nächsten Jahressteuergeset-
zes überprüft wird, ob unter unterschiedlichen Gesichts-
punkten an dieser Regelung festgehalten werden kann.
Eine endgültige Entscheidung der Bundesregierung wird
erst getroffen, wenn der Entwurf des Jahressteuergeset-
zes 2013 vom Bundeskabinett verabschiedet wird. Zum
gegenwärtigen Zeitpunkt befinden wir uns lediglich im
Stadium der Vorüberlegung.
Damit schließe ich die Regierungsbefragung.
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 2:
Fragestunde
– Drucksache 17/8828 –
Die Fragen werden in der Ihnen bekannten Reihen-
folge aufgerufen.
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums des Innern. Hier steht der Parla-
mentarische Staatssekretär Christoph Bergner zur Verfü-
gung.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Daniela Kolbe auf:
Hat das Bundesministerium des Innern Kenntnisse da-
rüber, wie viele Personen insgesamt bundesweit als Lehr-
kräfte in Integrationskursen arbeiten und wie viele davon als
sozialversicherungspflichtig Beschäftigte oder als Honorar-
kräfte arbeiten, und wenn ja, wie viele sind dies konkret?
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Frau Kollegin Kolbe, ich antworte wie folgt: Mit
Stand vom 29. Februar 2012 wurden seit dem 1. Januar
2005, also seit Inkrafttreten der entsprechenden gesetz-
lichen Regelung, insgesamt 18 043 Personen als Lehr-
kräfte nach § 15 Abs. 1 und 2 der Integrationskursver-
ordnung zugelassen. Statistische Zahlen über die Art des
Beschäftigungsverhältnisses werden nicht erhoben. Es
kann aber davon ausgegangen werden, dass – genauso
wie im Bereich der Erwachsenenbildung üblich – der
ganz überwiegende Teil der Lehrkräfte auf Honorarbasis
arbeitet. Es ist im Übrigen ausschließlich Angelegenheit
der Träger, darüber zu befinden, in welcher Art von
Beschäftigungsverhältnis ihre Lehrkräfte tätig sind. Wir
haben hierzu mehrfach detailliert Auskunft gegeben. Ich
verweise insbesondere auf die Antwort der Bundesregie-
rung zu Frage 1 der Kleinen Anfrage der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vom 19. September 2011.
Eine Zusatzfrage? – Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr
Staatssekretär, Sie haben in Ihrer Antwort anklingen
lassen, dass Sie die Lehrkräfte, die in Integrationskursen
tätig sind, eher denen, die in der Erwachsenenbildung
tätig sind, gleichstellen. Von den Lehrkräften selbst und
den Trägern kommt zunehmend die Aussage, dass es
sich angesichts des Umfangs und des Vorbereitungsauf-
wandes bei einer Tätigkeit als Integrationskurslehrer
eher um eine lehrerähnliche Tätigkeit handelt, zumal sie
auf einen Abschluss hinführen soll. Was entgegnen Sie
solchen Ausführungen, die eher eine Festanstellung als
wünschenswert erscheinen lassen?
D
Ich darf auf einen grundlegenden Unterschied bei-
spielsweise zum öffentlichen Schulwesen hinweisen.
Der gesetzliche Auftrag für die Integrationskurse lautet,
die Integration von Ausländerinnen und Ausländern
sowie Zugewanderten mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht
in Deutschland zu unterstützen. Das heißt, dieser gesetz-
liche Auftrag manifestiert keine Einrichtungsgarantie
wie der beim Schulwesen. Insofern ist der Vergleich
bzw. die Parallelität zur beruflichen Weiterbildung und
zur Erwachsenenbildung angemessen. Hier ist insbeson-
dere mit Blick auf die Pluralität der Träger die Verant-
wortung für die Anstellungsverhältnisse überwiegend
bei den Trägern zu suchen. Das schließt nicht aus, dass
wir ein Interesse daran haben, dass angemessen vergütet
wird und dass eine angemessene Vergütung auch als eine
Voraussetzung für die entsprechende Qualität der Kurse
gesehen wird.
Ihre zweite Zusatzfrage, Frau Kolbe.
Vielen Dank. – Die Situation ist folgende: Sie haben
gerade gesagt, dass Sie den Beschäftigten ein vernünfti-
ges Einkommen wünschen. Im Schnitt verdienen Lehr-
kräfte, die Integrationskurse geben, etwa 18 Euro pro
Stunde. 80 Prozent sind auf Honorarbasis tätig. Das
heißt, für sie ist das quasi arbeitgeberbrutto. Dement-
sprechend sind sehr viele auf ergänzende Leistungen
angewiesen. Wie bewertet denn die Bundesregierung die
Situation der Integrationskurslehrer, die einen wirklich
zentralen Beitrag zur Integration in Deutschland leisten?
D
Zunächst einmal muss ich darauf aufmerksam ma-chen, dass wir auch aus verfassungsrechtlichen Gründenbei der Zulassung bzw. Anerkennung der entsprechen-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19461
Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
(C)
(B)
den Kursträger keine Möglichkeit haben, unmittelbar aufdie Höhe des Honorars einzuwirken. Sie wissen, dasswir in dem neuen § 20 der Integrationskursverordnungein Instrument eingeführt haben, mit dem wir die Ent-scheidung über die Dauer der Zulassung der Kursträgerdavon abhängig machen können, dass gewisse Honorar-anforderungen erfüllt werden. Wir haben diese Anforde-rung jetzt auf 18 Euro festgelegt.Das ist das Steuerungsinstrument, das wir haben. An-sonsten kann ich von der großen Anzahl der Ausbilder inden Integrationskursen nur respektvoll sprechen.
Ich rufe die Frage 2 der Kollegin Daniela Kolbe auf:
Welche konkret in Zahlen zu benennenden Faktoren er-
möglichen es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge,
den Stundensatz bei Integrationskursen pro Teilnehmer von
zuletzt 2,35 Euro auf 2,54 Euro
zu erhöhen?
D
Die Antwort lautet: Bei der letzten Erhöhung des Er-
stattungssatzes von 2,35 Euro auf 2,54 Euro – ich lasse
jetzt die höheren Sätze für Sonderkurse weg – handelt es
sich um eine inflationsbedingte Erhöhung um rund
8 Prozent. Diese Erhöhung orientiert sich an der kumu-
lierten Inflationsrate vom 1. Juli 2007 – als wir die letzte
Erhöhung auf 2,35 Euro hatten – bis Ende 2011. Die
durch die Erhöhung bedingten Mehrausgaben werden
sich im Jahr 2012 auf rund 12 Millionen Euro belaufen.
Wie Sie wissen, ist dafür durch den Haushaltsansatz ent-
sprechend vorgesorgt.
Ich nutze die Gelegenheit, meine Frage von eben zu
wiederholen, nämlich wie Sie die Situation der Lehr-
kräfte in den Integrationskursen bewerten, ob Sie die
Bezahlung für ausreichend und anständig halten, in
welche Richtung die Bundesregierung Handlungen un-
ternehmen möchte und was ihr Ziel dabei ist.
D
Unser Ziel ist, dass wir ein ausreichendes Angebot an
qualifizierten Integrationskursen haben. Die Qualität der
Integrationskurse ist an viele Voraussetzungen gebun-
den. Dass dabei auch eine angemessene Vergütung eine
Rolle spielt, habe ich bereits gesagt. Dass wir keinen
unmittelbaren Einfluss auf die Tarife haben und dass wir
deshalb davon Gebrauch machen, durch die Bewilligung
einer längeren Dauer der Zulassung denjenigen Trägern
Arbeitssicherheit zu geben, die über 18 Euro vergüten,
ist bereits Gegenstand meiner Aussage gewesen.
Bitte.
Ich frage noch einmal konkret: Was halten Sie denn
für eine angemessene Vergütung, und welchen Stunden-
satz legt das BMI für diese angemessene Vergütung zu-
grunde? Die Summe, die das BMI überweist, hängt doch
mit der Höhe des Honorars zusammen, das die Träger
bezahlen können.
D
Frau Kollegin, diese Frage unterstellt, wir seien in der
Rolle des unmittelbaren Arbeitgebers. In dieser Rolle
befinden wir uns aber nicht. Sie wissen, dass dort, wo
wir in einer unmittelbaren Arbeitgeberrolle sind, näm-
lich im öffentlichen Dienst, die Höhe des angemessenen
Verdienstes das Ergebnis der Verhandlungen mit den
Tarifpartnern ist. Ich bitte deshalb, meine Zurückhaltung
zu verstehen, wenn ich hier keine Summen nenne. Sie
wissen aus der Antwort auf die Kleine Anfrage des
Bündnisses 90/Die Grünen, wie sich die Vergütungen
verteilen. Sie wissen, dass wir mit der 18-Euro-Grenze
ein gewisses Steuerungsinstrument haben. Im Wesent-
lichen gehen die Vergütungssätze bis zu 25 Euro.
Frau Kollegin Pau.
Herr Staatssekretär, ich teile Ihre Auffassung ganz
ausdrücklich nicht. Es ist richtig, dass Sie nicht der
unmittelbare Arbeitgeber sind, aber immerhin sind Sie
der unmittelbare Auftraggeber; denn mit der Anforde-
rung, Integrationskurse zu besuchen und dort einen
entsprechenden Abschluss zu erlangen, wird auch die
Aufgabenstellung der Lehrkräfte formuliert. Deshalb
wiederhole ich die Frage der Kollegin Kolbe: Was halten
Sie für eine angemessene Vergütung, wenn dieser Auf-
trag durch Honorarkräfte oder auch durch festangestellte
Kräfte erfüllt wird? Denn Auftraggeber sind natürlich
Sie.
D
Frau Kollegin, ich will Sie einmal auf einen grund-
sätzlichen Sachverhalt aufmerksam machen: Wenn wir
bei der Vergabe öffentlicher Aufträge in unterschiedli-
chen Bereichen jeweils über die Angemessenheit der
Vergütung der Mitarbeiter der Auftragnehmer verhan-
deln würden, dann sähe unser Vergaberecht ganz anders
aus, als es im Moment ist. Das ist aber nur eine grund-
sätzliche Bemerkung.
Ich will einräumen, dass wir bei der Diskussion um
die Qualität der Integrationskurse auch die Frage der an-
gemessenen Vergütung nicht ausklammern können. Sie
haben durch den Umstand, dass wir an diejenigen, die
bereit sind, die Lehrkräfte mit mindestens 18 Euro zu
vergüten, Verträge über längere Bewilligungszeiträume
hinweg vergeben, bereits einen Hinweis, wo für uns eine
bestimmte Mindestorientierung liegt.
Dazu sehe ich jetzt keine weiteren Fragen.
Metadaten/Kopzeile:
19462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Dann rufe ich jetzt die Frage 3 der Kollegin Özoğuzauf:Warum wurde die vom Bundesministerium des Innern inAuftrag gegebene Studie „Lebenswelten junger Muslime inDeutschland“ vorab am 29. Februar 2012 der TageszeitungBild zugeleitet, noch bevor die Abgeordneten des DeutschenBundestages Einsicht erhalten haben, und sieht der Bundes-minister des Innern, Dr. Hans-Peter Friedrich, die Vorab-berichterstattung als konstruktive Form an?D
Frau Kollegin Özoğuz, die Antwort lautet: Die Unter-
stellung, die in dieser Frage mitschwingt, nämlich das
Bundesministerium des Innern habe die Studie vorab der
Bild zugeleitet, trifft nicht zu. Auch Sie sind vorhin Teil-
nehmerin der Sitzung des Innenausschusses gewesen
und haben gehört, dass der Bundesinnenminister selbst
dies noch einmal ausdrücklich zum Ausdruck gebracht
hat.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,
dann helfen Sie mir doch bitte bei einer Einordnung. Das
Bundesinnenministerium hat eine Studie in Auftrag ge-
geben, die weit über 400 000 Euro gekostet hat. Der
Bundesinnenminister hat, zeitgleich mit der Vorabveröf-
fentlichung, ausgewählte Zahlen zitiert. In der heutigen
Sitzung des Innenausschusses sagte er, dass er alle
Handlungsempfehlungen der Studie rundweg ablehne.
Ist das die Grundlage, auf der wir darüber sprechen?
D
Zunächst einmal: Da auch ich Teilnehmer der Sitzung
des Innenausschusses war, kann ich die Wiedergabe der
Aussage des Innenministers, er lehne alle Empfehlungen
rundweg ab, nicht bestätigen.
Vielleicht sollten wir uns einmal gemeinsam das Sit-
zungsprotokoll anschauen. Wichtig ist, dass wir vor dem
Hintergrund der Ergebnisse der Studie hinsichtlich der
aktuellen Gesetzgebung keinen Handlungsbedarf sehen.
Da bei Ihnen noch immer Zweifel herrschen, die
Studie könne vom Bundesinnenministerium an die Bild-
Zeitung gegeben worden sein, möchte ich auf zwei Um-
stände aufmerksam machen: Der eine Umstand ist, dass
die Studie nie als Geheimstudie in Auftrag gegeben
wurde und dass der Kreis der beteiligten Institute – das
sind Institute der Wissenschaft, die unter den Bedingun-
gen der Wissenschaftsfreiheit arbeiten – vergleichsweise
groß war. Vor dem Hintergrund, wie andere Informatio-
nen in die Medien gelangen, bin ich überhaupt nicht da-
rüber verwundert, dass bereits Ergebnisse dieser Studie,
bevor sie offiziell veröffentlicht wurde bzw. bevor sie
durch das Bundesinnenministerium offiziell freigegeben
und auch den Abgeordneten zugeleitet werden konnte, in
den Medien aufgetaucht sind, in diesem Fall in der Bild-
Zeitung.
Dann möchte ich meine Frage gern noch einmal kon-
kretisieren, Herr Staatssekretär. Wir sprechen jetzt über
eine Studie, in der als Ergebnis festgehalten wird, dass
sie erstens keine repräsentativen Zahlen enthält und
zweitens davor gewarnt wird, mit einzelnen Zahlen in
die Öffentlichkeit zu gehen und möglicherweise ein
Zerrbild darzustellen. Es trifft ja wohl zu, dass der Bun-
desinnenminister zu einem Zeitpunkt ein Interview ge-
geben hat, zu dem noch niemandem im Bundestag diese
Studie vorlag.
Daher stellen sich mir natürlich die Fragen: Was war
die eigentliche Intention dieser Studie? Sie sagen ja, Sie
sähen überhaupt keinen Handlungsbedarf hinsichtlich
der Gesetzgebung. Und warum hat sich der Bundesin-
nenminister dazu hinreißen lassen, einzelne Zahlen, die
laut Wissenschaftlern nicht repräsentativ sind, als Zitat
in der Bild-Zeitung veröffentlichen zu lassen?
D
Ich will mit Ihnen jetzt nicht in einen Streit darüber
eintreten – das sollten besser die Autoren dieser Studie
tun –, wie repräsentativ die zitierten Zahlen sind. Auf je-
den Fall sind es Zahlen, die in der Kurzzusammenfas-
sung der Autoren selbst publiziert worden sind. Das
heißt, diese Zahlen müssen wenigstens aus der Sicht der
Autoren selbst als wesentlich gegolten haben; sonst hät-
ten sie sie nicht in ihrer eigenen Kurzzusammenfassung
angegeben.
Kollegin Kolbe.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,
eine ganz einfache Ja-Nein-Frage: Bedauert das Ministe-
rium die Art und Weise, wie über diese Studie vorab be-
richtet wurde?
D
Frau Kollegin, es ist immer der Wunsch der Bundes-
regierung – das wird übrigens auch bei einer Frage zu
einer anderen Studie zum Ausdruck kommen; auch da
hätte ich mir das gewünscht –, gewissermaßen selbst
Herr über die in Auftrag gegebenen Studien und ihre Er-
gebnisse zu sein; darüber besteht gar kein Zweifel. Aber
ich will mit dieser Antwort nicht so verstanden werden,
dass man glaubt, dass ich vor der Transparenz der
Medienlandschaft und ihrer Fähigkeit, bestimmten kri-
tischen Sachverhalten nachzuspüren, keinen hohen
Respekt habe.
Kollege Kilic.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19463
(C)
(B)
Der Herr Bundesinnenminister hat heute im Innen-
ausschuss gesagt, dass diese Studie nicht von ihm per-
sönlich der Bild-Zeitung zur Verfügung gestellt wurde.
Das heißt aber noch lange nicht, dass sie der Bild-Zei-
tung nicht vom Bundesinnenministerium zur alleinigen
Auswertung zur Verfügung gestellt wurde. Hält die Bun-
desregierung die Bild-Zeitung für eine Fachzeitung für
solche Bewertungen?
D
Ich glaube, die Bundesregierung bemüht sich erkenn-
bar, Ausgewogenheit gegenüber allen Medien zu prakti-
zieren, die einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbil-
dung leisten. Insofern wäre es völlig irregeleitet, aus
dem Umstand, dass die Bild-Zeitung diese Zeilen zuerst
veröffentlicht hat, irgendeine Privilegierung oder Präfe-
renz abzuleiten. Das möchte ich generell voranstellen.
Ansonsten kann ich jetzt nur sagen: Es hat keine öf-
fentliche oder wie auch immer geartete Übergabe dieser
Studie durch das Bundesinnenministerium an die Me-
dien gegeben.
Kollege Veit.
Herr Staatssekretär, ich möchte zunächst festhalten,
dass in der Innenausschusssitzung, in der dieser Tages-
ordnungspunkt behandelt wurde – ich habe daran aktiv
teilgenommen –, der Herr Minister dezidiert gesagt hat,
dass er keine der in diesem Gutachten gezogenen
Schlussfolgerungen teile.
Ich schließe daran folgende Fragen an: Ist Ihnen und
der Bundesregierung bekannt, dass einer der Mitautoren
dieser Studie, nämlich der Soziologe Klaus Boehnke von
der Bremen International Graduate School of Social
Sciences, gesagt hat – es war nicht der Bayernkurier, der
dieses Interview durchgeführt hat, sondern das Neue
Deutschland; ich zitiere wörtlich –:
Man schlägt auf unsere Studie ein, ohne auch nur
eine Zeile gelesen zu haben, und verkehrt den Tenor
unserer Studie ins genaue Gegenteil. Das hat sehr,
sehr weh getan.
Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass ein
sorgfältiger Umgang mit dem, was das Innenministe-
rium selbst in Auftrag gegeben hat, stattgefunden hat?
D
Zunächst einmal kann ich die Aussage dieses Mit-
autors insoweit verstehen, als er sich durch die verkürzte
und auch pointierte Wiedergabe in den Medien nicht an-
gemessen widergespiegelt fühlt. Ich will bloß darauf
aufmerksam machen: Dafür können Sie das Bundes-
innenministerium nicht verantwortlich machen.
Hierzu sehe ich im Augenblick keine weitere Wort-
meldung.
Dann rufe ich die Frage 4, wiederum der Kollegin
Özoğuz, auf:
Teilt der Bundesminister des Innern die Handlungsemp-
fehlungen der von seinem Bundesministerium in Auftrag ge-
gebenen Studie, insbesondere die Ermöglichung der generel-
len Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft
und die Empfehlung, plakative Äußerungen wie: „Der Islam
gehört nicht zu Deutschland“ , tunlichst zu vermei-
den, und welche Initiativen und gesetzgeberischen Schritte
wird die Bundesregierung aus der Studie ableiten?
D
Frau Kollegin, ich antworte wie folgt: Nach Auffas-sung des Bundesministeriums des Innern sind aufgrundder Studie neue gesetzgeberische oder andere Initiativennicht zu veranlassen.Aufgrund der von der Studie aufgezeigten Herausfor-derung der Radikalisierung einer Minderheit von Musli-men hat der Bundesminister des Innern Handlungsbedarferkannt. Hierzu hat er gemeinsam mit Muslimen die Ini-tiative Sicherheitspartnerschaft gegründet, die vielfältigeMaßnahmen gegen Radikalisierung umsetzt.Was das Staatsangehörigkeitsrecht betrifft: Deutsch-land besitzt ein offenes Staatsangehörigkeitsrecht. Bei-spielsweise besteht ein Rechtsanspruch auf Einbürge-rung bereits nach einer Aufenthaltsdauer von achtJahren; bei besonderen Integrationsleistungen kann dieseFrist auf sechs Jahre verkürzt werden. Mit diesem Ein-bürgerungsanspruch macht Deutschland einem großenTeil der bei uns lebenden Ausländer ein offenes Angebotzur Einbürgerung und Teilhabe an der politischen Wil-lensbildung.Das Einbürgerungsrecht hat aber auch die Belangeder aufnehmenden Gesellschaft zu berücksichtigen. Zuden Einbürgerungsvoraussetzungen gehört im Regelfall,dass der Einbürgerungsbewerber seine frühere Staats-angehörigkeit aufgibt und damit zum Ausdruck bringt,dass er sich ohne Vorbehalte zu seinem neuen Staat be-kennt. Zudem kann die Mehrstaatigkeit mit tatsächlichenund rechtlichen Komplikationen, zum Beispiel in fami-lien-, erb- und wehrrechtlichen Angelegenheiten, ver-bunden sein.
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19464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
(C)
(B)
In Fällen, in denen die Aufgabe der früheren Staatsange-hörigkeit nicht oder nur unter besonders schwierigen Be-dingungen möglich ist, kann die Einbürgerung auchohne deren Aufgabe erfolgen. Vor diesem Hintergrundsieht die Bundesregierung aktuell keinen Handlungsbe-darf.Was die Situation „Muslime als Teil Deutschlands“betrifft: Der Bundesminister des Innern hat sich wieder-holt dahin gehend geäußert, dass Muslime, die inDeutschland leben, selbstverständlich zu dieser Gesell-schaft gehören.
Herr Staatssekretär, das wirft jetzt natürlich eine Fülle
von Fragen auf. Ich möchte mich auf das eine konzen-
trieren, was Sie eben angesprochen haben. Es war die
Islam-Konferenz im vergangenen Jahr, auf der der Bun-
desinnenminister die Sicherheitspartnerschaft ins Spiel
gebracht hat. Das war just die Islam-Konferenz, bei der
über islamische Theologie an deutschen Hochschulen
gesprochen wurde. Der Bundesinnenminister hat dieses
Thema damals weggedrückt – so sage ich jetzt einmal –,
indem er öffentlich über Sicherheitspartnerschaften ge-
sprochen hat; die islamische Theologie war dann kein
Thema mehr.
An diesem Wochenende wurde er im Weser-Kurier
aufgrund dieser Studie mit der Überlegung zitiert, man
solle doch mehr islamische Theologen ausbilden. Heißt
das, dass der Bundesinnenminister jetzt einen Erkennt-
nisgewinn hat und gemerkt hat, dass er da im letzten Jahr
vielleicht ein bisschen auf dem falschen Dampfer gewe-
sen ist?
D
Frau Kollegin, weil ich selbst nicht Teilnehmer oder
Vorbereiter der von Ihnen angesprochenen Islam-Konfe-
renz war, kann ich jetzt nicht beurteilen, inwieweit bei
den Themen Prioritäten gesetzt wurden, wie Sie sie hier
geschildert haben. Richtig ist aber, dass sich die Initia-
tive Sicherheitspartnerschaft mit den muslimischen Ver-
bänden als ausgesprochen hilfreiche und wichtige Initia-
tive erwiesen hat, um Radikalisierungstendenzen bei
einer ausgesprochen kleinen Minderheit der Muslime
auch mithilfe der Mehrheit der Muslime zu begegnen,
die sich nämlich auch ausweislich dieser Studie aus-
drücklich gegen Radikalisierung und gegen Gewalt-
anwendung wenden. Insofern ist die Initiative, so wie sie
ins Leben gerufen wurde, sicherlich nicht in Zweifel zu
ziehen.
Was die Ausbildung von Imamen und die damit ver-
bundenen Lehraufträge für islamische Theologie an
deutschen Hochschulen betrifft, so arbeiten der Bundes-
innenminister und auch unser Haus mit der Bundesregie-
rung kontinuierlich daran und knüpfen an die Bemühun-
gen der Amtsvorgänger an. Ich jedenfalls sehe keinen
Anlass, zu sagen, dass der Minister dieses Thema erst
kurzfristig entdeckt hätte. Ich weiß aus vielfältigen Ge-
sprächen, dass ihm das auch früher schon ein Anliegen
gewesen ist.
Noch eine Zusatzfrage.
Ich darf nur noch eine Frage stellen. Dabei möchte ich
mich auf Folgendes konzentrieren: So wichtig und rich-
tig aus meiner Sicht unsere Kritik an dem Umgang mit
dieser Studie ist, so wichtig sind auch deren Inhalte. Vor
dem Hintergrund der Schlussfolgerungen der Wissen-
schaftler, selbstverständlich auch für das BMI, fragt man
sich: Wo gibt es eigentlich Menschen, die sich zurückge-
setzt fühlen? Wo gibt es diejenigen, die sagen, dass sie
sich hier nicht wohlfühlen, und die zu Radikalisierungs-
tendenzen neigen?
Bei diesen Fragen gibt es eine Fülle von Unstimmig-
keiten, die wir hier diskutieren könnten. Dies ist bei-
spielsweise die Frage: Darf ich meine Herkunftskultur in
Deutschland noch aufrechterhalten? Bedeutet das auto-
matisch, dass ich mich eher nicht integrieren will? Die
zweite wesentliche Frage ist, wenn das Bundesinnen-
ministerium gar keine Handlungsempfehlung überneh-
men will: Warum haben Sie dann überhaupt in diese
Richtung forschen lassen? Für den Fall, dass ich Sie
falsch verstanden habe: Was gedenken Sie in der nächs-
ten Zeit konkret zu tun?
D
Die Studie – so ist es auch in der vorhin von mir ver-
lesenen Antwort zum Ausdruck gebracht worden – be-
schreibt Herausforderungen. Um dieser Beschreibung
der Herausforderungen willen ist sie in Auftrag gegeben
worden. Es ist selbstverständlich, dass wir uns diesen
Herausforderungen stellen.
Eine der Herausforderungen ist – da will ich das von
Ihnen genannte Stichwort aufgreifen –, dass wir Rück-
sicht auf Herkunftsidentitäten nehmen und damit bi-
kulturelle Identifikationen als Beitrag der Integration in
die deutsche Gesellschaft betrachten. Wie schwierig sich
das im Einzelnen darstellt, wissen wir auch, wenn wir
uns vergegenwärtigen, welche Ansprüche bezüglich
Identifikation und Identität gelegentlich von den Her-
kunftsnationen gegenüber denjenigen, die zu uns ge-
kommen sind, gestellt werden. Das ist eine Herausforde-
rung, der wir uns stellen sollten.
Der zweite Punkt. Es ist wichtig, dass man angesichts
des großen Fortschritts im Zusammenhang mit den
Kommunikationsmitteln und Medien das Medienver-
halten muslimischer Jugendlicher einer objektiven
Untersuchung unterzieht, weil wir wissen, dass Radikali-
sierungsrisiken durch einen großen Medienkonsum ent-
stehen können. Insofern beschreibt die Studie in der Tat
Herausforderungen, denen wir uns stellen wollen.
Frau Kollegin Pau.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19465
(C)
(B)
Wenn die Studie in Auftrag gegeben wurde, um einen
Überblick über die Herausforderungen, vor denen die
Politik im Allgemeinen und das Bundesinnenministe-
rium im Besonderen bei diesem Themenkomplex steht,
zu bekommen und zu beschreiben, und gleichzeitig der
Bundesinnenminister heute im Innenausschuss sagt, dass
er die Schlussfolgerungen, die die Wissenschaftler nach
der Beschreibung dieser Herausforderungen gezogen ha-
ben, nicht teilt, dann würde mich interessieren – da der
Innenminister offensichtlich schon weit mit der Auswer-
tung der Studie vorangekommen ist –, in welchen Schrit-
ten Ihr Haus nach der Kenntnisnahme der Herausforde-
rungen eigene Schlussfolgerungen entwickelt und in
welche Richtung dort gedacht wird.
D
Frau Kollegin, Sie wissen, dass die Arbeiten zur Inte-
gration unser Haus dauerhaft beschäftigen und dass seit
2006 insbesondere dem kulturellen Dialog mit den Mus-
limen eine ganz besondere Bedeutung zukommt. Das
schlägt sich zum Beispiel in der Arbeit des Referates zur
Deutschen Islam-Konferenz nieder. Es ist selbstver-
ständlich, dass die Ergebnisse dieser Studie in die lau-
fenden Arbeiten des Ministeriums einfließen.
Frau Kolbe.
Vielen Dank. – Eine kurze Frage noch von mir: Sie
hatten gerade angedeutet, dass da noch Forschungs-
und Klärungsbedarf besteht. Plant denn das BMI noch
eine Studie zum Thema Junge Muslime oder allgemein
Muslime in Deutschland, oder ist schon etwas in Ar-
beit?
D
Gegenwärtig sind mir Pläne dieser Art nicht bekannt;
aber das will ich jetzt nicht als letzte Antwort des Bun-
desinnenministeriums verstanden wissen. Ich müsste die
befassten Abteilungen bzw. die befassten Arbeitseinhei-
ten noch einmal fragen, ob mit entsprechenden Vorschlä-
gen noch zu rechnen ist. Im Moment ist keine Planung
vorgesehen.
Ich rufe die Frage 5 des Kollegen Kilic auf:
Spiegelt die Berichterstattung der Tageszeitung Bild die
wichtigsten Erkenntnisse der Studie „Lebenswelten junger
Muslime in Deutschland“ wider, und hält die Bundesregie-
rung diese Art von Berichterstattung für der Integration dien-
lich?
D
Herr Kollege Kilic, ich bitte um Verständnis, aber es
obliegt nicht der Bundesregierung, die Art der Berichter-
stattung der Medien in der von Ihnen geforderten Weise
zu bewerten.
Ich habe kein Verständnis für diese Art der Antwort,
ich nehme sie aber trotzdem zur Kenntnis und möchte
eine weitere Frage anschließen: Im Innenausschuss hat
unser verehrter Bundesinnenminister Herr Friedrich
heute gesagt, dass man diese Studie nicht überbewerten
solle; sie sei eine von vielen Studien. In der Tat gibt es
andere Studien, die vom Bundesinnenministerium in
Auftrag gegeben worden sind: eine von 2007, eine an-
dere von 2008. Alle kommen zu dem Ergebnis, dass Ra-
dikalisierungstendenzen in hohem Maße vom Bildungs-
niveau der Eltern und der Jugendlichen abhängig sind.
Eine weitere wichtige Erkenntnis in der neuen Studie
besagt, dass die Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesell-
schaft zur Radikalisierung führen kann. Könnte die Bun-
desregierung, insbesondere der Bundesinnenminister,
der Bild-Zeitung mitteilen, dass man die Moslems nicht
ausgrenzen sollte, weil das zur Radikalisierung führen
kann, sondern dass man vielmehr ein besseres Miteinan-
der fördern sollte?
D
Ich glaube, im Lichte der Erkenntnisse dieser Studie
wird allen, die sie lesen, klar, wie groß das Risiko ist,
Gruppendiskriminierungen vorzunehmen, die zu Solida-
risierungseffekten führen können, die der Integration in
die Gesellschaft hinderlich sind. In dieser allgemeinen
Form kann man die Erkenntnisse der Studie wohl wie-
dergeben.
Es gehört allerdings zur Freiheit der Medien, dass sie
in der Auswertung der Daten, die in Form von Publika-
tionen auf dem Markt kursieren und die ihnen als Infor-
mation zugänglich sind, ihre ganz eigenen Akzente set-
zen. Es kann nicht Aufgabe der Bundesregierung sein,
sich hier in irgendeine Rolle als Zensor oder Bewerter zu
begeben.
Herr Staatssekretär, kann sich die Bundesregierung
vorstellen, eine neue Studie in Auftrag zu geben, um die
Konfessionszugehörigkeit von Jugendlichen in Neonazi-
Organisationen zu erforschen? Wäre es vielleicht dien-
lich, zu wissen, ob diese Jugendlichen mehrheitlich Ka-
tholiken, Protestanten oder Konfessionslose sind? Oder
passt eine solche Fragestellung nicht in die Konzeption
der Bild-Zeitung oder der Bundesregierung?
D
Ich kann nun überhaupt nicht sagen, was in die Kon-zeption der Bild-Zeitung passt. Sie hat ihren ganz eige-nen Auftrag und ihre ganz eigene journalistische Ziel-stellung. Die Fragestellung, so wie Sie sie jetztkonstruieren, erscheint mir nicht naheliegend. Ich willnicht ausschließen, dass sich Konstellationen ergeben,die auch solch eine Art der Untersuchung in irgendeiner
Metadaten/Kopzeile:
19466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
(C)
(B)
Weise einmal erforderlich machen können; aber vor demHintergrund der Ansatzpunkte, die wir nach der Aus-einandersetzung mit der Radikalisierung im rechtsextre-men Bereich haben, sehe jedenfalls ich momentan keineAnhaltspunkte, hier Zusammenhänge zur Zugehörigkeitzu einer christlichen Konfession herzustellen.
Kollege Frieser.
Herr Präsident, vielen herzlichen Dank. – Herr Staats-
sekretär, einmal abgesehen von der Tatsache, dass ich
mich an die Innenausschusssitzung heute so erinnere,
dass sich der Innenminister hat so vernehmen lassen,
dass er Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlun-
gen einer ganz bestimmten zitierten Seite nicht folgen
kann
– ich sage das hier der Deutlichkeit halber –, kommt die
Debatte aus meiner Sicht ein bisschen in eine Schieflage.
Wenn es nur um den Teil einer Studie geht, es statistisch
nicht erheblich ist und die Zahlen nicht besonders be-
deutsam sind, dann stellt sich immer die Frage der
Schlussfolgerungen.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie noch fragen, ob die
Studie am Ende zu dem Ergebnis kommt, dass das, was
die Bundesregierung tut – die Anstrengungen, die im
Augenblick in der Integrationspolitik unternommen wer-
den, insbesondere auch die vermehrten Ausgaben –, der
falsche Weg sei?
D
Zunächst einmal bin ich dankbar, dass ich mit Ihnen
jedenfalls einen Zeugen finde, was die Aussage zu den
Schlussfolgerungen betrifft. Ich bin angesichts des
Nachdrucks, mit dem mir hier die Zitate des Bundes-
innenministers entgegengebracht werden, schon unsi-
cher geworden, ob ich unter Umständen in einer anderen
Veranstaltung gewesen bin.
Die Studie unterstreicht insgesamt die Notwendigkeit,
unsere Anstrengungen in der Integrationsarbeit fortzu-
setzen. Sie weist auf spezifische Probleme hin, die wir
tatsächlich im Feld der Integration junger Muslime ha-
ben. Auch wenn es nicht ausdrücklich so niedergeschrie-
ben ist, sehe ich zumindest in der Art des Herangehens
eine Würdigung der Bemühungen der Bundesregierung,
die sich auch in Haushaltsansätzen niederschlagen.
Frau Özoğuz, bitte schön.
Herr Staatssekretär, da werden jetzt wahrscheinlich
alle die Bänder ganz genau hören wollen. Doch meine
Frage bezieht sich natürlich nicht darauf. – Wie gehen
Sie damit um, dass die Leiterin der Antidiskriminie-
rungsstelle des Bundes, aber auch die Wissenschaftler
selbst erhebliche Kritik am Umgang mit der Studie geübt
haben? Was bedeutet es für die Zukunft, wenn Wissen-
schaftler – einige werden mittlerweile in den Medien zi-
tiert – sagen: Wir machen unsere Arbeit, schreiben alles
auf und haben schon im Hinterkopf, dass bestimmt et-
was aus dem Zusammenhang herausgerissen und dann
ganz anders dargestellt wird, als es die Gesamtstudie ei-
gentlich aussagen würde? Wie geht das Bundesinnen-
ministerium mit dieser Kritik um?
D
Frau Kollegin, wenn die Fragestellerin noch Gelegen-
heit bekommt, die entsprechende Frage zu stellen, kön-
nen wir noch über eine andere Studie reden, die ich
durchaus als einen Parallelfall betrachte.
Ich habe Verständnis für die Kritik, die die Autoren da
geäußert haben. Ich muss bloß darauf aufmerksam ma-
chen, dass sich diese Kritik nicht an die Bundesregie-
rung richtet, sondern sich auf die Auswertung bzw. Ak-
zentsetzung in den Medien bezieht, für die wir
schwerlich verantwortlich gemacht werden können.
Die Frage 6 des Kollegen Konstantin von Notz wird
schriftlich beantwortet, sodass wir jetzt zur Frage 7 der
Kollegin Haßelmann kommen:
Welche Konsequenzen wird die Bundesregierung aus dem
ihr seit über einem halben Jahr vorliegenden Gutachten „Wirt-
schaftlicher Stand und Perspektiven für Ostdeutschland“ ins-
besondere für die Förderung strukturschwacher Regionen in
West- und Ostdeutschland ziehen?
D
Frau Kollegin Haßelmann, jetzt sind wir bei dem an-deren Gutachten. Der Auftrag lautete, der Bundesregie-rung im Rahmen der laufenden Diskussionen über dieAusrichtung der Förderstrategie für den Aufbau Ost wis-senschaftlich fundierte Handlungsoptionen aufzuzeigen.Die sechs beteiligten wissenschaftlichen Institute habendabei auch uneinheitliche Positionen vertreten.Für die Bundesregierung bleibt die Schaffung gleich-wertiger Lebensverhältnisse ein wichtiges politischesZiel. Die Leistungen im Rahmen des Aufbaus Ost wer-den von der Studie nicht infrage gestellt. Der Solidar-pakt II ist unbestritten, und die von der Bundesregierungin den vergangenen Jahren praktizierte Förderung wirdbestätigt. Das Konvergenzziel bleibt für die Bundesre-gierung handlungsleitend, wobei künftig – spätestensnach Auslaufen des Solidarpakts II im Jahre 2019 – we-niger die Ungleichheit zwischen Ost und West und mehrdie Frage der Konvergenz von Regionen innerhalb desgesamten Bundesgebietes in den Fokus rückt. So zeich-net sich jetzt schon ab, dass Förderprogramme, die sich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19467
Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
(C)
(B)
in Ostdeutschland bewährt haben – zum Beispiel dietechnologieoffenen Innovationsprogramme für kleineund mittlere Unternehmen oder das Programm „Stadt-umbau Ost“ sowie das Programm „StädtebaulicherDenkmalschutz Ost“ –, auf Westdeutschland ausgedehntwerden.
Bitte.
Der Gutachterauftrag war mir bekannt. Daher bin ich
etwas knapp mit dem Dank für die umfangreiche Aus-
kunft.
Ich möchte gerne eine weitere Frage stellen. Ich habe
in meiner Frage dezidiert Interesse an den Schlüssen, die
Sie aus dem Gutachten ziehen, gezeigt; ich meine sämt-
liche Programme der Bundesregierung zur Förderung
der strukturschwachen Regionen in Ost- und West-
deutschland. Sie haben jetzt ein oder zwei Beispiele für
Programme genannt. Ich gehe aber nicht davon aus, dass
wir beispielsweise auf der Fachebene über einzelne Pro-
gramme und deren Übertragbarkeit von Ost- auf West-
deutschland diskutieren werden. Mich interessiert viel-
mehr, ob sich die Bundesregierung systematisch
umorientiert und strukturschwache Regionen nicht mehr
nach der Himmelsrichtung, sondern nach der Struktur-
schwäche zu beurteilen gedenkt.
D
Frau Kollegin, die Situation, die Sie beschreiben, re-
sultiert aus vom Gesetzgeber in Form von Gesetzen ge-
troffenen Entscheidungen zum Länderfinanzausgleich
und zum Solidarpakt II. Sie wissen, dass die Höhe des
Solidarpakts II bis zum Jahr 2019 degressiv ausgestaltet
ist und dass insofern jede Förderung, die über diesen
Rahmen hinausgeht, die gesamtdeutsche Situation und
den entsprechenden Handlungsbedarf im Blick haben
und entsprechend konzipiert sein muss und konzipiert
wird. Das Ganze erfolgt Schritt für Schritt. Ich nenne
hier das Beispiel der Innovationsförderung für kleine
und mittelständische Unternehmen, die wegen der
Kleinteiligkeit der Wirtschaft in den neuen Bundeslän-
dern dort vermutlich auch in Zukunft eine stärkere Be-
deutung haben wird, die aber gleichwohl für kleine und
mittelständische Unternehmen in den alten Bundeslän-
dern geöffnet wurde, weil sie sich insgesamt als Instru-
ment bewährt hat.
Ähnlich ist die Situation bei den Programmen „Städ-
tebaulicher Denkmalschutz Ost“ und „Stadtumbau Ost“,
wo immer deutlicher wird – und das wird die Demogra-
fiestrategie der Bundesregierung, die am Monatsende
vorgelegt wird, zeigen –, dass der Stadtumbau als ein
Konzept für die Bewältigung der Folgen des demografi-
schen Wandels nicht nur die neuen Bundesländer, son-
dern auch die alten Bundesländer betrifft.
Eine weitere Zusatzfrage?
Ich würde gerne wissen, wie der genaue Zeitplan für
die Studie, für die fachliche Erörterung dieser Studie und
für Programmänderungen bzw. Umgestaltungen, die Sie
möglicherweise aufgrund der Ergebnisse der Studie vor-
sehen, aussieht.
D
Zunächst einmal muss ich Wert darauf legen, dass die
allermeisten Aussagen der Studie letztlich eine Bestäti-
gung der Förderpolitik der zurückliegenden Jahre und
Jahrzehnte darstellen und dass die Studie – ich betone es
noch einmal, weil es medial zum Teil verzerrt wiederge-
geben wurde – den Aufbau Ost insgesamt als einen er-
folgreichen Beitrag auch zur Erringung der inneren Ein-
heit Deutschlands kennzeichnet. In dieser Hinsicht
kommt die Studie zu dem eindeutigen Ergebnis, dass es
keinen zusätzlichen Handlungsbedarf gibt.
Die Diskussion wurde bei zwei Punkten vertieft ge-
führt. Wir wollten das so, und zwar möglichst vor der öf-
fentlichen Diskussion. Erstens. Wir haben es mit einem
Minderheitenvotum zu tun. In der Studie werden be-
stimmte Konzepte, zum Beispiel die Clusterpolitik, in-
frage gestellt, die für die Bundesregierung bisher über
mehrere Legislaturperioden ein wichtiges Instrument zur
Überwindung der Nachteile der Kleinteiligkeit der ost-
deutschen Wirtschaft war.
Zweitens. Man hält angesichts der jetzt erreichten
Konvergenz beim Bruttoinlandsprodukt weitere Konver-
genzen für nicht möglich. Diese Aussage muss aus unse-
rer Sicht vertieft erörtert werden; denn die Bundesregie-
rung hält am Konvergenzziel fest.
Frau Kollegin Gleicke.
Herr Kollege Bergner, dass das erfolgreiche Stadtum-bauprogramm eine positive Wirkung in Ostdeutschlandhatte und wir es deshalb schon zu rot-grünen Zeiten mitdem Stadtumbau West auch auf die alten Länder, wo esähnliche Problemlagen gibt, ausgeweitet haben, ist be-kannt. Nun liegt das Gutachten schon seit einem halbenJahr vor. Wir haben bereits im Dezember den Berichtzum Stand der deutschen Einheit diskutiert. Wie man ander Frage der Kollegin Haßelmann erkennen kann, gibtes – das ist uns allen bekannt – immer wieder einen Ver-teilungskampf in Bezug auf die „Förderung nach derHimmelsrichtung“.Im Bericht zum Stand der deutschen Einheit wird sehrdeutlich gemacht, dass selbst die strukturstarken GebieteOstdeutschlands immer noch hinter den strukturschwa-chen Gebieten in den alten Bundesländern hinterherhin-ken. Deshalb frage ich Sie: Halten Sie es angesichts derpolitischen Diskussion über die Verteilungskämpfe füreinen angemessenen Umgang, ein Gutachten, das diese
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19468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Iris Gleicke
(C)
(B)
Kontroverse aufgreift, ein halbes Jahr lang in den Schub-laden des Innenministeriums verschwinden zu lassen?Hätte man sich im Zusammenhang mit dem Bericht überden Stand der deutschen Einheit nicht viel früher überdie Ergebnisse der Studie unterhalten müssen?D
Frau Kollegin, ich will zunächst festhalten, dass keine
der Aussagen der Studie die Aussagen im Bericht zum
Stand der deutschen Einheit grundsätzlich infrage stellt.
Insofern übt sie keinen korrigierenden Einfluss aus.
Sie selbst engagieren sich lange genug im Bereich der
Ostförderung und im Bereich der Angleichung der Le-
bensverhältnisse, was im Moment vor allem die Anglei-
chung der Wirtschaftskraft von Ost und West bedeutet.
Daher wissen Sie, dass man über die Aussage, dass die
Konvergenz prinzipiell nicht erreichbar ist, erst mit den
Autoren vertieft diskutieren möchte, ehe man sie in die
öffentliche Diskussion gibt.
Das war das Bestreben. Die Studie war nie geheim. Sie
war übrigens seit Sommer letzten Jahres in der Bundes-
tagsbibliothek zu bekommen.
Das will ich am Rande erwähnen. Wir als Auftraggeber
hatten das vertragliche Recht, zunächst einmal weiter-
führende Diskussionen zu führen, ehe wir mit den Er-
gebnissen an die Öffentlichkeit gehen. Von diesem Recht
wollten wir Gebrauch machen.
Herr Kollege Beck.
Noch einmal zu dem Aspekt „Förderung nicht nach
Himmelsrichtung, sondern nach Notlage“. Wie bewertet
die Bundesregierung die Situation, dass allein die notlei-
denden Kommunen in NRW Kassenkredite in Höhe von
20 Milliarden Euro aufnehmen mussten, wenn man be-
denkt, dass der Bedarf der Kommunen insgesamt auf
44,3 Milliarden Euro angestiegen ist? Ist das nicht ein
Hinweis darauf, dass es hier eine eindeutige soziale He-
rausforderung gibt, auf die die Bundesregierung reagie-
ren müsste? Meine Frage ist: Wie wird sie darauf reagie-
ren?
D
Herr Kollege Beck, Sie wissen, dass der Bund insbe-
sondere infolge der letzten Verfassungsreform sehr be-
schränkte Möglichkeiten zur Unterstützung der Kommu-
nen hat.
Ich mache darauf aufmerksam, dass die Situation der
Kommunen in Nordrhein-Westfalen vor allem mit der
Finanzverteilung bzw. den Finanzströmen innerhalb des
Landes zusammenhängt, also eine Folge der nordrhein-
westfälischen Landespolitik ist. Das ist bei den neuen
Ländern übrigens nicht anders. Beim Bund eine unmit-
telbare Schuld für die finanzielle Situation der Kommu-
nen zu suchen und in diesem Zusammenhang den Auf-
bau der neuen Bundesländer als Ursache zu benennen
– ich weiß, dass einige Politiker in Nordrhein-Westfalen
dies gelegentlich tun –, halte ich für nicht sachgerecht.
Ich rufe die Frage 8 des Kollegen Volker Beck auf:
Welche Applikationen für Tabletcomputer hält die Bun-
desregierung für geeignet, um die Konzentrationsfähigkeit
von Regierungsmitgliedern bzw. von Parlamentarischen
Staatssekretären bei Plenarsitzungen des Deutschen Bundes-
tages zu fördern, und von welcher Stelle der Bundesregierung
werden diese Applikationen angeschafft?
D
Herr Kollege Beck, die Antwort lautet: Es ist nicht
Aufgabe der Bundesregierung, die Eignung von Applika-
tionen für Tabletcomputer im Hinblick auf eine mögliche
Förderung der Konzentrationsfähigkeit von Regierungs-
mitgliedern oder Parlamentarischen Staatssekretären zu
beurteilen. Generell erfolgt die Beschaffung von Appli-
kationen eigenverantwortlich durch die jeweiligen Res-
sorts, soweit Aspekte der IT-Sicherheit nicht berührt wer-
den.
Die Antwort überrascht nicht wirklich, Herr Staatsse-
kretär. Ich habe mich spontan gefragt, ob das Gewicht
dieser Frage nicht die Einsetzung einer Enquete-Kom-
mission rechtfertigen könnte,
aber das wird der Kollege Beck jetzt sicher in seiner Zu-
satzfrage vertiefen.
Die Bundesregierung kann die unmittelbare Einset-zung eines parlamentarischen Untersuchungsausschus-ses durch wahrheitsgemäße und umfassende Beantwor-tung noch abwenden.Welche Applikationen werden von den Regierungs-mitgliedern während der Plenarsitzungen hier verwen-det? Stimmen Informationen, nach denen Frau Aignerhauptsächlich Farm Ville spielt, Herr Ramsauer sich mitAir Control beschäftigt und Frau Merkel umgestiegenist? Früher soll Frau Merkel Angry Birds gespielt haben,weil man dabei mit Tieren nach anderen Tieren werfenkann – das hat sie wohl an die Koalition erinnert –, neu-erdings soll sie aber Froggy Jump spielen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19469
Volker Beck
(C)
(B)
Entsprechen die Informationen der Wahrheit, oder gibtes andere Applikationen, die da im Gespräch sind?
D
Herr Kollege, ich kann Ihnen dazu keinerlei Auskunft
geben. Ich kümmere mich darum ebenso wenig wie um
andere Fragen der Ausstattung des persönlichen Lebens.
Da zuvor ein ausgewachsener Bundesminister hier
seine persönlichen Einsichten von der Regierungsbank
aus kundgetan hat, frage ich Sie: Sind Sie denn bereit,
dem Parlament eine Liste mit den Applikationen, die für
Mitglieder der Bundesregierung angeschafft worden
sind, zur Verfügung zu stellen, damit die Ausschussmit-
glieder wissen, über welche Spiele sie mit Mitgliedern
der Bundesregierung online in Kontakt treten können?
D
Sie können dieses Auskunftsersuchen gerne als
schriftliche Anfrage an uns richten.
Mir ist nicht bekannt, dass es entsprechende Anschaf-
fungslisten gibt. Ich wüsste auch keinen Grund, warum
entsprechende Anschaffungslisten angelegt werden soll-
ten.
Auch darüber würde ich noch einmal vertieft nach-
denken wollen, und zwar sowohl, was die Ankündigung,
als auch, was den strammen Vergleich betrifft. Erstaunli-
cherweise gibt es keine weiteren Zusatzfragen.
Der ähnlich wichtigen Frage nach der Verwendung
von Software mit Sprach- und Texterkennung bei der
Überwachung digitaler Kommunikation werden wir uns
jetzt nicht mündlich zuwenden können bzw. müssen,
weil der Kollege Hunko um schriftliche Beantwortung
der Frage 9 gebeten hat.
Damit ist die Beantwortung der Fragen zum Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums des Innern abge-
schlossen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Justiz. Der Parlamentarische Staatsse-
kretär Dr. Max Stadler steht zur Beantwortung zur Ver-
fügung.
Die Frage 10 des Kollegen Hunko wird schriftlich be-
antwortet.
Ich rufe die Frage 11 des Kollegen Rebmann auf:
Welche Dissenspunkte innerhalb der Bundesregierung
sind für die mehrfache Verschiebung der Kabinettbefassung
mit dem Referentenentwurf des Bundesministeriums der Jus-
tiz zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung ursächlich?
D
Herr Kollege Rebmann, als Antwort auf Ihre Frage
kann ich Ihnen folgende Auskunft geben: Die Bundes-
justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat
den Entwurf eines Gesetzes zur Sicherungsverwahrung
mit allen nötigen Anlagen und sonstigen Formalien mit
Schreiben vom 1. März 2012 an den Chef des Bundes-
kanzleramtes übermittelt und zugleich darum gebeten,
ihn auf die Tagesordnung der heutigen Kabinettssitzung
zu setzen. Dies ist ohne jegliche Verschiebung gesche-
hen. Der Entwurf ist heute vom Kabinett unverändert be-
schlossen worden.
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, meine Frage war, warum es
mehrfach zu einer Verschiebung der Kabinettsbefassung
kam. Es freut mich, dass es heute endlich Thema in der
Kabinettssitzung war. Trotzdem frage ich: Wie lässt sich
die Zeitplanung der Bundesregierung mit der Aufforde-
rung der Landesjustizminister vereinbaren, die Sie un-
missverständlich gebeten haben, möglichst schnell einen
Regierungsentwurf vorzulegen, damit das Gesetzge-
bungsverfahren bis zum 30. Juni dieses Jahres abge-
schlossen werden kann?
D
Zunächst einmal: Eine Verschiebung ist nicht erfolgt.Der Gesetzentwurf ist zur Befassung im Kabinett ange-meldet worden, und in der nächsten Sitzung, also heute,hat es den Kabinettsbeschluss gegeben.Hinsichtlich Ihrer weiteren Frage nach dem zeitlichenAblauf darf ich in Erinnerung rufen, dass wir gemein-sam, die Koalition aus CDU/CSU und FDP zusammenmit den Stimmen der SPD-Bundestagsfraktion, zum1. Januar 2011 eine grundlegende Reform der Siche-rungsverwahrung beschlossen haben. Am 4. Mai 2011hat das Bundesverfassungsgericht diese Reform zwarbestätigt, aber aufgrund anderer Gesichtspunkte die Be-stimmungen zur Sicherungsverwahrung aufgehoben,wobei es jedoch eine Übergangsfrist bis 31. Mai 2013festgelegt hat, in der diese Bestimmungen mit den Modi-fizierungen des Gerichts weiter gelten.
Metadaten/Kopzeile:
19470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler
(C)
(B)
Das Bundesjustizministerium hat selbstverständlichrasch mit der Gesetzgebungsarbeit begonnen. Der Kernder Beanstandung durch das Bundesverfassungsgerichtbetraf den bisherigen Vollzug der Sicherungsverwah-rung. Dieser oblag den Bundesländern. Demgemäß istdie Neuregelung, um dieses sogenannte Abstandsgebotim Sinne der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechungkünftig zu erfüllen, mit den Bundesländern intensiv erör-tert worden. Damit ist rasch nach dem Urteilserlass be-gonnen worden. Die Erörterungen dieser kompliziertenMaterie haben sich einige Zeit hingezogen. Wir liegenjedoch gut im Zeitplan; denn jetzt ist Anfang März. Des-wegen können die Länder die Änderung des Vollzugsder Sicherungsverwahrung mit hinreichendem zeitlichenVorlauf planen.
Ich interpretiere Ihre Antwort so, dass Sie den Termin
30. Juni einhalten möchten. Dies bedeutet, wenn ich mir
den Jahresplan anschaue – der Bundesrat muss sich auch
noch damit befassen –, dass wir frühestens Mitte Juni
eine Anhörung zu dem Thema durchführen können. Un-
mittelbar nach der Anhörung würden dann bereits die
zweite und dritte Lesung in diesem Hause stattfinden.
Meine Frage lautet: Wie wollen Sie sicherstellen, dass
die Hinweise, die in der Anhörung gegeben werden,
noch in den Gesetzentwurf eingearbeitet werden, oder
führen Sie nur pro forma eine Anhörung durch, damit
der Opposition und der Öffentlichkeit Genüge getan
wird?
D
Herr Kollege Rebmann, Aufgabe der Bundesregie-
rung war es, einen Gesetzentwurf zu beschließen und in
das Verfahren zu bringen. Der Verlauf des weiteren Ver-
fahrens ist Sache des Parlaments. Demgemäß ist es nicht
Aufgabe der Bundesregierung, die Durchführung einer
Anhörung zu dem Gesetzentwurf zu beschließen; dies
wird vermutlich der Rechtsausschuss machen. Ich halte
die Durchführung einer Anhörung angesichts der
schwierigen Materie für sachgerecht. Sie sehen, dass
schon aus diesem einen Grund der weitere Verfahrensab-
lauf jetzt in den Händen des Parlaments liegt.
Die Sorge, die Sie in Ihren Fragen zum Ausdruck
bringen, dass das Gesetz nicht rechtzeitig im Bundesge-
setzblatt verkündet wird, halte ich für unbegründet.
Die Übergangsregelung, die das Bundesverfassungs-
gericht getroffen hat, läuft bis zum 31. Mai 2013. Es ist
also noch reichlich Zeit. Allerdings brauchen die Länder
einen Vorlauf, um sich auf die geänderten Bestimmun-
gen einzustellen. Die Länder können, vor allem was das
Abstandsgebot und den Vollzugsbeginn betrifft, eigent-
lich heute damit beginnen, weil der Kabinettsbeschluss
dafür durchaus eine Grundlage bietet. Die Regelungen
zum Vollzug, die das Abstandsgebot betreffen – um
diese Regelungen geht es den Ländern insbesondere –,
sind von uns nämlich in enger Abstimmung mit den
Landesjustizministerien ins Verfahren eingebracht wor-
den.
Zusatzfrage des Kollegen Lischka.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Stadler, stimmen
Sie mir zu, dass das parlamentarische Verfahren und die
Kabinettsbefassung in den Ländern erst dann eingeleitet
werden können, wenn die Länder wissen, welcher Ge-
setzentwurf vom Bundestag tatsächlich verabschiedet
wurde? Insofern lautet meine Frage: Wie viel Zeit brau-
chen die Länder aus Sicht der Bundesregierung noch,
damit die Landesgesetzgebungen bis Ende Mai dieses
Jahres abgeschlossen werden können, sodass die Frist,
die das Bundesverfassungsgericht gesetzt hat, eingehal-
ten wird?
D
Herr Kollege Lischka, ich stimme dem Ausgangs-
punkt Ihrer Frage zu, dass auch Landesgesetze, die den
Vollzug betreffen, geändert werden müssen. Aber noch
einmal: Gerade die Regelungen zum Vollzug, die von
uns auf den Weg gebracht werden, sind eng mit den Län-
dern abgestimmt. Ich gehe daher davon aus, dass die
Länder ihre Gesetzgebung zügig durchführen können.
Was das Verfahren im Bundestag anbelangt, so sind
wir selbstverständlich an einer raschen Verabschiedung
des Gesetzentwurfes interessiert. Aber das liegt in den
Händen der Parlamentarier. Insgesamt ist die von Teilen
der Opposition schon direkt nach dem Urteil am 4. Mai
2011 geäußerte Sorge, wir könnten den Zeitplan nicht
einhalten, wie ich glaube, ganz klar unbegründet. Wir
liegen mit dem heutigen Kabinettsbeschluss gut in der
Zeit.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Ich rufe nun die
Frage 12 des Kollegen Ingo Egloff auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse des von
Professor Dr. Thomas Hoeren im Auftrag des Verbandes der
deutschen Internetwirtschaft erstellten Gegengutachtens zu
dem in der Studie des Bundesministeriums für Wirtschaft und
Technologie, BMWi, vorgeschlagenen Warnhinweismodell
zur Bekämpfung von Urheberrechtsverletzungen, und welche
Konsequenzen wird sie daraus ziehen?
Herr Staatssekretär.
D
Herr Präsident, wegen des Zusammenhangs zwischen
Frage 12 und Frage 13 würde ich beide Fragen, wenn
Sie erlauben, gerne zusammen beantworten.
Dann rufe ich auch die Frage 13 des Kollegen IngoEgloff auf:Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Entscheidungdes Bundesverfassungsgerichts vom 24. Januar 2012
, mit der die Zuordnung von dynamischen
IP-Adressen ausdrücklich als ein Eingriff in Art. 10 Abs. 1des Grundgesetzes festgestellt wird, für das mit der BMWi-Studie vorgeschlagene vorgerichtliche Warnhinweismodell,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19471
Vizepräsident Eduard Oswald
(C)
(B)
und in welcher konkreten Ausgestaltung sieht die Bundesre-gierung ein solches Warnhinweismodell als mit der Recht-sprechung des Bundesverfassungsgerichts vereinbar an?D
Ich beantworte Ihre Fragen wie folgt: Die Bundesre-
gierung wird die vom Bundeswirtschaftsministerium in
Auftrag gegebene vergleichende Studie der Kölner For-
schungsstelle für Medienrecht mit den am Wirtschaftsdi-
alog beteiligten Rechteinhabern und Diensteanbietern
erörtern, wobei voraussichtlich auch das Gutachten von
Professor Hoeren, auf das Sie in Ihrer ersten Frage Be-
zug genommen haben, thematisiert werden wird. Über
mögliche weitere Schritte wird die Bundesregierung auf
Grundlage der Ergebnisse dieser Gespräche entscheiden.
Die rechtliche Bewertung hängt von der konkreten Aus-
gestaltung eines etwaigen Warnhinweismodells bzw. ei-
nes vorgerichtlichen Mitwirkungsmodells ab. Gegen-
stand der rechtlichen Bewertung wird auch die
Vereinbarkeit mit Art. 10 des Grundgesetzes und mit der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sein.
Herr Kollege Egloff, Sie haben nun eine Reihe von
Nachfragen. Sie starten mit Ihrer ersten.
Muss ich angesichts Ihrer Antwort davon ausgehen,
Herr Staatssekretär, dass die im Gegengutachten vorge-
brachten technischen und rechtlichen Probleme Ihrer
Meinung nach jedenfalls im Moment noch nicht als so
gravierend bewertet werden, dass von einer Umsetzung
des Warnhinweismodells in jedem Fall Abstand genom-
men werden kann?
D
Sie konnten meiner Antwort entnehmen, Herr Kol-
lege Egloff, dass die Gespräche innerhalb der Bundesre-
gierung über die Frage, wie man Urheberrechtsverlet-
zungen im Internet wirksamer begegnet, noch laufen,
sodass bisher keinerlei inhaltliche Festlegung getroffen
worden ist. Es wurde bisher lediglich eine Festlegung
getroffen, die sich schon im Koalitionsvertrag findet: Es
wird keine Internetsperren als Folge von Urheberrechts-
verletzungen geben. Diese sind, wie gesagt, schon im
Koalitionsvertrag ausgeschlossen worden.
Herr Egloff, Ihre zweite Nachfrage.
Herr Staatssekretär Otto aus dem Wirtschaftsministe-
rium hat angekündigt, im Zweifelsfall müsse man im
Hinblick auf die Warnhinweise gesetzliche Maßnahmen
ergreifen. Wenn ich Frau Bundesjustizministerin
Leutheusser-Schnarrenberger richtig verstanden habe,
dann befürwortet sie das nicht. Wie beurteilen Sie diesen
Widerspruch innerhalb der Bundesregierung?
D
Diesen Widerspruch kann ich nicht erkennen. Herr
Kollege Otto ist in der vergangenen Fragestunde auch
dazu befragt worden und hat Ihnen die Auskunft gege-
ben, dass am 15. März im Bundeswirtschaftsministerium
Gespräche dazu stattfinden werden. Vorher wird es kei-
nerlei inhaltliche Festlegungen geben. Die Gespräche
werden dann ausgewertet.
Des Weiteren hat er ausgeführt, dass eine Gesetzesän-
derung erforderlich wäre, wenn man bestimmte Formen
eines Warnmodells wählt. Das steht nicht im Wider-
spruch zu dem, was die Bundesjustizministerin gesagt
hat; denn es gibt auch andere Modelle, die keine Geset-
zesänderung erfordern.
Aus den Reihen Ihrer Fraktion ist beim letzten Mal
gefragt worden, ob es jetzt schon möglich sei, dass die
Rechteinhaber Mahnschreiben an die Nutzer richten,
ohne dass es eine Verpflichtung zur Mitwirkung des Pro-
viders gibt. Das wäre eine Form von Hinweisen auf Ur-
heberrechtsverletzungen, die nach geltendem Recht
möglich ist und keinerlei Gesetzesänderungen erfordert.
Daher kommt es sehr darauf an, wie die inhaltliche
Debatte geführt wird und welches Ergebnis sie hat. Da-
von hängen dann die rechtlichen Folgen ab.
Sie haben eine weitere Nachfragemöglichkeit.
Herr Staatssekretär, aufgrund des Urteils des Bundes-
verfassungsgerichts vom 24. Januar 2012 stellt sich die
Frage, ob die Auffassung richtig ist, dass im Lichte der
Feststellung, bei der Zuordnung von IP-Adressen han-
dele es sich um einen Eingriff in Art. 10 Abs. 1 Grund-
gesetz, davon ausgegangen werden kann, dass ein vorge-
richtliches Warnhinweismodell ohne richterliche
Anordnung zwangsläufig grundgesetzwidrig ist. Teilen
Sie diese Auffassung?
D
Herr Kollege Egloff, auch hier gilt, dass wir eine
rechtliche Bewertung dann vornehmen werden, wenn
eine Einigung darüber erzielt worden ist, wie man Urhe-
berrechtsverletzungen besser begegnet. Es ist offen, ob
dies mit Warnmodellen, mit Ermahnungsschreiben oder
auch auf ganz andere Art und Weise geschieht. Dann
wollen wir eine rechtliche Bewertung – selbstverständ-
lich unter Beachtung dieses relativ neuen Urteils des
Bundesverfassungsgerichts – vornehmen.
Sie haben die Möglichkeit einer weiteren Nachfrage.
Herr Staatssekretär, es liegen Erfahrungen aus ande-ren europäischen Ländern vor. In Frankreich ist mit einerArt Warnhinweismodell gearbeitet worden. Die Erfah-
Metadaten/Kopzeile:
19472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Ingo Egloff
(C)
(B)
rungen, die die Franzosen damit gemacht haben, sinddurchweg nicht positiv, weil es Umgehungstatbeständegibt. Werden diese Erfahrungen anderer europäischerLänder in Ihre Überlegungen einbezogen?D
Diese Frage kann ich ganz kurz mit einem einfachen
Ja beantworten. Wenn es anderweitige Erfahrungen gibt,
wie dies in Frankreich der Fall ist, werden diese selbst-
verständlich einbezogen. Dann schaut man sich natürlich
an, welche Schlüsse daraus zu ziehen sind. Allerdings
muss man dabei immer auch die Vergleichbarkeit im
Auge behalten. Wenn die Nutzung bestimmter Formen
des Internets abnimmt, wie dies etwa bei Peer-to-Peer-
Gruppen der Fall ist, ist es verständlich, dass unabhängig
davon, ob man ein Warnhinweismodell hat oder nicht,
die Urheberrechtsverletzungen in diesem Bereich nicht
mehr so häufig sind. Das muss man dann auch bedenken.
Im Übrigen hat der Kollege Otto meiner Erinnerung
nach in der letzten Fragestunde – jedenfalls aber auch
öffentlich – gesagt, dass niemand daran denke, das fran-
zösische Modell eins zu eins zu übernehmen. In Frank-
reich sind nämlich als Folge von Urheberrechtsverlet-
zungen Internetsperren vorgesehen. Das wollen wir auf
keinen Fall übernehmen. Außerdem sind dort andere
schwerwiegende Eingriffe in die Nutzung des Internets
wie die Verlangsamung des Zugangs oder Ähnliches
vorgesehen.
Vielen Dank. – Die Frage 14 des Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz wird schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zur Frage 15 unseres Kollegen
Burkhard Lischka:
Wie lässt sich der Sinneswandel der Bundesministerin der
Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, im Hinblick auf
die Einführung von Warnhinweismodellen erklären, die sich
in ihrer Berliner Rede zum Urheberrecht im Jahr 2010 zu-
nächst positiv hierzu geäußert hatte, mittlerweile eine solche
Regelung in einer YouTube-Botschaft vom 8. Februar 2012
jedoch ablehnt?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
D
Herr Kollege Lischka, die Bundesministerin der Jus-
tiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, hat sich in der
Tat in der sogenannten Berliner Rede zum Urheberrecht
vom 14. Juni 2010 zu Warnhinweisen geäußert, sie je-
doch nicht befürwortet. Sie hat nämlich erklärt, ein
Warnhinweismodell könne nur in Betracht kommen,
wenn es sich technisch ohne eine Inhaltskontrolle und
Datenerfassung realisieren ließe. In ihrer YouTube-Bot-
schaft vom 8. Februar 2012, auf die Sie sich beziehen,
hat die Bundesjustizministerin dies bekräftigt.
Ihre erste Nachfrage, Herr Kollege.
Vielen Dank, Herr Stadler, für Ihre Beantwortung.
In Bezug auf das Warnhinweismodell aus der Studie
des Bundeswirtschaftsministeriums, das auch Gegen-
stand vorheriger Fragen war, wird davon ausgegangen
– so verläuft im Augenblick ja auch der Dialog –, dass es
aufgrund einer freiwilligen Vereinbarung zwischen den
Rechteinhabern und den Providern umgesetzt werden
kann, indem es durch allgemeine Geschäftsbedingungen
vereinbart wird. Halten Sie das juristisch für möglich,
oder sehen Sie hier einen gesetzgeberischen Handlungs-
bedarf, sofern man ein derartiges Warnhinweismodell
umsetzen will?
D
Herr Kollege Lischka, eine ähnliche Debatte hatten
wir ja bei dem seinerzeitigen Zugangserschwerungsge-
setz, als von der Großen Koalition Internetsperren einge-
führt worden sind, die auf Initiative dieser Bundesregie-
rung jetzt gerade wieder abgeschafft worden sind –
übrigens auch mit Ihren Stimmen. Damals gab es eine
Debatte darüber, wie man der Darstellung von sexuellem
Missbrauch von Kindern im Internet begegnet.
Als seinerzeit die Internetsperren von der Großen Ko-
alition eingeführt worden sind, gab es auch schon eine
Debatte darüber, ob eine freiwillige Vereinbarung zwi-
schen den Beteiligten ausreichen würde. Die damalige
Bundesjustizministerin Brigitte Zypries von der SPD
hatte die Auffassung vertreten, dass eine gesetzliche Re-
gelung notwendig ist. Diese Auffassung habe ich seiner-
zeit auch geteilt. Bei der aktuellen Debatte müsste man
diese Frage, wenn es denn überhaupt zu einem solchen
Modell käme, noch einmal aufgreifen und sorgfältig prü-
fen, ob die Sachverhalte vergleichbar sind.
Noch einmal will ich aber sagen: Das, was aus dem
Bundeswirtschaftsministerin bisher in die Debatte einge-
bracht wurde, ist noch keine Festlegung auf ein
bestimmtes Modell – weder auf das sogenannte Ver-
tragsmodell, bei dem man mit allgemeinen Geschäftsbe-
dingungen arbeitet, noch auf eine gesetzliche Regelung –,
und noch steht überhaupt nicht fest, ob es überhaupt zu
einem Warnhinweismodell kommen wird.
Ihre zweite Nachfrage, Herr Kollege.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Urheberrechtsver-
letzungen im Internet werden derzeit über einen Aus-
kunftsanspruch verfolgt, der bei Gericht geltend ge-
macht werden kann und den es hier in Deutschland seit
September 2008 gibt.
D
Ja, genau.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19473
(C)
(B)
Haben sich dieser Auskunftsanspruch und das Verfah-
ren, das wir derzeit in Deutschland praktizieren, nach
Ansicht der Bundesregierung bewährt?
D
Herr Kollege Lischka, dieses Verfahren hat sich unse-
rer Auffassung nach bewährt. Es ist ja zu Ihrer Regie-
rungszeit von der Großen Koalition eingeführt worden.
Nachdem ich vorhin ein anderes Gesetzgebungsvorha-
ben kritisch erwähnt habe, will ich jetzt gerne auch ein-
mal etwas positiv darstellen.
Die Rechteinhaber können den Inhaber einer dynami-
schen IP-Adresse über einen Auskunftsanspruch bei Ge-
richt abfragen. Dieses Verfahren geht sehr schnell; es
wird sehr häufig praktiziert. Es ist dann Sache der Rechte-
inhaber, wie sie ihr Urheberrecht weiter durchsetzen.
Beispielsweise wäre es eben auch möglich, dass man
dem Nutzer den Hinweis gibt, dass er sich urheber-
rechtswidrig verhalten hat, ohne dass dies schon mit Ab-
mahnkosten oder Schadensersatzansprüchen verbunden
ist. Dies wäre nach geltendem Recht ja möglich.
Ich rufe die Frage 16 auf:
Plant die Bundesregierung, den Ratifizierungsprozess des
Handelsübereinkommens ACTA fortzusetzen, sofern die Prü-
fung durch ein Gutachten des Europäischen Gerichtshofs des-
sen Rechtmäßigkeit ergibt?
D
Ich darf die Frage folgendermaßen beantworten: Das
Bundeskabinett hat am 30. November 2011 der Zeich-
nung von ACTA durch die Bundesrepublik Deutschland
zugestimmt. Ein konkreter Zeichnungstermin und wei-
tere Planungen zum Ratifikationsverfahren stehen der-
zeit nicht fest.
Die Bundesregierung wird bei ihrer Entscheidung
zum weiteren Vorgehen das Gutachten des Europäischen
Gerichtshofs ebenso wie die weitere Diskussion und Be-
schlussfassung im Europäischen Parlament berücksichti-
gen.
Ihre erste Nachfrage, Herr Kollege.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,
falls ACTA, aus welchen Gründen auch immer, schei-
tert: Plant die Bundesregierung in diesem Fall auf inter-
nationaler Ebene Initiativen zur Bekämpfung der Pro-
duktpiraterie, oder sind für die Bundesregierung dann
auch entsprechende Initiativen ad acta gelegt?
D
Herr Kollege Lischka, ich wäre beinahe versucht zu
sagen: Es freut mich, dass Sie als Oppositionspolitiker
der Bundesregierung so weitreichende Planungen zu-
trauen. Ich glaube, das richtige Vorgehen besteht jetzt
darin, abzuwarten, wie sich die durch die Entscheidung
der Europäischen Kommission entstandene neue Situa-
tion darstellt.
Die Kommission hat bekanntlich die Anrufung des
Europäischen Gerichtshofs beschlossen. Demgemäß
muss man als Nächstes dies abwarten. Es ist das Euro-
päische Parlament am Zug. Denn es handelt sich bei
ACTA um ein Abkommen, das von der Europäischen
Union verhandelt worden ist. Die beiden Akteure, die
ich gerade genannt habe, sind als Nächstes am Zug.
Dann wird die Bundesregierung weitere Schritte überle-
gen.
Richtig ist aber, was in Ihrer Frage durchscheint, dass
es sehr wohl – auch das muss man betonen – in der der-
zeitigen Debatte ein erhebliches Interesse der Bundesre-
gierung gibt, der Produktpiraterie entgegenzutreten. Das
steht außer jedem Zweifel.
Ihre zweite Nachfrage.
Herr Staatssekretär, Ihr Kollege, Herr Staatssekretär
Otto, hat in der vergangenen Woche in einer Podiums-
diskussion des Verbands der deutschen Internetwirt-
schaft eco angekündigt, dass in Kürze ein Gesetzentwurf
der Bundesregierung zum dritten Korb des Urheber-
rechts vorgelegt wird. Ist dem so, und wenn ja: Wann ist
damit zu rechnen?
D
Herr Kollege Lischka, wie Sie wissen, hat am Sonn-
tag der Koalitionsausschuss getagt. Es gab dabei auch
eine Beschlussfassung zu urheberrechtlichen Themen.
Diese wird jetzt umgesetzt, indem an den dort behandel-
ten Themen weiter gearbeitet wird. Ich kann Ihnen aber
zum heutigen Tag kein Datum nennen, wann ein Gesetz-
entwurf vorgelegt wird.
Eine weitere Frage hat unser Kollege ChristianStröbele.
Danke. – Herr Kollege Stadler, Sie alle kennen dieKritik insbesondere aus der User-Szene an ACTA. Hatdie Bundesregierung gerade auch angesichts ihrer Be-mühungen um eine Neuregelung des Urheberrechts inDeutschland zu den Formulierungen, wie sie in ACTAweitgehend ohne Beteiligung der interessierten Öffent-lichkeit, insbesondere der User, zustande gekommensind, berücksichtigt, welche anderen Möglichkeiten desUrheberrechts, aber auch des Schutzes der Interessen de-rer, die leichter von den modernen Möglichkeiten derNutzung dessen, was im Internet zu haben ist, Gebrauchmachen, infrage kommen?
Metadaten/Kopzeile:
19474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
(C)
(B)
D
Herr Kollege Ströbele, zunächst einmal gibt mir Ihre
Frage die Gelegenheit, noch einmal eine Selbstverständ-
lichkeit zu betonen: Die Bundesregierung fühlt sich
selbstverständlich dem Schutz des geistigen Eigentums
verpflichtet. Ebenso habe ich aus Ihrer Fraktion die Äu-
ßerung gehört, dass dies auch für Bündnis 90/Die Grü-
nen gelte; denn dies sei schließlich die Partei von
Heinrich Böll. Ich weiß nicht genau, welche Ihrer Kolle-
ginnen das gesagt hat. Jedenfalls hat sich auch Ihre Frak-
tion mit diesem Satz zum Schutz des geistigen Eigen-
tums und zum Urheberrecht bekannt.
Die Kritik an ACTA ging zum Teil davon aus – das
kann ich ein Stück weit gut nachvollziehen –, dass die
Verhandlungen, die, wie gesagt, nicht von der Bundes-
regierung, sondern von der Europäischen Union mit an-
deren Staaten geführt worden sind, zunächst, wie bei
derartigen internationalen Verhandlungen nicht unüb-
lich, hinter verschlossenen Türen geführt worden sind.
Wir, die Bundesregierung, haben uns aber dafür einge-
setzt, dass ab 2010 alle maßgeblichen Dokumente veröf-
fentlicht worden sind; denn wir sind der Auffassung,
dass man mit Transparenz Kritikpunkten, die sonst zu
Unrecht auftauchen, vorbeugt.
Beispielsweise wird unentwegt – auch von Ihrer Par-
teivorsitzenden Claudia Roth – behauptet, wegen ACTA
könnten keine Generika mehr nach Afrika geliefert wer-
den, was dort zu Gesundheitsgefährdungen von Men-
schen führe. Da kann ich nur sagen: Das hat mit ACTA
nichts zu tun, sondern ist Thema in anderen Abkom-
men – um nur das aufzugreifen, was Sie zur Kritik ge-
sagt haben.
Nun ging es im Kern Ihrer Frage darum, über Ände-
rungen im Urheberrecht nachzudenken. Ich darf festhal-
ten: ACTA zwingt zu keiner Änderung der Rechtslage in
Deutschland, insbesondere nicht zur Einführung von In-
ternetsperren. Das will ich auch einmal betonen, weil es
dazu in der öffentlichen Debatte manchmal nichtzutref-
fende Behauptungen gibt.
Dass wir uns insgesamt über das Urheberrecht Ge-
danken machen, ist schon durch die Antwort auf die
Frage des Kollegen Lischka deutlich geworden. Darin
habe ich ja gesagt: Im Anschluss an den Koalitionsaus-
schuss wird es Überlegungen zu Änderungen im Urhe-
berrecht geben; diese werden zunächst intern abge-
stimmt.
Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende des Ge-
schäftsbereichs des Bundesministeriums der Justiz.
Jetzt kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Finanzen. Hier steht uns zur Beant-
wortung der Parlamentarische Staatssekretär Steffen
Kampeter zur Verfügung.
Die Fragen 17 und 18 des Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter sowie die Fragen 19 und 20 des Abgeordneten
Swen Schulz werden schriftlich beantwortet.
Dann kommen wir zur Frage 21 des Kollegen Hans-
Christian Ströbele:
Wie rechtfertigt es die Bundesregierung, dass an das hoch-
verschuldete Griechenland in der Finanzkrise von der EU und
Deutschland als Nothilfemaßnahmen Kredite zu einem Zins-
satz gewährt werden, der weit über dem liegt, den die EU und
Deutschland zur Finanzierung dieser Kredite zahlen müssen,
sodass die Kreditgeber also Milliarden an der Not Griechen-
lands verdienen, die von dem verschuldeten Land dann auch
noch aufzubringen sind?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
S
Herr Kollege Ströbele, diese Frage möchte ich wie
folgt beantworten: Die Kredite werden nicht von
Deutschland und der EU, sondern von der Europäischen
Finanzstabilisierungsfazilität vergeben.
Der Zinssatz der Kredite soll zumindest die Refinan-
zierungs- und Betriebskosten der Europäischen Finanz-
stabilisierungsfazilität abdecken.
Im Rahmen der Beschlüsse der Euro-Gruppe vom
21. Februar 2012 wurden auch die Zinsen für die bereits
bestehenden Griechenland-Pakete noch einmal überprüft
und rückwirkend auf eine Marge von 150 Basispunkten
über dem Drei-Monats-Euribor abgesenkt. Alle Geber-
länder erzielen daher merklich geringere Erträge. Dies
führt zu einer Minderung der griechischen Schulden-
standsquote im Jahr 2020 in einem Ansatz von 2,8 Pro-
zent des Bruttoinlandsprodukts.
Ihre erste Nachfrage.
Herr Staatssekretär, die von mir gestellte Frage ist
nicht beantwortet. Meine Frage zielt dahin, wie viel
Deutschland und die EU an den Darlehen, die Griechen-
land gegeben worden sind, verdienen. Schließlich muss
man nur einmal das, was die EU oder Deutschland auf-
wenden musste, um das Kapital zur Verfügung zu haben,
und das, was Griechenland aufwenden muss, um diese
Kredite zu bekommen, ins Verhältnis setzen. Da gibt es
doch einen Unterschied. Oder ist das die gleiche
Summe?
S
Nein, Herr Kollege Ströbele. Die Kreditaufnahme desBundes ist in diesem Punkte irrelevant, weil in dieserFragestellung nicht der Bund die Kredite vergibt,
sondern die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität.Diese wiederum besorgt sich das Geld am Kapitalmarkt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19475
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
(C)
(B)
Dabei geht es nicht um Gewinnorientierung, sondern,wie ich gesagt habe, um Refinanzierungs- und Kredit-kosten. Das ist keine gewinnorientierte Institution. Siesoll aber zweifelsohne ihre Betriebskosten und eine ge-wisse Sicherheitsmarge für mögliche Ausfälle decken.Etwas anderes sind die Kredite aus dem sogenanntenbilateralen Programm. Das wickeln wir über die KfWab. Dafür haben wir eine Bundesgarantie abgegeben.Bisher wurden – diese Zahl dient der Erläuterung – demBund aus den bilateralen Griechenland-Krediten Zinsenin Höhe von 380 Millionen Euro überwiesen. Durch dierückwirkende Reduzierung der Marge um 150 Basis-punkte wird ein Teil dieses Betrages mit künftigen Ein-nahmen zu verrechnen sein.Das Pricing ist fair, spiegelt aber auch die tatsächli-chen Refinanzierungskosten sowohl der KfW als auchder Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität wider.
Ihre zweite Nachfrage, Kollege Ströbele.
Meine Frage ist noch immer nicht beantwortet. Ich
stelle jetzt aber eine andere Frage, die mich interessiert.
Sie sprechen immer wieder von den Geldern, die zur
Deckung der Kosten erwirtschaftet werden müssen.
Können Sie mir sagen – die Zinsen lassen wir einmal
beiseite –, um welche Größenordnung es dabei geht?
Wer profitiert von diesen Kosten: Banken, Geld- und
Finanzinstitute?
S
Noch einmal, Herr Kollege Ströbele: Sie gehen,
glaube ich, von falschen Voraussetzungen aus. Sie gehen
davon aus, dass Banken an den bilateralen Krediten be-
teiligt sind. Es ist tatsächlich so, dass die Kreditanstalt
für Wiederaufbau im Rahmen eines Zuweisungsge-
schäfts Griechenland einen Kredit im Rahmen der An-
passungsprogramme gibt. Die Kreditanstalt für Wieder-
aufbau refinanziert sich dabei auf dem Kapitalmarkt und
reicht die Mittel an Griechenland weiter. Der Bund ist
als Garantiegeber für dieses Geschäft tätig.
Bei den vom Deutschen Bundestag am vergangenen
Montag beschlossenen Fazilitäten geht es nicht um bila-
terale Kredite, sondern um EFSF-Kredite. Aber das
Prinzip ist das gleiche. Hier wird die europäische Staa-
tengemeinschaft als Garantiegeber tätig. Auf dem Kapi-
talmarkt werden die entsprechenden Mittel aufgenom-
men und im Rahmen der Restrukturierungsprogramme
an Griechenland weitergereicht, zum Teil für den Privat-
sektorumtausch, das Anpassungsprogramm in engerem
Sinne und zum Teil für die Bankenrekapitalisierung.
Eine Profitmöglichkeit für EFSF und KfW ist in diesem
Fall im klassischen Sinne nicht gegeben.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen nun zu Frage 22 des Kollegen Manfred
Kolbe:
Führen die Tender der Europäischen Zentralbank vom De-
zember 2011 und vom Februar 2012
– also über 1 Billion Euro an europäi-
sche Banken insbesondere aus den Krisenländern – zu theore-
tischen Haftungsrisiken für die Bundesrepublik Deutschland?
S
Herr Kollege Kolbe, Ihre Frage möchte ich dahin ge-
hend beantworten, dass geldpolitische Operationen des
Euro-Systems, zu denen die Refinanzierungsgeschäfte,
die Sie ansprechen, von Dezember und Februar zählen,
nach Art. 18 der ESZB-Satzung nur gegen angemessene
Sicherheiten durchgeführt werden. Das heißt, der Tender
emittiert etwas, und man kann von diesem Tender profi-
tieren, indem man entsprechende Sicherheiten bei der
EZB hinterlegt. Die nationalen Zentralbanken, die sol-
che Geschäfte durchführen, können einen Verlust erlei-
den, wenn einer der geldpolitischen Geschäftspartner
ausfällt und die Verwertung der eingereichten Sicherhei-
ten nicht ausreicht, um die Kreditforderungen zu decken.
Im Übrigen kann der EZB-Rat nach Art. 32.4 der
ESZB-Satzung beschließen, bei nationalen Zentralban-
ken anfallende Verluste aus geldpolitischen Operationen
auf alle Zentralbanken nach ihrem Beteiligungsschlüssel
betreffend die EZB zu verteilen. Dadurch kann den ein-
zelnen Zentralbanken ein Aufwand entstehen. Mit Hin-
blick auf die unionsrechtlich verankerte finanzielle Un-
abhängigkeit der Deutschen Bundesbank ist insoweit zu
berücksichtigen, dass Situationen vermieden werden, die
dazu führen, dass das Nettoeigenkapital einer nationalen
Zentralbank über einen längeren Zeitraum geringer ist
als ihr Grundkapital. In diesem Fall muss daher ein an-
gemessener Kapitalbetrag – mindestens bis zur Höhe des
Grundkapitals – vorhanden sein. Das steht im Konver-
genzbericht der EZB.
Das sind die grundsätzlichen, die theoretischen Haf-
tungsrisiken. Sie bestehen nicht durch die Tender, die Sie
ansprechen, sondern sie gehören zu den grundlegenden
Strukturprinzipien und bestehen seit der Gründung der
Europäischen Zentralbank.
Herr Kollege Kolbe, Sie haben das Wort zur ersten
Nachfrage. Bitte schön.
Sie, Herr Staatssekretär, schließen also ein Haftungs-
risiko nicht aus. Wie wahrscheinlich das ist, weiß heute
niemand. Angesichts der Höhe der beiden Tender, über
1 Billion Euro, frage ich: Wie hoch liegt denn das theo-
retisch höchstmögliche Haftungsrisiko für die Bundes-
republik Deutschland?
S
Herr Kollege Kolbe, das betrifft die Frage 23.
Metadaten/Kopzeile:
19476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
(C)
(B)
Wir gehen nicht davon aus, dass die EuropäischeZentralbank bei der Konzeption und Durchführung derTender keine sorgfältige Risikoabwägung vorgenommenhat. Wir gehen davon aus, dass sie insgesamt nur vertret-bare Risiken eingegangen ist. Die Wahrscheinlichkeiteines theoretischen Risikos – darauf zielt Ihre Betrach-tung ab – ist ausschließlich von der EZB unter Berück-sichtigung der Qualität der bei ihr deponierten Risikenzu bewerten. Dazu ist die Bundesregierung weder insti-tutionell noch aufgrund ihrer Kenntnis der Sachlage aus-kunftsfähig.
Ihre zweite Nachfrage, Kollege Kolbe.
Die Bundesregierung muss sich aufgrund der Vor-
schriften, die Sie zitiert haben, und aufgrund der theore-
tisch möglichen Haftung, die auch Sie nicht ausge-
schlossen haben, Gedanken machen, wie hoch diese
Haftung möglicherweise ist. Wie hoch ist die theoretisch
höchstmögliche Haftung der Bundesrepublik Deutsch-
land aufgrund dieser beiden Tender?
S
Herr Kollege Kolbe, in meiner Antwort auf die Frage
habe ich Ihnen die Grundstrukturen von Refinanzie-
rungsgeschäften der Europäischen Zentralbank und die
internen Haftungswege der einzelnen nationalen Noten-
banken zur EZB erläutert. Hier ist prinzipiell und theore-
tisch beschrieben, wie möglicherweise bei einem Ausfall
des Geschäftspartners vorgegangen wird. Informationen
über alles darüber Hinausgehende, insbesondere eine
Wahrscheinlichkeitsrechnung, kann Ihnen nur die Euro-
päische Zentralbank geben. Angesichts der Unabhängig-
keit, im Übrigen aber auch wegen der Nichtöffentlich-
keit der Geschäftspolitik der Europäischen Zentralbank
ist die Bundesregierung zu einer Quantifizierung eines
von uns eher als unwahrscheinlich gehaltenen Ausfallri-
sikos in der Exaktheit, die Sie einfordern, leider nicht in
der Lage.
Wir kommen zur Frage 23 des Kollegen Manfred
Kolbe:
Für wie wahrscheinlich hält die Bundesregierung insoweit
eine tatsächliche Haftung der Bundesrepublik Deutschland?
S
Die Frage betrifft denselben Sachverhalt. Ich variiere
die Antwort und sage: Wir haben keinen Zweifel, dass
sich die EZB risikoangemessen und sorgfältig verhält
und sie lediglich vertretbare Risiken eingegangen ist.
Herr Kolbe, Sie haben die Möglichkeit der Nach-
frage. Bitte schön.
Wie beurteilt denn die Bundesregierung die Tatsache,
dass die Anforderungen an die Hinterlegung von Sicher-
heiten durch die Europäische Zentralbank deutlich abge-
senkt worden sind?
S
Herr Kollege Kolbe, das ist eine Entscheidung, die in
die Autonomie der Europäischen Zentralbank fällt. Sie
wird diese Entscheidung nach kluger Abwägung getrof-
fen haben; denn die Nichtbereitstellung von Liquidität
im europäischen Bankensystem hätte zu einem völlig
anderen Risikoszenario geführt als zu dem, das Sie
hier erfragen. Wenn beispielsweise einzelne Kontrahen-
ten im europäischen Bankensystem aufgrund von Liqui-
ditätsmangel ausgefallen wären, hätten sich nicht nur
theoretische, sondern sehr praktische Risiken für die
Finanzmarktstabilität ergeben. Insoweit bewertet die
Bundesregierung das Agieren der Europäischen Zentral-
bank im Rahmen ihres geldpolitischen Mandates durch-
aus positiv.
Wir begleiten die Stabilisierungsmaßnahmen der
Europäischen Zentralbank durch ein umfassendes fiskal-
politisches Bündel von Maßnahmen, beispielsweise
durch den in der Regierungsbefragung hier umfassend
dargelegten Fiskalpakt, aber auch durch den Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus und andere Regeln, die
die striktere Trennung zwischen Geldpolitik und Fiskal-
politik wiederherstellen sollen. Diese ist nach Auffas-
sung mancher Beobachter noch ausbaufähig.
Sie haben eine weitere Nachfrage?
Ja. – Der Präsident der Deutschen Bundesbank hat
sich nicht ganz so euphorisch wie Sie geäußert. Stehen
Sie eher auf der Seite der EZB oder eher auf der Seite
der Deutschen Bundesbank?
S
Die Bundesregierung steht auf der Seite des Europäi-
schen Systems der Zentralbanken, und der Bundesbank-
präsident ist unser nationaler Vertreter innerhalb dieses
Zentralbankensystems. Er genießt unser volles Ver-
trauen.
Kollege Kolbe, diese Antwort hat Sie sicher über-rascht.Die Fragen 24 und 25 der Abgeordneten Lisa Pausund die Fragen 26 und 27 der Abgeordneten Dr. BarbaraHöll werden schriftlich beantwortet, sodass KollegeStaatssekretär Kampeter – –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19477
Vizepräsident Eduard Oswald
(C)
(B)
– Nein, nein. Der Geschäftsbereich des Bundesministe-riums der Finanzen ist beendet. Somit komme ich zumGeschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeitund Soziales. Zur Beantwortung steht der Parlamentari-sche Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel zur Verfü-gung.Wir kommen zur Frage 28 der Frau Kollegin SabineZimmermann:Wie hoch liegen die gesamtfiskalischen Kosten derArbeitslosigkeit in Deutschland pro Erwerbslosem, und wiehoch wären die gesamtgesellschaftlichen Kosten für11 750 Betroffene?Bitte schön, Herr Staatssekretär.H
Frau Kollegin, die gesamtwirtschaftlichen Kosten der
Arbeitslosigkeit werden seit langer Zeit vom IAB, dem
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, bearbei-
tet und ermittelt. Uns liegen Zahlen bis 2007 vor. Diese
Zahlen werden im Augenblick überarbeitet. Wir gehen
davon aus, dass das bis zum Sommer dieses Jahres ge-
schehen sein wird. Ich kann Ihnen daher nur mit Anga-
ben bis zum Jahr 2007 helfen und möchte dies nur vor-
bemerkt haben, damit Sie diese Zahlen nicht einfach
hochrechnen; denn die Zeit dazwischen hat Veränderun-
gen gebracht. Im Jahr 2007 betrugen die gesamtfiskali-
schen Kosten der Arbeitslosigkeit pro einzelnem Ar-
beitslosen 17 900 Euro pro Jahr.
Frau Kollegin Zimmermann, Ihre erste Nachfrage.
Danke schön, Herr Präsident. – Danke schön, Herr
Staatssekretär. Herr Fuchtel, ich freue mich immer wie-
der, wenn wir beide uns über Schlecker unterhalten.
Wenn Sie sich erinnern: Vor zwei Jahren waren wir
schon einmal an dem Thema dran.
Es stimmt: Vom IAB werden die Kosten auf rund
18 000 Euro geschätzt. Meine Frage ist: Wenn Sie das
Geld in Arbeitsplätze investieren würden, würde unter
dem Strich nicht mehr dabei herauskommen, als wenn
wir weiterhin die Arbeitslosigkeit finanzierten?
H
Ich wäre froh darüber, wenn wir uns hier nicht über
Schlecker unterhalten müssten und wenn die Situation
nicht so wäre, wie sie bei Schlecker eingetreten ist. Dies
als erste Bemerkung.
Das Zweite. Ich habe schon vermutet, dass Ihre Frage
in diese Richtung geht nach dem Motto: Wenn wir jetzt
einen bestimmten Prozentsatz von Arbeitslosigkeit ha-
ben, dann muss das auf diese Weise in Bezug auf den
Einzelfall gerechnet werden. – Wenn wir einen solchen
Weg gehen, dann landen wir wieder bei den alten Ar-
beitsbeschaffungsmaßnahmen, wie wir sie vor vielen
Jahren schon einmal gehabt haben. Das wäre ein Schritt
zurück. Deswegen lehnen wir solche Vorgehensweisen
nach Berechnungen ab. Das mögen Sie mit Ihrem Welt-
bild weiterverfolgen; wir tun das nicht.
Sie haben jetzt die zweite Nachfrage, Frau Kollegin
Zimmermann. Dann gibt es weitere Nachfragen.
Danke schön, Herr Präsident. – Sie wissen, dass es
nach dem Gesetz drei Monate lang Insolvenzgeld gibt.
Sie wissen auch, dass die Situation bei den Schlecker-
Beschäftigten ziemlich dramatisch ist; denn bis zum
Ende dieses Monats sollen die ersten Kündigungen aus-
gesprochen werden. Es ist aber auch so, dass viele
Erkenntnisse noch gar nicht vorliegen, zum Beispiel
über die Vermögensverhältnisse von Herrn Schlecker.
Aber auch der Insolvenzplan ist unklar. Würden nicht
auch Sie dafür plädieren, dass man die Zahlung des In-
solvenzgeldes in solchen Situationen verlängern müsste?
H
Solche Suggestivfragen mag ich schon einmal gar
nicht.
Ich sage Ihnen: Das Insolvenzgeld ist eine sehr wichtige
Möglichkeit, in solchen Fällen zu helfen. Es hat sich in
der Form bewährt, wie es bis jetzt gehandhabt wird. Mir
sind keine Veränderungsabsichten bekannt.
Ich habe jetzt weitere Nachfragen, und zwar zunächst
von unserer Kollegin Jutta Krellmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau von der Leyen
hat vor kurzem gesagt, dass die Beschäftigten im Grunde
genommen im besten Fall in einer Transfergesellschaft
gezielt weitergebildet werden könnten. Wenn es gut
läuft, dann können sie eventuell, schon bevor sie arbeits-
los werden, direkt eine Anschlussbeschäftigung bekom-
men. Meine konkrete Frage ist: Haben Sie Erkenntnisse
darüber, wie es hinsichtlich des Verbleibs von Beschäf-
tigten in Transfergesellschaften aussieht, und wie sind
Ihre Erfahrungen dazu?
H
Generell ist das Instrument der Transfergesellschaftnichts Neues; auch uns beiden Sozialpolitikern ist es gutbekannt. Eigentlich könnte man davon ausgehen, dasssich herumgesprochen hat, dass dies in vielen Fällen eindurchaus gangbarer Weg ist. Wir haben in der Vergan-genheit erlebt, wie über Transfergesellschaften Maßnah-
Metadaten/Kopzeile:
19478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
(C)
(B)
men der Weiterbildung erfolgt sind, die bessere Vermitt-lungsmöglichkeiten geschaffen haben. Angesichts derjetzt doch sehr guten Arbeitsmarktlage ist die Chance fürerfolgreiche Vermittlungen besser, als wir es in dervergangenen Zeit erleben mussten. Auch dank Transfer-gesellschaften hat es Möglichkeiten gegeben, Beschäfti-gung für Arbeitsuchende zu finden.
Nächste Nachfrage durch unsere Kollegin Heidrun
Dittrich.
– Nein, immer nur eine.
Bitte schön, Frau Kollegin Heidrun Dittrich.
Danke schön, Herr Präsident. – Nach Aussage der
Ministerin von der Leyen haben Verkäuferinnen güns-
tige Arbeitsmarktchancen. Das müsste auch auf die
Schlecker-Verkäuferinnen zutreffen. In der Zeitung Welt
am Sonntag stand am 4. März 2012 – ich zitiere –:
Die Zeit ist günstig. Zurzeit brummt der Arbeits-
markt, alleine für Einzelhandelskaufleute gibt es
derzeit über 20 000 offene Stellen.
Meine Frage an Sie – keine Suggestivfrage, sondern
eine klare Frage –: Ist Ihnen bekannt, dass den 25 000
offenen Stellen in den Verkaufsberufen 300 000 gemel-
dete Arbeitslose dieses Berufszweiges gegenüberstehen?
Das entspricht einem Verhältnis von eins zu zwölf. Hält
es die Bundesregierung immer noch für richtig, zu
sagen: „Es gibt eine gute Arbeitsmarktperspektive für
Verkäuferinnen und vor allem für die Verkäuferinnen
von Schlecker“?
H
Gerade dieser Arbeitsmarkt ist sehr flexibel und von
sehr vielen Komponenten geprägt. Hier muss man
bedenken, dass gerade Menschen, die bis jetzt in einem
Arbeitsverhältnis gestanden haben, praktisch auf dem
aktuellen Stand der Kenntnisse sind und natürlich beson-
ders gute Chancen haben, in eine weiterführende Tätig-
keit vermittelt zu werden.
Nächste Nachfrage durch unseren Kollegen Michael
Schlecht.
Wenn die Bereitschaft besteht, eventuell in Transfer-
gesellschaften Geld zu investieren, und wenn auf der an-
deren Seite aus den ersten Ausführungen von Ihnen klar
ist, dass die arbeitslosen Schlecker-Beschäftigten allein
im ersten Jahr Kosten von weit über 200 Millionen Euro
verursachen würden – die entsprechenden Mittel könnte
man anderweitig sinnvoller investieren –, stellt sich die
Frage, ob sich die Bundesregierung nicht überlegen
könnte, über Belegschaftsbeteiligungsmodelle Hilfen zu
gewähren, wie sie in Teilen der Gewerkschaft Verdi in
unterschiedlicher Form diskutiert werden. Solche Hilfen
könnten eine Chance sein, das Unternehmen Schlecker
weiterzuführen. Gibt es in dieser Richtung ansatzweise
Überlegungen, oder ist da bei Ihnen nur eine komplette
Ablehnung festzustellen?
H
Zunächst dürfen Sie nicht den Fehler machen, die
Zahl, die ich vorhin genannt habe, auf ein Jahr hochzu-
rechnen. Niemand von uns beiden weiß nämlich, ob die
betroffenen Personen ein Jahr lang arbeitslos sind. Wir
alle erhoffen natürlich, dass Anschlussbeschäftigungen
gefunden werden. Am besten wäre es, wenn es zu einer
Weiterbeschäftigung im Rahmen der jetzigen Tätig-
keiten kommen könnte.
Die Frage, die Sie stellen, richtet sich zunächst einmal
natürlich an die Akteure: Das sind vor allem diejenigen
Personen und Institutionen, die an dem Insolvenzverfah-
ren beteiligt sind. Hier sind natürlich immer Ideen
gefragt. Diese Ideen müssen dahin gehend überprüft
werden, inwieweit sie mit den vorhandenen Instrumen-
ten der Arbeitsmarktpolitik begleitet werden könnten.
Daraus entwickeln sich in aller Regel Konzepte. In die-
ser Phase befindet man sich zurzeit. Insoweit besteht die
Aufgabe der Beteiligten darin, sich zu überlegen, welche
Wege man in dieser Phase finden kann. Es ist bekannt,
dass es durchaus immer wieder vorkommt, dass Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter aus einer solchen Situation
heraus zu einem Engagement im Unternehmen finden.
Dem kann ich an dieser Stelle natürlich nicht vorgreifen.
Vielen Dank. – Alle weiteren Fragen zu diesem Ge-schäftsbereich – die Frage 29 der Kollegin BrittaHaßelmann sowie die Fragen 30 und 31 des KollegenGustav Herzog – werden schriftlich beantwortet.Als letzten Geschäftsbereich rufe ich jetzt das Bun-desministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-braucherschutz auf. Im Anschluss daran – ich darf dasgleich ankündigen – kommen wir zu unserer AktuellenStunde. Zur Beantwortung steht uns nun der Parlamenta-rische Staatssekretär Dr. Gerd Müller zur Verfügung.Ich rufe die Frage 32 des Kollegen FriedrichOstendorff auf:Haben das Bundesministerium für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz bzw. dessen Vorgängerministe-
tember 1987) einen ehrenden Nachruf (oder eine ähnlicheWürdigung) verfasst, und, wenn ja, wurde die Ehrwürdigkeitjemals überprüft?Bitte schön.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19479
(C)
(B)
Dr
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da hat
sich das Warten doch gelohnt. – Die Antwort: Aus der
vom Bundesarchiv in Sankt Augustin kurzfristig be-
schafften Personalakte geht hervor, dass für Herrn
Staatssekretär a. D. Dr. Dr. h. c. Sonnemann am 10. Sep-
tember 1987 ein Nachruf im General-Anzeiger Bonn
veröffentlicht worden ist. Er liegt mir vor. In diesem
Nachruf erfolgte eine Ehrung seiner für die Bundesrepu-
blik Deutschland erbrachten Leistungen. Staatssekretär
a. D. Dr. Sonnemann war nicht Gegenstand der von
Bundesministerin a. D. Künast in Auftrag gegebenen
und Ende 2007 fertiggestellten Untersuchung – Bewer-
tung der Lebensläufe von insgesamt 62 ehemaligen noch
lebenden Bediensteten des heutigen BMELV im Hin-
blick auf die Zeit des Nationalsozialismus –, da er zum
Zeitpunkt der Erteilung des Untersuchungsauftrages be-
reits seit 18 Jahren verstorben war.
Ihre erste Nachfrage, Kollege Friedrich Ostendorff.
Es mag vielleicht verwundern, dass genau auf eine
Person bezogen von mir nachgefragt wurde. Ich glaube,
zu dem sogenannten Dornheim-Gutachten, das hier er-
stellt worden ist, ist schon zu fragen, ob jemand, der so
exponiert im landwirtschaftlichen System gearbeitet hat
wie Herr Sonnemann – er war lange Zeit auch General-
sekretär des Deutschen Raiffeisenverbandes, er war
zwölf Jahre Staatssekretär, und er war ganz sicher ein
Überzeugungstäter in der Zeit des Nationalsozialismus;
zu dem Schluss kommt man, wenn man sein Leben und
Wirken sieht –, nicht auch von diesem Gutachten erfasst
werden sollte. Es setzt ja mit dem Jahr 1903 ein. Meine
Frage an Sie wäre also: Sind Sie angesichts dieser Erfah-
rung bereit, die Untersuchung auf Menschen auszuwei-
ten, die vor 1903 geboren worden sind und auch schon
nicht mehr leben? Wir schreiben das Jahr 2012; da wer-
den nur ganz wenige aus diesen Jahrgängen überhaupt
noch unter uns sein. Aber die Frage bleibt doch, ob man
die Untersuchung nach der Erfahrung mit dem Dorn-
heim-Gutachten, auf das Sie hingewiesen haben, nicht
ausdehnen sollte, wenn man eine saubere Analyse der
Vergangenheit vornehmen will. Sind Sie also bereit, das
auszudehnen?
Dr
Herr Kollege, ich habe darauf verwiesen, dass Frau
Bundesministerin a. D. Künast diese Untersuchung in
Auftrag gegeben und den Personenkreis so gefasst hat,
wie er beschrieben worden ist. Ein weiteres Gutachten
über verstorbene ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter des BML oder BMELV ist nicht geplant.
Ihre zweite Nachfrage, Herr Kollege.
Da verzichte ich auf eine Nachfrage, aber gestatten
Sie mir bitte eine Bemerkung. Wir haben in der letzten
Woche im Kulturausschuss eine Anhörung zu diesem
Fragenkomplex durchgeführt. Ich bitte das Haus, da-
rüber nachzudenken, ob man das Dornheim-Gutachten
nicht ausweiten sollte, und uns Nachricht zu geben,
wenn das positiv beschieden wird.
Dr
Vielen Dank. Nachdenken ist immer gut.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Ende der Fragestunde. Die Beantwortung der weiteren
Fragen werden wir entsprechend der Geschäftsordnung
vornehmen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Tarifeinheit sicherstellen – Tarifzersplitterung
vermeiden
Erster Redner unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Hubertus
Heil. Bitte schön, Kollege Hubertus Heil.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Tarifautonomie ist ein zentraler Grundpfeilerder sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Wir So-zialdemokraten machen deutlich: Dazu gehört auch diebewährte Tarifeinheit. Tarifautonomie und Tarifeinheitgehören zusammen, weil sie eine Zersplitterung des Ta-rifvertragssystems bisher verhindert haben, weil so einerSpaltung von Belegschaften entgegengewirkt wurde undweil wir ein System hatten – so muss man ja sagen –, daseine Vervielfachung kollektiver Konflikte vermiedenhat. In einem Wort: Tarifautonomie und Tarifeinheit sindsowohl im Interesse der Unternehmerinnen und Unter-nehmer, der Wirtschaft in Deutschland, als auch der Be-schäftigten in diesem Land. Wir haben seit 2010, seitzwei Urteilen des Bundesarbeitsgerichtes, die Situation,dass diese Tarifeinheit zukünftig zerbrechen kann. Wirhaben die Aktuelle Stunde deshalb beantragt, FrauMinisterin, weil wir erleben, dass trotz vielfältiger An-kündigungen der Bundeskanzlerin und auch von Ihnenin der vergangenen Woche seit 2010 in diesem Bereichnichts passiert ist. Diese Bundesregierung ist nicht in derLage, die zentralen Probleme dieses Landes anzupacken,weil sie sich wechselseitig blockiert. Das gilt auch füreine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit.
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19480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Hubertus Heil
(C)
(B)
Zur Erinnerung: Das Urteil des Bundesarbeitsgerich-tes lässt in der Begründung explizit offen, dass der Ge-setzgeber die Möglichkeit hat, die Dinge, die die Ta-rifeinheit betreffen, auch gesetzgeberisch zu regeln.Daraufhin gab es eine gemeinsame Initiative der Bun-desvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände unddes Deutschen Gewerkschaftsbundes mit der Forderung,die Tarifeinheit in Deutschland gesetzlich zu regeln. ImNovember 2010 gab es eine persönliche Zusage derBundeskanzlerin, innerhalb von wenigen Monaten, bisJanuar 2011, die Dinge auf den Weg zu bringen. Was wirdann erlebt haben, ist typisch Schwarz-Gelb, nämlich dieTatsache, dass Sie im Wesentlichen nur in der Lage sind,sich wechselseitig zu blockieren – mit dem Ergebnis,dass Sie inzwischen Koalitionsausschüsse veranstalten,wo Sie Streitpunkte nicht einmal mehr auf die Tagesord-nung setzen. Ich habe das noch anders in Erinnerung– ich habe früher in anderer Funktion Koalitionsaus-schüsse vorbereiten dürfen –: Das sind Clearingstellen,um Probleme zu lösen, wenn es in der Koalition hakt.Was Sie am vergangenen Sonntag gemacht haben, ist et-was anderes: Sie haben „Mensch ärgere dich nicht“ ge-spielt. Sie haben sich zusammengesetzt und Punkte ab-genickt, die auf Arbeitsebene ohnehin unstrittig waren.Aber Sie waren zu feige, so ein Thema wie die Tarifein-heit, das Sie, Frau Ministerin, noch in der vergangenenWoche im Morgenmagazin angesprochen haben, auf dieTagesordnung zu setzen,
weil Sie genau gewusst haben, dass Sie mit der FDPauch an diesem Punkt nicht vorankommen.Ich sage Ihnen, dass wir schon im Sommer 2010 be-reit waren, mit Ihnen gemeinsam nach einer gesetzlichenRegelung zu suchen. Damals gab es ein Schreiben unse-res Fraktionsvorsitzenden, Frank-Walter Steinmeier, unddes Ministerpräsidenten Kurt Beck an die Bundeskanzle-rin mit dem Angebot, in diesem juristisch zugegebener-maßen nicht einfachen Bereich nach einer gemeinsamenLösung zu suchen. Wir sagen heute: Es ist noch nicht zuspät. Wer nicht will, dass die soziale MarktwirtschaftSchaden nimmt, wer nicht will, dass Spartengewerk-schaften sich auf Kosten von Gesamtbelegschaften einenschlanken Fuß machen können, wer nicht will, dass eseine unverhältnismäßige Zunahme von Tarifauseinan-dersetzungen und Streiks in Deutschland gibt, der mussin diesem Bereich vorankommen. Wir reichen Ihnen dieHand zu einer Lösung, aber wir erwarten von dieserBundesregierung, namentlich von der Bundesarbeitsmi-nisterin, dass sie endlich einen Gesetzentwurf auf denTisch legt. Das ist Ihr Job, Frau von der Leyen, und dahaben Sie seit zwei Jahren nichts zustande gebracht.
Wir erwarten zudem, dass dieser Gesetzentwurf aufden gemeinsamen Vorschlägen der Bundesvereinigungder Deutschen Arbeitgeberverbände und des DeutschenGewerkschaftsbundes basiert und dass diese Vorschlägemit den Sozialpartnern in Deutschland besprochen wer-den. Das ist uns ganz wichtig.Ich sage Ihnen auch, was passiert, wenn nichts pas-siert – das werden wir in kürzerer Zeit erleben –, dassnämlich die Tariflandschaft in Deutschland immer mehrzersplittert, dass kleine wirkungsmächtige Spartenge-werkschaften ganze Belegschaften bzw. ganze Betriebelahmlegen, um ihre speziellen Interessen durchzusetzen.Und ich sage Ihnen: Diese Form von Entsolidarisierungund wirtschaftlicher Unsicherheit, die wir in einigen Be-reichen schon jetzt beobachten können, beispielsweiseam Frankfurter Flughafen – das ist Gott sei Dank durchArbeitsgerichte abgewendet worden –, dürfen Sie nichtauf Ihre Kappe nehmen.Deshalb appelliere ich vor allen Dingen an die Kolle-gen der CDU/CSU – wir wissen, dass es in Ihren Reihenviele gibt, die in diesem Bereich mit uns vorankommenwollen; wir wissen auch, dass die FDP Sie aus ideologi-schen Gründen im Moment daran hindert –: Werfen SieIhr Herz über die Hürde! Tarifeinheit und Tarifautono-mie in Deutschland sind viel zu wichtig, als dass in die-ser Frage der Koalitionsfrieden darübergestellt werdensollte.
Ich sage Ihnen noch einmal: Wir sind zu Gesprächenbereit; wir erwarten aber von der Bundesregierung, na-mentlich von der Bundesarbeitsministerin, dass sie ihrenJob macht. Frau von der Leyen, bisher muss man fest-stellen: viele Interviews und warme Worte zu diesemThema, aber keine Taten – das ist zu wenig. Machen SieIhren Job!Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Hubertus Heil. – Nächster Red-
ner für die Fraktion der CDU/CSU, unser Kollege Karl
Schiewerling. Bitte schön, Kollege Schiewerling.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Heil, was Sie hier inszeniert haben, ist haarscharfam Ziel vorbeigeschossen.
Das Thema – das wissen Sie genauso gut wie ich – isthochkomplex und hochkompliziert, weil es sich um einesehr schwierige Rechtsmaterie handelt.
Als vor etwa eineinviertel Jahr, im Juli 2010, das Ur-teil des Bundesarbeitsgerichtes erlassen wurde, in demder Vierte und der Zehnte Senat erstmals den Grundsatzder Tarifeinheit nicht mehr als Bestandteil angesehen,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19481
Karl Schiewerling
(C)
(B)
sondern aufgegeben haben, standen wir alle miteinandervor der Frage, wie wir das Problem lösen können.Es ist richtig: BDA und DGB haben uns gemeinsameinen Brief geschrieben, damit diese Dinge gelöst wer-den. Wir haben dann festgestellt, dass das so einfach of-fensichtlich nicht ist. Zwischenzeitlich ist von den Ge-werkschaften Verdi ausgeschieden und beteiligt sichnicht mehr daran.
Nur zu sagen: „Nehmt das als Grundlage; schafft damiteine Lösung“, wo Sie genau wissen, dass wichtige Teileder Tarifpartnerschaft dies nicht mitmachen – so einfachgeht das nicht.
Was hat es nicht vor einem Jahr alles an Auguren ge-geben, die prophezeit haben, was alles zusammenbricht.In diesem einen Jahr, seitdem das gilt, wurde nicht eineeinzige Spartengewerkschaft neu gegründet,
und es gab bisher keine weiteren Verwerfungen in die-sem Bereich. Ich gestehe aber gerne zu: Einen Streik wieden jetzt am Frankfurter Flughafen, bei dem die Bevöl-kerung und die Öffentlichkeit in dieser Form einbezogenwurden, haben wir noch nicht erlebt. Deswegen suchenwir derzeit gemeinsam mit der Bundesregierung inner-halb des gesetzlichen Rahmens nach einer Lösung, wiewir damit umgehen können.
Ich will Ihnen sagen: Wir erhalten Signale sowohlvon den Gewerkschaften als auch von den Arbeitgebern.Die einen sagen: Tut nichts, das wird sich regeln. Die an-deren sagen: Macht bitte sofort eine gesetzliche Rege-lung.Die Wahrheit lautet doch: Art. 9 Abs. 3 der Verfas-sung regelt die Koalitionsfreiheit, und zwar in einer der-art stringenten Form, dass diese explizit nicht nur für je-dermann – also den einzelnen Arbeitnehmer –, sondernauch für „alle Berufe“, wie es heißt, gilt. Auf der ande-ren Seite der Skala haben wir ein hohes Gut, nämlich dashohe Gut des betrieblichen Friedens. Wir müssen einevernünftige Lösung irgendwo dazwischen finden.Ich will Ihnen deutlich sagen – da mache ich aus mei-nem Herzen keine Mördergrube –, dass die Auseinander-setzungen, die wir jetzt erleben, einer Rechtsprechungdes Bundesarbeitsgerichtes geschuldet sind, die immermehr und immer stringenter das Individuum in den Mit-telpunkt stellt und immer mehr Details auflöst, sodasswir vor großen Herausforderungen stehen, wie wir dieseGesellschaft bis hinein in den Arbeitsmarkt zusammen-halten können. Das ist eines der Kernprobleme.Damit folgt das Bundesarbeitsgericht einer gesamtge-sellschaftlichen Strömung, in der wir uns befinden. Dasgilt ja nicht nur im Bereich der Tariflandschaft oder imBereich der Arbeitswelt, sondern wir erleben in der ge-samten Gesellschaft eine Individualisierung und eineAusdifferenzierung, die es uns zunehmend schwer ma-chen, die Dinge zusammenzuhalten.Die Bundesarbeitsministerin hat die Initiative ergrif-fen. Sie ist in diesem schwierigen rechtlichen Feld unter-wegs, um nach einer Lösung zu suchen. Auch in unsererFraktion gibt es eine Arbeitsgruppe Tarifeinheit, derenArbeit genau an diesem Punkt ansetzt. Wir haben unsvorgenommen, gemeinsam mit dem Koalitionspartner inabsehbarer Zeit zu einer Lösung zu kommen.
Herr Kollege Heil, ich will Ihnen sehr deutlich sagen:Hier geht es nicht um die unterschiedlichen Ansichten,die die Fraktionen haben, sondern es geht letztendlichum die Frage, wie wir die Probleme gemeinsam lösenkönnen. Vor dieser Frage stehen wir alle miteinander.Auch wir wollen nicht, dass der Betriebsfrieden gestörtwird. Wir wollen auch nicht von uns aus alles daranset-zen, dass möglicherweise große volkswirtschaftlicheSchäden auftreten. Wir wollen dies vernünftig lösen.Im Übrigen: Manche Streikaktionen, die wir erlebthaben, hätten genauso gut von einer Flächengewerk-schaft durchgeführt werden können, die einen Bereichpunktuell lahmlegt. Die Vorfeldmitarbeiter beim Frank-furter Flughafen hätten genauso gut bei Verdi organisiertsein können. Verdi hätte zur Durchsetzung seiner Inte-ressen genau diese 200 Mitarbeiter streiken lassen kön-nen;
dann gäbe es dieselben Entwicklungen.Wir haben nicht die Aufgabe, dies zu bewerten. EineGewerkschaft, die nicht streiken kann, ist keine Gewerk-schaft. Das ist ihr gutes Recht; das gehört zu ihrenAufgaben. Wir müssen aber dafür sorgen, dass die Tarif-autonomie in Deutschland gewahrt bleibt, dass der Be-triebsfrieden nicht gestört wird, dass die Umsetzung vonArt. 9 der Verfassung gesichert bleibt. Wir müssen auchalles daransetzen, dass für Betriebe, in denen mehrereGewerkschaften für eine Personengruppe zuständig sind,Wege und Verfahren gefunden werden, damit sich dieseGewerkschaften gemeinsam verständigen, wenn sie mitdem Arbeitgeber verhandeln.
Ich glaube, dass wir hier miteinander auf einem gutenWeg sind. Wir freuen uns, dass die SPD in dieser Fragekonstruktiv mitarbeitet; wir erwarten das sogar. Ich bingespannt, ob Sie die Lösungen, die wir finden, unterstüt-zen.
Herzlichen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
19482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Karl Schiewerling
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Vielen Dank, Kollege Schiewerling. – Nächster Red-
ner für die Fraktion Die Linke ist unser Kollege Michael
Schlecht. Bitte schön, Kollege Michael Schlecht.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Diese Woche streiken die Beschäftigten im öffentli-chen Dienst, um endlich mit Lohndumping bzw. viel zuniedrigen Einkommen Schluss zu machen. Dies wäre ei-gentlich ein Anlass, um hier im Bundestag darüber zudiskutieren, wie dieser Arbeitskampf unterstützt werdenkann, wie vor allen Dingen die Regierung dazu gedrängtwerden kann, Gelder für eine Lohnerhöhung um 6,5 Pro-zent, mindestens 200 Euro, bereitzustellen. Bei Banken-rettungen ist so etwas üblich: Da werden die Milliardenim Blitztempo bereitgestellt.
Aber was erleben wir diese Woche hier im Parlament?Die SPD will diese Debatte nicht. Sie will lieber darüberdebattieren, wie das Streikrecht eingeschränkt werdenkann; darauf läuft diese Debatte um die Tarifeinheit dochhinaus.
Was ist das für eine Perversion! So wird der letzte Restan Sozialdemokratie aus der SPD hinausgetrieben.
Wenn Tarifeinheit gesetzlich erzwungen wird, dann läuftdas immer auf die Einschränkung des Streikrechtes hi-naus. Dazu sagen wir ganz klar Nein.
Im Gegenteil: Wir brauchen in diesen Zeiten eher einedeutliche Ausweitung des Streikrechtes. Es wäre hiereine Debatte darüber zu führen, dass wir endlich eineKlarstellung hinsichtlich des Rechtes auf Solidaritäts-streik brauchen, und zwar unbeschränkt, ohne dass sichein Arbeitsrichter darüber hermacht und die Verhältnis-mäßigkeit nach seiner Vorstellung durchdekliniert.
Wir brauchen endlich eine Klarstellung, dass politischeStreiks unbeschränkt legal sind.
In vielen anderen zivilisierten Ländern ist das dochselbstverständlich, nur bei uns nicht. Das ist doch eigent-lich irre.
Für gewerkschaftliches Handeln ist es wichtig, dasssich die Stärkeren zugleich für die Schwächeren einset-zen; das ist vollkommen klar. Dass Fluglotsen, Ärzte, Pi-loten und Lokführer für ihre Interessen eintreten undauch streiken, ist ihr gutes Recht.
Zugleich ist es aber problematisch, weil sie ihre beson-dere Kampfkraft häufig nur für sich und nicht auch fürdie Krankenschwester, die Stewardess und den Zugbe-gleiter einsetzen. Aber die Zusammenführung der ver-schiedenen Gruppen zu gemeinsamem gewerkschaftli-chem Handeln muss politisch vorangebracht werden; dasdarf nicht durch gesetzliche Maßnahmen, die immer eineEinschränkung des Streikrechts bestimmter Gruppen be-deuten, geregelt werden.Dazu hat es im Übrigen – man muss das einmal zurKenntnis nehmen – einen länger als ein Jahr andauern-den Diskussionsprozess in meiner Gewerkschaft Verdigegeben. Am Anfang gab es dort durchaus Überlegun-gen, solche Wege mitzugehen. Nach einem Jahr einerganz breiten Diskussion an der Basis stand am Ende eineganz klare Botschaft: Nein, keinerlei Einschränkungendes Streikrechtes. Die Dinge müssen politisch geregeltwerden.
Wir müssen uns auch einmal vor Augen führen, wes-halb es zu diesen Problemen und dieser Zersplitterunggekommen ist. Das hat – das sage ich Ihnen ganz deut-lich – viel damit zu tun, dass SPD und Grüne gerade inden letzten Jahrzehnten die Handlungsmacht der Ge-werkschaften geschwächt haben.
Wer befristet arbeitet, hat es viel schwerer, zu streiken.
– Ihre Schimpfworte sind aber sehr unparlamentarisch. –Wer verliehen ist, schafft das nur in Ausnahmefällen.Weil so die Verhandlungsergebnisse für die Gewerk-schaften gerade in den letzten zehn Jahren immerschlechter wurden,
fühlten sich manche Beschäftigtengruppen besondersbenachteiligt und kamen in die Versuchung, ihren Vorteilim isolierten Kampf zu suchen.
– Sie haben doch gar keine Ahnung von der Arbeitswelt.Seien Sie doch ruhig!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19483
Michael Schlecht
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Heute erleben wir, wie sich die Hauptverantwortli-chen für dieses politische Desaster – ich meine Rot-Grünund insbesondere die SPD –, hier hinstellen und sich füreine Einschränkung des Streikrechts aussprechen. Dasschlägt dem Fass doch wirklich den Boden aus. Jetzt,nachdem wir zehn Jahre die Agenda 2010 mit all ihrennegativen Entwicklungen erlebt haben,
setzt die SPD also noch einen obendrauf, indem sie sichzum Befürworter einer Einschränkung des Streikrechtsmacht, und stellt sich damit auch gegen die Gewerk-schaften.Danke schön.
Vielen Dank. – Nächster Redner in unserer Aktuellen
Stunde ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Heinrich Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte zunächst einmal für meine Fraktion festhalten:Die Koalitionsfreiheit ist ein hohes, verfassungsrechtlichgeschütztes Gut. Art. 9 Abs. 3 lautet – ich zitiere –:Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Ar-beits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungenzu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe ge-währleistet.Damit ist klar: Die Bildung von Spartengewerkschaftenwird man nicht verhindern können. Die Frage ist aller-dings, Kollege Heil, in welchem rechtlichen Rahmendiese Gewerkschaften tarifpolitisch agieren dürfen. Dasist im Kern die Frage nach der Zulässigkeit von Streiksdieser Gewerkschaften; das hat der Kollege Schlechtrichtig betont.
Zulässig sind Streiks, wenn sie zur Durchsetzung der Ta-rifforderungen geeignet, erforderlich und angemessen– also in einem engeren Sinne verhältnismäßig – sind.Herr Kollege Heil, Sie haben die Situation am Frank-furter Flughafen angesprochen. Viele Menschen in unse-rem Lande hatten bei den jüngsten Streiks der Vorfeld-lotsen in Frankfurt das Gefühl: Wenn 200 Leute für eineLohnerhöhung um 40 bis 70 Prozent streiken und15 000 Kollegen des Unternehmens für ihre Forderunggleichsam in Mithaftung nehmen, dann ist das nichtmehr verhältnismäßig. Welche Auswirkungen das aufden Betriebsfrieden hat, kann sich jeder Arbeitnehmer– und sogar Außenstehende – gut vorstellen.Ich selbst muss bei aller Zurückhaltung, die die Ach-tung der Tarifautonomie und auch das Gebot der Nicht-einmischung in einen offiziell noch nicht beendetenTarifkonflikt gebieten, sagen: Das Gefühl der Unverhält-nismäßigkeit hat sich auch bei mir mit zunehmenderDauer des Streiks immer stärker eingestellt.
Aber ich habe mich auch gefragt – Herr Kollege Krings,Sie sprechen es an –, warum das betroffene Unterneh-men so lange gezögert hat,
bis es eine gerichtliche Überprüfung der Verhältnismä-ßigkeit beantragte. Ich meine schon: Bevor der Gesetz-geber auf den Plan gerufen wird, müssen die Betroffenenselbst die bereits bestehenden gesetzlichen Möglichkei-ten ausschöpfen.
Doch zum eigentlichen Punkt. Wir beobachten die Si-tuation nach der Aufgabe der Tarifeinheit durch dasBundesarbeitsgericht sehr aufmerksam und genau undstellen uns fortlaufend die Frage, ob und welche Maß-nahmen auch von gesetzgeberischer Seite zur Wahrungund Wiederherstellung der Verhältnismäßigkeit vonStreiks geboten sind. Das gilt naturgemäß besonders inBereichen der Daseinsvorsorge. Dazu will ich Ihnen sa-gen, Herr Kollege Heil: Ganz sicher keine Maßnahmezur Wahrung oder Herstellung der Verhältnismäßigkeitvon Streiks ist eine gesetzliche Regelung der Tarifein-heit.Denjenigen, die wie Sie den Streik am FrankfurterFlughafen zum Anlass nehmen wollen, um für alte For-derungen nach einer Wiederherstellung der TarifeinheitRückenwind zu entfachen, muss man Folgendes entge-genhalten: Erstens ist es falsch, von einer Wiederherstel-lung der Tarifeinheit zu sprechen; denn auch vor der Ent-scheidung durch das Bundesarbeitsgericht – das wissenSie nur zu gut – gab es bei den hauptsächlich betroffenenehemaligen Staatsunternehmen Lufthansa, DeutscheBahn usw. keine Tarifeinheit, sondern eine verhandelteTarifpluralität. Zweitens wären, weil das betriebsbezo-gene Mehrheitsprinzip nach dem Vorschlag von BDAund DGB gelten soll, Streiks von kleineren Gewerk-schaften, die in einem Betrieb die stärkste Gewerkschaftsind, unverändert möglich. Mit Blick auf den FrankfurterFlughafen sage ich: Die Deutsche Flugsicherung – einselbstständiges Unternehmen im Eigentum des Bundes –muss mit der GdF, die dort Mehrheitsgewerkschaft ist,Tarifverträge schließen. Da änderte sich nichts. Deswe-gen ist das aus unserer Sicht kein geeigneter Weg.Es gibt eine ganze Reihe von Vorschlägen, die daraufabzielen, ohne eine gesetzliche Regelung der Tarifein-heit die Verhältnismäßigkeit von Streiks zu wahren oderherzustellen. Ich schließe ausdrücklich nicht aus, dassder Gesetzgeber in diesem Sinne tätig werden könnte.Ein Königsweg drängt sich mir allerdings nicht auf. DieVorschläge reichen von einer Koordinierung der Tarif-
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19484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Dr. Heinrich L. Kolb
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laufzeiten, von obligatorischen Schlichtungsverfahren,Quoren für streikende Gewerkschaften und Vorankündi-gungspflichten bis hin zur Forderung nach einer Rege-lung zur lösenden Aussperrung, was bei streikendenFunktionseliten – Ärzten, Piloten, Lokführern – in derPraxis wohl eher nicht in Betracht kommen dürfte.Die FDP-Bundestagsfraktion wird sehr zeitnah in ei-ner erneuten Gesprächsrunde zunächst mit Professorenund Wissenschaftlern und dann mit Gewerkschaften undbetroffenen Unternehmen auch im Hinblick auf dieDurchsetzbarkeit Handlungsbedarf und Handlungsoptio-nen ausloten. Dann werden wir Gespräche mit unseremKoalitionspartner führen.Klar scheint mir, dass der Gesetzgeber dort, wo Kor-rekturen am Streikrecht vorgenommen werden müssen,Neuland beschreitet, weil das Streikrecht bisher reinesRichterrecht ist. Ich ahne, dass sich die Begeisterungüber regelnde Eingriffe in das Streikrecht sowohl bei denArbeitgebern als auch bei den Gewerkschaften, Sparten-gewerkschaften und DGB gleichermaßen, doch sehr inGrenzen halten würde.
Die wenigen Ansätze, die sich außerhalb des Streik-rechts bewegen, zum Beispiel die Missbrauchskontrolledurch das Kartellrecht, sind eher bei groben Fällen desMachtmissbrauchs durch eine Gewerkschaft hilfreich.Insgesamt gebe ich zu bedenken: Die Zahl der Streik-tage in Deutschland ist nicht gestiegen – darauf hat derKollege Schiewerling hingewiesen –; sie hat sich imJahre 2010 sogar halbiert. Es gibt keine Gründungswellebei den Spartengewerkschaften. Englische Verhältnissesind in Deutschland – zum jetzigen Zeitpunkt kann mandas sehr klar sagen – nicht zu befürchten. Deswegen rateich dazu, mit Augenmaß vorzugehen. Damit sind wir gutberaten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin istfür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere KolleginBeate Müller-Gemmeke. Bitte schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Nach dem BAG-Urteil zur Tarifein-heit kündigte Bundeskanzlerin Merkel bereits 2010 eineGesetzesinitiative an. Wie so häufig gab es interneSchwierigkeiten innerhalb der Koalition. In der Folge istdas Thema wieder eingeschlafen. Die 200 Beschäftigtenauf dem Vorfeld des Frankfurter Flughafens haben jetzterneut das politische Berlin aufgescheucht.
Natürlich konnte Ankündigungsministerin von derLeyen nicht stillhalten und hat letzte Woche über alleKanäle eine Initiative der Bundesregierung angekündigt.Verheißungsvolle Ankündigungen sind aber zu wenig.Wie bei vielen anderen, vor allem sozialen Themen istkonkretes Handeln gefordert.
Eine gesetzlich normierte Tarifeinheit ist wahrlichkein einfaches Thema. Vor allem muss gut überlegt sein,ob man solch eine Initiative überhaupt angehen möchteund ob sie notwendig ist. Für unsere Fraktion kann ichIhnen sagen, dass dieser Diskussionsprozess noch nichtabgeschlossen ist.
Die Wirtschaft befürchtet, dass mit immer mehr Spar-tengewerkschaften die Tarifverhandlungen konfliktrei-cher werden. Der Streik auf dem Frankfurter Flughafenhat zahlreiche Menschen betroffen, Unverständnis in derÖffentlichkeit hervorgerufen und auch Kosten verur-sacht. Der Streik hat meiner Meinung nach aber auch ge-zeigt, dass rechtliche Grenzen existieren. So hat dasArbeitsgericht den geplanten Solidaritätsstreik der Flug-lotsen als unverhältnismäßig eingestuft und letztlichgestoppt. Es bestehen also funktionierende Kontrollme-chanismen, die Unternehmen – trotz Tarifpluralität –schützen.Sachlich gesehen drohen Deutschland keine engli-schen Verhältnisse. Ich sehe das genauso wie die FDP.
– Das soll auch mal vorkommen. – Die Zahl der Streik-tage hat sich trotz des BAG-Urteils nicht erhöht, sondernreduziert. Deutschland ist also kein streikgeplagtesLand. Dennoch werden wir die Anliegen und Befürch-tungen der Wirtschaft in unsere Überlegungen einbezie-hen und ernst nehmen.
Für die großen Gewerkschaften sind Spartengewerk-schaften natürlich Konkurrenz. Dabei geht es vor allemund zu Recht um den Erhalt der innerbetrieblichen Soli-darität. Tarifpolitik muss solidarisch sein. Die Starkendürfen sich nicht nur um sich selbst kümmern und sichnur für ihre eigenen Interessen einsetzen,
sondern sie müssen auch die Schwachen im Betrieb imBlick haben. Auch wir wünschen uns eine solidarischeTarifpolitik, durch die immer Verbesserungen für die ge-samte Belegschaft erkämpft werden.
Etliche Beschäftigte fühlten sich von den großen Ein-heitsgewerkschaften in der Vergangenheit aber nichtmehr vertreten und haben deswegen selbst die Initiativeergriffen. An diesem Punkt wird das Thema Tarifeinheitrichtig schwierig; denn hier geht es um das verfassungs-rechtlich garantierte Grundrecht auf Koalitionsfreiheitund um das Streikrecht. Der Vorsitzende der Monopol-kommission warnte bereits davor, per Gesetz die Ta-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19485
Beate Müller-Gemmeke
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rifeinheit wieder herzustellen. Wortwörtlich sagte er– ich zitiere –:Ein Zwang für Minderheiten, sich der Mehrheitsge-werkschaft anzuschließen oder das Verhandlungs-mandat zwangsweise aufzugeben, wäre kaumgrundgesetzkonform, da es die grundgesetzlich ga-rantierte Tarifautonomie verletzen würde. Diese giltnämlich auch für Minderheiten.
Dieses Zitat zeigt, dass wir in den kommenden Wochenin diesem Haus sehr ernste Diskussion führen müssen.Wichtig ist, dass die Bundesregierung auf weitere An-kündigungen verzichtet, endlich Position bezieht undhandelt, in die eine oder in die andere Richtung.Abschließend möchte ich noch einen Aspekt anspre-chen, der mir in dieser Diskussion sehr wichtig ist. DieBundesregierung, aber auch die Kollegen Heil undSteinmeier begründen ihre Forderung nach Tarifeinheitimmer mit der drohenden Zersplitterung der Tarifland-schaft. Auch ich warne immer davor. An der Zersplitte-rung hat das BAG-Urteil aber den geringsten Anteil.Viel wichtiger sind andere Faktoren: die Tarifflucht vie-ler Arbeitgeber,
Leiharbeit, sachgrundlose Befristung, Werk- und Hono-rarverträge. Wenn sich die Bundesregierung wirklich umdie Zersplitterung der Tariflandschaft sorgt, dann solltesie endlich etwas dagegen unternehmen: Dann sollte sieeinen gesetzlichen Mindestlohn einführen, die Leihar-beit regulieren und die Befristungsmöglichkeiten ein-grenzen.
All dies wären effektive Maßnahmen, um die Verhand-lungskraft der großen Gewerkschaften zu stärken undSpartengewerkschaften zu vermeiden.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. –
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Günter
Krings. Bitte schön, Kollege Dr. Kings.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich glaube, es ist gut und wichtig, dass wir un-sere Arbeit im Rahmen des Arbeitsmarktrechts und derTarifpolitik nicht als Auftragsarbeit im Dienste von Ge-werkschaften und Arbeitgeberverbänden betrachten,sondern es uns erlauben, selber nachzudenken. Wir vonder Union tun das. Daher war ich schon vor gut einemJahr skeptisch, als DGB und BDA das Ansinnen formu-lierten, den von ihnen fertig ausgearbeitete Gesetzent-wurf einfach querzuschreiben. Ich glaube, das ist unddarf nicht die Rolle der Politik sein. Ich hoffe, das sehenalle Fraktionen in diesem Hause so, vielleicht nach eini-gem Nachdenken selbst die SPD.
Der Bundestag sollte den Anspruch haben, eine ei-gene Lösung zu finden. Daher ist zunächst zu überlegen,ob eine gesetzliche Maßnahme zum jetzigen Zeitpunktüberhaupt notwendig ist. Es geht nicht um irgendeinRecht, um irgendeine Frage, sondern es geht – KollegeKolb hat das dankenswerterweise schon angesprochen –um Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes und damit um einganz wesentliches, verfassungsrechtlich garantiertesGrundrecht. Ich will den Absatz, in dem die Koalitions-freiheit garantiert wird, nicht komplett vorlesen, sondernnur drei Wörter: „für alle Berufe“. Dort steht nicht: „füralle Betriebsbelegschaften“, sondern: „für alle Berufe“.An diesem Wortlaut muss man erst einmal vorbeikom-men, wenn man etwas machen möchte.
Das Erzwingen der Tarifeinheit hielte ich für einenschwerwiegenden Grundrechtseingriff, und ich sehenicht, wie dieser angesichts des Wortlauts unserer Ver-fassung ohne Weiteres gerechtfertigt werden könnte. Ichbitte insbesondere den Kollegen Heil, den Wortlaut un-serer Verfassung an dieser Stelle ernst zu nehmen.
Ich bin sogar ein Stück weit entsetzt darüber, dassBDA und DGB in ihrem Vorschlag die Grundrechtsaus-übung von einer Mehrheitsentscheidung abhängig ma-chen wollen. Ich will jetzt nicht viel über die Theorie derGrundrechte reden, aber eines sei gesagt: Grundrechtesind Minderheitenrechte. Sie dienen dazu, dem Einzel-nen oder einer Minderheit zu einem Recht zu verhelfen.Wenn sie keine Minderheitenrechte wären, bräuchtenwir gar keine Grundrechte. Sie wären in einer Demokra-tie überflüssig, da man sagen könnte: Die Entscheidun-gen im Bundestag werden mit Mehrheit getroffen; dahermuss man gegen staatliche Entscheidungen keineGrundrechte ins Feld führen. Das Konzept der Grund-rechte lautet: Minderheiten und Einzelne werden ge-schützt. Daran kommt man nicht vorbei.Die Union beobachtet die Entwicklung seit der Ent-scheidung des Bundesarbeitsgerichts im Juli 2010, dieeinige Befürchtungen ausgelöst hat, natürlich genau.Dies gilt auch für die jüngsten Ereignisse am FrankfurterFlughafen; das ist überhaupt keine Frage. Es ist meistschlecht, wenn der Gesetzgeber aufgrund eines aktuellenEreignisses ein Gesetz verabschiedet. Diese Schnell-schüsse führen meistens nicht zu einer guten Lösung,sondern verursachen eher Politikverdrossenheit; denndie Menschen merken, dass man keine Einzelfallgesetze
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19486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Dr. Günter Krings
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machen kann. Vielmehr muss man strukturell und beson-nen auf Probleme reagieren.
Auch nach der Entscheidung des Bundesarbeitsge-richts aus 2010 gibt es keinen signifikanten Anstieg derGründungen neuer Spartengewerkschaften. Eine typi-sche Spartengewerkschaft in Deutschland ist zum Bei-spiel der Marburger Bund; er wurde 1947 gegründet. DieGewerkschaft der Lokomotivführer ist eine der ältestenGewerkschaften Deutschlands; ihre Vorgängergewerk-schaft geht auf das Jahr 1867 zurück. Diese Gewerk-schaften wurden nicht auf die Schnelle aus rein egoisti-schen Motiven gegründet; diese Interessenvertretungenfür Arbeitnehmer in Deutschland bestehen schon seitJahrzehnten oder sogar Jahrhunderten.Der Streik am Frankfurter Flughafen zeigt – darauskönnen wir etwas lernen –: Schon nach geltendem Rechtgibt es Möglichkeiten, den Missbrauch des Streikrechtszu unterbinden. Arbeitsgerichte haben festgestellt, dassein Solidaritätsstreik aller Fluglotsen für die Vorfeldmit-arbeiter unverhältnismäßig, also rechtswidrig ist. Ein an-deres Urteil besagt, dass auch der Streik der Vorfeldmit-arbeiter selbst rechtswidrig ist. Das beweist: Arbeitgebersind nicht hilflos, wenn es darum geht, gegen unverhält-nismäßige Streikmaßnahmen vorzugehen. Es gibt hierdurch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit bereits recht-liche Grenzen. Ich stimme Herrn Kollegen Kolb zu.Auch ich wundere mich etwas darüber, dass die Arbeit-geber erst so spät geklagt haben. In der Fußballersprachekönnte man sagen: Die Aktion in Frankfurt scheint nichtnur ein Foul einer Spartengewerkschaft gewesen zu sein,sondern auch eine Schwalbe des Arbeitgebers.
Ich habe durchaus Verständnis für die Kollegen, diesagen, dass hier von einigen Spartengewerkschaften – indiesem Falle von einer – zu egoistisch vorgegangenwird; dies ist auch mir übel aufgestoßen. Aber wir dür-fen Methoden wie die Minimaxstrategie nicht vergessen.Dabei werden wenige in den Streik geschickt, um hoheWirkung zu erzielen. Das machen auch die großen Ge-werkschaften so, zum Beispiel Verdi zurzeit in Nord-rhein-Westfalen. Heute wird dort nicht flächendeckendder öffentliche Dienst bestreikt, sondern es wird gezieltgestreikt, zum Beispiel beim öffentlichen Nahverkehr,weil es dort besonders wehtut. Darüber mag man sich är-gern, aber das ist legitim. Dies geht weit über das ThemaSpartengewerkschaften hinaus.Die Fragmentierung der Arbeitnehmerbereiche ist na-türlich auch die Folge einer immer weiter spezialisiertenArbeitswelt. Ich glaube, das ist ein gesamtgesellschaftli-ches Phänomen. Auch Kirchen und Parteien beklagen,dass sie Konkurrenz haben. Selbst Herr Heil würde wohlnicht vorschlagen, die Neugründung von Parteien zuverbieten,
weil wir mit Neugründungen nicht zurechtkommen.
Zum Schluss sage ich: Die Union wird diese Entwick-lung natürlich weiterhin genau beobachten. Diese hatübrigens erst 1989 mit der Tarifeinheit begonnen. Auchvor dem Urteil des BAG gab es in vielen Betrieben min-destens zwei Gewerkschaften; bis 2000 waren dies DAGund DGB. Das alles ist nicht allzu lange her. Wir werdendie Entwicklung jedenfalls sehr genau beobachten, umherauszufinden, ob das Prinzip der Verhältnismäßigkeitgewahrt bleibt oder ob es im Arbeitsrecht nachgeschärftwerden muss. Bis dahin gilt die ewige ErkenntnisMontesquieus: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetzzu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu ma-chen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Krings. – Nächste Rednerin
ist unsere Kollegin Anette Kramme für die Fraktion der
Sozialdemokraten. Bitte schön, Frau Kollegin Kramme.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen undKolleginnen! Als SPD freuen wir uns natürlich immerüber selbstbewusste Tarifforderungen und höhere Löhne.Für das Jahr 2012 gilt sicherlich, dass es kein Jahr derBescheidenheit sein kann. Wir haben eine gute Konjunk-tur, und die Konjunkturaussichten sind nach wie vor re-lativ positiv. Vor allen Dingen gab es einen Verzicht derArbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in den Krisenjah-ren 2009 und 2010. Es ist daher fair, wenn die Löhnekräftig steigen, ein kräftiger Schluck aus der Pulle ge-nommen wird.
Herr Kolb, „fair“ ist das Stichwort, das den Unter-schied ausmacht: zwischen den üblichen Tarifvertrags-verhandlungen und dem, was wir leider immer häufigerbeobachten, zuletzt an den Flughäfen in Frankfurt undBerlin. Es ist zum Geschäftsmodell einiger Spartenge-werkschaften geworden, nicht zu verhandeln, sondernletztlich zu erpressen. Wenn Sie, Herr Dr. Krings, sagen,der Marburger Bund und die Gewerkschaft der Lokfüh-rer seien alte Gründungen, dann ist das mit Sicherheitzutreffend. Aber sie haben in der Bundesrepublik mitt-lerweile eine eigenständige und neue Rolle eingenom-men.
Der Marburger Bund hat sich aus den Tarifvertragsver-handlungen mit Verdi herausgelöst.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19487
Anette Kramme
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Auch die Rolle der Gewerkschaft der Lokführer ist eineganz andere geworden.
– Warum? Das werde ich Ihnen gleich erläutern.
Meine Damen und Herren, das Geschäftsmodell derSpartengewerkschaften beruht nicht darauf, die Interes-sen einer gesamten Belegschaft durchzusetzen, sondernes geht um die wirkungsvolle Durchsetzung der Einzel-interessen von Personengruppen, die Arbeitsabläufe in-nerhalb eines Betriebes effektiv lahmlegen können. DasPrinzip der klassischen Gewerkschaften beruhte und be-ruht immer auf einem anderen Konzept. Da geht es umzwei Dinge: Es geht erstens darum, dass alle Kollegenund Kolleginnen mit ins Boot geholt werden, um vomKuchen profitieren und ihn genießen zu können. Zwei-tens geht es darum, die Leistungsfähigkeit der Brancheim Auge zu behalten. Aber leider ist es so, dass sich im-mer mehr Spartengewerkschaften nicht mehr daranorientieren. Insofern ist festzuhalten, dass wir es an die-ser Stelle letztendlich auch mit einem Versagen der Bun-desregierung zu tun haben.Bereits im Sommer 2010 hat das Bundesarbeitsge-richt gesagt, dass das lang gehegte Prinzip der Tarifein-heit – also ein Tarifvertrag für einen Betrieb – nicht mehrgelten soll. Jetzt haben wir die Situation, dass in einemBetrieb viele Tarifverträge nebeneinander gelten können.Frau Merkel hat noch im November 2010 auf dem Ar-beitgebertag gesagt: Ich persönlich bin davon überzeugt,dass der Grundsatz der Tarifeinheit gesetzlich geregeltwerden muss. – Bis heute liegt in dieser Sache leiderkein Gesetzentwurf vor. Dabei haben BDA und Gewerk-schaften sogar einen gemeinsamen Entwurf vorgelegt,
einen Entwurf, an dem man sich durchaus entlanghan-geln könnte und mit dem man arbeiten könnte. Leider istbei Ihnen aber kein Handeln zu beobachten.
Herr Dr. Krings, Schuld am Aufkommen der Sparten-gewerkschaften sind auch die Arbeitgeberverbände unddie Arbeitgeber. Wir haben die Situation, dass die Ge-werkschaften durch die Begründung sogenannter OT-Mitgliedschaften in den Arbeitgeberverbänden ge-schwächt worden sind; man kann also den bloßenRechtsschutz in Anspruch nehmen, muss aber keine Ta-rifverantwortung mehr übernehmen. Wir haben die Si-tuation, dass viele Arbeitgeber den Weg in die Tarif-flucht gesucht haben, indem sie Outsourcing betriebenhaben. Wir haben die Situation, dass das Spezialitäts-prinzip missbraucht worden ist, indem Tarifverträge mitScheingewerkschaften abgeschlossen und dadurch Tarif-verträge der DGB-Gewerkschaften verdrängt wordensind. Wir als SPD sagen ganz klar und deutlich: Wirbrauchen den Grundsatz der Tarifeinheit. Der Grundsatzder Tarifeinheit muss bleiben. Anderenfalls würden wirdavon nur kurzfristig profitieren.
Ich bin der festen Überzeugung: Wir werden im Laufeder nächsten Jahre eine Zunahme der Zahl von Sparten-gewerkschaften beobachten. Wir werden beobachten,dass es zu einer Radikalisierung kommen wird, der sichauch die klassischen DGB-Gewerkschaften nicht mehrwerden entziehen können. Damit wird einhergehen, dasses zu einer Zersplitterung der Gewerkschaftslandschaftkommen wird, und viele Köche verderben bekannterma-ßen den Brei. Sanierungstarifverträge werden in Betrie-ben nicht mehr durchgesetzt werden können. Davon ab-gesehen: Es fehlt an Transparenz und Rechtsklarheit.Wir sind gerne bereit, die Bundesregierung zu unter-stützen. Selbstverständlich werden wir als SPD nur ab-gestimmt mit den Gewerkschaften handeln.In diesem Sinne herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Kramme. – Nächster
Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
Johannes Vogel. Bitte schön, Kollege Vogel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, man kann grundsätzlich festhalten: Streiks dür-fen immer nur das letzte Mittel sein. Niemals sindStreiks etwas Schönes.
Niemand findet es schön, wenn beispielsweise aktuell inNordrhein-Westfalen Warnstreiks in Kitas stattfinden.Niemand empfindet es als angenehm, wenn er in seinemAlltag dadurch beeinträchtigt wird, dass Busse nichtmehr fahren, dass Flugzeuge nicht mehr fliegen
und dass man deshalb Termine verpasst oder nicht recht-zeitig zur Familie zurückkommt. Das ist alles richtig.Es ist auch richtig, dass man über wirtschaftlicheSchäden nicht schweigen soll und dass auch da derGrundsatz der Verhältnismäßigkeit gelten muss. Ich per-sönlich bin sehr gespannt, wie die Gerichte zum Beispielim Frankfurter Fall urteilen werden.Dass Streiks gern auch am Flaschenhals angesetztwerden – der Kollege Krings hat vorhin schon daraufhingewiesen –, das ist legitimer Teil der Streiktätigkeitenvon Gewerkschaften. Das denken sich nicht nur kleinereGewerkschaften aus, sondern auch Verdi zum Beispiellässt aktuell die Busfahrer in Nordrhein-Westfalen strei-ken.
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19488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Johannes Vogel
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, da Siedie Aktuelle Stunde beantragt haben: Verantwortungsbe-wusste Politik muss an dieser Stelle auch einmal sagen,dass Streiks nicht schön sind, aber nun einmal unzwei-felhaft Mittel und Teil der Tarifautonomie sind und dieGewerkschaften nun einmal das Recht zum Streiken ha-ben. Das ist auch richtig so, weil dies Teil der Tarifauto-nomie ist, die ganz wesentlich nicht nur den wirtschaftli-chen Erfolg der Bundesrepublik, sondern auch denderzeitigen Erfolg auf unserem Arbeitsmarkt ausmacht.Verantwortungsbewusste Politik ist es auch, hier nicht zuskandalisieren, sondern darauf auch hinzuweisen, liebeKolleginnen und Kollegen von der SPD.
Im Kern dieser Tarifautonomie steht nun einmal nichtdie Tarifeinheit, sondern das Grundrecht auf Koalitions-freiheit. Im Kern steht das Grundrecht, dass jeder Arbeit-nehmer und jede Arbeitnehmerin wählen darf, wer ihnbzw. sie vertritt, welcher Gewerkschaft man sich an-schließt und von wem man seine Interessen durchgesetzthaben will. Zu dieser Durchsetzung der Interessen ge-hört nun einmal zwingend auch das Streikrecht.Natürlich werden wir nicht die Augen vor realen Pro-blemen verschließen. Das sage ich auch für meine Frak-tion. Natürlich sind wir offen, uns anzuschauen, ob esnötig ist, neue Lösungen zu finden, und wenn ja, welcheLösungen dies vernünftigerweise sein können.Eines ist aber auch klar: Mit Grundrechten spaßt mannicht. Mit Grundrechten werden wir deshalb auch nichtspaßen. Das gilt auch für das Grundrecht auf Koalitions-freiheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, als dieFraktion, die diese Aktuelle Stunde beantragt hat, müs-sen Sie sich die Frage gefallen lassen, was denn der ak-tuelle Anlass ist.
– Nein, nein, nein. Ich habe vorhin sehr genau zugehört,lieber Hubertus. Du hast gesagt, ein aktueller Anlass seidie unverhältnismäßige Zunahme von Streiks und insbe-sondere das, was wir bei der Fraport erlebt haben.
– Nein, ich habe dir einfach zugehört, was du hier imPlenum des Deutschen Bundestags gesagt hast.Deshalb sollten wir uns diese zwei Punkte noch ein-mal näher anschauen. Vorredner von mir haben schondarauf hingewiesen.Streiktage sind ein guter Anhaltspunkt. Schauen wiruns das einmal an. Nachdem das BAG den Grundsatzder Tarifeinheit aufgegeben hat, hatten wir im Jahr 2010in Deutschland 26 000 Streiktage. Im Jahr 2009 waren esmehr als dreimal so viel. Im Jahr 2008 waren es mehr alsfünfmal so viel. Im Jahr 1984, also in alten Zeiten, warenes über 2 Millionen Streiktage.Daraus muss man doch den Schluss ziehen, dass dieAufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit offenbar nichtder entscheidende Faktor ist, wenn es um Streiktage unddie Streikintensität in Deutschland geht. Das muss mandoch einmal zur Kenntnis nehmen, liebe Kolleginnenund Kollegen.
Das RWI, das einzige Institut, das sich das bisher ein-mal fundiert angeschaut hat, ist zu dem Ergebnis gekom-men, dass sich eindeutig festhalten lässt – das zitiereich –, dass das BAG-Urteil bisher keine messbaren Spu-ren bei Streikaktivitäten hinterlassen hat.Schauen wir uns einmal das Thema Frankfurt an.Frankfurt ist ein Fall, bei dem ein Streik auch nach mei-nem persönlichen Empfinden unverhältnismäßig war. Esist aber immer so, dass die Politik Recht setzt und dassRecht gilt, dass die Durchsetzung von Recht manchmalaber auch eingeklagt werden muss. Dies würde übrigensauch bei einem veränderten Recht gelten. Das würdeauch gelten, wenn man etwas verändern will.Im Falle Fraport kann man einfach nur feststellen:Fast alle Bürgerinnen und Bürger und wahrscheinlichauch fast alle Abgeordneten des Deutschen Bundestagsempfanden diese Streikaktivität als unverhältnismäßig.Diese Unverhältnismäßigkeit wurde aber auch innerhalbweniger Stunden festgestellt, nachdem Fraport geklagthatte.
Insofern wird das Recht hier eingehalten. Aus dem FallFraport kann man aber nun wirklich keine politischenHandlungsnotwendigkeiten ableiten.Ich will damit festhalten: Wir sind offen für vernünf-tige Lösungen, wenn sie nötig sind. Wir werden uns dasweiter konstruktiv und offen anschauen. Liebe Kollegin-nen und Kollegen von der SPD, das darf aber nicht zu-lasten von Grundrechten gehen.Ich würde mich freuen, wenn Sie sich dieser vernünf-tigen Betrachtung anschließen und hier nicht versuchenwürden, in der Tagespolitik Honig daraus zu saugen,dass die Menschen teilweise im Streik standen und da-runter gelitten haben, indem Sie ihnen einfache Lösun-gen versprechen, die es bei diesem schwierigen Problemniemals geben kann.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in un-serer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozial-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19489
Vizepräsident Eduard Oswald
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demokraten unser Kollege Josip Juratovic. Bitte schön,Herr Kollege.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Thema Tarifeinheit kommt immer wieder
in die Schlagzeilen, wenn eine Spartengewerkschaft
streikt. Die Diskussion um die Tarifeinheit ist in der
Politik aber schon älter. Seit dem Spruch des Bundes-
arbeitsgerichts von 2010 wäre jede Menge Zeit gewesen,
zu handeln. Die Koalition verhielt sich aber wie immer:
Sie hat keine Entscheidung getroffen. Auch 2011 wurde
die Diskussion um die Tarifeinheit schon einmal von der
Tagesordnung eines Koalitionsausschusses gestrichen.
Das erleben wir jetzt wieder. Letzten Sonntag traf sich
der Koalitionsausschuss im Kanzleramt. Die Protagonis-
ten tranken sogar noch einen Wein zusammen. Strittige
Themen wie die Tarifeinheit wurden aber nicht ange-
sprochen. Frau von der Leyen kann noch so oft in der
Presse betonen, dass sie eine Regelung zur Tarifeinheit
anstrebt; wenn das Thema in der Koalition nicht ange-
sprochen wird, dann wird es auch diesmal keine Rege-
lung geben.
Wir brauchen aber dringend eine Regelung; denn die Ta-
rifeinheit ist der Kitt für den sozialen Zusammenhalt im
Betrieb und in der Gesellschaft.
Offensichtlich hat weder die Linke noch die FDP
richtig verstanden, worum es hier geht. Tarifzersplitte-
rung bedeutet Entsolidarisierung in der Gesellschaft
bzw. in der Arbeitswelt.
Wenn die Lokführer streiken, können sie den Betrieb
der Züge anhalten. Was passiert aber, wenn die Mitarbei-
ter der Gastronomie in den Zügen streiken? Dann bleibt
der Zug nicht stehen, sondern er fährt ohne Gastronomie.
Dieses einfache Beispiel macht offensichtlich, dass die
Mitarbeiter in einem Betrieb verschiedene Machtpositio-
nen haben. Ohne Tarifeinheit beobachten wir, dass dieje-
nigen, die aufgrund ihrer Aufgabe im Unternehmen die
Möglichkeit haben, den Betriebsablauf aufzuhalten, dies
nur für sich ausnutzen und die anderen Mitarbeiter blöd
schauen.
Es darf nicht sein, dass sich eine Sparte von Arbeit-
nehmern auf Kosten anderer Arbeitnehmer durchsetzt.
Es kann nicht unser Ziel sein, dass es zu einer Aufsplitte-
rung der Belegschaften in den Betrieben kommt. Ge-
werkschaften sind nur dann stark, wenn sie einheitlich
und geschlossen agieren. Nur dann kann es eine gute Re-
gelung nicht nur für den Lokführer, sondern auch für den
Mitarbeiter in der Gastronomie, nicht nur für die Flug-
lotsen, sondern auch für das Reinigungspersonal, nicht
nur für den Arzt, sondern auch für die Krankenschwester
geben.
Auch die Bundesregierung betont in ihren Sonntags-
reden gerne, dass starke Gewerkschaften und die soziale
Partnerschaft die Grundlage unseres wirtschaftlichen Er-
folgs sind. Bewusst hat man sich nach dem Zweiten
Weltkrieg dafür entschieden, Einheitsgewerkschaften zu
bilden, die nicht parteipolitisch sind und die alle Arbeit-
nehmer eines Betriebes vertreten, damit keine Entsolida-
risierung zwischen verschiedenen Arbeitnehmern im Be-
trieb stattfindet. Es war bewusst gesagt worden: ein
Betrieb, eine Gewerkschaft und ein Tarif.
Diese Errungenschaft ist jetzt in Gefahr; denn Sonn-
tagsreden über den sozialen Dialog helfen niemandem,
wenn danach nicht politisch gehandelt wird. Wir müssen
die Tarifeinheit umsetzen, damit es keine Aufsplitterung
der Belegschaften und keine Schwächung der Gewerk-
schaften gibt. Gerade jetzt, in einer europaweit wirt-
schaftlich komplizierten Situation, können wir uns eine
Zersplitterung der Arbeitnehmer nicht leisten. Wir brau-
chen mehr denn je starke Gewerkschaften.
Ich weiß, was für ein sensibles Politikfeld das Tarif-
und Streikrecht ist. Wir müssen die Koalitionsfreiheit
nach Art. 9 des Grundgesetzes wahren, gleichzeitig dür-
fen wir aber den gesellschaftlichen Zusammenhalt im
Betrieb nicht gefährden. Deswegen sollten wir mit der
notwendigen Achtsamkeit und nicht im politischen Streit
an dieses Thema herangehen. Das Angebot der SPD
liegt auf dem Tisch. Wir sollten fraktionsübergreifend
handeln, um die Gewerkschaften in unserem Land zu
stärken.
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, Ihr
eigenes Handeln ist durch Ihr Vertagen des Themas im
Koalitionsausschuss 2011, aber auch am vergangenen
Sonntag gescheitert. Daher appelliere ich an Sie: Wir
sollten zusammenarbeiten, damit das Thema nicht wie-
der bis zum nächsten Streik sang- und klanglos von der
Tagesordnung gestrichen wird. Denn nur so schaffen wir
es, dass alle Menschen in unserem Land eine Chance auf
Erfolg beim Streik haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Juratovic. – Nächster Redner in
unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Paul Lehrieder. Bitte schön, Kollege
Lehrieder.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Dass ich das noch erleben darf: Kollege
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19490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Paul Lehrieder
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Schlecht von der Linkspartei erklärt hier mit Krokodils-tränen in den Augen der SPD, wie das Streikrecht funk-tioniert.
Das ist schon hart. Dass das erforderlich ist, lieberHubertus Heil, haben Sie sich selber zuzuschreiben,wenn Sie in der jetzigen Zeit so eine Aktuelle Stunde be-antragen.
Wo stehen wir? Der Streik der Vorfeldlotsen in Frank-furt hatte große Auswirkungen und führte zu Beeinträch-tigungen von Passagieren. Ich möchte jedoch ausdrück-lich vor einer voreiligen Reaktion warnen. Von derKollegin Müller-Gemmeke wurde angedeutet: UnsereMinisterin kündigt gerne etwas an, aber die Umsetzungdauert etwas länger. – Blicken wir doch einmal zurück,Frau Kollegin Müller-Gemmeke: Wir hatten vor knappzehn Jahren eine Regierung,
nämlich aus SPD und Grünen, die sehr schnell Gesetzegemacht hat. Sie haben die ganze Sozialgesetzgebungreformiert, und nach sechs, sieben Jahren durften wirnach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtden Mist, den Sie uns eingebrockt haben, wieder korri-gieren.
Auch hier geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit.Mir ist eine Ministerin, die vor Erlass eines Gesetzesnachdenkt und die relevanten Gruppen zusammenruft,um eine vernünftige gesetzliche Regelung zu finden, al-lemal lieber als ein Minister, der erst ein Gesetz machtund sich dann wundert, warum das Gesetz verfassungs-widrig ist.
Von meinen Vorrednern wurde bereits auf die wich-tige Norm des Art. 9 Grundgesetz hingewiesen. LieberHubertus Heil, Sie haben ein Schubfach vor sich, in demein graues Büchlein liegt.
Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal hineingeschaut ha-ben. Sie sollten einmal auf Seite 18 den Art. 9 Grundge-setz aufschlagen. Der Abs. 3 wurde bereits von mehre-ren Kollegen zitiert, allerdings nur in den ersten beidenSätzen.
Es gibt noch einen dritten Satz, lieber Hubertus Heil. Ichlese das noch einmal vor;
vielleicht verstehen Sie es dann:Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Ar-beits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungenzu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe ge-währleistet. – Auch für Vorfeldmitarbeiter. –Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu be-hindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichteteMaßnahmen sind rechtswidrig.Das ist jetzt schon Verfassungsrecht durch das Grundge-setz, das auch für die SPD gilt.
Es geht in dieser Diskussion um die Existenz vonSpartengewerkschaften. Deren Existenz ist keineswegsneu. Es wurde von den Vorrednern bereits darauf hinge-wiesen, dass seit der Entscheidung des Bundesarbeitsge-richtes gerade keine Verschärfung der Situation eingetre-ten ist. Seien wir doch ehrlich: In den letzten Jahren hatDeutschland davon profitiert und über den vernünftigenUmgang mit seinen Gewerkschaften und Arbeitgeber-verbänden die bisher größte Weltwirtschaftskrise relativsouverän überstanden. Ich glaube, dass der Streik derVorfeldlotsen in Frankfurt sine ira et studio, also ohneAufgeregtheit, betrachtet werden sollte.Wie hat Fraport reagiert? Fraport hat gesagt: „Wir ha-ben Personal, das die Aufgaben erfüllen kann“, und hatStreikbrecher eingesetzt. Die Anzahl der ausgefallenenFlüge hat sich dann deutlich reduziert. Das heißt, je neu-ralgischer bzw. je enger der Flaschenhals ist, desto eherwird sich der Arbeitgeber Gedanken über einen Plan Bmachen für den Fall, dass er unter Druck gesetzt wird.Das hat in Frankfurt recht gut funktioniert.Dass jetzt die Welt untergeht, nur weil in Frankfurt200 Mitarbeiter versucht haben, eine fünfstellige Anzahlvon Mitarbeitern in Geiselhaft zu nehmen, sehe ich beimbesten Willen nicht. Gleichwohl – auch hierauf hatKollege Schiewerling in seiner Weisheit bereits hinge-wiesen –:
Wir haben eine mit viel Kompetenz ausgestattete Ar-beitsgruppe, die sich dieses Themas annehmen wird –mit unserem Koalitionspartner gemeinsam. Wir werdenschauen, was wir hier verfassungskonform auf den Wegbringen können.Einerseits muss gesagt werden, dass Spartengewerk-schaften natürlich ihre Berechtigung haben. Andererseitssteht außer Frage, dass wir sicherstellen müssen, dassder Streik kleinerer Gruppen nicht ganze Betriebsabläufeunterbricht. Eine große Gewerkschaft kann das mit der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19491
Paul Lehrieder
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gezielten Bestreikung von bestimmten Betriebsteilenaber natürlich heute schon erreichen. So etwas ist alsoauch ohne Spartengewerkschaften möglich.Unsere Bundesarbeitsministerin, Frau Dr. von derLeyen, hat vor wenigen Tagen auch klar ausgeführt:Sollte sich der Istzustand verändern, ist durchaus Verän-derungsbedarf gegeben.Gehört der aktuelle Streik nun tatsächlich zum Istzu-stand in Deutschland? Da sage ich ganz deutlich: Nein.Wenn Streikturbulenzen wie am Frankfurter Flughafentatsächlich wiederkehrende Wirklichkeit werden sollten,müssten wir über eine gesetzliche Änderung, über einegesetzliche Präzisierung nachdenken.
Wer keine Dauerstreiks will, muss vorankommen, ha-ben Sie letztendlich gesagt, Herr Heil. Aber wenn wirvorankommen, dann kommt diese Koalition verfas-sungskonform voran –
und nicht wie vor zehn Jahren so, dass wir in wenigenJahren vom Verfassungsgericht die Quittung ausgestelltbekommen, was wir falsch gemacht haben.Ich biete ausdrücklich auch Ihnen an, sehr geehrterHerr Heil, an einer guten, konstruktiven Lösung mitzu-wirken – aber nicht von jetzt auf nachher; kein Schnell-schuss aus der Hüfte. Was Sie damit treffen, werden Siedann sehen.Herzlichen Dank. In diesem Sinne: Gute Zusammen-arbeit!
Vielen Dank, Kollege Paul Lehrieder. – Nächster
Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser
Kollege Ingo Egloff. Bitte schön, Kollege Egloff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Kollege Lehrieder, daran, ob wir mit IhrerKoalition in dieser Frage wirklich vorankommen, habeich nach den Reden, die ich heute hier gehört habe, be-trächtliche Zweifel.
Die Reden waren eigentlich alle nicht darauf ausgerich-tet, hier eine Lösung dieses Problems zu finden, wie dieBundesarbeitsministerin gesagt hat, sondern darauf,deutlich zu machen, dass man diese Lösung eben nichtwill.
Sie behaupten, wir wollten hier Art. 9 Abs. 3 Grund-gesetz einschränken.
Das stimmt überhaupt nicht. Niemand will jemanden da-ran hindern, eine Gewerkschaft zu gründen, eine Verei-nigung zu gründen, um Arbeitsbedingungen zu verbes-sern. Die Frage ist aber, ob alle diese Gründungen wiedie der Vorfeldlotsen mit 200 Mitgliedern tariffähig seinmüssen. Darum geht es doch letztendlich.
Manchmal nimmt es ja komische Wendungen mit denDingen. Ich erinnere mich: Vor der Wahl 2009 hat manvon Ihren Parteien, aber auch von den Unternehmerver-bänden immer gehört, das soziale System der Bundesre-publik Deutschland sei nicht mehr zeitgemäß; angesichtsder Globalisierung der Wirtschaft sei mit dem Systemder Sozialpartnerschaft, mit dem rheinischen Kapitalis-mus, keine Konkurrenzfähigkeit mehr vorhanden. Wirbräuchten keine Mitbestimmung mehr; wir bräuchtenkeinen Kündigungsschutz; wir bräuchten keine Flächen-tarifverträge.Nun haben die Unternehmer im Zuge der Krise im-merhin festgestellt: Mitbestimmung ist ganz gut, weilman natürlich in so einer Krise auch die Arbeitnehmermit ins Boot kriegt, wenn sie denn in den Aufsichtsrätenmitbestimmen und die Betriebsräte eingebunden sind.Die Unternehmerverbände haben jetzt auch gemerkt:Tarifverträge sind gut. In dem Moment, in dem egoisti-sche Spartengewerkschaften anfangen, die Tarifeinheitaufzuweichen, haben sie festgestellt, dass Flächentarif-verträge gut sind, und sich dazu durchgerungen, mit demDGB eine gemeinsame Erklärung abzugeben.Ich finde es gut, wenn man eine Einsicht hat; lieberspät als nie.
Allerdings muss man auch sagen – darauf habenmeine Kollegen bereits hingewiesen –, dass wir vorhereine andere Entwicklung hatten. Ich erinnere mich nochgut daran, dass einige Arbeitgeberverbände versucht ha-ben, mit dem Christlichen Gewerkschaftsbund die IGMetall und andere Gewerkschaften bei Tarifverträgenauszuhebeln. Das haben wir nicht vergessen.Wenn man möchte, dass es eine Tarifeinheit gibt unddass es tariffähige Gewerkschaften gibt, die auch in derLage sind, die Mehrheit der Arbeitnehmer zu vertreten,dann muss man sich immer daran erinnern und darfkeine Rosinenpickerei betreiben. Jedenfalls würden wirso etwas nicht zulassen. Wir sind dafür, dass hier eineneue gesetzliche Regelung geschaffen wird, die dafürsorgt, dass nicht Spartenegoismus die Oberhand ge-winnt.
Die aus den Erfahrungen der Nazizeit geschaffeneEinheitsgewerkschaft ist meines Erachtens einer derGlücksfälle dieser Bundesrepublik Deutschland.
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19492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012
Ingo Egloff
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Dieser Einheitsgewerkschaft haben wir Mitbestim-mung, Kündigungsschutz und Tarifeinheit durch Flä-chentarifverträge zu verdanken. – Ich habe gemerkt, dassSie gelacht haben. Ich finde es einen Skandal, wenn Siean dieser Stelle über so eine Äußerung lachen, meineDamen und Herren von der CDU.
Das sollten sich die Gewerkschaften merken. Sie, HerrKollege Weinberg, können dafür sorgen, dass in den Rei-hen der CDA ein anderes Verständnis für die Gewerk-schaften herrscht.Ich bin jedenfalls der Auffassung, dass die Einheits-gewerkschaft ein großer Glücksfall für die Bundesrepu-blik ist. Deswegen verstehe ich Ihre Äußerung, HerrKollege Schlecht, als Gewerkschaftssekretär überhauptnicht. Sie haben sich im Prinzip gegen die Einheitsge-werkschaft ausgesprochen. Das ist ein Skandal, HerrSchlecht.
Gott sei Dank kenne ich Verdi-Funktionäre, die anderssind als Sie. Das macht es mir leicht, Mitglied dieser Ge-werkschaft zu sein.
Herr Schiewerling, es ist ein Unterschied, ob einegroße Gewerkschaft wie Verdi in einem Streik zugunsteneiner gesamten Flughafengesellschaft an bestimmtenStellen Leute einsetzt, um am Ende für die Gesamtbeleg-schaft eine Lohnerhöhung von 4 oder 5 Prozent heraus-zuholen, oder ob 200 Leute 30, 40 oder sogar 50 Prozentmehr Lohn nur für sich selber herausholen wollen, wäh-rend der Rest der Belegschaft hinten herunterfällt.
Lassen Sie die Chance nicht vorbeigehen! Lassen Sieuns dafür sorgen, dass die Tarifeinheit wiederhergestelltwird! Wir sind bereit dazu. Wir werden testen, ob auchSie dazu bereit sind, und werden Sie dann beim Wortnehmen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Ingo Egloff. – Letzter Redner
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Peter Weiß. Bitte schön, Kol-
lege Peter Weiß.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Das Prinzip, dass pro Betrieb ein Tarifvertrag gilt, istnicht von der Politik, sondern vom Bundesarbeitsgerichtaufgehoben worden. Es war die BundesministerinUrsula von der Leyen, die unmittelbar nach diesem Ur-teil eine regierungsinterne Arbeitsgruppe eingesetzt hat,um zu prüfen, ob man den gemeinsamen Vorschlag
der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberver-bände und des Deutschen Gewerkschaftsbundes, künftigdie Tarifeinheit dadurch zu gewährleisten, dass mannach dem Mehrheitsprinzip vorgeht –
Am 7. Juni des vergangenen Jahres hat der Bundesvor-stand des Deutschen Gewerkschaftsbundes auf Betrei-ben von Verdi beschlossen, diese gemeinsame Initiativemit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber-verbände nicht weiter zu verfolgen.
Damit war auch für die gemeinsame Arbeitsgruppe derBundesregierung die Weiterarbeit an diesem Vorschlagbeendet.
Ich habe gedacht, dass die Sozialdemokraten diesen Be-schluss des DGB-Bundesvorstandes kennen, weil siemittlerweile versuchen, ihr Verhältnis zu den Gewerk-schaften zu verbessern. Aber offensichtlich, Herr KollegeHeil, ist die SPD jetzt ein Bündnis mit der Bundesverei-nigung der Deutschen Arbeitgeberverbände eingegangenund hat die Kommunikation mit den Gewerkschaften ein-gestellt.
Die Bundesarbeitsministerin hat des Weiteren füh-rende Verfassungsrechtler und Arbeitsrechtler eingela-den, um zu prüfen, ob es möglich ist, auf der Basis desBDA/DGB-Vorschlags einen verfassungsfesten Gesetz-entwurf im Deutschen Bundestag einzubringen. Das Er-gebnis
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. März 2012 19493
Peter Weiß
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dieser Konferenz war zwiespältig. Deswegen muss ichklipp und klar sagen: Die Pflicht einer Bundesarbeitsmi-nisterin ist es,
dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zuzulei-ten, der verfassungsfest ist und der später in Karlsruhenicht einkassiert wird.
Richtig ist – ich glaube, das ist unsere gemeinsamepolitische Überzeugung –: Die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer eines Betriebes in Deutschland haben dannErfolg – gerade wenn es um Tarifforderungen geht –,wenn sie untereinander Solidarität üben. Das, was wirbei Fraport erlebt haben, ist ein negatives Beispiel. Dorthat sich eine kleine Gruppe von 200 Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern, die strategisch günstig positioniertsind, abgespaltet, den ganzen Flugbetrieb lahmgelegtund hat sich für die Entwicklung der Tarife der anderen12 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Betriebsgar nicht interessiert. Diese Art von Entsolidarisierungist sicherlich nicht das, was Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern in Deutschland künftig bei Tarifverhand-lungen Erfolg bringen kann.Nun gibt es ein Prinzip – auch daran sollte man ein-mal erinnern –, das sich auch bewährt hat, nämlich dasssich unterschiedliche Gewerkschaften in einer Branchezunächst einmal zu einer Tarifgemeinschaft zusammen-schließen. Es ist erwähnt worden, dass zurzeit die Tarif-verhandlungen im öffentlichen Dienst stattfinden. Verdiund der deutsche beamtenbund und tarifunion verhan-deln in Tarifgemeinschaft. Dazu ist es manchmal not-wendig, dass die größere Gewerkschaft vom hohen Rossheruntersteigt und dass die kleinere Gewerkschaft aufdie Verfolgung von nur Spezialinteressen verzichtet.Deswegen muss die erste Forderung von uns als Politi-ker sein: Gewerkschaften, versucht, im Interesse der Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer zunächst einmaleine Tarifgemeinschaft zu bilden und damit die Tarifein-heit in einem Betrieb und in einer Branche herzustellen,und ladet nicht das Problem bei der Politik ab!
Dennoch bekenne ich mich dazu: Ich glaube, dass dasalte Prinzip der Tarifeinheit, das in der Form, die wir tra-ditionell hatten, angesichts der Rechtsprechung des Bun-desarbeitsgerichts nicht mehr gilt, trotzdem einen hohenWert darstellt – im Interesse einer Befriedung der Tarif-landschaft, auch im Interesse guter Löhne für die Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer und im Interesse einerverlässlichen Sozialpartnerschaft von Arbeitgebern undGewerkschaften. Deswegen unterstütze ich die Absichtder Bundesarbeitsministerin, erneut einen Versuch zuunternehmen, zu einer befriedigenden Regelung der Ta-rifeinheit in Deutschland zu kommen, die allerdingsklarstellen muss: Erstens. Jeder Arbeitnehmer darf sichin Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit dort organisie-ren, wo er will. Zweitens. Es darf der Größere den Klei-neren nicht einfach wegdrücken können. Drittens. Einesolche Lösung muss verfassungsfest sein, damit sie auchin Karlsruhe Bestand hat. Daran sollten wir miteinanderin den nächsten Monaten arbeiten.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 8. März 2012,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Vielen herzlichen Dank.